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German Pages 256 Year 2015
Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper
Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 5
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper. Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik
Wir danken der Hochschule der Künste Bern für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation.
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Inhalt
Daniel Weissberg, Michael Harenberg Einleitung 7
Michael Harenberg Mediale Körper – Körper des Medialen 19
Peter Reidemeister Körper, Seele, Musik, Maschine – Relationen und Wandlungen 45
Franziska Baumann Interfaces in der Live-Performance 75
Daniel Weissberg Zur Geschichte elektroakustischer Instrumente aus dem Blickwinkel der Körperlichkeit 91
Jin Hyun Kim Embodiment musikalischer Praxis und Medialität des Musikinstrumentes – unter besonderer Berücksichtigung digitaler interaktiver Musikperformances 105
Claudio Bacciagaluppi Aus der Zeit vor Welte: Der Melograph – von einer Utopie der Aufklärung zum industriellen Erzeugnis 119
Kai Köpp Historische Streichbögen als Interfaces 147
Daniel Weissberg Klangerzeugung als Drama und Resonanzphänomen 173
Rolf Grossmann Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien 183
Daniel Weissberg Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe. Warum Aufnahmen sterben müssen 201 Autorinnen und Autoren 217
Danksagung 227
Anhang 229
Einleitung Der Verlust der Körperlichkeit in der Musik und die Entgrenzung klanglichen Gestaltungspotenzials Daniel Weissberg, Michael Harenberg
Bis ins 20. Jahrhundert war jeder musikalische Klang Resultat und Ausdruck einer Bewegung, meistens einer menschlichen, zuweilen, etwa bei Musikautomaten, einer mechanischen. Das ändert sich in grundsätzlicher und für viele Zeitgenossen beängstigender Weise mit der Erfindung der elektronischen Klangerzeugung. Mit der Entwicklung elektronischer Musikinstrumente entfällt historisch erstmals die Zwangsläufigkeit der Beziehung zwischen der Spielbewegung und der Art und Qualität des daraus resultierenden Klangs. Mit der Entwicklung synthetischer Klangerzeugungsverfahren ist eine spezifische körperliche Bewegung, die ein entsprechendes physikalisches System in Schwingung versetzt und damit Klang generiert, überflüssig geworden. Ob es eine Beziehung zwischen Bewegung und Klang gibt und wenn ja, wie diese gestaltet ist, wird mit der Digitalisierung endgültig zu einer Entscheidung, die frei von instrumentaler Bedingtheit getroffen werden kann und muss. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage nach der historischen wie aktuellen Bedeutung dieses Zusammenhangs. Untersucht werden daher die ästhetisch- wie formal-strukturellen Implikationen verschieden ausgeprägter Körper-Instrument-Klang-Darstellungsqualitäten und ihre Bedeutung und Konsequenzen für die Musik verschiedener Epochen bis zur zeitgenössischen digitalen Medienmusik und -kunst unserer Tage. Die technologische und damit auch ästhetische Entkoppelung von Bewegung und Klang reagiert historisch kontradiktorisch auf vorausgegangene Entwicklungen, die geradezu eine Überbetonung des Körperlichen im Akt des Musizierens zelebrierten. Im Virtuosentum des 19. Jahrhunderts beispielsweise war die dramatisch inszenierte Beziehung zwischen Körperenergie, durchschrittenem Tonraum und resultierender Lautstärke evident. In der Rock- und Popmusik der späten 1960er Jahre führte die Übersteigerung einer inszenierten Körperlichkeit in Verbindung mit elektrifiziertem Equipment mitunter gar zur Zerstörung von Instrumenten und Verstärkertechnik. Auch in benachbarten Disziplinen, wie etwa dem Tanz, wird der Körper spätestens 7
Klang (ohne) Körper
seit Isadora Duncan, Rudolf von Laban und Emile Jaques-Dalcroze emphatisch als Hort und Retter alles Musikalischen inszeniert. Im zeitgenössischen Musiktheater stehen von Kagel bis Aperghis, mit der Befragung sprachlicher, visueller und haptischer Formen und Bewegungen im Raum, körperbezogene Aspekte im medialen Zentrum musikalischen Ausdrucks. Mit der universellen Verfügbarkeit entkörperlichter synthetischer Klänge stellt sich zum ersten Mal die Frage nach der Bedeutung und dem inneren Zusammenhang von Körperbewegung und Klang, Spielgestik und musikalischem Ausdruck sowie den ästhetischen Konsequenzen der Entkoppelung von Bewegung und Klang, nicht nur in der elektronischen Musik. Ein Fokus auf die Spielbewegung, der in dieser mehr sieht als eine durch den klanglichen Gestaltungswillen motivierte Notwendigkeit, erweitert den historischen Blick auf die Thematik und ist somit nicht nur ein grundlegender Beitrag im gegenwärtigen Diskurs über die Rolle des Körpers in den elektronischen Künsten, sondern lenkt auch im Kontext historisch informierter Auff ührungspraxis die Aufmerksamkeit auf Fragen nach dem Einfluss der Körperbilder einer Epoche auf die Musik und deren Interpretation. Heutzutage spielen in den Jugendkulturen populärer elektronischer Musik, mit ihrem Primat von Rhythmus, Sound und systematisch-formalen Dekonstruktionen, körper- und bewegungsbezogene Rezeptionsformen eine auch musikästhetisch entscheidende Rolle. Die Vertreter einer technischen Medienmusik benutzen mit ihrem maschinenhaften Zugang fraktalisierte Reste eines körperbezogenen Musizierens als scheinbar neutrales Konstruktionsmaterial. Dabei beziehen sie als Vertreter postmoderner Körper-, Tanzund Maschinenkultur aus dem Insistieren auf maschinelle, selbstähnlich zersplitterte, gleichsam gefrorene Reste organischer Strukturen in Form gesampelter Loops und ostinater Pattern einen nicht unwesentlichen Teil ihrer ästhetischen Spannung. Ziel ist die Inszenierung hybrider, konzeptionell formloser Strukturen durch musikalische Verfahren der Wiederholung, Reihung und Schichtung. Diese ästhetische Darstellung automatenhafter Selbstigkeit vermittelt eine bruchlose, fließende Quasi-Natürlichkeit jenseits aller instrumentalen Leiblichkeit und ohne jegliche materielle Widerständigkeit. All das unterstützt ihre beabsichtigte körper- und bewegungsbezogene Rezeption. Der körper- und bewegungslos generierte synthetische Klang tritt uns heute von der Studioproduktion bis zur Internet-Distribution durchgängig medial vermittelt entgegen. Der vorliegende Band Klang (ohne) Körper nutzt methodisch daher medientheoretische Ansätze, um traditionelle wie digitale Instrumente als spezifische Interfaces in komplexen Environments in Relation zu medial-historischen Artefakten wie Körper und Bewegung beschreibbar zu machen. Der medientheoretische Fokus auf die untersuchte Materie erweitert den üblichen Ansatz, der das Potenzial von Instrumenten und Interfaces ausschließlich über ihre ästhetischen Inhalte defi niert. Der hier vorgelegte Ansatz definiert das Potenzial über die spezifische Medialität dieser Mittel. Er bietet somit neben einer Kategorisierung und Interpretation von Bestehendem eine Grundlage für neue Sichtweisen in Bezug auf Interpretation wie auf Kreation von neuer Musik in Gegenwart und Zukunft. 8
Einleitung
Im Kern der Betrachtung der spezifischen Medialität des Körpers in Bezug auf Klangerzeugung steht die Frage nach dem Ort des Körperlichen sowie der Leiblichkeit der Medien und der Kunst seit der Postmoderne. Die Digitalisierung führte mit ihrer Problematisierung der neu etablierten medialen Differenz zunächst zu einer negativen Rhetorik in Bezug auf ein prognostiziertes Ende von Raum und Zeit sowie von Individuum und Autorschaft. Dies zum Ende eines Jahrhunderts, das mit Körper, Maschine und Tod seine bestimmenden Motive definiert hatte. Die in den Medien des Digitalen real erfahrbar gewordene virtuelle Welt des Immateriellen wird mit den digital vernetzten Medien als Symptom der Krise bzw. des Wandels des öffentlichen Raumes, des kulturellen Gedächtnisses sowie der ästhetischen Diskurse assoziiert. Zugleich bilden sich zwischen Phänomenen ästhetischer Simulation und solchen der Virtualität hybride Zwischenräume heraus, in denen das Verhältnis von An- und Abwesenheit, Macht und Fantasie, dem musikalischen Handwerk und der geistigen Medialität der Künste und ihrer spezifischen Ästhetiken grundlegend neu ausgelotet wird. Dies hat schließlich auch zu einer Renaissance der Diskurse der Leiblichkeit und einer neuen Definition des Körpers beigetragen. Im ersten, als Pilotprojekt konzipierten Teil des Forschungsprojekts Klang (ohne) Körper im Studienbereich »Musik und Medienkunst« (www. medien-kunst.ch) an der Hochschule der Künste Bern (HKB) 2007-2008 stand die unspezifizierte Fragestellung nach grundsätzlichen Konsequenzen des ästhetisch-musikalischen Bedeutungswechsels musikalischer Spielbewegungen, von der zwingenden Voraussetzung für die Interpretation hin zum frei gestaltbaren Parameter der Komposition, im Zentrum. Als alternativloses Zwangsverhältnis von Musiker/Musikerin und Instrument war diese Frage jahrhundertelang substanzlos und ist somit sowohl in Bezug auf zeitgenössische und elektronische, vor allem aber auch auf alte Musik weitgehend unbearbeitet. Zwar wurde die Frage der Körperlichkeit und die Schnittstelle Körper – Instrument gerade an wichtigen musikhistorischen Eckpunkten intensiv diskutiert (z.B. beim Aufkommen der Instrumentalmusik, bei der Entwicklung neuer Instrumente, bei den körperlichen Spitzenleistungen des Virtuosentums und vor allem in der Entwicklung des modernen Dirigenten), aber solche Diskussionen fanden nie oder nur in der übertriebenen Fantasie (siehe etwa Offenbachs Les contes d’Hoffmann) unter der Prämisse einer möglichen oder drohenden musikalisch-ästhetischen wie musikantischen Robotik statt. Das Maschinenmodell, wie es aus der langen und mannigfaltigen Geschichte der Musikautomaten und selbstspielenden Instrumente bekannt war, bildet die Folie der Auseinandersetzung um die vermeintlich vernunftbegabte Mechanik des musizierenden homme machine (Julien Off ray de La Mettrie, 1747) wie um die Fantasie komponierender Automaten, welche die doppelte anthropologische Kränkung vollenden und bis in die komplexen Modellierungsfantasien unserer Tage virulent geblieben sind. Der komponierende und musizierende Körper wird konsequent negiert, imaginär ersetzt durch Medientechnologien der jeweiligen Epochen, von der Uhrmechanik über die Dampfmaschine, von der Schallplatte bis zu den Modellierungen unserer so genannten Elektronengehirne. Aber erst die Dispositive des Digitalen und die 9
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Erfahrung elektronischer Musik erlauben den grundlegenden Paradigmenwechsel, in dem Mensch und Maschine jeweils als Medium füreinander gedacht werden können. Wenn wie bei Hoff mann erst der dispositive Automat die Möglichkeit bietet, mit sich selbst in Kontakt zu treten, indem er Ordnung im eigenen Chaos schaff t, stellt sich die prinzipielle Frage nach der spezifischen Funktion des Körperlichen, welches mit der Substitution des Imaginären der Maschine bereits in der Frühromantik zu fehlen beginnt. Praktische Konsequenz im Ästhetischen erlangen diese Überlegungen allerdings erst mit der technischen Entwicklung synthetischer Klangerzeugung. Die historische Verortung der Frage nach der Entkörperlichung in der elektronischen Musik bietet für diese selbst neue Analysemöglichkeiten durch eine gespiegelte Außensicht und eröff net zudem eine bisher ungewohnte Perspektive auf die Musik früherer Epochen. Mit einer kohärenten Theoriebildung werden über die konkreten Analysemöglichkeiten hinaus auch kritische Reflexionen und Sichtungen jener zahlreichen Entwicklungen möglich, welche innerhalb der elektronischen Musik Körperlichkeit im früheren Sinne mit teilweise verzweifelter Protetik zu retten versuchen. Diese neue Perspektive könnte die historisch orientierte musikwissenschaftliche Epochen-Musikgeschichtsschreibung ähnlich erweitern, wie dies in medientheoretischen Zusammenhängen bereits geschehen ist. Das Ziel sind detailliertere, sehr präzise Prozessverläufe in Bezug auf historische Fragestellungen, wie z.B. die Verschiebung des Schwerpunktes im Streichbogen vom Frosch zur Bogenmitte und damit zu einer sich in Auf- und Abstrich klanglich annähernden und die natürliche körperliche Disposition überwindenden Spielweise oder der im späten 19. Jahrhundert hochgehaltene enigmatische, das Unwirkliche der Musik mit unlesbaren Bewegungen vorbereitende Dirigierstil (z.B. noch bei Furtwängler) gegen die nur auf Effizienz ausgerichteten modernen und maschinellen Positionen von Arturo Toscanini und Igor Stravinskij. Forschung in Bezug auf Fragen der Bedeutung, Funktion und ästhetischen Konsequenz des Körpers in der Musik ist sowohl für aktuelle, erst recht aber für alte Musik ungewöhnlich. Das Verhältnis von Bewegung, Instrument und Klang berührt bisher hauptsächlich Fragestellungen in Bezug auf Auff ührungspraxis und Instrumentalpädagogik. Über die Abwesenheit des Körpers in der elektroakustischen Kunst und die daraus resultierende medien- wie musiktheoretische Frage nach den ästhetischen Konsequenzen sowie der Funktion von Instrumenten als abstrakte Steuer-Interfaces, wie sie in diesem Band gestellt wird, existieren bisher lediglich fragmentarische Ansätze als Probleme der Autorschaft, der Genderforschung oder der medialen ästhetischen Phänomene. An diese knüpft unsere weitergehende Fragestellung nach entsprechenden formal-ästhetischen Konsequenzen an, die, wie gezeigt, positiv wieder als Frage an historische Musik und Musikpraxen rückgespiegelt wird. Gefragt wird nach Interface-Strategien von Musikinstrumenten verschiedener Epochen in Bezug auf ihre historische Entwicklung, spezifische Körperinszenierungen, ihre medien- und kompositionstheoretische sowie ihre praktische Bedeutung für die Qualität des resultierenden Klangs, gemessen 10
Einleitung
am jeweiligen epochenspezifischen Ideal. Die Problematisierung von Interface-Strategien ist momentan die dominierende Fragestellung in allen performativen elektroakustischen Künsten. Ihre Bearbeitung sowie die Entwicklung und theoretische wie praktische Evaluation experimenteller Interfaces bieten einen direkt realisierbaren Nutzen für alle Beteiligten und Interessierten. Über die Weiterentwicklung Erfolg versprechender experimenteller Interface-Entwürfe hinaus ist dieser Ansatz zudem geeignet, entsprechende Forschungsansätze in der kooperativen Entwicklung von praxistauglichen Modellen zu unterstützen. Die Resultate leisten einen Beitrag zur Erforschung elektroakustischer Gestaltungsmöglichkeiten, welchen im Kontext omnipräsenter digitaler Medien zunehmende Bedeutung zukommt. Die Formulierung einer entsprechend qualifizierten Fragestellung im Rahmen eines medientheoretisch motivierten Ansatzes bereichert die bestehenden, eher praktisch orientierten Arbeiten. Der medientheoretische Ansatz unserer Herangehensweise eröffnet Zugänge zu Forschungsansätzen aus den Bereichen der Medientheorie sowie der Medienwissenschaften, die musikalischen und musikwissenschaftlichen Fragestellungen traditionell eher verschlossen sind. Schließlich sollen ästhetisch-praktische Konsequenzen der hier vorgestellten Ergebnisse in Nachbargebieten wie etwa der konzertanten Erprobung von zu entwickelnden alternativen Interpretationsansätzen integriert und überprüft werden. Die hier vorliegenden Arbeiten der Pilotphase unseres Forschungsprojektes stellen einen ersten Schritt in eine neue Forschungsrichtung dar und sind damit die entscheidenden Grundlagen für eine zukünftige vertiefende Erarbeitung zu differenzierender Teilaspekte im Rahmen inhaltlicher Schwerpunktsetzungen in einem europäischen Forschungsverbund. Um den Rahmen und die Tragweite der vorliegenden Arbeiten einschätzen zu können, eröffnet Michael Harenberg den Band mit einem Überblick über die historische Entwicklung der Körperlichkeit und den jeweiligen ästhetischen Implikationen in den Künsten, vor allem der Musik. In »Medium und Körperbilder von der Renaissance bis heute« beschreibt er die Aktualität des Körpers als von den Geschichts- und vor allem den Medienwissenschaften neu entdecktes Sujet zu einem Zeitpunkt, da uns alle Gewissheiten über diese vermeintliche Hülle der Eigentlichkeit einer Person abhanden zu kommen drohen. Herrscht noch im Mittelalter eine überraschende Vielfalt an Körperbildern, werden bereits in der Renaissance die Wurzeln für ihre künftige indoktrinatorische Überformung durch die Religion bis zu den ökonomischen Zumutungen der industriellen Revolutionen mit ihrem jeweiligen Niederschlag in den Künsten gelegt. Heute zeigen hybride Genderstrategien und ebenso in der Schwebe gehaltene Körper-Interface-Adaptionen die Unschärfe von Körperbildern, die irrtümlicherweise als biologische Setzungen verabsolutiert interpretiert werden. Diese bedürfen in Zeiten ihrer virtuellen Setzungen und Modifizierbarkeit nicht nur in der Musik einer bewussten Gestaltung und operabel gehaltenen Interpretation, wie sie sich bereits in den musikalischen Körperbildern des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnt. Auf diese historischen Aspekte und ihre ideengeschichtlich-ästhetische Dimensionen verweist der Beitrag von Peter Reidemeister mit dem Titel »Kör11
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per, Seele, Musik, Maschine – Relationen und Wandlungen«. Anhand genealogischer Verwandtschaften zwischen Sprache und musikalischer Fachterminologie einerseits sowie der Alphabetschrift und des symbolischen Speichers der musikalischen Notation andererseits zeigt Reidemeister an zahlreichen Beispielen, wie eng die ästhetische Entwicklung der Musik mit auf die Frage nach dem Körper bezogenen Aspekten wie dem Tanz und der Entwicklung des Instrumentenbaus verzahnt ist. Zentral bleiben auch zu Zeiten anthropologischer Robotik und neuronaler Instrument-Interfaces Phänomene der Stimme wie des Gesangs, hängen sie doch am unmittelbarsten mit dem Atem als grundlegendem Metrum des Körpers zusammen. Davon abstrahierend war der Körper immer schon Gegenstand vielerlei äußerer wie innerer Zurichtungen, um nicht zuletzt den ästhetischen und instrumentalen Idealen der jeweiligen Epochen, gipfelnd im Virtuosentum des 19. Jahrhunderts, zu entsprechen. In letzter Konsequenz führt diese zunehmende Emanzipation isoliert wahrgenommener Körperfunktionen zu unserem parametrisierten Denken in Maschinenmetaphern, wie sie die durch die digitale Revolution provozierten Diskurse um virtuelle Instrumente und mediale Produktionswie Distributionsformen prägt. Reidemeister zeigt die Wurzeln dieses Verständnisses anhand der Geschichte mechanischer Musikinstrumente und Musikautomaten, mit verblüffenden Wiederholungen und zeitlich verschobenen Parallelentwicklungen zur historisch nachfolgenden Geschichte der elektronischen Musik mit ihrer radikalen Negation des konzertanten körperlichen Musizieraktes. Dieser ist Ausgangspunkt für den Beitrag von Franziska Baumann, die als Sängerin, Vokalperformerin und Klangkünstlerin ihre eigene künstlerische Praxis zum Ausgangspunkt ihres Beitrages nimmt. Zur Problematik der »Interfaces in der Live-Performance« beschreibt sie ausgehend von ihrem in den 1990er Jahren beim STEIM in Amsterdam entwickelten System Sensorlab die künstlerischen Konsequenzen eines unmittelbar mittels Handschuh und Gürtel bewegungsbezogenen Sensoriums am Körper der Sängerin. Im Unterschied zum traditionellen Gesang mit all seinen Möglichkeiten, über direktes Körperfeedback intuitiv zu kontrollierenden Nuancen, geschieht es hier mittels medialer Interfaces, die in ihrer Grundkonfiguration neutral sind und entsprechend in Bezug auf ihre Reaktion auf Gestik und Klang als integraler Bestandteil der Komposition gestaltet werden müssen. Sie gehören zu einem erweiterten Ausdruckspotenzial live-elektronischer Settings und erlauben eine zusätzliche Vermittlungsebene von Interpretationsansätzen in der vielschichtigen Kommunikation von Publikum und Performerin. Die Beziehung von Körper und Instrument ist auch das Thema im ersten Teil des mehrteiligen Beitrags von Daniel Weissberg. In »Zur Geschichte elektroakustischer Instrumente aus dem Blickwinkel der Körperlichkeit« betrachtet er die Geschichte der elektroakustischen Musik hinsichtlich ihrer Instrumente, die vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg noch in der Tradition klassischer Spielinstrumente stehen und in Bezug auf den Körper eines Spielers auch so reagieren. Aber bereits das erste vollständig elektronische Instrument, in einer langen Reihe von Erfindungen, sprengt diese Traditionen an zentralen Punkten auf. Das Theremin betrat 1920 die Bühne als ein neues, 12
Einleitung
zukunftsweisendes berührungslos gespieltes mediales Interfaceparadigma, ohne dass darauf ästhetisch und kompositorisch adäquat reagiert werden konnte. Parallel zu den Veränderungen der Gestik und Funktionalität des Dirigierens im 19. Jahrhundert lässt sich die Entwicklung einer überkörperlichen Vermittlung von Klang durch Bewegung aufzeigen, wie sie für alle frühen elektronischen Spielinstrumente wie der Ondes Martenot und dem Trautonium nachgewiesen werden kann und sogar Entsprechungen in der Entwicklung der traditionellen Instrumente hat. Aber erst die digitale Live-Elektronik ist in der Lage, Informationen aus Körperbewegungen zu gewinnen, die nicht nur klanglich, sondern kompositorisch-strukturell interpretiert werden können. Um diese Zusammenhänge geht es auch in dem Beitrag von Jin Hyun Kim. Unter dem Titel »Embodiment musikalischer Praxis und Medialität des Musikinstrumentes – unter besonderer Berücksichtigung digitaler interaktiver Musikperformances« beschreibt sie die komplexen Körpertechniken, die notwendig sind, um ein Musikinstrument zu spielen. Das gilt für historische Instrumente ebenso wie für das DJ-Set oder zeitgemäße mediale live-elektronische Settings, wie sie bereits auch bei Franziska Baumann und Daniel Weissberg problematisiert wurden. Jin Hyun Kim betont die Tatsache, dass sich unter dem Primat der Wahrnehmung, wie sie schon der Philosoph Maurice Merleau-Ponty betont hat, musikalische Körpertechniken verallgemeinert durch eine Kopplung von Körper und technischem Medium auszeichnen, die als Funktionen von Resonatoren und Controllern auch in Form digitaler Controller-Interfaces dargestellt werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die komplexe Konstruktion von Körperbildern eine Rekonzeptualisierung der Konzepte Musikinstrument und musikalische Praxis erlaubt und zu einer vertiefenden Ausarbeitung des Konzeptes des Embodiments um körpervermittelte und interaktionsbedingte Kognition und Aisthesis von Musik fokussiert. Ziel ist es, in Verallgemeinerung des medialen Konzepts Musikinstrument zu allgemein gültigen Aussagen zu gelangen, welche die Konstruktion neuartiger medialer Instrumente und einer entsprechenden ästhetisch-künstlerischen Musizierpraxis ermöglichen. Auch solche unter dem Begriff des Embodiments subsumierten Ansätze haben historische Vorläufer in der bereits von Peter Reidemeister dargestellten Parallelgeschichte der Automaten und Musikmaschinen. Claudio Bacciagaluppi beschreibt in seinem Beitrag mit dem Titel »Aus der Zeit vor Welte: Der Melograph – von einer Utopie der Aufklärung zum industriellen Erzeugnis« die spannende Geschichte nicht nur der mechanischen Reproduktionsmedien, sondern auch der Ideengeschichte automatisierter Kreativität. Mechanische Komponiermaschinen waren das späte Credo der in den mechanischen Reproduktionsinstrumenten gipfelnden Entwicklung um Welte und andere. Neu und das Ergebnis vielfältiger Entwicklungen seit dem 17. Jahrhundert war vor allem die Idee der Aufzeichnung nicht länger nur symbolischer Repräsentationen in Form einer Partitur, sondern des lebendigen Personalstils im Realen lange vor der Schallaufzeichnung. So beschreibt Bacciagaluppi die Geschichte von Komponier- und Improvisationsautomaten, die entweder am mechanischen Instrument oder im Schriftlichen der Partitur 13
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ästhetische Simulationsleistungen des Körpers wie des Geistes vollbringen sollen. Bedingung dafür sind die grundlegenden Veränderungen in der Musik, wie sie um das Jahr 1750 stattgefunden haben. Neue Stile, Instrumente und ästhetische Ideale führen zu ebensolchen Fantasien und Vorstellungen über die Mechanisierbarkeit solcher Fantasiemaschinen grundlegender Welterkenntnis, wie sie in der Mathematik bis auf Leibniz zurückgeführt werden kann. Die Verbindung von Komponierautomat und Wiedergabemaschine gelingt erst Mitte des 19. Jahrhunderts und tritt sofort in Konkurrenz zu den optischen Aufzeichnungsmedien wie der Photographie und dem Film sowie in eine Kooperation mit dem Telegraphen, was die technische Schaltungslogik angeht. Entscheidend ist die Tatsache, dass all diese Entwicklungen und ihre musikalisch-ästhetischen Konsequenzen dazu beigetragen haben, die Interpretation in den Stand einer Kunst zu heben, wie sie sich spätestens mit dem Virtuosentum als anerkannte bürgerliche Konzertpraxis etablierte. Von dieser Parallelerzählung geht es zurück zur offiziellen Musikgeschichtsschreibung der traditionellen Instrumente, Stile und Genres. Eine der Erkenntnisse während der in diesem Band dokumentierten Forschungsarbeit an der Fragestellung nach den vermeintlich körperlosen Klängen elektroakustischer Musik war die anfänglich unvermutete Perspektive auf die alte Musik, die Kai Köpp in seinem Beitrag mit dem Titel »Historische Streichbögen als Interfaces« einbringt, mit der er, wie es bereits aus dem Titel ersichtlich wird, an vielfältige Aspekte vorangegangener Beiträge anknüpft. Köpp adaptiert den technischen Begriff des Interfaces als instrumentale Schnittstelle zwischen Erreger und Resonanzkörper, um zentrale Aspekte historischer Spieltechniken und Musikinstrumente beschreiben zu können. Interessanterweise ist der Forschungsstand, gerade was Erreger wie Saiten und Bögen bei Streichinstrumenten angeht, sehr lückenhaft, obwohl gerade sie am direktesten auf Stile und repertoirespezifische Klangästhetiken sowie ihre doppelte medienspezifische Funktion zum Dirigieren eines Orchesters mittels Bogenbewegungen verweisen. Anhand neuester Erkenntnisse kann Köpp erstmals detailliert demonstrieren, wie sich Bogenformen und -arten sowie die entsprechenden Spieltechniken unmittelbar auf die Klangästhetik und damit auch auf Stile und Strukturen ausgewirkt haben. Anhand der Evolution der je spezifischen Medialität des Bogens kann so gezeigt werden, wie sich in langer ständiger Entwicklung des analogen Interfaces nicht nur die Klangausdifferenzierungen, sondern auch die komplexen Instrument-Körper-Relationen gebildet haben, die für unsere digitalen live-elektronischen Settings und virtualisierten Erreger-Resonator-Modelle den Maßstab bilden, den etwa Franziska Baumann als Ausgangspunkt für ihren Beitrag nimmt. Damit beschreibt Kai Köpp in seinem Beitrag indirekt auch die Geschichte der Ausdifferenzierung der Klangfarben und die ästhetisch-kompositorischen Konsequenzen dieser Entwicklung, bevor klangfarbliche Aspekte als Sound im 20. Jahrhundert übermächtig werden und ganz eigene Stile und Genres nicht nur in der Unterhaltungsmusik provozieren. Daniel Weissberg geht in seinem zweiten Beitrag genau dieser Fragestellung nach. In »Klangerzeugung als Drama und Resonanzphänomen« untersucht er die Beziehung zwischen ›natürlicher‹ und synthetischer Klangerzeu14
Einleitung
gung. Dabei sind es nicht nur Phänomene der Komplexität im Auf bau der jeweiligen Klänge und der Art ihrer physikalisch-energetischen Erzeugung, welche die qualitativen Unterschiede beschreibbar machen, sondern vielmehr die mediale Materialität ihrer Beziehung zu einem Instrument, die letztlich auch noch dann den spielenden Körper meint, wenn ihr Klang längst nicht mehr auf eine körperliche Bewegung verweist, wie es bei den frühen elektronischen Spielinstrumenten der Fall ist. Aber auch diese Beziehung wird mit der digitalen Klangsynthese obsolet, lassen sich doch mit ihr gedachte, virtuelle Klang-Körperbeziehungen realisieren, die sich wiederum auf virtuelle Klangquellen beziehen. Dies lässt letztendlich sogar die Frage nach einem Ursprung zu Gunsten der Medialität und Verortung seiner Rezeption in den Hintergrund treten. In Kombination mit der Entwicklung entsprechender Interfacetechnologien, vom Befehlsempfänger zur sensiblen Membran einer Multitouch-Oberfläche, entsteht ein komplexes Bild von Klang als ein dynamisches Resonanzphänomen aus der Verkörperlichung des klanglichen Gestaltungswillens in der Spielbewegung, als Verklanglichung der Spielbewegung in einer Instrumentfunktion, die auch als virtuelle im Rechner existieren kann sowie als hörender Nachvollzug der Inszenierung dieser Vorgänge im Rahmen der Rezeption. Das resultierende Drama im dynamischen System instrumentaler Erregung und Dämpfung wird in der synthetischen Klangerzeugung durch die Möglichkeiten rein technischer Verstärkung überwunden, manifestiert sich aber dadurch erst recht als Phänomen virtualisierten ästhetischen Gestaltungspotenzials. Die elektrische Verstärkung war sicherlich einer der Hauptaspekte in der Elektrifizierung traditioneller sowie der Entwicklung neuer medialer Instrumente, wie sie mit der Studiotechnik der Rock- und Popmusik populär wurden. Rolf Großmann untersucht in seinem Beitrag zum Thema »Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien« diese Zusammenhänge anhand der Problematik der Systematisierung der in den 1960er Jahren Elektrophone genannten Instrumentenfamilie, die sich durch den technikkulturellen Wandel ihrer medialen und musikalischen Praxis unübersehbar weiterentwickelt hat. Obsolet werden solcherlei kategoriale Fragen schließlich angesichts der ›Musikinstrumentwerdung‹ technischer Konfigurationen, wie sie mit der Instrumentalisierung der Reproduktionsmedien substanziell werden. Unklar werden zudem Fragen der musikalischen Gestaltung angesichts der Instrumentalisierung programmierter algorithmischer Prozesse sowie die Definition des Instrumentbegriffs. Komplexe mediale Instrumente wie das DJ-Set schaffen eine für die Musik neuartige Ausgangsposition ›halbfertiger‹ Musik, die dem Instrument medial bereits eingeschrieben ist. Resultat ist eine neuartige Distanz zwischen dem Gestaltungsprozess und der physischen Erscheinung der erklingenden Musik, die neue Inszenierungsspielräume eröffnet. Historisch gibt es eine ähnliche Situation erstmals, wie in den Beiträgen von Peter Reidemeister und Claudio Bacciagaluppi bereits erwähnt, im Zusammenhang mit Reproduktionsinstrumenten, die ähnlich dem neuerfundenen Plattenspieler auf der Bühne gespielt werden, indem lediglich die Parameter Lautstärke und Geschwindigkeit manipuliert werden können, während die klassische Komposition durch die 15
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Mechanik reproduziert wird. So entsteht eine mediale wie musikästhetische Grundkonfiguration, wie sie uns in Tradition der musique concrète im Körper des DJs der 1980er Jahre wieder begegnet, der das medial spielbare, globale Archiv aller verfügbaren Musik als sein künstlerisches Material begreift, das in einem großen, interaktiven und dynamischen Netzwerk existiert und mit dem Internet materielle Gewalt erlangt. Großmann untersucht die Konsequenzen und Spezifi ka dieser historisch wie ästhetisch einmaligen Konstellation, die in mehrfach gebrochenen und distanzierten Verhältnissen gipfelt. Mit der Problematisierung körperlicher Kontrolle dieser komplexen medialen Instrumente, die, wie etwa am Beispiel des STEIM gezeigt wird, konzeptuell eine eher intuitive denn exakte Steuerung ermöglichen, schließt sich der Kreis zu den Beiträgen von Franziska Baumann und Kai Köpp, die genau die historischen wie aktuellen Bedingungen dieser Art ästhetisch-medialer Feedbacks und Kontrolle beschreiben. Das Archiv als Ort präfi xierter Körper- wie Klanglichkeit problematisiert Daniel Weissberg im dritten Teil seines Beitrages mit dem Titel »Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe. Warum Aufnahmen sterben müssen«. Ausgehend von den symbolischen und reellen Speichern der Musik problematisiert Weissberg die spezifische Rolle musikalischer Codes und der Semiotik der Zeichen als Ausgangspunkt für komplexe Manipulationen nicht nur im Imaginären der Ästhetik, sondern auch für konkrete Manipulationen am Klanglichen, in Abgrenzung zur Sprache und dem Vokalalphabet. Dabei spielt der Körper eine Schlüsselrolle, wie Weissberg auch in Bezug auf den einführenden Beitrag von Harenberg sowie die Beiträge von Reidemeister und Köpp beschreibt. So werden etwa in der Tradition der Musikautomaten wie in der Figur des Virtuosen und des Dirigenten, die sich trotz ihrer Gegensätzlichkeit historisch parallel entwickeln, zentrale Konstellationen sichtbar, die sich bis heute erhalten haben. Erst recht nach der Revolution der Aufzeichnungsmedien durch Schallplatte und Tonband manifestieren sie sich in den Inszenierungen des musizierenden Spielers ebenso wie in denen des Maschinenhaften. Seit der Digitalisierung und dem damit verbundenen Wegfall körperlicher wie instrumentaler Bedingtheit drängen, wie am Beispiel des MIDI-Protokolls ausgeführt wird, sowohl Standards als auch instrumentale und mediale Virtualitäten der Universalmaschine Computer die künstlerische Inszenierung immer stärker in den Mittelpunkt. Momentan zeigt sich dabei eine zunehmende Körperbezogenheit gestischer Metaphorik, die der Komplexität der musikalischen Strukturen zwar noch nicht gerecht werden kann, aber eine zusätzliche Ebene kompositorischer Inszenierungen etabliert, die der Wahl der Metaphern im Umgang mit dem Computer umso weniger Grenzen setzt, je leistungsfähiger diese werden. Wer oder was muss also sterben für die mediale Einschreibung symbolischer Codes ins Imaginäre der kompositorischen Idee, wie sie sich vielfältig im Reellen von iPods oder iPhones zeigt? Im Anhang finden sich vielfältige Materialien, die im Rahmen der Vorarbeiten zu diesem Band entstanden sind. Neben der Verankerung des Forschungsprojekts in der Lehre im Studienbereich »Musik und Medienkunst« an der Hochschule der Künste in Bern, in Form eines Online-Seminars zum 16
Einleitung
Thema Experimentelle Interfacestrategien im Wintersemester 2007/08 gemeinsam mit dem Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel (Prof. Dr. Georg Christoph Tholen), den Fachbereichen für Musikwissenschaft in Köln (Prof. Dr. Uwe Seifert, Dr. Jin Hyun Kim) und Osnabrück (Prof. Dr. Bernd Enders) sowie dem »Schwerpunktbereich ((audio)) Ästhetische Strategien« (Prof. Dr. Rolf Großmann) der Leuphana Universität in Lüneburg, finden sich Materialien zu Zwischenergebnissen sowie zum Abschlusssymposium. Michael Harenberg, Daniel Weissberg, Karlsruhe, Bern, Imperia im Sommer 2009
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Mediale Körper – Körper des Medialen Michael Harenberg
Medium und Körperbilder von der Renaissance bis heute Spätestens mit der Postmoderne hat sich die Frage nach dem Ort des Körperlichen sowie der Leiblichkeit, der Medien und der Kunst radikalisiert. Die virtuelle Welt des Immateriellen (J.F. Lyotard) wird mit den digital vernetzten Medien als Symptom der Krise bzw. des Wandels des öffentlichen Raumes, des kulturellen Gedächtnisses und der ästhetischen Diskurse assoziiert. Zugleich bilden sich zwischen Phänomenen der Simulation und solchen der Virtualität hybride Zwischenräume heraus, in denen das Verhältnis von An- und Abwesenheit, Macht und Phantasie, Kontrolle und Ästhetik neu ausgelotet wird.1 Dabei ist es erstaunlich, welche Renaissance der Diskurs des Körpers in den letzten Jahren erlebt hat, nachdem eine überwiegend verlust-rhetorische Diskussion körperloser Zeichenprozesse lange die theoretische Analyse dominierte.2 »Niemand kann sagen, dass wir nicht alles getan hätten, um ihn aus der Welt zu schaffen, in der Theorie wie in der Realität. In der Theorie haben wir den Körper wegerklärt. Wir haben gezeigt, dass er nicht bei sich ist, sondern durchdrungen von Codes, die ihn konstituieren; mit Descartes haben wir ihn in einem scharfen Dualismus vom Geist getrennt, um dann nur diesen als Basis des Selbstbewusstseins zu akzeptieren; mit Kant haben wir die körperliche Wahrnehmung von der transzendentalen Synthesis abhängig gemacht; mit Foucault den Körper zu einer 1. Vgl. Stefan Münker: »Was heisst eigentlich ›Virtuelle Realität‹? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt«, in: ders./ Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 2. Zum prognostizierten Verschwinden des Körpers vgl. die umfassende Literaturliste von Hartmut Winkler: »Schmerz, Wahrnehmung, Erfahrung, Genuss. Über die Rolle des Körpers in einer mediatisierten Welt«, in: Stephan Porombka/Susanne Scharnowski (Hg.), Phänomene der Derealisierung, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 221f.
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Michael Harenberg
Relais-Station der Disziplinen; mit Lacan die Identität als Fiktion und als abhängig vom Imaginären erwiesen; wir haben gelernt, Gender und Sex zu trennen, und dann mit Butler auch den Sex als eine Gender-Variante erkannt. Und die radikalen Konstruktivisten schließlich haben uns gesagt, dass die Kognition unabhängig von jeder Außenwelt ausschließlich nach ihren eigenen Regeln verfährt. Wir haben Medientheorien entworfen, die im Begriff der Simulation den Unterschied zwischen dem Begriff und dem zu Begreifenden einziehen, und wir haben – ›Medien bestimmen unsere Lage‹ – die Medien zur Konstitutionsbedingung für das Bewusstsein wie fürs Soziale erklärt. Und dennoch – fast ist es ein Wunder – ist der Körper immer noch da. Im Migräneanfall kehrt er unabweisbar zurück, und es fällt uns einigermaßen schwer zu glauben, dass es sich auch hierbei um Zeichenprozesse handelt. Eine Art doppeltes Bewusstsein stellt sich ein. Der Schmerz erscheint wie die Sprache eines Anderen, das mit dem Anderen Lacans zweifellos nicht identisch ist; wie ein Einspruch des zu Begreifenden gegen unser Begreifen.«3
Dieser Einspruch verweist zum einen auf die von Michel Serres aufgestellte These der Unvereinbarkeit von alltagsorientierten lokalen und theoretischformalen, globalen Perspektiven. 4 Zum anderen werden die Prognosen und Hypothesen einer Zeit zitiert, in der etwa im Rahmen einer die grundlegende Frage nach dem ontologischen und anthropologischen Status der Technik stellenden »objektiven Ästhetik« (Max Bense), auch in der Musik die Maschinenphantasie menschenloser digitaler Automatisierung herrschte, die wir heute mit DJ-Sets, zahllosen Steuer-Interfaces, Multitouch-Screens, GameKonsolen und Live-Performances so eindrucksvoll widerlegt sehen.5 3. Ebd., S. 211f. 4. Vgl. Michel Serres: Hermes V: Die Nordwest-Passage, Berlin: Merve 1994,
S. 85f. 5. Zum wieder aktuellen Körperdiskurs vgl. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf: Bollmann 1991; Georg Christoph Tholen: »Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine«, in: Norbert Bolz/ Friedrich Kittler/ders. (Hg.), Computer als Medium, München: Fink 1994, S. 125-127; Yvonne Volkart: »Die Technofrau als Mythos der Maschine«, in: dies., Fluide Subjekte, Bielefeld: transcript 2006; Meike Jansen: Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005; Brigitte Hipfl /Elisabeth Klaus/ Uta Scheer: Identitätsräume. Nation, Körper und Geschlecht in den Medien, Bielefeld: transcript 2004; Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.): Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen: Shaker 2004; Brigitte Felderer (Hg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin: Matthes & Seitz 2004; Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Sabine Meine/Katharina Hottmann (Hg.): Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930, Schliengen: Edition Argus 2005; Wenzel Mracek: Simulierte Körper. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2004; Friedrich A. Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin: Akademie Verlag 2002; Friedrich A. Kittler:
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Mit dem Einzug digitaler Verfahren und entsprechender medialer Strategien beginnen sich musikalisch-ästhetische Manipulationsmöglichkeiten in ihrer Vielfalt qualitativ zu verändern. Die Medialität des Klanges selbst wird hybrid, indem Elemente transmedial-analoger oder intermedialer Performanzen ästhetischer Virtualität zum Einsatz kommen, um damit auch die Frage nach dem heutigen Ort des Körpers und damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen und Normen neu zu problematisieren. Hybride Performanz bedeutet nach Georg Christoph Tholen »Reflexion, Verschiebung und Re-inszenierung der Vorbilder und Selbstbilder des Menschen«6, insofern diese zunehmend medial erzeugt und verbreitet werden – von den Popbands der endlosen musikalischen Klischee-Inszenierungen bis zu den Wunschkörpern im Cyberspace oder Simulationen von virtuellen Instrumenten im Physical Modeling, die den Körper eines Instrumentalisten als Bestandteil des formalen Modells des virtuellen Instruments mitmodulieren, da sonst der nuancenreiche klanggestaltende, das Fell, die Saite oder Luftsäule in Schwingung versetzende energetische Input des Spielers auf das Instrument fehlen würde. »Das Virtuelle ist zukünftig Teil des Realen! Es wird zu seinem Paradigma, zu einer der Art und Weisen, einen Zugang zur Realität zu finden und nachhaltig auf sie einzuwirken.«7 In der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen arbeiten postmoderne MusikerInnen und KomponistInnen an einer medial reduzierten, bisweilen minimalistischen Brechung der traditionellen musikalischen Mittel und symbolischen Ausdrucksformen. Anknüpfend nicht nur an Fluxus und elektroakustische Kunst, sondern auch an Entwicklungen des Theaters, von Video- und Computer-Kunst werden in neuen Musikformen und -genres Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage gestellt, insbesondere die von den Medien vermittelten und geprägten Formen der Raum- und Zeiterfahrung. An diesem Punkt kann auch die Theorie einer musikalischen Medienkunst ansetzen, die das raumzeitliche Geflecht der ins Unendliche beschleunigten Medienimplosion, ihre Schocks und Krisen in ihrem nachhaltigen Einfluss auf kulturelle Sinnkonstruktionen wie musikalisches Gedächtnis und ihre historische wie aktuelle Phänomenologie analysiert. Gewöhnlich bleiben dabei die Medien selbst der blinde Fleck im Mediengebrauch und der leibliche Körper die Provokation: Wir hören Klänge, nicht physikalische Luftdruckbewegungen; wir lesen eine Geschichte, nicht Buchstaben oder Phoneme; wir bemerken Filme, keine Pixel, Bildschirmpunkte oder -zeilen. Für Medien gilt in Bezug auf ihre Funktionalität einerseits die »Synergie von Mensch und Maschine. Ein Gespräch mit Florian Rötzer«, in: Kunstforum Nr. 98, Ästhetik des Immateriellen II, (Januar-Februar 1989), S. 108-117. 6. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Hybride Performanz – Ein Ausblick«, in: ders., Die Zäsur der Medien, Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 197f. 7. Philip Quéau: »Die virtuelle Simulation: Illusion oder Allusion? Für eine Phänomenologie des Virtuellen«, in: Stefan Iglhaut/Florian Rötzer/Elisabeth Schweeger (Hg.), Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, Ostfildern: Cantz 1995, S. 61f.
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Metapher des Spiegels, für unsere Wahrnehmung jedoch die der Fensterscheiben: Je undurchsichtiger sie im Hintergrund unseres Bewusstseins bleiben, desto klarer scheint die (musikalische) Botschaft übertragbar zu sein.8 Die Auswirkungen der gegenwärtigen Medienimplosion auf unsere Sprach-, Denk- und Wahrnehmungsweisen sind noch kaum ausgelotet. In der virtuellen Realität des Cyberspace wird, wie in der Kunst, die gewohnte Ordnung von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt und zur umfassenden imaginären Reorganisation freigegeben. Dabei geht es weniger um das ganz Andere, als vielmehr um eine neue Perspektive auf mögliche Realitäten, auch der mehrdimensionalen, immersiven Körperlichkeit, die ja als Übersetzungsvorgang nie vollständig gelingt und bisher der semiotischen, mimetisch-graphischen Abstraktion von Körper-Repräsentationen im Cyberspace bedarf. Die abstrakte Simulation des Körpers als Avatar9 ist also bloßes Nebenprodukt von Übersetzungsversuchen in die virtuelle Dimension. Entscheidender als die Simulation realer Körper aber ist die Mythologisierung temporärer Substitution leiblich konkreter Körper durch eine materielose, geistig abstrakte Existenzweise (Münker). Dabei fungiert heute frei nach McLuhan der Computer als Medium, als Augen- und Hand-Extension des Benutzers im Virtuellen.10 Die mediale wie persönliche Subjektperspektive auf Körper, Geschlecht und Gender wird in der Regel als unveränderlich akzeptiert, da wir die gegebenen Dispositive in ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit für selbstverständlich halten und so gut wie nie in die Lage geraten, uns mit völlig anderen, selten auch nur alternativen Varianten auseinandersetzen zu müssen. Dabei ist der Körper mitnichten jener unverfügbare Rest, der allen menschlichen Wesen gleich ist. Er ist nicht das unveränderlich Universale, auf das sich die Menschen aller Epochen letztlich reduzieren lassen. Und doch scheint es uns unvorstellbar, dass diese als ›natürlich‹ erlebten Gegebenheiten unserer leiblichen Existenz ›künstlich‹, als Ergebnis des Prozesses einer umfassenden Vergesellschaftung durch uns selbst, hergestellt worden sind und durch Gesellschaft, Kultur und Lebensweise permanent bearbeitet werden.11 Wie groß die Einflüsse und Wahrnehmungsdispositionen dabei sind, lässt sich zum Beispiel an der weitgehend unreflektierten patriarchalen Struktur in der Versprachlichung wie Reflexion sowohl von Gegenstand als auch Theorie des Digitalen und der isolationistischen Natur der neuen Medien und insbesondere des Computers deutlich zeigen.12 8. Zur Spiegelmetapher vgl. Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: ders. (Hg.), Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 73. 9. Vgl. W. Mracek: Simulierte Körper (s. Anm. 5), S. 24f. 10. Vgl. S. Münker: »Was heißt eigentlich ›Virtuelle Realität‹?« (s. Anm. 1). 11. Zur Gesellschaftlichkeit als zweiter Natur des Menschen vgl. Klaus Holzkamp: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Bodenheim: Athenaeum 1986. 12. Vgl. Hartmut Winkler: »Medienmentalitäten. Analog und digital unter Gender-Aspekt«, in: Alexander Böhnke/Jens Schröter (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld:
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Singende Maschinen-Körper Im Bereich der Musik finden wir Beispiele für dramatische Veränderungen in den formalen Strukturen der Repräsentation von Körperbildern im historischen Maßstab, z.B. in der Entwicklung der Singstimme, stellt sie uns doch ohne äußerliches Interface unser körperlich natürlichstes Instrument zur Verfügung, welches in einem medialen Kurzschluss als direkt durch den singenden Körper geprägt und gleichzeitig ihn prägend interpretiert wurde. Dass die menschliche Stimme gleichzeitig als geschichtslos gilt, bestätigt lediglich einmal mehr, wie vordergründig selbstverständlich der Umgang mit diesem letztlich doch komplexen Instrumentarium ist, für das wir als einziges keine überlieferten Bau- und Stimmpläne einer historischen Spiel- und Auff ührungspraxis besitzen. Auch in Derridas frühem Werk Die Stimme und das Phänomen liegt das besondere der Stimme in der medialen Unmittelbarkeit zum menschlichen Körper.13 Dies ermöglicht über das Modell der Selbstaffektion, sich selbst sprechen zu hören, was einen spezifischen Kurzschluss im Modell der Selbstwahrnehmung bewirkt. Das hörende Sprechen besetzt den äußeren wie den inneren Raum des Körpers, der mit dieser Selbstaffektion reduziert und schließlich eliminiert wird, was eine einzigartig selbstverständliche Nähe zu sich selbst etabliert. Die wahrgenommene Sprache ist als Zeichen kein abgespaltener, fremder äußerer Signifi kant: sie ist volles Sprechen, um das man nicht fürchten muss. Das sprechende Hören ist so in der Lage, die eigene Präsens als sprechendes Subjekt mit der Präsens der Verfügung über die Sprache miteinander zu koppeln. Die Besonderheit offenbart sich im Verhältnis von Stimme und medialer Vergegenständlichung, als Frage nach dem ontologischen Status von Stimme und Körper als ein a priori der Spur, wie sie uns in ihrer formalisierten Variante als Alphabet oder Schrift gegenübertritt. Bei Platon steht die phoné, die lebendige Stimme in ihrer Präsenz für Fülle, Seele oder Geist. Als stimmliche Sich-selbst-Gegenwärtigkeit begründete sie eine Derivation von Seele zu Stimme zu Schrift (gramma) und verwies damit die Schrift in eine exteriore Position, einen Ort der Nachträglichkeit oder Absenz. An diesem Punkt, an dem die Schrift zum Aufschub und Supplement einer gegenwärtigen und ursprünglichen Rede erniedrigt wird, setzt Derridas Dekonstruktion an. Denn erst die Schrift (oder genauer: das griechische Vokalalphabet) ermöglicht es, dass das gesprochene Wort als Ursprung, und sie selbst als sekundär erscheinen kann. So wie die Stimme die Nachträglichkeit der Schrift denken lässt, so gibt die Schrift die Vorgängigkeit der Stimme erst zu denken. Das gilt ebenso für alte Verkörperungstechniken von Stimmen in Statuen und Texten, die als Schrifttafeln die fehlenden Körper transcript 2004, S. 117f.; Y. Volkart: »Die Technofrau als Mythos der Maschine«, (s. Anm. 5) 13. Vgl. Hartmut Winkler: »Reality Engines, Filmischer Realismus und Virtuelle Realität«, in: Schnitt-Special zum Dokumentarfilm, Duisburger Filmwoche 1998; Claus Pias u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur, Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999.
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vertraten. Diese Differenz von Stimme und Schrift ist folglich zwar anfänglicher, aber sie beansprucht nicht das Privileg des Ursprungs und damit der Überlegenheit. »[…] Wenn das Vergessen der Lautsubstanz im Sprechen und gleichzeitigen SichVernehmen der Stimme die phonozentristischen Hierarchien von Innen und Außen, Seele und Körper, Urbild und Abbild ermöglicht, dann liegt ihre angemessene Kritik in einer Wissenschaft der ›Grammatologie‹ (Derrida 1974).«14
Derridas medienwissenschaftliche Dekonstruktion des Phonozentrismus schaff t eine autonome Sphäre für einen erweiterten Schriftbegriff. Diesem gehört die phonetische Schrift der gesprochenen Sprache ebenso an wie die formalen Sprachen der Mathematik: Er beinhaltet all die graphème, die Aufschreibesysteme technischer Medien (wie Phonographie oder Photographie) ebenso wie die Programmiersprachen digitaler Computer, Notenschriften ebenso wie Kymographen, und er macht keinen Unterschied zwischen Sprachen mit oder ohne vorgängige(r) Oralität, mit oder ohne extrasymbolische(n) Bezügen.15 In den Graphien steckt bereits die Ablösung der Zeichen von ihren Bedeutungen sowie ihre Wiederholbarkeit auf ihre mediale symbolische Logik hin – die dann auch neu lesbar wird, so wie die Notenschrift neu lesbar wurde durch Formen ihrer symbolischen Vergegenständlichung. Durch ein platz-logisches Denken (Tholen), losgelöst von seiner Materialität als kreative Wendung der Mathematik, erscheint ein romantisches, doppelgängerisches Mechanik-Phantasma des Medialen da, wo nicht, wie beim Grammophon, die Musik selbst, sondern, wie bei den Selbstspielinstrumenten, lediglich Spielbewegungen aufgezeichnet werden sollen. Anders als bei der Sprache, wo bereits sehr früh mit der Schrift ein Symbolsystem existiert, welches sich vom Sprechenden löst, ist das bei der Musik bis zum Phonographen unvorstellbar, da noch die Notenschrift, ähnlich dem Lautalphabet, viel unmittelbarer mit dem verhaftet ist, was es repräsentiert. Entsprechend groß war der Schrecken, als die analoge Schrift der technisch aufgezeichneten Luftdruckschwankungen menschlicher Stimmen in Schallplattenrillen, diese in subtraktiver Absenz des zu hörenden Körpers in den fremden, nichtkörperlichen medialen Außenraum projizieren konnte. Und wie in einem romantischen Reflex wurde als erstes der Versuch unternommen, dem medialen Raum entkörperlichter Entfremdung einer sekundären Stimm-Körper-Erfahrung wenigstens eine Seele einzuhauchen. »Faktisch lag den gramophonvernarrten Bürgern und Kaisern der Jahrhundertwende an Stimmen mehr als am Ritornell, das Stimmen und Identitäten zum Tanzen bringt. Wildenbruch (wilhelm. Staatsdichter) verewigt sich in einer Grammophon-
14. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, zitiert nach Claus Pias, »Poststrukturalismus«, www.uni-essen.de/~bj0063/ texte/poststrukturalismus.pdf vom 02.04.2006. 15. Vgl. ebd.
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Aufnahme nach Ausführungen über Stimme als psychologisches Profil im Unterschied zu Gesichtern, mit den Worten: ›Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spruch/Die Seele von Ernst von Wildenbruch‹. Vom Klang zum Spruch, vom Spruch zur Seele: so krampfhaft war Wildenbruch bemüht, Reelles (seine gespeicherte, aber sterbliche Stimme) auf Symbolisches (den artikulierten Diskurs von Lyrik) und Symbolisches auf Imaginäres (seine schöpferische Dichterseele) zu reduzieren. Aber Technik geht normalerweise den umgekehrten Weg, vom Imaginären zum Symbolischen zum Reellen, womit aller Seelenhauch in Sound und Phonstärke der mit den Aufzeichnungsmedien und ihrem medialen Umfeld möglich gewordenen Rockmusik untergeht.«16
Eine andere, zeitgemäßere Möglichkeit, der unmittelbaren Kopplung von Körper und Stimme zu entkommen, sind die Kopfhörer mobiler Audiogeräte wie einst beim Urmodell aller musikalischen Mobilität, dem Walkman, bis zu heutigen iPods etc. Sie hüllen den Körper in einen akustischen Kokon, wodurch sowohl die eigenen inneren als auch fremden akustischen Außenräume durch die Überlagerung künstlicher Innenräume und fremder Stimmen in künstlichen Klang-Räumen kompensierbar, erträglich und gleichzeitig durch ihre Intimität scheinbar vertraut werden. Im Ohr, welches schon in der christlichen Religion als Schnittstelle zum Göttlichen fungiert,17 wird durch die Unterdrückung der Wahrnehmung der eigenen Stimme eine quasi magische Dimension mediatisierter Intimsphäre errichtet, deren Bipolarität eine Weiterführung in der Produktion medialer immaterieller Räume darstellt, indem alle Raumwahrnehmung ununterscheidbar miteinander verschmilzt. Sein Effekt ist damit ein sowohl dekonstruktivistischer als auch konstruktivistischer, wie Winkler schreibt: »Die Funktion des Walkman geht über die des reinen Musikhörens, wie es im Konzert oder vor der eigenen Stereoanlage stattfindet, weit hinaus. Sein Gebrauch bringt unweigerlich – wie schon im Namen durch die Bezeichnung walk, gehen, impliziert ist – das visuelle mit dem akustischen Erleben in Verbindung. Der Walkman lässt die akustische Umwelt verstummen und spaltet die Wahrnehmung dadurch in visuelle und akustische auf. Außenwelt wird erfahren mittels des visuellen Erlebens, die Klänge und Geräusche des Außen finden sich ersetzt durch die individuell gewählte Musik im Kopfhörer. Dieser Vorgang distanziert die Außenwelt, als klanglose erscheint sie zudem ohne Perspektive, ohne Mittelpunkt, Ränder und Tiefen, die sich in der räumlichen Wahrnehmung durch die Klänge der Außenwelt vermittelt hätten. Ähnlich wie in den Bildern der Malerin Gabriele Schnitzenbaumer purzeln plötzlich Häuser, Menschen und Objekte wild durcheinander – die Außenwelt 16. Friedrich A. Kittler: »Der Gott der Ohren«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 140-155. 17. Vgl. Christian Thomsen/Angela Krewani/Hartmut Winkler: »Der WalkmannEffekt. Neue Konzepte für mobile Räume und Klangarchitekturen«, in: DAIDALOS. Architektur Kunst Kultur, Heft 36 (Juni 1990), S. 52-61, hier S. 56.
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hat ihren inneren Zusammenhang, die Hierarchie ihrer Elemente verloren, das Auge transformiert sich in ein energetisches Chaos. In der reduzierten Wahrnehmung des Außen übersetzt die Musik die Bilder zu Filmsequenzen, die sie in immer wieder neue narrative Zusammenhänge stellt. Damit gemahnt die erlebte Außenwelt an die Darstellungen der Videoclips, die ein ähnlich disparates Verhältnis von Bild und Musik präsentieren, wobei die Musik meistens zu Stadtbildern oder Industrieruinen eingespielt wird. Der Walkman verwandelt die Außenwelt in ein Palimpsest übereinander geschriebener Bedeutungsschichten, Sinnzusammenhänge werden durch den Text und die Musik im Kopfhörer hergestellt, der Zusammenklang von Bild und Musik eröffnet eine scheinbar unendliche, variable und niemals identische Form von Bild-MusikRäumen. Wie in einem Spiegelkabinett verliert der Hörer/Betrachter/Begeher das Gefühl für echt oder falsch, physisch oder imaginär; das Außen besteht nur noch aus optischem Effekt.«18
Die entkörperlichte mediale Aufzeichnung wie die mediale Überlagerung und damit Überblendung der eigenen Stimme besitzt eine weitere, genderorientierte Konnotation, wie sich anhand der Geschichte der Funktion des Stimmgeschlechts im Kunstgesang zeigen lässt. Vom iPod bis zu den medialen Aufzeichnungsmedien der Partitur und ihrer gesellschaftlichen Verwendung wird deutlich, wie Körper und Stimme als mediales Phänomen gesellschaftlich-kulturellem und ästhetischem Wandel unterworfen waren und sind.19 Bereits die einfache Zuordnung von vermeintlich hohen Frauen- und tiefen Männerstimmen wirft aktuell, etwa in der Popmusik mit hohen Männer- und tiefen Frauenstimmen, als auch historisch einige Fragen auf. In Bezug auf die bis heute gebräuchlichen relativen Ordnungen der auf den mehrstimmigen Satz bezogenen Stimmlagenregister Bass, Bariton, Tenor, Alt, Mezzosopran und Sopran, wie sie seit dem 17. Jahrhundert überhaupt erst auf Singstimmen angewendet werden, gelten – ebenso wie bei der geschlechtlichen Konstruktion körperlicher Bedeutungszuschreibungen – weniger eindimensional-qualitative binäre Strukturen starrer Ordnungen, denn unscharfe quantitative Kontinuitäten zwischen etwas weniger oder etwas mehr. Um 1650 erscheinen solche Systeme noch als lediglich idealtypische Abbildung religiöser und weltanschaulicher Systeme, denn als empirische Darstellungen tatsächlicher Singstimmen. Solche tertiären, ursprünglich das göttliche Prinzip darstellenden Ordnungssysteme, werden allerdings genauso als arbiträre Konstruktion erkennbar wie das binäre, auf dem Dualismus männlich/weiblich basierende des beginnenden 19. Jahrhunderts, das uns ebenfalls bis heute so selbstverständlich erscheinen will.20 18. Ebd., S. 55f. 19. Vgl. D. Kolesch/S. Krämer: Stimme (s. Anm. 5); B. Felderer: Phonorama (s.
Anm. 5); Jin Hyun Kim: »Die Singstimme als Ausdruckszeichen. Zur medialen Funktion der Stimme in der Musik«, in: Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.), Medien/ Stimmen, Köln: DuMont 2003, S. 250-266. 20. Vgl. Rebecca Grotjahn: »Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kategorien. Die Konstruktion des Stimmgeschlechts als historischer
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Praktisch wurden ebenso früh Frauenrollen mit hohen Männerstimmen besetzt und dies keineswegs nur in Zeiten, in denen Frauen der Bühnenauftritt untersagt war, wie es überwiegend in der Kirchenmusik der Fall war. Neben Kastraten und Falsettisten konnten dies schon an den römischen Theatern auch normale hohe Männerstimmen sein. Das aber weist bereits darauf hin, dass Stimmlagen nicht automatisch als Zeichen für das Geschlecht aufgefasst wurden. Bis in die Barockoper stehen hohe Stimmen für das Göttliche, für Status und Jugend. Soprani und Alti stellen sowohl männliche Götter, Helden und Liebhaber als auch Frauenrollen dar, wobei weibliche und männliche Sänger austauschbar waren.21 Die Stimmlage wurde nicht automatisch mit den üblichen Genderaspekten verbunden, die erst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts mit seiner Konstruktion von Geschlecht waren, was sich am Beispiel des (Helden-!)Tenors der Barockoper zeigen lässt, der häufi g in der Rolle der Amme eingesetzt wurde und in der Männerrolle eher allgemein für Alter und niedrigen Status steht. Erst vom Spätbarock an wird auch in der Gesangspädagogik zwischen den Geschlechtern differenziert. Bis ins 18. Jahrhundert herrscht also eher das one sex model, welches von graduellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern ausgeht, die allerdings nicht identitätsbildend wirken und deren Ursachen nicht biologisch, sondern philosophisch, theologisch oder historisch definiert werden. Erst eine nicht länger in fließenden Übergängen, sondern in starr binären Gegensätzen definierte Zuordnung von Geschlechterrollen in Anatomie und Sexualverhalten, Biologie und Psyche, ließ eine solche Zuordnung zu, die schon während ihrer Entstehung als wirklichkeitsfremd erkannt wurde und bereits für alle existierenden Formen von Zwischendifferenzierungen, wie z.B. die Kastraten, keinen Platz mehr fand. Nach einer als willkürlich erkannten, aber als gottgewollt deklarierten Ordnung, die nicht länger akzeptiert wurde, entstanden auf Basis der neuen Formation bürgerlicher Gesellschaften auch neue Ordnungssysteme auf Basis vermeintlicher geschlechtlicher Wesensunterschiede, die diskriminierende gesellschaftliche Funktionen, Tätigkeits- und Handlungswie Herrschaftsbereiche legitimieren sollten.22 Die Nachfolge der Kastraten übernehmen zuerst tiefe weibliche Stimmen, bis die Forderung nach Einheit von Geschlecht und Rolle den männlichen Tenor hervorbrachte, was mit einer Revolution der Gesangstechnik einherging, die sich an den selbstgestellten Idealen des Verbots des männlichen Falsetts orientieren musste. Im Gegenzug wird der Koloraturgesang fast ausschließlich von Frauen ausgeübt, was dem Prozess der Zuweisung von Schönheit und Zierde an die Frau entspricht, welche so die als typisch weiblich angesehenen Zustände der unglücklichen Liebe, des weiblichen Wahnsinns, der Eitelkeit und Koketterie sowie den damit wie selbstverständlich einhergehenden Man-
Prozess«, in: S. Meine/K. Hottmann (Hg.), Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5), S. 23f. 21. Vgl. ebd., S. 35f. 22. Wie sie z.B. Foucault beschrieben hat in: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974.
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gel an Seele darstellen kann – die kompositorisch-musikalisch entsprechend ausgeschlachtet und somit bestätigt werden. Schließlich wird im Repertoirebetrieb des 19. Jahrhunderts weniger individuell für bestimmte Sängerinnen und Sänger komponiert, sondern von einer allgemeinen Reproduzierbarkeit der Partituren und damit in idealtypischer Weise von einer standardisierten (SängerInnen-)Körper-Konstitution ausgegangen. Der so weitgehend stilistisch normierte Stimm-Körper wird zum idealen Pendant der allgemeinen Industrialisierung und zersplittert zwischen dem Zwang zur Individualisierung bei gleichzeitig divergierenden Anforderungen und Neudefinitionen in einer Gesellschaft im Umbruch.23 Umbruchsituationen haben sich immer im ästhetischen Ideal entsprechender Körpernormierungen niedergeschlagen. Völlig zerrissen ist bereits das Christentum im Mittelalter, verglichen etwa mit der Antike, in der Bewertung der Körperlichkeit des Menschen, die gleichzeitig glorifiziert und unterdrückt, gepriesen und gedemütigt wird. Von einer generellen Abwertung des Leibes, zum Beispiel durch das Christentum als ein grundlegendes Element unserer kollektiven Identität, kann dennoch keine Rede sein. Es gibt auch keinen Vorzug des Geistes oder der Seele gegenüber dem Körper. Im Gegenteil stehen sinnliche Leidenschaften noch in dem Ruf, die spirituellen Kräfte zu beflügeln. So können sich Beziehungen von Klang, Bild und Körper im Mittelalter in bis dato ungekannter Weise ausdifferenzieren. Neben neuen Instrumenten wie der weiterentwickelten und sich als liturgisches Instrument in Mitteleuropa etablierenden Orgel, der Vollendung der modernen Notenschrift und der endgültigen formalen Ausdifferenzierung der Mehrstimmigkeit entstehen neue repräsentative Bildpraktiken und ein grundlegend gewandeltes Interesse am Körper, welche die zeitgenössischen Debatten bestimmen.24 Körperund Bilddiskurse des Christentums sind eng mit der Idee der Inkarnation, der Körper- und Zeichenwerdung Gottes verknüpft. Sie stilisieren Körper als Werkzeuge der Erlösung und legitimieren damit gleichzeitig spezifische bildgebende Verfahren. Ihre zentrale Stellung in der mittelalterlichen Theologie führt zu einem enorm gesteigerten Körperbewusstsein und einer Fülle an innovativen Bildformen und Bildfunktionen. Materielle Bilder und die Stilisierung des Körpers als Bild arbeiten sich am Zeichen-Paradigma des inkarnierten und des leidenden Christus ab. Mentale Bilder wie auch kompositorische Phantasien weltlicher Formen und Strukturen gewinnen zudem etwa vor dem Hintergrund popularisierter Meditationspraktiken an Bedeutung. All dies zählt zu den grundlegenden Techniken der zeichenhaften Medialität der Medien, die sich bis heute technisch wie gesellschaftlich-politisch weiter spezialisiert und ausdifferenziert haben.
23. Vgl. B. Felderer: Phonorama (s. Anm. 5). 24. Vgl. R. Grotjahn: »Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei
große Kategorien«, in: S. Meine/K. Hottmann, Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5), S. 26f.
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Von Puppen, Huren und Robotern Ein weiterer Ausgangspunkt und These zur Körperlichkeit im 20. Jahrhundert betriff t eine unterstellte Parallelentwicklung von künstlerischer Avantgarde und einer ganz neuen Art von Jugendkultur.25 Bezugspunkt in der Avantgarde sind revolutionäre, signifi kante künstlerische Bewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Futuristen, die Suprematisten und Bruitisten, die Dadaisten, die Surrealisten sowie die späteren Lettristen und die zu ihrer Zeit weitgehend unbekannt gebliebenen Situationisten. Sie alle modernisieren ästhetische Formen und Strukturen und verändern unseren Blick auf Musik und ihre Bezüge zu den radikalen Umwälzungen der industriellen Revolutionen. Puppen, Huren, Roboter – so der Titel einer Publikation von 200526 – treten als verstörte wie verstörende Körper der Moderne speziell in der Musikgeschichte der 1930er Jahre als Zeichen umfassender Modernisierungsprozesse verstärkt auf. Musik mechanischer Instrumente wie die Automaten tanzender, konzertierender oder schreibender Puppen und Tiere spiegeln die normsprengenden Bewegungs- und Verhaltensmuster der Moderne wieder, für die die Hure auf gesellschaftlicher Ebene steht. Angelpunkt sind die grundlegenden Veränderungen in allen Lebensbereichen, wie sie durch die erste industrielle Revolution in Europa Fuß fassen. Die italienischen Futuristen sind die ersten, die ästhetisch und u.a. musikimmanent diese gigantische Umwälzung reflektieren. Anders als in der Sowjetunion, wo sich nach der Oktoberrevolution kurzzeitig mit Bruitismus und Suprematismus ebenfalls existentialistische Kunstformen herausbilden, sind die italienischen Futuristen ästhetisch in den maschinen- und gewaltverherrlichenden Destruktionsverhältnissen von Erstem und Zweitem Weltkrieg zu verorten. Ihr ästhetischer Ansatzpunkt im Musikalischen ist primär die Emanzipation des Geräuschs, mit der die des Rhythmus eng verbunden ist. Über Strawinsky bis zu George Antheil reichen die Einflüsse in Form von körperbetonter Musik, welche sich über Adaptionen des aus den USA kommenden Jazz zuallererst in der neu entstehenden medialen Unterhaltungsmusik niederschlagen, die neue Rezeptions- und Produktionsweisen provoziert. Ihre musikalische Identität erhält sie über mechanisch hämmernde, als technische Wiederholungen in Form von Loops erst gespielte und dann auch technisch produzierte Formen, die auf rauschhafte und ekstatische Wirkung zielen und erstmals die bürgerlichen Konzertkonventionen sprengen, um eine stärker körperbetonte Rezeption in Zusammenhang mit Tanz zu erweitern. Diese als zweite Natur empfundene zwangsläufige Entwicklung der Verstädterung, der zunehmenden Geschwindigkeiten, Lautstärken und einer 25. Vgl. etwa Hartmut Winkler/Ulrike Bergermann: »Singende Maschinen und resonierende Körper. Zur Wechselbeziehung von Progression und Regression in der Popmusik«, in: Jürgen Arndt/Wemer Keil (Hg.), ›Alte‹ Musik und ›neue‹ Medien, Hildesheim: Olms 2003, S. 143-172; Friedrich Kittler: »Der Gott der Ohren«, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 130f. 26. S. Meine/K. Hottmann: Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5).
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tendenziell hysterischen Grundhaltung, prägt nicht nur die bürgerliche Körper tiefgreifend spaltenden Geschlechterdifferenzen grundlegend neu, sondern rekonfigurieren auch die neuen Körper der betroffenen Menschen. Vor allem die biologistisch begründete Geschlechterdifferenz machte auf die prekäre Situation alles Körperlichen aufmerksam, erhob sie doch das Männliche zur Norm und drängte damit alles Weibliche an den Rand gesellschaftlicher Normen und Regeln bürgerlichen Selbstverständnisses. Damit entstand erstmalig eine Sensibilisierung für Genderfragen, wie sie sich in den frühen Arbeiten des Ethnologen Marcel Mauss 1935 niedergeschlagen haben. In der Erforschung von trivialen Alltagsbewegungsmustern wie Laufen, Sitzen, Schwimmen, Gestikulieren etc. verschiedener Völker wurden so große Unterschiede und Differenzen deutlich, dass es sich nicht um angeborene Verhaltensweisen, sondern nur um die Konsequenzen aus der Beherrschung unterschiedlicher kultureller Techniken handeln konnte. Es sollte allerdings noch bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, um über die Arbeiten Michel Foucaults27 und Judith Butlers28 Körperlichkeit als primär soziales und historisches Phänomen anzuerkennen. Jugendkultur und Avantgarde nach 1945 nutzen beide in ihrer beabsichtigten gesellschaftlichen Provokation ästhetische Mittel. Im Gegensatz zu einer bewussten gegenkulturellen, künstlerisch provokativen Artikulation findet die der Jugendkulturen mehrheitlich in außerparlamentarischen politischen Bewegungen, ästhetisch aber unbewusst und symbolisch statt. Im Bereich der Jugendkultur steht die Inszenierung der eigenen Individualität im Mittelpunkt, geht es um eine Inszenierung auf der Bühne des Alltäglichen, die eine exhibitionistische Leiblichkeit zum Ausgangspunkt hat, wie es prototypisch an den unterschiedlichen Erscheinungsweisen der gegen den gesellschaftlichen Mainstream opponierenden Jugendkulturen (z.B. Punk und Techno als verschiedene Ausprägungen postmoderner Körper-, Tanz- und Maschinenkultur) abgelesen werden kann. Körper als Zeichen und Ergebnis zu interpretierender, vielschichtig inszenierter Bedeutungen spielen seitdem auch in der Frage musizierender und hörender Körper eine große Rolle. Auf die Frage nach ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Musik, und vor allem die synthetische wie instrumentale Klangerzeugung, gab es bisher allerdings kaum befriedigende Antworten. Dabei entfällt mit der Entwicklung elektronischer Musikinstrumente historisch erstmals die Zwangsläufigkeit der Beziehung zwischen einer notwendigen körperlichen Spielbewegung und der Art und Qualität des daraus resultierenden Klangs eines Instruments. Mit der Digitalisierung synthetischer Klangerzeugungsverfahren ist jegliche spezifische körperliche Bewegung, die ein entsprechendes physikalisches System in Schwingung versetzt und damit Klang generiert, überflüssig geworden. Jeder noch so abstrakte datengenerierende Prozess kann diese Funktion von nun an programmgesteuert 27. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
2002. 28. Vgl. etwa Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.
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übernehmen, was zwangsläufig auch zu einem erweiterten Musikinstrumentenbegriff führt, der sich zwischen dem Modell der Programmerzeugung und spezifischen Spiel- und Steuerinterfaces bewegt.29 So ist vor allem der Körper der InterpretInnen serieller, formalistisch verstandener Kompositionstechniken als »verzerrendes Prisma« (Edgar Varèse) zwischen der musikalischen Idee und der Realisierung durch interpretierende InstrumentalistInnen wahrgenommen worden. Spielende MusikerInnen wurden als zunehmendes Problem erkannt, je stärker KomponistInnen reihen- und proportionstechnisch abgeleitete, nicht länger traditionell standardisierte, sondern klangliche wie strukturelle, einheitlichen Ordnungssystemen unterworfene musikalische Ideen an der Grenze der Spielbarkeit umsetzen wollten.30 Die körper- wie bewegungslose Klangerzeugung studioproduzierter Lautsprechermusik der frühen Kölner Schule schien die ideale Lösung für das Problem. Überhaupt bestand das Versprechen der elektrischen, dann der elektronischen und schließlich der Computermusik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts darin, den aufwendigen und zeitlich extrem extensiven kompositorisch-kreativen Prozess abzukürzen und alle nötigen Arbeitsschritte möglichst in Echtzeit in die Hände der seit Beethoven aus jeglichen standardisierten historischen Ordnungssystemen katapultierten KomponistInnen zu legen: Die Umsetzung beliebig komplexer und zeitlich wie räumlich differenziertester Strukturen, das Erzeugen beliebiger Klangfarben, Lautstärken und Dauern in jeweils unendlich kleinen Abstufungen bis hin zum dirigentischen Auff ühren der Komposition, dem Drucken der Partitur oder der interaktiven Kopplung von musikalischen Parametern an außermusikalische Ereignisse. Als Phantasma der Junggesellenmaschine und Leitmethapher ist dabei die Maschine nach wie vor zentrale Instanz solcher negativ anthropologischer Utopien, sowohl zur Bewertung automatischer Abläufe von oder im Innern von symbolischen Maschinen als auch zur Beschreibung der sie bedienenden oder an sie angehängten Körper wie am Modell der Musikautomaten, Sprechund Musiziermaschinen zu zeigen wäre. Der menschliche Körper selbst als Maschine, bei La Mettrie fälschlicherweise noch als Provokation angesehen, gerät im 20. Jahrhundert zum zynischen Klischee und zu überholter, stumpfer Kritik.31 Schon in den 1920er Jahren wurde der Mythos der sich in der Natur frei bewegenden Körper als Gegenkonzept zum eingeengten Körper der Großstadt und der Arbeitswelt entdeckt und gefeiert. Die Freikörperkultur verdankt ihre Gründung dieser Imagination genauso wie z.B. der freie Aus29. Jin Hyun Kim: »Computer in Musik- und Medienperformances – vom geschlossenen Musikinstrument zum Audio-Interaktanten«, in: Rolf Großmann/Michael Harenberg (Hg.), Hörbilder und Soundkulturen, Bielefeld: 2009, (Vorankündigung); vgl. auch die übrigen Beiträge zu diesem Thema in diesem Band. 30. Michael Harenberg: »Von der Reihe zum Loop. Zur Aktualität des Serialismus in der Musik«, in: Christine Blaettler (Hg.), Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München: Fink 2010. 31. La Mettrie nach S. Meine/K. Hottmann: Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5).
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druckstanz, welcher zudem gegen die körperlichen Zumutungen sowohl des klassischen Balletts als auch der zeitgemäßen »beinwerfenden Automaten«32 in Form amerikanischer Revuegirls rebellierte. Siegfried Kracauer vergleicht denn auch den Tanz und die Posen der »Revuemädchen« mit Maschinen, Lokomotiven, kurz, einem mechanischen Räderwerk, dem wir die utopische Figur des Roboters verdanken. Kracauer analysiert verallgemeinernd mechanisch einstudierte Körperbewegungen, die sich derjenigen einer Maschine sehr stark angenähert haben und damit lediglich noch für die entfremdete Arbeit einzelner Teile eines größeren Ganzen stehen können, als bloße Fassaden, hinter denen er dann folgerichtig ein noch mächtigeres Destruktionsprinzip vermutet.33 Dabei versprach man sich in der Musik durch die Selbstigkeit der Maschine eine Befreiung und Entlastung vom mühsamen Handwerk musizierender Gleichförmigkeit. Ästhetisch stand der Automat dagegen für eine kühle Konzentration auf die reine Form der Musik ohne die gestenreich inszenierten Übertreibungen von Virtuosen und seelenbewegten Instrumentalisten. Schon Hindemith erhoff t sich 1927 diesen Effekt vom massenhaften Einsatz mechanischer Musikinstrumente. »Ihre Vorzüge seien: Möglichkeit der absoluten Festlegung des Willens des Komponisten, Unabhängigkeit von der augenblicklichen Disposition des Wiedergebenden, Erweiterung der technischen und klanglichen Möglichkeiten, Eindämmung des längst überreifen Konzertbetriebs und Personenkults, wohlfeile Verbreitungsmöglichkeit guter Musik. […] Diese Art des Musizierens ist aber schließlich nicht die Einzige, und wenn es der mechanischen Musik gelänge, mittels ihrer durch ihren geringeren Abstand vom Hirn des Komponisten verursachte größere Reinheit und Unmittelbarkeit eine gewisse Reinigung von allerlei Wucherungen in der heute üblichen Darstellungsmanier der ›gefühlsmäßigen‹ Musik zu veranlassen, wäre ihre baldige allgemeine künstlerische Anerkennung ungemein zu begrüßen. […] Die Vorzüge des Apparates liegen lediglich in seiner absoluten Eindeutigkeit, seiner Klarheit, Sauberkeit und in der Möglichkeit höchster Präzision – Eigenschaften, die das menschliche Spiel nicht besitzt, deren es auch nicht bedarf.«34
Diese Haltung wird problematisch, wo sie sich in Tradition des Melographen auf die musikalische Komposition bezieht und wie im Fall der »tönenden Handschrift« des gezeichneten Lichttonfilms »Klänge aus dem Nichts« von 1932 entstehen wollten.35 Das ist die Kehrseite einer schon euphorischen Begeisterung für den konzertierenden, sich bewegenden oder sprechenden 32. Josephine Baker zitiert nach ebd., S. 18. 33. Vgl. ebd., S. 19; Sebastian Baden/Devrim Bayar/Lukas Baden: Terminator–
Die Möglichkeit des Endes: Bewältigung und Zerstörung als kreative Prozesse in Bildender Kunst, Literatur und Musik, Karlsruhe: Engelhardt & Bauer 2008. 34. Paul Hindemith: »Zur mechanischen Musik«, in: Fritz Jöde/Fritz Reusch (Hg.), Die Musikantengilde – Blätter der Wegbereitung für Jugend und Volk, 4. Jahrgang, Heft 6/7, Wolfenbüttel: Georg Kallmeyer 1927, S. 156f. 35. Vgl. die Beiträge von Peter Reidemeister »Körper, Seele, Musik, Maschi-
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Automaten und alles Mechanische, wie es sich gerade in der Musik als Konsequenz der Aufklärung nach rationaler Durchdringung von Körper, Welt und Sein vielfältig niedergeschlagen hat. Vorraussetzung waren u.a. neue anatomische Kenntnisse des Körpers und seiner sensiblen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Auf dieser Grundlage war es ein leichtes, La Mettries in der Konsequenz emanzipatorische Überlegungen misszuverstehen und in Richtung eines einfachen Reiz-Reaktionsschemas in Bezug auf den menschlichen Körper zu interpretieren, dessen mechanisches Pendant, ein die Spielbewegungen eines Flötenspielers nachahmender komplexer Automat, bereits 1747 die formale Ästhetik mechanischer Selbstspielinstrumente des 19. Jahrhunderts vorwegnimmt. »Da nun aber einmal alle Funktionen der Seele dermaßen von der entsprechenden Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, dass sie offensichtlich nichts anders sind als diese Organisation selbst, haben wir es ganz klar mit einer Maschine zu tun.«36
Neben der philosophischen Provokation solcher Überlegungen der Auf klärung trugen sie in der Musik wesentlich zur Emanzipation der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert bei. Für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts kann man analysieren, dass die Vorstellung eines individualisierten Subjektes und in Konsequenz ein selbstdisziplinierbarer Körper mit einer entsprechend disziplinierten Arbeitsmoral für die Genese einer musikalischen Gattung wie der Klavieretüde unabdingbar war. Ideal des sich erstmals als unverwechselbares Individuum inszenierenden Pianisten war die virtuose Perfektionierung körperlicher Bewegungsautomatismen der Hände und in letzter Konsequenz die Geburt der Mensch-Maschine als ideale Verschmelzung des Körpers mit der Mechanik eines (Tasten-)Instruments selbst. So ist der bei Sabine Meine zitierte Text zur Körperbeherrschung als das Maß der eigenen Leistungsfähigkeit die Perspektive eines typischen Tastenvirtuosen, wie ihn Diderot, einer der Enzyklopädisten der Auf klärung, in seinem Roman Rameaus Neffe selbst zu Wort kommen lässt. Auf die geäußerte Befürchtung, seinem Körper gerade durch seine strenge Disziplin selbst Schaden zuzufügen, lässt er ihn antworten: »Fürchtet nichts. Das sind sie gewohnt. Seit zehn Jahren hab ich ihnen schon anderes aufzuraten gegeben. So wenig sie daran wollten, haben die Schufte sich doch gewöhnen müssen, sie haben lernen müssen, die Tasten zu treffen und auf den Saiten herumzuspringen.«37
nen« und Claudio Bacciagaluppi »Aus der Zeit vor Welte: Der Melograph« in vorliegendem Band. 36. La Mettrie nach S. Meine/K. Hottmann: Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5), S. 20. 37. Denis Diderot zitiert frei nach Johann Wolfgang von Goethe, in: ebd., S. 21.
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Mit dieser Haltung hält die Selbstdisziplin und der Drill Einzug in die Klavierpädagogik des 19. Jahrhunderts, wie sie sich in mannigfaltigen Schulen, Erfindungen und Apparaturen zur Züchtigung wie der gewünschten Ertüchtigung des mit der Klavier-Maschine zu verschmelzenden Körpers manifestiert. Dieses Streben nach perfekter mechanischer wie metaphysisch-idealer Gleichförmigkeit des Körpers endet – in Kontrast zur eher spielerischen Maschinen-Seele-Konfrontation der Romantik in der späten Auf klärung – zwangsläufig in der transzendentalen Figur der kleistschen Marionette, die zwar ohne Bewusstsein, aber gerade dadurch endgültig frei ist von den körperlichen wie menschlichen Unzulänglichkeiten. Diese Umdeutung des Automaten als zwar seelenloser, dafür aber perfekter Körper und der daraus entstehende künstlerische wie philosophische Zwiespalt bleibt themenbestimmend für das gesamte 19. Jahrhundert. Gerade angesichts des resultierenden Virtuosentums wie der Parallelentwicklung medialer Musikmaschinen reagiert E.T.A. Hoffmann mit seinen Texten Olimpia und Die Automate auf die zweifache Zumutung intellektueller wie körperlicher Entmündigung – durch die entseelte Praxis virtuoser Instrumentenbeherrschung ebenso wie durch die Mechanisierung körperlicher Spielbewegungen. Der Prototyp für die entsprechende Art der Komposition und speziell des weiblichen Gesanges findet sich in den Opern Rossinis. Von Schumann über Offenbach bis Wagner wird seine Art der formalistischen, mechanisch puppenhaften weiblichen Gesangsvirtuosität als formelhaft und seelenlos verurteilt. Wobei speziell Wagner darauf hinweist, welch narkotisch-berauschende Wirkung gerade diese Art der Stilisierung auf die HörerInnen hat. Als lediglich zugespitzte Kritik an der herrschenden Opernpraxis macht dies deutlich, weshalb Wagner im Gegensatz zu Offenbach, der den Zynismus mit der sich an ihren eigenen Trillern zu Tode singenden Operndiva lediglich auf die Spitze treibt38, eine grundsätzliche Reform der Darstellung des Musikalisch-Imaginären zu Gunsten eines Reell-Symbolischen forderte und mit seiner eigenen Komponierpraxis, beginnend mit dem Rheingold Vorspiel, einzulösen versuchte.39 Auf der Suche nach alternativen musikalischen Vergegenständlichungen jenseits der etablierten Dur-Moll-Tonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts fallen speziell die mannigfaltigen Clowns, Pierrots und Harlekine von Schönberg bis Strawinsky auf, die als groteske Überzeichnungen in der Lage sind, den Gefühlen von Absurdität, Bedrohung und Verunsicherung Ausdruck zu verleihen. Sie alle stehen auch für das Ende der Maschine als anthropologischnachahmende Simulation des Menschen zu einem Zeitpunkt, da dessen bisherige Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeiten mit der Moderne zusehends an ihre Grenzen stoßen und an allgemeiner Gültigkeit verlieren. Entsprechend interpretiert Sabine Meine den tonal ambivalenten Schluss des Pierrot lunaires zwischen dem Auf bruch in eine neue, nicht länger funktions-
38. In der dritten Szene des bis heute musikalisch wie ästhetisch unterschätzten Fragments aus Hoffmanns Erzählungen. 39. Vgl. F. Kittler: »Der Gott der Ohren« (s. Anm. 25), S. 130f.
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harmonisch determinierte Musiksprache und der durchscheinenden tonalen Verhaftung als »alten Duft aus Märchenzeit«. 40 Strawinsky übersetzt 1914 in seinen drei Stücken für Streichquartett die Metapher des tragischen Clowns musiksprachlich direkt und dramatisch-gestisch auskomponiert und findet so Ansätze einer neuen musikalischen Ausdrucksqualität, ohne die Grenzen des tonalen Ordnungssystems grundsätzlich in Frage stellen zu müssen, wie Schönberg dies tat. Die geschlechtsspezifische Zuordnung der Sinne, die bereits in der Renaissance beginnt, indem etwa dem als männlich konnotierten Sehsinn der Zentralperspektive der weibliche Hörsinn kompositorischer Verräumlichung gegenübergestellt wird, erfährt in der Moderne eine weitere Zuspitzung über die Diskurse des Unbewussten, der Sexualität und der Hysterie, wie man sie prototypisch an der Oper Salome von Richard Strauss studieren kann. An den neu verhandelten Weiblichkeitsbildern der Moderne und ihren Konnotationen zwischen Hure, Hysterikerin, Frauenbewegung und bürgerlicher Familie werden Rollen inszenierter Individualität vom äußeren Rand bis in die Mitte der neuen Massengesellschaft definiert. Anders als in der Romantik, wo die Techné der Maschine mit weiblicher Verstellungskunst in der Überlistung der Natur direkt assoziiert wurde, ist alles Maschinelle und Automatische jetzt unmittelbarer Ausdruck einer technisierten Natur. Ihre die KünstlerInnen faszinierenden Grenzen des Psychisch-Pathologischen wie des Ausgegrenzten werden in einer Gemengelage aus industrieller Revolution, Krieg, Psychoanalyse und rasantem technischen Fortschritt zum Rohstoff abstrakter Kunst. 41 Ein entsprechender somatischer Begriff der Gesellschaft, wie er sich im wagnerschen Gesamtkunstwerk bereits ebenso findet wie etwa in der Philosophie Nietzsches, ist die Folie für die Entwicklung der modernen Tanz-, Sport- und Körperkulturen, die auch als Gegengewicht zur abrupt steigenden Technisierung und Politisierung des Körpers dienen. Entdeckungen und Erfindungen wie die Elektrizität, die moderne Chemie, das vermeintliche mediale Universalmedium des Äthers sowie der Magnetismus betonen die mediale Magie des Körpers und seiner technischen Extensionen, die in allerlei Apparaturen und Verfahren ausbuchstabiert werden. Mit Photographie, Film, Radio, Telegraphie und Grammophon werden die Sinne betont, gleichzeitig aber medial isoliert, was erstmals ihre unabhängige Betrachtung und entspechende spezialisierte Forschungsansätze ermöglichte. Die technische Rekombination und Wiederverschaltung von Sinnen und Apparaten ist die nun folgende Geschichte der technischen Aufschreibesysteme, ihrer Standards und Technologien vom Tonfi lm über das Fernsehen bis zur alles vereinigenden turing’schen Universalmaschine als Medium transdisziplinärer körperlicher Vernetzung und Entgrenzung. 42 40. Vgl. Sabine Meine: »Einführende Bemerkungen«, in: S. Meine/K. Hottmann, Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5), S. 25. 41. Wie z.B. Hagen gezeigt hat. Vgl. Wolfgang Hagen: »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999. 42. Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann
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In der Musik finden sich die frühen Aspekte dieser medialen wie technologischen Aufspaltung und Wiederverschaltung zuerst am Symbolischen musikimmanenter ästhetischer Ausdifferenzierungen einer musiksprachlichen Emanzipation, wie etwa in Schönbergs Monodram Erwartung oder in Richard Strauss Electra, die abermals, wie schon Salome, erfahrbar werden lässt, wie sich die Diskurse technisch-medialen Fortschritts an der Rolle der Frau in der schizophrenen als Rand und gleichzeitige Mitte der Gesellschaft niederschlagen. Die ästhetische Verallgemeinerung des Körpers als Gegenstand der Industrialisierung einer Massengesellschaft problematisiert Prokofieff neben den italienischen Futuristen und den russischen Suprematisten bereits 1927 in seiner Oper Der Feurige Engel nach einem Libretto des symbolistischen Dichters Valerij Brjussow, in dem der hysterische Anfall des Engels Renata eine ganze Gesellschaft destabilisiert. Dieses Ausloten des Verhältnisses von Masse, Individuum und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen wird zum bestimmenden Sujet wie zur ästhetisch-musikalischen Vorgabe einer neuen ausdifferenzierten Musiksprache von Eugen d’Alberts Oper Die toten Augen über Alexander Zemlinskys Der Zwerg bis zu Alban Bergs Wozzek und findet seinen Kulminationspunkt nach dem Zweiten Weltkrieg im Umschlag zur ästhetischen Manipulation am Realen von Schallplatten und Tonbändern, wie sie einerseits in der Neuen Musik und andererseits in der elektroakustischen Musik künstlerisch Verwendung finden. 1929 formuliert Heinrich Scherchen in seinem Lehrbuch des Dirigierens noch einmal die romantisierende Gegenposition zu einer technischen Ver-Naturwissenschaftlichung der Musik im Übergang von symbolischen zu reellen Medientechniken und ästhetischen Manipulationsmöglichkeiten. Allerdings spürt man bereits im abwägenden Bewusstsein des Siegeszuges der medialen Zurichtung der Musik die Ahnung neuer Spielinstrumente und neuer formorientierter medialer Zugänge zu musikalischen Klängen und Strukturen, die neben dem Körper des Komponisten vor allem den der Interpreten in Frage stellt, der sich in der stilisierten und übertriebenen Ausdrucksästhetik der Virtuosen als Star neu zu erfinden versuchte. »Die Musik ist die geistigste Kunst. Am Anfang ihrer größten Epoche steht die Überwindung der Materie! Werckmeisters Tat, das temperierte Halbtonsystem, setzte ein ordnendes menschliches, ein Geistes-Gesetz, über die unbegrenzte Vielfalt des Stoffes. Was neun Jahrhunderte vergeblich gesucht, die Rangordnung der Töne, das zentrale Formgesetz der Musik, folgte notwendig aus der neuen geistigen Voraussetzung – die schwebende Materie ward vom Geist eingefangen! Das Geheimnis der Kunst ist das Geheimnis der Persönlichkeit, deren unendliche Berechungsmöglichkeiten sind nicht zu berechnen. Wohl aber ist die Kunstmaterie zu fassen. Es gibt keine Geheimnisse in den Tönen als die des Menschen und seines & Bose 1986; Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Manfred Faßler/Wulf Halbach (Hg.): Geschichte der Medien, München: Fink 1998; Elena Ungeheuer: Wie die elektronische Musik »erfunden« wurde: Quellenstudie zu Werner Meyer-Epplers musikalischem Entwurf zwischen 1949 und 1953, Mainz u.a.: Schott 1992.
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Organismus; die Musik verläuft nach menschlichen Gesetzen, menschliche Ordnungen stellen sich in ihr dar. Töne und ihre Verbindungen lassen sich berechnen, haben messbaren, eindeutig darstellbaren Wert. Gute Musik und gute Musiker verstehen sich ohne Hilfsmittel – ohne Zeichen für Stärkegrade und für Phrasierung, für Tempo, Ausdruck und Agogik. Der selbstherrlichste Künstler, der Herr der Töne, verzichtet aber gern auf seine Kraft: statt aus sich allein seine Kunst zu schauen, lernt er Werke der Musik meist mittelbar kennen, getrübt durch das Instrument, auf dem er spielt, entstellt durch die Mängel seiner instrumentaltechnischen Fertigkeiten.«43
Allgemein kann man hier eine, in Bezug auf aktuelle Veränderungen im Verhältnis von Körper und Maschinenmetapher, radikalisierte Haltung feststellen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis von Körper, Automatisierung und Maschine ein feindliches, geprägt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der ersten und zweiten industriellen Revolution. Mit dem Bild der großen Kraft- und Körpermaschine der Industrie konzentrierte sich das Verhältnis zur Technik auf die endlos repetierende Mechanik, der sich die organischen Bewegungen des menschlichen Körpers unterzuordnen hatten. In diesem Zwiespalt wurde Technologie primär antizipiert, künstlerisch verarbeitet und dargestellt. 44 Die frühen Formen des Jazz sowie die rohen Kräfte ostinater Reihungen mit aggressiven perkussiven und geräuschhaften Elementen in der Orchester- und Klaviermusik vor 1945 geben davon Zeugnis. 45 Noch in Luigi Nonos La fabbrica illuminata von 1964 für Vierkanal-Tonband und Gesangsstimme46 sind diese Bezüge zur mechanischen Gewalt einer Automobilfabrik eindrucksvoll in den Verarbeitungen der Fabrikaufnahmen des elektronischen Studios von RAI Uno in Mailand dominierend und im Kontrast zur oft zarten und zerbrechlichen Gesangsstimme, die in der konzertanten Fassung als einzige live gesungen wird, stilbildend.
43. Hermann Scherchen: Lehrbuch des Dirigierens, Leipzig: Weber 1929. 44. Vgl. Roger Behrens/Martin Büsser/Johannes Ullmaier (Hg.): Testcard 5.
Kulturindustrie – Kompaktes Wissen für den Dancefloor, Mainz: Ventil Verlag 1998. 45. Wie bei Edgar Varèse oder im Klavierwerk von George Antheil, z.B. der aggressiven Serie Mechanisms oder Ballet Mécanique gut hörbar. 46. Uraufführung Venedig 1964 mit Carla Henius.
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»Und wenn ich diese Taste drück’, spielt er ein kleines Musikstück …«47 Diese Vorstellung der Maschine hat sich mit den Phantasien und Hoffnungen, später mit der alltäglichen Wahrnehmung der Turing’schen Universalmaschine Computer, radikal verändert. 48 Im Übergang von den industriellen Körpermaschinen der Moderne zu den medialen Geistmaschinen einer Postmoderne verändert sich sowohl Gebrauch als auch Wahrnehmung von Technologie, die zum einen immer stärker als Bestandteil des Körpers in diesen hinein wandert und zum anderen immer weiter miniaturisiertes, selbstverständliches Alltagswerkzeug geworden ist. 49 Somit erleben wir heute Technik nicht länger als Gegenmodell zum Körperlichen, sondern als unterstützendes, die Sinne und die Wahrnehmung konstituierendes Verhältnis. Dieses Idealbild konfrontiert uns allerdings nach wie vor mit den Schnittstellen und Interfaces von Mensch-Körper und anorganischer Maschine, die deshalb auch in der künstlerischen Auseinandersetzung der Medienkunst nach 2000 zum zentralen Thema avancieren konnten. In der Musik spielen diese Grenzverhältnisse eine besondere Rolle, haben wir doch mit den Musikinstrumenten immer schon mit Interfacephänomenen zu tun, die heute angesichts informatorischer Meta-Instrumente in einem neuen Licht erscheinen.50 Mit der veränderten Körper-Maschine-Schnittstelle stehen nicht länger die mechanischen Metaphern der Automaten, Puppen und Roboter im Zentrum, sondern die widerstandslose Körperorganik des Flüssigen, des Netzwerkes sowie der medialen Simulation und des Virtuellen. Zeitgenössische smarte unspezifische Interfaces werden in einer ZweckMittel-Vertauschung sowohl in ihrer Funktionalität als auch in ihrer Interaktivität taktiler und empfindsamer in Bezug auf den menschlichen Körper und seine Funktionen, was das alte Verhältnis von Technik und Körperlichkeit nicht nur vertauscht, sondern körper-intelligente Interfaces ermöglichen wird. Die ehemals künstlerisch ins Zentrum gestellten Gefahren der Entlebendigung durch die Automaten-Puppe als Figur der Moderne haben sich damit ebenso erledigt wie der Ersatzkörper des Roboters oder die den Körper kontrollierende industrielle Körpermaschine. Es ist eine ganz andere Gefahr, die dem Körper droht.
47. Die Gruppe Kraftwerk im Song »Taschenrechner« auf ihrer LP Mensch-Maschine 1978. 48. Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Dresden, Basel: Verlag der Kunst (1964) 1995. 49. Vgl. auch speziell zum industrialisierten Körper der Moderne im Tanz, Claudia Rosiny: Videotanz. Panorama einer intermedialen Kunstform, Zürich: Chronos Verlag 1999; Gabriele Klein: »Die Aura des Ereignisses«, in: S. Meine/K. Hottmann, Puppen, Huren, Roboter (s. Anm. 5), S. 137f. 50. Vgl. Uwe Seifert/Jin Hyun Kim/Anthony Moore (Hg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations, Bielefeld: transcript 2008 (Vorankündigung).
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»Es ist der Ort des Körpers, der uns abhanden zu kommen droht. Seine vermeintliche Festigkeit und Dauerhaftigkeit verliert sich heute in immateriellen und virtuellen Gestalten, die bisweilen so gespenstisch scheinen wie jene digital kombinierten Bilder, die keine dingliche Unmittelbarkeit mehr bezeugen können oder wollen. Doch die Skepsis zeitgenössischer Diagnosen über das Verschwinden der Realität hat nicht nur einen melancholischen Aspekt: Die Einsicht nämlich, dass die klassischen Zeichen photographischer Treue zum Gegenstand trügen, setzt nunmehr vielfältige Perspektiven frei, Sichtbares als solches zu befragen und neu zu konfigurieren. Die unscharfen Ränder des Objekts heute verdanken sich einer Kunst der Auflösung, die zwar nicht mit der Entwicklung digitaler Techniken gleichzusetzen ist, aber ohne deren experimentelle Offenheit kaum möglich wäre. Diese neue Kunst bedeutet den Verlust starrer Grenzen: von Außen und Innen, von (gelebter) Vergangenheit und (simulierter) Zukunft. […] Im Schwebezustand dieser Fluchtlinien sind wir nicht verloren, sondern gewinnen ein um vorläufige Haltepunkte oszillierendes Gespür für neue Horizonte. Dieser, wenn man so will, unentscheidbare und unverfügbare Drehpunkt verzeichnet Momente des Schocks und des Traumas. Von ihm ausgehend, erfinden wir Geschichten, Märchen und Metaphern des Übergangs: flüchtige Figuren einer stets ungesättigten Neugierde.«51
Angesichts von Gentechnologie, der nach wie vor zunehmenden anthropologisch-technischen Vernetzung und der ebenfalls weiterhin intensivierten, wenn auch smarten Automatisierung, bleiben Zukunftsängste in Bezug auf die Funktion und Rolle des Körperlichen virulent. Der ein Bild der Romantik aufnehmende Diskurs ist der einer Verschmelzung von menschlichem und technischem Körper im sogenannten Rhizom-Körper des Cyborgs, von dem Dirk Spreen in seinen Drei Phantasmen der Technisierung des Körpers schreibt: »Technoutopien entwerfen Bilder geflechtartig verwachsener Körperlichkeit. Der Geist erscheint aus den Fesseln des Leibes befreit, verschaltet zum kosmischen Hirn. Die Grenzen des Fleisches lösen sich auf. Die Körper verschmelzen miteinander zu Schleimklumpen, aus denen mittels der dem Leben ureigenen Formbildekraft neue ›Individuen‹ hervorgehen. Technik und Organismus verbinden sich zu neuen Synthesen. Cyborgs – Bios und Techné vermischen sich. Vernetzung, Verschmelzung, Vermischung – der Körper wird zum technischen Körper-Rhizom, zum Transplantat. […] Insofern verbindet sich die Idee des Cyborgs ›organisch‹ mit der Idee universeller Vernetzung menschlicher Restkörper, d.h. kastrierter Gehirne, und Künstlicher Intelligenzen zu einem telematischen System. Beide Heilsphantasien implizieren den Zusammenschluss gesellschaftlicher Vermittlung und Kommunikation zu absoluter Identität. Schaut man genauer hin, zeigen sich auch die Gemeinsamkeiten zwischen dem ›individuellen‹ Techno-Körper, dem Cyborg, und seiner ›sphärischen‹ Version. […] Der spätmoderne Techno-Körper dagegen schließt das Andere aus seinem Innern aus. Er spiegelt sich in jedem seiner Fragmente als 51. Georg Christoph Tholen, unveröffentlichte Thesen zu: Per-Formanz: Theater- und Medientheorie, ProDoc Texte HS 07/08, Institut für Medienwissenschaften der Universität Basel.
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Ganzes wieder und bildet eine immanente Identität. Er besitzt eine ›fraktale Subjektivität‹ (Baudrillard). Die Gefahr einer ›Entfremdung‹ kann dieses Subjekt nicht wahrnehmen. […] Die Diskurse, die um die Technisierung des Körpers kreisen, bieten einen doppelten Fluchtpunkt. Die Flucht in die Noosphäre und die Flucht in den Körper. Entweder löst der Körper sich in Information auf oder diese verkörpert sich und bringt ihn mittels eines umfassenden Instrumentariums von Körpertechniken (vom Yoga bis zum Implant) in Form. Am Schluss treffen sich beide Modelle, denn auch die Kommunikation zwischen Cyborgs schließt Vermittlung kurz. In Rhizom-Körpern lösen sich die Konstrukte von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ auf.«52
Und doch erscheint der Cyborg als vereinzeltes Wesen, behauptet sich seine weiterhin starke Subjektivität wie in einem Konkurrenzkampf immer wieder gegen die Zumutungen seiner Technoidentität, was in der medialen Zuspitzung des Kinos zu so regressiven, bodybuilding-gestählten männlichen Körpermodellen wie denen von Robocop, Universal Soldier oder Terminator führt. Letztlich wird also am Körperbild der Postmoderne immer auch die transzendente Medialität der Modelle von Identität, Autorenschaft und Original in immer neuen Facetten verhandelt. Dabei werden im Bild der Mensch-Maschine-Cyborg nach McLuhan technische Medien als Amputationen und Ausweitungen des Menschen, als Extensionen einer imaginierten Gesamtperson verstanden, zu deren Selbsterhaltung sie sich unterzuordnen haben. Dieser Fetischismus des anthropologischen Diskurses (Tholen) unterstellt eine natürliche Natur menschlicher Tätigkeit, von der sich die künstliche, scheinhafte Dinglichkeit des Technischen zu unterscheiden und in der sie letztlich aufzugehen habe. »Diese anthropologische Konjektur über das Wesen der Technik als Leibprojektion […], die die Technik als Organersatz metaphorisiert, die Logik der Übertragbarkeit selbst aber unbestimmt lässt, kehrt kaum verändert in den Grundlagentexten heutiger Medienanthropologie und -biologie wieder: […] Ohne die von vorneherein in Anspruch genommene Dimension des Symbolischen gäbe es keinen Umgang mit den Dingen als solchen und keine Distanz zu ihnen; eine Distanz nämlich, die erst jenen Umgang durch den Akt der Benennung freisetzt. Doch diese Kluft von Physis und Kultur wird von McLuhan nur als bedrohliche verortet und ihre Überwindung gleichsam halluziniert. Elektromagnetische Wellen seien, so das unverblümte Bekenntnis McLuhans in seinem Spätwerk, eine biologische und zugleich mystische Entdeckung der religiösen und zugleich elektronischen Noosphäre einer telepräsenten und videoinstantanen Kultur: ein apokalyptisch vorgesehenes Reich in der Endphase des Menschen, welcher endlich – so die Verkündigung – seine alphabetische, d.h. neurotisch-gespaltene Existenz zugunsten der durch die Schriftkultur ungebührlich vergessenen oralen und auralen Unmittelbarkeit elektronischer Ströme zurücknehmen könne. Eine frohe Botschaft, die McLuhan schon 20 Jahre früher kursieren ließ: ›Im elektrischen Zeitalter, das unser Zentralnervensystem technisch so sehr ausgeweitet hat, dass es uns mit der ganzen Menschheit verflicht und die 52. Dierk Spreen: »Rhizom-Körper. Drei Phantasmen der Technisierung des Körpers«, in: sinn-haft, Nr. 7 (Juni 2000), S. 12-18.
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ganze Menschheit in uns vereinigt, […] ist es nicht mehr möglich, die erhabene und distanzierte Rolle des alphabetischen westlichen Menschen weiterzuspielen‹.«53
Zu erwarten ist allerdings, dass sich mit der weiteren Exploration des Digitalen im Rahmen einer ästhetischen Virtualität solche Phantasmen anhand realistischer Interface- und Embodiment-Strategien widerlegen lassen.54 Wir stehen hier ganz am Anfang einer Entwicklung, die den Körper nicht länger als Anhängsel oder Counterpart zum Technischen interpretiert, sondern eine smarte Technologieutopie entwirft, die sich an den Körper anschmiegt und ihn so, entgegen aller Vorhersagen, wieder in den Mittelpunkt stellt. Damit hat sich das Grundparadigma, angesichts der unsere Körper bereits vielfach durchdringenden integrierten Digitaltechnik, gewendet. Das ästhetische Wissen und unsere Erfahrungen mit künstlerischen Formalsystemen bilden jetzt die Grundlage für die Modellbildungen in der virtuellen Medialität des Digitalen. Strukturell bedeutet dieser Paradigmenwechsel den Übergang vom Sequenziellen eindimensionaler, mechanischer Linearitäten, wie wir sie uns im Rahmen der Gutenberg-Galaxis antrainieren mussten, zu den Verästelungen mehrdimensionaler Netzwerke, wie wir im Digitalen lernen, sie als dynamische zu denken. Die strukturellen Operationen im Ästhetischen von den ersten Ordnungssystemen der Mehrstimmigkeit bis zu einem spielerischen und körperbetonten Umgang mit kollaborativen Strukturgeneratoren heutiger mobile devices können zum Ausgangsmaterial zur Orientierung in den noch weitgehend unbekannten, virtuellen Referenzräumen des Digitalen werden. Wir erleben eine neue Qualität in der Öffnung dieser Prozesse aus elitären Expertenzirkeln hin zu kollaborativen Werkzeugen, mit denen die neuen musikalischen Bewegungsgesetze des Digitalen spielerisch und vor allem kollektiv erprobt werden können. Die dazu notwendigen Interfaces des Medialen benutzen den Körper als Sensorium und hochsensibles Steuerungssystem. Sie existieren jenseits spezialisierter Hardware; mit Laptop und/oder iPhone und einer schnellen Internetverbindung sind die technischen Voraussetzungen bereits hinreichend beschrieben.55 Da diese Modelle ästhetischer Kollaboration körperlich gespielt statt konstruiert werden, entsteht eine gefährliche, aber künstlerisch spannende kör53. Georg Christoph Tholen: »Die Zäsur der Medien«, in: Sybille Krämer, Über Medien. Geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Berlin: 1998, [S. 144-159], online Vorlesungsreihe unter http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/medium/inhalt.html vom 15.02.2007. 54. Vgl. Jin Hyun Kim/Uwe Seifert: »Embodiment«, in: Ludwig Jäger u.a. (Hg.), Signatur der Medien. Ein Handbuch zur kulturwissenschaftlichen Medientheorie, Paderborn: Fink 2010 (im Druck); s.a. den Beitrag von Jin Hyun Kim: »Embodiment musikalischer Praxis und Medialität des Musikinstrumentes« in vorliegendem Band. 55. Vgl. Helga M. Treichl: »Technik-Körper. Bröckelnde Binärcodes und elektronische Musik«, in: Roger Behrens u.a. (Hg.), Testcard 10. Zukunftsmusik, Mainz: Ventil Verlag 2001, S. 56-62.
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perbetonte Echtzeit. Die musikalisch-spielerische Reflexion erhält dadurch einen medialen Aufschub und vor allem einen anderen Adressaten, der die technisch generierten, digitalen symbolischen Repräsentationsmodelle semiotischer wie zwischenleiblicher Konvergenz zurück an den biologischen Körper als mediale Instanz der Rezeption und Ästhetischen Konnotation bindet. Wir beobachten dabei die über Formen und sinnliche Strukturen des Musikalischen synchronisierte Genese sozialer Räume virtueller Gemeinschaften. Dabei ignoriert die ästhetische Medialität des Musikalischen zeitliche Brüche und Verschiebungen im (technischen) Fluss der Kommunikation von Servern und Protokollen, in der die Spur der Körper zu Gunsten von selbstgewählten und inszenierten, von Programmstrukturen überlagerbaren, arbiträren Beschreibungen, anonymisiert wird. Persona beschreibt ursprünglich die durchtönende Maske des antiken Schauspielers, die ihn in zwei Personen aufspaltet, so wie alles kollaborative Handeln im Netz lediglich leeres, von Inhalten befreites Zeichenhandeln sein kann, wie es im unendlichen Verweis aufeinander den Charakter von Spielzügen annimmt, die je nach dem genau die adäquate Reaktion auf die medialen Optionen im Ästhetischen der Musik darstellen könnten. Der semantische Datenkörper im Netz verdankt seine Existenz der technischen Implementierung von Zeitlichkeit und Dynamik. Analog zur Zentralperspektive als Imitation des Sehvorgangs in Form eines unendlichen, stetigen, homogenen und damit mathematischen Raums, der mit dem psychophysischen Raum menschlicher Leiblichkeit – für den oben, unten, hinten, vorne etc. eben nicht homogen sind – nicht identisch ist, schaff t der virtuelle Raum eine Syntax, in deren Medium das, was ein solcherart mathematisierter Körper ist, auf neue Weise bestimmt und sichtbar gemacht wird. Seine Verdopplung in einen physischen und semiotischen Körper transformiert das Primat des Physischen überhaupt erst als Verkörperung von Bewegungskoordinaten, charakterisiert durch das Attribut des digitalisierten Bewegungsrasters (Shannon), zum Ausgangspunkt von kollektivem, interaktivem ästhetischen Handeln in dynamischen Netzen.56 Damit ist eine neue Qualität virtueller Referenzialität geschaffen, die einen möglichen ästhetisch-musikalischen Handlungsrahmen aufspannt, der belastbare Referenzen ebenso im Imaginären des Künstlerischen wie wieder an reale Orte und Körper rückkoppelbare (kompositorische) Strategien im Reellen der Membranen von Bildschirmen und Multitouchoberflächen liefert. Kollaborative Settings im Virtuellen liefern als kollektive mediale Interfaces raumbezogene Modellierungen der spielenden Körper als hybride Bestandteile gemeinsamer Kompositionsprozesse. Es entstehen ästhetisch interessante, konstitutiv hörbare Figurationen einer Zwischenleiblichkeit von je neuen Hörräumen, die durch ihre Simulationsleistungen neue vorwegnehmende imaginäre Einbildungskräfte erzeugen und den semiotischen wie den imaginären Körper des Hörens (Tholen) erneut ins Zentrum stellen. 56. Vgl. Sybille Krämer: »Verschwindet der Körper? Ein Kommentar zu computererzeugten Räumen«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
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Mediale Körper – Körper des Medialen
Der qualitative Sprung von alten simulativ-analogen zu neuen virtuellen rechnergestützten musikalischen Strategien und medialen Verfahren, wie er vor allem in der zeitgenössischen akustischen Medienkunst erprobt wird, provoziert die Frage nach einem Epochenumbruch im Umgang mit Modellen medialer Virtualität, wie sie z.B. an der Frage avancierter ästhetischer Körperinterfaces deutlich werden. Der eingesetzte Wandel hin zu einer Epoche nachhaltiger Verkehrungen des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Information und Materialität sowie die Auflösung der Macht durch Herrschaft über Materie und Mechanik, den man als Metalithicum bezeichnen könnte57, wird durch die alltägliche Erfahrung der Fluidisierung ehemals starrer Qualitäten, den Umgang mit dynamischen Netzwerken und interaktiven Interfaces, vorangetrieben. Bereits heute verdrängen in den Künsten Verfahren nichtformaler Selektion in präformierten Materialdatenbanken und globalen Archiven sowie die spielerische Gestaltung von möglichst vielseitigen, endlos in der Schwebe gehaltenen Optionen diejenigen der eindeutigen, strukturierten künstlerischen Setzung als Orientierung und Ergebnis kompositorischer Entscheidungsprozesse. Die Grundlagen für diese spielerischen Erprobungen der neuen Referenzsysteme wie für unsere ästhetischen Erfahrungen mit dynamischen, automatisierten Strukturen liegen in den strengen Ordnungssystemen der elektroakustischen Musik. Verfahren des Seriellen erprobten den Umgang mit formalen Systemen, wie sie heute automatisiert und unsichtbar in unseren Computern medialisierte Realität prozessieren.58 Sie tun das in quantitativ wie qualitativ so unvorstellbaren Mengen, dass ein Surfen auf den Strömungen permanenter Vorschläge und Optionen einer in Echtzeit sich unendlich verzweigenden, fraktalen Entscheidungsformation formaler wie sinnlicher Artefakte als adäquates antizpierendes Aneignungsmodell in virtuellen Referenzräumen erscheint. Die Medialität solcher virtueller Räume von kollektiver Interaktivität im Digitalen und das, was in und mit nichthierarchisch, aber dynamisch ineinander verschachtelten Körpermodellen improvisierter struktureller Formanten (Xenakis) geschieht, ist das Thema in Bezug auf den epochalen Bruch aktueller Musikproduktion wie -rezeption bezüglich der neuen Qualität einer spezifischen Ästhetik des Digitalen nach der explorierenden Phase strenger ästhetischer Figurationen und ihrer technischen wie unsinnlichen Strukturen. Eine körperliche Virtualität kompositorischer Ästhetik wie eine ästhetische Körperlichkeit kompositorischer Virtualität lässt sich als eine der Optionen denken und hilft, Klang und Körper als aufeinander beziehbare Bestandteile variabler dynamischer Ordnungssysteme zu erproben, solange uns eine vereinheitlichende Philosophie des Virtuellen fehlt. 57. Vera Bühlmann: »Metalithicum«, Salongespräche zu Virtualität, Synthese und Netzwerk. Eine Kooperation der Professur für CAAD, ETH Zürich (Dr. Vera Bühlmann) und dem Studienbereich »Musik und Medienkunst« der Hochschule der Künste Bern (Dr. Michael Harenberg). 58. Vgl. Michael Harenberg: Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace. Poietische Dimensionen musikalischer Medialität (Vorankündigung).
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Körper, Seele, Musik, Maschine – Relationen und Wandlungen Peter Reidemeister
1. Körper und Seele – äußere und innere Bewegung Wie eng körperliche Betätigung und Bewegung einerseits und Musik und Musizieren andererseits miteinander verbunden sind, geht besonders deutlich aus zwei Phänomenen hervor: a. aus der Sprache (musikalische Terminologie) und b. aus der Schrift (musikalische Notation). Ein sehr großer Teil des Vokabulars bedient sich bei der Bezeichnung von Klangproduktion und Klangqualität, Bewegung und Raum, Dynamik und Artikulation körperlicher Assoziationen und Allegorien. Wir sprechen z.B. von: • eilen, schleppen, zögern, halten – • accellerando, ritardando, sostenuto – • Fermate, attacca – • Andante (gehend), Courante oder Corrente (laufend) – • Lauf, Geläufigkeit, Passage – • Sprung, Schritt – • Tanz, tänzerisch, schwer, leicht – • Schwingung, Schwung, Dynamik – • Ausdruck, Akzent, Nachdruck – • Artikulation (= Gelenk), Gliederung – • Bogen, Springbogen (etc.), Aufstrich, Abstrich – • legato, staccato, martellato – • cantabile, gesungen, getragen – • lebendig, zurückhaltend, drängend – • steif, verhalten, gepresst – • hoch, tief, Lage, Umfang – • musikalische Gestalt, Form, Balance, Geste, Figur, Seufzer – • Puls, Takt schlagen, Schlagtechnik, auf den Schlag, heben, senken – 45
Peter Reidemeister
• • • • • • • • • • • • •
zupfen, blasen, schlagen, streichen, Tasten(-instrumente) – Anschlag, Toucher, Ansatz – stoßen, binden, tragen (portato), portamento – vibrato, tremolo – Flatterzunge – Themenkopf, Tonkopf – Spannung – Entspannung, Auflösung – Manual, Pedal, Tastatur – Triller, Praller, Mordent, Nachschlag, Vorschlag – greifen, Griff brett, Fingersatz – Resonanzkörper – Lage, Lagenwechsel, Mittellage – warmer Klang etc. etc.
Sichtbar wird der Körper- und Bewegungsbezug der Musik in der Art, sie zu notieren. Im Gregorianischen Choral wird mit dem Torculus eine steigende und fallende Tonbewegung und mit der Quilisma eine zitternde Verzierung symbolisch angezeigt: Die Zeichen bilden Bewegungsrichtung bzw. das intendierte Klangergebnis graphisch nach. In der Notation der Barockzeit gibt ein symbolisches Zeichen die Bewegung des Pralltrillers wieder, eine Wellenlinie zeigt ein Vibrato oder ein Tremolo an, mit der wellenförmigen Darstellung gebrochener Akkorde kann die Ringel-Bewegung der Schlange zum Ausdruck kommen.1 Leere, weiße, inhalts- bzw. bewegungslos wirkende Noten bedeuten liegende Klänge und können mitunter die Ruhe der Natur symbolisieren, im Gegensatz zu menschlicher Aktivität, Bewegung oder Affektgeladenheit, die gern durch das Drängende der Chromatik zum Ausdruck gebracht wird.2 Am konsequentesten führen dann die graphische Notation oder die space notation des 20. Jahrhunderts den Bewegungszusammenhang von Musik und Notation vor Augen. Ein besonders reichhaltiges Arsenal an Beispielen für die Körper- und Bewegungs-Allegorie in der Musik und der musikalischen Notation ist im Bereich der Programm-Musik zu finden. Das Spektrum reicht von Schlafund Traum-Szenen über die liegenden Bordun-Klänge der Hirtenwelt bis zu Sturm und Gewitter. Auch Bewegungsvorstellungen wie Gehen, rinnendes Wasser u.a.m. führen zu entsprechenden Bewegungsformen in der Musik (Andante), und die Darstellung von Kampfgetümmel führt in der Gattung Battaglia zu spezifischer musikalischer Umsetzung. Folgenreich ist die Beobachtung, dass all das nicht nur – quasi unidirektional – von Komponisten geschaffen ist, sondern dass deren Fantasie ihrerseits wesentlich durch körperliche und bewegungsmäßige Vorstellungen angeregt wird. 1. wie etwa im Mittelteil der Arie »Ich will dich nicht hören« (Nr. 9) aus der Bach-Kantate BWV 213 Hercules auf dem Scheidewege, NBA, Serie I, Band 36, Kassel u.a.: Bärenreiter 1963, S. 54. 2. wie etwa in der Auftrittsarie des Sokrates in der Oper Der geduldige Socrates von Georg Philipp Telemann, Telemann Musikalische Werke, Band XX, Kassel u.a.: Bärenreiter 1967, S. 10f.
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Körper, Seele, Musik, Maschine
Eine weitere Erfahrung geht vom Tanz aus, dieser fundamentalen körperlichen Wurzel der Musik, und betriff t – ganz lapidar – die Erdanziehungskraft, der alle Körper und Gegenstände ganz ›natürlich‹ unterliegen. Das Aufsetzen des Fußes im Tanz, die Thesis, fällt zusammen mit dem Taktschwerpunkt, die leichten Taktteile sind mit der Arsis, dem Heben bzw. Heranstellen des Fußes (und dem Erheben des Körpers) verbunden. Prononciert gegen die Erdanziehung gerichtet sind beim Tanz die Sprünge (später auch der Spitzentanz), Ausdruck von Leichtigkeit des Körpers und mühelos scheinender Überwindung der Natur bzw. der Erdanziehung. Auch die Abstrich-Regel für die Violininstrumente gehört in diesen Zusammenhang: Der Barock-Bogen und die entsprechende Spielweise differenzieren ganz ›natürlich‹ zwischen Auf- und Abstrich, wobei eine hörbare Ungleichheit der Bogenbewegungen beabsichtigt ist und der Aufstrich eine leichtere Klangqualität hat als der Abstrich. Dieses Licht- und Schattenspiel in seinem dem menschlichen Puls und dem Atem abgelauschten Rhythmus verleiht der Musik des 17./18. Jahrhunderts ihr rhythmisches Profil. Der moderne Bogenstrich dagegen bemüht sich, den in der Natur vorgegebenen Unterschied zwischen Leicht und Schwer, zwischen Auf und Ab auszugleichen und einen weichen Übergang zwischen Auf- und Abstrich herzustellen, womit die rhythmische Artikulation in der musikalischen ›Aussprache‹ geschwächt, ja nivelliert wird. Anschaulich fasst ein bekannter Vergleich diesen Kontrast in dem Bild zusammen: Die modernen Instrumente (bzw. die des 19. Jahrhunderts) ›malen‹ mit dem Pinsel, die historischen ›zeichnen‹ mit dem Stift. Ein anderes Gleichnis für den fundamentalen Unterschied der Bewegungs-Auffassungen stammt von Friedrich Nietzsche: »Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als ›unendliche Melodie‹ bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang […].«3
Eine der ersten Quellen, die uns ausführliche Informationen über die vom Tanz bestimmte Bogenführung der Barockstreicher liefern, ist die Vorrede in Georg Muffats Florilegium secundum von 1698. 4 In dieser Zusammenfassung der Praxis des lully’schen Orchesters gibt der Autor den Abstrich und den 3. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister, Band 2, »Vermischte Meinungen und Sprüche«, (Aphorismus Nr. 134, 1879) Stuttgart: Kröner 1972, Bd. 72, S. 65-66. Den Hinweis auf das Nietzsche-Zitat verdanke ich Jean-Claude Zehnder. 4. Vgl. Walter Kolneder (Hg.): Georg Muffat zur Aufführungspraxis, Strasbourg/ Baden-Baden: Heitz 1970.
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Aufstrich mit einem entsprechenden allegorischen Zeichen wieder, welches die Bogenbewegung symbolisiert. Die 1., 3., 5., 7. etc., also die im Takt betonten Noten, seien im Abstrich, die unbetonten Noten im Aufstrich zu spielen. Alle Sonderfälle, die diese Hauptregel ergänzen oder modifizieren, führt er minutiös auf.5 Folgerichtig ist deshalb die Terminologie der Musikschriftsteller des 17./18. Jahrhunderts, welche die ›guten‹ (also betonten) Noten als Nobiles bezeichneten und sie mit n notierten, die ›schlechten‹ aber mit v (von viles, die Schlechten – vilis=billig, wertlos, gering) – schon Nikolaus Harnoncourt weist darauf hin, dass diese Buchstaben-Symbole mit den bekannten Zeichen für Auf- und Abstrich in engem Zusammenhang stehen.6 Auch erinnert Harnoncourt daran, dass hier wie in anderen Fällen im Zeitalter der Französischen Revolution die jahrhundertelang gültige Regel der Hierarchien, der verbindlichen Ordnungen, ihre Geltung verloren hat – in künstlerischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht.7 Im Zusammenhang mit all diesen musikalisch-körperlichen Zusammenhängen (denn Taktlehre, Tanzschritte und Bogenregeln bilden ein zusammenhängendes System) bedeutet in der Musik die Aufwärtsbewegung in der Melodie stets eine Spannungszunahme, die Abwärtsrichtung eine Entspannung. (Die physiologische Parallele des Atems wird in Kapitel 2 zur Sprache kommen.) Die einleuchtende Bestätigung dieser ›Naturkräfte‹ ist im Zusammenwirken von Dissonanz und Konsonanz zu finden. Ein Vorhalt, so schreiben es die Satzregeln vor, muss sich stets nach unten auflösen: Nach der klanglichen Anspannung in der Dissonanz tritt die Entspannung durch die Konsonanz – körperlich nachvollziehbar – in Abwärtsbewegung ein. Auch hier kann die musikalische Terminologie Aufschluss geben: Der Begriff Kadenz z.B. gibt zu verstehen, dass man sich das Ende eines Satzes, einer Phrase, eines Abschnitts (eben: wo kadenziert wird) als einen mit Entspannung verbundenen Fall in die Tonika vorstellte (cadere=fallen). In seinem Kapitel »Von der Geberden-Kunst« behandelt Johann Mattheson8 ausführlich den bestimmenden Einfluss der Musik auf die Gestik – und wir können ergänzen: auch umgekehrt der Gestik auf die Musik. Die Körpersprache, sagt er, sei viel effizienter als die Wortsprache, weil Worte nur die Zunge »zum Werckzeuge« haben; »Geberden aber haben ihren Beistand an allen Theilen des Leibes«, sie haben »auch wirklich mehr Nachdruck als alle Worte […].«9 Aufgabe des Komponisten sei es, dem Acteur Gelegenheit zur Action einzuräumen. Umgekehrt erwähnt Mattheson aber auch die »Abbil-
5. Vgl. ebd., S. 58f. 6. Vgl. Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musik-
verständnis, Salzburg: Residenz Verlag 1982, S. 50. 7. Vgl. ebd., S. 49. 8. Vgl. Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, (Hamburg 1739) Kassel: Bärenreiter 1954, S. 33-41. 9. Ebd., S. 34; Gottsched nennt die Körpersprache einmal »Beredsamkeit des Lebens«, vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst, (Leipzig: Breitkopf 1736) Hildesheim, New York: Olms 1973.
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dungen der Geberden in musicalischen Noten«.10 Das Mienenspiel sei oft eine »Mutter guter musicalischer Erfindungen«. Mattheson steht stellvertretend für die barocke Tradition der außerordentlich engen und fruchtbaren wechselseitigen Verbindung von Tanz, Gestik und Mimik mit der Komposition (und, zu ergänzen: mit der Ausführung). Das Wesen der alten Tänze hängt nicht nur mit Bewegung, Haltung und Körpergefühl, sondern auch mit der Kleidung zusammen. Ernste Schreittänze z.B. werden stets von Paaren in schweren Kleidern ausgeführt, was zu gewichtiger Bewegung führt und zum Ausdruck der Würde beiträgt. Fröhliche Springtänze bilden den anderen Endpunkt der Skala, und dazwischen liegen viele Abstufungen. Nicht minder assoziiert man beim Hören mit den Tanztypen auch soziale Implikationen: Eine Pavane ist sozial gehoben, ein Menuett gehört eher in die einfachere Sphäre der Gesellschaft, ein Bauernoder Contredanse gehört gar in die unteren sozialen Gefilde. Mozart macht sich bekanntlich diese Assoziationskette in der Oper Don Giovanni durch die Überlagerung dreier Tänze zunutze (Menuett, Contredanse und Teutscher, Finale des 1. Aktes). Wie viele Sätze in der Musik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, auch wenn sie keine Tanzbezeichnung tragen, sind ihrem Bewegungscharakter nach doch eigentlich Tänze! Was, wenn nicht eine Sarabande ist das Thema der Goldberg-Variationen (BWV 988, im Original einfach Aria überschrieben), was, wenn nicht eine Gigue, der Schlusssatz des 5. Brandenburgischen Konzerts (im Original schlicht Allegro bezeichnet), was, wenn nicht eine Sarabande, der Schlusschor aus der Matthäus-Passion »Wir setzen uns mit Tränen nieder«?11 Ein Ensembleleiter oder ein Cembalist, dem diese Zusammenhänge bewusst sind, wird sehr viel weniger Gefahr laufen, die adäquate Bewegung für einen solchen Satz zu verfehlen. Treffend drückt es Peter Gülke aus: »Allemal ist Musizieren ein kommunikativer Akt, ein Austausch, bei dem Rückkoppelungen durch die Kanäle unserer Erlebnisweisen hin- und herschwappen; man befördert nicht Musik in die Welt, ohne Welt in die Musik zu befördern.« 12 Man könnte diesen Satz leicht abändern und formulieren: Man befördert nicht Musik in den Körper, ohne Körper in die Musik zu befördern. Wiederum ist es die Sprache, die darüber Auskunft gibt, wie eng in der Vorstellung das Konzept Emotio mit dem Körperlichen ist. Man ist berührt, bewegt, wird transportiert, gerät außer sich. Emotion ist etwas Physisches, nichts Theoretisches oder Nur-Psychisches, und Emotion ist eng gekoppelt mit persönlicher Authentizität. Ohne innere Bewegtheit ist äußere Bewegung der ausführenden Musiker/-innen eine Farce, unecht, unehrlich, aufgesetzt. Und 10. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister (s. Anm. 8), S. 40, Paragraph
46. 11. Doris Finke-Hecklinger: Tanzcharaktere in Johann Sebastian Bachs Vokalmusik, Trossingen: Hohner 1970; Wolfgang Rüdiger: Der musikalische Atem. Atemschulung und Ausdrucksgestaltung in der Musik, Aarau: Musikedition Nepomuk 1995. 12. Peter Gülke: »Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?«, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis XXVII (2003), Winterthur: Amadeus 2004, S. 25-33.
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ohne persönliche, im Physischen wurzelnde Authentizität ist der Versuch historischer Authentizität, nach der die Alte Musik-Bewegung trachtet, sinnlos wie Trockenschwimmen. Eine elementare Beziehung herrscht auch zwischen körperlichem Energieaufwand und Klangvolumen – je mehr Kraft ausgeübt wird, desto voller wird der Klang. Aber auch der Zusammenhang zwischen aufgebotener Energie und Richtung und Bewegungsart der Melodie wurzelt im Körperlichen: Schrittweise Bewegung benötigt weniger Energie als sprungweise Fortbewegung, größere Sprünge benötigen mehr als kleine. Im Metrischen kommt eine weitere Kategorie dazu: Synkopen haben einen größeren Energieverbrauch als die regulären Betonungen auf den ›guten‹ Taktzeiten. Auf harmonischem Sektor verlangen Dissonanzen, Vorhalte u.ä. sowohl dem Spieler wie dem Hörer mehr Energie ab als Konsonanzen und Auflösungen – das Widerspiel zwischen (körperlich basierter und psychisch empfundener) Spannung und Entspannung tritt hier deutlich zu Tage. Und natürlich ist der Zusammenhang auf dem Gebiet der Bewegung und des Tempos besonders spürbar: Schnelle wie auch schwere Stellen fordern Verdichtung, leichtere und langsamere Lösung der Spannung. All diese musikalischen Erscheinungen haben ihre Widerspiegelung im Körperlichen, und in dialektischer Weise wirkt die körperliche Komponente auf die Phantasie der Komponistinnen und Komponisten, auf die Vorstellung der Ausführenden und das Verständnis der Hörerinnen und Hörer. Zwar ist es der Komponist, dessen Einfälle ein Menuett, eine Pavane, ein Rigaudon oder ein Andante, eine Schlafszene, einen Sturm, eine Battaglia entstehen lässt, aber es sind auch die diesen Aktivitäten zu Grunde liegenden Bewegungsbilder und Körpervorstellungen, welche die Phantasie der Komponistinnen und Komponisten inspirieren. Die Frage stellt sich, ob jene alten körper-bezogenen Empfindungs- und Erfindungsmuster noch subkutan als Erinnerungsbilder auch in der Neuen Musik, sogar der elektronischen, weiterwirken, sowohl im Schaffensakt der Komponistinnen und Komponisten als auch im Rezeptionsvorgang der Hörerinnen und Hörer.
2. Vom musizierenden Menschen zum Spielapparat Das ›Eldorado‹ der Roboter ist Japan. Über 40 Prozent aller weltweit verwendeten Roboter stehen alleine dort. Vom Qrio berichtete DER SPIEGEL: »Bis zur Einstellung der Qrio-Produktion Anfang des Jahres bereiste der Blechzwerg den halben Globus und absolvierte Dutzende PR-Termine […]. Qrio-Gruppen tanzten Androiden-Ballett, balancierten auf Surfbrettern und schwangen bei einer Konzernweihnachtsfeier zu den Klängen von ›Ave Maria‹ bunte Glöckchen […]. Für den massenhaften Verkauf war das aufwendig programmierte Kunstwesen mit einem Wortschatz von rund 60.000 Begriffen zu teuer. ›Qrio war ein Spielzeug aus der Zukunft‹, sagt der kanadische Wissenschaftsjournalist Timothy Hornyak. Und auch wenn Sony die Herstellung von Qrio und seinem vierbeinigen Gefährten, dem
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Roboterhund Aibo, eingestellt hat, sind beide für Hornyak doch Symbole japanischer Roboterkultur.«13
Der ›Blechzwerg‹ wurde auch zum Dirigieren programmiert. Und in einer Live-Versuchsanordnung wurde die Probe aufs Exempel gemacht. Die Autorin berichtet weiter: »Der Dirigent ist von auffallend kleinem Wuchs. Trotzdem führt er sein Orchester, die Tokioter Philharmoniker, souverän durch Beethovens Fünfte Symphonie. Noch irritierender als seine knapp 60 Zentimeter Körpergröße sind die gelben Augen, die in seinem Metallschädel glimmen. Der Maestro, der da im März 2004 in Japans Hauptstadt den Taktstock schwingt, ist eine Maschine: Qrio, der humanoide Forschungsroboter des Elektronikriesen Sony.«
Wovon DER SPIEGEL nicht berichtet, ist ein anschließendes Gespräch mit dem Konzertmeister des Orchesters, der nach seinen Erfahrungen mit der Dirigiermaschine gefragt wurde. Es sei schon verblüffend, was der könne, soll er geantwortet haben, nur an eines müsse man sich erst gewöhnen: »Der Roboter atmet nicht«. Damit ist ein Phänomen angesprochen, das zutiefst in der menschlichen Dimension des Musizierens verwurzelt ist. Der Atem ist nicht nur das physiologische Fundament der ursprünglichsten Form des Musizierens, nämlich des Gesangs, er ist auch der Inbegriff des Fluktuierens und Pulsierens, das in so vielen Erscheinungen das Leben bestimmt: vom Winter-Sommer- und TagNacht-Rhythmus über die periodischen Tonschwingungen bis zum Herzschlag bzw. Puls und zum Schritt des Menschen. Wir sprechen von Spannung und Gegenspannung, von der Balance im Körper, (und in der musikalischen Form) von Frage und Antwort (bzw. in der Formenlehre von Vordersatz und Nachsatz), in der Metrik von leicht und schwer, beim Tanzen von Thesis und Arsis, und zu den grundsätzlichen Kategorien des Körpergefühls beim Musizieren gehört der Begriff der Schwingung. Goethe fasste es in die Worte: »Mit leisem Gewicht und Gegengewicht wägt sich die Natur hin und her, und so entsteht ein Hüben und Drüben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und Hernach, wodurch alle die Erscheinungen bedingt werden, die uns im Raum und in der Zeit entgegenstehen.« 14 Später ist der Atem auch zur Metapher der Seele geworden, die ihrerseits der Materie Sinn einhaucht. Er wurde als verbindendes Element zwischen der seelischen und der körperlichen Komponente des Menschen angesehen und als Membran, in die sich alle Gemütsbewegungen einschreiben, von wo sie die Muskulatur und die körperliche Befindlichkeit bestimmen. Wolfgang Rüdiger bringt es auf den Punkt:
13. Julia Koch: »Im Reich der Replikanten«, in: DER SPIEGEL, Nr. 38, Hamburg: Rudolf Augstein 2006. 14. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Band XVII, Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 11, Leipzig: Insel [o.J. um 1925], S. 26.
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»Atem ist uns das Elementarste, existenziell Nächste wie der Herzschlag, dem er verschwistert ist – Inbegriff für Leben, Geist und Seele, ursprünglichster KörperAusdruck und Basis aller menschlich-musikalischer Äußerungen […]. Durch Atmen werden wir aufmerksam auf musikalische Zusammenhänge und Ausdrucksgehalte – und auf den Körper, der sie hervorbringt – Körper verstanden in unserem Zusammenhang als leibseelischer Organismus oder, anders gesprochen, als psychophysische Einheit, in welcher der Atem ebenso Träger physischer Funktionen wie emotionaler Befindlichkeiten und Bewusstseinsformen ist. So wie der Atem eine Brücke schlägt zwischen Musik und Körper, so verbindet er, auf der Seite der Musizierenden selbst, Körper, Seele und Geist. Damit eröffnet das Thema Atem über die Frage nach der Einheit von Körper und Musik beim Instrumentalspiel und Gesang hinaus einen großen geistesgeschichtlichen Traditionszusammenhang. Es berührt den Bereich der Religion, Mythologie und Metaphysik ebenso wie die philosophische LeibSeele-Problematik, betrifft die moderne psychosomatische Medizin ebenso wie die Vielfalt der Körpererfahrungs- und Therapiemethoden im 20. Jahrhundert und durchzieht die Geschichte der Musik, der Rhetorik, der Literatur, der Malerei und bildenden Kunst […]. Da Instrumentalspiel und Gesang aber von grundsätzlichen körperlich-seelischen Voraussetzungen abhängen – Haltung, Bewegung, Spannung/ Entspannung, Energie, Konzentration, Selbstbewusstsein, emotionale Verfassung etc. –, in deren Zusammenhang der Atem eine wichtige Rolle spielt, tritt gleichzeitig mit der künstlerischen Ausdrucksfrage auch die körperliche Komponente ins Blickfeld. Denn dies ist das Faszinosum der Musik: Dass Instrumentalspiel und Gesang immer eine doppelte Aufmerksamkeit beanspruchen – aufs Werk, das es zu interpretieren gilt, und auf den Körper, der die Bedingungen dafür bereitstellt und dadurch selbst an Differenzierung und Ausdrucksfähigkeit hinzugewinnt. Durch Musizieren werden wir aufmerksam auf unseren Körper und umgekehrt: Durch Gewahrwerden, Sensibilisieren und Erweitern unserer Körpermöglichkeiten können wir unseren musikalischen Klang und Ausdruck intensivieren […].«15
Diese enge Verflechtung von Körper, Atem, Seele, Musik und Musizieren ist vom heutigen ›professionellen‹ Musikleben weit entfernt. In den industriellen Gesellschaften schritt auf Grund der fortschreitenden technischen Entwicklung die Entfremdung von Geist und Körper laufend weiter fort. Das reine Werkzeugdenken setzte sich durch, auch die Musikinstrumente wurden bloße Mittel bzw. Mittler; ihr vom Gebrauch unabhängiger Wert verblasste, und von der Magie, die in frühen Zeiten einer Trommel, einer Geige, sogar dem Klavier anhaften konnte, war keine Rede mehr. Die im wirtschaftlichen Leben zunehmende Arbeitsteilung, die fortschreitende Trennung von Kopf- und Handarbeit führte immer mehr zur getrennten Wahrnehmung des Körperlichen und des Geistigen. In überzeugender Weise haben Jürgen Uhde und Renate Wieland darauf hingewiesen, dass dabei die »Instinktfähigkeit des Körpers« verarmte und dass diese Entwicklung zur Schattenseite des technologischen Fortschritts gehörte. Der Fortschritt »hat uns fremde Länder und
15. Wolfgang Rüdiger: Der musikalische Atem. Atemschulung und Ausdrucksgestaltung in der Musik, Aarau: Musikedition Nepomuk 1995, S. 10-13.
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Gestirne nahegebracht«, wie Walter Benjamin einmal sagte, »aber das uns Allernächste, unser Körper, ist uns das Allerfremdeste geworden.« 16 Einen Schritt auf diesem Weg stellen die Geräte und Vorrichtungen zum Körpertraining beim Klavierspielen dar, die im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis in die 1930er Jahre zur Disziplinierung und ›Abrichtung‹ der Klavierschüler/-innen erfunden und angewendet wurden. Das Klavier spielte bekanntlich in der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, nicht nur im Konzertwesen, sondern besonders in der Haus- und Kammermusik. Das Erlernen des Instruments verlangte von den SpielerInnen nicht nur die Entwicklung der Musikalität, sondern auch das Beherrschen des Körpers. Zur Vorgeschichte der wachsenden Aufmerksamkeit auf den technischen Aspekt lesen wir etwa im Jahr 1853 bei Friedrich Wieck: »Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als die alten, berühmten, dünnen, bescheidenen silbermann’schen Claviere und Kielflügel von 5 Oktaven, worauf Mozart und Haydn spielen mussten, den Hammerklavieren von 6 Oktaven und ersten Anfängen unserer großen Pianoforten Platz machten, entwickelte sich auch das sogenannte Bravourspiel, was sich durch Vollstimmigkeit, schnell abwechselnde Harmoniefolgen, Brillanz, Keckheit, größere Technik und ganz neue Klangeffecte auszeichnete.«17 Die Mechanik wurde schwerer (englische Stoßzungenmechanik gegenüber der deutschen Mechanik), die Saitenspannung und damit Anschlagskraft wurden erhöht, Arm- und Handstellung beim Spiel normiert, die musikalisch-technischen Anforderungen steigerten sich nach und nach, und folglich erschienen mehr und mehr neue Etüden und Klavierschulen für einen stetig wachsenden Markt von Abnehmern. War der Musikunterricht bisher eher im persönlichen Meister-Lehrling-Verhältnis organisiert, so führten die rasche Expansion und Ökonomisierung sowie die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende industrielle Produktion von Klavieren zu einer neuen, quasi ›mechanisierten‹ Methode der Ausbildung. Mit Apparaten und musikalischen Trainingsgeräten sollte die Effizienz der Disziplinierung gesteigert und standardisiert werden. Berühmt-berüchtigt ist die Entwicklung von Geräten, die am Instrument montiert werden konnten und Arm- und Handstellung der SpielerInnen kontrollierten. Einen Namen hat sich der Chiroplast oder Handdirector to Pianoforte (1814 patentiert) mit seinen Finger Guides gemacht. Berühmte Virtuosen und Lehrer propagierten diese Apparate, z.B. Friedrich Kalkbrenner und andere. Die Idee der Dehnung und Kräftigung der Finger gipfelte in der Erfindung von Bändern und Federn, Trillermaschinen und Fingerturnbrettern, darunter der berühmte Chirogymnaste von Casimir Martin, Paris 1843, dessen neun Stationen auf einem Brett nach Art eines Trimm-dich-Pfades täglich morgens und abends hintereinander abzuarbeiten waren. Liszt unterschrieb für dieses Gerät einen entsprechenden Empfehlungsbrief. Auch Geradehalter für den Rumpf wurden konstruiert. Von einer mit einem Lederriemen um den Oberkörper geschnallten Krawatte 16. Josef Fellsches (Hg.): Körperbewusstsein, Essen: Verlag Die Blaue Eule 1991, S. 126. 17. Christopher Simpson: The Division-Viol, (London 1665) München: Katzbichler 1983, S. 104.
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aus Stahl wurde das Kinn des Klavierschülers nach oben fi xiert. Das Extrem dieses methodischen Auf- und Ausbaus von Übe-Apparaten bestand dann, wenn kein Gerät mehr weiterführte, in der Operation, d.h. Durchtrennung der störenden Bänder am vierten Finger, eine Art ›Kapitulation vor dem falsch konstruierten Körper‹, die in der Einsicht gipfelte, dass »nur ein chirurgischer Eingriff die Hand für die technischen Anforderungen des virtuosen Klavierspiels retten kann.«18 Mit der Entwicklung der Gehirnforschung und der Psychologie ab Ende des 19. Jahrhunderts traten dann die Vorgänge im Inneren des Körpers in den Vordergrund und wurden in der pianistischen Schulung mehr und mehr betont. Mit den sich wandelnden Vorstellungen von diesem Inneren, veränderten sich auch die angewandten Unterrichtsmethoden. Die Apparate und mechanischen Übehilfen wurden zunächst durch Klavierschulen verdrängt, die pianistische Fertigkeiten mit Hilfe eines methodisch durchdachten Auf baus von Stücken, Etüden und Übungen vermitteln und die schließlich zu den heute noch im Musikunterricht gebräuchlichen ganzheitlichen Methoden geführt haben, welche die Wechselwirkung zwischen musikalischem Ausdruck und technischer Beherrschung betonen. Am Ende des 20. Jahrhunderts besinnt man sich allmählich wieder auf die Natürlichkeit und Leichtigkeit des Musizierens, auf Körpernähe, Ökonomie und Ökologie des Instrumentalspiels. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederentdeckung der alten Instrumente, ihrer historischen Spielweise und der entsprechenden Interpretation. Es handelt sich um eine ähnliche Entwicklung wie auf anderen Gebieten des Lebens, z.B. um die Einstellung gegenüber den Nahrungsmitteln oder die Regulierung der Gewässer: Heute sind es Bio-Methoden bzw. die Renaturalisierung von Flüssen und Bächen, die der allgemeinen Lebensauffassung entsprechen und ein Retour-à-la-nature signalisieren, nachdem man über Generationen hinweg die Pflanzenwelt mit Chemiedünger zu größeren Erträgen hat zwingen und die Bäche in Betonbetten hat domestizieren, also die Natur mit modernster Technik hat überwinden wollen. Die Wandlungen der Klavier-Unterrichtsmethodik und ihre Hintergründe während des 19. Jahrhunderts sind in anregenden Gedankengängen von Martin Gellrich19 verfolgt worden. Er geht dem Entwicklungsgang des Klaviers vom Saiteninstrument zur Tastenmaschine nach und unterstreicht die Emanzipation von Tastatur und Hammermechanismus von der Rolle des bloßen Werkzeugs. Tastatur und Mechanik »wurden selbst zum bearbeiteten Gegenstand«. Die Konzentration des Spielers bewege sich, so Gellrich, infolge dieses Werdegangs von der angeschlagenen Saite und dem dadurch zum Schwingen gebrachten Ton immer mehr auf die Tastatur und den Tastenmechanismus. 18. Martin Gellrich: »Die Disziplinierung des Körpers. Anmerkungen zum Klavierunterricht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Werner Pütz (Hg.), Musik und Körper, Reihe Musikpädagogische Forschung, Band 11, Essen: Verlag Die Blaue Eule 1990; Martin Kirnbauer: »›La haute gymnastique musicale‹ – Apparate zur Ausbildung des Körpers am Klavier im 19. Jahrhundert«, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis, Vol. XX (1996), Winterthur: Amadeus 1997, S. 123. 19. Vgl. M. Gellrich: »Die Disziplinierung des Körpers« (s. Anm. 18).
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Bedenkenswert sind seine zwei Modelle der Tätigkeitsabfolge vor und nach diesem Paradigmenwechsel. Ein Musikinstrument sei ursprünglich ein »Werkzeug zur Klangerzeugung«. Und da diese mittels Saiten erfolgt, war das Klavier eigentlich ein Saiteninstrument. Die viergliedrige Tätigkeitskette beim Klavierspiel entsprach jeder beliebigen anderen Werkzeughandlung: Tabelle 1: »Mensch – Werkzeug – Bearbeiteter Gegenstand – Ergebnis Stoff«
Die Aufmerksamkeit des Spielers habe in diesem Modell dem klanglichen Ergebnis, dem bearbeiteten Stoff gegolten, also dem Berührungspunkt zwischen Hammer und Saite. Eine Umwertung habe dann Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Tätigkeitskette geführt: Das Werkzeug werde nun der zum Spielapparat, also zur Maschine umfunktionierte Körper, der Arbeitsgegenstand werde die Tastatur, das Tätigkeitsergebnis die Bearbeitung des Tastenmechanismus. Was beim Klavier vorher die Saiten waren, waren jetzt die Tasten; was vorher der Hammermechanismus war, war nun bei der ›menschlichen Maschine‹ die Bewegungskette Oberarm-Unterarm-Hand-Finger. Bei der neuen Tätigkeitskette verlagerte sich auch die Konzentration: statt auf den Hammeranschlagspunkt und den erzeugten Ton lenkte der Spieler nun seine Aufmerksamkeit auf die Tastatur bzw. die Bearbeitung des Tastenmechanismus. Tabelle 2: »Subjekt der Tätigkeit – Werkzeug – Bearbeiteter Stoff – Ergebnis«
Die mit dieser Entwicklung einhergehende ›Entfremdung‹, während welcher der Körper ein ›verdinglichtes Werkzeug‹ wird, führt zur ›Spaltung‹ der Identität des Spielers in die musikalische Vorstellung auf der einen und den Spielapparat und den Körper auf der anderen Seite. »Solange das Klavier noch als Saiteninstrument gespielt wurde, waren die polaren Kategorien«20 ebenso unbekannt wie der Begriff Spieltechnik. Parallel geht der Gang der Musikgeschichte von der Ganzheit, der Integration der verschiedenen Qualifi kationen eines Musikers (Komponieren, Improvisieren, Auff ühren, Lehren, Reflektieren/Schreiben) immer mehr in Richtung Separierung der einzelnen Bereiche, die komponierten Werke werden so schwer, dass sie nur noch ein (ausschließlich in der Auff ührung tätiger) Virtuose meistern kann – die Technik emanzipiert sich und wird zum Selbstzweck, eine Entwicklung, die bis heute einen spürbaren Nachhall hat, zu der sich aber auch Gegenströ20. Ebd.
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mungen finden, z.B. in der Populärmusik, wo (etwa im Punk) spielerisches Unvermögen zelebriert wird, oder bei interaktiven Klanginstallationen, wo Spielfertigkeit nicht vorausgesetzt wird. Instrumentalspiel wird zur reproduzierenden Kunst, die Fähigkeit zur Improvisation (und zur Komposition) wird Fachleuten überlassen. Eine unmittelbare Folge der Funktionalisierung des Körpers zum Spielapparat war auch, »dass die Kraft der Musikalität, die sich aus dem unmittelbaren körperlichen Erleben, dem rhythmischen Bewegen und Atmen sowie dem mimischen und gestischen Ausdruck ergibt, zunehmend domestiziert wurde. Die Verdinglichung des Körpers war sicherlich eine der wichtigen Ursachen dafür, dass der mimische und gestische Ausdruck beim Musizieren im 19. Jahrhundert immer unwichtiger wurde und sich der musikalische Ausdruck allmählich auf das rein klangliche Ergebnis reduzierte.«21 Die Körper- und Kopf bewegungen, die im 18. Jahrhundert noch wichtiges Mittel waren, um den klanglichen Ausdruck gestisch zu unterstützen, wurden strikt unterbunden. Erlaubt war nur noch eine statische, gerade und ›anständige‹ Körperhaltung, die das reibungslose Arbeiten der Spielapparatur keinesfalls beeinträchtigen durfte. Möglicherweise ist einer der weiteren Gründe für die Entkörperlichung bei dieser Entwicklung auch im Religiösen zu suchen, besonders im Protestantismus norddeutscher Prägung und seiner ›körperfeindlichen Grundhaltung‹. Die positive Seite dieses Entwicklungsganges ist die Tatsache, dass aus dieser Separierung und Spezialisierung zahlreiche Impulse für neue Ideen im Technischen und eine beträchtliche Erweiterung der klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten resultierten, z.B. die Verwendung des Klaviers als Schlaginstrument und die Auffindung der verschiedensten Geräusche, die ein Instrument generieren kann. Ja man kann sagen, dass gerade aus neuen Instrumentaltechniken neue Kompositions- und Klangstile hervorgegangen sind, etwa der schumannsche Klaviersatz, die Klavierbehandlung Chopins und viele andere. Diese Neuerungen sind der so oft in der Musikgeschichte anzutreffenden Intention der Komponisten, über die technischen Möglichkeiten des Instruments hinauszugehen, zu verdanken, wie es schon Johann Sebastian Bachs Phantasie charakterisierte. Sehr eng hängt auch die Entwicklung des Instrumentenbaus mit all dem zusammen. Im 19. Jahrhundert wurden die Instrumente, wie schon erwähnt, in quasi industrieller Fertigung robuster, widerstandsfähiger, zuverlässiger gebaut, um den neuen spieltechnischen Anforderungen standhalten zu können.
3. Vir tuosentum Zwei entgegengesetzte Parallelerscheinungen prägen das Musikleben des 19. Jahrhunderts: das Virtuosentum und die Musikautomaten. So unterschiedlich, ja konträr diese beiden Phänomene sind, so spielen sie sich doch in ein und derselben Epoche ab. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die beiden
21. Ebd., S. 110.
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Entwicklungen, wenigstens sporadisch, in einer Art Dialektik eine gewisse Wirkung aufeinander ausgeübt haben. Das Virtuosentum ist gekennzeichnet durch ein Höchstmaß an körperlicher Aktivität, ja geradezu an Ostentation des körperlichen Anteils beim Musizieren, während das Wesen der mechanischen Instrumente gerade in einer totalen Abwesenheit des menschlichen Zutuns, ja in der Automatisierung der Abläufe besteht. Man kann sogar innerhalb beider Richtungen fortlaufende Steigerungsprozesse beobachten: Die Virtuosen – und zu ihnen gehören unter diesem Aspekt auch die Dirigenten, deren Geschichte sich vom tactus-anzeigenden Sänger bis zu den 50 cm hohen Podiumssprüngen eines Leonard Bernstein mit derjenigen der Virtuosen in etwa deckt – zeigen bis in unsere Zeiten hinein immer mehr körperlichen Einsatz bei der Zurschaustellung ihrer Individualität, während die Musikautomaten die raffinierteste Mechanik einsetzen, um den Akt der Klangerzeugung mehr und mehr gerade von körperlicher Aktivität frei zu halten und den Vorgang des Hervorbringens zu verschleiern. Schon von Paganini weiß man, wie stark er fremde Stücke veränderte, um seine Technik in noch glänzenderes Licht zu rücken. Und man weiß, wie er, als hervorragender ›Unternehmer‹ und ›Selbstverkäufer‹, aus demselben Grunde, nämlich um Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt zu sein und volle Säle zu haben, alles daran setzte, sich mit magischen Besonderheiten unvergleichlich zu machen: mit seinem Aussehen, seiner Kleidung, seiner Haltung, seiner Art, geheimnisvoll von hinten auf die Bühne zu kommen. Für seine Rezeption durch das Publikum waren diese Dinge entscheidender als etwa seine Bogentechnik oder seine Klangqualität. Paganini war sicher einer der ersten, wenn nicht der erste, der diese Art ›Selbst-Inszenierung‹ bewusst und planmäßig einsetzte, um ›den Markt zu erobern‹. Eng verbunden mit der Spielweise, den größer werdenden Sälen und den Erwartungen des Publikums ist, wie erwähnt, der Instrumentenbau. Überblickt man die Baugeschichte z.B. der Flöte, so ist ab dem 19. Jahrhundert eine stetig fortschreitende Entwicklung der Widerstandsfähigkeit des Instruments gegenüber der auf sie einwirkenden Energie des Spielers zu konstatieren. Die Renaissance-Flöte mit ihrer engen zylindrischen Bohrung verträgt nur ein sehr sanftes Anblasen; sobald der Luftstrom gesteigert wird, ist der Ton schrill und die Intonation gerät aus den Fugen. Auf der Barock-Traverso wird dank ihrer konischen Bohrung das Spektrum der dynamischen und farblichen Möglichkeiten erheblich weiter; forcieren kann man das Instrument gleichwohl nicht, weil es sonst, speziell bei den Gabelgriffen, die Reinheit der Intonation verliert. Schon auf Theobald Böhms erster technischer Erneuerung, der Applizierung seines neuen Böhmsystems auf der herkömmlichen konischen Holzflöte (1835), kann man den Blasdruck leicht erhöhen, ohne dass Klang und Intonation Schaden nehmen, trotzdem spürt man als Spieler am Klang, wann die Grenze erreicht ist und ab wann das Instrument forciert wirkt. Auch die zweite Erfindung des genialen Münchener Flötenbauers, nämlich die zylindrische Silberflöte mit eben dieser böhm’schen Klappenmechanik (1842), ist auf Grund der dünnen Wandung des Rohrs ein sensibles Instrument, das ein zu starkes Anblasen in keiner Weise verkraftet, wie ein Experimentieren mit den originalen Böhmflöten unschwer erkennen lässt. 57
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Die französischen Instrumente aus den Werkstätten wie z.B. Louis Lot u.a. zeigen in ihrer Sensibilität, wie nahe verwandt ihr Klangstil mit dem Kompositionsstil der Impressionisten ist; auf keiner anderen Flöte außer denen, auf der Claude Debussy seine Syrinx (komponiert 1913) gehört haben mag, lässt sich der ›Seele‹ des impressionistischen Flötenklanges so ›wesensgerecht‹ nachspüren. Im 20. Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein hat die Flöte zwar äußerlich keine tiefgreifenden Wandlungen mehr erlebt, aber es lässt sich ein fortschreitender Prozess in Richtung auf größere Widerstandsfähigkeit beobachten: Aller Erfindungsreichtum inkl. Verwendung des Computers für die Bohrung bzw. Platzierung der Fingerlöcher wird darauf verwendet, das Instrument mit mehr Blasdruck lauter spielbar zu machen, ohne dass die Intonation leidet – die herkömmliche Crux bestand ja darin, dass ein stärkeres Anblasen den Ton in die Höhe trieb. Die Flöten unserer Zeit haben ein Maximum an Robustheit erlangt, mit der sie einem sehr hohen Blasdruck standhalten und auf diese Weise geeignet sind, die extremen dynamischen Anforderungen der modernen Kompositionen zu realisieren, ohne intonationsmäßig das Maß zu verlieren. Was heute an körperlicher Kraft auf dem Instrument verlangt wird, wäre auf einer Louis Lot-Flöte vor 100 Jahren nicht ausführbar gewesen. Was würde Richard Wagner über unsere heutigen Flöten sagen, wenn er die neuen Böhmflöten seiner Zeit schon »Gewaltröhren« und »Kanonen« nannte? Ohne die viel stärkeren ›Geschütze‹ unserer Epoche kann man aber niemals den allenthalben heute geforderten ›großen Ton‹ für das Orchesterspiel erreichen. Und ohne diese Mentalität könnten eine Zeitungs-Konzertwerbung nicht folgenden Wortlaut haben und die Beurteilung moderner Spieler nicht folgenden Kriterien unterliegen: »Ein Herkules an Tonvolumen, an Virtuosität und purer Kondition […]«.22 Diese erhöhte Energie-Entfaltung war auch notwendig geworden durch die stets wachsenden Säle im Verlauf des 19. Jahrhunderts, deren negativen Einfluss auf den Gesang und die Sänger z.B. Hector Berlioz beklagt. In A travers chants (1862) schreibt er darüber: »Da haben wir endlich noch den ruchlosen, geradezu gefühlsmörderischen Gesang, […] der sich nur wohl fühlt, wenn er den Mund recht weit aufreißen und losbrüllen kann; der sich nur gefällt ›im lärmenden Getümmel beim Wirbel aller Trommeln‹ […] kurz, bei allen dramatischen Scheußlichkeiten, welche möglichste Veranlassung darbieten, ›Ton zu geben‹, das heißt, zu schreien […]. Die übermäßige Größe der meisten Opernhäuser; das System des Applaudierens, gleichviel ob bezahlt oder nicht; und das Übergewicht, das man der Ausführung über das Werk, dem Kehlkopf über das Gehirn, der Materie über den Geist nach und nach immer mehr eingeräumt hat; und – leider nur zu oft auch die feige Unterwerfung des Genies unter die Dummheit.23 Wir werden da bald den Beweis für meine Behauptung finden, dass, 22. Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung für das Konzert des Zürcher Kammerorchesters am 27.1.2007, unter Zitierung einer Rezension der Süddeutschen Zeitung. 23. Hector Berlioz: A Travers Chant, (Paris: Michel Lévy Frères 1862) dt. von Richard Pohl, Leipzig: G. Heinze 1864, S. 107-108.
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wenn die Kunst des Gesanges zu dem geworden, was sie heutzutage leider ist – eine Kunst des Schreiens – die zu großen Dimensionen der heutigen Opernhäuser daran die Hauptschuld tragen24 […] und die Componisten unterstützen sie hierin auf’s beste, indem sie sich bemühen, möglichst im ›Geiste‹ dieser Brüll-Manier zu componiren.«25
Die Erfahrung lehrt, dass es bei steigender Erzeugung von körperlicher Kraft und Lautstärke sowohl beim Gesang wie beim Instrumentalspiel eine auff ührungspraktische Komponente gibt, die im gleichen Maße abnimmt: die Artikulation, die Aussprache, oder wie man damals sagte, die (auch instrumentale) Deklamation. Sie stellt eine Art Schnittstelle zwischen Mensch, Instrument und Klang dar und betriff t bei den Streichinstrumenten die Differenzierung von Aufstrich-Abstrich, bei den Bläsern die Agilität der Zunge und bei den Tasteninstrumenten die Kunst des Anschlags. Ab dem beginnenden 20. Jahrhundert, mit ›Vorgeschichte‹ im 19., kompensierte das Vibrato den Verlust des Sprachlichen in der Musik. War bis ins 18./19. Jahrhundert z.B. bei den Streichinstrumenten die Behandlung der rechten Hand in Bezug auf die Bandbreite der artikulatorischen Möglichkeiten das wichtigste Element, so wurde es seit dem Zeitalter des Espressivo immer mehr die linke, weil sie dem Klang dasjenige Element beifügte, ohne das man sich in der Folge einen ausdrucksvollen Ton nicht mehr vorstellen konnte: eben das Vibrato, das früher lediglich eine Verzierung gewesen war und nun beginnt, die wichtigste Komponente der Klangfarbe und der ›Beseelung‹ des Tones zu werden. Stand bis zum 19. Jahrhundert ›das Sprechende‹ im Zentrum der auff ührungspraktischen Absichten, so wurde es jetzt ›das Singende‹. Im gleichen Maßstab verstärkte sich beim Klavierspiel die Verwendung des Pedals. Zu einer eigentlichen Verstärkung des Klangvolumens tragen diese Veränderungen nur scheinbar bei. Dass bei den Sängern mit der Zunahme des Vibratos eine stetige Abnahme der Textverständlichkeit und der Flexibilität der Stimme (z.B. auf dem Gebiet der Ornamentation) einhergehen, ist oft betont worden. Gerade diese Punkte waren es dann später, die eine Triebfeder darstellten für das Retour-à-la-nature, d.h. die Wiederentdeckung der Alten Musik mit ihren Idealen der Leichtigkeit, Schlankheit und Durchsichtigkeit, wie sie die historischen Instrumente ermöglichen. Parallel zu dieser Entwicklung eröffnete im 19. Jahrhundert die Emanzipation des Klanglichen vom Deklamatorischen auch neue musikalische Darstellungsqualitäten, die im weiteren Verlauf das Komponieren und die Auff ührung bestimmten. Auch die Steigerung der Tempi ist ein Merkmal des Virtuosenzeitalters. Wer in der Lage war, atemberaubende technische Schwierigkeiten in größter Geschwindigkeit zu meistern, wurde geradezu als ›Hexer‹ angesehen. Die Rezensionen von Clara Schumanns Konzerten zeigen, dass auch sie sich dem Zeitgeist nicht entziehen konnte. Noch Quantz aber hatte sich in ganz anderem Sinne zum Überziehen des Tempos geäußert, als ob er gewisse spätere Entwicklungen vorausahnte: 24. Ebd., S. 115. 25. Ebd., S. 117.
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»Man muß nur allezeit den Affect, welchen man auszudrücken hat, nicht aber das Geschwindspielen zu seinem Hauptzwecke machen. Man könnte eine musikalische Maschine durch Kunst zubereiten, dass sie gewisse Stücke mit so besonderer Geschwindigkeit und Richtigkeit spielete, welche kein Mensch, weder mit den Fingern, noch mit der Zunge nachzumachen fähig wäre. Dieses würde auch wohl Verwunderung erwecken; rühren aber würde es niemals: und wenn man dergleichen ein paar Mal gehöret hat, und die Beschaffenheit der Sache weis; so höret auch die Verwunderung auf. Wer nun den Vorzug der Rührung vor der Maschine behaupten will, der muß zwar jedes Stück in seinem gehörigen Feuer spielen; übermäßig übertreiben aber muß er es niemals; sonst würde das Stück alle seine Annehmlichkeit verlieren.«26
Oft sind es die Karikaturen, die den Entstellungen und Entgleisungen einer Entwicklung auf humoristische Weise den Spiegel vorhalten. Das gilt z.B. für den Holzschnittzyklus Der Virtuos von Wilhelm Busch, zu dem er von der Erscheinung Anton Rubinsteins angeregt gewesen sein soll.27 Die fünfzehn Karikaturen sind zunächst 1865 unter dem Titel »Ein Neujahrskonzert« als Beilage zum XLIII, Band der »Fliegenden Blätter«, danach 1868 in den Münchener Bilderbogen erschienen. Der kurze Einleitungstext dazu lautet: »Zum neuen Jahr begrüsst euch hier Ein Virtuos auf dem Klavier. Er führ’ euch mit Genuss und Gunst Durch alle Wunder seiner Kunst.«
Unnachahmlich ist Buschs Kunst, auch die Verzückungen des Publikums mit in seine Beobachtungen einzubeziehen, wenn auch leider nur durch Charakterisierung der verschiedenen Stadien des Ergriffenseins des einen einzigen Zuhörers, dessen Naivität aber wohl die Unwissenheit und Lenkbarkeit eines Allerwelts-Publikums von der freudigen Erwartung vor der Darbietung bis zum devoten Applaus danach spiegeln soll. Vor dem 19. Jahrhundert sind schriftliche Quellen für die neue Aufmerksamkeit gegenüber dem körperbedingten Hervorbringen von Musik eher rar – der Körper war zu jener Zeit nur selten ein Thema. Auch in den Unterrichtswerken ist von ihm in dieser Zeit nur selten die Rede. Zusammenhänge zwischen Musizieren und körperlichen Aspekten werden in erster Linie im Anschluss an die jahrhundertealte Tradition der Benimmliteratur und Wohlanständigkeits-Konventionen erwähnt mit der Absicht, hässliche Gesichts- und Körperverrenkungen zu vermeiden. So schreibt etwa Christopher Simpson 1659 in seinem Lehrbuch The Division Viol:
26. Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flute traversière zu spielen, (Berlin 1789) Kassel, Basel: Bärenreiter 1953, S. 113, Paragraph 11. 27. Vgl. Wilhelm Busch: Sämtliche Werke, hg. von Rolf Hochhuth, München: C. Bertelsmann Verlag 1982, S. 99-100.
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»I told you before that you must stretch out your Arm straight, in which posture (playing long notes) you will necessarily move your shoulder Joint; but if you stir that Joint in quick Notes, it will cause the whole body to shake; which (by all means) must be avoyded; as also any other indecent Gesture. […] To deliver my own opinion; I do much approve the straightness of the Arm, especially in Beginners, because it is a means to keep the body upright, which is a commendable posture.«28
Der französische Gambist Danoville hat in seinem Traktat »L’Art de joüer de la Violle«29 bei der Erwähnung körperlicher Aspekte dieselbe Zielsetzung: »Le premier ordre que je me prescris, & la Regle que je conseille d’observer à tous ceux qui sont curieux de cét Art, c’est de s’abstenir de faire aucunes grimaces, comme signes de teste, ouvrir la bouche, agitation du corps, qui sont des postures qui déplaisent generalement à tout le monde, & font si bien que celuy qui execute avec contrainte les pieces les plus difficiles, ne plaist pas tant que celuy qui ne jouë qu’un Menuet de bonne grace; On dit du premier, il a la main bonne, mais il fait des contorsions & des postures en joüant; & du dernier, il ne joüe que de petits Airs, mais le tour qu’il leur donne est engageant, & sa bonne grace luy attire l’admiration d’un chacun.«
Weit über dem Durchschnitt seiner Zeitgenossen ist François Couperins Aufmerksamkeit auf Haltung und Funktion des Körpers beim Spielen bzw. Unterrichten. In seiner Cembalo-Schule L’art de toucher le clavecin von 1717 sagt er folgendes: »[…] und da Anmut dazu unerlässlich ist (bonne-grace), müssen wir mit der Körperhaltung beginnen (position du corps) […].« Es folgen Angaben zur Sitzhöhe, zum Unterlegen eines Kissens unter die Füße bei Kindern, um »den Körper in richtigem Gleichgewicht halten zu können«. »Sitzt man am Clavecin, so drehe man den Körper ein klein wenig nach rechts, die Knie seien nicht verkrampft geschlossen, die Füße halte man neben einander, den rechten Fuß aber besonders nach außen. Das Schneiden von Grimassen kann man sich selbst abgewöhnen, indem man einen Spiegel auf das Pult des Spinetts oder des Clavecin stellt.« Von der Handgelenkhaltung ist weiter die Rede, man solle dem Spieler bzw. der Spielerin keinen Zwang antun, man solle den Takt nicht mit dem Kopf, dem Körper oder den Füßen angeben, man habe eine gefällige Miene zur Schau zu tragen, man darf den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand heften, man darf das Instrument nicht zu stark bekielen, »denn ein schönes Spiel hängt mehr von der Geschmeidigkeit und der freien Beweglichkeit der Finger ab, als von der Kraft. […] Ein weicher Anschlag bedingt, die Finger so nahe als möglich über den Tasten zu halten. Abgesehen von der Erfahrung muss es einleuchten, dass eine Hand, die aus der Höhe herabfällt, einen trockeneren Ton erzeugt, als wenn sie die Tasten aus geringer Entfernung anschlägt, und dass [in ersterem Fall] der Federkiel 28. Ch. Simpson: The Division-Viol (s. Anm. 17), Pars I, Paragraph 12: »The Motion of the Right Arm and Wrist«, S. 7. 29. Vgl. Danoville: L’Art de toucher le dessus et basse de violle, Paris: Ballard 1687, S. 7.
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auf der Saite einen härteren Ton hervorbringen wird. […] Personen, die spät anfangen oder schlecht unterwiesen worden sind, müssen, da ihre Sehnen hart geworden sind, oder schlechte Gewohnheiten angenommen haben könnten, darauf achten, dass sie, ehe sie sich ans Clavecin setzen, ihre Finger geschmeidig machen oder geschmeidig machen lassen: das heißt, sie müssen die Finger nach allen Richtungen dehnen oder von jemandem dehnen lassen. Das belebt überdies den Geist, und man fühlt sich freier.« Bei Quantz scheinen noch die gesellschaftlich bedingten Konventionen durch, wenn er sagt: »Ein Anfänger muss sich hüten, dass er mit dem Kopfe, Leibe, oder Armen keine unnöthigen und ängstlichen Geberden mache: als welches, ob es gleich zur Hauptsache nicht gehöret, dennoch bey den Zuhörern einen Ekel verursachen kann.«30 Der Vortrag sei schlecht, wenn man »die Passagen […] schwer, ängstlich, schleppend, oder übereilend und stolpernd machet, und mit allerhand Grimassen begleitet […]«.31 Carl Philipp Emanuel Bach knüpft im Kapitel »Vom Vortrag« bei den Maximen der Rhetorik an, wenn er für die Wiedergabe der Affekte postuliert: »Daß alles dieses ohne die geringsten Gebehrden abgehen könnte, wird derjenige blos läugnen, welcher durch seine Unempfindlichkeit genöthigt ist, wie ein geschnitztes Bild vor dem Instrumente zu sitzen. So unanständig und schädlich heßliche Gebährden sind: so nützlich sind die guten, indem sie unsern Absichten bey den Zuhörern zu Hülfe kommen.«32 In den Streicherschulen sind solche Warnungen am häufigsten vertreten, weil Haltung und Bewegung im Zusammenhang mit dem Bogenstrich am sichtbarsten sind. So ist Leopold Mozart bei dieser Frage besonders ausführlich: »Die gewöhnlichsten derselben [nämlich der ›Geiger-Unarten‹] sind das Bewegen der Violin; das hin und her Drehen des Leibes oder Kopfes; die Krümmung des Mundes oder das Rümpfen der Nase, sonderbar wenn etwas ein wenig schwer zu spielen ist; das Zischen, Pfeifen, oder gar zu vernehmliche Schnauben mit dem Athem aus dem Munde, Halse oder Nase bey Abspielung einer oder der anderen beschwerlichen Note; die gezwungenen und unnatürlichen Verdrehungen der rechten und linken Hand, sonderheitlich des Ellenbogens, und endlich die gewaltige Verdrehung des ganzen Leibes, wodurch sich auch oft der Chor, oder das Zimmer wo man spielt erschüttert, und die Zuhörer bey dem Anblicke eines so mühsamen Holzhauers entweder zum Gelächter oder zum Mitleiden bewogen werden.«33 Ähnlich klingen die Anweisungen in diesem Zusammenhang allenthalben, z.B. auch bei Merck: »Die Geige soll man […] frey halten, sich auch zu einer Manierlichen Statur gewöhnen, damit man nicht bucklicht, krumm oder mit gebogenen Füssen stehe, auch keine seltzame Gebärden unter dem Geigen an sich nehmen, den 30. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flute traversière zu spielen (s. Anm. 26), S. 90. 31. Ebd., S. 110. 32. Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, (Berlin: 1753 und 1762) Leipzig: Breitkopf & Härtel 1957, Teil 1., S. 85. 33. Leopold Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, (Augsburg 1756) Frankfurt a.M.: Grahl 1956, S. 56.
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Mund, Kin oder Nasen nicht krummen, noch vil weniger schnarchen oder heulen.«34 Auch Mattheson kann sich von diesen Traditionen nicht freimachen, wenn er von Geigern spricht, die »keine andere Verdrehungen des Leibes machen, als ob sie böse Krankheiten hätten«, und von einem Clavierspieler, der »das Maul krümmet, die Stirne auf und nieder ziehet, und sein Antlitz dermassen verstellet, daß man die Kinder damit verschrecken mögte«, von Blasinstrumentenspielern, die »ihre Gesichtszüge so zerreissen oder auf blehen [wobey die Lippen zur Queer-Flöte nicht auszuschliessen sind] daß sie solche in einer halben Stunde hernach mit Mühe wieder in die rechten Falten und zur natürlichen Farbe bringen können«. Lobend erwähnt er dagegen eine Sängerin mit Namen Leonora, deren »Seufzer nichts Lüsternes, deren Blicke nichts Unverschämtes« hatten, sondern deren Gebärden »der Wohlanständigkeit eines keuschen Frauen-Zimmers deutliche Merkmale waren«.35 Ein neues Kapitel in der Geschichte schlägt dann Carl Czerny in seiner Vollständigen theoretisch-praktischen Pianoforte-Schule von 1839 auf, dem umfassendsten Klavierwerk des 19. Jahrhunderts, wo er eine ausführliche Anweisung zur richtigen »Haltung des Körpers und der Hände« bringt.36 In den Berichten und Rezensionen über Clara Schumann wird die Virtuosin stets als musikalische »Hohepriesterin« angesprochen und in ihrer Vergeistigung gepriesen, allenfalls ihre Hände und deren große Spannweite hervorgehoben, aber über ihre körperliche Aktivität, ihre Bewegungen, ihre Haltung am Instrument liest man wenig bis nichts. Ihr Vater allerdings, Friedrich Wieck, gehört bereits zu denjenigen Lehrern, die den Zusammenhang zwischen Körperhaltung, Handbewegung und Klang sehen; er lehrt den lockeren Anschlag als Voraussetzung des differenzierten Spiels: »Die Töne, welche man mit lockerem Handgelenk anschlägt, werden immer weicher, reizender, voller klingen, und mehr und feinere Schattierungen zulassen, als die spitzen und körperlosen, welche mit Hülfe des Ober- und Unterarmes mit unausbleiblicher Steifheit herausgestochen, getippelt, oder geworfen werden.«37 Man muss bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts warten, um eine moderne Klavierpädagogik zu beobachten mit neuen Kriterien und Prinzipien der Bewegungsabläufe, überhaupt der körperlichen Komponente der Ausführung. Bahnbrechend sind die Publikationen von Rudolf Maria Breithaupt38 und Tobias Matthay.39 34. Ebd., S. 40. 35. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister (s. Anm. 8), S. 36. 36. Carl Czerny: Vollständige theoretisch-praktische Pianoforte-Schule […] op.
500, Band 1: »Elementarlehre«, Wien: Diabelli & Co. 1839, S. 64. 37. Friedrich Wieck: Klavier und Gesang: Didaktisches und Polemisches. Leipzig: Leuckart 1878, S. 68. 38. Rudolf Maria Breithaupt: Die natürliche Klaviertechnik, Bd. I, »Handbuch der modernen Methodik und Spielpraxis«, Bd. II: »Die Grundlagen der Klaviertechnik«, Bd. III: »Praktische Studien«, Leipzig: C.F. Kahnt 1906; Alexander Buchner: Mechanische Musikinstrumente, Hanau/Main: Werner Dausien 1992. 39. Tobias Matthay: The Act of Touch in All Its Diversity: An Analysis and Syn-
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»Den Begriff der Technik klar zu begrenzen, die Irrtümer und Fehler früherer Zeiten zu beseitigen, auf die Natur unseres Spielkörpers zurückzugehen und seine Bewegungen und Funktionen richtig zu erklären und zu beschreiben, dünkte uns dabei die Hauptaufgabe.«40 »Nicht die Einseitigkeit der ›aktiven Fingerei‹ war ihr Fehler, sondern die völlige Verkennung der psycho-physiologischen, wie physikalischen Begriffe.«41 »Was wir lehren wollen, ist immer wieder: den Körper frei zu machen, ihm das Spielen beizubringen […].«42 »Was falsch ist und beseitigt werden muss, ist: die übermäßige Spannung und Haltung der Arme und Hände, die Steifheit der Gelenke, die übertriebene Überspannung der Finger sowie das krampfhafte Üben mit denselben, unter völliger oder teilweiser Versteifung des Hand- bzw. Ellbogengelenkes, das einmal Muskelkraft unnötig vergeudet und zum anderen den Arm hindert, auf natürliche Weise frei zu schwingen und allein durch seine Schwere zu wirken. Wer über einen losen Arm verfügt und mit Gewicht spielt, mag die Finger anwenden, soviel er will und wo immer er sie nötig hat; es ist in diesem Fall ganz gleichgültig. Unter der Voraussetzung, dass die Finger an der Schwungbewegung des ganzen Armes und der Hand teilnehmen, ist ihnen alles erlaubt, wo sie dies nicht tun, d.h. isolierte Bewegungen vollführen, ist alles falsch. Im letzten Grunde ist das Fingerspiel lediglich eine dynamische bzw. ästhetische Frage.«43
Der Körper als wesentlicher Bestandteil der musikalischen Ausführung und der Klangproduktion wird also gerade in jener Epoche zum ersten Mal expressis verbis fokussiert und anerkannt, als auch die Psychoanalyse auf kommt. Während für Sigmund Freud aber der Körper als eigene, wichtige Komponente keine prioritäre Rolle spielt, wird die Interaktion, ja die Untrennbarkeit von Seele und Körper bei Wilhelm Reich (ab den 1920er Jahren) und in seiner Nachfolge von Alexander Lowen ein zentrales Anliegen. Die von ihnen ausgehende konsequente Weiterentwicklung der Psychotherapie ins Gebiet des Somatischen signalisiert ein neues Interesse am Körper, das in den verschiedenen Formen der körperorientierten Psychotherapie in den Vordergrund getreten ist und auf andere Disziplinen ausstrahlt. Ab dem Zweiten Weltkrieg beginnen sich, von London aus, die Alexandertechnik und nach und nach andere Körpertechniken durchzusetzen. Die Tradition des ›Schneller-weiter-höher‹ (und noch anzufügen: ›lauter‹) ist als Folge der gestiegenen Ansprüche des Publikums und der Medien, des durch die Schallplatte gesteigerten Perfektionismus, der immer lauter spielbaren thesis of Pianoforte Tone-Production, London: Bosworth 1903; in ders.: The Visible and the Invisible in pianoforte technique, London: Milford 1947. 40. R.M. Breithaupt: »Handbuch der modernen Methodik«, S. 4 (s. Anm. 38). 41. Ebd., S. 2. 42. Ebd., S. 7. 43. Ebd. Bd. II: »Die Grundlagen der Klaviertechnik«, S. 46.
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Instrumente, der Globalisierung und des dadurch noch stärker gewachsenen Konkurrenzkampfes, des Wettbewerbswesens und des Ehrgeizes suspekt geworden. Dass dies zunehmend zu körperlicher Überforderung führt, ist nicht verwunderlich. Allenthalben ist der Wunsch zu beobachten, den Körper (wieder) natürlich und ›gesund‹ einzusetzen, seine Kräfte zu harmonisieren, die Muskulatur zu schonen und das Instrument als Verlängerung des Körpers zu spüren und zu handhaben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat ein ›Körperbewusstseins-Boom‹ eingesetzt, der als Kompensation einer Musizierweise interpretiert werden kann, die den Körper immer stärker fordert und teilweise überfordert. Auch beim Musikmachen ist es evident, dass der Mensch im Zuge der Ausbeutung der Natur auch sich selber nicht mehr als Naturwesen (animal) wahrnimmt, weil er die Naturseite seiner Existenz verdrängt hat.
4. Mechanische Musikinstrumente Der Hyper-Individualismus des Virtuosen kann unter Umständen ins Extrem führen: zum Umschlagen des Performativen ins Circensische zum Schaugeschäft. Das in der Regel verwöhnte und anspruchsvolle Publikum muss in Spannung gehalten, Langeweile vermieden werden. Das Bedürfnis nach Neuem, Noch-nie-Dagewesenem muss, wenn nicht mit Hörbarem, dann eben mit Sichtbarem befriedigt werden. Ganz andere Rezeptionskanäle als diesen ins Extrem gesteigerten Persönlichkeitskult benutzt dagegen die mechanisch produzierte Musik. Sie ist quasi anonym, entpersonifi ziert, in jedem Moment verfügbar, immer gleich, immer unabhängig von den momentanen Bedingungen der personellen und sonstigen Situation. Mit einer Mischung von Verwunderung, Ungläubigkeit und Beklommenheit wird damals wie heute das Publikum auf diese Form von Musik reagiert haben, nur seinerzeit, als es neu war, noch faszinierter vom Mechanischen und Automatischen als in späterer Zeit. Das Aufkommen der mechanischen Musikinstrumente, dieser frühsten Erscheinung von Musik ohne Auff ührung, verdankt sich unterschiedlichen Prämissen. Wesentlich war sicher das Bedürfnis, klingende Musik konservierbar zu machen. Wiederholbarkeit und mechanische Reproduzierbarkeit ohne Einsatz menschlicher Kraftanstrengung dürften hinter jeder Form von Automatisierung stehen. Eine wesentliche Triebfeder mag auch einfach die Freude, ja zuweilen die Obsession des homo ludens am Spiel, an der Technik gewesen sein, und es ist unter dem Aspekt der Technikgeschichte folgerichtig, dass die Blütezeit der Musikautomaten zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und etwa dem Ersten Weltkrieg liegt – das Faszinosum der Maschine wird besonders im Zeitalter der Industrialisierung wirksam und entfaltet dementsprechend die tiefgreifendsten Konsequenzen in den industrialisierten Ländern. Hier war das ökonomische Denken am verbreitesten, und das Prinzip, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Effizienz zu erreichen, erfasste alle Bereiche des Lebens. So wie man an die Freiheit des souveränen Individuums glaubte, so vertraute man der Maschine dasjenige an, wofür bisher der Mensch zu schwitzen hatte. Es gehörte zu den Herausforderungen der 65
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Zeit, für die verschiedenen Instrumentengattungen die Mechanik zu erfi nden oder weiterzuentwickeln bzw. zu ökonomisieren, die es erlaubte, dasselbe Resultat wie früher ohne körperlichen Einsatz zu erreichen. Während der Hang zur Virtuosität zurückzuführen war auf die Vorliebe der Künstler und des Publikums für alles Subjektive, Individuelle, so wies die Begeisterung für die Maschine in die gegenteilige Richtung: Aufhebung der Individualität in der Technik, Freude an der Abstraktion, die Annahme, dass selbst Lebewesen nichts anderes seien als höchst komplizierte Automaten – der Mensch als Maschine: L’homme machine. 44 Während das Virtuosentum immer mehr auch die Komponente des Sehsinns integrierte und darauf ausgerichtet war, dem Publikum über das Musikalische hinaus laufend mehr ›Mätzchen‹ zu bieten hinsichtlich Inszenierung der Auftritte, der Kleidung, der Bewegung, des Äußeren, so fehlte diese Seite naturgemäß anfänglich bei der Automatisierung der Instrumente total. Bald aber wurde dieses Manko als Verlust empfunden, und man begann, dem Sehsinn seinen Tribut zu zollen und Maschinen, sogenannte Androiden, zu entwickeln, die zusätzlich zur Musik Bewegungen ausführten: tanzende Paare, Violine spielende Affen, ganze Ballette oder Kapellen mit ihren Spielbewegungen. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die heute noch im Kunstmuseum von Neuchâtel zu besichtigende automatische Spinettspielerin von Pierre Jacquet-Droz dar. Dieser hoch gebildete Philosoph, Mathematiker und Techniker (1721-1790) konstruierte zusammen mit seinem Sohn Wand- und Taschenuhren, singende Vögel, vor allem aber um 1774 die drei Androiden: La Musicienne, Le Dessinateur und L’Ecrivain. Diese Automaten trugen den Ruf der Neuchâteller Uhrenindustrie in die Welt hinaus: Am Kaiserhof von Peking, an den Höfen von Versailles, Madrid und London wurden sie bestaunt. Zu Berühmtheit sind später die Automaten gelangt, die Johann Carl Enslen (ca. 1782-1866) fertigte und in der Französischen Straße in Berlin ausstellte. Sie haben E.T.A. Hoffmann (1776-1822) zu seinen beiden Novellen inspiriert, in denen er das Thema Musikautomaten verarbeitet hat. 1801 lernte er sowohl Automaten im Danziger Arsenal als auch den Voltigeur von Enslen und 1813 die kaufmannschen Androiden kennen, von 1814 datiert seine Erzählung Die Automate. In ihr sind die bis zu einem redenden Türken sich versteigenden Phantasien ebenso bemerkenswert wie die auf profunder Kenntnis beruhenden Bemerkungen zum Automaten-Thema im engeren Sinn. In typisch ›romantischer‹ Manier, in einer Art ›Mystifi zierung der Technik‹ behandelt dann die Erzählung Der Sandmann (1817), in der die Spinett spielende Puppe, die Androide Olimpia, in der Vorstellung des Liebhabers Nathanael gleichsam beseelt wird, die Interaktion zwischen Technik, Phantasie und Wirklichkeit. Vom »Rätselhaften«, »Wunderbaren«, »Unheimlichen«, »Grauenhaften« ist die Rede, das »Tote«, »Starre« der Maschinenmusik wird beschrieben, und von der Puppe heißt es: »Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt; ihr
44. Titel eines Buches von Julien Offrey de La Mettrie: L’homme machine, o.N. 1748. Eine Vorstellung, die René Descartes schon 1637 vertreten hatte.
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Spiel (auf dem Fortepiano), ihr Singen hat den unangenehm richtigen, geistlosen Takt der singenden Maschine, und ebenso ist ihr Tanz.« 45 Von vielen Komponisten weiß man, dass sie außerordentliche Sympathie für die Musikautomaten hatten. Sie wurden dabei von dem Argument geleitet, dass auf diese Weise ihre Werke der Verfälschung durch die Interpreten entzogen würden. Besonders Igor Strawinsky und andere Verfechter der künstlerischen Richtung der Neuen Sachlichkeit haben sich hervorgetan in der Ablehnung ungenauer, eitler und geltungsbedürftiger Interpreten. Von Colon Nancarrow stammt der Ausspruch: »Nun, seit ich Musik schreibe, träume ich davon, die Interpreten loszuwerden.«46 Von Josquin bis zu Rossini und darüber hinaus reicht die Liste der Komponisten, die mit Äußerungen gegen zu viel verzierende Sänger und Instrumentalisten und mit Forderungen nach einer bedingungslosen Realisierung ihrer Werke hervorgetreten sind. Natürlich zeigen diese Verurteilungen nichts anderes, als dass es diese verzierenden und improvisierenden Ausführenden gegeben hat. Diese auch sonst dokumentierten Fähigkeiten guter Musikerinnen und Musiker im Umgang mit notierter Musik gehörten zu den selbstverständlichen Qualitäten guter InterpretInnen – Qualitäten, die von den Anhängern der Historischen Musikpraxis heute erst wieder bewusst gelernt werden müssen. Nicht alle Komponisten, die noch vor dem eigentlichen Zeitalter der mechanischen Instrumente originale Musik für Automaten geschrieben haben, können hier aufgeführt werden. Die Reihe schließt u.a. folgende Namen ein: • Georg Friedrich Händel: Ten Tunes for Clay’s Musical Clock (ca. 1745-1753); • Wilhelm Friedemann Bach (zugeschrieben): 18 Stücke für die Dessauer Uhr im Besitz des Herzogs Friedrich von Anhalt; • Carl Philipp Emanuel Bach: eine Reihe von Kompositionen für die Flötenund Harfenuhr;47 • Christoph Willibald Gluck: einige Divertimenti für die Stiftwalze von Automaten seiner Zeit, z.B. für einen solchen, der sich dann, 1785, im Besitz von Königin Marie-Antoinette befand; • Josef Haydn: Kompositionen für mechanische Orgelwerke, die sein Freund Joseph Niemesz (1750-1805), Priester, Bibliothekar des Fürsten Esterházy, Musiker und Mechaniker konstruiert und bestiftet hatte; • Leopold Mozart (zusammen mit Johann Ernst Eberlin): 12 Melodien für das Orgelwerk auf der Festung Hohensalzburg; • Wolfgang Amadeus Mozart: fünf Stücke für eine Flötenuhr;48 45. E.T.A. Hofmann: »Der Sandmann«, in: Nachtstücke, Berlin: Reimer 1817. 46. Ullrich Wimmer: Alles andere als Alltag: Die heitere Welt der mechanischen
Musik. Nümbrecht-Elsenroth: Galunder 2000, S. 115. 47. Zwei Originalkompositionen »für die Drehorgel«, ein Adagio in g-moll und ein Allegro in C-Dur, sind ediert in Drehorgelstücklein aus dem 18. Jh., hg. v. Helmut Zeraschi, Leipzig: Peters 1973, S. 7 und 8. 48. Diese Stücke waren Auftragsarbeiten für das Müller-Deym’sche Raritätenkabinett, das von Graf Joseph Deym von Stritetz (1750-1804) von etwa 1780 an in Wien betrieben wurde. 1791 eröffnete er das Laudon-Mausoleum, in der die Wachsfigur des 1790 verstorbenen Feldmarschalls Laudon aufgebahrt war. Dazu bestellte
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Auch Beethoven schrieb für den Grafen Deym 1799 drei Kompositionen für die Flötenuhr.
Bei all diesen technischen Apparaten war bis tief ins 19. Jahrhundert der Informationsträger eine Stiftwalze. Erst 1871 brachte Napoleon Fourneux das Leporello, gefaltete Kartonnoten, zur Steuerung von Klavierspielapparaten zur Anwendung, und 1887 führte die Firma Welte in Freiburg i.Br. die Papierrolle ein. Die über gelochte Pappscheiben gesteuerten Drehinstrumente Ariston und Herophon wurden zu Hunderttausenden verkauft. Die Lochbandtechnik wird heute allgemein als Frühform der binären Digitalität angesehen: Es gibt nur zwei Stadien, geöffnet – geschlossen, und die sinnreiche Anordnung der Öffnungen steuert den Mechanismus, der den Klang erzeugt. Dadurch kommt dem Stanzen der Lochbänder oder Karton-Leporellos eine große Verantwortung für das künstlerische Ergebnis der Musikautomaten zu. Für die Mutterbänder waren das in der Regel Musiker, vor allem Organisten, die Kopien konnten von weniger kompetenten Arbeitskräften hergestellt werden. Bei der Walzentechnik hatte diese Verantwortung bei den SpezialistInnen gelegen, die – oft in Heimarbeit – die Bestiftung der Walzen vornahmen. Die Erfindung der Pneumatik, die zwar schon auf die Zeit um 1840 zurückgeht, verhilft der Geschichte der Musikautomaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur vollen Blüte. Das Prinzip läuft darauf hinaus, dass in einem meist elektrisch angetriebenen Schöpfwerk je nach Steuerungstechnik ein Unterdruck, ein Überdruck oder beides erzeugt wird. Als Tonträger dienen auch hier ein auf einer Rolle aufgewickeltes Papierband oder ein gefaltetes, perforiertes Kartonband. Das Papier- oder Kartonband wird über einen sogenannten Spieltisch geführt, in dem die Steuerleitungen der Pneumatikventile enden. In dem Moment, in dem eine Öffnung im Papierband den Lesekopf überquert, strömt Luft von außen ein und ändert dadurch die Druckverhältnisse im System. Hierdurch werden Steuerventile ausgelöst, die über einen pneumatischen Mechanismus die Klangerzeuger betätigen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Musikautomaten waren mit der neuen pneumatischen Technik selbstspielende Klaviere möglich, die eine musikalisch überzeugende dynamische Nuancierung erlaubten. Bisher hatte der immer gleich bleibende Anschlag den Stiftwalzeninstrumenten einen leblosen, mechanischen Klang ergeben. Das wurde zwar durch den Vorteil ausgeglichen, dass die Walzen auch komplizierteste Akkorde und von Hand unspielbare rhythmische Aufteilungen ohne weiteres realisieren konnten; aber so sehr das Medium der Menschenhand technisch überlegen war, so wenig reichte es in klanglicher Hinsicht an sie heran. Von ca. 1880 an brachte in diesem Punkt die Einführung der pneumatisch abgetasteten Notenrolle und der pneumatisch ausgelöste Anschlag unglaubliche Fortschritte, die von den Musikliebhabern auch in großem Stil wahr- und angenommen wurden: Die er bei Mozart passende Musik für eine Flötenuhr, die, so wird vermutet, von Primitivus Niemetz gebaut wurde. Das Andante F-Dur war wohl für das Schlafgemach der drei Grazien im Raritätenkabinett bestimmt.
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Phonolas und Pianolas gehörten damals in jedes gutbürgerlichen Haus. Für Gasthäuser und Tanzsäle waren große Orchestrien bestimmt. 1904 brachte die Firma M. Welte & Söhne den berühmten Klavierspielapparat Mignon auf den Markt, der es erstmals erlaubte, das Klavierspiel mit allen dynamischen und agogischen Details wiederzugeben. 49 Viele bedeutende PianistInnnen und KomponistInnen zu Beginn des Jahrhunderts, darunter Eugen d’Albert, Ferruccio Busoni, Ignaz Paderewski, Claude Debussy, Richard Strauss, Sergej Rachmaninoff u.a. machten sich dieses Medium zu Nutze, um ihr Klavierspiel zu verbreiten bzw. die Interpretation eigener Werke für die Nachwelt zu dokumentieren. Seit den 1920er Jahren erkannten auch Komponisten die ›grenzenlosen‹ Möglichkeiten selbstspielender Klaviere, unter ihnen Strawinsky, Hindemith, Toch und andere, die Originalkompositionen für die neue Technik schufen. Auch Bartók zollte den mechanischen Instrumenten durchaus Respekt. Allerdings fragte er in einem Aufsatz von 1937 über mechanisch reproduzierte Musik, wer denn bei der dauernd wiederholbaren Abspielung immer dieselbe Interpretation zu hören wünsche? Ravel und Honegger, der von Pacific 231 neben der Orchesterpartitur auch eine Fassung für Selbstspielklavier schrieb, gehörten weiterhin zu den Freunden der Musikautomaten. Bei den Kammermusikfesten Donaueschingen 1926 und Baden-Baden 1927 trat die mechanische Musik einen Siegeszug an. Hier standen erstmals Originalkompositionen für mechanische Musikinstrumente auf dem Programm. Die eingesandten Kompositionen wurden von der Firma Welte gestanzt. Großes Interesse fand das Triadische Ballet in der Regie und mit Kostümen von Oskar Schlemmer, für das Hindemith eine Musik für kleine mechanische Orgel geschrieben hatte. Es war bereits 1922 in Stuttgart uraufgeführt worden. 1927 wurden Mozarts KV 608 und das Ballet mécanique von George Antheil (1900-1959) aufgeführt, der offenbar von Strawinsky zur Beschäftigung mit mechanischen Instrumenten angeregt worden war. Strawinsky selber hatte 1921 den Auftrag der Klavierbaufirma Pleyel angenommen, Transkriptionen von einigen seiner Kompositionen für das selbstspielende Klavier Pleyela herzustellen. Dazu schreibt er in seinen Erinnerungen 1937: »Zwei Gründe waren es, die mich veranlassten, diesen Auftrag anzunehmen. Ich wünschte ein für allemal zu verhindern, dass meine Werke falsch interpretiert werden. Schon immer hatte ich nach einem Mittel gesucht, jene gefährliche Freiheit der Auslegung zu begrenzen […]. Auch aus einem weitern Grunde befriedigte mich diese Arbeit. Sie beschränkte sich nämlich nicht darauf, ein Orchesterwerk einfach für ein Klavier von sieben Oktaven Umfang umzuschreiben. Das mechanische Klavier hat besondere Eigenschaften, denen sich meine Bearbeitung natürlich an49. Vgl. Durward R. Center/Gerhard Dangel: Aus Freiburg in die Welt – 100 Jahre Welte-Mignon: automatische Musikinstrumente, [Katalog zur Ausstellung im Augustinermuseum Freiburg 2005-2006], Freiburg i.B: Augustinermuseum 2005; Peter Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik, Bern u.a.: Peter Lang 1984.
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passen musste. Es bietet unbeschränkte Möglichkeiten im Hinblick auf Präzision, Schnelligkeit und Polyphonie.«50
Viele Argumente pro und contra Musikautomaten sind bereits im Aufsatz »Zur mechanischen Musik« reflektiert, den Paul Hindemith im Jahre 1927 in der Zeitschrift Die Musikantengilde schrieb. Darin heißt es: »Über kein anderes Teilgebiet unseres öffentlichen Musiklebens ist in der letzten Zeit so viel gestritten worden wie über die Musik, die man mit Hilfe mechanischer Musikinstrumente zu Gehör bringt. In den Musikzeitschriften der verschiedensten Richtungen konnte man in den letzten zwei Jahren Aufsätze über das Thema ›mechanische Musik‹ lesen. Aufsätze sehr verschiedener Natur. Die einen agitieren wütend gegen die mechanische Musik; sie glauben ernsthaft, dass die ›Mechanisierung‹ der Musik das Ende unseres Musiklebens darstelle. Die anderen geraten beim Gedanken an eben diese Mechanisierung in Entzücken und versprechen sich von der allgemeinen Einführung der mechanischen Musik den Anbruch eines neuen musikalischen Zeitalters. Eines haben aber alle diese Aufsätze gemein: Ihre Verfasser zeichnen sich fast durchweg durch absolute Unkenntnis des Stoffes aus.«51 Kritisch und neutral analysiert und relativiert er die Vorwürfe, denen sich die mechanischen Instrumente konfrontiert sehen, ist aber auch weit entfernt davon, in den Jubel ihrer Verfechter einzustimmen. Er äußert die Hoff nung, dass mechanische Musik den »heutigen ungesunden Konzertbetrieb« beleben und gute Musik in weiteste Kreise der Bevölkerung tragen könne. Und er sieht die Vorteile der Musikautomaten besonders auf dem Gebiet der Unterhaltungsmusik. Nachdem die Maschine alle Ebenen des Musikmachens bis hin zum Komponieren mittels Walzenmechanismen und Zufallgeneratoren durchdrungen hatte, war es für die Ausführenden vorbei mit ihrem früheren ›Recht‹, die Musik mit ihrem Know-how in puncto Verzierungen, Kadenzen, Tempo-Gefühl, Artikulations-Handwerk etc. erst zu ihrer vollen Schönheit zu führen. Von alters her hatte die Musiknotation nur eine Art ›Skelett‹ der zu realisierenden Stücke festgehalten, das von den MusikerInnen mit ihrer Erfahrung nach den Regeln der Tradition erst ausgestaltet, den jeweiligen Auff ührungssituationen angepasst und ›zum Leben erweckt‹ wurde. So hatte die mittelalterliche Neumenschrift lediglich die Richtung der Melodie nach oben oder unten in ungenauem Rhythmus nachgezeichnet; die ersten Partituren waren nur eine Art Kurzschrift für die Wiedergabe durch die ausführenden Musiker; die italienischen Opernarien waren so notiert, dass sie der Komplettierung durch die Sänger geradezu bedurften; die Improvisation wurde im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Faktor des Musiklebens, besonders des Virtuosentums. Im Laufe der Zeit führten die KomponistInnen dann gegen die (ihrer Meinung nach zu) freie Auffassung ihrer Kompositionen durch die 50. Ullrich Wimmer: Alles andere als Alltag: Die heitere Welt der mechanischen Musik, Nümbrecht-Elsenroth: Galunder 2000, S. 101-102. 51. Paul Hindemith: »Zur mechanischen Musik«, in: Fritz Jöde/Fritz Reusch (Hg.), Musikantengilde – Blätter der Wegbereitung für Jugend und Volk, Wolfenbüttel: G. Kallmeyer 1927.
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Ausführenden eine immer größere Anzahl von Zeichen ein, und die musikalische Notation wurde immer komplexer.52 Von Anton von Webern zum Beispiel gibt es Werke, in denen jeder Ton mit einer zusätzlichen Ausführungsbestimmung versehen ist. Immer mehr wurde die Bedeutung des Werks betont und die individuelle Auffassung der InterpretInnen eingeschränkt. Als die elektronische Musik aufkam und die KomponistInnen unmittelbar auf das Tonband aufkomponierten, wurden die ausübenden KünstlerInnen überflüssig. Eine Entwicklung hatte ihr Ende gefunden, die manche KomponistInnen (z.B. Nancarrow) im Stillen immer schon herbeigewünscht hatte. Ob dieser Entwicklungspunkt nach einer langen Zeit beträchtlicher Wandlungen auf den erwähnten Entfremdungsprozess von Körper und Geist ab dem 19. Jahrhundert zurückzuführen ist, der zum wachsenden Einbezug der Maschine führte, oder ob der Siegeszug der Maschine, der möglicherweise mit den Musikautomaten begann, seinerseits zu dieser Entfremdung beitrug, ist schwer zu sagen. Es ist aber bemerkenswert, dass die Kulmination des Persönlichkeitskultes im körperorientierten Virtuosentum zeitlich zusammenfällt mit dem Beginn des körper- und handarbeitsaufhebenden Maschinenzeitalters. Eine solche Überlappung ist in der Geschichte kein Einzelfall. Auch zur Zeit des Höhepunkts der Vokalpolyphonie z.B. entwickelte sich die oberstimmen-betonte, begleitete Monodie, die eine Nuove Musiche herbeiführte, indem sie neue Satztypen und Klangwelten entdeckte. Bezeichnenderweise blieb aber damals – zu Beginn des 17. Jahrhunderts – der ›alte‹ polyphone Kompositionsstil durchaus für gewisse Gattungen und Bereiche in seiner Bedeutsamkeit erhalten, und für lange Zeit sollten in einer Art StilParallelismus die Prima Pratica und die Seconda Pratica (in Monteverdis Terminologie) nebeneinander Komposition und Musikleben prägen. Der Vergleich mit dem Zeitalter der elektronischen Musik drängt sich auf.
52. Vgl. dazu den Beitrag von Daniel Weissberg zu der Geschichte der Aufzeichnungsverfahren: »Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe« in vorliegendem Band.
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Inter faces in der Live-Per formance Franziska Baumann
1. Interaktion 2. Gestik und Klang 3. Kategorisierungen von Beziehungen zwischen Kontrollparametern und erzeugtem Klang 4. Emanzipation von traditionellen Instrumenten 5. Interface als Blackbox 6. Sensorhandschuh und musikalisches Konzept
Einführung Einen Musiker nicht nur zu hören, sondern auch spielen zu sehen, ist eine fundamentale Voraussetzung, um mit der Musik kognitiv, emotional und intellektuell in Interaktion zu treten. Sichtbare instrumental-stimmliche Bewegungsabläufe eröff nen einen intuitiven Zugang zum Verständnis der zum Musizieren notwendigen, auf die Klangerzeugung ausgerichteten Energiekontrolle. Wir haben uns über Jahrhunderte an bestimmte instrumentale visuell-akustische Beziehungen in der konzertanten Klangerzeugung gewöhnt. Dabei wird der Körper selbst zum Interface für die Lesbarkeit der Musik. Visuelle, an eine instrumental-stimmliche Gestik gebundene Körperbilder erzählen durchaus auch von den musikalischen Ideen einer Interpretin. Bei elektronisch erzeugten Klängen entzieht sich die Klangerzeugung dieser Lesbarkeit auf beiden Seiten. Der Zusammenhang zwischen Bewegung und Klang ist willkürlich und damit erst auf einer Metaebene seiner künstlerischen Inszenierung wieder interpretierbar. Die grundlegende Entkopplung von sicht- und nachvollziehbar aufgewandter Bewegungsenergie und resultierendem Schall hat auch für die Interpretin eine veränderte Beziehung zwischen kinästhetischem und taktilem Empfi nden in elektronischen Live-Anwendungen zur Folge. Durch den vom Körper entkoppelten Klangerzeugungsprozess entsteht ein neues Beziehungsfeld von erzeugtem Klang und unmittelbar körperlich empfundenem Feedback. Durch die Willkür der Beziehung zwischen Gestik und Klang stellt sich die Frage nach neuen Körperplastiken im Kontext musikalischer Aktion. Es 75
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entstehen neue Spannungsfelder zwischen Erkennbarkeit und Irritation in einem multisensorischen Spiel ästhetischer Bedeutungen.
1. Interaktion Z W I SCHEN P ERFORMER IN
UND L I VE - ELEK T RONI SCHEN
S E T T INGS
Die physikalische Energie einer Bewegung kann in elektrische Ströme und diese in digitale Signale umgewandelt werden. So gewonnene Steuerbefehle können gebündelt werden und die entsprechenden Interfaces ermöglichen ganze Netzwerke programmgesteuerter Abhängigkeiten zwischen Signalkontrollgruppen und elektroakustischen Settings zur Klangerzeugung und -bearbeitung. So kann im Ergebnis eine kleine Fingerbewegung über entsprechende Sensoren eine vielschichtige Anzahl Möglichkeiten von Kontrollsignalen zum live-elektronischen Setting übertragen – mit entsprechend komplexen musikalischen Konsequenzen. Im Ergebnis ist für die Interpretin wie den Hörer die Schallenergie des resultierenden Klangs von der Bewegungsenergie der Spielbewegung entkoppelt. In Bezug auf die Körperlichkeit der Klangerzeugung ist das ein wesentlicher Gegensatz zu herkömmlichen Instrumenten. Im Rahmen der digitalen Klangsynthese dienen Interfaces dem programmgesteuerten Zugriff auf die Klang erzeugenden Prozesse, was allerdings noch nichts über inszenierbare Formen ihrer Ansteuerung aussagt.1 Der Vorgang der Klangerzeugung und der Auslösung von entsprechenden Kontrollparametern kann ganz undramatisch an einem Laptop sitzend erfolgen. Die Generierung von Steuerungsparametern zur Kontrolle der Klangsyntheseparameter dient somit nicht der Klangerzeugung selbst, sondern vielmehr der Steuerung Klang generierender Prozesse, ob dies nun in stoischer Ruhe mit Pokerface oder mit inszenierter gestischer Begleitung geschieht. Neue Beziehungen zwischen Gestik, Klangerzeugung oder -kontrolle können durch die Wahl und Bedienung des entsprechenden Interfaces kompositorisch gestaltet werden. Diese Zuordnungen von Bewegung und programmgesteuerten Kontrollparametern sind dynamisch und können sich auch während einer Aufführung ändern. Sie können im Voraus geplant sein, oder sich in Abhängigkeit vom musikalischen oder gestischen Kontext verändern. Gesten können in ihrer spezifischen Abfolge mit verschiedenen Kontrollparametern verknüpft werden. So entstehen komplexe Beziehungen zwischen Klang, Gestik und Körperlichkeit, die mit traditionellen Instrumenten so nicht sicht- und hörbar gemacht werden können.
1. Vgl. den Beitrag von Daniel Weissberg: »Klangerzeugung als Drama und Resonanzphänomen« in vorliegendem Band.
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Inter faces in der Live-Per formance
V ER SCHIEBUNG
DER F EEDBACK -K ONTROLLPAR AME TER I NTERFACE -A NWENDUNGEN
IN
Durch die Entkopplung von Klangsteuerung und -erzeugung entfällt das unmittelbare instrumentale Feedback durch den Widerstand, den herkömmliche Klangerzeuger der Spielbewegung direkt oder mechanisch vermittelt entgegensetzen und der dort ein wesentliches Element für die Kontrolle des klanglichen Resultats ist. In elektroakustischen Settings ist das Feedback, das der Spieler erhält, medial vermittelt. Was für die Willkürlichkeit der Beziehung zwischen Spielbewegung und klanglichem Resultat gilt, das gilt ebenso für das Feedback durch den Klang oder das Interface an den Spieler. Mensch – Interaktion – Computer
K ÖRPERL ICHE K L ANGKONT ROLLE Ein Blick auf die herkömmlichen Instrumente zeigt, dass Lippen, Hände und Finger die sensibelsten Körperteile sind, um sowohl Kontrolle auszuüben als auch ein sensibles körperliches Kontrollempfi nden zu entwickeln. Referenzen zum erzeugten Klang neben dem Gehör sind: a. Taktiles Empfinden über die Haut b. Kinästhetisches Empfinden über Bewegung, Orientierung der Position des Körpers oder der Extremitäten c. Haptisches Empfinden als Kombination von taktilem und kinästhetischem Empfinden Jahrelanges Üben und Instrumentbeherrschung schreiben sich quasi in das Körperempfinden ein und erzeugen ein instrumentales Körpergedächtnis. Bei interaktiven live-elektronischen Settings erfolgt die Klangkontrolle über das Hören via Lautsprecher und das Sehen über Bildschirme. Die taktile Sensation ist allerdings schon bei einer Klaviertaste eine andere als bei der Taste eines Keyboards. Man kann in diesem Zusammenhang über eine 77
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Verschiebung der körperlichen Kontroll- und Feedback-Parameter in InterfaceAnwendungen sprechen. Trotz des fast unbegrenzten Potenzials, die diese Anwendungen in sich haben, fehlt ein grundsätzlicher Informationsschlüssel: die Rückmeldung des Körperempfindens; ein unmittelbares haptisches Gefühl. In der traditionellen Interaktion zwischen Performerin und Instrument erzwingt der instrumentale Impuls eine entsprechende Gestik; die körperliche Gestik wiederum gibt den Impuls für einen instrumentalen Klang. Mittels haptischer Wahrnehmung kann das Klangresultat bis in kleinste Nuancen austariert werden. Dabei stimuliert das haptische Feedback unmittelbar sowohl kurz- als auch längerfristige Lernprozesse in neuronalen Kreisläufen des Gehirns. Bewegungskontrolle kann nicht von haptischem Feedback getrennt werden; sei es das Empfinden für das Schwirren des Rohrblattes oder für die Vibration am Kinn der Geigerin. In live-elektronischen Settings spielt die Performerin den Klang ohne dieses Gefühl für Berührung und das entsprechend sensible körperliche Feedback. Um in körperlichem Kontakt mit einem akustischen Instrument zu sein, braucht die Performerin ein mechanisches Feedback über eine Vielzahl von physiologisch empfindlichen Mechanismen. Diese haptischen Empfindungen beinhalten grundsätzlich zwei Komponenten: • Taktiles Empfinden Taktiles Empfinden ist verbunden mit differenziertem Ertasten von Oberflächen durch das Erkennen von Druck, Berührung und Vibrationen auf der Haut. Die taktile Wahrnehmung wird durch Mechanorezeptoren in der Haut ermöglicht. Man bezeichnet diese Komponente der haptischen Wahrnehmung auch als Oberflächensensibilität. Ergänzt wird das taktile Empfinden um die Effekte der haptischen Wahrnehmung, die wie folgt definiert wird: • Haptisches Empfinden »Als haptische Wahrnehmung (griech.: haptikos = greif bar) bezeichnet man das aktive Erfühlen von Größe, Konturen, Oberflächentextur, Gewicht usw. eines Objekts durch Integration aller Hautsinne und der Tiefensensibilität. Die Gesamtheit der haptischen Wahrnehmungen erlaubt es dem Gehirn, mechanische Reize, Temperaturreize und Schmerz zu lokalisieren und zu bewerten. Tiefensensibilität oder Tiefenwahrnehmung ist die zentralnervöse Verarbeitung bestimmter Reize aus dem Körperinneren. Sie ist der komplementäre Begriff zu Oberflächensensibiliät. Dazu gehört auch der Bewegungssinn oder kinästhetische Wahrnehmung, durch den eine Bewegungsempfindung und das Erkennen einer Bewegungsrichtung ermöglicht werden.«2 Die taktile und die kinästhetische Empfindungswahrnehmung arbeiten zusammen, um haptische Impulse auszulösen und den Menschen sowohl einen 2. Vgl. Wikipedia: 12.11.2008.
Die
freie
Enzyklopädie,
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http://de.wikipedia.org
vom
Inter faces in der Live-Per formance
Sinn für Orientierung als auch ein Gedächtnis für solcherart erlernte Fertigkeiten zu geben, welche es Musikerinnen und Musikern erlauben, ihr Spiel über visuelles, taktiles und haptisches Feedback möglichst genau zu kalibrieren. Sie nutzen ihr Körpergedächtnis für das Verständnis der gespielten Musik. Zusätzlich baut sich neben dem Gehör der Interpretin eine körperliche Kommunikation zwischen Spielenden und Rezipienten auf, indem die Musikerin an der Wahrnehmung eigener Bewegung und die Rezipienten am Nachempfinden fremder Körperbewegung unmittelbar beteiligt sind. Im Kontext konzertanter Musikauff ührung kann man für die Klangsteuerung durch Bewegung einen weiteren Feedback-Parameter definieren, der mit den oben genannten kooperiert: Es handelt sich um das Prinzip der orientierenden Eigenwahrnehmung. Damit ist die Wahrnehmung der eigenen Position in einem bestimmten Raum unter Einbezug der Objekte in diesem Raum gemeint, welche das äußere Setting für das sensitive Spiel mit Instrument und Stimme generiert. Im Gegensatz zum traditionellen Instrumentalspiel können in live-elektronischen Settings folgende Feedback-Parameter zur Anwendung kommen: • Vorausdenken (initiale Intention) • Initiale Bewegung (Gestik) • Beurteilen der performancespezifischen Gestik durch Vorstellungsvermögen und Eigenwahrnehmung • Die akustische Bewertung des Klangresultates • Anpassen der Gestik in Bezug auf klangliches Vorstellungsvermögen und Eigenwahrnehmung • Anpassen der Gestik in Bezug auf die Intention des Hörens In diesem Szenario erhält die Performerin Feedback durch Hören, Eigenwahrnehmung und visuelle Rückmeldungen. Trotzdem beinhaltet dieses Szenario ein Problem in Bezug auf die Evaluation von gestischer Genauigkeit digitaler Settings. Computerbasierte Systeme lassen die schnellsten und unmittelbarsten instrumentalen Feedback-Kanäle vermissen: den des Muskeltonus sowie das taktile Empfinden. Keines der zurzeit kommerziell erhältlichen Interface-Systeme verfügt über ein haptisch-taktiles Feedback. Aus verschiedenen ästhetischen oder aus Kostengründen wurde die Frage unmittelbaren Körper-Feedbacks in elektronischen Anwendungen bisher weitgehend ignoriert. Erst neuere Experimente versuchen ein taktiles Feedback zu integrieren, zum Beispiel das vibrotaktile Stimulator-Projekt (VR/TX Vibrotactile Stimulator Project).3 Initiale Prototypen wurden in Zusammenarbeit mit Marc Goldstein und dem IRCAM ermöglicht. Vereinfacht ausgedrückt wird in dieser 3. Vgl. www.music.mcgill.ca/~mallochj/_media/publications/malloch_vibrotac tile.pdf vom 24.11.2008; Allgemeines zu diesem Thema in: Computer Music Journal, Vol. 14 (1-2) Spring 1990; Vol. 26 (3), S. 11-22, Fall 2002, Vol. 30 (1) Spring 2006 etc.
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Anwendung ein künstliches taktiles Feedback erzeugt, das auf gestische Impulse reagiert. VR/TX-System 4: Es gibt in diesem System unzählige Möglichkeiten, Audiosignale als Simulatoren von taktilem Feedback zu benutzen5
Weitere neue Entwicklungen, wie die berührungsempfindlichen MultitouchOberflächen beim iPod Touch und iPhone von Apple oder dem modular programmierbaren Multitouch-Controller LEMUR der Firma Jazzmutant, sind zwar insofern neu, als sie die maus- oder touchscreenorientierten Singlepoint-Eingabeverfahren zugunsten intuitiverer Multitouch-Anwendungen ablösen, jedoch sind sie derzeit überwiegend noch traditionell auf technisch orientierte Bedienoberflächen mit Fadern, Knöpfen etc. ausgerichtet und stellen somit noch weniger taktile Feedbacks zur Verfügung als die realen technischen Interfaces, welche sie simulieren.
2. Gestik und Klang B E Z IEHUNG
Z W I SCHEN
O B JEK T
UND
K L ANG
IM
A LLTAG
Der musikalisch-akustische Erfahrungshintergrund und die tägliche Praxis im Umgang mit den uns umgebenden Objekten helfen uns, eine Beziehung zwischen Material und Typus einer speziellen Geste herzustellen, die in der Lage ist den spezifischen Klang des Materials zu produzieren. Durch diese Erfahrungen können wir Muster und Zusammenhänge zwischen klanglichen 4. Quelle: Joseph B. Rovan/Vincent Hayward: »Typology of Tactile Sounds and their Synthesis in Gesture-Driven Computer Music Performance«, in: Marcelo M. Wanderley/Marc Battier (Hg.), Trends in Gestural Control of Music, Paris: IRCAM 2000, S. 362, Fig. 3. 5. Vgl. www.idmil.org/_media/publications/birnbaum_thesis_final_published. pdf vom 20. März 2008.
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Ereignissen und dem entsprechenden Material herstellen, das diese Klanglichkeit erzeugt. Wenn jemand zum Beispiel einen Kugelschreiber über einen Tisch rollt, ist das Klangresultat voraussichtlich leiser, als wenn der Tisch mit dem Kugelschreiber geschlagen wird usw.
G E S T IK
UND
M USIK INS T RUMENTE
Gewöhnliche Objekte lassen, anders als Musikinstrumente, normalerweise keine differenzierte Klangkontrolle zu. Somit untergraben Musikinstrumente unsere alltäglichen Erwartungen in Bezug auf die Klänge, die sie produzieren können. Was Musikinstrumente an Klang erzeugen können geht über das hinaus, was wir uns im Zusammenhang mit gewöhnlichen Objekten vorstellen können. Dadurch können sie eine fast magische Beziehung zwischen Gestik und Klang herstellen. Somit ist das Musikinstrument als klingendes Objekt nicht allein Medium für die Umsetzung einer musikalischen Idee, sondern selbst fester Bestandteil dieses Prozesses. Dazu gehört auch ein instrumentenspezifisches Gestenrepertoire, das den resultierenden Klang mehr oder weniger sichtbar werden lässt. Zum Beispiel ist der Klangparameter Dynamik bei einem Perkussionisten gestisch offensichtlicher zu interpretieren als bei einem Bläser.
3. Kategor isierungen von Beziehungen zw ischen Kontrollparametern und erzeugtem Klang Wie können wir in live-elektronischen Anwendungen gestische Kontrolle spezifischen Kontrollparametern zuordnen? Grundsätzlich sind vier unterschiedliche theoretische Ansätze des ParameterMappings denkbar: 1. Eins-zu-eins-Beziehungen: Eindimensional werden feste Zuordnungen von Steuerung und Resultat definiert.
2. Divergierend: Eine Geste wird mehreren Parametern zugeordnet. Eine Dimension in der Eingabe splittet sich in eine Vielzahl von Ergebnissen.
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3. Konvergierend: Viele Gesten werden einem Parameter zugeordnet. Die mehrdimensionale Eingabe wird auf nur einen Ausgabeparameter gemappt.
4. Herkömmliche akustische Instrumente operieren als vierte Variante: Vieldimensionale Gesten kontrollieren viele Ausgabeparameter. Wo ist der Volume-Controller bei der Violine? Eine Kombination und Koordination von Bogendruck, Bogengeschwindigkeit, Wahl der Saite und Fingerposition ist hierfür verantwortlich. Mehrdimensionale Eingaben führen so über die koordinierende Funktion des Körpers zu mehrdimensionalen, entsprechend differenzierten klanglichen Ergebnissen.
Aus diesen Grundkonstellationen des Parameter-Mappings ergibt sich für live-elektronische Settings ein entscheidendes Dilemma: Je vielfältiger die technisch zu kontrollierenden Parameter sind, desto fragiler werden die Systeme in der kontrollierten musikalischen Handhabung, da ein unmittelbares kinästhetisches Feedback z.B. via Tastsinn fehlt. Unser Sehsinn ist zu langsam und die entsprechende Interpretation intellektuell zu anspruchsvoll, um den gewünschten Klang auf Grund von Bildschirminformationen unmittelbar und intuitiv gestalten zu können.
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4. Emanzipation von traditionellen Instrumenten Es gibt in der Geschichte der Musik zahlreiche Beispiele von Instrumenten, die u.a. deshalb nicht überlebt haben, weil sie sich nicht an die sich wandelnden Traditionen anpassen konnten und weil sie nicht universell genug waren, um den jeweiligen musikalischen Anforderungen einer Epoche zu genügen. Dies hat sich erst mit der Moderne geändert. Vor allem seit der Digitalisierung hat sich die Erzeugung und Bearbeitung von Klängen vom Instrumentenbau zur algorithmischen Formulierung von Konzepten und Verfahren verlagert. Was an Klangerzeugungstheorien denkbar ist, kann auch programmiert werden. Die entsprechenden Interfaces zur Steuerung der jeweiligen SyntheseParameter können völlig unabhängig davon entwickelt werden und müssen andere Anforderungen erfüllen. Das digitale Instrument, verstanden als Kombination aus Interface und elektroakustischem Verfahren, welches damit gesteuert wird, entsteht oft für ein einziges Werk oder eine bestimmte Auff ührungssituation. Eine Notwendigkeit zur Standardisierung gibt es allenfalls bei den Programmierumgebungen, mit denen Verfahren entwickelt werden, nicht jedoch bei den Verfahren selbst. Als es in den achtziger Jahren möglich wurde, den Körper über die Begrenzungen der Analogtechnik hinaus in die Realisation von elektroakustischer Musik einzubeziehen, wurde die Debatte rund um die Rolle der Gestik unter einer neuen Perspektive geführt. Der Körper des Performers in interaktiver elektronischer Musik erscheint vor dem historischen Hintergrund von Tonbandkompositionen und reinen Lautsprecherkonzerten als visuelle und physikalische Referenz zur gespielten Musik. Bahnbrechend auf dem Gebiet von körpernahen elektronischen Instrumenten war in den frühen achtziger Jahren Michel Waisvisz Erfindung des Interfaces The Hands. Zum ersten Mal wurde in der Kombination von MIDITechnologie und Live-Sampling ein intuitives Spiel in Echtzeit ermöglicht, bei dem die Körperbewegungen eines Performers mittels Sensoren in elektronische Kontrollsignale umgewandelt wurden. Waisvisz widmete sich seit den sechziger Jahren ausschließlich der LivePerformance elektronischer Musik, worauf hin er 1978 beschloss, keine Platten beziehungsweise später keine CDs zu veröffentlichen; seine Klänge sollten nur unmittelbar, in einer Echtzeit-Situation, erfahrbar werden. Waisvisz kreierte mit Einzug des digitalen Zeitalters in Zusammenarbeit mit Software Entwicklern und Elektronikern Software und Live-Sampling Systeme wie LiSa oder Image/ine,6 die markante Anstöße zur heute allerorts gängigen Performancepraxis gaben. Als Gründer des Studio for Electro-Instrumental Music (STEIM) in Amsterdam war es ihm höchstes Anliegen, die elektronischen Instrumente und deren Controller körpernah zu bauen. Er fiel durch eine originelle Spielweise auf, die frei von Berührungsängsten mit Stilistiken aus dem Popmusikbereich war und die Reggaerhythmen, progressive Rock6. Vgl. www.steim.org/steim/products.html vom 5.8.2009.
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phrasierungen oder Anlehnungen an Jazzimprovisationen integrierte. Sein Gestus war kraftvoll, virtuos und implizierte eine Körpergrammatik, die sich ans Instrumentalspiel anlehnte.
5. Inter face als Black Box Die Schnittstelle zwischen Performerin und ausführendem System ist das Interface als Teil eines integrierten Systems, das der Kommunikation dient. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Naturwissenschaft und bezeichnet die physikalische Phasengrenze zweier Zustände eines Mediums. Er beschreibt bildhaft die Eigenschaft eines Systems als Black Box, von der nur die Oberfläche sichtbar ist, über die dann auch eine Kommunikation möglich ist. Zwei benachbarte Black Boxes können nur miteinander kommunizieren, wenn ihre Oberflächen zusammenpassen. Elektronische Instrumente und ihre jeweiligen Interfaces sind quasi Black Boxes in Bezug auf Gestik und Klang. Bei Interface-Anwendungen, die eine gestische Kontrolle erlauben, sind die Zusammenhänge zwischen Gestik und Klang willkürlich und können quasi in einer Black Box frei gestaltet werden. Sie zwingen deshalb zur Entscheidung zu einer bewussten künstlerischen Inszenierung. Ob nun ein Laptop-Musiker mit Pokerface hochexplosive Musik erzeugt oder ein Spieler mittels Sensoren ein imaginäres Klangballett aufführt: Die Beziehung zwischen Gestik und Klang lässt sich als Zuhörer nicht mehr von der Oberfläche her erschließen. Das so individuell konstruierte Gesamtinstrument ist zunehmend ein System, das sehr unterschiedliche und individuelle Settings für Auff ührungsgesten erlaubt. Mit gleichen Interfaces können unterschiedlich ausgestaltete Gestik- und Körperinszenierungen als auch damit verbundene live-elektronische Klangprozesse zur Anwendung kommen.
K ATEGOR IEN
VON
L I VE -E LEK T RONIK
Von den vielen möglichen Klangprozessen in live-elektronischen Settings möchte ich drei Kategorien aus meiner eigenen Praxis erwähnen, die je nach Ausprägung eine andere Wirkung auf die Körperlichkeit in der Performance haben. Das Klangresultat der ersten beiden Kategorien kann gleich sein; jedoch ist der vorangehende kompositorische und/oder improvisatorische Prozess ein gänzlich anderer. Das dritte Beispiel schließlich erörtert die Körperlichkeit in einer simulierten Reaktion des Computers nach vorgegebenem Aktionsschema.
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B E WEGUNG
KONTROLL IERT
K L ANGPAR AME TER
Bewegungssensoren kontrollieren Klangverarbeitungsprozesse wie z.B. Filter, Tonhöhenveränderung, Hall, Delay, Verräumlichung, Fragmentierung, Granulierung usw. in Echtzeit. Alle diese Klang generierenden wie verarbeitenden Verfahren können in verschiedenen Kombinationen zur Anwendung kommen. Durch Üben und Spielen lässt sich ein körperliches Kontrollempfinden entwickeln wie im 3. Kapitel beschrieben. Eine körperlich orientierte Kontrolle des mehrdimensionalen musikalischen Ergebnisses kann über eine Kombination der erwähnten Feedbackparameter erreicht werden: Vorausdenken (initiale Intention), initiale Bewegung (Gestik), instantanes Beurteilen der Performance, Gestik durch Vorstellungsvermögen und Eigenwahrnehmung, Hören des Klangresultats, Anpassen der Gestik in Bezug auf Vorstellung und Eigenwahrnehmung, Wiederholen komplexer Abläufe. Das direkte körperliche Feedbackempfinden hängt einerseits von der Auflösung ab, die der einzelne Sensor anbietet, andererseits von den damit gesteuerten Klangparametern selbst. Da ich in einem solchen Setting die gestische Kontrolle sehr nahe an die Klangkontrolle selbst binde, ist eine expressive, dramatische Körperlichkeit in der gestischen Präsentation möglich.
B E WEGUNG
KONTROLL IERT KOMPOSI TOR I SCHE
PAR AME TER
In einem anderen Setting werden während der Performance ganze gesungene oder gesprochene Phrasen digital aufgezeichnet. Die zeitliche Struktur dieser Aufnahmen wird durch kompositorische Verfahren verändert, deren Parameter von mir gesteuert werden. Die Position meiner Hände bestimmt u.a., in wie viele Abschnitte die Aufnahme bei der Wiedergabe unterteilt und nach welchen Gesetzmäßigkeiten deren Reihenfolge verändert wird. Aus der Position der Hände werden mehrere Kontrollparameter abgeleitet. So wird sowohl deren absolute Position im Raum wie auch die Distanz der Hände zueinander ausgewertet und unterschiedlichen kompositorischen Parametern zugewiesen. Da meine Bewegungen komplexe klangliche und strukturelle Prozesse auslösen, übe ich weniger das gestische Spiel als vor allem das Vorausdenken der Veränderungen. Die Diskrepanz zwischen z.T. kleinsten Bewegungen und der Komplexität der damit ausgelösten Veränderungen führen dazu, dass diese meinem körperlichen Empfinden teilweise entgleiten. Bei der Kontrolle kompositorischer Parameter stellt sich die Frage der Körperlichkeit dagegen anders. Während bei der Steuerung klanglicher Parameter eine wie auch immer gestaltete eindeutige Beziehung zwischen Bewegung und Klang existiert, erschließt sich dieser Zusammenhang bei der Steuerung kompositorischer Parameter nicht zwingend. Kann bei Ersterem die Offensichtlichkeit der Beziehung banal und eher zu verständlich werden, so kann bei Letzterem der Zusammenhang unverständlich bleiben. Die Möglichkeit, durch Körpergesten in den strukturellen Verlauf von musikalischen Prozessen einzugreifen, ist etwas, das es in dieser Form erst in computerbasierten interaktiven Settings gibt. Entsprechend jung ist auch die Frage nach der Inszenierung dieser Gesten. 85
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A USLÖSEN VON R E AK T IONSMUS TERN , THEMAT IK M ENSCH – M A SCHINE Die Charakteristik im folgenden Beispiel ist die einer aktiv-reaktiven, reziproken Beziehung zwischen Performerin und Computer/Software; ein erdachter musikalischer Dialog zwischen Musikerin und Maschine: Der Computer interpretiert den Input der Performerin und generiert eine Antwort, basierend auf programmierten Reaktionsmustern. Metaphorisch gesprochen hört und antwortet die Maschine nach vordefinierten Konzepten auf die Performerin. Das System übernimmt die Rolle eines Mitspielers, wobei die Reaktionen des Computers dabei Aktion allenfalls simulieren können. Das, was vom Computer hörbar wird, ist von der direkten Kontrolle der Performerin entkoppelt. Wie weit ein solches Setting durch Üben beherrschbar wird, hängt von der Vorhersagbarkeit der Reaktionsmuster ab. Das Spektrum reicht hier von gleich bleibenden resp. sich auf gleich bleibende Art entwickelnden Reaktionsmustern über Felder von möglichen Reaktionen bis hin zu vollständig zufallsgesteuerten Mustern.
6. Sensorhandschuh und musikalisches Konzept Sensorhandschuh (Foto: Simon Baumann/Andreas Pfiff ner).
Als Sängerin suchte ich nach einer Möglichkeit, meine Arbeit als Klangkünstlerin performativ auf der Bühne zu integrieren, ohne an ein Pult mit Knöpfen und Fadern gebunden zu sein. Ich suchte nach einer körpernahen instrumentalen Lösung, die es erlaubt, Stimm-, Klang- und Raumartikulationen gestisch in Echtzeit zu kontrollieren. Als Artist in Residence am STEIM in Amsterdam hatte ich 2001 die Gelegenheit, in Zusammenarbeit mit den anwesenden Elektronikern und Software-Entwicklern ein eigenes Interfacekonzept zu verwirklichen. Von den damals verfügbaren möglichen Interfaceanwendungen schien das System SensorLab meiner Idee der gestischen Klangkontrolle am nächs-
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ten zu kommen.7 Im Vergleich z.B. zum System BigEye, einer Videosoftware, die Bewegungen und Farben in einem gegebenen Raumausschnitt erkennen kann, werden die verschiedenen Sensoren des SensorLab individuell in eine direkt am Körper tragbare Form gebracht. Das SensorLab ist ein auf Sensoren basierendes Analog-to-MIDI-Interface, das mit jedweder herkömmlicher Musiksoftware kommunizieren kann. Die verschiedenen Sensoren verarbeiten ankommende Impulse in digitale Kontrolldaten. Als Sängerin entschied ich mich für einen Handschuh und einen Gürtel, um verschiedene Sensoren und das Interface selbst trag- und spielbar zu machen.
D IE S ENSOREN Mein aktuelles Sensorenset besteht aus Beugungssensoren, Distanzmessern, einem Beschleuniger/Erdanziehungsmesser (Accelerometer) und mehreren Schaltern in Form von Knöpfen. Jeder Sensor hat einen anderen Charakter in Bezug auf Kontrollfähigkeit und der mit der Bewegung einhergehenden Körperlichkeit. Die vier Beuger, die ich im Handschuh auf vier Finger verteile, eignen sich zur genauen Klangkontrolle. Sie sind jedoch sehr kleinräumig und die Bewegung ist von weitem kaum sichtbar. Der Beschleuniger/Erdanziehungsmesser erzeugt zufällige, lebendige Bewegungen auf der x- und y-Achse. Je schneller und weiträumiger ich eine Bewegung ausführe, desto mehr Daten liefert er. Sie sind jedoch am besten für zufällige Änderungen, z.B. von Klangparametern, geeignet. Die Knöpfe, auf einem kleinen Tableau angeordnet, benutze ich für alle möglichen Umschalt- und Kontrollfunktionen. Vereinfacht ausgedrückt ist meine Konfiguration ein mit Hilfe des Handschuhs gespielten Keyboards in der Luft, das eine dynamische Gestaltung in der Zuordnung von Gestik und Klang erlaubt.
I NDI V IDUELLE S
L I VE - ELEK T RONI SCHE S
S E T T ING
Mein live-elektronisches Konzept besteht aus mehreren Komponenten: vorkomponierte Klangzonen, die ich live wieder Signalprozessen wie Lautstärke, Filter, Hall, Tonhöhenveränderungen etc. zuführen kann sowie auf einer weiteren Ebene die mehrschichtige Signalverarbeitung meiner Livestimme mittels Granularkomponenten, Hall, Delay, Sampling etc. Kombiniert ermöglicht mir dies eine vielfältige elektroakustische Umgebung, die ich in Verbindung mit der in C+ programmierbaren SensorLab-Interface-Software8 gestisch immer wieder neu gestalten kann.
7. Vgl. www.steim.org/steim/products.html vom 5.8.2009. 8. SensorLab Software-Programmierung der Klangprozessideen: Daniel Repond,
Analytiker, Software-Entwickler, Bern (Schweiz).
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K ABEL
AL S
R EQUI SI T
Das Setup auf der Bühne mit dem über einen Kabelstrang verbundenen Gürtel und Sensorhandschuh erzeugt ein archaisch technisches Bild. Unübersehbar bin ich auf der Bühne in einen Kontext von nicht durchschaubarer Technik verwickelt. Der Sensorhandschuh wird zum Kostüm, zur visuellen Inszenierung, die unterschiedliche Erwartungen und Irritationen bei den Zuhörern auslösen kann. Anders als bei kabellosen Anwendungen vermittelt es eine spezifische technologische Expressivität und Präsenz.
N EUE K ÖRPERPL A S T IKEN Die Frage nach sinnstiftenden Beziehungen zwischen Gestik, Klangerzeugung und -kontrolle beschäftigt mich immer wieder aufs Neue. Durch die Benutzung einer Klang generierenden und verarbeitenden Software mit verschiedenen Plugins und vorkomponierten Klangzonen ergeben sich komplexe Beziehungen in den Kontrollverläufen. Die visuell oftmals nicht eindeutig erkennbaren Zuordnungen erzeugen visuell wechselnde Knotenpunkte in der Zuordnung zur Klangerzeugung und -kontrolle. Mechanische Bewegungen, die notwendig sind, um Kontrollvorgänge auszuführen, stehen begleitenden Bewegungen gegenüber, die für das musikalische Ergebnis nicht zwingend notwendig sind, jedoch dem interpretierenden Verständnis der musikalischen Vorgänge dienen. Dieses Wechselspiel zwischen notwendigen Bewegungen und musikalisch-gestischer Ideenvermittlung eröffnet ein weites künstlerisches Spielfeld. Diese zusätzliche Klangideen vermittelnde Gestik verändert nicht nur die Hörerfahrung beim Zuhörer, sondern auch bei mir als Sängerin. Neue Verbindungen zwischen Gestik und Klangerzeugung und/oder -kontrolle zu komponieren und in den Gestikverläufen mit erweiterten Kontrollparametern zu verknüpfen, ist eine künstlerische Herausforderung, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert.
Literatur Berger, Christiane: Körper denken in Bewegung: Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript Verlag 2006. Birnbaum, David M.: »Muscial vibrotactile feedback« (M.A. thesis), Montreal: McGill University 2007. Eitan, Zohar/Granot, Roni Y.: »How Music Moves: Musical Parameters and Listeners’ Images of Motion«, in: Music Perception Februar (2006), Volume 23, Issue 3, S. 221-247. Kandel, Eric R.: Auf der Suche nach dem Gedächtnis: Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes, München: Pantheon Verlag 2007.
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Wanderley, Marcelo M./Battier, Marc/Arfib, Daniel (Hg.): Trends in Gestural Control of Music, Paris: IRCAM Centre Pompidou 2000, CD-ROM, darin insbes.: • Battier, Marc: »Electronic Music and Gesture«. • Bongers, Bert: »Physical Interfaces in the Electronic Arts. Interaction Theory and Interfacing Techniques for Real-time Performance«. • Choi, Insook: »A Manifold Interface for Kinesthetic. Notation in HighDimensional Systems«. • Hunt, Andy/Kirk, Ross: »Mapping Strategies for Musical Performance«. • Iazzetta, Fernando: »Meaning in Musical Gesture«. • Rovan, Joseph/Hayward, Vincent: »Typology of Tactile Sounds and their Synthesis in Gesture-Driven Computer Music Performance«. Welzer, Harald/Markowitsch, Hans J. (Hg): Warum Menschen sich erinnern können: Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart: Klett-Cotta 2006.
Internetlinks STEIM Studio for Electro-Instrumental Music, Amsterdam: www.steim.org/ VR/TX-System: www.idmil.org/_media/publications/birnbaum_thesis_final _published.pdf Baumann, Franziska: www.franziskabaumann.ch
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Zur Geschichte elektroakustischer Instrumente aus dem Blickwinkel der Körperlichkeit Daniel Weissberg
1. Elektroakustische Instrumente Von den elektroakustischen Musikinstrumenten, die vor dem 2. Weltkrieg erfunden wurden,1 haben von den elektronischen das Theremin, die Ondes Martenot und das Trautonium, von den elektromagnetischen die E-Gitarre, die Hammondorgel und das Rhodes Piano sowie ein vergleichbares Instrument von Wurlitzer überdauert. Bei den elektronischen Instrumenten war schon bei ihrer Erfindung eine Erweiterungen des bestehenden Instrumentariums sowohl bezüglich ihres Klangs als auch der Spielweise intendiert, während die elektromagnetischen Instrumente als elektrifi zierte Varianten akustischer Instrumente gedacht waren und – zumindest in ihrer ursprünglichen Verwendung – wie ihre Vorbilder gespielt wurden. Die ästhetische Eigenständigkeit, die ursprünglich nicht intendiert war, aber zu ihrem Überdauern wesentlich beigetragen haben dürfte, verdanken sie ihrem jeweils charakteristischen Sound. Einige dieser Merkmale wurden ursprünglich als Mangel in Kauf genommen (z.B. der Tastenklick der Hammondorgeln) und galten später als unverzichtbarer Bestandteil, der beim Versuch, die Instrumente elektronisch nachzubauen, aufwändig simuliert werden musste. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts führte bei der E-Gitarre und ansatzweise bei der Hammondorgel die übersteuerte Verstärkung zu weiteren eigenständigen Charakteristika der Instrumente, welche die Inszenierung
1. Vgl. zur Geschichte der frühen elektronischen Spielinstrumente vor 1945 IMA Institut für Medienarchäologie (Hg.): Zauberhafte Klangmaschinen: Von der Sprechmaschine bis zur Soundcard, Mainz: Schott 2008; Peter Donhauser: Elektrische Klangmaschinen: Die Pionierzeit in Deutschland und Österreich, Wien: Böhlau 2007; André Ruschkowski: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen, Stuttgart: Reclam 1998.
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Daniel Weissberg
eines übersteigerten Körpereinsatzes beim Instrumentalspiel bis hin zur Zerstörung der Instrumente unterstützten.
2. Musik ohne Berührung : Das Theremin und die Entw icklung des Dir igierens im 19. Jahrhunder t Das erste elektronische Instrument, das 1920 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war das von Lev Thermen entwickelte Aetherophon (später unter dem Namen Theremin verbreitet). Es wird berührungslos mit den Händen in der Luft gespielt, wobei der Abstand von je einer Antenne die Tonhöhe und die Lautstärke steuert. Bemerkenswert ist, dass das erste elektronische Instrument der Geschichte gleichzeitig für Jahrzehnte über das innovativste Interface verfügt. 1932 konstruierte Thermen zudem eine elektrifizierte Tanzfläche, mit der die Tänzer Musik steuern konnten. Sie hat sich, wohl auch wegen ihrer unzuverlässigen Funktionsweise, nicht erhalten. Die Erfindung des Theremin fällt in eine Zeit, in der Vorstellungen ätherischer Sphären durchaus noch verbreitet waren.2 In diesem Kontext faszinierte die körperlose Körperlichkeit, mit der das Instrument gespielt wurde. Der Zusammenhang von Bewegung und Klang ist zwar sicht- und hörbar, jedoch in seiner Ursächlichkeit nicht nachvollziehbar. Einerseits ist die Kontrolle über die Parameter Tonhöhe und Lautstärke sehr direkt und differenziert, andererseits gibt es zwischen Bewegungs- und Schallenergie keinen unmittelbaren Zusammenhang. Insofern gibt es Parallelen zum Dirigieren, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Auch da gibt es einen hör- und sichtbaren Zusammenhang zwischen Bewegung und Klang und auch da steht die Bewegungsenergie des Dirigenten in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Schallenergie. Dieser ist ein durch die Orchestermusiker vermittelter. Der Unterschied ist, dass die Dirigierbewegungen Ausdruck von Klangvorstellungen sind, die vom Orchester umgesetzt werden, während die Bewegungen, mit denen das Theremin gespielt wird, exakt definierte Auswirkungen auf die Parameter des Klangs haben. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass das Interface des Theremins zwar faszinierte, es insgesamt jedoch konventionell als Melodieinstrument, allenfalls mit reizvollem ätherischem Klang, wahrgenommen und verwendet wurde. Auf die Entwicklung der avancierten musikalisch-kompositorischen Ausdrucksweisen seiner Entstehungszeit hatte es keinen nennenswerten Einfluss. In den Konzerten mit Theremin (oft mit Klavierbegleitung) wurden überwiegend bekannte und beliebte Melodien des 19. Jahrhunderts aufgeführt und auch in den Werken, die dafür komponiert wurden, liefert es zwar eine eigene Klangfarbe, wird aber nicht wesentlich anders verwendet als herkömmliche Melodieinstrumente. Das gilt gleichermaßen für die Ondes Martenot. 2. Sein siebengliedriges Menschenbild u.a. mit Äther-, Astral- und physischem Leib formulierte Rudolf Steiner im Band Theosophie 1904.
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Zur Geschichte elektroakustischer Instrumente
Die Entwicklung des Dirigierens und die Wechselwirkung mit den musikalischen Vorstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt dazu, dass das Orchester kompositorisch zunehmend als ein vom Dirigenten spielbares Instrument erschlossen wird, mit dem originär orchestrale Vorstellungen realisiert werden, während zuvor die Orchesterkomposition im Wesentlichen eine im Particell konzipierte Musik instrumentiert. Die kompositorische Innovation ist, dass mit den Mitteln des Orchesters Klangwirkungen komponiert werden können, die nur orchestral vorstellbar sind.3 Das führt dazu, dass die einzelnen Instrumente bzw. Instrumentengruppen nicht, oder zumindest nicht nur, Stimmen eines mehrstimmigen Satzes realisieren. Was sie spielen, lässt in der Summe Klanggestalten entstehen, die zu einem Klang verschmelzen. Darin manifestiert sich die Idee der Klangsynthese – der Zusammensetzung, des Kompositums eines Klangs aus einzelnen Elementen. Die Klangfarbe wird dem kompositorischen Zugriff erschlossen. Die Instrumentation und damit der Einfluss auf die Klangfarbe als Bestandteil kompositorischer Entscheidungen spielte noch im Barock eine untergeordnete Rolle. Oft blieb sie den Interpreten überlassen bzw. folgte der Konvention. Ca. ab Mitte des 18. Jahrhunderts markiert die später so genannte Mannheimer Schule den zunehmend kompositorischen Umgang mit den Mitteln der Instrumentation. Im Laufe des 19. und verstärkt des 20. Jahrhunderts entstehen dann jene Klangwirkungen, die additiv mit verschiedenen Gruppen von Instrumenten komponiert werden und über das hinausgehen, was mit dem Begriff der Instrumentation umschrieben wird. Die Kontrolle darüber obliegt nicht mehr nur dem einzelnen Instrumentalisten oder dem Stimmführer – sie erfordert zwingend einen weiteren Interpreten. Sein Instrument ist das ganze Orchester und er kontrolliert die einzelnen Module, aus denen sich der Klang zusammensetzt. Der Dirigent verkörperlicht eine Klangvorstellung, ohne an der Erzeugung des Klangs unmittelbar beteiligt zu sein. Trotzdem erzeugt er mittelbar Klang. Insofern wird die Klangerzeugung überkörperlich und unterteilt sich in die herkömmlichen instrumentalen Funktionen, welche Bewegungsenergie zur Erzeugung von Schallenergie einsetzen und die Funktion des Dirigierens, mit welcher diese Vorgänge koordiniert und gesteuert werden. Historisch ist es das erste Auftreten einer vermittelten Verklanglichung von Bewegung. Der von Peter Reidemeister beschriebene »Verlust des Deklamatorischen« 4 und die »Entdifferenzierung der Artikulation« durch zunehmenden Einsatz von Kraft im Instrumentalspiel führt in einer Wechselwirkung zu kompositorischen Vorstellungen, welche die Gestaltung von Klangfarben und komplexen Klang-Mischungen unabhängig von einer direkt nachvollziehbaren körperlichen Gestik erschließen. Durch den zunehmenden Einsatz von Kraft wird ein körperlicher Aspekt der Klangerzeugung betont, während
3. Als Schlüsselwerk, in dem dies deutlich wird, gilt die Symphonie fantastique von Hector Berlioz aus dem Jahr 1830. 4. Vgl. den Beitrag von Peter Reidemeister: »Körper, Seele, Musik, Maschine«, Kapitel 3 Virtuosentum, in vorliegendem Band.
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durch die Verdrängung des Deklamatorisch-Gestischen ein anderer Aspekt in den Hintergrund tritt. Das in der Luft gespielte Theremin liefert, was die Bewegung angeht, ein Pendant zum Dirigieren. Während es bei letzterem musikalische Vorstellungen gab, welche dieses erforderten, fehlen solche beim Theremin. Damals wie heute fasziniert vielleicht das Geheimnisvolle von berührungslos gespielten Klängen. Über diese Faszination hinaus stellt sich dabei allerdings auch zum ersten Mal die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung der Spielbewegungen. Zum ersten Mal wird deren Resultat austauschbar. Bei natürlicher Klangerzeugung ist die Spielbewegung immer durch das klangliche Resultat begründet. Letzteres gibt es nicht ohne erstere. Es gibt allenfalls eine über die Notwendigkeiten der Klangerzeugung hinausgehende Inszenierung der Spielbewegung, jedoch keine vom Klang gänzlich losgelöste Aussage, denn es gibt zu dem Teil der Bewegung, welche den Klang erzeugt, keine Alternative. Beim Theremin ist das anders. Den Klang auf diese Weise hervorzubringen ist eine von mehreren Möglichkeiten und somit, zumindest im künstlerischen Kontext, eine inhaltliche Aussage, auch dann, wenn sie nicht bewusst gemacht wird. Offenbar vermag die Entscheidung, mit vertikaler bzw. horizontaler Bewegung der Hände Lautstärke und Tonhöhe zu steuern, nicht in gleichem Maße zu faszinieren wie der technische Umstand, dass dies berührungslos geschieht. Mit Konnotationen von Spielbewegungen hatte man sich schon früher beschäftigt.5 Sie entschieden z.B. darüber, ob Interpreten sichtbar oder hinter einem Paravent versteckt spielen sollten, oder welche Instrumente z.B. Frauen zugestanden wurden. Inhaltliche Bedeutung von Bewegung gab es bis dahin im Bereich des Tanzes und des Theaters. Mit dem auf kommenden Virtuosentum im 19. Jahrhundert wurden zwar zunehmend Spielbewegungen inszeniert, sie blieben aber an die Erfordernisse der Klangerzeugung gekoppelt. Ein Bewusstsein für den Umgang mit der freien Gestaltbarkeit des Zusammenhangs von Bewegung und Klang im Kontext des Instrumentalspiels gab es zur Zeit der Erfindung des Theremins noch keines und bei den Komponisten offenbar auch kaum Interesse dafür. Es ist bezeichnend, dass Varèse aus praktischen Gründen die beiden Theremine, die ursprünglich in der Besetzung von Ecuatorial vorgesehen waren, später durch Ondes Martenot ersetzte. Der Klang war ähnlich, und dass die Instrumente auf ganz unterschiedliche Weise gespielt wurden, spielte für ihn offenbar keine Rolle. Im Unterschied zur Wahl der Spielbewegung beim Theremin sind die Dirigierbewegungen keine kompositorischen Entscheidungen, sondern eine Folge davon. Sie sind eine quasi instrumentale Notwendigkeit. Hinzu kommt, dass der Dirigent, anders als der Instrumentalist, nicht einzelne Parameter des Klangs so differenziert wie möglich steuert, sondern musikalische Zusammenhänge koordiniert. Das Dirigieren erfüllt nicht einen bekannten Zweck auf neue Weise, sondern es erfüllt eine Aufgabe, die sich in der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts neu stellt. Die Funktion des Dirigenten 5. Vgl. ebd., Kapitel 3 Virtuosentum, zu Couperins Cembalo-Schule: »Weit über dem Durchschnitt seiner Zeitgenossen ist François Couperins […]«.
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fügt dem Prozess der Realisation einer kompositorischen Idee eine weitere Stufe der Vermittlung hinzu. Erst die jüngsten Entwicklungen der Bewegungserkennung mit digitalen Mitteln sind in der Lage, Bewegungscharakteristika und somit Gesten und nicht nur Bewegungsabläufe zu erkennen und umzusetzen. Damit sind Voraussetzungen geschaffen, um Bewegungsvorgänge als komplexes, nicht nur lineares Phänomen zu interpretieren und zu Umsetzungen zu gelangen, die in ihrer interpretatorischen Spannung dem Phänomen der Dirigierbewegung vergleichbar sind. Die Faszination von in der Luft gespielter Musik kann so mit den kompositorischen Anforderungen an die Gestaltung des Zusammenhangs zwischen Bewegung und musikalischem Resultat verbunden werden. Im Kontext digital generierter Musik werden nicht nur klangliche, sondern auch kompositorisch-strukturelle Parameter steuerbar.
3. Ondes Mar tenot, Trautonium Auch die anderen beiden frühen elektronischen Instrumente, die sich über ihre Zeit hinaus erhalten haben, verfügen über experimentelle Interfaces. So hat die Ondes Martenot in ihrer ursprünglichen Form (1928) keine Klaviatur. Die Tonhöhe wird mit einer Zugschnur, später mit einem Gummiband, an dem ein Ring befestigt ist, gesteuert. Eine aufgemalte Klaviatur dient der Orientierung. Nach einer Version mit Klaviatur entsteht 1933 diejenige, die sich bis heute erhalten hat und sowohl über eine Klaviatur als auch über ein Gummiband verfügt.6 Mit dem Gummiband kann ein Glissando über 6 Oktaven gespielt werden, etwas, das bis dahin mit keinem anderen Instrument möglich war. Das Gummiband in Verbindung mit der Klaviatur ist als Interface dazu ideal. Im Unterschied zum Theremin ist es wesentlich einfacher, sich in Bezug auf die Tonhöhe zu orientieren. Klanglich sind die beiden Instrumente von ähnlicher Art. Für die Ondes Martenot wurden wesentlich mehr Werke geschrieben als für das Theremin, und Varèse hat, wie oben bereits erwähnt, die zwei Theremine, die er ursprünglich in Ecuatorial vorsah, später durch Ondes Martenot ersetzt. Die Ondes Martenot orientiert sich wesentlich mehr als das Theremin an konventioneller instrumentaler Praxis. Die Klaviatur ist keine neue Erfindung und letztlich ist das Gummiband in der Handhabung einem Posaunenzug mit stark erweitertem Tonhöhenbereich ähnlich. Beim Theremin war das Interface als solches eine Innovation. Bei der Ondes Martenot belegt auch die später integrierte Klaviatur, dass das Instrument pragmatisch den Anforderungen der Interpreten angepasst wurde. Für die ist es allemal einfacher mit etwas umzugehen, das sie bereits kennen und mit dem sie schon Übung haben. Das Trautonium, 1930 zum ersten Mal vorgestellt und von 1949-1952 zum Mixturtrautonium erweitert, zeichnet sich ebenfalls durch ein spezielles Interface aus. Mit den Fingern wird ein Widerstandsdraht auf eine Metallschiene 6. Vgl. The new Grove dictionary of music and musicians, London: Macmillan Publishers 2001.
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gedrückt. Die Position des Fingers beeinflusst die Tonhöhe. Auch hier findet sich ein Interface, das eine für die klanglichen Möglichkeiten des Instruments adäquate Spielweise bietet. Von den konventionellen Instrumenten kommt es dem Clavichord am nächsten. Seit diesem ist es das erste Tasteninstrument, bei dem der Klang auch nach dem Anschlag durch Druck moduliert werden kann. Schließlich sind mit diesem Interface klangmalerische Möglichkeiten gegeben, die über das Spiel eines Melodieinstruments hinausgehen. Trotz vereinzelter Werke von Komponisten wie Hindemith, Genzmer, Egk, Orff, Strauss und der 1963 von Oskar Sala mit dem Mixturtrautonium realisierten Musik zu dem Film Die Vögel von Alfred Hitchcock ist die Verbreitung des Instruments bescheiden geblieben. Sie ist vor allem an die Aktivitäten von Oskar Sala geknüpft, der damit zahlreiche Filmmusiken eingespielt und bis ins hohe Alter Konzerte gegeben hat. Die Möglichkeit, den Klang nach dem Anschlag durch Druck auf die Taste zu beeinflussen (After Touch), ist im MIDI-Standard auch integriert worden.7 Abbildungen 1-3: »Bird sounds« (1963), Hitchcock works with composers Remi Gassmann and Oscar Sala at the keyboard of the Studio Trautonium. – »Vellones et Maurice Martenot« (1936), archives pers.: femme de Pierre Vellones. – »Leon Theremin performing a trio for theremin, voice and piano« (1924), Source: Paul Griffiths (1978), A Concise History of Modern Music, Thames and Hudson.
Es ist bezeichnend, dass die Verbreitung sowohl des Theremins und noch ausgeprägter des Trautoniums an eine kleine Anzahl von Interpreten gebunden blieb, welche das Instrument virtuos beherrschten. Nur die Ondes Martenot wurde und wird von einer größeren Zahl von Interpretinnen und Interpreten gespielt. Von den dreien ist es auch das Instrument mit der konventionellsten Spielweise. Offenbar bestand und besteht wenig Neigung im Bereich der elektronischen Instrumente, gänzlich neue Spieltechniken zu erlernen, zu7. Vgl. den Beitrag von Daniel Weissberg: »Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe« in vorliegendem Band, insbesondere zu der Entwicklung der Aufzeichnungsverfahren.
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mal dann, wenn diese dazu dienen, einzelne klangliche Parameter möglichst differenziert zu steuern. Das scheint eher ein Feld zu sein, das den Instrumenten mit ›natürlicher‹ Klangerzeugung überlassen bleibt. (Eine der wenigen Ausnahmen ist Michel Waisvisz, der seine Hands während vieler Jahre geübt und gespielt hat.8) Diesem Umstand versuchen u.a. die Entwicklungen der von Tod Machover am MIT Media Lab gegründeten Hyper Instrument Forschungen Rechnung zu tragen.9 Einer der Ansätze dabei ist, das Spiel von bestehenden Instrumenten so differenziert wie möglich und in Echtzeit zu analysieren und als Steuerdaten für Klänge und/oder Klangveränderungen und -erweiterungen zu nutzen. Eine differenzierte Steuerbarkeit ist vor allem bei der Steuerung einzelner klanglicher Parameter gefordert. Die Komplexität der Reaktion (die Veränderung des Parameters) ist dort analog derjenigen der Aktion (der Steuerung). Andere Entwicklungen experimenteller Interfaces versuchen gar nicht erst eine den herkömmlichen Instrumenten vergleichbare Differenziertheit zu erreichen. Sie gehen vielmehr davon aus, mit relativ einfachen Bewegungen in ein relativ komplexes strukturelles Gefüge einzugreifen. Somit können mit einfachen Aktionen komplexe Reaktionen ausgelöst werden. Das ist z.B. bei Klanginstallationen von Bedeutung, die auf Aktionen des Publikums reagieren: Dieses kann den Umgang mit den Interfaces nicht üben und sie deshalb auch nicht differenziert bedienen. Äußerlich betrachtet mag das beschränkte Repertoire für elektronische Spielinstrumente ein plausibler Grund dafür sein, dass man wenig Interesse hat, ein Instrument jahrelang zu üben, nur um dann die paar wenigen Werke auff ühren zu können, die es dafür gibt. Allerdings haben sich für das Spiel elektronischer Instrumente auch Interfaces, welche sich sehr direkt an herkömmliche Instrumente anlehnen, wie etwa das Syntophon mit SaxophonMundstück und -Klappenmechanik kaum durchgesetzt. Einzig die Klaviatur fand und findet große Verbreitung.
4. Die Situation zur Zeit der Entstehung erster elektronischer Instrumente Seit dem späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert werden Lautstärke sowie Tonumfang der Instrumente erweitert und bei Blas- und Tasteninstrumenten die Mechanik auf eine möglichst flexible und differenzierte Klanggestaltung hin entwickelt. Die quantitative Ausweitung des Klangpotenzials führt generell zu einer stärkeren Betonung des Musizierens als körperlicher Akt. Der Zusammenhang von Kraftaufwand und Lautstärke ist dabei wohl der vorder-
8. Vgl. den Beitrag von Franziska Baumann: »Interfaces in der Live-Performance« in vorliegendem Band. 9. Vgl. Anhang in vorliegendem Band: »Bericht über den Aufenthalt am IRCAM« von Oliver Friedli zum Thema »Augmented Violin«.
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gründigste. Die Instrumente können zunehmend kraftvollere Bewegungen in Klang umsetzen als ihre Vorgänger.10 Der Fokus des Interesses lässt sich auch an Entwicklungen erkennen, die sich nicht durchgesetzt haben wie z.B. die Klaviere mit zusätzlichen Registern und Klangeffekten. Diese brachten zwar zusätzliche Klangfarben, aber keine differenzierte Kontrolle darüber. Diese Art der Klanggestaltung war der Orgel und den Musikautomaten vorbehalten. Man war dort bereit, Einschränkungen bei der Kontrolle klanglicher Parameter in Kauf zu nehmen, wo diese im Bereich der Harmonik und der Mehrstimmigkeit zusätzliches Potenzial eröffnen. Zu den gravierendsten Einschränkungen in diesem Zusammenhang gehört wohl die Durchsetzung der gleichschwebend temperierten Stimmung zu Gunsten unbegrenzter Modulationsmöglichkeiten. Beim Klavier nahm man das Fehlen der differenzierten und variablen Tonhöhengestaltung und den begrenzten Einfluss auf den dynamischen Verlauf in Kauf, weil es die Darstellung auch komplexer harmonischer und kontrapunktischer Strukturen mit nur einem Instrument in großer Klangfülle erlaubt. Die Bedeutung des Klaviers und des großen Orchesters mit Dirigenten im 19. Jahrhundert können als zwei Pole der gleichen Entwicklung gesehen werden. Auf der einen Seite das Orchester mit klanglich äußerst differenzierten Gestaltungsmöglichkeiten und einem entsprechenden arbeitsteiligen Aufwand, auf der anderen Seite das Klavier mit nur einem Spieler und begrenzten Möglichkeiten zur Klanggestaltung, aber dem Potenzial orchestrale Größe und Farbenreichtum nicht zuletzt mit Hilfe des Pedals zu suggerieren. Beim Dirigenten wie beim Pianisten kann die Suggestion der Bewegung über das rein klangliche hinaus wirksam werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt im Instrumentenbau die Entwicklung zuerst bei den Streichinstrumenten und im weiteren Verlauf bei den Blasinstrumenten und dem Klavier zum Abschluss. Wesentliche Weiterentwicklungen gibt es bei diesen Instrumenten seither nicht. Während sich im 19. Jahrhundert noch die Saxophonfamilie, die Erweiterung der Blasinstrumente durch Bass- und Kontrabassvarianten und, in begrenztem Maß, das Konzertakkordeon als instrumentale Neuentwicklungen durchsetzen können, ist eine vergleichbare oder sogar größere Verbreitung von Neuentwicklungen im 20. Jahrhundert ausschließlich elektroakustischen Instrumenten vorbehalten, und es sind durchwegs solche, die sich an den Spielweisen konventioneller Vorbilder orientieren. In der Entwicklung dessen, was man elektroakustische Musik nennt, haben sie keine nennenswerte Rolle gespielt.11 Sie setzen im wesentlichen die Tradition des Instrumentenbegriffs des 19. Jahrhunderts fort. Offenbar gibt es dem, was sich quantitativ und qualitativ an Potenzial zur Kontrolle klanglicher Parameter im 19. Jahrhundert entwickelt 10. Vgl. den Beitrag von Peter Reidemeister: »Körper, Seele, Musik, Maschine«, Kapitel 3 Virtuosentum, Abschnitt 4, zu der Entwicklungsgeschichte der Flöte, in vorliegendem Band. 11. Vgl. Elena Ungeheuer: Wie die elektronische Musik ›erfunden‹ wurde… – Quellenstudie zu Werner Meyer-Epplers Entwurf zwischen 1949 und 1953, Mainz: Schott 1992.
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hat, nichts Wesentliches hinzuzufügen. Neue, im Sinne von ungebräuchlichen klanglichen Möglichkeiten, boten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die wieder entdeckten alten Instrumente.12 Auch was die Lautstärke anbelangt, hatte man im 19. Jahrhundert mit dem großen Orchester die Schmerzgrenze erreicht und die Renaissance des Geräuschs wurde mit der Wiedereinführung von Perkussionsinstrumenten vorbereitet. Mit diesen Entwicklungen war in der Musik die Ausweitung des Materialbegriffs selbst als Qualität etabliert und der Boden u.a. auch für die Ausweitung im Bereich der experimentellen Instrumentaltechniken und der elektroakustischen Klangerzeugung bereitet. Die elektronischen Spielinstrumente sind folgerichtig in die Entwicklung des Instrumentenbaus eingebettet. Aus kompositorischer Sicht sind es moderne, aber keineswegs revolutionäre Erfindungen. Ihr Innovationspotenzial ist dem der Sprengung der funktionalen Harmonik oder der Entdeckung der Mikrotonalität u.Ä. nicht vergleichbar. Die Klangfarbenmelodie bei Schönberg oder das präparierte Klavier bei Cage dürften den Ursprüngen der elektroakustischen Musik nach 1945 wesentlich näher und verwandter sein als die Musizierpraxis elektroakustischer Spielinstrumente der ersten Jahrhunderthälfte. Vor diesem Hintergrund ist es eher erstaunlich, dass sich aus der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts doch diejenigen Instrumente erhalten haben, die für das Ausschöpfen ihres spezifischen klanglichen Potenzials auch über spezifische Interfaces verfügen. Die Instrumente blieben jedoch an einzelne Persönlichkeiten oder im Fall der Ondes Martenot an ein begrenztes Repertoire gebunden. Eine davon unabhängige Verbreitung, wie bei den elektrischen Orgeln und E-Gitarren gibt es nicht.
5. Elektromagnetische Spielinstrumente Die Instrumente mit elektromagnetischer Klangerzeugung orientierten sich sehr direkt an herkömmlichen Vorbildern: die elektrische Gitarre ist zunächst eine zum Zweck der Verstärkung elektrifizierte Gitarre, Hammondorgel und Rhodes Piano werden explizit als platzsparender Ersatz für Pfeifenorgel und Klavier entwickelt. Verbreitung finden sie dann aber vor allem wegen derjenigen klanglichen Eigenschaften, die sie von ihren Vorbildern unterscheiden. Während das zunächst vor allem der charakteristische Sound ist, nimmt ab den 1960er Jahren die E-Gitarre als zentrales Instrument der Rockmusik eine Sonderstellung ein. Wie bereits beschrieben, wird die Klangerzeugung in extremem Maß dramatisiert und, obwohl nur noch bedingt ein körperlicher Akt, als solcher inszeniert. Die spezifische Medialität der Klangerzeugung wird zum wesentlichen Charakteristikum. Die extreme Verstärkung macht das Instrument zu 12. Vgl. den Beitrag von Peter Reidemeister: »Körper, Seele, Musik, Maschine«, Kapitel 2 Vom musizierenden Menschen zum Spielapparat, zu der Wiederentdekkung der alten Instrumente, in vorliegendem Band.
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einer Mischung aus herkömmlichem Klangerzeuger und eigenwillig instabiler Maschine. Es sind die vielschichtigen in ihrer Zeit aktuellen Bedeutungsebenen, die ihm seine zentrale Funktion zukommen lassen. Der Klangcharakter der Gitarre wird durch massive Übersteuerung der Technik in sein Gegenteil verkehrt, von einem leisen Klang mit kurzer Abklingzeit zu einem von höchster Lautstärke und beliebiger Dauer. Die Übersteuerung zeugt von einer Mischung aus Technikfaszination und -kritik. Das Spiel des Instruments ist nicht mehr nur musikalische Klangerzeugung, sondern auch symbolischer Dialog mit der Maschine. Einerseits wird das Instrument als ›Verlängerung‹ des eigenen Körpers behandelt, andererseits als ›Verlängerung‹ der Maschine, womit das Körperbild des Gitarristen selbst als Hybrid erscheint. Die Fähigkeit zu selbständigem Klingen wird inszeniert. Oft macht dabei die Haltung der Gitarristen deutlich, dass die durch die Verzerrung dauerhaft erregte Saite auf mehr als nur ein klangliches Phänomen hinweisen soll. Auch die Metapher der Nabelschnur zur Technik wird vor der Zeit der kabellosen Funkverbindung von vielen ausgiebig mit Gängen über die ganze Bühnenbreite und ins Publikum zelebriert, verbunden mit dem Einsatz mehrerer Helfer, die es dazu als ›Kabelträger‹ braucht. Bei den Keyboardern herrscht traditionell ein eher ungebrochenes Verhältnis zur Technikfaszination. Da bis in die 1980er Jahre die Klaviaturen zwischen den Instrumenten nicht austauschbar waren, wurden, wenn man es sich leisten konnte, riesige Burgen aus Tasteninstrumenten aufgebaut. Bezeichnend ist, dass Keith Emerson, der im Pop-Bereich als einziger Keyboarder zur zentralen Figur einer berühmten Band wurde, das Spiel der Hammondorgel als Kampf mit der Maschine inszenierte, Bordunklänge erzeugte, indem er Messer zwischen die Tasten stieß, auf die Orgel sprang, darauf schaukelte, sie umstieß, sich darunter legte und durch Rütteln an der Hallfeder und direkte Eingriffe in die elektrischen Kontakte den technischen Innereien des Instruments Klänge entlockte. Emerson war auch der erste, der einen MoogSynthesizer, hauptsächlich als monophones Melodieinstrument, auf der Bühne einsetzte. Neben der Klaviatur verwendete er einen berührungssensitiven Stab als Interface zur Steuerung klanglicher Parameter, mit dem er sich wie mit einer E-Gitarre auf der Bühne bewegen konnte.
6. Verstärkung Verstärkung bedeutet immer eine qualitative Veränderung des Klangs, die wie im Fall der Verzerrung intendiert ist, in anderen Fällen mehr oder weniger bewusst eingesetzt oder in Kauf genommen wird. Sie hat auch Auswirkungen auf das Spiel zunächst unverstärkter Instrumente. Welche Instrumente in welcher Kombination hörbar bleiben oder übertönt werden, wird in Besetzungen, die mit Verstärkung arbeiten, als sonst zentrale Frage der Instrumentation obsolet. Man verstärkt das, was man hören will so stark, dass man es hört. So kommt das Saxophon mit einem lasziv gehauchten Solo mühelos gegen den Rest einer Bigband an und es wird möglich, das Schlagzeug mit aller verfügbaren Kraft zu spielen, ohne die anderen Instrumente damit 100
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zu übertönen. Mittels Verstärkung hat sich in der Pop-Musik mit der Zeit ein elektroakustischer Schlagzeug-Sound durchgesetzt, der sehr nahe an den Instrumenten positionierte Mikrofone, Filterung und Kompression erfordert und nicht mehr viel Gemeinsamkeit mit dem unverstärkten Klang des Instruments hat. Die Verstärkung dient in den aus dem Rock’n’Roll hervorgegangenen Stilrichtungen bis heute zur Verstärkung der physischen Präsenz der Musik. Schwitzende Körper und schmerz-/lustverzerrte Gesichter unterstreichen die Bedeutung des körperlichen Ursprungs des Klangs, just in einer Situation, in der dieser Ursprung so eindeutig gar nicht mehr ist. Mit der Lautstärke des großen Orchesters geht man seit dem 19. Jahrhundert an die Schmerzgrenze. Mit den Pop-Gruppen seit den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geht man mit wesentlich kleineren Besetzungen weit darüber hinaus. Beim großen Orchester ist die Lautstärke eine, die auf Grund der Multiplikation der Spieler zustande kommt. In der Pop-Musik ist unbegrenzte Lautstärke etwas, das auch Einzelne produzieren können. Ist die Suggestion der ›Überkörperlichkeit‹ des großen Orchesters die einer dirigierten Masse, so ist sie in der Pop-Musik das Resultat einer exzessiv vorgelebten, von Technik abhängigen und technisch vergrößerten Körperlichkeit. Den nicht nur musikalisch ausgelebten körperlichen Exzess haben einige Exponenten der Pop-Musik der 1960er und frühen 1970er Jahre mit dem Leben bezahlt. Hier wäre auch zu untersuchen, wie weit in dieser Hinsicht Parallelen zu den von Wahnsinn und Suizid gefährdeten Künstlerfiguren des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Auch wenn es zunächst ökonomische Gründe waren, welche die Verbreitung der Verstärkung vor allem in der Populärmusik befördert haben (große akustische Reichweite mit kleinen Besetzungen), so spiegelt sich darin dennoch ein soziokultureller Wandel, der in seiner Bedeutung über das Ökonomische weit hinaus geht. Die Gleichschaltung großer Menschengruppen wie sie das Orchester des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, wird – nicht zuletzt nach der Erfahrung des Faschismus – suspekt. Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft geht nicht mehr davon aus, dass umso mehr erreicht wird, je mehr Menschen das gleiche tun. Wenn Komponisten wie Xenakis oder Ligeti in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren für großes Orchester schreiben, dann setzt sich der Klang oft aus ebenso vielen Elementen zusammen, wie es Musiker im Orchester gibt. Damit sind die Musiker zwar nicht mehr gleichgeschaltet, als Individuen wahrnehmbar sind sie in der Masse des Orchesters dennoch nicht. Das könnte als eine prophetische Metapher auf die Situation des Individuums im Internet-Zeitalter gelesen werden, in der sich jede und jeder einzelne auf beliebige Art darstellen kann, ohne dass deswegen eine Individualität zur Kenntnis genommen würde. Dem omnipräsenten Selbstdarstellungsrauschen in Internetforen und Talkshows stehen medial inszenierte und ›vergrößerte‹ Stars gegenüber, die nur noch in dieser Vergrößerung eine Chance haben, von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Auf akustischer Ebene sind die Schallaufzeichnung und die Verstärkung die medialen Voraussetzungen dazu. 101
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7. Fazit Im Rückblick auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeigt sich das Bild einer vielschichtigen Entwicklung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in Wechselwirkung mit der robuster werdenden Bauweise der Instrumente ein zunehmend direkter körperlicher Zugang zum Instrumentalspiel. Der Einfluss der Spielbewegungen auf die klanglichen Parameter nimmt quantitativ zu. Dies schlägt sich am markantesten im zunehmenden Umfang von Tonhöhe und Lautstärke nieder, dem sich auch die Gesangstechnik anpasst. Dieser zunehmenden Direktheit bei der Verklanglichung von Körperlichkeit steht im Bereich der Musik für Orchester eine vermittelte Körperlichkeit gegenüber, die aus der Entwicklung spezifisch orchestraler Gestaltungsmittel resultiert, die den Dirigenten nicht nur als Koordinator, sondern auch als Interpreten erfordern. Während die Entwicklung der Instrumente in ihrer bis heute gebräuchlichen Form im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen wird, beginnt im Bereich der Orchestermusik eine Entwicklung, welche den Instrumentenbegriff orchestral erweitert und in den Dirigierbewegungen neue Beziehungen zwischen Körperlichkeit und Klang schaff t. Im Nachhinein kann just in dieser Erweiterung ein erster Schritt in Richtung entkörperlichter Musik gesehen werden. Die Gestaltung von Musik mittels (Dirigier-)Bewegungen, die nur noch Ausdruck des Gestaltungswillens und befreit von instrumentaler Bedingtheit sind, birgt dialektisch die Idee der Befreiung der musikalischen Phantasie von körperlicher Bedingtheit, sei es von der des Dirigenten oder des Instrumentalisten. In der elektronischen Musik der 1950er Jahre wird diese dann auch verwirklicht. Die ersten elektroakustischen Spielinstrumente setzen im Wesentlichen die Entwicklung des Instrumentenbaus aus dem 19. Jahrhundert fort, obwohl sie auch ein Potenzial böten, den Instrumentenbegriff zu erweitern und neue musikalische Gestaltungsmittel zu erschließen.13 Die diesbezüglichen Versuche sind jedoch marginale Phänomene geblieben. Bereits 1907 verspricht sich Busoni in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst 14 eine Erweiterung des Tonsystems mit elektroakustischen Mitteln. Er hatte in einem Artikel über die Erfindung des Telharmoniums gelesen, dieses jedoch nie gesehen und gehört. Er hat diesen Ansatz außer in einigen Experimenten in seinem Werk auch nicht weiter verfolgt. In die Praxis umgesetzt wurden Ideen zur Mikrotonalität in der ersten Jahrhunderthälfte fast ausschließlich, ohne auf elektroakustische Mittel zurück zu greifen. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten der Entwicklungsgeschichte elektronischer Instrumente, dass es die Idee, sie im Bereich der Erkundung mikrotonaler Stimmungen einzusetzen, schon gab, bevor sie verfügbar waren. Als 13. Vgl. Elena Ungeheuer (Hg.): Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 5, »Elektroakustische Musik«, Laaber: Laaber 2002. 14. Vgl. Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest: Schmidt 1907.
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sie verfügbar wurden, fanden sie in diesem Bereich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dann kaum Verwendung. Die Erfindung des Theremins war technologisch und in Bezug auf das Interface eine Pionierleistung, die jedoch keine nennenswerten musikalisch innovativen Konsequenzen hatte. Technologisch wurden damit praktische Grundlagen für eine elektronische Musik geschaffen, die als eigene Gattung jedoch erst 30 Jahre später entstand und zunächst kaum Bedarf an Spielinstrumenten hatte. Über die Gründe, warum das Theremin im Kontext des in den 1920er Jahren entstehenden Ausdruckstanzes oder im Kreis der Dadaisten nicht eine musikalisch-künstlerisch eigenständige Anwendung fand, kann nur spekuliert werden. Offensichtlich bestand eine Diskrepanz zwischen dem, was die Komponisten und dem, was die Erfinder und Ingenieure an der elektronischen Klangerzeugung interessierte. Tatsache ist, dass nicht nur das Theremin, sondern auch keines der anderen in der ersten Jahrhunderthälfte entstandenen elektronischen Spielinstrumente zu nennenswerten musikalischen Innovationen inspiriert hat. Dies blieb elektromagnetischen Instrumenten, vor allem der E-Gitarre vorbehalten, die 1932 zunächst nicht als neues, sondern als lautere Variante eines bestehenden Instruments erfunden wurde. Es war eine technische Unzulänglichkeit ihrer Verstärkung, welche die Techniker wohl gerne verhindert hätten, die sie in der zweiten Jahrhunderthälfte zum zentralen Instrument des Rock’n’Roll und der daraus hervorgegangenen Stilrichtungen werden ließ. Durch die kreativ genutzte Übersteuerung wurde sie zum Sinnbild des ›Ungezähmten‹ und ›Wilden‹. Sie kann gekitzelt, gestreichelt, geschlagen werden, sie kann aber auch schreien ohne berührt zu werden, allein schon durch genügende Übersteuerung. Der E-Gitarre verhalf eine Eigenschaft zum Durchbruch, die bei deren Entwicklung gar nicht bedacht worden war und auch nicht hätte bedacht werden können. Klanglich hat die verzerrte EGitarre, wie sie in der Rockmusik verwendet wird, mit einer klassischen oder einer traditionellen Jazz-Gitarre nichts mehr zu tun. Das Beispiel der E-Gitarre steht stellvertretend für viele tendenziell revolutionäre Erfindungen und Entwicklungen, die erst durch ihre Existenz die Voraussetzungen schaffen für das, was sie an grundlegend Neuem bewirken. Deshalb ist ihre Bedeutung zur Zeit der Entstehung noch gar nicht absehbar und das, was sie bewirken, kommt oft überraschend. Die E-Gitarre kommt zwar, wie die elektrische Orgel, in einigen Werken der Neuen Musik der 1960er Jahre und danach (zunächst meist unverzerrt) vor, die Bedeutung, die sie in der Pop-Musik hat, wird in der neuen Musik jedoch kaum reflektiert. Die elektronische Musik, wie sie in den 1950er Jahren entsteht, ist vor allem in Europa und weitgehend auch in den USA eine, mit der das musikalische Potenzial erschlossen wird, das sich durch die Absenz körperlicher Bedingtheit ergibt. Dieses entwickelt sich nicht aus den elektronischen Spielinstrumenten, sondern aus den kompositorischen Entwicklungen der Instrumental-, namentlich der Orchestermusik des 19. und 20. Jahrhunderts. Was Komponisten wie Karlheinz Stockhausen an der elektronischen Klangerzeugung und der Arbeit in den Studios faszinierte, war eher die universelle Verfügbarkeit und exakte Reproduzierbarkeit der klanglichen 103
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Parameter als die Elektronik als solche. Außerhalb der Studios entstand Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA eine Szene, die mit selbst gebauten experimentellen elektronischen Geräten auch in LiveSituationen experimentierte. Die prominenteste Gruppe dürfte die Sonic Arts Union um Alvin Lucier, Robert Ashley, David Behrman und Gordon Mumma sein. Sie gehören mit ihren nur bedingt beherrschbaren Instrumenten und einer Ästhetik, die jener der genau geplanten und auf Tonträgern fi xierten Studioproduktionen entgegen gesetzt ist, zur eher jungen Tradition des experimentellen Instrumentenbaus. Auch sie ist nicht aus der Tradition des elektroakustischen Instrumentenbaus hervorgegangen. Die technische und die musikalisch-kompositorische Vorgeschichte der elektroakustischen Musik sind letztlich zwei Vorgeschichten, die in unterschiedlichen Bahnen verlaufen, ohne sich nennenswert zu berühren. Auf Seiten der technischen Entwicklung finden sich elektronische Spielinstrumente, die in der Instrumentaltradition des 19. Jahrhunderts stehen, oder elektromagnetische Varianten von bestehenden Instrumenten, die teils mit dem Ziel entwickelt wurden, deren Lautstärke zu erhöhen, teils mit dem Ziel, sie einfacher zu bauen (Verzicht auf Resonanzkörper, Orgelpfeifen, Ersatz von Saiten durch stimm-stabilere Metallzungen etc.). Die andere Vorgeschichte ist die, welche vor allem in der Musik für Orchester zunehmend klangliche und strukturelle Aspekte der kompositorischen Gestaltung in den Vordergrund rückt, deren Bezug zu einer körperlichen Gestik sich nicht mehr unvermittelt erschließt. Die zur Schau gestellte Gestik des Dirigenten richtet sich auf Aspekte, die den Klängen der einzelnen Instrumente übergeordnet sind. In der Musik für kleinere Besetzungen bis hin zum klassischen Orchester ist der einzelne Instrumentalist, seine instrumentale Geste, in der Musik mitgedacht und in seiner Funktion hörbar. In chorischer Besetzung mag das Individuum mit der Gruppe verschmelzen, die Musik bleibt als Summe instrumental identifizierbarer Individualitäten hörbar; nicht in jedem einzelnen Akkord, jedoch im strukturellen Geschehen. In dieser Hinsicht erweitert sich das musikalische Denken im Laufe des 19. Jahrhunderts: der Klang ist nicht mehr notwendigerweise das Resultat einer instrumentalen, und damit körperlichen Geste. Klang wird auch als abstrakte Struktur gedacht und komponiert. Das ist die Voraussetzung für eine Musik, die in letzter Konsequenz auf körperliche Bedingtheit verzichten kann, und für die Realisation von musikalischen Ideen, wie sie in der frühen elektroakustischen Musik zum Ausdruck kommen, sogar auf sie verzichten muss.
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I. Die Konstitution musikalischer Praxis : Instrumental- und Körper techniken Musikalische Praxis gilt als eine höchst somatische Aktivität, die durch eine ebenso fein- wie grobmotorische körperliche Steuerung musikalischer Ereignisse gekennzeichnet ist. Der Entwicklung und Verbesserung der Schnittstelle eines Musikinstrumentes, die es einer Musikerin erlaubt, durch Körperbewegungen Klangereignisse zu erzeugen, kommt somit in der Tradition einer (nicht nur westlichen) Musikkultur eine zentrale Bedeutung zu. So wurden unterschiedliche Instrumentaltechniken als Körpertechniken 1 entwickelt, die u.a. von den Schnittstellenarten bedingt waren, welche die Steuerungseinheit (Controller) eines Musikinstrumentes bilden, wie dies z.B. bei Klaviatur, Mundstück, Schlagstab, Bogen und Saite der Fall ist. Je nach den Möglichkeiten der jeweiligen Controller, welche die Energie und Größe der musizierenden Körperbewegungen in den Mechanismus der Klangerzeugung – z.B. schwingende Saiten oder Röhren – weiterleiten, werden unterschiedliche motorische Organe und Körperhaltungen zur Erzeugung und Steuerung musikalischer Ereignisse eingesetzt. Besonders hervorzuheben ist aber an dieser Stelle, dass musikalische Körpertechniken nicht nur von dem durch das Musikinstrument angebotenen realen Angebots- bzw. Aufforderungscharakter (affordan1. Der Ausdruck »Körpertechnik« geht auf den vom Sozialanthropologen Marcel Mauss 1934 eingeführten Terminus zurück, der in der gegenwärtigen Diskussion über die Kulturtechniken aufgegriffen wird. Mauss analysierte insbesondere unterschiedliche Schwimmtechniken als kulturelle Körpertechniken in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext. Vgl. Marcel Mauss: »Les Techniques du corps«, in: Journal de Psychologie 32 3-4 (1936), S. 5f.
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ce), 2 wie beispielsweise einem Tasten- oder Streich-Controller, sondern auch von den wahrgenommenen affordances und kulturellen Einschränkungen (constraints) abhängig sind, 3 die ein Musikinstrument je nach musikkulturellem Kontext auf unterschiedliche Weise anbietet und auferlegt. So kann das gleiche Schlaginstrument, das in einer ostasiatischen Singperformance als ein Begleitinstrument mit einer einfachen Technik gespielt werden kann, in einem anderen musikalischen Kontext, wie z.B. in einer rituellen Volksmusik, als ein Hauptinstrument fungieren, das mit feinen Fingerbewegungen und unterschiedlichen Schlagpositionen auf dem Trommelfell virtuos gespielt werden muss. Die von der Musikerin sich angeeigneten musikalischen Körpertechniken führen zu musikspezifischen Körpersinnen und -wahrnehmungen, die mit einer zeitlich sukzessiv und kontinuierlich erfolgenden doppelt auditiven und taktilen/kinästhetischen Feedbackschleife verbunden sind. Diese doppelte Feedbackschleife ist grundlegend für die durch Körperlichkeit gekennzeichnete musikalische Praxis. Die dem Musizieren zu Grunde liegende Körperlichkeit bezieht sich aber weniger auf eine deutlich beobachtbare visuelle Geste, sondern vielmehr auf virtuose Körperaktivitäten zur Klangerzeugung und -steuerung, die auf der Grundlage einer Verfeinerung der Körpersinne und -wahrnehmung ausgeführt werden. Insofern ist es interessant zu beobachten, wie ein einfacher technischer Drehregler durch dessen Nutzung in der gegenwärtigen interaktiven Musik als ein Musikinstrumentencontroller von einer Musikerin virtuos gespielt werden kann. Die Musikerin, die sich der Koordination ihrer Handbewegung zur Drehung des Reglers und den dabei entstehenden und sich modifizierenden Klängen mit äußerster Konzentration widmet, ist ständig so in Bewegung und in An- und Entspannung, dass nicht nur ihre Hände und Arme, sondern auch ihr ganzer Körper in die in einer kontinuierlichen Schleife des taktilen und auditiven Feedbacks stattfindenden Musizieraktivitäten involviert ist. Der Gebrauch des in diesem Kontext als Bestandteil des Musikinstrumentes fungierenden Drehreglers unterscheidet sich funktional deutlich von der Nutzung des gleichen Drehreglers, der bei der Tonstudioproduktion einer Musikaufnahme lediglich als Lautstärkeregler dient. 4 Die Turntables beim DJ-ing stellen ebenfalls ein gutes Beispiel für die situative Funktion eines technischen Gerätes als Musikinstrument dar: Die Turntables, die ursprünglich zum Abspielen einer Schallplatte entwickelt wurden, konnten im Laufe der Entwicklung der DJ-Kultur 2. Zu realen affordances vgl. James Jerome Gibson: »The Theory of Affordances«, in: Robert Shaw/John D. Bransford (Hg.), Perceiving, Acting, and Knowing: Toward an Ecological Psychology, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1977, S. 67-82. 3. Zu wahrgenommenen affordances und constraints vgl. Donald A. Norman: The Design of Everyday Things, New York u.a.: Doubleday 1990. 4. Newton Armstrong beschreibt in seiner Dissertation (2006): »An Enactive Approach to Digital Musical Instrument Design« ausführlich, wie Druckknöpfe, Schalter und Joysticks zusammen als hervorragende Steuerungsoberfl ächen eines Musikinstrumentes fungieren können (vgl. http://eamusic.dartmouth.edu/ ~newton/enactive.pdf).
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als ein Musikinstrument dienen, das durch eine konzentrierte Auff ührung eines DJs aus einem Mix zweier unterschiedlicher Musikstücke mit einer rhythmischen Synchronisation ein neues Musikstück und teilweise neue Musikgenres emergieren lässt.
II. Kopplung von Körper und Musikinstrument Aufgrund der angeführten Beispiele ist anzunehmen, dass sich in Verbindung mit der Aneignung der jeweiligen musikalischen Körpertechniken die den Musizierbewegungen entsprechenden prä-reflexiven Sinne herausbilden. Als prä-reflexiv gelten sie deshalb, weil professionelle Musizierbewegungen, die das Ergebnis eines wiederholten Einübens instrumentaler Techniken darstellen, nicht reflexiv, d.h. nicht durch ein explizites Wissen über eingesetzte Bewegungsmuster und deren Reihenfolge, sondern quasi automatisch ausgeführt werden. Diese propriozeptive Wahrnehmung, die eine Musikerin beim Instrumentenspiel immer begleitet, dient als Grundlage der bewussten Körperwahrnehmung, der zugleich ein Monitoringprozess unterliegt. Beispielsweise kann eine Musikerin in einer Übungssituation durch bewusste Körperwahrnehmung darüber reflektieren, welche Körperzustände sowie welche körperlich gefühlte Expressivität durch welche musikalischen Körpertechniken erreicht werden. Musikalische Körpertechniken zeichnen sich demnach allgemein durch eine Kopplung von Körper und technischem Medium aus, d.h. durch eine Kopplung von Körper und Musikinstrumenten einschließlich ihrer Controller-Interfaces. Diese Kopplung erlaubt es der Musikerin, im Zuge von zeitlich eng aufeinander folgenden, auditiven und taktilen/kinästhetischen Feedbackschleifen, die sowohl prä-reflexiv erfahren als auch reflexiv wahrgenommen werden, zu einer sinnlich-ästhetischen Erfahrung zu gelangen. Bei einem mechanischen Musikinstrument spielen sowohl der Resonanzkörper des Musikinstrumentes als auch der Controller, der in der gegenwärtigen Forschungslandschaft als Musikinterface (musical interface) terminologisiert wird, eine wesentliche Rolle. Beim Instrumentenspiel gewöhnt sich die Musikerin durch direkten körperlichen Kontakt oder durch körperliche Nähe prä-reflexiv, d.h. vor einer bewussten Körperwahrnehmung, an die Vibrationen des Resonanzkörpers des Musikinstrumentes und erlangt dadurch eine das Musiziergefühl wesentlich prägende Art von Mitresonanz des eigenen Körpers. 5 Die durch Resonanz vermittelte Kopplung von Musikinstrument und Körper hat als Modell den als Singinstrument fungierenden Körper des Singenden. Beim Singen wird die Stimme mittels der von der Lunge gelieferten Energie und der durch die 5. Warum das Klavier von westlichen mechanischen Musikinstrumenten her als eines der Musikinstrumente gilt, das sich für die Musikerin am meisten distanziert und reflexiv anfühlt, mag auch daran liegen, dass sich der Resonator des Klaviers im Vergleich zu anderen mechanischen Streich- oder Blasinstrumenten relativ weit entfernt vom Körper der Musikerin befindet.
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Stimmbänder erfolgenden Vibrationen erzeugt. Die im Kehlkopf, Rachenraum und Nasenhöhle (siehe Abb. 1) stattfindende Resonanz der Stimme wirkt unmittelbar an der Mitresonanz des gesamten Körpers mit. Die Größe eines Stimmresonanzraumes wird durch die während des Singens variierende Stellung von Lippen, Kinn und Zunge bestimmt. Der singende Körper fungiert auf diese Weise als (technischer) Apparat zur Singstimmerzeugung und zugleich als ein ästhetisches Subjekt, das über die Stimmerzeugung, in Verbindung mit der Stimmresonanz, komplexe körperliche Sinne musikalische Expressivität erlebt. Abbildung 1: Stimmorgane 6
Neben dem Resonator spielt der Controller eines Musikinstrumentes insofern eine besondere Rolle für die Kopplung von Musikinstrument und Körper, als er von allen Einheiten eines Musikinstrumentes mit dem Körper am direktesten gekoppelt ist. Die im Laufe der Zeit beim Instrumentenspiel durch Wiederholung habitualisierten Körpertechniken führen zu einer solchen Symbiose des Controllers und der zur Steuerung bestimmter Musikinstrumente eingesetzten Körperorgane, dass die kleinste Veränderung des Controllers, wie z.B. die Distanz oder der Widerstand der Tasten beim Tasten-Controller und das Saitenmaterial beim Streich- oder Zupf-Controller, eine deutlich erkenn6. Quelle: Johan Sundberg: »Die Singstimme«, in: Klaus Winkler (Hg.), Die Physik der Musikinstrumente, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 1992, S. 15, Abb. 1.
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bare veränderte Körperwahrnehmung der Musikerin mit sich bringt und sie somit – wenn auch geringfügig – dazu führt, musikalische Körpertechniken zu modifizieren. Die historische Entwicklung des Violinbogens, die in diesem Band von dem Musikwissenschaftler und Bratschisten Kai Köpp ausführlich behandelt wird, zeigt deutlich, welche Rolle der Einsatz unterschiedlicher Bogen in der historischen Auff ührungspraxis der Violinmusik spielt. Der Unterschied des haptischen Feedbacks unterschiedlicher Tasteninstrumenten, wie z.B. Klavichord, Cembalo, Orgel und Klavier, macht deutlich, warum der Einsatz bestimmter Musikinstrumente – abgesehen von ihrer Klangfarbe – in der historischen Auff ührungspraxis geeignet ist: Es handelt sich bei der Aufführung eines Musikstückes in einem bestimmten historischen Stil auch um eine entsprechende musikalische Körpertechnik, mittels derer die Musikerin die erwünschten Klangfarben und musikalische Artikulationen am besten zu erzeugen und zu modifizieren vermag.
III. Zur Phänomenologie musikalischer Aisthesis : Körperschema und Körperbild Das mit bestimmten Körpertechniken in Verbindung stehende Instrumentenspiel, das sowohl von physischen als auch von kulturellen affordances und constraints der Musikinstrumente bedingt ist, kann insofern nicht, wie etwa in kognitivistisch orientierten psychologischen Forschungen angenommen wird, auf irgendein Bewusstseinsvermögen zurückgeführt werden. Stattdessen ist dieses Spiel als körperlich habitualisierte Aktionen zu fassen, die zugleich in Anknüpfung an phänomenologische Theorien des Körperlichen philosophisch zu betrachten sind. Bereits der Philosoph Maurice Merleau-Ponty hat in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1974 [1945]) das Instrumentenspiel als Beispiel genommen, um die Form eines nicht selbst-reflexiven, körperlichen Wissens zu verdeutlichen.7 Ihm zufolge wird die Stabilität der Wahrnehmung durch sich wiederholende körperliche Aktionen gesichert, die der Emergenz von Kognition vorgängig sind und von ihm als »Habitus« bezeichnet werden. Körperliche Aktionen, die auf der Grundlage von Imitation erlernbar sind, beruhen nicht auf einem reflexiven, expliziten Wissen, sondern werden durch ihre Wiederholung habitualisiert. Die Habitualisierung bedeutet eine »Transplantation« in ein Artefakt, oder umgekehrt: dessen »Inkorporation« in »den Teil des eigenen Leibes«. 8 Wenn die Rede von einem Wissen beim Instrumentenspiel sein sollte, geht es um ein ›körperliches‹ Wissen der Hand, der
7. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1974 [1945], S. 175f. 8. Vgl. ebd., S. 173. Das direkte Zitat basiert auf der englischen Fassung (s. Maurice Merleau-Ponty 1962 [1945]: Phenomenology of Perception, New Jersey: The Humanities Press, S. 143).
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Lippen etc., das nur dann zugänglich wird, wenn körperliche Anstrengungen vorausgehen. 9 Solchen habitualisierten körperlichen Aktionen unterliegen laut MerleauPonty Körperschemata, 10 die nicht dazu dienen, den Körper als Objekt des Bewusstseins zu konstituieren, sondern die als Quelle eines verkörperten Potenzials fungieren, das sich als nicht-reflexiv, vor-bewusst und prä-intentional charakterisieren lässt. Durch das in einem Körperschema verkörperte Potenzial findet ein Subjekt Zugang zur Welt und wird dadurch mit der Welt gekoppelt und von ihr ununterscheidbar. Dieses Subjekt ist nach MerleauPonty allerdings der Körper selbst:11 dies aber nicht im Sinne eines objektivierbaren Körpers, sondern in Form eines aus externer Beobachterposition her nicht beobachtbaren, erfahrbaren Leibes. 12 Der Philosoph Shaun Gallagher, der sich derzeit intensiv der phänomenologischen Untersuchung des Embodiments menschlichen Geistes widmet, unterscheidet grundlegend zwischen Körperschema (body schema) und Körperbild (body image), um die primäre Bedeutung des Konzeptes Körperschema, mit dem Merleau-Ponty sich vorwiegend auseinandergesetzt hat, deutlich hervorzuheben. Im Gegensatz zum Körperbild, dem Gallagher eine intentionale Veranlagung einräumt, 13 definiert er Körperschema als das quasi automatische sensomotorische »System der Prozesse, die zur intentionalen Handlung dienende Körperbewegungen und Haltungen ständig regulieren«. 14 Damit pointiert Gallagher die Einbindung des Körperschemas in eine »extraintentionale Operation«, 15 die prä-reflexiv und vor oder außerhalb einer »objektivierenden Körper-Bewusstheit« 16 durchgeführt wird. Das Körperschema charakterisiert den Körper als eine »prä-noetische« Funktion, »eine Art infraempirische […] Basis für intentionale Operationen«, während das Körperbild den Körper als »ein Objekt oder Inhalt des intentionalen (oder noetischen) Bewusstseins« 9. Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 7),
S. 174. 10. Zum Konzept des Körperschemas vgl. ebd., S. 123f. 11. Vgl. ebd., S. 243: »Wir [sind] dieser Leib«, das heißt, »wir [sind] zur Welt
[…] durch unseren Leib und [nehmen] mit ihm sie [wahr] […]«. 12. Vgl. John Wild: »Foreword«, in: Maurice Merleau-Ponty, The Structure of Behavior, Pittsburgh: Duquesne University Press 1983 [1942], S. xy. 13. Vgl. Shaun Gallagher/Dan Zahavi: »Ein Körperbild besteht aus einem System der Erfahrungen, Haltungen und Überzeugungen, in denen das Objekt solcher intentionalen Zustände sein eigener Körper [ist]«, in ders.: The Phenomenological Mind: An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science, New York, London: Routledge 2008, S. 146. 14. Vgl. ebd. 15. Shaun Gallagher: »Body Schema and Intentionality«, in: José Luis Bermúdez/Anthony Marcel/Naomi Eilan (Hg.), The Body and the Self, Cambridge, MA: MIT Press 1995, S. 228. 16. S. Gallagher/D. Zahavi: The Phenomenological Mind (s. Anm. 13), S. 146; vgl. auch Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, Oxford: Clarendon Press 2005, S. 24f.
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kennzeichnet. 17 Körperschematische Prozesse sind weder Wahrnehmung noch Überzeugung noch Gefühle, sondern sensomotorische Funktionen, die ohne perzeptuelles Monitoring für motorische Steuerung verantwortlich sind und habitualisierten körpermotorischen Aktionen unterliegen. 18 Während des zur musikalischen wie technischen Übung unternommenen Musizierens oszilliert der mit dem Musikinstrument eng gekoppelte Körper der Musikerin zwischen dem phänomenologischen Körper bzw. dem Subjekt musikalischer Aisthesis, sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung von Musik, die im Zuge eines habitualisierten prä-reflexiven Musizieraktes entsteht, und dem objektivierten Körper bzw. dem Objekt in Form eines repräsentierten Körperbildes, das bei der bewussten Reflexion auf eingesetzte Körperaktivitäten und entstehende Resonanzvorgänge konstituiert wird. Nur auf der prä-noetischen Basis des Körperschemas bildet sich ein musikalisches Körperbild im reflexiven ständigen Monitoringprozess auf eigene musikalische Körperbewegungen heraus, welcher im musikalischen Verlauf sowohl eines einzelnen Tons als auch einer Phrase auf einer Mikro- und Makroebene stattfindet. Diese Reflexion zweiter Ordnung findet im Prinzip auf jeder herausfordernden Übungsstufe statt, die entweder von der musikimmanenten Technik oder von neuen, physischen Bedingungen der musikalischen Aufführungsumgebung her gefordert wird. Wenn der Status der Habitualisierung erreicht wird, tritt das Körperbild in den Hintergrund, um sich auf die klanglich-expressive Gestaltung eines gesamten Musikstücks, der prä-reflexive, proprio-perzeptive und auditive Körper-Sinne ständig unterliegen, zu konzentrieren.
IV. Embodiment und Medialität : Digitale Musikinstrumente und -praxis Durch elektronische und vor allem durch digitale Technologien bedingte Veränderungen der Klangerzeugung führen unter Berücksichtigung der allgemein als Basis herkömmlicher Vokal- und Instrumentalmusikpraxis geltenden Körperlichkeit auf eine Rekonzeptualisierung der Konzepte Musikinstrument und musikalische Praxis. Das Prinzip der spannungsgesteuerten Musikerzeugung mit elektronischen Apparaten hat die Abkopplung der Steuerungseinheiten vom Klanggenerator zur Folge, die es einer Musikerin erlaubt, den körperlichen Einsatz zur Steuerung des Klanggenerierungsprozesses auf die minimal benötigten Aktivitäten zu reduzieren. Beispielsweise kann man an die Betätigung eines Druckknopfes oder eines Potentiometers am elektronischen Synthesizer denken, welche auch in der gegenwärtigen Szene der digitalen Laptop-Performances als eine körperliche Aktion während der Musikauff ührung gängig ist. Gerade die digitale Musikpraxis zog zu17. Mark Hansen: Bodies in Code. Interfaces with Digital Media, New York, London: Routledge 2006, S. 39. 18. Vgl. S. Gallagher/D. Zahavi: The Phenomenological Mind (s. Anm. 13), S. 146.
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nächst einen konsequenten Prozess der Entkörperlichung nach sich, da das ihr unterliegende Prinzip der algorithmischen Klanggenerierung auf durch ein Computersystem realisierten berechenbaren Prozessen basiert und somit die Steuerung des Klangerzeugungsprozesses mittels Informationen erlaubt, die mit einer körpermotorischen Aktivität nicht mehr oder nicht direkt zusammenhängt. Als Folge werden die klanggenerierenden, -resonierenden und -steuernden Einheiten physisch vollständig voneinander abgekoppelt und dafür algorithmisch aufeinander bezogen. Dementsprechend ist der Einsatz feiner Körperbewegungen, welcher auch beim Spiel früherer elektronischer Musikinstrumente wie des Theremin immer noch eine wesentliche Rolle für die musikalische Praxis spielte, dabei nicht notwendig. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Entwicklung neuer digitaler Musikinstrumente, die, von Forschungsansätzen der Human-Computer Interaction (HCI) ausgehend, experimentelle Mensch-Maschine-Schnittstellen als ihr Bestandteil mit einschließen, im Hinblick auf die Re-Instituierung des Körperlichen in der digitalen Musikpraxis betrachten. 19 Dabei rückt ein verallgemeinertes Konzept Musikinstrument in den Vordergrund, indem die Idee des computergestützten Musikinstruments über das seit 1960er Jahren entwickelte Konzept des Computers als Musikinstrument hinausgehend entwickelt wird. Es lässt sich beobachten, dass nicht nur klanggenerierende Algorithmen für die Nutzung des Computers als Musikinstrument in den Blick genommen werden, sondern nun auch Controller an Gewicht gewinnen, die einen wesentlichen Bestandteil des physikalisch-akustischen Musikinstruments darstellen. Ein verallgemeinertes Musikinstrumentenkonzept, das nun aufgrund der hier dargelegten neuen Sachverhalte algorithmische wie physische Komponenten gleichermaßen umfasst, wird allerdings im derzeitigen Diskurskontext nur unzureichend erörtert. Im Kontext der jüngeren informationstechnologisch wie künstlerisch orientierten Erforschung zum Design neuer Musikinterfaces findet sich stattdessen vorwiegend die naive und unangemessene Bestimmung des Musikinstruments als Übersetzungsmittel musikalischer Intentionen in hörbare musikalische Klangereignisse anhand körpermotorischer Aktivitäten.20 Auch wenn diese Definition in der Community des 19. Für eine ausführliche Diskussion s. Jin Hyun Kim/Uwe Seifert: »Embodiment: The Body in Algorithmic Sound Generation«, in: Contemporary Music Review 25/1-2, Special Issue The Body Technology – Instrument Technology Paradigm (2006), S. 139-149; Jin Hyun Kim: »Toward Embodied Musical Machines«, in: Christoph Lischka/Andrea Sick (Hg.), Machines as Agency. Artistic Perspectives, Bielefeld: transcript 2007, S. 18-33; Ludwig Jäger/Jin Hyun Kim: »Transparency and Opacity. Interface Technology of Mediation in New Media Art«, in: Uwe Seifert/Jin Hyun Kim/Anthony Moore (Hg.), Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations, Bielefeld: transcript 2008, S. 44-61. 20. Siehe insbesondere die Beiträge der Konferenz »New Interfaces for Musical Expression« (NIME), die seit der Gründung im Jahr 2001 als ein international relevantes Diskussionsforum dient (www.nime.org).
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Designs neuer Musikinterfaces weder vertieft diskutiert noch kritisch hinterfragt wird, scheint der dort verwendete Ausdruck ›Übersetzung‹ insofern diskussionsbedürftig, als er vorwiegend ein Verfahren bezeichnet, das ein Präskript möglichst störungsfrei in ein Postskript umwandelt. Solch ein informationstheoretisch orientiertes Codierungsverfahren wird auch häufig unter der sprachlichen Übersetzung verstanden. Im Rückgriff auf neuere medientheoretische Ansätze, welche die Übersetzung als ein die Welt erzeugendes mediales Verfahren betrachten, 21 dient eine Übersetzung allerdings nicht dazu, den prä-existenten Sinn des Präskripts identisch in ein Postskript abzubilden, sondern den Sinn des Präskripts mittels eines neuen Postskripts mitzuprägen. Die Übersetzung musikalischer Intentionen hieße demnach nicht eine Umformung bereits vollständig vorliegender geistiger musikalischer Ideen und Vorstellungen, sondern ein Verfahren, diese erst herbeizuführen bzw. zu vervollständigen. Die Übersetzung musikalischer Intentionen in musikalische Klänge ist also nicht als ein Prozess der Entfaltung medienfreier und amodaler geistiger Zustände zu betrachten, sondern als ein konstitutives Verfahren ästhetischer Erfahrungen, die im Zuge der Verklanglichung herbeigeführt werden. Hier eröffnet sich eine Diskussion zur medientheoretischen Neuperspektivierung sowohl des medialen Aspektes des Musikinstrumentes im Hinblick auf musikalische Intentionen als auch der Medialität der Körperlichkeit, die in diesem Artikel als Basis der (herkömmlichen) musikalischen Praxis in den Blick genommen wird. Wird eine von Medien unabhängige, medienvorgängige Intention vorausgesetzt, so gilt ein Medium bloß als ein transparentes Mittel, durch das medienfrei existierende, amodale Intentionen übertragen und versinnlicht werden. Solch eine traditionelle Medienkonzeption ist vergleichbar mit der auf dem Körper-Geist-Dualismus basierenden Körperkonzeption, die den Körper, einer pythagoreisch-platonistischen Denktradition folgend, als Behälter geistiger Zustände und Ideen auffasst. Ein verändertes Körperkonzept findet sich allerdings in aktuellen kognitionswissenschaftlichen wie medientheoretischen Diskursen zum Embodiment, die an die Phänomenologie des Leibes Merleau-Pontys anknüpfen. 22 Es zeigt sich dabei, dass Bedeutung oder Verhalten, welche oder welches durch Embodiment entsteht, sich nicht auf abstrakte, von der Welt unabhängige und von der Materialität abgekoppelte repräsentationalistische Ideen oder Inten21. Vgl. Sybille Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie – Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 78-90. 22. Vgl. beispielsweise Barbara Becker: »Cyborgs, Robots und ›Transhumanisten‹ – Anmerkungen über die Widerständigkeit eigener und fremder Materialität«, in: Barbara Becker/Irmela Schneider (Hg.), Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit – Identität – Medien, Frankfurt/New York: Campus 2000; Paco Calvo/Toni Gomilla (Hg.): Handbook of Cognitive Science: An Embodied Approach, Amsterdam: Elsevier 2008; Tom Ziemke/Jordan Zlatev/Roslyn M. Frank (Hg.): Body, Language and Mind, Volume 1: Embodiment, Berlin: Mouton de Gruyter 2007.
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tionen zurückführen lässt, sondern nur in einer kontextabhängigen, materiegebundenen Interaktion entsteht.23 Embodiment lässt sich demnach am besten anstatt von »verkörpern von« als »verkörpert sein« interpretieren, so dass körperliche Aktionen nicht »als Ergebnis eines aus einer Aktion resultierenden Endzustands, sondern als Anfangs- oder Ausgangszustand gedacht werden«. 24 Im Rückgriff auf Embodiment sind körperliche Musizieraktionen nicht als ein nachträgliches und nachrangiges Mittel zur Versinnlichung der scheinbar vorgegebenen und substanziellen, geistigen Tätigkeiten aufzufassen. Körperlich vermittelte musikalische Artikulationen sind Momente des Embodiment, im Zuge derer musikalische Bedeutungen, Ideen und Zustände allererst präsentiert und herbeigeführt werden. Das Musikinstrument, das mit diesem präsentierenden Körper gekoppelt ist, dient als ein Medium zur musikalischen Aisthesis, welches die Musikerin im Zuge der Musikauff ührung durch das von ihr gelieferte auditive und taktile/kinästhetische Feedback erlebt. Die Medialität des Musikinstrumentes besteht also nicht darin, feste stabile musikalische Intentionen zum Ausdruck zu bringen, sondern darin, sie als ein mediatisiertes allererst im situativen dynamischen Kontext fühlbar und reflektierbar zu machen. Eine präzisere Charakterisierung des Musikinstrumentes als eines mit einem Körper gekoppelten Mediums könnte am besten in Anknüpfung an das Medienkonzept Humberto R. Maturanas erfolgen, das die rekursive Relation von kognitivem System und Umwelt berücksichtigt. Das Musikinstrument könnte laut Maturana insofern als Medium gelten, als es mit der es einschließenden Umgebung der Musikauff ührung eine zusammengesetzte Einheit der musikalischen Umgebung bildet. Allerdings besteht das Medium ihm zufolge »nicht nur aus der vom Beobachter unterschiedenen weiteren Umgebung der Einheit, sondern auch aus jedem Teil, mit dem die Einheit interagiert und den sie durch ihr Operieren in strukturelle Koppelung (in ihrem Bereich der Existenz) überdeckt«.25 Einem Medium wird demnach keine invariante, sondern eine je nach dem Kontext der Interaktion variierende Eigenschaft zugeschrieben. Maturanas Konzept des Mediums als die Menge von Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten des daran gekoppelten Lebewesens, das durch die strukturelle Kopplung mit der Umgebung über mediale (Stör-)Einflüsse seine Grenze ständig fließen lässt, könnte als Basis dienen, um Strategien zur Entwicklung neuer Musikinterfaces im Rückgriff
23. Für eine ausführliche Diskussion siehe Jin Hyun Kim: Embodiment in interaktiven Musik- und Medienperformances – unter besonderer Berücksichtigung medientheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektiven, Osnabrück: epOs 2009 (in Vorbereitung), Kap. 4. 24. Vgl. Uwe Seifert/Jin Hyun Kim: »Embodiment«, in: Ludwig Jäger u.a. (Hg.), Signaturen der Medien. Ein Handbuch zur kulturwissenschaftlichen Medientheorie, Paderborn: Fink 2010 (im Druck). 25. Vgl. Humberto R. Maturana: Biologie der Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 169.
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auf eingangs dargelegte affordances und constraints eines Musikinstrumentes theoretisch fundiert zu hinterfragen.
V. Design und Konzeptualisierung neuer Musikinstrumente in digitalen interaktiven Musikper formances : affordances und constraints Unter Berücksichtigung der realen affordances, die der Nutzerin neue Musikinterfaces anbieten, stellt die Verstärkung der Taktilität neuer Musikinterfaces ein Forschungsdesiderat im Bereich des Designs von Musikinterfaces dar. Während auditives Feedback zwar über Lautsprecher in einer von der Musikerin entfernten Raumkonstellation aufrecht erhalten bleibt, fehlt ein taktiles Feedback in der Nutzung allgemeiner Computer-Human Interfaces als Musikinterface. Im Hinblick auf diese Problemstellung leistet das Studio for Electro-Instrumental Music (STEIM) in Amsterdam, das im Jahr 2009 sein vierzigstes Jubiläum feiert, eine Pionier-Rolle. Am STEIM dient das Prinzip der Berührung (touch) beim Design von Musikinterfaces schon in früheren Projekten als Basis einer Philosophie zur Entwicklung neuer elektronischer Musikinstrumente. So wird die Veranstaltungsreihe der mobilen Installation der am STEIM entwickelten Musik-Interfaces als Touch-Ausstellung bezeichnet (siehe Abb. 2). Als besonders wichtig gilt dabei das Prinzip, dass elektronisch und algorithmisch generierte Klänge nicht ausschließlich über auditive Sinneskanäle monomodal wahrgenommen und in einer abstrakteren Wahrnehmungsmodalität navigiert, sondern vielmehr durch ein doppeltes, taktiles und auditives Feedback physisch erfahrbar gemacht werden. Dabei rückt die Materialität eines Interfaces, die selbst einen Widerstand bietet und damit eine physische Exploration erfordert, als ein reales affordance in den Vordergrund. Abbildung 2: Touch-Ausstellung interaktiver Musikinstrumente, STEIM, Amsterdam 26
26. Foto mit freundlicher Genehmigung von Michel Waisvisz.
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Im Design experimenteller Musikinterfaces werden einige Ansätze des haptic computing verfolgt und Experimente durchgeführt, haptisches Feedback zusätzlich zu simulieren. Dabei wird nicht nur ein materielles Interface, das an sich einer Benutzerin die Berührung und das Greifen ermöglicht, genutzt, sondern auch das haptische Feedback, das die Maschine als Reaktion auf die Eingabe der Benutzerin aktiv ausgibt, algorithmisch simuliert. Im physikalisch-akustischen Musikinstrument ist der Controller, mit dem eine Instrumentalistin in direkten Kontakt tritt, vom Klanggenerator und -resonator nicht trennbar. Daher kann die Instrumentalistin die Resonanz des Instrumentenkörpers während des Instrumentenspiels durch die Berührung mit dem Controller oder anderen Teilen des Instrumentenkörpers unmittelbar spüren. Um ein Feedback mit einer vergleichbaren Resonanz zu erzielen, wird die Simulation des vibrotaktilen Feedbacks27 meistens bevorzugt. Bert Bongers, ehemaliger Interface-Entwickler am STEIM, entwickelte im Jahr 1994 in Kooperation mit der Abteilung Sonology am Königlichen Konservatorium für Musik in Den Haag den Tactile Ring, der mit einem elektromagnetischen Spulenaktor ausgestattet ist, um das vibrotaktile Feedback zu generieren.28 Ein weiterer ringförmiger taktiler Simulator in unterschiedlichen Größen wird auch im VR/TX-System genutzt, das Joseph Rovan und Vincent Hayward in den 1990er Jahren zur Simulation des taktilen Feedbacks in einem nicht-kontaktbasierten Controller entwickelt haben. 29 Das VR/TXSystem besteht aus einem speziell hierfür entwickelten Wandler, der durch einen Verstärker gesteuert wird, und einem tragbaren taktilen Simulator, der mit der Benutzerin in direkten Kontakt tritt und durch einen Wandler das Signal zur Simulation des vibrotaktilen Feedbacks erhält. Das Audiosignal, das zu dieser Simulation genutzt wird, wird in Max/MSP generiert (siehe Abb. S. 80: VR/TX-System in vorliegendem Band, Beitrag von Franziska Baumann). Dabei handelt es sich um die Erzeugung wahrgenommener affordances, die eine BenutzerIn bei der Bedienung eines Musikinterfaces angeboten bekommt. Die Simulation des vibrotaktilen Feedbacks findet immer mehr Anwendung im aktuellen Interface-Design. Beispiele hierfür sind das tragbare System Cutanous Grooves (2003) von Eric Gunther und eine Reihe der an der McGill University entwickelten musikinstrumentenähnlichen Interfaces wie z.B. die Touch Flute (2003) von David Birnbaum, der Viblotar (2005) und die Vibloslide (2006) von Mark T. Marshall. Auf diese Weise wird ein Human-Computer Interface mit seinen selekti27. Das vibrotaktile Feedback entsteht, wenn der physische Körper mit einem vibrierenden Körper in Kontakt tritt. 28. Vgl. Bert Bongers: »The Use of Active Tactile and Force Feedback in Timbre Controlling Electronic Instruments«, in: Proceedings of the 1994 International Computer Music Conference, San Francisco: International Computer Music Association (1994), S. 171-174. 29. Vgl. Joseph B. Rovan/Vincent Hayward: »Typology of Tactile Sounds and their Synthesis in Gesture-Driven Computer Music Performance«, in: Marcelo M. Wanderley/Marc Battier (Hg.), Trends in Gestural Control of Music, Paris: IRCAM 2000, S. 355-368.
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ven Möglichkeiten zu einem Bestandteil des Musikinstrumentes, das als ein Medium sowohl zur Klangerzeugung als auch zur musikalischen Aisthesis fungiert. Von der Autorin durchgeführte Pilotstudien werfen die Frage auf, inwieweit einem Musikinstrument, von seinen realen affordances ausgehend, unterschiedliche kulturelle constraints auferlegt werden können. Letztere können sich beim Einsatz des gleichen einer der Benutzerin unbekannten Musikinstrumentes zum Musikspiel im unterschiedlichen Kontext der Musikkulturen – wie z.B. in einer Auff ührungssituation europäischer Kunstmusik vs. Club-Kultur – ergeben. Hier wird sich zeigen, inwieweit die strukturelle Kopplung des Musikinstruments als Medium und der ausführenden Musikerin nicht nur in Abhängigkeit von den Instrumenten immanenten physischen Eigenschaften und dessen wahrgenommenen Qualitäten, sondern auch von einem kulturellen, situativen Wissen zu Stande kommt. Physische oder psychoakustische Eigenschaften eines Musikinstruments scheinen insofern keine hinreichende Bedingung für die Bestimmung eines Musikinstrumentes darzustellen. Unter Berücksichtigung sowohl der veränderten physischen Bedingungen des Musizierens in der elektronischen und digitalen Musikinstrumentenpraxis – wie z.B. durch die Abkopplung des Controllers vom Klanggenerator – als auch des dynamischen Aspektes der Medialität des Musikinstrumentes, das eine Kopplung sowohl mit dem musizierenden Körper als auch mit der biologischen wie kulturellen musikalischen Umgebung beinhaltet, scheint es notwendig, ein erweitertes, allgemeines Musikinstrumentenkonzept, das auch interaktive digitale Musikinstrumente umfasst, im Hinblick auf seine Medialität auszuarbeiten und somit ein ebenso für aktuelle wie auch zukünftige Entwicklungen tragfähiges Musikinstrumentenkonzept zu instituieren.
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Aus der Zeit vor Welte : Der Melograph – von einer Utopie der Aufklärung zum industr iellen Erzeugnis Claudio Bacciagaluppi
Einleitung 1905 stellten Edwin Welte und Karl Bockisch das erste Modell des Welte-Mignon der Öffentlichkeit vor. Die Bezeichnung ›Mignon‹ für ein Gerät von der Größe eines Pianinos ist vor dem Hintergrund der Geschichte der Firma Welte zu sehen, die bereits über eine Zeitspanne von siebzig Jahren Musikautomaten produziert hatte – darunter das enorme Orchestrion. Mit dem Verfahren Weltes und seines Schwagers Bockisch konnte man zum ersten Mal auf einem Lochstreifen aus Papier die Interpretation eines Pianisten aufzeichnen und diese auf einem Klavier reproduzieren – und dies nicht nur mit beachtlicher Präzision, was den zeitlichen Verlauf betriff t, sondern auch mit guter Annäherung in den dynamischen Nuancen. Das Welte-Mignon-Klavier war ein außerordentlicher Erfolg. Berühmte Pianisten und Komponisten wurden von der Firma aus Freiburg i.Br. engagiert. Bald kamen aber konkurrierende Verfahren von Reproduktionsklavieren auf, darunter das DEA von der Firma Hupfeld, das DUCA der Firma Philips, in den USA das Duo-Art der Aeolian Company und das AMPICO, Akronym von American Piano Company. Über das Welte-Mignon-Verfahren, über dessen Wiedergabegenauigkeit – insbesondere bezüglich der Dynamik – und über die Firmengeschichte hat sich eine umfangreiche Bibliographie herausgebildet.1 Einige Welte-Aufnahmen 1. Vgl. dazu z.B. Peter Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik, Bern u.a.: Peter Lang 1984; Herbert Jüttemann: Mechanische Musikinstrumente: Einführung in Technik und Geschichte, Frankfurt a.M.: Bochinsky 1987 (Das Musikinstrument, Bd. 45), S. 273-281 und der Ausstellungskatalog zur Hundertjahrfeier des Welte-Mignon in: Durward R. Center/Gerhard Dangel, Aus Freiburg in die Welt – 100 Jahre Welte-Mignon: automatische Musikinstrumente, Freiburg i.B.: Augustinermuseum 2005. Für die italienische Originalfassung des vorliegenden Textes vgl. Roberto Illiano/Luca Sala (Hg.): Ins-
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hat man auch auf CD übertragen. Allerdings ist die Arbeit an der ganzen Liste der zwischen 1904 und 1928 bespielten Aufnahmerollen mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Somit können sowohl das Welte-Mignon als auch dessen Nachahmungen aus musikwissenschaftlicher Sicht weitgehend als erfasst gelten. Weltes Erfindung war jedoch keine creatio ex nihilo. Ich werde in dieser Arbeit versuchen, die Geschichte einer Idee zu erörtern, nämlich das Streben nach einer Möglichkeit, eine musikalische Auff ührung aufzuzeichnen und diese auf demselben Instrument mittels eines Automaten zu reproduzieren. Darüber hinaus soll dargelegt werden, wie diese Vorstellung, die im 18. Jahrhundert aufkam, eng mit ganz bestimmten ästhetischen Prämissen verknüpft war. Mit anderen Worten: Das Interesse an der Entwicklung und Herstellung einer solchen Vorrichtung erwachte vornehmlich vor dem Hintergrund einer neuen Haltung gegenüber der Komposition und der musikalischen Auff ührung. Im 19. Jahrhundert veränderten sich die ästhetischen Prämissen, aber die Idee lebte auch im veränderten musikalischen und sozialen Zusammenhang weiter. Die Musikinstrumentenbauer griffen neue Errungenschaften in verschiedenen Bereichen der industriellen Technik auf und schufen so die Voraussetzungen für die Entstehung des vollkommensten Instruments seiner Art, des bereits erwähnten Welte-Mignon. Wie in vielen Bereichen unserer Kultur hat es auch in der mechanischen Musikreproduktion Vorläufer in der arabischen Welt gegeben. Im 10. Jahrhundert ließen die Gebrüder Mûsà aus Bagdad die Kunst der Musikautomaten aus dem hellenischen Kulturraum wieder aufleben. In einer Anleitung zum Bau einer mechanischen Flöte (Surnâj), die von einer Walze gesteuert wird, erklären die Verfasser, dass – um darauf eine Melodie nicht bloß abspielen, sondern auch aufzeichnen zu können – die Finger eines echten Flötenspielers mittels einer Anordnung von Fäden und Hebeln mit einer Walze verbunden werden, die mit geschwärztem Wachs beschichtet ist. Auf der Walze, die sich mittels einer hydraulischen Vorrichtung gleichmäßig dreht, wird das Schließen und Öffnen der Flötenlöcher durch den Spieler aufgezeichnet. Nach dem Spielen der Melodie muss man nur noch die Spur im Wachs auf den Zahnkranzzylinder übertragen, der den Automaten steuert.2 Natürlich handelt es sich dabei eher um eine Kuriosität als um einen wesentlichen Beitrag in der hier behandelten Thematik. Schließlich war das genannte Manuskript im Westen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts unbekannt. Trotzdem soll erwähnt sein, dass dies immerhin die älteste mir bekannte Erwähnung einer Aufzeichnung eines Musikstücks ist.
trumental Music and the Industrial Revolution. International Conference Proceedings, Cremona, 1-3 July 2006, Bologna: Ut Orpheus Edizioni 2009 (Ad Parnassum Studies Vol. 5). 2. Vgl. Eilhard Wiedemann: »Über Musikautomaten bei den Arabern«, in: Centenario della nascita di Michele Amari, vol. 2, Palermo: Virzi 1910, S. 164-185, insbes. 169, 178.
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1. Die Extempor iermaschine und andere mechanische Er f indungen : Der Geniekult Auf dieselbe Grundidee – in der eine Geschichte ihren Anfang nimmt, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen wird – stößt man erneut, wenn man den Blick bis ins London Mitte des 18. Jahrhunderts zurückschweifen lässt. Die erste Maschine, die erdacht wurde, um das Spielen eines Musikstücks auf einem Tasteninstrument festzuhalten, wird noch vor dem Jahr 1747 dem anglikanischen Pastor Creed zugeschrieben. Davon hat man durch John Freke Kenntnis, der im besagten Jahr in den Philosophical Transactions eine von Creed geschriebene Abhandlung veröffentlichte. Über den Verfasser weiß man nichts weiteres, als dass seine erwähnte Publikation posthum erschien. Freke stellt ihn nämlich als the Late Rev. Mr. Creed vor und rühmt ihn als einen Mann, den alle, die ihn gekannt hätten, als Sachkundigen in sämtlichen Sparten der Mathematik schätzten. John Freke (1688-1756) war Arzt, Liebhaber der Malerei und der Musik und Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften seit 1729.3 Der Titel von Creeds Abhandlung ist vielsagend: »Beweis der Möglichkeit, eine Maschine zu bauen, die ebenso schnell improvisierte Fantasien oder andere Musikstücke schreibt, wie irgendein Meister diese auf der Orgel, auf dem Cembalo usw. spielt, und dies in einer natürlichen und klaren Weise, mit dem ganzen Reichtum an Feinheiten und Ausdruck, den solche Instrumente besser darstellen können als die herkömmliche Notenschrift«. Creed lässt sich nicht über technische Einzelheiten seiner Maschine aus. Er erwähnt bloß gewisse Stäbchen (small rods), die an den Tasten befestigt seien und somit die Fingerbewegungen an die Stahlstifte übertrügen, welche schließlich Zeichen auf eine Papierrolle setzten, die von einem uhrwerkartigen Mechanismus gefördert würde. 4
3. »A letter from Mr. John Freke […] inclosing a paper of the late Rev. Mr. Creed«, in: Philosophical transactions no. 483, Vol. XLIV, London 1747, S. 445-450; »Mr. Creed, a Clergyman, who was esteemed, by those who knew him, to be a Man well acquainted with all kinds of mathematical Knowledge«, in: ebd., S. 445. Frekes Angabe des Todesjahres widerspricht jener von Sainsbury, der in seiner biographischen Zusammenstellung von 1827 das Jahr 1770 angibt; John S. Sainsbury: A dictionary of musicians: from the earliest ages to the present time, London: Sainsbury 21827. Zu Freke vgl. Norman Moore: »Freke, John (1688-1756)«, rev. Michael Bevan, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford University Press 2004, www.oxforddnb.com vom 13. Juni 2006. 4. »A Demonstration of the Possibility of making a Machine that shall write Extempore Voluntaries, or other Pieces of Music, as fast as any Master shall be able to play them upon an Organ, Harpsichord, &c. and that in a Character more natural and intelligible, and more expressive of all the Varieties those Instruments are capable of exhibiting, than the Character now in Use«, Creed, in: Philosophical Transactions (s. Anm. 3), S. 446; sowie S. 450, was die Beschreibung der Maschine betrifft.
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Abbildung 1: Philosophical transactions no. 483, XLIV (1747), Tafel I.
Die zum Dokument gehörige Tafel ist keine getreue, sondern eine schematisch vereinfachte Darstellung. Fest steht, dass es Creeds Absicht war, die Tastenbewegung aufzuzeichnen. Ein großer Teil der Publikation ist der Erklärung der Entsprechungen zwischen den aufgezeichneten Linien und der traditionellen Musiknotation gewidmet. Die für uns interessantesten Betrachtungen sind diejenigen über den Nutzen, den man sich vom Bau des Apparates versprach. Creed betont vor allem, wie dank dem Förderwerk, welches das Papier mit einer konstanten Geschwindigkeit von einem Zoll pro Sekunde bewegt – was ungefähr einer halben Note in einem Allegro entspricht –, die Tempi sehr genau unterschieden werden können, was mit den üblichen Bezeichnungen Adagio, Allegro, Grave, Presto usw. nicht möglich ist. Darüber hinaus könne man dank seines Apparats selbst die geringsten Bestandteile eines Klanges, welche die flüchtigsten Verzierungen bilden, mathematisch festhalten.5 Es wurden keine Versuche unternommen, Hochwürden Creeds 5. »Postulatum. That a Cylinder may be made […] to move equally upon its Axis the Quantity of 1 Inch in a Second of Time, which is about the Duration of a Minim in Allegro’s«; »Grave Music from brisk, slow from fast, &c. will be better distinguished by this Machine, than in the ordinary Way by the Words Adagio, Allegro, Grave, Presto, &c. […] here I know exactly how many Notes must be play’d in a Second of Time […]. Lastly, Whereas, in the ordinary Way of writing Music, you have either no Character for Graces, or such as do not denote the Time and Manner of their Performance, here you have the minutest Particles of Sound that compose the most transient Graces mathematically delineated«, in: ebd., S. 447, 450.
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hinterlassenen Plan unmittelbar zu verwirklichen, doch die Veröffentlichung in den Philosophical Transactions verhalf der Idee zu einer gewissen Popularität und über die Grenzen hinweg zu Bekanntheit in den akademischen Kreisen Europas während der Auf klärung. So äußerte Freke den Wunsch, dass »the Subject-Matter of it may tend to give great Improvement and Pleasure to many, not only in our own Country, but every-where«. Charles Burney, Benjamin Laborde, Johann Georg Sulzer und der Mathematiker Leonhard Euler erfuhren auf diesem Weg davon.6 Creeds Bestrebung, die Nuancen eines ganz bestimmten Spiels präzise zu reproduzieren, steht in wesentlichem Gegensatz zu dem in derselben Zeitperiode in Deutschland mehr oder weniger deutlich erklärten Ziel Johann Friedrich Ungers (1716-1781), des Bürgermeisters von Einbeck in der Nähe von Hamburg und Erfinders einer vergleichbaren Maschine. Unger hatte die Arbeit an seinem Projekt um das Jahr 1745 begonnen. Er legte 1752 der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin darüber einen Bericht vor.7 6. Vgl. ebd., S. 445; Charles Burney hg. von Christoph Hust: Tagebuch einer musikalischen Reise, [Hamburg 1772/1773] Kassel u.a.: Bärenreiter 2003, Bd. 2, S. 158-163; Jean Benjamin de Laborde: Essai sur la musique ancienne et moderne, [Paris 1780] New York: AMS Print 1978, Bd. 3, S. 623; Johann Georg Sulzer: »Description d’un instrument fait pour noter les pièces de musique, à mesure qu’on les exécute sur les clavecins«, in: Nouveaux mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, II, Berlin: Voss 1773, S. 538-546: 538; »Brief von Leonhard Euler an Johann Friedrich Unger, 27.3.1753«, in: Johann Friedrich Unger, Entwurf einer Maschine wodurch alles was auf dem Clavier gespielet wird, sich von selber in Noten setzt, Braunschweig: Fürstl. Waisenhaus-Buchhandlung 1774, S. 33. Der Briefwechsel mit Euler lässt sich dadurch erklären, dass in den letzten Lebensjahren von Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759), Vorsitzender ab 1746, der Mathematiker mehrmals den interimistischen Vorsitz der Akademie übernahm; vgl. Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Reichsdruckerei 1900, Bd. 1.1, S. 466. 7. Im November 1773 gibt Unger an, »um das Jahr 1745« zum ersten Mal die Idee gehabt zu haben, wohingegen er 1752 erklärte, es sei »vor drey oder vier Jahren« gewesen, in: J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 6, 50. Aus einer Mitteilung an Maupertuis über die Erfindung in einem Brief, wahrscheinlich vom März 1753, in der Gesamtausgabe fälschlicherweise mit dem Datum Januar 1747 versehen, steht Eulers Anmerkung: »Mr Unger avoit déjà employé dix ans pour executer cette machine«, in: Leonhard Euler, Commercium cum P.-L. de Maupertuis et Frédéric II, Basel: Birkhäuser 1986, S. 71-72. Johann Georg Sulzer legt 1771 dar, dass Unger das Gerät zum ersten Mal in einem Brief von 1749 an die Akademie erwähnt; es ist jedoch nicht auszuschließen, dass es sich um eine Verwechslung mit dem Jahr 1752 handelt, vgl. J.G. Sulzer: »Description d’un instrument« (s. Anm. 6), S. 538. Euler las Ungers Mémoire mit dem Titel: »Delineatio Machinae ad sonos et concentus quoscunque ope clavicordii productos in ipso cantationis actu charta tradendos« in der akademischen Sitzung vom Donnerstag, 23. November 1752 vor, vgl. Eduard Winter/Maria Winter (Hg.): Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin, Ber-
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Abbildung 2: Johann Friedrich Unger: »Entwurf einer Maschine, wodurch alles, was auf dem Clavier gespielet wird, sich von selber in Noten setzt. Im Jahr 1752 an die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin eingesandt«, Braunschweig: Fürstl. Waisenhaus-Buchhandlung 1774, Fig. III.
Unger übernimmt einerseits zwei von Creeds Zielsetzungen, die exakte Notation der Verzierungen und das genaue Bestimmen des zeitlichen Ablaufs: »Die gewöhnlichen Noten sind also nicht geschickt genug, uns diese Schönheiten [gewisse Auszierungen und Handgriffe] bekannt zu machen […] Man wird also auch des Vortheils beraubet, sich die Manieren solcher Meister zur Nachahmung vorstellen zu können; […] Wenn man der Maschine durchgehends eine gleiche Bewegung giebt, so wird im Adagio jede Note von gleicher Dauer länger als im Allegro, und in diesem wiederum länger als im Presto ausfallen. Also wird man es sogleich an den Noten selbst erkennen, wie ein Stück in diesem Betracht gespielet worden. Wenn auch sonst gleich bey einem Stück das Wort Adagio, Allegro oder Presto beygesetzet wird, so kann man hieraus doch nicht genau wissen, wie langsam oder geschwind der Componist ein jedes haben wollte«. Sein Hauptanliegen ist jedoch ein anderes: »Der Componiste sitzet beym Clavier, er dichtet, und in dem er die Feder lin: Akademie-Verlag 1957, S. 187. Das lateinische Original ist verschollen; Unger hoffte, eine französische Übersetzung für die Akademie-Akten drucken zu können, aber die Kosten der Kupferstiche, die in der Dokumentation hätten enthalten sein sollen, und der Unterbruch der Veröffentlichungsreihe wegen des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), hatten zur Folge, dass Unger erst 1774 eine deutsche Version seines Artikels veröffentlichte; Vgl. J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 35, 42.
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ergreift, so hat er beym vierten Tact schon das beste wiederum vergessen. […] Den allerhöchsten Grad der Schönheit aber pflegen die Gedanken eines musikalischen Genies vielmals zu erreichen, wenn es sich in einer Verfassung befindet, die man eben so gewiss und vielfältig wahrnimmt, als übernatürlich sie scheinen könnte, wenn uns nicht die Erfahrung eines andern überzeugte. In der That findet sich hiebey viel ähnliches mit den Nachtwanderern, welche die gefährlichsten Stellen mit desto mehrerer Vorsicht zu vermeiden scheinen, je weniger sie bey sich selbst sind.«8 Die Sprache erstaunt kaum im Berliner Umfeld jener Zeit, wenn man an alle ästhetischen Innovationen denkt, die sich etwa in Carl Philipp Emanuel Bachs Schaffen für das Klavier widerspiegeln. Der Geniekult des 18. Jahrhunderts verlieh, auf den Bereich der Musik übertragen, der Ausübung der Improvisationskunst eine neue Bedeutung und die Fantasie wurde zum Genre, in dem sowohl die Individualität des Komponisten als auch seine momentane Inspiration den geeignetsten Ausdruck fanden. Peter Schleuning hat in einem Artikel des Jahres 1970 als Erster und sehr zu Recht Ungers Maschine als ein Zeugnis dafür aufgefasst, wie sich der musikalische Geschmack um das Jahr 1750 veränderte. Schleuning hat auch bemerkt, dass eben im Ziel, das Unger mit seiner Maschine anstrebte – ein Ziel, das eher vom erwähnten Rausch der neuen Ästhetik diktiert war, als dass es mit der musikalischen Praxis wirklich in Verbindung stand – die Ursache für die ausgebliebene Verbreitung seiner Erfindung liegt. Die Darstellungen, die Burney und Johann Friedrich Reichardt von Bachs musikalischen Monologen liefern, sind entschieden und bewusst die Reflexion eines Tópos, und aus diesem Grund ist das Ziel Ungers – der den Tópos gleichsam allzu wörtlich nahm – etwas, was sich bei genauer Betrachtung als illusorisch erwies.9 Die Extemporiermaschine (die Bezeichnung stammt von Unger 10 selbst) fand allerdings beachtliches Echo. Gerade in seiner vollkommenen Hinwendung an ein Postulat der neuen Ästhetik liegt der Schlüssel zu Deutung und Verständnis der Kontroversen um die Erfindung, was für uns heute von zentralem Interesse ist. Wenn die interpretatorischen Schattierungen und die schöpferische Triebkraft irrational, unfassbar, von Mensch zu Mensch in keiner Weise zu kommunizieren und allein von einer Maschine, tels quels, reproduzierbar sind, ist es ein Zeichen dafür, dass die rationalistische Mimese der Nachahmungsästhetik zu Gunsten der Wirkungsästhetik, in der die Musik auf geheimnisvollen Wegen auf die menschliche Seele wirkt, zurücktritt.11 Kehren wir nun zu der vom deutschen Gelehrten beschriebenen Maschi8. J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 4-5, 19-20. 9. Vgl. Peter Schleuning: »Die Fantasiermaschine: Ein Beitrag zur Geschichte
der Stilwende um 1750«, in: Archiv für Musikwissenschaft XXVII (1970), S. 192-213: 192-194, 202, 208-213; Laurenz Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 279-282. 10. J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 51. 11. Vgl. z.B. Hermann Danuser: »Vortragslehre und Interpretationslehre«, in: ders., Musikalische Interpretation (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 11), Laaber: Laaber 1992, S. 271-320: 273-274.
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ne zurück. Unger – wie auch Creed – entwarf eher ein Schema, als dass er eine konkrete Maschine erschaffen hätte: In seinem Entwurf sind jedoch die Hebel, welche die Linien auf das Papier zeichnen, nicht unter den Tasten angebracht, sondern hinter denselben, gleichsam wie Tangenten (die der Autor Applikaten nennt).12 Die Idee weckte Johann Georg Sulzers Interesse, worauf er mit einem jungen Mechaniker namens Hohlfeld (1711-1771), den er 1748 kennen gelernt hatte, darüber sprach. In seiner Freizeit baute Hohlfeld, der von Sulzer bloß eine mündliche und ungefähre Beschreibung der Maschine bekommen hatte, ein Modell, das er im März 1753 der Akademie vorführte.13 Hohlfelds Maschine weist gegenüber Ungers Vorschlag tatsächlich einen erheblichen Unterschied auf. Die mit den Stiften verbundenen Hebel werden nämlich von Sperrnocken gesteuert, was den Vorteil hat, dass dadurch die Maschine mobil ist und mit jedem Cembalo verwendet werden kann (s. Abb. 3): Um Hohlfelds Erfindung kam es zu einer Kontroverse zwischen einer Gruppe von Gelehrten, welche die Entwicklung der Extemporiermaschine unterstützten (Leonhard Euler, Jacob Adlung, Friedrich Wilhelm Marpurg, Johann Georg Sulzer und Charles Burney) und einer Gruppe von mehr oder weniger skeptischen Musikern und Komponisten (Johann Adolf Scheibe und einige nicht namentlich Genannte, die Scheibe selbst, Sulzer und Burney zitieren).14 Euler erwähnt, dass gewisse Berliner Komponisten, trotz ihrer 12. J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 7. 13. Über Hohlfeld vgl. Johann Beckmann: Beyträge zur Geschichte der Erfin-
dungen, Leipzig: Kummer 1780-1805, Bd. 1, S. 22-27. Hohlfelds Vorname ist nicht gewiss: Von einigen wird Johann angegeben (Charles Burney hg. von Percy A. Scholes: Dr. Burney’s musical tours in Europe: Being Dr. C. B.’s Account of his Musical Experiences [An Eighteenth-Century Musical Tour in Central Europe and the Netherlands], London u.a.: Oxford University Press 1959, Bd. 2, S. 202), von anderen Gottfried (Adelheid von Saldern: »Hohlfeld«, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften [Hg.], Neue deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin: Duncker & Humblot 1972, S. 505-506). Vgl. den Brief Eulers an Unger vom 26.5.1753, in: J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 32-33: »[Hohlfeld] wünschte damit vor der Akademie die Probe zu machen: welche auch so glücklich abgelaufen, dass alle auch die geringsten Noten, so gespielt worden, sich auf dem Papier deutlich ausgedruckt befunden. Solches wird nur mit Bleystifte verrichtet, und die ganze Maschine ist so beschaffen, dass sie bey allen Clavieren ohne weitere Zurüstung bequem angebracht werden kann«; Jacob Adlung erwähnt, dass Hohlfeld seine Maschine am 14.3.1753 der Akademie vorstellte; vgl. Jacob Adlung hrsg von Hans Joachim Moser: Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, [Erfurt 1758] Kassel: Bärenreiter 1953, S. 578. 14. Zum Folgenden vgl. Eulers Briefe an Unger, in: J.F. Unger, Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 32-33, 35-36; J. Adlung: Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit (s. Anm. 13), S. 577-578; Johann Adolph Scheibe: Johann Adolph Scheibens Abhandlung vom Ursprunge und Alter der Musik, insonderheit der Vokalmusik, [Altona 1754] München: Saur 1987, S. XLII-L; Friedrich Wilhelm Marpurg: Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, [Berlin 1754-1778] Hildesheim: Olms 1970, Bd. 1, S. 338; J.G. Sulzer: »Description d’un instrument« (s. Anm. 6),
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Abbildung 3: Johann Georg Sulzer : »Description d’un instrument fait pour noter les pièces de musique, à mesure qu’on les exécute sur les clavecins«, in: Nouveaux mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, II (1771, erschienen 1773), Tafel V.
grundsätzlichen Anerkennung für den Apparat, wegen der Schwierigkeit, die Aufzeichnungen der Maschine in die gängige Notation zu übertragen, Zurückhaltung ausdrückten.15 Im Allgemeinen hielten die Gelehrten den Musikern ihre eigene Erfahrung im Notieren entgegen und warfen ein, dass man bereits mit wenig Übung Stücke notieren könne, die auf einem Cembalo gespielt würden. Marpurg, der unmittelbar auf Scheibes negative Kritik reS. 545; Ch. Burney: An Eighteenth-Century Musical Tour (s. Anm. 13), S. 201-203. Jakob von Stählin erwähnt, dass unter den Musikern, die Hohlfeld ermutigten, die Noten-Schreib-Maschine zu bauen (d.h. zwischen November 1752 und März 1753), »der damalige Kapellmeister [Johann Gottlieb] Graun und viele andre Virtuosen der Königl[ichen] Kapelle« waren; Jakob von Stählin: »Nachrichten von der Musik in Russland«, in: August Ludwig von Schlözer (Hg.), M. Johann Joseph Haigold’s Beylagen zum Neuveränderten Russland, Riga, Mietau, Leipzig: Hartknoch 1769-1770, Bd. 2, S. 138. Stählin ist jedoch keine sehr verlässliche Quelle; vgl. berichtigte Ungenauigkeiten in: Johann Georg Sulzer: »Fantasie«, in: Allgemeine Theorie der schönen Künste, [Leipzig: 1792-1799] Hildesheim: Olms 1967, Bd. 2, S. 205-207. 15. »Die hiesigen Componisten haben dieselbe schon examiniert und zu dem vorgesetzten Endzweck geschickt befunden. Die Reducirung auf gewöhnliche Noten aber, will ihnen noch nicht recht in den Kopf: ohngeachtet der Künstler dazu besondere Vortheile angebracht, wodurch vermittelst einiger Linialen sowohl der Takt als die Namen aller Noten mit ihrer Dauer angezeigt werden«; Brief Eulers an Unger vom 26.5.1753, in: J.F. Unger, Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 32-33.
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agierte, hatte eine große Anzahl von Beispielen zur Hand, und Sulzer gab an, persönlich mehrere Stücke aus den Aufzeichnungen des Apparates übertragen zu haben. Eigentlich erhob sich die Polemik allein wegen eines Missverständnisses über den Zweck der Maschine. Die Gelehrten waren von der Möglichkeit fasziniert, die Improvisationen eines Musikgenies festzuhalten, aber die Musiker wussten genau, dass auf diese Weise keine Komposition entsteht. Scheibe zitiert aus einem Brief eines Freundes einen sehr treffenden Kommentar: »Ein jeder guter Componist schreibt nicht so gleich auf, was ihm zuerst in die Gedanken kommt. Und hätte er auch schon das Stück, darauf er gesonnen, in seinem Kopfe in Ordnung gebracht: so würde ihm doch das dechiffriren fünf ja wohl acht und mehrmal Zeit wegnehmen, als wenn er es gleich ohne Maschine aufschreiben würde.«
Scheibe erwähnt den Namen nicht, nennt diese Person nur einen »berühmten Mann« und einen in einer »gehobenen Stellung«, aber es ist denkbar, dass es sich um Carl Philipp Emanuel Bach handelt.16 Scheibe zitiert scheinbar aus zwei verschiedenen Briefen, aber ich bin der Meinung, dass es sich um denselben Absender handelt, denn die beiden Texte weisen enge Bezüge zueinander auf. Im ersten Brief wird kritisch darauf hingewiesen, dass Ringfinger und kleiner Finger nicht kräftig genug seien, um die Mechanik zu bewegen (offenbar bewirkt der Apparat, dass die Tasten schwerer gehen, oder das System hat eine eigene Trägheit); im zweiten wird gesagt, dass sich die Maschine nicht zum Aufzeichnen schneller Passagen eignet, weil man beim Spielen nicht immerfort der Schwäche der beiden kleineren Finger Rechnung tragen könne. Wenn dies stimmt, müsste »der Freund in einer gehobenen Stellung« aus dem ersten Brief und »der berühmte Mann« und »großer Musikkenner« des zweiten Briefes ein und dieselbe Person sein. Scheibe leitet das zweite Zitat jedoch mit Worten ein, die eigentlich keine Zweifel zulassen: »So weit gehet die Beschreibung dieser Maschine. Nun muss ich noch meinen Lesern die Gedanken eines großen Musikverständigen über diese Erfi ndung mittheilen, die ich gleichfalls meinem Briefwechsel zu danken habe«.17 16. J.A. Scheibe: Johann Adolph Scheibens Abhandlung vom Ursprunge und Alter der Musik (s. Anm. 14), S. XLVIII. 17. Ebd., S. XLVII-XLVIII. Schleuning vermutet, dass es sich beim Ersten um Carl Philipp Emanuel Bach handelt. Beim Zweiten äußert er – als reine Hypothese – die Namen Christian Gottfried Krause, Christoph Nichelmann oder Johann Philipp Kirnberger; P. Schleuning: »Die Fantasiermaschine« (s. Anm. 9), S. 207. Carl Philipp Emanuel Bach erwähnt Hohlfeld an zwei Stellen im Versuch, nicht aber die Componirmaschine: Hatte er keine Kenntnis davon oder lehnte er sie ab? Vgl. dazu Carl Philipp Emanuel Bach hg. von Wolfgang Horn: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, [Berlin 1753-1762/Leipzig 1787-1797] Kassel: Bärenreiter 1994, Bd. 2, S. 1 und 245. Wir wissen nicht, wie Unger auf die konkrete Umsetzung seiner eigenen Idee reagierte. Allerdings habe ich einen Brief von September 1753 aus seiner Feder nicht einsehen können, der in der Euler-Stiftung der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg aufbewahrt ist; vgl. Leonhard Euler: Beschrei-
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Das Bedeutungsvollste an der Kontroverse ist, dass sie die Erfindung ausschließlich als Componirmaschine betrachtet18 und den Vorzug ausblendet, welche die Maschine gerade dadurch hat, dass sie die Zeichen der hergebrachten Notenschrift nicht benützt: die mathematisch präzise Darstellung des absoluten zeitlichen Ablaufs der Verzierungen. Diesen Vorzug war von Creed und – obwohl bloß in zweiter Linie – auch von Unger klar verdeutlicht worden. Indem sie nachdrücklich auf die Bedeutung der Variabilität hinwiesen, die den persönlichen Beitrag des Interpreten ausmacht, und folglich auf den Vorteil, der in einer Aufzeichnung der einzelnen Auff ührung liegt, waren die Erfinder Vorkämpfer gegen die vorherrschenden Interessen in der Ästhetik ihrer Zeit.19 In diesem Zusammenhang halte ich eine von Burney erwähnte Kritik eines Musikers für beachtenswert: »Die Maschine kann alles wiedergeben außer dem Tempo rubato«. Die Äußerung ist überraschend, denn aus heutiger Sicht ist eben die Möglichkeit, agogische Nuancen mit mathematischer Präzision festzuhalten, die revolutionärste Eigenschaft der Fantasiermaschine, und sie erklärt sich vielleicht bloß aus der Schwierigkeit, die sich beim Übertragen der Aufzeichnung in Musiknotation ergibt. Dieser Kommentar wäre demnach schlicht ungenau formuliert und müsste etwa folgendermaßen korrigiert werden: Indem die Maschine beim Rubato Veränderungen im Notenwert präzis darstellt, erschwert sie die Übertragung in Notenschrift. Auch Schleuning sieht Burneys Bemerkung im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, die Kompositionen im freien Metrum zu notieren, wie dies etwa in Fantasien des 18. Jahrhunderts der Fall ist.20 Was aus Hohlfelds Maschine wurde, ist ungewiss. Der Berliner Mechaniker bewahrte sie bei sich auf, solange er lebte. Nach seinem Tode im Februar 1771 konnte Sulzer sie erwerben und der Instrumentensammlung der Akademie der Wissenschaften übergeben. Als er 1772 die Stadt besuchte, teilte man Burney aber mit, dass es in den Räumlichkeiten der Akademie unlängst einen Brand gegeben hätte, dem Hohlfelds Werk zum Opfer gefallen war.21 Jedenfalls bung, Zusammenfassungen der Briefe und Verzeichnisse, Basel: Birkhäuser 1975, S. 441. 18. J.A. Scheibe: Johann Adolph Scheibens Abhandlung vom Ursprunge und Alter der Musik (s. Anm. 14), S. XLII. 19. Hegel war einer der ersten, der theoretisch einen Ausführenden (»gehorchendes Organ«) und – in anderen Kompositionsarten – einen Interpretierenden (»selbständig und produzierend«) unterschied; vgl. H. Danuser: »Vortragslehre und Interpretationslehre« (s. Anm. 11), S. 276. 20. »It was M. Hohlfeld, who afterwards constructed the machine, and rendered it so perfect, that I was assured, by a great performer, who tried it upon a clavichord, that there was nothing in music which it could not express, except tempo rubato«; in: Ch. Burney, An Eighteenth-Century Musical Tour (s. Anm. 13), S. 202; P. Schleuning: »Die Fantasiermaschine« (s. Anm. 9), S. 203, 208. 21. Beckmann und Halle schreiben so, als würde die Maschine immer noch existieren: »Diese Maschine besitzt gegenwärtig die Akademie der Wissensch[aften] in Berlin«; »Hohlfeld führte die Idee glücklich aus, und die Berlinische Akademie besitzt diese Maschine wirklich, die Hohlfeld erfand, und baute«; J. Beckmann:
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ist von Hohlfelds Unikat nichts erhalten geblieben. Erhalten ist allerdings bis heute ein gleichartiges Instrument, dessen Herstellung wir wahrscheinlich Charles Burneys unerschöpflicher Neugier verdanken. Burney kannte Creeds Forschungsbericht, und als Dr. Bicchieri in Florenz im September 1770 die Konversation auf eine ähnlich Erfindung lenkte, die in Deutschland gebaut worden sei, konnte es Burney zunächst gar nicht glauben. In Rom ging er deshalb einen Deutschen um Bestätigung an, den Kanzler Reiffenstein, und als er zwei Jahre später nach Berlin kam, ließ er sich darüber von Marpurg in allen Einzelheiten unterrichten. Die in Musical Journey abgedruckte Beschreibung schließt mit dem Wunsch und der Hoffnung, einem englischen Mechaniker möge es dereinst glücken, Creeds Maschine zu erbauen, wie Hohlfeld Ungers Maschine verwirklicht hatte.22 Spätestens von 1775 an gehörte auch John Joseph Merlin zum engsten Freundeskreis der Burneys, ein Mechaniker, der insbesondere dank seinen Verbesserungen am Rollstuhl und dank seinem Beitrag an der Verbreitung der Rollschuhe zu Ruhm gekommen war. Es ist leicht vorstellbar, dass Burney mit dem tüchtigen Erfinder, bei dem er unter anderem zwei Tasteninstrumente bestellte,23 über die Berliner Maschine sprach und ihm möglicherweise die Zeichnungen übergab, die veröffentlicht worden waren. Tatsächlich wird im Deutschen Museum in München ein eigentümliches Instrument auf bewahrt, das Merlin baute und das mit 1780 datiert ist. Es handelt sich um eine seltene Instrumentenart mit doppelter Mechanik, jener des Cembalos und jener des Fortepianos (einmanualig; das Fortepiano wird als Register eingeschaltet). Im Innern des Instruments ist ein Holzrahmen angebracht, der das Notationsgerät enthält und ein Endlosband aus Papier, das von einem Uhrwerk angetrieben wird. Gewisse Einzelheiten sind der Erfi ndung Hohlfelds ähnlich: Die Maschine wird von Sperrnocken (eines einzigen Registers) gesteuert und kann mit jeder Art von Instrument eingesetzt werden.24 Beyträge zur Geschichte der Erfindungen (s. Anm. 13), S. 22; Johann Samuel Halle: Fortgesetzte Magie, oder die Zauberkräfte der Natur, so auf den Nutzen und die Belustigung angewandt worden, Wien: Trattner 1789-1803, Bd. 3, S. 51. Nach Godefroid-Engelbert Anders (1795-1866), schließlich, existierte die Maschine 1806 noch, obwohl Anders die Quelle dieser Information nicht angibt; Godefroid-Engelbert Anders: »Exposition des produits de l’industrie«, in: Revue et gazette musicale de Paris, XI (1844), S. 216-218, 251-254: 251-252. 22. Vgl. Charles Burney: An Eighteenth-Century Musical Tour (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 187 und Bd. 2, S. 201-203. Unger las Burneys Bericht in der deutschen Übersetzung und erfuhr so vom Bericht in Philosophical Transactions. So fühlte er sich veranlasst, seine Urheberschaft zu verteidigen, indem er beteuerte, von Creeds Maschine keine Kenntnis gehabt zu haben; J.F. Unger: Entwurf einer Maschine (s. Anm. 6), S. 45-52. 23. Eines davon wies sechs Oktaven Tonumfang auf; vgl. Frances Palmer: »Merlin and Music«, in: John Joseph Merlin, The ingenious mechanick: the Iveagh bequest, Kenwood, London: Greater London Council 1985, S. 85-110: 86-89. 24. Über das Instrument siehe die Beschreibungen – in einigen Details voneinander abweichend – von Hubert Henkel und Michael Latcham, der das Notationsge-
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Es ist merkwürdig, dass von Berlin bis London keine der an der Entwicklung der Fantasiermaschine beteiligten Persönlichkeiten daran dachte, die Technologie der mechanischen Musikinstrumente zu benützen, um deren Aufzeichnungen auch wiederzugeben. In Frankreich ergriff ein Experte für Musikautomaten die Initiative: Pater Joseph Engramelle. Dieser war bekannt durch den Traktat »La Tonotechnie, ou, l’art de noter les cylindres«, in welchem er verschiedene Techniken zur Herstellung von Zahnwalzen beschreibt, die für jede Art von Musikautomaten zu verwenden seien. (In seinem Traktat nimmt er als Beispiel die Serinette, eine kleine Drehorgel mit einem Umfang von einer bis eineinhalb Oktaven). Er geht das Problem in Vergleich zum bisher gesagten also genau von der entgegengesetzten Seite an, d.h. es wird die Frage aufgeworfen, wie die Musiknotation in eine Darstellung von Linien und Punkten zu übertragen sei. Indem er die Bedeutung der Art de noter hervorhebt, schließt sich Engramelle dem Ideal Creeds und Ungers an, nämlich den Ausdruck der großen Künstler in der Ausführung der Verzierungen und der Artikulation erfassen zu können, der sich in der Tempowahl widerspiegelt. Sein Ziel ist letztlich, in der Reproduktion durch das mechanische Instrument die Echtheit des Vortrags zu wahren: »Man könnte behaupten, dass […] diese Stücke, wenn sie von den Urhebern selbst direkt auf die Walzen eingraviert würden, der Nachwelt in ihrer ganzen Echtheit überliefert wären und keine Gefahr liefen, später entstellt zu werden, noch würden sie beim Altern Veränderungen erfahren, denn jeder möchte ja etwas Eigenes beifügen, sodass es für Lully, Corelli, Couperin und sogar für Rameau verdrießlich wäre, ihre Stücke so zu hören, wie man sie jetzt spielt.«25 Darüber hinaus äußerte rät nicht erwähnt; vgl. Hubert Henkel: Besaitete Tasteninstrumente (Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik, München), Frankfurt a.M.: Bochinsky 1994, S. 98-102 und Michael Latcham: »The combination of the piano and the harpsichord throughout the eighteenth century«, in: Thomas Steiner (Hg.), Instruments à clavier – expressivité et flexibilité sonore: actes des Rencontres Internationales ›harmoniques‹, Lausanne 2002 (Publ. der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Serie 2, Band 44), Bern u.a.: Lang 2004, S. 113-253: 142-144; Michael Latcham: »The apotheosis of Merlin«, in: ders., Musique ancienne – instruments et imagination: actes des Rencontres Internationales ›harmoniques‹, Lausanne 2004 (Publ. der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Serie 2, Band 46), Bern u.a.: Lang 2006, S. 271-296: 290-294. Über den Apparat vgl. auch Jürgen Hocker: »Entwurf einer Maschine […] von J.F. Unger«, in: Das mechanische Musikinstrument, Nr. 26/VI (1982), S. 14-16 und Nr. 27/VII (1983), S. 21-22. 25. »On pourroit même dire [qu’une machine à cylindre bien éxécutée, rendroit les piéces de musique avec une netteté & une justesse d’exécution à laquelle le meilleur Musicien ne peut jamais atteindre, parce qu’elle seroit sans erreur, &] que si ces piéces étoient notées sur les cylindres par leurs Auteurs, ils les transmettroient à la postérité dans leur pureté; alors elles ne courroient pas les risques d’être défigurées après eux, en éprouvant des altérations en vieillissant, chacun voulant y mettre du sien: ensorte que les Lulli, les Corelli, les Couprin & les Rameau même seroient révoltés s’ils entendoient leurs morceaux tels qu’on les exécute à présent«; vgl. Joseph Engramelle: La tonotechnie ou l’art de noter les cylindres
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Engramelle die Absicht, ein zweites Buch zu verfassen, in welchem er eine Maschine zur Aufzeichnung einer Interpretation beschreiben wollte: »Es gibt Verfahren, die Walzen durch andere, bereits vorgängig bespielte Walzen zu bespielen oder einfach dadurch, dass man ein Stück auf Tasten[instrumenten] spielt. Ich behalte mir vor, diese Mittel in einem weiteren Werk zu behandeln, das sich mit der Bauweise [der mechanischen Instrumente] auseinandersetzt: Hier beschränke ich mich darauf, in den Grundsätzen der Notation zu unterweisen, denn diese sind für die andern Verfahren nicht nötig, da sie das Ergebnis eines Mechanismus sind, den ich eigens zu diesem Zweck erdacht habe.«26
Nach einer von Benjamin Laborde in seinem Essai sur la musique festgehaltenen Anekdote soll der Mechanismus tatsächlich gebaut worden sein. Engramelle habe einen italienischen Virtuosen überlistet, der seine Stücke eifersüchtig hütete, indem er ihn aufforderte, auf einem Cembalo zu spielen, das mit einer von Papier überzogenen Walze verbunden war. Als der Virtuose einige Tage später zurückkehrte, hörte er eine Serinette, die seine Stücke spielte und »sogar die Verzierungen seines Spiel imitierte«.27 Die Anekdote et tout ce qui est susceptible de notage dans les intruments de concerts méchaniques, [Paris 1775] Genève: Minkoff 1971, S. 62-63; ebd. vgl. Einleitung, S. X; über das Tempo, die Verzierungen und Artikulationen vgl. S. 6-7 und vor allem 11-14: »[…] il est donc nécessaire de connoître la véritable durée d’un air pour le notage, si l’on veut lui conserver son caractère. Nos Musiciens pour décider cette durée, ne pourroient-ils pas nous donner des signes moins équivoques que leur termes généraux d’adagio, andante, allegro, presto, &c.[?] Outre les caractères qui indiquent les notes dans la Musique, on en emploie aussi quelques-uns pour marquer divers effets, tels que les cadences pleines & brisées, les martellemens, les coulées, les fl attées, les port de voix, &c.: mais ces caractères sont on ne peut pas plus équivoques pour la valeur & la quantité des parties qui les composent. […] Les notes dans la Musique indiquent bien précisément la valeur totale de chaque note; mais leurs véritables tenues & la valeur de leurs silences qui en font partie & qui servent à les détacher les unes des autres, ne sont indiquées par aucun signe […] Enfin ces admirables effets de la Musique, dont l’expression remue l’ame, s’ils sont susceptibles d’exécution, peuvent également […] être rendus avec énergie et précision par les instrumens à cylindres bien faits«. 26. »Il est des moyens de noter des cylindres avec d’autres cylindres déjà notés, ou en touchant simplement une piéce sur un clavier. Je réserve ces moyens pour n’en parler que lorsque je traiterai de la facture dans un autre ouvrage: je me bornerai dans celui-ci à enseigner les vrais principes du notage, ces autres moyens n’en exigeant aucuns, puisqu’ils ne sont que le résultat d’un méchanisme fait exprès, que j’ai imaginé«; vgl. ebd., S. 72; vgl. auch S. VIII. 27. »Un virtuose Italien se trouvait en Lorraine à la cour du Roi Stanislas; il avait exécuté des pieces de clavecin qu’on avait fort admirées, mais qu’il n’avait voulu donner à personne. Baptiste, Musicien du Roi de Pologne, en parla au P. Engramelle […] le P. Engramelle plaça sous son clavecin un grand cylindre couvert de papier blanc, & recouvert de papier noirci à l’huile. Il fit un clavier de rapport,
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ist nicht gänzlich unglaubwürdig, auch wenn man sich erinnern wird, dass die Serinette einen Tonumfang von nur einer bis eineinhalb Oktaven hatte.
2. Beginn des 19. Jahrhunder ts : Der Melograph bekommt einen Namen In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts traten also alle wesentlichen Merkmale des hier Beschriebenen hervor: das Bestreben, die interpretatorischen Nuancen eines musikalischen Genies dergestalt einzufangen und diese auf einem automatischen Musikinstrument reproduzieren zu können. Die Neugier der aufgeklärten Zuhörerschaft hatte den technischen Entwicklungen zur Reproduktion der einzelnen und bestimmten Auff ührung den Weg gebahnt. Die Instrumente Hohlfelds, Merlins und Engramelles (falls letzteres überhaupt je gebaut wurde) waren jedoch Unikate. Tatsächlich sollte sich die Vorstellung erst erfolgreich durchsetzen, nachdem die Romantik die musikalische Interpretation ästhetisch emanzipiert und ihr einen höheren Stellenwert eingeräumt hatte; folglich erst dann, als die Erfinder von Musikautomaten einen Markt hatten, auf dem serienmäßig gebaute Maschinen angeboten wurden. Darüber hinaus konnten die Zielsetzungen der Instrumentenbauer aus dem 18. Jahrhundert nun nicht allein mit mechanischen Lösungen verfolgt werden, sondern auch, indem man sich neue Technologien zu Nutze machte, die verschiedenen Gebieten der Industrie und der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts entliehen wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bekam das bis dahin periphrastisch beschriebene Gerät verschiedene Namen pseudowissenschaftlichen Charakters, unter welchen die Bezeichnung Melograph besondere Verbreitung fand. Wer den Begriff prägte ist nicht klar. Mit Ernst Ludwig Gerber und Heinrich Christoph Koch halten das Konzept und mit Gustav Schilling das Wort Melograph Einzug in die Lexika und werden zu Gemeingut. Der Begriff Melograph hatte glücklichen Bestand bis zum Aufkommen von Charles Seegers Gerät in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im musikethnologischen Bereich.28 dont les touches répondaient à celles du clavecin, ensorte que tout ce qu’on exécutait sur le clavecin, se trouvait marqué sur le cylindre à l’aide du papier noirci. Ce cylindre était mis en mouvement par une manivelle placée à la pointe du clavecin, & porté sur des bois à vis, ensorte qu’il avançait un peu de côté à chaque tour, afin que les différentes marques ne pussent point se confondre. Sa révolution totale était de quinze tours, & durait environ trois quarts d’heure. […] L’Italien étant revenu quelques jours après, on lui fit entendre une serinette qui répétait ses pieces, & imitait jusqu’aux agrémens de son jeu«. Benjamin Laborde hält fest, »il y a plus de 25 ans« auf einen entsprechenden Eintrag in den Philosophical Transactions gestoßen zu sein; J.B. de Laborde: Essai sur la musique ancienne et moderne (s. Anm. 6), S. 620-623. 28. Bei Gerber findet man eine Erwähnung unter dem Stichwort »Hohlfeld«, während es von Koch an einen eigenen Eintrag unter »Notenschreibe-Maschine«
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Es gab dennoch zahlreiche Erfinder, die zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert im Wesentlichen nichts anderes taten, als Hohlfelds Maschine neu zu erfinden, weil sie von den Leistungen ihrer Vorgänger keine Kenntnis hatten. Nach Engramelle gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere Versuche, Apparate zu bauen, die ein vorgängig aufgezeichnetes Spiel eines Musikstücks wiedergeben konnten. Ein Italiener namens Massera aus Montefalcone erfand offenbar 1823 ein solches Instrument, das Musicographe genannt wurde. Über dessen Bauweise ist nichts bekannt. Leider gibt Adolphe de Pontécoulant auch nicht an, aus welcher Quelle die Information stammt. Michel Eisenmengers Clavier mélographe, in Frankreich und England patentiert, aber vermutlich nie gebaut, bediente sich (für die Wiedergabe) einer Walze, die jener der Serinette ähnlich war, auf der Stifte angebracht waren, welche die vom Aufnahmegerät gestanzten Löcher auf dem Lochstreifen abtasteten. Eisenmenger kommt jedenfalls das Verdienst zu, über seine Vorgänger gewissenhaft nachgeforscht zu haben. So erwähnt gibt und bei Schilling bereits unter »Melograph«; Ernst Ludwig Gerber hg. von Othmar Wessley: Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (1790-1792), [Leipzig 1790-1834] Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1966-1977, S. 657-658; Heinrich Christoph Koch hg. von Nicole Schwindt: Musikalisches Lexikon, [Frankfurt a.M. 1802] Kassel: Bärenreiter 2001, Sp. 1076-1077; Gustav Schilling: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst, [Stuttgart 1835-1842] Hildesheim: Olms 1974, Bd. 4, S. 651-652. Nach Anders wurde der Begriff Melograph 1801 von einem gewissen Pfeiffer aus Stuttgart oder 1827 von einem Carreyre aus Paris geprägt; G.E. Anders: »Exposition des produits de l’industrie« (s. Anm. 21), S. 252. Louis Adolphe de Pontécoulant erwähnt, dass Papes Mechanismus, der an der Pariser Industrieausstellung 1844 unter der Bezeichnung Piano sténographe vorgestellt wurde, bereits 1826 unter der Bezeichnung Piano mélographe gebaut worden war; Louis Adolphe de Pontécoulant: Organographie, [Paris 1861] Amsterdam: Knuf 1972, S. 144. Charles Seeger erfand ein elektronisches Gerät zur ›objektiveren‹ Transkription des Musikethnologen; vgl. Charles Seeger: »Towards a Universal Music Sound-Writing for Musicology«, in: Journal of the International Folk Music Council, IX (1957), S. 63-66. Für die in der Tabelle dargestellten Erfindungen vgl. zusätzlich zur bereits zitierten Literatur auch den Brief von Gattey in: Journal de Paris, VII (1783), S. 89; Carl Friedrich Cramer: Magazin der Musik I (1783), Hildesheim: Olms, 1971-1974, S. 395-396; Heinrich Philipp Carl Bossler: Musikalische Real-Zeitung, Hildesheim: Olms 1971, I (1788), Sp. 23-24, 160; Allgemeine musikalische Zeitung, Amsterdam: Knuf 1964-1969, VI (1803-1804), Sp. 791; Archives des découvertes et des inventions nouvelles: faites dans les sciences, les arts et les manufactures, tant en France que dans les pays étrangers, II (1810), S. 249-252; Patents for inventions: abridgments of specifications relating to music and musical instruments (a.D. 1694-1866), [Holborn 1871] London: Bingham 1984; Robert Musiol: »Eine neue Erfindung«, in: Zeitschrift für Instrumentenbau, I (1880-1881), S. 18-19; T.L. Southgate: »Recording music played extemporaneously«, in: Sir George Grove (Hg.), Dictionary of music and musicians (a.D. 1450-1889) by eminent writers, English and foreign, Anhang von J.A. Fuller Maitland und Index von Mrs. Edmond Wodehouse, London: Macmillan 1879-1889, Bd. 4, S. 767-768.
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Tabelle 1: Erfindungen und Patente, 1747-1850
er 1838 Creed, Engramelle, Unger, Carreyre und Baudouin. Darüber hinaus erwähnt er Recherchen eines gewissen »Wagner neveu […] de concert avec Maelzel« und eines gewissen Ségnier, die jedoch nicht zu Ende geführt wurden und die »dans les mémoires de la Société d’encouragement«29 veröffentlich wurden.
29. Es gibt in Italien drei Gemeinden, die Montefalcone heißen: je eine in den Provinzen Ascoli Piceno, Benevento und Campobasso. Über Eisenmengers Apparat vgl. L.A. de Pontécoulant: Organographie (s. Anm. 28), S. 126-127, 144 und 384 und Michel Eisenmenger: Traité sur l’art graphique et la mecanique appliqués à la musique, Paris: Gosselin 1838, S. 7-8, 165-166. Zur Geschichte des Melographen, von Eisenmenger selbst zusammengefasst, vgl. ebd., S. 46-50, 153-160.
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Abbildung. 4: Michel Eisenmenger: Traité sur l’art graphique et la mecanique appliqués à la musique, Paris: Gosselin, 1838, Tafel d (Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Mus.th. 910).
Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle eine erschöpfende Erläuterung eines Verzeichnisses von Erfi ndungen zu liefern, die größtenteils nicht über die Entwurfsphase hinausgekommen sind und denen weder eine wesentliche Resonanz noch eine nennenswerte Verbreitung beschieden war. Auf die ersten serienmäßig produzierbaren Geräte, die sowohl aufzeichnen als auch wiedergeben konnten, stößt man erst Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn man die Aufmerksamkeit auf ein für den damaligen Zeitgeist bedeutungsvolles Phänomen richtet: das Auf kommen der großen nationalen und internationalen Ausstellungen. An der Pariser Industrie-Ausstellung 1844 wurden sogar zwei Melographen vorgestellt: Jean-Henri Papes Piano sténographe und E. Guérins Pianographe. Offenbar hatte Pape sein Instrument – das an der Ausstellung im Jahr 1844 vorgestellt wurde – bereits 1824 oder 1826 zusammen mit einem gewissen Cuirin erfunden. Pontécoulant hegt darüber allerdings Zweifel, denn der Erfinder stellte sein Wiedergabeverfahren der Öffentlichkeit nie vor (und es findet auch in einer Publikation von ihm aus dem Jahre 1845 keine Erwähnung). Während von Papes Erfindung keine Beschreibung gefunden werden konnte, veröffentlichte Guérin glücklicherweise ein Prospekt, das mehrere Tafeln enthält. Sein Pianographe wird mittels eines Mechanismus von Hebeln und Drähten letztlich durch die Klaviertasten gesteuert; technisch keine Neuerung gegenüber Merlins Prinzip, das sechzig Jahre zurücklag – außer seinem Zweck allerdings: Der Melograph war kein Objekt mehr, das allein der Befriedigung einer intellektuellen Neugier in akademischen Sitzungen diente, sondern ein technisches Produkt, das darauf abzielte, sich auf dem Markt durchzusetzen und an dem Instrumentenhersteller Interesse zeigten. Neu, wenn nicht sogar bahnbrechend für jene Zeit, war auch das Modell, von dem sich Guérin inspirieren ließ. Guérin schrieb im Prospekt: »Man kann 136
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sagen, dass der Pianographe eine Auff ührung ebenso getreu abbildet wie die Daguerrotypie die Natur.«30 Dass diese Melographen an der Ausstellung präsentiert wurden, gab Godefroi-Engelbert Anders die Möglichkeit, über sie in der Gazette et revue musicale zu schreiben. Anders wurde 1795 in Bonn geboren und lebte von 1829 an in Paris. Er war ein sorgfältiger Musikwissenschaftler und bewies mit seinem Artikel, dass er über die Entstehungsgeschichte des Melographen Bescheid wusste, da er Creed, Unger, Engramelle und eine Reihe von damals aktuelleren Erfindern erwähnt, über die man überhaupt nur durch ihn Kenntnis hat. An dieser Stelle von besonderem Interesse ist der Kommentar über Zweck und Verwendung des Melographen: »Solange sich der Improvisator im mittleren Bereich der Klaviatur bewegt und bloß leichte Stücke spielt, entstehen für das Aufzeichnen oder das Übertragen keine Schwierigkeiten. Doch wenn Liszt oder Thalberg antreten, um eines ihrer Stücke zu spielen, wenn ein Improvisator wie Cavallo seine Finger über den vollen Umfang der Tastatur fliegen und er sich vom Rausch seiner Vorstellungskraft hinreißen lässt, wird sich zeigen, welch große Arbeit es abverlangt, diese stenographische Notation zu übertragen, falls eine vollständige Entschlüsselung überhaupt möglich ist. [Der Pianographe allerdings] hat einen Nutzen, wenn auch in beschränktem Maße; taugt er auch nicht zum Festhalten großer Improvisationen der Virtuosen, für die Komponisten wird er dennoch nicht ohne Gewinn sein. […] Wie der Maler seine eigenen Skizzenbücher hat […], so wird der Komponist seine Papierrollen haben, die er aus seinem Pianographe nimmt und die sein Album musikalischer Ideen bilden«. Anders bestätigt zwar den Erfolg, der dieser neuen Gattung von Pianisten beschieden war, indem er Liszt als Klaviervirtuosen und nicht als Komponisten erwähnt; aber dennoch äußert er als Sinn des Melographen nicht die Aufzeichnung der einzelnen Auff ührung als persönliche Interpretation eines Stücks, sondern fällt in die alte Illusion zurück, den Melographen als Componirmaschine zu betrachten, und hält das Übertragen der Aufzeichnung in die herkömmliche Musiknotation noch immer für unabdingbar.«31 30. »[…] on peut dire que le Pianographe reproduit l’exécution aussi fidèlement que le Daguerréotype reproduit la nature«; vgl. E. Guérin: Ingénieur mécanicien, […] à Paris, inventeur et fabricant breveté du pianographe […]: description sommaire avec planches de ces instruments, mémoire explicatif sur leur emploi, St.Germain: Fleury-Petitjean 1845, S. [4]. Die Daguerrotypie war 1839 an die Öffentlichkeit gekommen. Zu Pape vgl. R. Musiol: »Eine neue Erfindung« (s. Anm. 28), S. 18; Henri Pape: Notice sur les inventions et les perfectionnemens apportés par H. Pape dans la fabrications des pianos, Paris: Moulde et Renou 1845; G.-E. Anders: »Exposition des produits de l’industrie« (s. Anm. 21), S. 216-218 und L.A. de Pontécoulant: Organographie (s. Anm. 28), S. 419. 31. »Tant que l’improvisateur se tiendra dans le milieu du clavier et n’exécutera que des choses faciles, la lecture ou la traduction ne souffrira aucune difficulté. Mais que Liszt ou Thalberg viennent jouer un de leurs morceaux, qu’un improvisateur tel que Cavallo, se livrant à toute la fougue de son imagination, fasse voler ses doigts sur toute l’étendue du clavier, et l’on verra quel travail il faudra pour
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3. Das Erscheinen des Melographen auf dem Markt und die Durchsetzung des Interpreten als Künstler In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen sich die Melographen vom mechanischen Modell zu lösen und entwickelten sich weiter, indem sie Anregungen aus Grenzbereichen anderer Sektoren der industriellen Entwicklung aufnahmen. Allem voran ist der Lochstreifen als Informationsträger zu nennen, dessen Erfindung mit der Entwicklung der Automaten von Jacques de Vaucanson (1709-1782) verbunden ist, insbesondere mit seinem vollautomatischen Webstuhl (1745), der dann von Joseph-Marie Jacquard 1804-1805 verbessert und berühmt gemacht wurde. Der Erste, der das Prinzip im Gebiet der automatischen Musikinstrumente anwendete, war der aus Lyon stammende Claude-Félix Seytre 1842, aber für den Melographen kamen die ersten Verwendungen erst später.32 Eine weitere Technologie des 19. Jahrhunderts, die Melographen-Erfinder inspirierte, war der Telegraph, der 1837 von Morse erfunden worden war. 1863 stößt man auf das erste Patent eines Melographen, bei dem durch Drücken der Klaviertasten ein elektrischer Schaltkreis geschlossen und folglich ein traduire cette notatioin sténographique, si toutefois on parvient à la débrouiller entièrement. [Toutefois, le pianographe] pourra rendre des services, mais restreints; car s’il est insuffisant pour recueillir les grandes improvisations des virtuoses, il ne sera pas sans utilité pour les compositeurs. […] De même que le peintre a ses livres de croquis, […] de même le compositeur aura les bandes de papier qu’il retirera de son pianographe, et qui formeront son album d’idées musicales«; vgl. G.-E. Anders: »Exposition des produits de l’industrie« (s. Anm. 21), S. 253-254. Cavallo ist möglicherweise identisch mit dem Organisten Peter Cavallo, vgl. John Henderson: A directory of composers for organ, Swindon: [o.N.] 32005. Über Anders vgl. François-Joseph Fétis: Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique, Paris: Firmin Didot 1862-1880, Bd. 1, S. 96-97 und Ergz. 1, S. 15. Guérin übernahm in seinen Beschreibungen seiner eigenen Erfindungen den geschichtlichen Teil von Anders. In welche Richtung abgeschrieben worden war, ist durch die vielen Druckfehler bei Guérin bewiesen; E. Guérin: Ingénieur mécanicien (s. Anm. 30), S. [1-4]. Auch Joseph Fischhof schrieb einiges bei Anders ab, etwa in der Geschichte des Melographen innerhalb seines »Versuch[s] einer Geschichte des Clavierbaues«, fügt aber nichts Neues an; Joseph Fischhof: Versuch einer Geschichte des Clavierbaues: mit besonderem Hinblicke auf die Londoner Grosse Industrie-Ausstellung im Jahre 1851, nebst statistischen darauf bezüglichen Andeutungen, [Wien 1853] Frankfurt a.M.: Bochinsky 1998, S. 18-20. 32. Vgl. Arthur W.J.G. Ord-Hume: »Mechanical instrument«, in: Grove Music Online, www.grovemusic.com vom 27.6.2006. Sowohl Duncan Mackenzie 1848 als auch William Martin im darauf folgenden Jahr machen Vorschläge in dieselbe Richtung; und der Name von Mackenzies Patent (Englisches Patent Nr. 12229, 5. August 1848) macht die Patenschaft deutlich: »Improvements in Jacquard machinery […] parts of which are applicable to playing musical instruments«, in: Patents for inventions (s. Anm. 28), S. 161-162, 163-164.
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Elektromagnet angeregt wird, der dann einen Hebel der Schreibvorrichtung bewegt. Für die Erfindung des Engländers Fenby war kurioserweise vorgesehen, den Zeichensatz der traditionellen Musiknotation zu verwenden, was beweist, dass man im Melographen noch lediglich eine Stütze für die Fantasie des Komponisten sah. Dies ist möglicherweise der Grund dafür, dass diese Erfindung nicht weiter verfolgt wurde.33 Schon der Name von Joseph Föhrs Erfindung aus dem Jahr 1881, KlavierTelegraph, verrät, wodurch er sich hatte anregen lassen. Schließlich arbeitete Föhr als Telegraphist in Stuttgart. Die von ihm verwendete Technologie war jedoch nicht diejenige des gewöhnlichen Telegraphen, sondern diejenige von Casellis elektrochemischen Telegraphen. In diesem Gerät ist das Papier dergestalt chemisch vorbehandelt, dass ein Metallstift, durch den beim Drücken einer Klaviertaste ein elektrischer Strom fließt, zur Bildung farbiger Salze auf der Papieroberfläche und folglich zum Zeichnen einer Spur führt.34 Doch die wesentlichste Erfindung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist wohl der Mélographe Jules Carpentiers. Carpentier war in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens gelang Carpentier, was viele seiner Vorgänger verfehlt hatten, indem er die damals aktuellen Marktstrategien zur Behauptung und Verbreitung seiner Erfindung einsetzte: Er patentierte seine Erfindung in mehreren Ländern, publizierte einen eigenen Artikel in der französischen Zeitschrift La nature und ließ Berichte im Scientific American und in Le Monde Musical veröffentlichen. Schließlich nahm er an der Internationalen Ausstellung über Elektrizität in Paris teil und an der Weltausstellung 1889. Zweitens war Carpentier der erste, der ausdrücklich als einen der Zwecke seiner Erfindung nicht nur die Aufzeichnung der Improvisation, sondern auch den der Auff ührung angab: »Neben dem Verdienst des Urhebers gebührt auch jenem des Auff ührenden immerhin Anerkennung, denn dasselbe Stück, von zwei verschiedenen Personen vorgetragen, wird eine ganz verschiedene Wirkung erzielen.« In der Aufnahmephase funktioniert der Mélographe wie ein Telegraph nach dem Prinzip elektromagnetischer Schaltungen, wobei der Papierstreifen beim Aufzeichnungsvorgang selbst in der Jacquard-Sprache gelocht wird. In der Wiedergabephase werden die Löcher im Papier elektrisch von Bürsten aus Silberfäden abgetastet. Leider ist meines Wissens kein Mélographe bis heute erhalten geblieben.35 33. Fenby erlangte das englische Patent Nr. 101 vom 13.01.1863; vgl. Patents for inventions (s. Anm. 28), S. 393-394. 34. Vgl. Zeitschrift für Instrumentenbau, I (1880-1881), S. 322-323. Ähnliche elektrochemische Systeme, die nach dem Prinzip des Pantelegraphen von Giovanni Caselli (einem Vorläufer des Telefax; in Frankreich von 1855 an getestet) waren von Rossignol 1872 und von Dickenson 1880 vorweggenommen worden; ein verhältnismäßig großer Bekanntheitsgrad von Föhrs Prinzip ist durch die breite Erörterung im Zusatzband der ersten Ausgabe des Grove Dictionary of Music and Musicians belegt. Vgl. T.L. Southgate: »Recording music played extemporaneously« (s. Anm. 28); sowie János Mácsai: »A melográfia története«, in: Magyar Zene, IV (1998-1999), S. 365-394: 387. 35. »À côté du mérit d’un auteur, celui de l’exécutant est bien quelque chose
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Abbildungen 5 und 6: Jules Carpentier: »Le mélographe répétiteur«, in: La Nature, X (1882), Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Fig. 1-3.
aussi, et le même morceau, joué par deux personnes, produit des effets très différents«. Jules Carpentier hat vier Ziele: Die Improvisation festzuhalten, die Interpretation festzuhalten, mit dem Mélographe auch das Spiel auf anderen Instrumenten aufzeichnen zu können, schließlich ein Gerät zu bauen, das die Aufzeichnung von »le langage de Jacquart« [sic!] in die herkömmliche Musiknotation übertrage. Die beiden ersten Zielsetzungen sind erfüllt, über die dritte liefert der Urheber keine weiteren Einzelheiten; die vierte wird explizit mit »à l’état de projet« angegeben; Jules Carpentier: »Le mélographe répétiteur«, in: La Nature, X (1882), S. 145-147: 146; über die Funktionsweise vgl. ebd., S. 146-147. Die Funktionsweise ist dargestellt in H. Jüttemann: Mechanische Musikinstrumente (vgl. Anm. 1), S. 22.
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Einige Jahre später erfand Carpentier das Mélotrope, ein rein mechanisches Wiedergabeverfahren, dem ein beachtlicher kommerzieller Erfolg beschieden sein würde und das an der Ausstellung von 1889 zusammen mit einer geringfügig veränderten Version des Mélographe – inzwischen als reines Aufnahmegerät – ausgestellt war. Einen Bericht über Carpentiers Erfindungen kann man in Le Monde musical lesen: »Das Repertoire des Melotropen umfasst schon mehr als fünfhundert Nummern, alles Improvisationen, die von hervorragenden Pianisten ausgeführt und durch den Melographen niedergeschrieben wurden. Da die Wiedergabe getreu dem Originalvortrage entspricht, so kann derjenige, der sich im Besitze eines Melotropen befindet, die Vortragsweise gewisser hervorragender Pianisten daheim auf seinem Instrument verfolgen und studieren«.36 Das ist wahrscheinlich übertrieben. Zwar habe ich nur wenige Lochkarten des Mélotropes bei einem Schweizer Kunsthandwerker und Sammler zu Gesicht bekommen, aber die Fantasien über Opernarien und über modische Tänze, die ich habe begutachten können, wiesen keine Merkmale einer wirklichen ›Aufzeichnung‹ einer Interpretation auf. Carpentier ist der erste, der die eigentliche Funktion des Melographen explizit in der Möglichkeit sieht, eine ganz bestimmte Interpretation in ihrer Einmaligkeit festzuhalten und zu reproduzieren. Dies widerspiegelt zweifellos eine Aufwertung der Auff ührung als Bestandteil des musikalischen Werkes. Die veränderte ästhetische Auffassung, die zum Bestreben führt, ein Reproduziergerät zu erschaffen, ist die neue Philosophie der Auff ührungspraxis, die an die Stelle der früheren Ausführungspraxis tritt – um es in der Begrifflichkeit Walter Wioras auszudrücken. Wenn ein musikalisches Werk durch die Partitur bereits in seiner Vollkommenheit überliefert ist, hat deren Reproduktion ad infinitum, so sehr diese auch verbesserungsfähig sei, dokumentarischen Wert; wohingegen die einfache Ausführung – die freilich Qualitätsunterschiede zwischen dem einen und dem anderen Ausführenden aufweisen wird – nicht mit dem absoluten Maß des Werks an sich verglichen werden kann. Daher besteht kein Interesse, diese zu konservieren, da sie jederzeit wiederholbar (wenn nicht sogar reproduzierbar) ist. Das Bedürfnis, die einzelne Auff ührung reproduzieren zu können, entsteht also aus dem Gedanken der perfect performance of music, der großen Interpretation des großen
36. Zitiert in: Zeitschrift für Instrumentenbau, X (1889-1890), S. 30. Bereits 1882 hatte Carpentier seine Absicht geäußert, das Wiedergabegerät zu ersetzen: »Je considère du reste ce système [das elektrische Abtasten der Stanzlöcher] comme défectueux, et je lui substitue actuellement un autre système, qui sera l’objet d’une description spéciale«; Jules Carpentier: »Le mélographe répétiteur« (s. Anm. 35), S. 147. Der Kommentar des Monde musical nach der Ausstellung von 1889 sieht nicht im Mélographe die wichtigste Neuerung, sondern im Mélotrope, der die einzelne Aufführung reproduziert – wobei übersehen wird, dass der Mélographe répétiteur beide Funktionen in sich vereint. Im Mélotrope gibt Carpentier also das potenziell Innovativste an seinem Vorhaben wieder auf, nämlich die vollständig automatisierte Aufzeichnung und Wiedergabe einer einzelnen Auffährung duch ein und dasselbe Gerät.
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Meisterwerks, wie Lydia Goehr es ausdrückt: »als eine der beiden vorherrschenden Interpretationsauffassungen seit der Romantik.«37 Die Instrumentenentwickler scheinen mit einer gewissen Verspätung auf den Markt zu drängen, wenn man bedenkt, dass Liszt beispielsweise die ersten Klavier-Recitals um das Jahr 1840 auff ührte. Die einfache Auff ührung durch die Anerkennung ihrer künstlerischen Bedeutung zu würdigen und sie in den Rang der Interpretation zu erheben (in Wioras Begriffen: Ausführung und Auff ührung), war jedoch keine einfache Entwicklung. Gegen diese neue Tendenz erhoben sich gewichtige Stimmen, die sie verwarfen und die sie als Folge eines rein kommerziellen Kults des virtuosen Instrumentalisten sahen. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte man denn den künstlerischen Wert der Auff ührung zu schmälern: Johannes Brahms äußerte noch die Meinung, dass Hans von Bülow »doch schließlich nur ein Kapellmeister« gewesen sei; Ferdinand Hiller beharrte 1858 darauf, dass die »Nothwendigkeit der Reproduktion des geschaffenen Kunstwerkes durch die Ausführung« ein »Grundübel der Musik« sei; Hugo Riemann beklagte sich 1895 in einem Artikel mit dem einschlägigen Titel »Das Überhandnehmen des musikalischen Virtuosentums« darüber, dass die Zuhörer, die einem Konzert beiwohnen, nicht mehr »an das Werk selbst« denken, sondern in erster Linie die Interpretation beurteilen.38 Dank dem Interesse an der musikalischen Auff ührung als persönliche 37. Vgl. Walter Wiora: Das Musikalische Kunstwerk, Tutzing: Schneider 1983, S. 40; und Lydia Goehr: The quest for voice: on music, politics, and the limits of philosophy: the 1997 Ernest Bloch lectures, Berkeley: Univerity of California Press 1998, S. 140-152. [Ich möchte Renata Suchowiejko danken, die mir diese Lektüren empfohlen hat]. 38. Die Zitate stammen aus Hans-Joachim Hinrichsen: »Musikwissenschaft: Musik – Interpretation – Wissenschaft«, in: Archiv für Musikwissenschaft, LVII (2000), S. 78-80: 82; über den Unterschied zwischen Ausführung und Interpretation in der musikwissenschaftlichen Literatur vgl. Dieter Gutknecht: »InterpretInterpretation im 18. Jahrhundert? Gegenwärtige Diskussion und geschichtliche Situation«, in: Günter Fleischhauer/Thom Eitelfriedrich (Hg.): Die Entwicklung der Ouvertüren-Suite im 17. und 18. Jahrhundert. Bedeutende Interpreten des 18. Jahrhunderts und ihre Ausstrahlung auf Komponisten, Kompositionsschulen und Instrumentenbau: Gedenkschrift für Eitelfriedrich Thom (1933-1993), Michaelstein: Institut für Aufführungspraxis, 1996 (Michaelsteiner Konferenzberichte, 49), S. 94-106. Robert Musiol legt 1880 in der Besprechung einer Erfindung eines anonymen Epigonen von Unger, eines Gymnasiallehrers aus Königsberg, zwar ein historisches Bewusstsein an den Tag, indem er Creed und Unger erwähnt, aber er sieht in der forschenden Betrachtung der Interpretation noch keine mögliche Anwendung des Melographen: »Dass sich doch immer und immer wieder Leute finden, welche eine alte, sich bis jetzt noch nie bewährt habende Idee aufwärmen. […] Die Erfindung ist in ihrer Idee überhaupt nur für eine sehr beschränkte Majorität von – Dilettanten. Von Künstler ist dabei keine Rede; der rechte, echte Künstler kann sich nicht dergleichen Nothbehelfe bedienen«; R. Musiol: »Eine neue Erfindung« (s. Anm. 28), S. 18.
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Interpretation eines Pianisten betrat die Forschung in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Gebiet, das bis dahin nicht im Zentrum des Bestrebens gestanden hatte: die Aufzeichnung der Dynamik. Der Schwede Carl Wilhelm Nyström patentierte 1898 ein erstes System, das er 1911 verbesserte, das auf Carpentiers Melographen auf baut und in welchem die Klaviertasten beim Niederdrücken nicht bloß einen elektrischen Kontakt steuern, sondern deren zwei. Aus dem Abstand zwischen den beiden Punkten auf der Aufzeichungsspur lässt sich die Geschwindigkeit errechnen, mit der die Taste gedrückt wird, was ein Maß für die Anschlagsdynamik ist. Das Verfahren war jedoch technisch zu kompliziert und es kam somit nie zur Anwendung in einer Serienanfertigung.39 Eine völlig andere Methode wurde in einem der Musik ziemlich fernen Gebiet entwickelt. Der Physiologe Étienne-Jules Marey, heute noch vor allem dank seinen photographischen Bildfolgen-Dokumentationen über die Bewegungen des menschlichen Körpers bekannt, hatte vorgängig die so genannte Méthode graphique entwickelt, um physiologische Experimente zur Muskelbewegung vorzunehmen. In seinem Verfahren wird die Bewegung eines Muskels in vivo mittels der Luft, die im Innern eines dünnen Gummischlauchs bewegt wird, auf eine Trommel übertragen. Dadurch wird der Ausschlag verstärkt und zu einem Stift geleitet, der die Muskelbewegung mittelbar auf einer Rolle geschwärzten Papiers aufzeichnet. Die beiden Pariser Psychologen Binet und Courtier hatten die Idee, auf die Methode der Gummischläuche zurückzugreifen, um die Muskelbewegung in den Fingern eines Pianisten zu messen. Daraus entstand ein Apparat, der in einem Koordinatensystem die Dauer und Stärke der auf einem Klavier gespielten Töne darstellt – wobei das Maß der Stärke approximativ mit der Kraft (und nicht mit der Geschwindigkeit, was angebrachter wäre) korreliert ist, mit der die Tasten gedrückt werden:40
39. P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier (s. Anm. 1), S. 61-63; vgl. M. Reinhart: »Der Welte-Mignon Aufnahmevorgang in Deutschland« (s. Anm. 1), S. 74-87: 76-77. Nyström hatte bereits 1892 ein erstes Modell eines Melographen erbaut, der zugleich eine Wiedergabefunktion besaß; er hatte sich von Edisons Phonographen inspirieren lassen, bei dem ein Stift eine Spur in eine Wachsrolle ritzte; Zeitschrift für Instrumentenbau, XIV (1893-1894), S. 765. 40. Zu Marey vgl. Christian Pociello: La science en mouvements: Étienne Marey et Georges Demenÿ, 1870-1920, Paris: PUF 1999. Marey – der nicht umsonst als der Vaucanson der Biologie bekannt war – hatte diesen Gerätetyp von Charles Buisson übernommen; ebd., S. 97, 101-102. Zu Binet und Courtier vgl. Alfred Binet und Jules Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, in: L’Année psychologique, II (1895, erschienen 1896), S. 201-222 und Hans-Werner Schmitz: »Bemerkungen zum Bericht von Binet und Courtier und zum Aufnahmeapparat von Welte«, in: Das mechanische Musikinstrument Nr. 61, XVIII (1994), S. 24-25.
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Abbildungen 7 und 8: A. Binet und J. Courtier : »Recherches graphiques sur la musique«, in: L’Année psychologique, II 1895, erschienen 1896, Fig. 38 und Fig. 48
Um die Jahrhundertwende hatte die Möglichkeit der Aufzeichnung und der Reproduktion der wesentlichen Information eines musikalischen Vortrags zu wissenschaftlichen und kommerziellen Zwecken eine Großzahl von Erfi ndern und Instrumentenbauern angeregt, Versuche mit verschiedenen Arten von Melographen zu wagen. In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Erfindungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengefasst:41
41. Zu den in der Tabelle aufgeführten Erfindungen vgl. insbesondere Patents for inventions (s. Anm. 28), T.L. Southgate: »Recording music played extemporaneously« (s. Anm. 28); H. Jüttemann: Mechanische Musikinstrumente (s. Anm. 1), Jürgen Ehlers: »Melograph und Melotrop von Carpentier«, in: Das mechanische Musikinstrument Nr. 60, XVIII (1994), S. 12-17 und Nr. 61, XVIII (1994), S. 8-14; J. Mácsai: »A melográfia története« (s. Anm. 34) und M. Reinhart: »Der Welte-Mignon Aufnahmevorgang in Deutschland« (s. Anm. 34). Die letzteren beiden Autoren erwähnen auch weitere Erfindungen und Sekundärliteratur.
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Tabelle 2: Erfindungen und Patente 1850-1900
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Abschließend sei bemerkt, dass die Reihe der hier besprochenen Melographen und insbesondere das Auf blühen von Neuerungen um das Jahr 1900 der Bildausschnitt aus der Geschichte der Technik ist – stets in engem Zusammenhang mit der sich wandelnden Auffassung der musikalischen Interpretationskunst –, vor dessen Hintergrund 1904 die faszinierendste Erfindung ihrer Art hervortrat, der endlich auch ein kommerzieller Erfolg beschieden war und die alle vorausgegangenen Versuche weit hinter sich ließ: Das Welte-Wiedergabeverfahren. Mit der Erfindung von Weltes Verfahren beginnt jedoch ein neues Kapitel der Geschichte, das ich hier nicht aufschlagen möchte.
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Einleitung Der Umgang mit historischen Musikinstrumenten ist bisher ohne den Begriff Interface ausgekommen, und tatsächlich erschien der Sprachbereich der elektronischen Musik für das Fach der historischen Auff ührungspraxis zunächst nicht nahe liegend. Dennoch bietet das Modell des Interface, wenn es als Schnittstelle zwischen Erreger und Resonanzkörper definiert wird, hervorragende Möglichkeiten, einen zentralen Aspekt der aktuellen Auseinandersetzung mit historischen Spieltechniken und Musikinstrumenten zu beschreiben. Nach der jüngsten Debatte um den Authentizitätsanspruch der historisch-orientierten Musikpraxis, die Zweifel an deren Legitimation formuliert und philosophisch untermauert hatte,1 herrscht große Unsicherheit über den Sinn des Musizierens auf historischen Musikinstrumenten. Diese Debatte um authenticity und composer’s intention schärfte den Blick für Informationslücken und unreflektierte Vorurteile innerhalb der historischorientierten Interpretationspraxis. Im Bereich der Streicherpraxis stellte sich heraus, dass gerade bei denjenigen Elementen, die einen besonders großen Einfluss auf das Klangergebnis haben, die Forschungslücken am größten waren.2 Während nämlich hinreichend bekannt ist, wie beispielsweise der Resonanzkörper einer Violine in den vergangenen Jahrhunderten aufgebaut und mit welchen Monturteilen er jeweils ausgestattet war, fehlten verlässliche Informationen über die Beschaffenheit der Saiten und des Bogens, obwohl diese für die Erzeugung und Gestaltung des Klangs maßgeblich verantwortlich sind, während der Reso1. Zusammenfassend vgl. John Butt: Playing with History: the historical approach to musical performance, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2002; Bruce Haynes: The End of Early Music: A Period Performer’s History of Music, Oxford: Oxford University Press 2007. 2. Vgl. Kai Köpp: »Information und Interpretation. Warum der Alte-MusikMarkt nicht auf Quellenforschung verzichten kann«, in: Peter Reidemeister/Dagmar Hoffmann-Axthelm (Hg.), Alte Musik zwischen Geschichte und Geschäft (Basler Jahrbuch zur historischen Musikpraxis Vol. 27), Winterthur: Amadeus 2004, S. 101-104.
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nanzkörper nur eine untergeordnete Rolle spielt. Diese Abhängigkeit kann durch ein Diagramm dargestellt werden, das für alle historischen Repertoires Gültigkeit besitzt (s. Abb. 1). Wird dieses Diagramm mit Informationen zu den verschiedenen Repertoires gefüllt, zeigt sich, dass gerade die Bögen besonders sensibel auf wechselnde historische Stile reagieren, während die Violine und ihre Monturteile, um bei diesem Beispiel zu bleiben, sich viel langsamer verändern. Daher sind es gerade historische Streichbögen, deren Spieleigenschaften konkrete Informationen über das Klangbild des zugehörigen Repertoires bereithalten. Damit kann der Bogen treffend als Interface definiert werden, und dieser Blickwinkel erweist sich als äußerst fruchtbar für eine weiter gehende Erforschung historischer Streichbögen. Die folgenden Thesen zu historischen Streichbögen wurden im Rahmen des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper aufgestellt und verfolgt, von denen die dritte und vierte eigenständige Forschungsergebnisse darstellen: • Die Entwicklung der Streichbögen in den letzten 300 Jahren ist keine Entwicklung hin zu mehr Funktionalität. Jedes Repertoire verwendete ein bestimmtes Bogenmodell, das den spielpraktischen und stilistischen Anforderungen besonders gut angepasst war. Daher können original erhaltene Bögen über spieltechnische Details ihrer Verwendungszeit Auskunft geben. • Dank ihrer klangbestimmenden Funktion reagieren die Bögen am schnellsten auf wechselnde Stile, während sich die Einrichtung der Resonanzkörper nur unwesentlich verändert. Aufgrund ihrer einfachen Konstruktion konnten Bögen jedoch zumeist nicht modernisiert werden. Original erhaltene Exemplare sind daher sehr rar, denn als obsoletes Zubehör wurden altmodische Bögen in der Regel nicht auf bewahrt. • In den Spieleigenschaften originaler Bögen materialisiert sich eine repertoirespezifische Klangästhetik. Neben den bekannten, stilistisch abgegrenzten Charakteristika der französischen und italienischen Streicherpraxis kann eine dritte Traditionslinie beschrieben werden, die bereits im 17. Jahrhundert unter süddeutschen Kunstgeigern wie Schmelzer und Biber verbreitet war und sich später vor allem im Repertoire der Wiener Klassik als stilbildend und exportfähig erwies. Diese dritte Traditionslinie ist bisher nicht als solche identifiziert worden und wird erstmals anhand der Quellen zur Streicherpraxis vorgestellt. • Der Bogen ist nicht nur als Schnittstelle in Bezug auf die Tongestaltung eines einzelnen Streichinstrumentes zu verstehen, er ist auch eine wesentliche Schnittstelle in Bezug auf den Klang eines Orchesters. Im 18. und 19. Jahrhundert, als das Orchester durch den geigespielenden Konzertmeister (Violindirektor) geleitet wurde, sind dessen Bogenbewegungen mit Direktionsbewegungen gleichgesetzt worden. Damit können nicht nur die klangerzeugenden Eigenschaften des Bogens, sondern auch dessen weithin sichtbare Auf- und Abbewegungen als ein Interface in Bezug auf das Orchesterspiel beschrieben werden. Bis heute dienen die Bewegungen, die der Konzertmeister mit seinem Bogen ausführt, als Orientierungspunkt für die Orchestermusiker, obwohl die Direktionsfunktion längst auf einen taktierenden Dirigenten übertragen ist. Die Elemente 148
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Kontaktstelle, Bogendruck und Bogengeschwindigkeit enthalten nämlich für jeden Streicher optisch übertragbare Informationen über die genaue Art und Qualität der Tonerzeugung und die rhythmische Struktur eines Musikstücks. Abbildung 1: Der Bogen im Klang der Streichinstrumente.
1. Zur Konstruktion : Bögen mit Steckfrosch-, Cremaillère- und Schraubmechanik In der Konstruktion von Streichbögen lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien unterscheiden: Bei der ersten und ältesten wird der Haarbezug an beiden Enden der Bogenstange befestigt und durch ein keilförmiges Holzstück, dem so genannten Frosch, von der Stange abgespreizt, wodurch die Bogenstange eine Biegung erhält und der Bogen gespannt wird. Diese Konstruktion wird als Steckfroschbogen bezeichnet. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts war noch ein älterer Typ des Steckfroschbogens gebräuchlich, bei dem das obere Haarende nicht in das Holz eingelassen, sondern – wie bei einem Schießbogen – um die Spitze gebunden und mit einer gedrechselten Kappe geschützt wurde. Beim zweiten Konstruktionsprinzip ist der Haarbezug nur an der Spitze der Bogenstange befestigt, während das andere Ende im Frosch verankert wird. Um den Bogen zu spannen, muss der Frosch mit der Stange verbunden werden. Dies geschieht bereits im 17. Jahrhundert durch eine Drahtschlinge, die um die Bogenstange herum geführt ist und auf dessen Rückseite in eine Zahnleiste einrastet, die der Konstruktion den Namen Cremaillère-Mecha149
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nik gab. Dadurch, dass die Zähne hintereinander angeordnet sind, kann die Spannung des Bogens variiert werden. Um 1725 tritt erstmals das bis heute gebräuchliche Konstruktionsprinzip mit beweglichem Frosch auf. Dabei wird der Frosch an einer Schraube befestigt, die in das untere Ende der Bogenstange eingelassen ist und eine stufenlose Veränderung der Bogenspannung erlaubt. Obwohl diese Schraubmechanik heute selbstverständlich erscheint, dauerte es überraschend lange, bis sie sich gegen die traditionellen Konstruktionen durchsetzen konnte. Abbildung 2: Mechanik des Steckfroschbogens.
Anders als beim Konstruktionsprinzip mit Cremaillère- oder Schraubmechanik blieb die Bogenspannung innerhalb der Steckfroschkonstruktion unverändert. Zugleich bestand aber die Gefahr, dass die Spannung der Haare nachließ, wenn etwa die Luftfeuchtigkeit in einem Raum stark anstieg, etwa bei der Tafel- oder Tanzmusik. In diesem Fall passierte es häufig, dass der eingekeilte Steckfrosch aus seiner Verankerung sprang (daher wahrscheinlich die Bezeichnung Frosch). Aus dieser Konstruktion geht hervor, dass der Steckfroschbogen stets relativ stark angespannt sein musste, um die Stabilität nicht zu gefährden. Zudem musste auch der Haarbezug relativ dünn sein, damit er auf der rauen Oberfläche der (historischen) Saite keine Nebengeräusche verursachte. Allerdings konnte auch ein Steckfroschbogen bei steigender Luftfeuchtigkeit nachgespannt werden, etwa indem zusätzliches Material (z.B. ein kurzes Saitenstück) zwischen Frosch und Haaransatz eingeklemmt wurde, und diese einfache Lösung besitzt sogar deutliche Vorteile gegenüber einer störanfälligen Mechanik. Bei Versuchen mit historischen Bogenstangen, die wahlweise als Steckfrosch- und Schraubbogen verwendet werden können (etwa aufgrund nachträglich zugefügter ›Modernisierungen‹), war ein klanglicher Unterschied zwischen beiden Konstruktionsformen deutlich erkennbar. Bei der Spannung des Haarbezugs durch eine Steckfroschmechanik wurden die Spieleigenschaften mit »präzise Ansprache, Tonklarheit und Eigenleben des Bogens« beschrieben. Durch die Umsattelung auf eine Schraubfrosch-Mechanik dagegen reduzierten sich gerade diese Eigenschaften des Bogens, während sich die »Biegsamkeit des Tons« verbesserte und sich ein Klang von »bedeckter Milde« einstellte.3 Ursachen dafür liegen offensichtlich in der Konstruktion selbst: Der Steckfroschbogen ist ein geschlossenes System aus Bogenholz 3. Hans Reiners: »Barockbögen«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Stuttgart: 2000, S. 289-309.
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und Haar mit charakteristischer Eigenschwingung, bei dem der Frosch (wie auch beim Cremaillère-Bogen) gegen die Bogenstange gedrückt wird. Beim Schraubbogen dagegen ist die untere Verbindung zwischen Bogenholz und Haar durch die Mechanik unterbrochen, und der Frosch wird im gespannten Zustand von der Bogenstange weggezogen. 4
2. Zur Datierung or iginaler Bögen Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren Streichbögen in der Regel mit der bewährten Steckfroschmechanik ausgestattet. Da auch Leopold Mozart in seiner berühmten Violinschule von 1756 ausschließlich kurze Steckfroschbögen abbildet, sollte es nicht überraschen, dass der früheste zweifelsfrei datierbare Geigenbogen mit einer originalen Schraubmechanik äußerlich noch wie ein Steckfroschbogen aussieht. Bei diesem stark dekorierten Exemplar aus dem Jahr 1749 sind die Haare nämlich ganz um den Frosch herumgeführt und an seiner Innenfläche eingelassen, so dass die Froschferse von dem für Steckfroschbögen charakteristischen Haarband bedeckt ist.5 Da die Schraubmechanik nachträglich von einem spezialisierten Metallhandwerker in den Bogen montiert werden musste, blieb sie noch lange Zeit eine Ausnahme.6 Das archaische Prinzip des Steckfroschbogens war so erfolgreich, dass entsprechende Exemplare noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts etwa von den Ripienisten der Mannheimer beziehungsweise Münchner Hof kapelle verwendet wurden.7 Auch im Inventar der Weimarer Hof kapelle ist von 1800-1809 nur die Hälfte der 32 in Gebrauch befindlichen Bögen mit einer Schraubmechanik ausgestattet.8 Nach dieser Zeit dürften Steckfroschbögen 4. Ebd., S. 289-309. R. empfiehlt einen unter Bogenmachern häufig angewandten Test: »Der Zeigefinger einer Hand wird zwischen Haaren und Stange vor den Frosch gesteckt, so dass der gespannte Bogen dicht am Ohr frei daran hängt. Ein Finger der anderen Hand klopft die Stange entlang. Beim Steckfroschbogen erklingt ein klarer Ton, insbesondere wenn der Bezug nicht zu dick ist; der Schraubfroschbogen lässt hauptsächlich das Rauschen der Bogenhaare hören, weil der Frosch kräftig von der Stange fortgezogen wird und nur das vorderste Ende des Frosches wirklich mit der Stange in Berührung ist«. 5. Vgl. Rudolf Hopfner: Streichbogen. Katalog; Sammlung alter Musikinstrumente und Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Tutzing: Schneider 1998, S. 67. 6. In Paris wird 1747 im Inventar einer Geigenwerkstatt zum ersten Mal ein Bogen mit einer Schraube verzeichnet. Vgl. Florence Gétreau: »Französische Bögen im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Michaelsteiner Konferenzberichte Bd. 54, Der Streichbogen: Entwicklung, Herstellung, Funktion, Michaelstein: Stiftung Kloster Michaelstein 1998, S. 31. 7. Vgl. Silvia Maria Rieder: »L’Archet L’Ame de l’Instrument: der Geigenbogen im späten 17. u. frühen 18. Jh.«, Diss. Berlin: Humboldt-Universität 1999, S. 84f. und 105f. 8. Vgl. Herbert Heyde: »Über die Streichinstrumente der Weimarer Hofkapelle
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in der professionellen Praxis allerdings kaum noch eine Rolle gespielt haben und wurden als nutzloses Zubehör nicht weiter auf bewahrt. Nur wenige Steckfroschbögen blieben durch einen Zufall erhalten oder sind nachträglich mit einer Schraubmechanik versehen und damit ausnahmsweise modernisiert worden. Erst als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Herstellung von Schrauben auf industrieller Basis möglich war und die Berufsgrenzen zwischen den Zünften durchlässiger wurden, konnten Schraubbögen in größerer Zahl angeboten werden. Demgegenüber waren Steckfroschbögen sehr preiswert herzustellen und wurden bei Beschädigung bedenkenlos ersetzt. Dies ist auch der Grund dafür, warum nur sehr wenige Exemplare erhalten sind und warum ihre Datierung bislang sehr lückenhaft und unsicher war. In Museen und Sammlungen fanden häufig solche Exemplare Eingang, denen man aufgrund ihrer äußerlichen Dekoration oder vielleicht der Bedeutung ihres ehemaligen Besitzers einen besonderen Wert zuschrieb. In der Regel waren dies nicht solche Bögen, die als Gebrauchsgegenstände bezeichnet werden könnten, so dass über Streichbögen, die im Musikalltag verwendet wurden, kaum Informationen erhalten sind. Da Schraubfroschbögen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in größerer Zahl in Museen und Sammlungen vertreten sind als Steckfroschbögen, nahm man lange an, dass sich die Schraubmechanik spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt habe. Daher werden erhaltene Steckfroschbögen bis heute in der Regel zu früh datiert. Ikonographische und archivalische Quellen belegen aber, dass es bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dauerte, bis die traditionellen Steckfroschbögen vollständig von der Schraubmechanik verdrängt wurden. Ebenso ist die irrtümliche Ansicht verbreitet, dass nach der Entwicklung des modernen Bogenmodells durch François Tourte im nachrevolutionären Paris alle anderen Bogenmodelle verschwunden seien. Heute ist bekannt, dass selbst in London, wo Tourtes Modell schneller als auf dem europäischen Kontinent akzeptiert wurde, noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konservative Bogenmodelle gebaut und verkauft worden sind. Möglich wurden diese differenzierten Erkenntnisse zur Datierung erhaltener Originalbögen durch neue methodische Ansätze. Im vergangenen Jahrzehnt wurden neue ikonographische und archivalische (vor allem wirtschaftshistorische) Quellen zur Datierung und Lokalisierung von Bögen erschlossen. Dazu gehört die systematische Untersuchung von Orgelgehäusen, deren Entstehung zumeist genau datierbar ist, denn sehr häufig wurden etwa bei musizierenden Putten originale Bögen als Dekorationselemente eingesetzt.9 Wertvolle Fixpunkte liefern außerdem die Inventare Pariser, Londoner im 18. Jahrhundert«, in: Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts, Vol. 29, Michaelstein: Kultur- und Forschungsstätte 1986, S. 42. 9. Vgl. Sylvia Rieder: »Als plastisches Dekor zweckentfremdete Musikinstrumente – eine Möglichkeit zur regionalen und zeitlichen Einordnung verschiedener Bogentypen?«, in: Michaelsteiner Konferenzberichte Bd. 54 (s. Anm. 6), S. 47ff.
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und Wiener Geigenbauwerkstätten. Aber auch die Absatzzahlen der Markneukirchner und Mittenwalder Bogenproduktion im 18. und 19. Jahrhundert belegen die Verwendung und Verbreitung bestimmter Bogenmodelle.10 Ebenso wie die Datierung ist auch die Zuordnung zahlreicher Museumsbögen zu einem bestimmten Repertoire heute revisionsbedürftig. Aus diesem Grund werden die bislang erhältlichen Reproduktionen sogar unter spezialisierten Musikern – mangels zutreffender Information – nur selten für das adäquate Repertoire verwendet.
3. Histor ische Bogenmodelle Unabhängig von ihrer Konstruktion mit Steck- oder später mit Schraubfrosch lassen sich zahlreiche historische Bogenmodelle unterscheiden, die jeweils charakteristische Spieleigenschaften besitzen. Dank ihrer klang bestimmenden Funktion passen sich Streichbögen schneller und sensibler den wechselnden Musikauffassungen und Stilen an als die Resonanzkörper mit ihren Monturteilen. Die Entwicklung dieser Bogenmodelle sollte jedoch nicht als eine Entwicklung hin zu mehr Funktionalität missverstanden werden. Vielmehr verwendete jeder historische Musiker das Bogenmodell, das seinem Repertoire am angemessensten war. Aus diesem Grund können original erhaltene Bögen über spieltechnische Details ihrer Verwendungszeit Auskunft geben, sofern sie zuverlässig datierbar und lokalisierbar sind. Aus dem gleichen Grund werden aber für heutige Musiker zahlreiche Barockbögen hergestellt, die nur äußerlich einem historischen Bogenmodell nahe kommen, die sich aber in ihren Spieleigenschaften deutlich am modernen Bogen und den für heutige Musiker vertrauten Spielgewohnheiten orientieren. Auch wenn die Entwicklung des Bogens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nicht geradlinig verlaufen ist, lassen sich doch Grundzüge erkennen, die wichtige Orientierungspunkte bei der Einordnung eines historischen Bogenmodells bieten. Um das jeweilige Modell zu beschreiben, werden seine äußeren Eigenschaften gesondert untersucht, obwohl sie selbstverständlich aufeinander bezogen sind und sich ergänzen: • Material und Länge der Bogenstange • Gesamtgewicht • Schwerpunkt (Form und Masse von Kopf bzw. Frosch) • Stärke des Haarbezugs • Abstand Haar – Bogenstange an Frosch und Spitze • Stärke der Biegung in entspanntem Zustand • Biegung der spielfertigen Bogenstange • Dekorationselemente
10. Vgl. zusammenfassend Florence Gétreau: »Französische Bögen im 17. und 18. Jahrhundert. Dokumente und ikonographische Quellen«, in: ebd., S. 31; sowie Joseph Focht: »Quellen zum süddeutschen Bogenbau an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert«, in: ebd., S. 39f.
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Wie im Fall des Schiessbogens, der auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblickt, muss auch das Holz der Bogenstange besonders elastisch und dicht sein. Zunächst dominieren im Bogenbau einheimische Hölzer wie Buche, Eibe oder Lärche. Als tropisches Holz wird in der Regel das so genannte Schlangenholz mit seinen vielen botanischen Unterarten verwendet, das besonders schwer und dicht ausfällt und als Ballastmaterial von Handelsschiffen eingesetzt wurde. Das nach seinem brasilianischen Herkunftsland Fernambuk genannte Tropenholz wird erst seit etwa 1800 regelmäßig für die besten Bögen verwendet, obwohl es auch schon früher vereinzelt Anwendung fand. Länge und Gesamtgewicht nehmen im Verlauf der Jahrhunderte zu, obwohl viele Schwankungen zwischen Modellen und ihren Repertoires festzustellen sind. Auch der Schwerpunkt des Bogens wandert, jedoch nicht linear: Zunächst befindet er sich deutlich unterhalb der Mitte, in der Nähe der Bogenhand; bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wandert er bis oberhalb der Mitte und pendelt sich mit der Entwicklung des modernen Bogens wieder etwas unterhalb der Mitte ein. Ausschlaggebend dafür sind die Form und damit auch die Masse von Kopf und Frosch, die auch den Abstand zwischen Haar und Bogenstange bestimmen. Abbildung 3: Historische Streichbögen.
1. 2. 3. 4. 5.
Steckfroschbogen mit Hechtkopf, Salzburg um 1690 (Kopie) Steckfroschbogen von C. Stadler, München 1714, mit Hechtkopf (Kopie) Schraubbogen mit abgesenktem Hechtkopf, Frankreich um 1740 Steckfroschbogen mit Schwanenkopf für Violoncello, Italien um 1750 Schraubbogen im Cramer-Stil mit Hammerkopf, Deutschland um 1780 (Kopie) 6. Schraubbogen mit Schwanenhals im Galeazzi-Stil, England um 1800 7. Tourte-Modell mit Beilkopf (ohne Metall) von N. Maire, Mirecourt um 1820 8. Tourte-Modell (mit Metallbeschlägen) von L. Bausch, Dessau um 1840 154
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Frühe Bögen besitzen einen kleinen, sehr niedrigen Kopf, der einem spitzen Schuh gleicht und Hechtkopf genannt wird (s. Abb. 3, Bogen Nr. 1 und 2). Der Haarabstand am Kopf ist sehr gering und muss daher am Frosch umso größer sein. Wegen der Höhe und dem Gewicht des Frosches befi ndet sich der Schwerpunkt deutlich unterhalb der Mitte und führt dazu, dass mit solchen Bögen der größte Teil der Musik in der unteren Hälfte artikuliert wird, während nur Bindungen und lange Töne (Elemente des Gesangsstils) in die Nähe der Spitze führen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich der Kopf als so genannter Schwanenkopf deutlich von der Bogenstange abgesetzt, und besonders italienische Modelle besitzen eine elegant ausgeschwungene Spitze. Dadurch wird das Spiel in der oberen Bogenhälfte, die gesanglichen Qualitäten des Bogens, begünstigt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts streckt sich der Hals des Schwanenkopfes so weit nach unten, dass die Distanz am Kopf annähernd gleich groß ist wie am Frosch (s. Abb. 3, Bogen Nr. 4). Dadurch wird der spieltechnische Unterschied zwischen Auf- und Abstrich minimiert, und der Schwerpunkt liegt etwa in der Mitte des Bogens. Zugleich ist die Bogenstange in gespanntem Zustand fast parallel zum Haarbezug. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird die Masse an der Spitze vergrößert, indem der so genannte Hammerkopf ein nach außen und innen ausgebogenes Profi l erhält (s. Abb. 3, Bogen Nr. 5). Dieses Modell entspricht dem Cramer-Bogen, der um 1780 durch den Mannheimer Virtuosen Wilhelm Cramer in Paris eingeführt worden ist. Da zu diesem speziellen Modell auch ein charakteristischer, fein ausgeschnittener Frosch mit geringer Masse gehört, befindet sich der Schwerpunkt sogar oberhalb der Mitte. Auch bei diesem sehr leichten Bogen, der reaktionsschnelles Spiel und springende Bogentechniken begünstigt, ist die gespannte Stange fast gerade, und dieses Merkmal setzt sich nach 1800 fort bei den so genannten modernen Bögen, die François Tourte seit 1790 in Paris entwickelt hat. Bei seinen Bögen ist der Hammerkopf einer geraden Beil-Form gewichen, so dass das Übergewicht an der Spitze reduziert wird (s. Abb. 3, Bogen Nr. 7 und 8). Zugleich wird der Frosch massiver und zum weiteren Gewichtsausgleich mit Dekorationen aus Metall versehen (auch an der Schraube), damit der Schwerpunkt wieder etwas unterhalb der Mitte zu liegen kommt. Auch die Bogenstange wird kräftiger und kann dadurch in entspanntem Zustand stärker eingebogen sein, so dass der Haarabstand an Frosch und Spitze ebenfalls verringert werden kann. Der Tourte-Bogen erzeugt dadurch einen kräftigeren und gesanglicheren Ton als der CramerBogen. In diesem Stadium der allgemeinen Entwicklung besitzt der Bogen immer noch einen relativ dünnen Haarbezug, den Spohr 1833 bei seinem eigenen Tourte-Bogen mit 100-120 Haaren angibt, während beim barocken Bogen noch 60-80 Haare ausreichend waren (heute werden moderne Bögen mit 170200 Haaren bezogen). Ausschlaggebend für die Spieleigenschaften ist neben der Balance von Gewicht und Haarabstand vor allem die Biegung der Bogenstange, deren Verlauf und Herstellung als Geheimnis der Bogenmacherzunft behandelt wird, denn sie wirkt sich ähnlich stark auf das Spielgefühl aus wie
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das Verhältnis von Stimme und Steg bei den Streichinstrumenten.11 Im historischen Ablauf nimmt die Biegung der entspannten Stange immer mehr zu, wobei die Biegung sich gegenläufig im gespannten Zustand von konvex über gerade nach konkav entwickelt. Anhand der typischen Kopf- und Froschformen und ihrer Dekorationselemente sind historische Bögen relativ gut zu lokalisieren, so dass der Bogenforscher Bernard Gaudfroy für die Zeit 1770-1790 ein französisches, italienisches und deutsches Modell unterscheiden kann.12 Die dekorativen Rillen in der Bogenstange, die Kannelierung, treten als gewichtverringerndes Dekorationselement erst nach 1740 in Erscheinung.13 Die stark verzierten Bögen des Cramer-Typs aus der Werkstatt von Leonard Tourte, die um 1785 sogar mit Gold verziert und von reichen Dilettanten in ihrem »Concert de la Loge Olympique« für Orchesterkonzerte verwendet worden waren, kamen bald nach der Revolution aus der Mode.14 In diesem Sinne kann die Vereinfachung der dekorativen Formen am Bogen durch François Tourte (»Tourte le jeune«) auch als ein Einfluss französischer Revolutions-Ästhetik verstanden werden, der sich bis heute erhalten hat. Im folgenden Abschnitt werden die Spieleigenschaften der historischen Bogenmodelle kurz umrissen und mit zugehörigen Repertoires in Verbindung gebracht.15 Die zitierten Quellen zu Tonerzeugung der Streichinstrumente sollen die besonderen Anforderungen der jeweiligen Repertoires auf den Punkt bringen. Zu diesem Zwecke werden besonders solche Texte vorgestellt, die Unterschiede zwischen gleichzeitig existierenden Spielweisen und Klangvorstellungen zur Sprache bringen.
4. Bogenmodelle und ihre Reper toires um 1690 Die wenigen erhaltenen Steckfroschbögen aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine leichte Bauweise und geringe Gewicht aus. Aufgrund ihrer Konstruktion ist ihr schmaler Haarbezug relativ stark gespannt, und die kleine, schuhförmige Spitze hat zur Folge, dass sich der Schwerpunkt des Bogens recht nahe beim Steckfrosch befindet. Dadurch haben Töne, die an der Spitze des Bogens gespielt werden, eine leichtere Klang11. Vgl. Anke Gerbeth: »Die Biegung des Streichbogens – Das Geheimnis der Spieleigenschaften?«, www.gerbeth.at/Fachartikel_Biegung.htm von Februar 2008. 12. Vgl. Bernard Gaudfroy: »Histoire de l’archet en France au dix-huitième siècle«, in: Bernard Millant/Jean François Raffin (Hg.), L’archet, Paris: L’Archet Editions 2000, Bd. 1, S. 109, S. 119, S. 198. 13. Vgl. F. Gétreau: »Französische Bögen im 17. und 18. Jahrhundert« (s. Anm. 6), S. 31. 14. Vgl. B. Gaudfroy: »Histoire de l’archet en France au dix-huitième siècle« (s. Anm. 12), S. 141. 15. Auf Notenbeispiele zu den Musikstücken, die während der Präsentation mit den zugehörigen Bogenmodellen gespielt wurden, muss in der schriftlichen Fassung verzichtet werden.
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eigenschaft als solche, die in der Nähe des Frosches gespielt werden, wo – auch aufgrund des Bogenarms – der Ton ein natürliches Gewicht erhält. Aus diesem natürlichen Bewegungsablauf wurde in Frankreich die so genannte Abstrichregel entwickelt, nach der die ungeraden oder ›guten‹ Teile eines metrisch zergliederten Taktes im Abstrich gespielt werden sollen, während die geradezahligen oder ›schlechten‹ Taktteile im Aufstrich zu organisieren sind. In einem 1690 geschriebenen Traktat fordert der weißenfelsische Orchesterleiter Johann Beer, dass man für eine gute Ensemblewirkung »Instrumentisten von gleichem Striche bestelle. […] Wenn dieser Violinist submiss, der andre aber drein streichet/wie er einen Laib Brod entzwey schnitte/so wird diese Ungleichheit/so künstlich auch jeder seiner Art nach zu loben ist/mehr Verdruss erwecken/als ich hier beschreiben kann«.16 Mit seiner Charakterisierung unterschiedlicher Bogenführung spielt Beer auf die französische und die süddeutsche Spielweise an, die bereits 1683 am Ansbacher Hof zu einem Konflikt geführt hatten. Dort war nämlich der in Paris ausgebildete Orchesterleiter Johann Sigismund Kusser (Cousser) beauftragt worden, mit der Hofkapelle ein »Exercitium in der Französischen Manier« durchzuführen, gegen das sich ein in Wien ausgebildeter Hofgeiger heftig zur Wehr setzte. Der Vertreter der Wiener Geigenschule um Johann Heinrich Schmelzer argumentierte, der französische »ganz kurze Strich« verderbe ihm die Ausführung seines Solorepertoires.17 Nach den Angaben Georg Muffat, der in seinem »Florilegium secundum« von 1698 die Spielweise der französischen Berufsmusiker beschreibt, führen alle »guten Geiger den Bogen-Zug je länger, stäter, gleicher und lieblicher, je löblicher«.18 Um sich gegen den damals verbreiteten Vorwurf zu verteidigen, die kraftvollen französischen Bogenstriche seien rau und unangenehm anzuhören, betont Muffat: »Es bestehet aber der Lullisten meiste Geschickligkeit in diesem, daß bey so oft wiederholtem Abzug [Abstriche infolge der AbstrichRegel] nichts unangenehmbes gespürt werde, sondern daß dem langen Zug die fertige Hurtigkeit […] wundersamb beygefüget werde.«19 Über die Intensität des Bogenkontakts schreibt er: »Letztlich wird auch das Gehör verletzt, so off t man nicht sattsamb die Seiten andruckt, wo von dann ein widerwärtiges Gescharr entstehet.«20 Muffat lobt nicht nur den französischen Strich, er bezeichnet zugleich den »submissen« Strich der Schmelzer/Biber-Schule 16. Johann Beer: Musicalische Discurse [1690], Reprint der Ausg. Nürnberg 1719, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1982, S. 10. 17. Curt Sachs: »Die Ansbacher Hofkapelle unter Markgraf Johann Friedrich: 1672-1686«, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft Jg. 11 (1909/1910), Leipzig: Breitkopf & Härtel, S. 131f. 18. Georg Muffat: Florilegium Secundum, Passau 1698, zitiert nach: Walter Kolneder (Hg.), Georg Muffat zur Aufführungspraxis, Strasbourg, Baden-Baden: Heitz 1970, S. 56. 19. Vgl. ebd., S. 66. 20. Ebd., S. 54. Die französische Version des Textes erscheint noch klarer formuliert.
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als »widerwärtiges Gescharr«. Auff ällig ist in diesem Zusammenhang, dass die zwei Salzburger Steckfroschbögen aus der Zeit Bibers (Museum Carolino Augusteum, Inv. E 1/7+8) mit nur ca. 26 Gramm ein federleichtes Gewicht besitzen, das von französischen Geigenbögen dieser Zeit regelmäßig übertroffen wird. Noch schwerer und länger waren diejenigen Steckfroschbögen, die italienische Geigensolisten im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts verwendeten. Über den neapolitanischen Virtuosen Nicola Matteis, der um 1670 nach London gekommen war, schreibt der Augenzeuge Roger North in seinen Erinnerungen von 1726: »Matteis was a very tall and large bodyed man, used a very long bow [&] rested his instrument against his short ribbs. […] He taught ye English to hold ye bow by ye wood only & not to touch ye hair which was no small reformation.«21 »His manner was singular, but in one respect excelled all that had bin knowne before in England, which was the ›arcata‹ [lange Bogenstriche mit zahlreichen Tönen]; his ›stoccatas, tremolos, devisions‹, and indeed his whole manner was surprising, and every stroke of his was a mouthfull.«22
Während die Engländer an die kraftvollen, aber kurzen Bogenstriche der Franzosen gewöhnt waren, wurden sie von den italienischen arcate beeindruckt, lang gezogenen Melismen unter einem Bogen, die nur mit einem besonders langen Bogen ausgeführt werden konnten. Zudem wurde der italienische Bogen nicht – wie im damaligen Europa generell üblich – mit dem Daumen unter dem Frosch quasi in der offenen Faust gehalten, sondern mit dem Daumen unter der Bogenstange. Dieser damals neuartige Bogengriff, der bis heute angewandt wird, trägt auch zu einer völlig veränderten Tongebung bei. Die Hebelwirkung zwischen Daumen und Zeigefi nger nämlich, die bei dem traditionellen Bogengriff (auch bekannt als französischer Bogengriff ) zu charakteristischen Akzenten führt, ist beim italienischen Griff stark verringert, und der Verlust an Klangenergie muss mit Bogengeschwindigkeit und Bogenkontakt ausgeglichen werden.
5. Bogenmodelle und ihre Reper toires um 1740 Noch zwei Generationen nach Johann Beer waren die Strichgewohnheiten der nationalen Geigenschulen so unterschiedlich ausgeprägt, dass in einem Orchester nicht selten »einige nur nach italiänischem, andere nur nach französischem Geschmacke, andere außer diesen beyden Arten spielten«, wie Johann Joachim Quantz in seinem berühmten »Versuch« von 1752 bemän-
21. Roger North: »The Musicall Grammarian 1728«, in: John Wilson (Hg.), Roger North on Music, London: Novello & Co. 1959, S. 309 und Anm. 63. 22. Ebd, S. 355.
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gelt.23 Bemerkenswert ist, dass auch Quantz neben der französischen und italienischen Geigenschule noch eine dritte Art der Bogenführung nennt. Für den Orchestermusiker bevorzugt Quantz jedoch den französischen »kurzen Strich«: »Um seine Instrumentisten noch mehr im guten Vortrage fest zu setzen […] thut ein Anführer wohl, wenn er […] öfters Ouvertüren, charakterisirte Stücke, und Tänze, welche markiret, hebend, und entweder mit einem kurzen und leichten, oder mit einem schweren und scharfen Bogenstriche gespielet werden müssen, zur Uebung vornimmt. […] Die Erfahrung beweiset, daß diejenigen, welche unter guten Musikanten=Banden erzogen sind, und viele Zeit zum Tanze gespielet haben, bessere Ripienisten abgeben, als die, welche sich nur allein in der galanten Spielart […] geübet haben […] also thut auch, in einem zahlreichen Orchester, bey dem Accompagnement, das allzu galante Spielen, und ein langer, schleppender, oder sägender Bogen, nicht so gut, als bey einem Solo, oder bey einer kleinen Kammermusik.«24
Über den sägenden Bogenstrich der italienischen Geiger – unverkennbar die von North bewunderten arcata – schreibt Quantz etwas herablassend: »Der Bogenstrich, welcher auf diesem Instrumente, wie der Zungenstoß auf Blasinstrumenten, die Lebhaftigkeit der musikalischen Aussprache wirken muß, dienet ihnen öfters nur, wie der Blasebalk bey einer Sackpfeife, das Instrument auf eine leyernde Art klingend zu machen.« Überdies hielten die italienischen Geiger »es im Allegro für etwas besonders, eine Menge Noten in einem Bogenstriche herzusägen.«25 Aber auch in Frankreich haben die arcata in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Anhänger gefunden. Zu Bogen-Artikulationen auf der Gambe, die bei italienischen Sonaten anders ausfallen als bei französischen Piècen, äußerst sich der Pariser Jurist und Musikliebhaber Hubert le Blanc in seiner Verteidigung der Viola da Gamba von 1740 ganz ähnlich: »Man wird begreifen, daß das Sonatenspiel – bei dem man den Ton wie beim Singen fortspinnen und formen kann wie Tonerde auf einer Drehscheibe – für ein abwechslungsreiches und vornehmes Spiel für geeigneter hält als das Spiel von Piècen mit seinem Tick-Tack. Wie das Ticken einer Uhr klingt nämlich das Spiel mit gehobenem Bogen und das ›tout en l’air‹, das so viel Ähnlichkeit mit dem Zupfen einer Laute oder einer Gitarre hat. Nach deren Vorbild hat Marais d.Ä. seine Piècen geschrieben […]. Der Bogen berührt hierbei die Gambensaiten wie der Springer die Cembalosaite. Dadurch sind die Striche ›einfach‹, nicht ›zusammengesetzt‹ wie die nach italienischer Manier, bei denen der Bogen durch gleichmäßige, miteinander verbundene Auf- und Abstriche ohne wahrnehmbaren Bogenwechsel bis 23. Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen [Berlin 1752], Reprint München: Deutscher Taschenbuch Verlag u.a. 1992, S. 246. 24. Ebd., S. 182. 25. Ebd., S. 312.
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ins Unendliche fortgesetzte Läufe hervorbringt, die nur mit den Rouladen einer Cossoni [Cuzzoni] oder Faustina [Bordoni] zu vergleichen sind.«26
Le Blanc unterscheidet das französische »Spiel mit gehobenem Bogen und das tout en l’air« von der italienischen Manier, die den Gesangskunststücken virtuoser Sängerinnen nahe komme. Auch Leopold Mozart vertritt in seiner Violinschule von 1756 ein italienisches, mannhaftes Klangideal, wie aus seinen zahlreichen Anleihen bei Tartini hervorgeht. Umso mehr hatte er in Salzburg, der ehemaligen Wirkungsstätte Bibers, gegen die nach wie vor lebendige Tradition submisser Bogenstriche zu kämpfen, deren »widerwärtiges Gescharr« er als »Wispeley« bezeichnet: »Denn was kann wohl abgeschmackteres seyn, als wenn man sich nicht getrauet die Geige recht anzugreifen; sondern mit dem Bogen (der oft nur mit zweenen Fingern gehalten wird) die Seyten kaum berühret, und eine so künstliche Hinaufwispelung bis an den Sattel [Steg] der Violin vornimmt, daß man nur da und dort eine Noten zischen höret, folglich nicht weiß, was es sagen will: weil alles lediglich nur einem Träume gleichet (a). Man beziehe also die Geige etwas stärker; man bemühe sich allezeit mit Ernst und mannhaft zu spielen […]. (a) Solche Luftviolinisten sind so verwegen, daß sie die schweresten Stücke aus dem Stegreif weg zu spielen, keinen Anstand nehmen. Denn ihre Wispeley, wenn sie gleich nichts treffen, höret man nicht: Dieß aber heißt bey ihnen angenehm spielen. […] Müssen sie laut und stark spielen; alsdann ist die ganze Kunst auf einmal weg.«27
Bögen für den italienischen Sonatenstil waren länger als die gewöhnlichen französischen Bögen und wurden sicher mit dem bereits von Matteis vorgeführten Bogengriff gespielt. Dabei war auch die Spitze des Bogens stärker ausgeprägt. Durch die Gewichtszunahme verlagerte sich der Schwerpunkt in die Mitte, und die klanglichen Unterschiede zwischen Auf- und Abstrich wurden ausgeglichen, wie es die Orientierung am Gesangsideal nahe legt. Dieses Klangideal verlangte von den so genannten Sonatenbögen, dass sie beim Streichen ruhig auf den Saiten liegen blieben und so für einen gleichmäßigen Bogenkontakt sorgten. Die von süddeutschen Luftviolinisten bevorzugten Bögen dagegen dürften eher nervös und springbereit eingerichtet worden sein und waren mit Sicherheit noch zu Mozarts Zeiten leichter als diejenigen für das italienische Repertoire.
26. Hubert Le Blanc: Défense de la Basse de Viole Contre les Entreprises du Violon Et les Prétentions du Violoncel, Amsterdam 1740, Faksimile-Nachdruck von Karel Lelieveld, Den Haag: Lelieveld 1983, S. 51f. 27. Vgl. Leopold Mozart/Greta Moens-Haenen (Hg): Versuch einer gründlichen Violinschule [Augsburg 1756], Reprint Kassel u.a.: Bärenreiter 1995, S. 101f.
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6. Bogenmodelle und ihre Reper toires um 1780 Dass der am Gesangsideal ausgerichtete Bogentyp noch um 1780 in Berlin bevorzugt wurde, belegt eine Bogenbeschreibung des 23-jährigen Johann Friedrich Reichardt aus dem Jahr 1776, der soeben zum königlich preußischen Hofkapellmeister ernannt wurde: »Der Bogen muß nicht zu leicht seyn, weil er bey erforderlichen starkem Drucke sich überwirft; er muß auch nicht zu schlaf angespannt seyn, weil er alsdann nicht einen hellen Ton aus der Violine zieht, und auch das Holz bey starkem Drucke leicht auf die Saiten kommen könnte; er muß nicht zu wenig Haare haben, weil der Ton dadurch dünne und jung, auch wohl pfeiffend wird; er muß nicht zu viel Haare haben, weil der Ton dadurch gedämpft wird; er muß endlich an beyden Enden ein proportionirliches Gewicht haben, damit er sicher auf den Saiten einhergehe, und der Auf- und Abstrich gleiche Würde haben könne.«28
Aus dieser Beschreibung geht außerdem hervor, dass von dem Berliner Bogen keine springenden Bogentechniken erwartet wurden, denn der relativ schwere Bogen soll »sicher auf den Saiten einhergehen«. Der Weimarer Hofkapellmeister Ernst Wilhelm Wolf – wie Reichardt ein Schwiegersohn des preußischen Konzertmeisters Franz Benda – stellt 1779 fest, dass eine neue Tendenz der Bogenbehandlung die gesangliche Spielmanier der Berliner Schule zu verdrängen beginnt: »Es ist nicht Unerträglichers, als wenn ein Stück, das gesangmässig komponiert ist, von Leuten, die den Gesang aus ihrer Spielmanier verdrungen haben, ausgeübt wird. […] Hingegen können ernsthafte Geiger, ob sie gleich die größte Fertigkeit auf ihrem Instrumente besitzen, jene Gaukeleyen auch nicht so possierlich herausbringen, als blosse Geschwindspieler. Man sieht daraus, daß es zwo Spielmanieren gibt, wovon die, so das Wesen des Gesangs zum Gegenstande hat, die ernsthafte; und jene, wo kein Gesang dabey herrscht, die komische genannt werden kann.«29 »Da, wo alle Noten possierlich, und, nach jetziger Mode, abgestoßen oder abgezwickt werden, zeichnet man niedrigen; durch schönen, gesangmässigen Vortrag aber hohen Karakter.«30
In seiner Ablehnung der modischen »Geschwindspieler« mit ihren »possierlich abgestoßenen oder abgezwickten« Noten stimmt Wolf mit Leopold Mozart überein, der am 29. Januar 1778 in einem Brief an seinen Sohn schreibt, er sei »halt kein Liebhaber von den erschreckl:[ichen] geschwindigkeiten wo 28. Vgl. Johann Friedrich Reichardt: Ueber die Pflichten des Ripien-Violinisten, Berlin, Leipzig: George Jacob Decker 1776, S. 88. 29. Anonymus [Ernst Wilhelm Wolf]: Wahrheiten die Musik betreffend, gerade herausgesagt von einem teutschen Biedermann, Frankfurt a.M.: Eichenbergsche Erben 1779, S. 73. 30. Ebd., S. 113.
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man nur kaum mit dem halben tone der Violine alles herausbringen, und so zu sagen mit dem Bogen kaum die Geige berühren und fast in Lüften spielen muß.«31 Der herausragende Exponent dieses von Mozart kritisierten Spielstils war der in Mannheim geborene Geigenvirtuose Wilhelm Cramer, wie Christian Daniel Friedrich Schubart in seinen 1784 verfassten Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst schreibt: »Sein Strich ist ganz original: er führt ihn nicht wie andere Geiger gerade herunter, sondern oben hinweg und nimmt ihn kurz und äußerst fein. Niemand stakirt die Noten mit so ungemeiner Präzision wie Cramer. Er spielt sehr schnell, gefl ügelt, und dies alles ohne Zwang; doch gelingt ihm das Adagio oder vielmehr das Zärtliche und Gefühlvolle am meisten.«32
Als Cramer um 1780 nach Paris kam, wurde sein moderner Spielstil sofort nachgeahmt, und das von ihm verwendete Bogenmodell erhielt den Beinamen à la Cramer (s. Abb. 3). Die Spielweise mit leichtem Bogen, die von Vater Mozart und den Vertretern der mitteldeutschen Hofkultur abgelehnt wurde, war jedoch auch im Umfeld der Wiener Musikpraxis verbreitet, wie die Beobachtungen des Berliner Musikverlegers Friedrich Nicolai bestätigen, der 1781 eine Studienreise nach Wien unternahm:33 »Ein feiner aber doch merklicher Unterschied zwischen dem Wiener und Berliner Vortrage ist beym Andante zu hören. Wenn ein Stück dieser Art an beyden Orten sonst gleich gut, und auch in gleichem Zeitmaaße gespielt wird, so gehet es doch in Wien einen leichter Gang. […] In Dresden wird es hebender gespielt, als in Berlin. In Wien ist der Gang aber noch leichter als in Dresden. Hüpfend würde zuviel gesagt seyn, und würde einen widrigen Nebenbegriff haben, der mir gar nicht im Sinne liegt. […] Die punktirten Noten eines grave werden in Berlin mehr gehalten, und mehr mit gedehntem Bogen gespielt, als in Wien, und empfangen wirklich dadurch auch einen ziemlich veränderten, und wie ich glaube bessern Ausdruck.«34
Den »leichteren Gang« des Wiener Vortragsstils, der sich von den gedehnten Bögen in Berlin unterscheidet, konkretisiert Nicolai in der folgenden Beschreibung als den »gewöhnlichen leichten Bogenstrich« der Wiener Musiker: 31. Wolfgang Amadeus Mozart/Wilhelm A. Bauer u.a.: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen: Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Mozarteum Stiftung Salzburg, Kassel: Bärenreiter 2005, Bd. II, S. 244. 32. Christian Friedrich Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst [verfasst 1784-1785], Wien: Degen 1806, S. 139. 33. Im Hinblick auf die Wiener Praxis sind die Angaben von Clive Brown zu ergänzen: Classical and Romantic Performing Practice 1750-1900, Oxford, New York: Oxford University Press 1999, S. 273ff. 34. Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 4 [Repr. der Ausgabe Berlin/Stettin 1784], Hildesheim: Olms 1994, S. 543.
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»Ich hörte in Wien Haydns und Vanhalls Symphonien beynahe eben so, wie ich sie in Berlin gehört hatte. Im Bogen war der Unterschied am merklichsten, aber nicht so merklich als ich mir vorgestellt hatte. Bey den Stellen wo die Stärke des Bogens kurz gebraucht und abgesetzt wird, welches besonders Haydns Werke auf eine besondere Art erfodern, desgleichen, wo verschiedene tokkirte Noten mit kurzem Bogen nacheinander gespielt werden müssen, merkt man den Unterschied am deutlichsten. Die letztere Art von Noten spielen die Wienerischen Orchester mit einer Gleichheit und Präcision, wozu bis jetzt in Berlin vielleicht noch kein großes Orchester geübt worden ist […]. Hingegen lang gezogene Töne pflegen selten von ganzen Orchestern in Wien so völlig egal gemacht zu werden, als in Berlin, wie ich dieß in der Komödie und auch bey den besten Kirchenmusiken in Wien bemerkt habe. Der gewöhnliche leichte Bogenstrich verursacht dieses.«35
Nicolai hört in Wien auch eine Händel-Auff ührung und bemängelt, dass dessen »pathetische Manier« nicht zur aktuellen Wiener Spielweise »mit leichtem Bogen und übereilten Zeitmaßen« passt: »Ich kann gewiß behaupten, daß ich sie [Händels Werke] sicherlich nicht in der Manier gehört habe, wie sie Händel gedacht hat. Denn da schon bey Händels Lebzeiten ein Mann wie Corelli Händels nachdrückliche Manier im Vortrage nicht ganz fassen konnte; so ist leicht zu erachten, daß bey dem jetzigen Vortrage mit leichtem Bogen und übereilten Zeitmaaßen Händels pathetische Manier wohl selten erreicht wird.«36
Damit ist die neue Erkenntnis hinreichend belegt, dass sich die Wiener Bogentechnik zur Zeit der Wiener Klassik deutlich von der mitteldeutschen Tradition unterschied und ihre Wurzeln in den submissen Bogenstrichen der Wiener Schmelzer-Schule des 17. Jahrhunderts hat. Schnelle Tempi und leicht tokkirte Noten können mit einem gesangsorientierten Bogen, den Reichardt beschreibt, nicht ausgeführt werden. Entsprechend leichter und springfähiger musste das in Wien bevorzugte Bogenmodell beschaffen sein. Dagegen konnten lang gezogene Noten und gedehnte Punktierungen in einem Grave, wie es auch für Händels pathetische Manier charakteristisch war, mit der Berliner Bogentechnik wesentlich wirkungsvoller ausgeführt werden.
7. Bogenmodelle und ihre Reper toires um 1810 Der leichte Cramer-Bogen galt mit seinem verzierten Frosch als ein Sinnbild des musikalischen Ancien Régime in Frankreich. Entsprechend wandten sich die republikanisch gesinnten Geiger, die das nachrevolutionäre Musikleben bestimmten, von diesem Modell ab und bevorzugten das bis heute gebräuchliche Bogenmodell, das François Tourte im Paris (wahrscheinlich in Zusam35. Ebd., S. 542f. 36. Ebd., S. 533.
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menarbeit mit dem italienischen Geiger Giovanni Battista Viotti) in dieser Zeit entwickelt hatte. Obwohl bis heute verwendet, besaßen diese Bögen zu ihrer Entstehungszeit eine weniger starke Biegung, denn im spielbereiten Zustand erschien ihre Bogenstange – ebenso wie beim Cramer-Modell – fast gerade gestreckt. Nahezu alle Bögen dieser Art aus dem frühen 19. Jahrhundert sind später nachgebogen worden, um sie der heutigen Spieltechnik anzupassen. Der berühmte Cellovirtuose Bernhard Romberg, der von 1800 bis 1803 am Pariser Conservatoire unterrichtete, deutet in seiner späten Violoncell-Schule von 1840 an, welche Musikauffassung diesen Wechsel des Bogenmodells auslöste. Springende Bogenstriche, die eine Spezialität des Cramer-Bogens waren, bezeichnet er nämlich als altmodisch: »Ehemals war es der Solostrich sämmtlicher[!] Virtuosen, alle Passagen wurden in dieser Strichart gemacht, die jedoch ein großartiges Spiel nie zulässt; […] jetzt verlangt man mehr Gediegenheit, Seele und Ausdruck in der Musik.«37 Die Klangwelt der Klassik, die in Paris vor allem von Werken der Mannheimer Schule bestimmt war, wurde abgelöst durch mehr Gediegenheit, Seele und Ausdruck im Klang. Dieser Ästhetik entsprach das neue Bogenmodell Tourtes, das durch sein höheres Gewicht einen kräftigen Gesangston zuließ und springende Bogenstriche zu Gunsten eines guten Saitenkontaktes vernachlässigte. Genau diesen Paradigmenwechsel beschreibt auch Michel Woldemar in der ersten Auflage seiner Grande Méthode de Violon, die um 1798 in Paris erschien. Dort bildet er eine Reihe historischer Bogenmodelle ab, die eine Entwicklung zum frühen Tourte-Modell aufzeigen sollen. »Les quattre differents archets sont ceux qui ont été successivement en usage depuis l’origine du violon. Le No 1 représente celui de Corelli très arqué, cout et pointu. il dérive de celui de la Basse de Viole, instrument antérieure au Violon. Le No 2, l’archet de Tartini successeur de Corelli son maitre. il est plus long et plus elevé de tête. Le No 3 est celui de Cramer de Mannheim, il fut adopté dans son temps, par la majorité des Artistes et des Amateurs. Le No 4 nous vient du célèbre Viotti, il diffère peu de celui de Cramer pour la tête, mais la hausse est plus basse et plus raprochée du bouton, il est plus long [!] et porte plus de crin; il se joue un peu détendu et est aujourd’hui presque seul en usage.«38
37. Bernhard Romberg: Violoncell Schule: in zwei Abtheilungen [Berlin 1840], Reprint hg. von Kai Köpp, München u.a.: Musikverlag Katzbichler 2005, S. 109. 38. Michel Woldemar: Grande Méthode ou étude élémentaire pour le violon, Paris: Duc 1798, S. 3.
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Abbildung 4: Woldemar Bogen.
In Woldemars Notenbeispielen »Des differens Stiles de plusieurs Grands Maîtres« (s. Abb. 5) werden die bogentechnischen Spezialitäten des leichten Cramer-Modells vorgeführt und von den Neuerungen Viottis abgegrenzt. Bei den Virtuosen Cramer und Jarnovick herrschen kurze Notenwerte vor, die mit federndem, fast springendem Bogen auszuführen sind. In Beispiel Nr. 10, Takt 13-14 (s. Abb. 6), wird der gesprungene Strich in schnellen Passagen vorgestellt, der eine innovative Spezialität des Cramer-Bogens war. Lolli dagegen repräsentiert die traditionelle italienische Bogentechnik, bei der kurze Notenwerte an der Saite gespielt werden und nur längere Notenwerte mit Staccatozeichen versehen sind, die das aktive Aufheben des Bogens von der Saite erfordern. Die aktuelle Bogentechnik Viottis dagegen kommt fast ohne Staccatozeichen aus, denn ihr Merkmal sind lange Töne und an der Saite gespielte Passagen, die Woldemar als »le grand coup d’archet sincopé à la viotti« bezeichnet (s. Abb. 7).
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Abbildung 5: Woldemar »Des differens Stiles de plusieurs Grands Maîtres«.
Abbildung 6: Woldemar Nr. 10 »à contre coup d’archet«.
Abbildung 7: Woldemar »le gran coup d’archet sincopé à la viotti«.
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Um 1803, als Woldemar eine Übersetzung von Leopold Mozarts Violinschule veröffentlichte, war das Tourte-Modell offenbar allgemein akzeptiert. Auch in dieser Ausgabe lässt Woldemar eine Abfolge von Bogenmodellen abdrucken, die im so genannten Viotti-Bogen ihren Höhepunkt findet, aber während es von diesem 1798 noch hieß »aujourd’hui presque seul en usage«, schreibt Woldemar nun: »5e et dernier Archet celui de Viotti le crin un peu détendu. Ce dernier est seul en usage, il faut que la hausse soit au niveau de la tête«.39 Tatsächlich sind auch in London, wo Viotti sich 1792-1798 aufhielt, sehr früh Bögen nach dem Modell Tourtes gebaut worden, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es anfänglich Viotti selbst war, der diese bei dem Londoner Bogenbauer Dodd bestellte. Aufgrund der Bedeutung des Tourte-Modells bis in die heutige Zeit und wegen der einseitigen Perspektive späterer Geschichtsschreibung herrscht die verbreitete Meinung, dass mit der Perfektionierung des Tourte-Bogens alle älteren oder anderen Bogenmodelle verschwunden seien. Auch wenn dies auf das nachrevolutionäre Paris zutreffen sollte, wie Woldemar bezeugt, so verlief die Entwicklung in anderen Europäischen Musikzentren wie Berlin, Wien oder Mailand anders. Der Rudolstädter Geiger, Orchesterleiter und Musiktheoretiker Heinrich Christoph Koch beschreibt den Streichbogen in seinem Lexikon von 1802 als einen Schraubbogen, dessen Frosch aus einem »zierlich geschnittenen Stückchen Holz oder Elfenbein besteht«. 40 Ganz offensichtlich ist das TourteModell mit seiner schlichten, massigen Froschform aus Ebenholz hier nicht gemeint, eher ein Bogen mit einem verzierten Frosch à la Cramer. Um die Elastizität der Bogenstange zu gewährleisten, empfiehlt auch Koch brasilianisches Fernambukholz und warnt vor zu weichen Stangen: »Bogen von derjenigen Art des Brasilienholzes, dessen Spähne, in Wasser gekocht, eine blaue Farbe geben, haben zu wenig Elasticität, und schwanken zu sehr bey den im Allegro vorkommenden Stricharten. Weil sie jedoch in der Hand des Spielers im Vortrage des Adagio zu schmeicheln scheinen, so muß man Anfänger […] warnen, sich keinen Bogen von dieser Holzart aufhängen [aufschwatzen] zu lassen.«41
Zudem kritisiert Koch die offenbar damals verbreitete Methode, die Qualität eines Bogens nach seinem Gleichgewicht zu beurteilen und bemerkt dabei in einem Nebensatz, dass die Wahl des Bogens davon abhängt, aus welcher Schule ein Geiger stammt: »Ich kann mich nicht überreden, daß die Bogen vieler guter Violinspieler aus verschiedenen Schulen, die ich, längst mißtrauisch auf dieses Erfordernis, mit Fleiß geprüft habe, alle aus bloßem Zufalle unten schwerer als oben gewesen seyn soll39. Michel Woldemar: Méthode de Violon par. L. Mozart […] rédigée par Woldemar, élève de Lolli, Paris: Pleyel ca. 1803, S. 5. 40. Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon, Frankfurt a.M.: bey August Hermann dem Jüngeren 1802, 21817, Reprint hg. von Nicole Schwindt, Kassel u.a.: Bärenreiter 2001, Artikel »Bogen«, Sp. 260. 41. Ebd., Sp. 261, Fußnote.
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ten, sondern ich bin eher geneigt zu glauben, daß ein Bogen, der gerade in der Mitte das Gleichgewicht hält, den mehresten Violin- und Violoncell-Spielern ein merkliches Hinderniß bey dem Tractemente ihrer Instrumente verursachen würde.«42
Auch der römische Geiger, Mathematiker und Orchesterleiter Francesco Galeazzi bestätigt in seinem ausführlichen Violin-Traktat von 1817, dass die Wahl des Bogenmodells von der Schule abhängt, aus der ein Geiger stammt. Wahrscheinlich wussten Koch und Galeazzi, dass der deutsche Cramer-Typ in Paris bereits von einem neuen Bogenmodell abgelöst wurde. Zudem unterschied sich von jeher die Römische von der Lombardischen Geigenschule. Galeazzi bevorzugte die folgende Bogenform, ohne jedoch in seiner Beschreibung eine Schraubmechanik zu erwähnen: »Il più importante di questo pezzo [la Bacchetta] è la sua forma, la lunghezza, e l’equilibrio delle sue parti: la sua forma è varia, secondo le varie scuole; in quanto a me reputo la migliore quella, che cava dall’istromento una voce più eguale, ciò che far non si può, senza compensare la mancanza della forza che ha in puntam con dargli una maggiore distanza dalla bacchetta; vorrei dunque che l’arco fosse stretto, o sia basso di naso, ed alto in punta, il che si ottiene dando un poco di curvatura alla bacchetta verso la punta: un arco così costituto, ha quasi l’istesso forza da capo come da piedi, il che mi pare un considerabilissimo vantaggio. Circa alla lunghezza, la tesa del pelo, o crine di cavallo dovrà essere almeno di pollici Parigini 25,0 del palmo Architettonico Romano once 37.«43 [Das wichtigste bei diesem Bestandteil [Bogenstange] ist seine Form, Länge und Balance. Seine Form ist unterschiedlich, entsprechend der verschiedenen Streicherschulen. Meiner Meinung nach ist die beste Form diejenige, die den gleichmäßigsten Ton aus dem Instrument zieht. Dies kann nicht geschehen, ohne den Mangel an Kraft an der Spitze zu kompensieren, indem dort ein größerer Abstand zur Bogenstange eingehalten wird. Daher würde ich wollen, dass der Bogen gestrafft sei, oder niedrig am Frosch, und hoch an der Spitze, was dadurch erreicht werden kann, indem man der Bogenstange eine kleine Krümmung zur Spitze hin gibt. Ein derart eingerichteter Bogen hat fast die gleiche Kraft an der Spitze wie am Frosch, was mir als ein großer Vorteil erscheint. Was die Länge betrifft, sollte der Bezug aus Pferdehaaren mindestens 25,0 Pariser Pouce (ca. 67 cm) oder 37 Römische Architekten-Unzen (ca. 68,5 cm) betragen.]
Aus Galeazzis Beschreibung könnte geschlossen werden, dass er lediglich die leichte Einbiegung des Holzes an der Bogenspitze beschreibt. Eine konkave Biegung der entspannten Bogenstange ist jedoch zu seiner Zeit bei allen zeitgenössischen Bögen zu finden. Tatsächlich gibt es aber ein Bogenmodell, das Überreste der Schwanenhals-Spitze mit der moderneren Stangenform verbindet (s. Abb. 3, Bogen Nr. 6). Offensichtlich wurde dieses in der Fach42. Ebd., Sp. 262. 43. Francesco Galeazzi: Elementi teorico-pratici di musica con un saggio sopra
l’arte di suonare il violino: tomo primo, Ascoli: Francesco Cardi 1817, S. 72.
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literatur fast unbeachtete Modell von Galeazzi und seiner Römischen Schule bevorzugt. 44
8. Direktionsfunktion der Bogenstr iche : Histor ische Dir igierpraxis Nicht nur in Bezug auf die Tongestaltung eines einzelnen Streichinstrumentes, sondern auch in Bezug auf den Klang eines Orchesters ist der historische Bogen als ein wesentliches Interface zu verstehen. Da ein Bogenstrich, der aus den Elementen Kontaktstelle, Bogendruck und Bogengeschwindigkeit besteht, optisch übertragbare Informationen über die Art und Qualität der Tonerzeugung und zudem das rhythmischen Gerüst der Musik weithin sichtbar anzeigt, lag es nahe, den Geige spielenden Konzertmeister als Orchesterleiter einzusetzen. Dies wird bereits von Johann Joachim Quantz empfohlen, der den Konzertmeister als »Anführer« bezeichnet: »Weil ein geschwindes Stück von allen zugleich, und in einerley Geschwindigkeit angefangen werden muß: so ist es nöthig, daß ein jeder von seiner Stimme den ersten Tact ins Gedächtniß fasse; damit er auf den Anführer sehen, und mit ihn zugleich das Tempo recht ergreifen könne. […] Wer etwas von der Violine versteht, wird sich am besten und sichersten nach des Anführers Bogenstriche richten können.«45
Die Möglichkeiten und Vorteile einer Direktion mit Bogenbewegungen werden am schnellsten durch den Vergleich mit einem Tasteninstrument verständlich. Die Bewegungen des Arms nämlich werden bei der Violine durch den Bogen vergrößert übertragen und sind dadurch im Gegensatz zu einem Tasteninstrument weithin sichtbar. Während sich der Anschlag des Tastenspielers immer nach unten richtet, ist die natürliche Spielbewegung auf der Violine in Auf- und Abstriche unterteilt, die zudem im Regelfall mit den leichten und schweren Taktteilen beziehungsweise mit den ungeraden und geraden Zählzeiten eines Taktes zusammenfallen und sie dadurch weithin sichtbar kennzeichnen. Auf diese Weise wirkt die Bogenbewegung wie eine Schlagfigur, und der Kundige kann sich tatsächlich »am besten und sichersten nach des Anführers Bogenstriche richten«, wie Quantz betont. Dass der Violindirektor bereits früh echte Direktionsentscheidungen wie ein ritardando innerhalb eines Stückes durch Bogenbewegungen anzeigen konnte, wird aus einem Bericht über Quantzens Lehrer, den Dresdner Geiger und Orchesterleiter Johann Georg Pisendel (1687-1755), deutlich:
44. Siehe auch ein spätes Exemplar in der Sammlung Hösch, Auktionshaus Bongartz 19.5.2007, Katalog Nr. 320. 45. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen (s. Anm. 23), S. 258.
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»Um bey dem Anfange des Stücks den Uebrigen die Bewegung recht deutlich und vernehmlich zu machen, hatte Pißhändel die Angewohnheit, bey den ersten Tackten in währendem Spielen die Bewegung mit dem Halse und Kopfe der Violine anzugeben. Waren es 4 Viertel, die den Tackt ausmachten, so bewegte er die Violine einmal unterwärts, dann hinauf, dann zur Seite, und wieder hinauf; waren es 3 Viertel, so bewegte er sie einmal hinunter, dann zur Seite, dann hinauf. Wollte er [Pisendel] das Orchester mitten im Stücke anhalten, so strich er nur die ersten Noten jedes Tackts an, um diesen desto mehr Kraft und Nachdruck geben zu können, und darinnen hielte er zurück u.s.w.«46
Der bereits zitierte Galeazzi beschreibt schließlich, dass nicht nur Tempo, Rhythmus und Tongebung durch die Bogenbewegung des Konzertmeisters angezeigt wurden, sondern dass sogar auch Bindebögen und Staccato-Anweisungen auf diese Art kommuniziert werden konnten, obwohl diese nicht im Notentext fi xiert waren. Dieses Prinzip, den Bogen als umfassendes Interface im Bezug auf den Orchesterklang einzusetzen könnte auch als Subordination statt Notation bezeichnet werden:47 »Regola IV. 282. Deve qualunque Suonator d’orchestra aver sempre l’orecchio teso all’unione per legare, se gli altri legano, scogliere, se gli altri sogliono, stringere, o allentare il tempo, se gli altri (e specialmente il Primo Violino) così fanno: suonar forte, o piano, a norma de’compagni, aver sempre l’occhio al primo Violino, ed adjutare i vicini, se son più deboli di lui, purché ciò si possa fare senza alterar la più perfetta unione. Dimostrazione. Tutta un’orchestra, fosse di cento esecutori, dee[!] esser così perfettamente unita, come se fosse d’un solo, il che far non si può, senza che ciascheduno de’membri abbia la più perfetta attenzione di unirsi esattamente co’suoi compagni nel tempo, nell’espressione, e principalmente col primo Violino. Ciò è facilmente eseguibile in quelle orchestre, ove quasi tutti i Violini sono di una stessa scuola, come per lo più succede in Lombardia: nulla è più bello, che il sentire la perfetta unione che ivi s’osserva, ed il vedere con qual regolarità tutti gli archi si muovono, che pare appunto di vedere gli esercizj militari di ben regolate, e disciplinate truppe; così appagano tali orchestre pienamente l’occhio, e l’orecchio.« (Galeazzi 1796, S. 210f) [Regel IV. 282. Jeder Spieler in einem Orchester muss sein Ohr immer auf den übereinstimmenden Vortrag ausgerichtet haben, um zu binden, wenn die anderen binden, zu trennen, wenn die anderen trennen, das Tempo anziehen oder verlangsamen, wenn die anderen (und besonders der Primo Violino, d.h. der Orchesterleiter) dies tun: forte zu spielen oder piano, genau wie seine Kollegen es tun, sein Auge immer auf den Orchesterleiter gerichtet haben, und seinen Umstehenden helfen,
46. Johann Friedrich Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend [1. Teil, Frankfurt und Leipzig 1774], Reprint Hildesheim, New York: Olms 1977, S. 39f. 47. Vgl. Kai Köpp: Handbuch Historische Orchesterpraxis: Barock – Klassik – Romantik, Kapitel V: »Strategien des Zusammenspiels«, Kassel: Bärenreiter 2009.
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wenn sie schwächer sind als er selbst, falls dies möglich ist, ohne die größtmögliche Übereinstimmung zu gefährden. Begründung. Das ganze Orchester, und seien es hundert Ausführende, muss so vollkommen übereinstimmen, als wäre es ein Einzelner, was nicht möglich ist, außer wenn jeder Einzelne seiner Mitglieder größtmögliche Achtung darauf gibt, mit seinen Mitspielern genau übereinzustimmen im Hinblick auf das Tempo und den Ausdruck, vor allem aber überein zu stimmen mit dem Orchesterleiter. Dies ist leicht zu erreichen in solchen Orchestern, in denen fast alle Geiger aus der gleichen Schule stammen, wie es allgemein in der Lombardei der Fall ist. Nichts ist schöner als der perfekt übereinstimmende Klang, den man hier hört, und der Anblick, mit welcher Regelmäßigkeit sich alle Bögen bewegen, ebenso wie militärische Übungen von wohlerzogenen und disziplinierten Soldaten; so erfreuen solche Orchester Auge und Ohr.]
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1. Natürliche und synthetische Klangerzeugung Die Unterscheidung dieser zwei Kategorien der Klangerzeugung ist eine pauschale. Die Verwendung des Begriffs ›natürlich‹ ist dabei auf Grund seiner möglichen Konnotationen problematisch. Gemeint ist damit hier diejenige Form der Klangerzeugung, bei der kinetische Energie erzeugt und in Schallenergie umgesetzt wird. Dies im Unterschied zur synthetischen Klangerzeugung, bei der elektrische Schwingungen erzeugt und in Schallenergie umgesetzt werden. Unterschieden werden muss in diesem Zusammenhang zwischen Klangsynthese und synthetischer Klangerzeugung. Klangsynthese kann auch mit natürlicher Klangerzeugung realisiert werden, wie etwa das Beispiel der Orgel zeigt. Bei der synthetischen Klangerzeugung gibt es zudem kategoriale Unterschiede zwischen derjenigen mit analogen und derjenigen mit digitalen Mitteln. 1 Zu den Gegensätzen zwischen natürlicher und synthetischer Klangerzeugung gehört, dass synthetische Klänge tendenziell ein einfaches und natürliche Klänge tendenziell ein komplexes Schwingungsverhalten haben. In der Klangsynthese muss Komplexität hergestellt werden, bei natürlichen Klängen ist sie a priori gegeben. Während mit synthetischen Verfahren – vor allem dem Physical Modeling – mit entsprechendem Aufwand Klänge von beliebiger Komplexität synthetisiert werden können, braucht es einen erheblichen Aufwand, um die Komplexität natürlicher Klänge zu reduzieren. Ohne Zuhilfenahme elektroakustischer Mittel ist dies auch nicht beliebig möglich. Einen Ton mit einer bei jeder Schwingungsperiode exakt gleich bleibenden Wellenform herzustellen ist beispielsweise der synthetischen Klangerzeugung 1. Zu den Grundlagen und Verfahren vgl. Curtis Roads: The Computer Music Tutorial, Cambridge MA: The MIT Press 1996; Paul Théberge: Any Sound You Can Imagine. Making Music/Consuming Technology, Hannover, NH: Wesleyan University Press 1997; Herbert Eimert/Hans Ulrich Humpert (Hg.): Das Lexikon der Elektronischen Musik, Regensburg: Bosse 1973.
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vorbehalten. Der traditionelle Instrumentenbau beschäftigt sich an erster Stelle mit der selektiven Reduktion von Komplexität (beim Spracherwerb des Menschen lässt sich ein vergleichbares Phänomen beobachten: bevor Kinder zu sprechen beginnen, sind sie zur Bildung der Laute sämtlicher Sprachen der Welt fähig. Der Spracherwerb geht einher mit einer Reduktion auf die in der Muttersprache verwendeten Lautbildungen.) Differenzierte Kontrolle des klanglichen Resultats, wie sie beim Spiel von Musikinstrumenten angestrebt wird, setzt eine überschaubare und damit beschränkte Komplexität des Klangmaterials voraus. Der periodisch schwingende Klang hat eine wesentlich geringere Komplexität als das aperiodisch schwingende Geräusch. Im Vergleich zu den Melodieinstrumenten ist die Verwendung von reinen Geräuschinstrumenten weniger differenziert. Selbst bei den in puncto Komplexität ›gebändigten‹ Musikinstrumenten bleibt der Einschwingvorgang, der maßgeblich die Identität und den Charakter des Klangs bestimmt, komplex. Elektronische Tongeneratoren als Ausgangsmaterial der Klangsynthese haben dagegen ein einfaches Schwingungsverhalten. Die unveränderlich periodischen Schwingungen erlauben zwar die Wiedergabe definierter Teiltonzusammensetzungen in idealer Form (Rechteck-, Dreieck-, Sägezahnwellen) mit defi nierten Amplituden- und Phasenbeziehungen, diese wirken dadurch aber auch starr und leblos. Syntheseverfahren werden jeweils an ihrem Potenzial gemessen, sich der Komplexität natürlicher Klänge anzunähern. Während sich der Instrumentenbau mit natürlicher Klangerzeugung um Reduktion eines tendenziell zu komplexen Schwingungsverhaltens bemüht, strebt die Klangsynthese danach (zu) einfaches Ausgangsmaterial mit entsprechenden Verfahren zu einem komplexeren Schwingungsverhalten zu bringen. Zwischen dem als Klang Denkbaren und dem klanglich Realisierbaren stehen bei analoger Synthesetechnologie noch die Anforderungen an das Instrument. Mit analoger Technik ist höhere klangliche Komplexität tendenziell mit höheren Anforderungen an Qualität und Quantität der verwendeten Geräte verbunden. Synthetische Klangerzeugung mit analoger Technologie kennt noch den Instrumentenbau im traditionellen Sinn. Mit einem Instrument wird eine endliche Bandbreite klanglichen Potenzials zur Verfügung gestellt. Durch den modularen Auf bau der analogen Synthesizer kann dieses Potenzial – im Unterschied zu herkömmlichen Instrumenten – beliebig erweitert werden. Jeder Klang benötigt aber seine spezifische Entsprechung im Instrument. Der Klang verweist zwar nicht mehr auf die Bewegung, aber immer noch auf das Instrument, mit dem er erzeugt wurde. Während bei ›natürlicher‹ Klangerzeugung Bewegungsenergie in Schallenergie umgesetzt wird, sind es in der synthetischen Klangerzeugung elektrische Schwingungen, die erzeugt, bearbeitet und verstärkt werden. Das ist in Bezug auf die Körperlichkeit der Klangerzeugung ein fundamentaler Gegensatz. Beiden gemeinsam ist aber das Instrument mit seiner Materialität, das in dieser Form in der digitalen Synthese und Klangbearbeitung weitestgehend abhanden kommt 2 . Der programmgesteuerte Zugriff der digitalen Synthese kennt zwar 2. Eine hörbare Materialität ergibt sich an der Schnittstelle der Wandlung von
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den Instrumentenbau, etwa in Form von Interfaces, noch als Option, braucht ihn aber nicht mehr. Das wird bei der Beschreibung der Klangerzeugung als Resonanzphänomen eine Rolle spielen. In der Klangsynthese mit analogen Mitteln muss der denkbare Klang im Instrument seine materielle Entsprechung fi nden. Das entfällt bei der digitalen Synthese. Die Schallwellen resp. die entsprechenden elektrischen Schwingungen werden als Zahlenfolge repräsentiert. Jedes analoge Syntheseverfahren hat seine spezifischen technischen Voraussetzungen, jedes digitale seine spezifischen mathematischen resp. arithmetischen. Die technischen Voraussetzungen sind für alle denkbaren digitalen Verfahren die gleichen. Seit es technisch möglich ist, Zahlenfolgen in beliebiger Auflösung in Schallwellen zu wandeln, kann ein Computer jeden denkbaren Klang generieren. Seine Leistungsfähigkeit entscheidet allenfalls noch darüber, ob und wie komplex das in Echtzeit möglich ist. Für den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Klang ist das eine wesentliche Frage, denn ob das Resultat einer Aktion direkt oder durch einen langwierigen Rechenvorgang zeitversetzt hörbar wird, ist dafür von erheblicher Bedeutung. Die Erkenntnis von 1956, dass mit einem Computer jeder denkbare Klang synthetisierbar ist, hat das klangliche Denken grundlegend verändert.3 Die ganze Tragweite der Bedeutung der Digitalisierung wird aber erst ersichtlich, seit die Echtzeit-Fähigkeit der Rechner nicht nur die instrumentale Bedingtheit klanglichen Potenzials überwindet und das Instrumentale virtuell werden lässt, sondern auch der Spielbarkeit der Klänge virtuelle Räume eröffnet. Damit wird u.a. eine gedachte Körperlichkeit möglich, die – Klang geworden – sinnlich als Ausdruck von Körperlichkeit wahrnehmbar wird, sei es in der Simulation von Instrumentalspiel, sei es im Physical Modeling von Spielweisen und -positionen (z.B. das Spielen eines Blasinstruments mittels eines ins Rohrinnere gestülpten Mundstücks), die zwar vorstellbar, aber nur virtuell realisierbar sind.
2. Mater ialität – Medialität In der digitalen Synthese verschwindet die Materialität des Instruments zu Gunsten einer virtuellen, d.h. einer Simulation von Materialität. In der digitalen Repräsentation gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen simulierten und aufgezeichneten akustischen Ereignissen. Den Zahlenfolgen sieht und hört man nicht an, wie sie zu Stande gekommen sind. So können mit den Verfahren des Physical Modeling Instrumentalklänge synthetisiert werden, die von Aufnahmen dieser Instrumente nicht zu unterscheiden sind. Die Zahlenfolgen sind dieselben. Medial vermittelte und medial erzeugte Klänge unterscheiden sich in diesem Fall nicht. Damit rücken ihre Medialität und die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um Zahlendigitalen in analoge Signale und bei deren Wiedergabe, jedoch nicht auf der Ebene des Digitalen. 3. Vgl. Daniel Weissberg: »C’est la création du son qui fait la musique«, in: Dissonanz Nr. 48 (1996).
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folgen handelt, in den Vordergrund. 4 Der Gegensatz zwischen natürlich und synthetisch, wie er noch die musique concrète und die elektronische Musik geprägt hat, verliert an Bedeutung zu Gunsten der Frage, ob der Klang medial vermittelt oder unvermittelt gehört wird, ob ein Körper den Klang erzeugt hat und wenn ja, ob dieser in Hörweite ist. Im Unterschied zu virtuellen Klangwelten führen uns virtuelle Bildwelten ihre mediale Vermitteltheit ständig vor Augen. Unser Fokus wird gelenkt und die Grenzen der Bildwelten werden durch die Grenzen des Bildmediums und nicht durch diejenigen unseres Gesichtsfeldes bestimmt. Insofern sind virtuelle Bildwelten keine virtuelle Realität, sie sind virtuelle Abbilder von Realität. Die Differenz zu realen Bildwelten ist visueller Natur. Anders aber ist es bei virtuellen Klangwelten: sie haben die gleichen Merkmale wie reale akustische Welten. Die Differenz zu diesen ist keine akustische, sondern eine des Kontextes. Ein virtueller akustischer Sturm kann gleich klingen wie einer, den wir in der Natur erleben, nur werden wir bei ersterem nicht nass. Ein weiterer Bereich, der zunehmend virtualisiert und damit entmaterialisiert wird, ist jener der Interfaces. Prominentes Beispiel dafür ist das iPhone von Apple. Bedienelemente wie Knöpfe und Regler werden durch Sensoren ersetzt. Das erlaubt zum einen eine deutliche Zunahme der Bedienoptionen und zum anderen die Simulation unterschiedlichster Bedienelemente inklusive ihrer physikalischen Eigenschaften. Neben Knöpfen und Reglern können z.B. Schwungräder mit einstellbarem Widerstand programmiert werden, die als mechanisch realisierte Steuerung übermäßig groß und äußerst aufwändig zu bauen wären. Damit wird das Interface ebenso programmgesteuert wie der Computer. Die gleiche Hardware erlaubt unterschiedlichste Anwendungen. Programmsteuerung kann hier auch bedeuten, dass Sensordaten ausgewertet werden, die durch nicht bewusste, oder nicht beabsichtigte Steuerung erzeugt werden, etwa wenn der Beschleunigungssensor darüber informiert, dass das Gerät fallen gelassen wurde.
3. Vom Befehlsempfänger zum Sensibelchen Die neue Generation von Interfaces markiert die dritte Generation von Benutzerschnittstellen bei digitalen Computern. In der ersten Generation ist der Computer ein Befehlsempfänger. Die Befehle folgen der Logik des Rechners und seiner Programme.5 Load, run, delete etc. sind die Befehle, die man eintippt. Mit dem Wort ready und einem blinkenden Cursor meldet der Rechner, dass er bereit ist, den nächsten Befehl zu empfangen. In der zweiten Generation wird der Computer virtuell oder real möbliert. Er passt sich der Umgebung an, die den Nutzerinnen und Nutzern vertraut ist. Auf dem Bildschirm gibt es Schreibtisch, Papierkorb und Ordner, zusätzlich zur Tastatur gibt es 4. Vgl. Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer Verlag 1997. 5. Vgl. Dieter Daniels: »Strategien der Interaktivität«, in: ders., Vom ReadyMade zum Cyberspace. Kunst/Medien Interferenzen, Ostfildern: Hatje Cantz 2003.
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die Maus und im Bereich der Musik Klaviaturen, Blaswandler, verschiedenste Formen von Reglern u.Ä. War die Simulation von Bekanntem zunächst eine Möglichkeit, dem Menschen die Benutzung des Computers näher zu bringen, so hat in manchen Bereichen die Simulation das Original weitgehend verdrängt. Wenn von Ordnern die Rede ist, denken wohl jüngere Leute nicht mehr als erstes an Ordner im Büroschrank, sondern an virtuelle Ordner in der Datenverwaltung des Computers. Im Bereich der Musikinstrumente haben die Mehrzahl derer, die ein virtuelles Hohner Clavinet oder eine Hammond C3 benutzen, diese Instrumente im Original nie gesehen, geschweige denn gespielt. Wäre da nicht die fotorealistisch nachgebildete Bedienoberfläche, wäre das Bewusstsein, dass es sich um Simulationen handelt, kaum noch verbreitet. Jüngere Entwicklungen gehen deshalb konsequenterweise über die Simulation von Bekanntem hinaus und entwickeln Dinge, die sich aus den spezifischen Möglichkeiten des Computers ergeben. Dem obigen Beispiel mit dem nach innen gestülpten Mundstück vergleichbar, entstehen Anwendungen, die zwar denkbar, aber nur virtuell realisierbar sind, wie z.B. intelligente Ordner im Apple Betriebssystem OS X. Im Bereich der Hardware-Interfaces entspricht dies der Abkehr von Geräten mit einer definierten Funktionalität. Bei analogen Geräten kann jeder Regler nur eine bestimmte Funktion haben. Bei digitalen Geräten kann die Funktion eines Reglers beliebig definiert und beliebig geändert werden. Bei den aktuellsten Entwicklungen gibt es den Regler als solchen nicht mehr. Er wird simuliert und somit stehen auch seine Form und die Art der Bedienung zur Disposition. In der dritten Generation wird der Computer sensibilisiert. Er wird berührungsempfindlich, kann auf Nähe oder Distanz und Weiteres reagieren, wie oben am Beispiel des iPhone beschrieben.
4. Resonanz Im Folgenden soll versucht werden, die Prozesse des Musizierens und der Rezeption von Musik als Resonanzphänomene zu untersuchen: als Verkörperlichung des klanglichen Gestaltungswillens in der Spielbewegung, als Verklanglichung der Spielbewegung im Instrument oder der Stimme und als hörender Nachvollzug dieser Vorgänge in der Rezeption.6 In jedem Schritt dieses Prozesses resoniert der vorhergehende. Anhand dieser Untersuchungen lassen sich wesentliche Unterschiede in den Auswirkungen verschiedener Arten der Klangerzeugung darstellen. Die Beschreibung des Vorgangs der Klangerzeugung unterscheidet einerseits zwischen dem Erreger, der (aktiven) Quelle der Schallenergie und den (passiven) Resonatoren anderseits. Wird z.B. eine Saite gezupft, dann ist die Zupf bewegung der Erreger, die Saite ein Resonator, der die aperiodische Anregung durch das Zupfen aufnimmt und in periodische Schwingungen um6. Weiter zu untersuchen wären Verbindungen zu Resonanztheorien: etwa bei Gilles Deleuze oder Michel Serres.
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setzt. Die Energie der Schwingungen wird auf einen Resonanzkörper übertragen, der diese als Schallwellen in den Raum abstrahlt, welcher mit seinen Raumresonanzen bestimmte Frequenzbereiche bevorzugt und durch Reflexionen dem Klang einen Nachhall hinzufügt. Die Energie des Erregers kann durch einen Resonator an weitere Resonatoren weitergegeben werden. Resonanz bezeichnet die Fähigkeit, mitzuschwingen. Resonanz leistet aber immer auch Widerstand. Jeder Resonator dämpft die Energie, mit der er erregt wird. Die Art des Widerstands bestimmt den Klangcharakter. Die gebräuchliche Beschreibung des Resonanzkörpers von Musikinstrumenten als Verstärker ist demnach falsch. Er wandelt lediglich kinetische Energie in Schallenergie.
5. Drama Der Vorgang der natürlichen Klangerzeugung ist als solcher ein dramatischer: Jemand bemüht sich darum, etwas zum Schwingen zu bringen, das von sich aus zur Ruhe tendiert. Im Klang werden widerstrebende Bemühungen – die Grundbedingung einer dramatischen Situation – hörbar. Im Gesang ist dieser Vorgang verinnerlicht. Der gleiche Körper ist Quelle und Resonator, was die Dramatik entsprechend steigert. Der natürlich erzeugte Klang überträgt grundsätzlich die Information über die Bewegung, mit der er erzeugt wird; die Information über das Instrument, mit der Bewegungsenergie in Schallenergie umgesetzt wird und die Information über den Raum, in dem dies geschieht. Die Beschreibung der Verklanglichung von Bewegungsenergie gilt für alle Formen der nicht elektroakustischen Klangerzeugung. Wenn in den frühen mechanischen Instrumenten, wie der Orgel und den Musikautomaten, Vorläufer der Instrumente mit synthetischer Klangerzeugung gesehen werden, so sind sie dies in Bezug auf die Idee, Klänge aus einzelnen Elementen zusammenzusetzen, i.e. zu synthetisieren. Wie oben erwähnt ist deren Klangerzeugung als solche jedoch nicht synthetisch. Bewegungsenergie als Quelle der Schallenergie ist etwas grundlegend anderes als elektrische Energie, die in der synthetischen Klangerzeugung die Energiequelle des Schalls ist. Der Zusammenhang zwischen innerer Bewegung (Emotion von movere = bewegen), äußerer (Spiel-)Bewegung und Klang ist ein direkter, unvermittelter. Der Zusammenhang zwischen der Bedienung eines Geräts zur synthetischen Klangerzeugung und dem Fluss der elektrischen Energie ist ein konzeptionell und technisch vermittelter. Gemeinsam ist den mechanischen Instrumenten und denen mit synthetischer Klangerzeugung, dass die Schallenergie nicht, oder nur indirekt mit einer auf die Klanggestaltung gerichteten Emphase erzeugt wird. Sie unterscheiden sich darin, dass die Klangerzeugung in den mechanischen Instrumenten eine natürliche ist und der Zusammenhang von Klang und Bewegung, auch wenn diese eine mechanische ist, erhalten bleibt, während die synthetische Klangerzeugung dazu übergeht, direkt elektrische Schwingungen zu erzeugen. Zwischen der natürlichen und der synthetischen Klangerzeugung steht
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die Möglichkeit der Verstärkung von Schallwellen, die sich mit der Erfindung der Verstärkerröhre zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals eröff net. Zwar bleibt auch dabei die oben beschriebene Gesetzmäßigkeit erhalten, aber durch die mediale Transformation von Schallwellen in elektrische Schwingungen kann zur Bewegungsenergie eine weitere Energiequelle hinzutreten. Damit ist ein wesentlicher Parameter des Klangs, die Lautstärke, nicht mehr von der Energie der Spielbewegung und deren Dämpfung durch die Resonatoren alleine abhängig. Der Verstärker ist u.a. eine Voraussetzung für die synthetische Klangerzeugung. Dort sind es elektrische Schwingungen, die verstärkt und von Lautsprechern in Schallwellen umgesetzt werden. Die Verstärkung von Schallwellen bzw. die Verstärkung von Klängen erfordert eine mediale Transformation. Schallwellen werden mittels Mikrofon oder Tonabnehmer in elektrische Schwingungen gewandelt. Diese werden verstärkt und in Schallwellen zurückgewandelt. Was dabei erhalten bleibt, ist die Information über die Bewegung, mit welcher der Klang erzeugt wurde. Eine kleine Bewegung bleibt, auch wenn der resultierende Klang massiv verstärkt wird, als kleine Bewegung hörbar. Ein elektroakustisch verstärkter Klang enthält zu den vorher genannten Informationen über Bewegung, Instrument und Raum noch diejenige über den Grad und Charakter der Verstärkung. Die mediale Transformation, welche die Verstärkung von Schallwellen bedingt, bewirkt in jedem Fall eine Verfremdung des Klangs: Neben die Bewegung als die für den Rezipienten nachvollziehbare Quelle der Schallenergie tritt elektrische Energie, die physikalisch die Funktion eines weiteren Erregers übernimmt (der Verstärker als Ganzes ist zusammen mit dem Lautsprecher sowohl Resonator als auch Erreger), ohne eine nachvollziehbare Quelle des Klangs zu sein. Der Grad der Verfremdung reicht dabei von quasi unmerklich (es klingt, als ob jemand etwas lauter sprechen oder spielen würde, als er das in Wirklichkeit tut) bis zur dramatischen Veränderung des Klangcharakters eines Instruments. Der Klang einer elektrischen Gitarre kann z.B. so weit verstärkt werden, dass die Schallenergie, die aus dem Lautsprecher kommt, größer ist als die Trägheit der Saiten der Gitarre. Das ursprüngliche Ausschwingverhalten verkehrt sich so in sein Gegenteil. Der Klang einer einmal gezupften Saite verklingt nicht, sondern wird durch Rückkopplung immer lauter. Ein Umstand, der u.a. für die Analyse der Bedeutung der E-Gitarre in der Populärmusik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert von größter Bedeutung ist. Dramatisch ist das deshalb, weil es den dramatischen Akt der natürlichen Klangerzeugung in sein Gegenteil verkehrt: Der Spieler bringt nicht in Bewegung, was zur Ruhe tendiert, sondern er bändigt eine Bewegung, die sonst bis an die Grenze der Belastbarkeit des Materials zunehmen würde. Ähnlich einem Raubtierbändiger reizt er den Verstärker mit seinem Spiel zur Rückkopplung, wohl wissend, dass diese, ungebändigt, eine Lautstärke entwickelt, welche für die Ohren nicht mehr verkraftbar ist, um es dann nicht soweit kommen zu lassen.7 7. Exemplarisch steht hierfür die Aufführung von »The Star-Spangled Banner« durch Jimi Hendrix in Woodstock 1969.
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Bei der synthetischen Klangerzeugung ist der Prozess vom klanglichen Gestaltungswillen zum Klang ein gedanklich und technisch vermittelter. Bewegungsenergie braucht es dazu nicht. Der klangliche Gestaltungswille findet seine Resonanz im Instrumentenbau und in der Konzeption und dem Bau der Bedienungselemente. Die Möglichkeit, Bedienungselemente so zu gestalten, dass die Lautstärke des Klangs von der Stärke einer Bewegung abhängt, ist nur noch eine Variante von vielen. Im Synthesizer sind die Schaltkreise für Tongeneratoren, Filter und weitere Module des Instruments Resonatoren. Den Erreger im bisher beschriebenen Sinn, dessen Emphase auf das klangliche Resultat gerichtet ist und in diesem hörbar wird, gibt es dabei nicht. Die Energie, die zu Schallenergie wird, kommt nicht von einer Bewegung, sondern aus der Steckdose. Sie ist keine kinetische, sondern elektrische Energie. Der Widerstand, welcher der Oszillator (Tongenerator) als Resonator dem Strom entgegen setzt, bestimmt die Frequenz und die Wellenform der elektrischen Schwingungen. Die Amplitude ist dabei konstant. Die Trägheit des Resonators wird vom elektrischen Strom dauerhaft überwunden. 8 Vorgeschaltete Module können die Frequenz des Oszillators modulieren, nachgeschaltete die Wellenform und die Amplitude. Der Vorgang der synthetischen Klangerzeugung ist undramatisch. Die Emphase kann, durch die Wahl und Bedienung der entsprechenden Interfaces, inszeniert werden. Damit wird aber nicht der Vorgang der Klangerzeugung, sondern die Bedienung der Geräte dramatisiert. Diese Unterscheidung ist ebenso bedeutsam wie jene zwischen Klangsynthese und synthetischer Klangerzeugung, denn entscheidend ist bei unserer Art der Betrachtung nicht nur der isolierte Vorgang, z.B. derjenige des Spielens mittels einer Klaviatur, sondern auch dessen Potenzial. Dieses ist aber bei einem Konzertflügel und einem Digitalklavier ein je fundamental anderes. Es ist aber letztlich das Potenzial einer Technologie, das die Entwicklung prägt. Dass mit digitaler Klangerzeugung ein Klavier simuliert werden kann, ist nur ein marginaler Teil des Potenzials, welches diese Art der Klangerzeugung bietet. Die analoge Klangsynthese ermöglicht nicht nur die Synthese von Klängen, sondern auch von Strukturen, wobei es einen fließenden Übergang zwischen beidem gibt. Wird ein Oszillator mit einer hörbaren Frequenz von einem weiteren Oszillator mit einer langsamen Frequenz unterhalb des Hörbereichs gesteuert, so wird eine Veränderung der Tonhöhe des ersten hörbar. Diese entspricht der Wellenform und der Frequenz des zweiten. Analoge Steuerungsmöglichkeiten gibt es auch für Lautstärke und Klangfarbe. Dabei werden automatisierte Bewegungen klanglicher Parameter hörbar, die vollständig entkörperlicht sind. Positiv ausgedrückt wird eine von jeglicher Emphase befreite Struktur hörbar. Besonders deutlich wird das, wenn Veränderungen klanglicher Parameter soweit beschleunigt werden, dass die Verän-
8. Auch technisch wird beim Spielen eines Synthesizers der Tongenerator bei Bedarf nicht ein- und ausgeschalten, sondern schwingt immer. Mittels eines nachgeschalteten Verstärkers (der eigentlich ein ›Verschwächer‹ ist) wird bestimmt, ob und wie viel davon hörbar wird.
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Klangerzeugung al s Drama und Resonanzphänomen
derungen selbst als Tonhöhe und Klangfarbe wahrgenommen werden, etwas, das menschlichen Körpern nicht möglich ist.
6. Vir tualität Mit der Digitalisierung der Klangsynthese ist ein weiterer, vermutlich letzter Schritt in die Virtualität von Klängen als Resultat von Denkvorgängen vollzogen und gleichzeitig das Potenzial geschaffen worden, Körperlichkeit virtuell in die synthetische Klangerzeugung zu integrieren. Natürliche Klangerzeugung und analoge Klangsynthese bedingen spezifische Resonatoren. Diese werden in der digitalen Klangsynthese virtuell. Das Instrument als spezifischer Resonator, wenn auch wie beim Analog-Synthesizer als ein weitgehend form- und erweiterbarer, wird obsolet. Was es für jeden denkbaren Klang gleichermaßen braucht, ist die Universalmaschine Computer und ein Gerät, das Zahlenfolgen in elektrische Schwingungen wandelt (D/A Wandler). Während in der Analogtechnik ein Klang noch seine Entsprechung im Instrument hatte, so hat er ihn im digitalen Bereich ausschließlich in einer Zahlenfolge und dem dazugehörigen Programm. Die Zahlenfolge kann als Resonanz eines Denk-, Zeichen- und Rechenvorgangs verstanden werden. Allerdings fehlen dabei wesentliche Merkmale der bisher beschriebenen Resonanzphänomene: die Resonanz der Zahlenfolge ist kein physisches Phänomen und sie resoniert nicht analog zum Erreger. Sie ist von diesem zeitlich und räumlich entkoppelt. Bei der Umwandlung von Bewegungs- in Schallenergie verhalten sich die Schallwellen analog der Bewegungsenergie. Das gleiche gilt für die Umwandlung von elektrischen Schwingungen in Schallwellen. Die Bedienung von Geräten mit analoger Klangsynthese ist zwar von der Bewegungsenergie der Spielbewegung entkoppelt, sie ist aber, wenn einmal ein Übersetzungsschema für eine Steuerung durch Bewegung gewählt ist, analog. Beispielsweise ist die Steuerung der Frequenz durch die Anschlagstärke einer Tastatur, wie alle Zuordnungen dieser Art, eine von vielen möglichen. Ob sie durch stärkeren Anschlag einer Taste höher oder tiefer wird, ist wählbar, nicht jedoch, dass dies analog der Anschlagsstärke geschieht. Insofern existiert ein letzter Rest von Verwandtschaft mit der ›natürlichen‹ Klangerzeugung, die im digitalen Bereich entfällt. Dort ist, um bei diesem Beispiel zu bleiben, jedem Grad der Anschlagsstärke eine beliebige Frequenz zuordenbar. Zudem können die Bedingungen dafür für jeden einzelnen Anschlag in Echtzeit verändert und z.B. vom zuvor gespielten Kontext abhängig gemacht werden. Die Beziehung zwischen einer Klangvorstellung und deren Repräsentation als Zahlenfolge ist eine meta-, oder weniger pathetisch formuliert, eine mikrophysische. Es ist gedankliche Energie, die als Erreger ihre Resonanz in einer Zahlenfolge und diese die ihre in einem Klang findet. Erregung wie Resonanz sind virtuell. Eine Besonderheit digitaler Medien ist, dass sie Eigenschaften analoger medialer Transformation mit Eigenschaften einer co-
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dierten Transformation9 (wie es z.B. die Verschriftlichung von Sprache ist) verbindet. Jedes analoge Verfahren zur Aufzeichnung, Bearbeitung oder Synthese von Klang und Bild kann digital simuliert werden. Hinzu kommen die unbegrenzten Möglichkeiten, welche die Berechenbarkeit als Folge der Repräsentation von Klang und Bild als Zahlenfolge bieten. Die Absenz physischer Bedingtheit, sowohl was den Vorgang der Klangerzeugung als auch was das Instrument betriff t, eröffnet den Raum des Virtuellen, in den u.a. auch eine virtuelle Körperlichkeit, der gedachte Körper, Einzug halten kann. 10
9. Die auf Watzlawick zurück gehende Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Kommunikation meint das gleiche. Im Kontext der digitalen Medien bevorzugen wir den Begriff der codierten Kommunikation. 10. Vgl. Michael Harenberg: »Die Ästhetik der Simulation. Musik aus virtuellen Räumen«, in: Sigrid Schade/Thomas Sieber/Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel: Schwabe Verlag 2005, S. 389-400.
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Distanzier te Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien Rolf Grossmann
»An einer systematischen Ordnung der Musikinstrumente sind in erster Linie die Musikhistoriker, die Ethnologen und die Verwalter völkerkundlicher und kulturhistorischer Sammlungen interessiert.«1
In der Tat sind es die Professionals der Konservierung, für deren berufliche Tätigkeit systematische Ordnungen elementar sind. Weniger an Ordnung interessiert waren dagegen die Performer der jamaikanischen Soundsystems, die DJs der New Yorker Discos, die Hiphopper der Bronx und mit ihnen die Jugendkultur des Pop, welche die E-Gitarren beiseite legte und das DJ-Set zum Symbol einer neuen musikalischen Praxis werden ließ. Dass es sich bei diesem party- und cluborientierten Sounderzeuger gar nicht um ein ordentliches Instrument handelte, sondern um ein Medium, das noch bis vor kurzem seine große Treue (›High Fidelity‹) zu den von ihm abgebildeten Originalen beteuerte, war nebensächlich. Dabei war die Entwicklung schon im Sprachgebrauch vorhersehbar: Auf einer Party ›die Musik zu machen‹, meinte schon in den 1980ern keineswegs den Griff zum Instrument oder die Mitwirkung in einer Band, man war stattdessen mit ›Auflegen‹ an der Reihe. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch die Reproduktionsmedien eine Auff ührungspraxis begründen, also etwas, das dem instrumentalen Spiel vorbehalten schien.
1. Geordnete Verhältnisse Während die Systematik der Instrumente mit den Elektrophonen, zu denen die E-Gitarren und die Synthesizer gezählt werden sollten, bereits ans Ende 1. Erich M. von Hornbostel/Curt Sachs: »Systematik der Musikinstrumente. Ein Versuch«, in: Zeitschrift für Ethnologie 46, 1914 (4-5), S. 553.
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gekommen zu sein schien, ging der technikkulturelle Wandel musikalischer Praxis also unübersehbar weiter. Die Instrumentenkunde, für welche die Kategorisierung der physikalischen Entstehung der Klänge immer eine zentrale Rolle spielte, hatte den Idiophonen, den Membranophonen, den Chordophonen und den Aerophonen zuletzt eine Kategorie hinzugefügt, die das in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts immer bedeutender werdende physikalische Prinzip, die Elektrizität, ins System integrieren sollte. Mit den Elektrophonen sollten die Klänge und Instrumente der Elektrizität ihren Platz unter den vertrauten Klangerzeugern einnehmen. Dass sich hier eine Reihe systematischer Probleme ergeben konnte, war man bereits von den bestehenden Kategorien her gewohnt. Wenn also die elektrische Gitarre eher ein Chordophon sein könnte, das seine Schwingungen elektromechanisch über einer Magnetspule erzeugt, diese dann elektronisch verstärkt über einen Lautsprecher, also ein Membranophon, als Schwingungserzeuger der Schallwellen hörbar werden lässt, war das eine Problemkonstellation der Systematik, die von anderen Instrumenten bekannt war. So konnte man etwa bei der Klarinette darüber nachdenken, ob das Holzblatt nach Anregung selbst klingt, als Membran gespannt ist, oder ob erst die Luftsäule oder gar erst das Holz der gesamten Klarinette die Luft ursächlich in Schwingungen versetzt. Solche Fragen lassen sich natürlich ausführlich diskutieren, und wie jeder Archivar weiß, dass viele Gegenstände der einen Abteilung unter Umständen auch in der anderen Abteilung gut aufgehoben wären, so ist ebenso klar, dass die letztlich getroffene Zuordnung dennoch sinnvoll und richtig ist, wenn sie im Hinblick auf einen systematisch formulierten Sinnzusammenhang getroffen wurde. Auch ohne einen wissenschaftstheoretischen Exkurs zur ›Ordnung der Dinge‹ ist es heute evident, dass Erkenntnisrahmen und Ordnungsprinzipien jeder Systematik korrespondieren. Dass die Rechnung einer Systematik unter dem Vorzeichen der Klangerzeugung jedoch nicht mehr aufgeht, wenn die Elektrizität ins Spiel kommt, hat eine einfache und nicht wegdiskutierbare Ursache: Sie erzeugt keine Klänge. Ihre Spannungsverläufe sind als solche nicht wahrnehmbar. Jede Anwendung von Elektrizität im Prozess der Klangerzeugung, sei sie elektromechanisch oder elektronisch, bedarf der Vermittlung in die Welt der Schallwellen. Physikalisch gesehen wird der Klang erst erzeugt, wenn ein durch die Elektrizität angeregter Gegenstand im Schallmedium Luft zu schwingen beginnt. Die Membran eines Lautsprechers erfüllt allerdings genau dann ihren Zweck, wenn sie keinen Eigenklang hat. Weder Elektrizität noch Lautsprecher geben daher an sich Hinweise auf einen spezifischen Klang, der ihnen den Platz in einer Systematik zuweisen könnte. Die Relevanz der Kategorie Klangerzeugung ergab sich allein durch die ›natürliche‹ physische Beschaffenheit eines Instruments und die Dominanz dieser physischen Grundlage für die weiteren Felder der Betrachtung: die möglichen Klangspektren, die Spielweise, die Eignung für die bereits entwickelten Kompositions- und Rezeptionsstrategien und viele andere. Mit der technischen Entwicklung der Mechanik verschiebt sich diese scheinbar naturgegebene Relation. Bereits bei Klappen, Ventilen, Klaviermechanik oder Orgelregistern ist zu beobachten, was elektrische Klangerzeugung und 184
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Sampling schließlich endgültig vollziehen: die Entkoppelung des physischen Spiels der Instrumente von der physischen Erzeugung der Klänge. Ein Drumcomputer und ein Percussioninstrument produzieren ähnliche Klänge, ihre Klangerzeugungsmechanismen und Spielweisen sind jedoch höchst unterschiedlich und im Falle des Computers von der physischen Erzeugung des Klangs vollständig entkoppelt.2 In dieser Situation sind die Erkenntnisfragen, die im vorliegenden Beitrag an eine spezifische Gruppe von Instrumenten des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gestellt werden sollen, denn auch weniger museal und archivarisch als am Bedürfnis orientiert, die Veränderungen einer instrumentalen Praxis musikalischer Gestaltung besser zu verstehen, mit einem wissenschaftlich fundierten Verständnis zu begleiten und vielleicht erste systematische Überlegungen anzustellen. Das Erkenntnisinteresse wird sich auf die Relation von Mensch, Instrument und musikalischer Kultur richten, in der physikalische Funktionsprinzipien zwar eine wichtige Rolle spielen, jedoch nicht dominant sind. Im Zentrum steht demgegenüber die Veränderung der Relation zwischen musikalischem Handeln, seinen (technischen) Werkzeugen und der erzeugten klingenden Struktur. Eine von den elektronischen Medien geprägte Lebenswelt transformiert verständlicherweise nicht nur die Bedingungen der Rezeption von Musik, sondern auch die Prozesse musikalischer Gestaltung in und mit diesen Medien.
2. Halbfer tige Musik Zwei Aspekte dieses Wandels der instrumentalen Gestaltung von Musik sind hier von besonderer Bedeutung und ziehen ähnliche Konsequenzen in der Relation Mensch-Instrument nach sich: • die Instrumentalisierung von Konfigurationen der Reproduktionsmedien sowie • die Instrumentalisierung automatisch ablaufender (programmierter) algorithmischer Prozesse für die musikalische Gestaltung. Beide Instrumentalisierungen (die anders gesagt eine ›Musikinstrumentwerdung‹ technischer Konfigurationen darstellen) stehen auf den ersten Blick quer zu unseren vertrauten Vorstellungen von einem Musikinstrument und das, obwohl E-Gitarre, Keyboard, DJ-Set und seit einiger Zeit Laptop gängige Elemente der Bühnenperformances sind. Während die E-Gitarre noch weitgehend mit ihrem nicht elektrischen Vorgänger-Instrument verwandt zu sein scheint und den konventionellen Erwartungen lediglich dort Probleme bereitet, wo das Feedback selbst als instrumental gestalteter Klang auftritt – etwa 2. Tellef Kvifte hat in seinem Versuch einer Erweiterung der klassischen Instrumentensystematik auf die »Instrumente des elektronischen Zeitalters« entsprechend den Aspekt der Spieltechnik in den Vordergrund gerückt. S. Tellef Kvifte: Instruments and the Electronic Age. Toward a Terminology for a Unified Description of Playing Technique, Oslo: Solum Forlag, 1989.
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bei Jimi Hendrix oder dem Drone der Metal Machine Music Lou Reeds –, sind ihre genannten Nachfolger Boten einer völlig anderen Praxis musikalischer Gestaltung. Nur ein Aspekt zeigt sich bereits beim Feedback der E-Gitarre: Ihr Klang muss vom Spieler nicht selbst erzeugt, sondern aus der Rückkopplungsschleife heraus geformt werden, der Gestaltungsprozess wird eher zum Vorgang der Filterung, der Echtzeitselektion von Klängen aus sich ständig selbst erneuernden Obertonkaskaden. Die mit DJ-Set, digitalen Keyboards und Computerinterfaces performant gestaltete musikalische Struktur ist dagegen nur noch zum Teil Ergebnis der Interaktion des Menschen mit dem Instrument, sie ist zum anderen Teil bereits durch vorgängige gestalterische Arbeit vorformuliert, ihre Zeitgestalt nur begrenzt veränderbar. Der Zugriff auf eine halbfertige Musik, die dem Instrument bereits latent eingeschrieben ist, entbindet den Menschen der Notwendigkeit der physischen Ausführung aller Details der Klangformung, das Instrument schaff t eine neue Distanz zwischen dem physischen Gestaltungsprozess und der physischen Gestalt der erklingenden Musik. Gleichzeitig, dies liegt in der Natur des Umgangs mit den komplexen Strukturen phonographisch gespeicherter oder algorithmisch generierter Musik, werden rationale Distanz und reflexive Durchdringung sehr bald integraler Teil des musikalischen Spiels, da die gestalterischen Prozesse ein gewisses Maß an Planung notwendigerweise vorauszusetzen scheinen. »Der physische Kontakt des Menschen zur jeweiligen Form der Klangerzeugung und Klangformung verliert bei verschiedenen Instrumentengattungen zunehmend die ursprüngliche Unmittelbarkeit, die Abnahme der Körpernähe eines Instruments ist weitgehend kongruent zum Grad seiner konstruktiven Komplexität.« 3
Diese Abkoppelung der Klänge von der Physis und der direkten motorischen Aktion der Musizierenden widerspricht unserer Vorstellung eines Musikinstruments. Ab einer gewissen Stufe dieser Distanzierung scheint sich – wie Shintaro Miyazaki treffend beschreibt 4 – das Instrument in ein Medium zu verwandeln, welches eine präformierte Struktur lediglich vermittelt.
3. Bernd Enders: »Instrumentenkunde – Form, Funktion und Definition des Musikinstruments im Spannungsfeld von Musik und Technik«, in: Arnfried Edler/ Siegmund Helms/Helmuth Hopf (Hg.), Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Wilhelmshaven: Noetzel 1987, S. 306-345, hier S. 318. 4. Vgl. Shintaro Miyazaki: »Medien, ihre Klänge und Geräusche – Medienmusik vs./(=) Instrumentalmusik«, in: PopScriptum 9 – Instrumentalisierungen – Medien und ihre Musik, Schriftenreihe hg. vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin 2008, S. 3, vgl. http://www2.hu-berlin.de/fpm/ popscrip/themen/pst09/Miyazaki.pdf vom 1. März 2009.
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3. Reproduktionsmusik – Musikautomat und Phonograph In dieser Situation liegt also die Frage nahe, ob und inwieweit dann überhaupt noch von Musikinstrumenten gesprochen werden kann. Neu ist diese Frage nicht, sie führt zurück in die Ära der Musikautomaten. Gerade zur Blütezeit der Spieldosen und Pianolas im 19. Jahrhundert gehen Musik und Technik unter dem Vorzeichen der romantischen Musikauffassung eine Hassliebe ein: Technisch rationale Planung und Ausführung sollen vom solfeggio des Virtuosen bis zur Bühnentechnik des Musiktheaters reibungslos und hocheffizient verlaufen, jedoch keineswegs als solche hör- oder sichtbar werden. Gleichzeitig war die Entwicklung der Feinmechanik soweit fortgeschritten, dass komplexe musikalische Strukturen von Musikmaschinen reproduziert werden konnten. Ernst zu nehmende Auff ührungen von Musikautomaten mit und ohne menschlichen Interpreten wurden Teil musikalischer Kultur, die Relation von Musikinstrument und Maschine veränderte sich. Waren diese neuen Automaten auch Musikinstrumente? Ein Grenzfall, der die Frage nach dem Instrumentencharakter der Musikautomaten zuspitzt, ist die Reduktion der Performanz auf das Betätigen des Einschalthebels. Bernd Enders – aus seinem Beitrag stammte auch das vorausgegangene Zitat – hat sich bereits Ende der 1980er Jahre, damals im Zuge der ideologischen Scharmützel der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Berechtigung hochtechnisierter Musikinstrumente in der ernsten Musik, ausführlich mit dem Gedanken der Entfremdung und Entkörperlichung, einer möglichen Regression differenzierten instrumentalen Spiels im Zuge der Entwicklung elektronischer und programmierbarer Instrumente auseinandergesetzt und auch diesen Fall berücksichtigt. »Bei dieser Instrumentengruppe [der Musikautomaten, R.G.] beschränkt sich der manuelle Einfluss des Menschen im wesentlichen auf den Ein- und Ausschaltvorgang. Jedoch legt der Mensch das Ziel des automatischen Vorgangs, also seine musikalische Intention, durch die vorab notwendige Programmierarbeit präzise fest.«5
Danach wäre es die intentionale Vorformung eines Klanggestaltungsvorgangs, welche den Automaten als Instrument rettet und ihn vom bloßen Wiedergabegerät, dem Phonographen, abgrenzt: »Ein Gegenstand, ein Werkzeug, ja auch ein geistiges Produkt, zum Beispiel ein Computerprogramm, ist genau dann ein Musikinstrument, wenn die Möglichkeit der körperlichen oder automatischen Steuerung eines musikalischen Klanggestaltungsvorgangs besteht, der Mensch das Instrument also zur realen, klanglichen Produktion von Musik einsetzen kann. […] Auch der Musikautomat ist nach dieser Definition ein Musikinstrument, da er eine programmierte musikalische Idee wiedergibt, 5. B. Enders: »Instrumentenkunde« (s. Anm. 3), S. 321.
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nicht jedoch das Reproduktionsgerät (wie etwa ein Schallplattenspieler), sofern es ausschließlich der originalgetreuen Wiedergabe einer gespeicherten musikalischen Produktion dient.«6
Bei dieser Unterscheidung verbleibt ein gewisses Unbehagen: Der Abruf einer gespeicherten musikalischen Struktur in Programmform – so wird postuliert – sei etwas grundsätzlich anderes als der Abruf einer phonographisch gespeicherten Struktur. Dahinter steht vermutlich die Annahme, beim Phonographen bestehe lediglich eine neue Verklanglichung der originalen Auff ührung, während der Musikautomat eine jeweils neue ›instrumentale‹ Aufführung einer abstrakten, operativen Zeichenstruktur vornehme. Die Künstlerrollen des Welte-Mignon-Pianolas widerlegen jedoch die Annahme einer grundsätzlichen Differenz: Sie sollten Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer authentischen Reproduktion des Spiels einer bekannten Künstlerpersönlichkeit die Konkurrenzfähigkeit des Welte-Pianolas gegen das klanglich unterlegene Grammophon stärken.7 Umgekehrt ist der Aufführungscharakter phonographischer Musik in den bürgerlichen Salons nicht zu übersehen und wird in literarischen Dokumenten (etwa in Thomas Manns Zauberberg) dokumentiert. Damals wurden indessen beide, Musikautomat und Phonograph, bis in die 1930er Jahre, wie Volker Straebel mit Blick auf Carlos Chavez feststellt, als Instrumente verstanden: »In seiner umfassenden Bestandsaufnahme des Einflusses zeitgenössischer technischer Entwicklungen auf die Musik ›Toward A New Music. Music and Electricity‹ beschrieb Carlos Chavez 1937 Funktion und Wirkung des damals bereits fünfzig Jahre alten Phonographen zusammen mit Selbstspielklavieren unter der Überschrift ›Elektrische Instrumente zur musikalischen Reproduktion‹. Zu selbstverständlich war noch die Vorstellung, daß ein Musik hervorbringendes Gerät eben ein Instrument sei.«8
Gegenüber dem Phonographen standen die Musikautomaten allerdings den vertrauten Instrumenten allein dadurch näher, dass ihre Mechanismen der Klangerzeugung unmittelbar auf diesen aufsetzten. In der Regel wurden einfach technische Steuerkonfigurationen in gängige Spielinstrumente eingebracht, teilweise konnten die Steuerungen – wie beim Piano-Vorsetzer –auch wieder entfernt und das Instrument ›normal‹ gespielt werden. Die Vorstel6. B. Enders: »Instrumentenkunde« (s. Anm. 3), S. 336f. 7. Bei den Künstlerrollen wurde das Spiel eines Künstlers (z.B. Max Reger) über
die Bewegungen der Klaviermechanik aufgezeichnet und auf eine Pianola-Steuerrolle übertragen. S. auch den Beitrag von Daniel Weissberg »Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe« im vorliegenden Band. 8. Volker Straebel: »Klangraum und Klanginstallation. Klanginstallation zwischen elektroakustischer Technik, Performance und Skulptur«, in: Akademie der Künste Berlin/Helga de la Motte-Haber (Hg.), Klangkunst: erschienen anlässlich von Sonambiente, Festival für Hören und Sehen, Internationale Klangkunst im Rahmen der 300-Jahrfeier der Akademie der Künste, 9. August – 8. September 1996, München, New York: Prestel Verlag 1996, S. 219-221, hier S. 219.
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lung spielbarer Musikautomaten – also hybrider Automateninstrumente – lag daher nicht fern und ist in der vielfach implementierten agogischen und dynamischen Steuerbarkeit der Player-Pianos bzw. Vorsetzer realisiert worden (s. Abb. 1). Folgerichtig wurde die Leistungsfähigkeit dieser neuen Instrumente auch in öffentlichen Konzerten erprobt (s. Abb. 2). Die Vorstellung eines Klavierkonzerts, dessen Solist ein Automat ist, der wiederum von einem künstlerischen Operator kontrolliert wird, scheint uns heute weit entfernt zu sein. Drummachines, Arpeggiatoren, Begleitautomaten oder Live-Sequenzing führen jedoch genau diese Praxis fort. Die Auff ührungskultur hybrider Instrumente der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert kann daher als Vorgeschichte aktueller Praxis verstanden werden. Abbildung 1: Steuermechanismus eines Piano-Vorsetzers (Detail).
Wie die automatische Steuerung von Instrumenten hat auch die phonographische Reproduktion ihre spielerische Vorgeschichte. Zu den ersten Versuchen der Spielbarkeit der phonographischen Technik gehört László Moholy-Nagys Idee des Phonographen als Generalinstrument, »das alle bisherigen Instrumente überflüssig macht«.9 Interessanterweise waren seine Visionen von dem Gedanken einer universell einsetzbaren Erzeugung von Klängen geleitet, also eher der Klangsynthese verwandt als den Vorgängen der Speicherung und Abbildung. Wenig später folgten die Experimente Ernst Tochs und Paul Hindemiths, die 1930 während des Festivals Neue Musik Berlin (der nach Berlin verlegten zunächst Donaueschinger, dann Baden-Badener Kammermusiktage) vorgestellt 9. László Moholy-Nagy: »Musico-Mechanico, Mechanico-Optico«, in: HansHeinz Stuckenschmidt (Hg.), Musik und Maschine: Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, Heft 8/9 (1926), S. 363-367, hier S. 365.
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wurden.10 Sie betrafen die kompositorisch motivierte Zeit- und Tonhöhenmanipulation aufgezeichneter Musik und nahmen bereits zentrale gestalterische Verfahren der späteren Tape Music voraus. Dennoch ließ der nächste große Schritt der Reproduktionsmusik, der schließlich das ausgehende 20. Jahrhundert in einer breiten musikalischen Praxis von Unterhaltungsmusik bis zur Avantgarde prägen sollte, noch auf sich warten. Diese neue Praxis, der Zugriff der DJ-Kultur auf kulturelle Archive, also eine Echtzeitmontage sedimentierter Medieninhalte, brauchte schon deshalb einige weitere Jahrzehnte bis zu ihrer Durchsetzung als ästhetisches Verfahren, weil sich zunächst die sekundären Medienarchive der persönlichen und subkulturellen Mediennutzung bilden mussten. Ebenfalls im Wege waren die ästhetischen Normen der europäischen Kunstmusik wie Autorschaft, Werk und Originalität, die in einer zunehmend globalisierten Medienkultur relativiert und verändert wurden. Abbildung 2: »The instrument supplies the performer with absolutely perfect technique«
10. Laut Programm als »Originalwerke für Schallplatten«, s.a. Mark Katz: Capturing Sound. How Technology Has Changed Music, Berkeley: University of California Press 2004, S. 99f.
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4. HiFi – ein histor isches Zw ischenspiel der medialen Abbildung Vor der Wiedergeburt der spielbaren Musikautomaten in der Musikelektronik und der spielbaren Phonographen in der DJ-Kultur steht als historisches Zwischenspiel eine Phase des Dogmas der authentischen Abbildung: Der Musikautomat der Künstlerrollen verliert seine Daseinsberechtigung angesichts der technischen Perfektionierung der Phonographie, die nun selbst als bestaunenswerte Konfiguration der High Fidelity die Illusion perfekter Abbildung befördert. »In den dreißiger Jahren vollzog sich also eine Umdeutung der Schallreproduktion vom Instrument zum Medium. Der Hörer erlebt nicht mehr das Entstehen des Klanges in räumlicher und zeitlicher Gegenwart, wie dies in gewisser Weise bei mechanischen Musikinstrumenten noch der Fall ist, sondern versteht das Abspielen der Schallplatte, dem Betrachten eines Photos vergleichbar, als Verweis auf ein vergangenes Geschehen. So wurde die unverborgene Künstlichkeit des Wiedergabegerätes, dessen technische Beschränkung zu besonderen, ›mediengerechten‹ Arrangements und Kompositionen geführt hatte, ersetzt durch die Illusion, einem Konzert beizuwohnen. Mit diesem ›Transportieren von Klängen‹ entwirft das Medium seine eigene Realität. Es entsteht eine Musik ohne Ort.«11
Diese Ortlosigkeit lässt sich am Bild des mit geschlossenen Augen lauschenden HiFi-Hörers, der sich statt im Wohnzimmer im Konzertsaal wähnt, leicht nachvollziehen. 12 Die Rezeption von phonographisch gespeicherter Musik gerät mit immer neuen technischen Innovationen der Übertragung, Speicherung und Wiedergabe (z.B. FM-Hörfunk, elektromagnetische Tonabnehmer, Stereo, Vinyl-LP etc.) in eine Phase des Ideals der Übereinstimmung von Realem und medialer Abbildung. Diese Situation verändert sich jedoch – teils wiederum getrieben durch studiotechnische Innovationen – schon bald durch Produktionen der populären Musik, welche auf offensichtliche Studioeffekte und -manipulationen ohne reale Vorbilder setzen. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts führen neue soundgestalterische popmusikalische Stile (z.B. Psychedelic) und die phonographische Revolution des Rap zur Repositionierung des HiFi-Ideals als einer möglichen Rezeptionshaltung unter vielen anderen. Die ganz selbstverständlich mit phonographischer Medienproduktion aufgewachsenen Generationen erwarten immer weniger eine ›naturgetreue‹ Abbildung einer vergangenen Auff ührung als vielmehr ein Medienprodukt, das auf die Anforderungen seiner eigenen Auff ührungssituation hin optimal produziert ist. Von der Kopplung an eine ›reale Original-Auff ührung‹ verselbständigt sich die Medien-Auff ührung mit ihren eigenen spezifischen 11. V. Straebel: »Klangraum und Klanginstallation« (s. Anm. 8), S. 219. 12. S. dazu auch Kurt Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge
der Musiksoziologie, München: Piper 1982. Die Künstlichkeit der phonographischen Räume ist eine der zentralen Eigenschaften der »Mediamorphose« bei Kurt Blaukopf und wird dort ausführlich thematisiert.
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konventionalisierten Erwartungen und Kommunikaten. Die zunächst empfundene Fremdheit und Künstlichkeit der phonographischen Räume schlägt in die Erwartung ihrer Gestaltbarkeit jenseits ›natürlicher‹ Referenzen um. Mit der zunehmenden Konventionalisierung der sich im Anschluss bildenden neuen Dispositive der Rezeption (Club und Event; Beispiel Love Parade) und medialen Gestaltung emanzipiert sich eine eigene ästhetische Realität des Mediums, die vormalige Reproduktion erhält selbst Auff ührungscharakter. Anstelle des Hier und Jetzt der ursprünglichen Live-Auff ührung ist das Hier und Jetzt der Medienauff ührung getreten, die Aura des musikalischen Ritus verschwindet nicht, wie Walter Benjamin vermutete, sondern wird in einer technikkulturellen Konfiguration der Auff ührung neu inszeniert. Zu den auratischen Gegenständen dieser neuen Auff ührungskultur gehören – wie in der traditionellen Praxis auch – entsprechend die neuen Instrumente der Performance: statt Violine, Klarinette oder E-Gitarre erscheinen Plattenspieler, Synthesizer und Sampler als Medieninstrumente.
5. Reproduktionsmusik II – konkrete Exper imente und DJ-Sets Den Akteuren einer Musik der Reproduktion waren die tief greifenden Veränderungen nicht entgangen, die sich durch die Medien für die musikalische Kultur und damit auch für das Konzept des Musikinstruments vollzogen. Die damit mögliche neue Musik und Musikpraxis wollte erprobt und diskutiert werden, in Europa etwa durch die musique concrète und die Schriften Pierre Schaeffers, der präzise feststellt: »Alle diese Bemühungen um eine Erneuerung der Musik, in Amerika wie in Europa, bei den Seriellen wie bei den Konkreten, zeichneten sich trotz ihrer Unterschiede durch eine Anzahl von gemeinsamen Kennzeichen aus, deren Bilanz wir wie folgt zogen: • Der Begriff ›Musikinstrument‹ ist in Frage gestellt; • die hergebrachte Notation erweist sich sehr oft als ungenügend zur Darstellung von angestrebten und verwirklichten Klangeffekten; • die traditionellen Beziehungen zwischen Komponist, Ausführendem und Publikum sind weitgehend außer Kraft gesetzt.«13
Mit den von ihm selbst und Jacques Poullin Anfang der 1950er Jahre entworfenen Magnetbandinstrumenten Phonogène (das eine chromatische Transposition aufgenommener Klänge erlaubt) und Morphophone (ein Bandechogerät) erprobte Schaeffer die neuen Möglichkeiten. 14 Der breite Durchbruch für 13. Pierre Schaeffer: Musique concrète: Von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur elektroakustischen Musik heute, Stuttgart: Klett Verlag 1974, S. 29. 14. Zu den Instrumentkonfigurationen der analogen Phase der Reproduktionsmusik vgl. Thorsten Klages: Medium und Form – Musik in den (Re-)Produktionsmedien, Osnabrück: epOs-Music 2002.
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die Instrumente der Reproduktion in den Alltag musikalischer Gestaltung fand jedoch weder in der seriellen Musik noch in der musique concrète statt, sondern geht von der simulativen Praxis der Heimorgeln (Vorgeschichte der Sampler: Chamberlin und Mellotron) und – ästhetisch weitaus innovativer – von den Turntables der jamaikanischen Soundsystems aus. Die prophezeite Neudefinition des Musikinstruments wird schließlich im hybriden transkulturellen Feld des Rap, Hiphop und Techno greif bar, in dem die traditionelle Notenschrift keine wesentliche Rolle mehr spielt und Kategorien wie Werk und Autorschaft ebenso neu gedacht werden. 15 Die Akteure des New Yorker Disco, des Remix und der jamaikanischen Soundsystems bedienen sich ohne Rücksicht auf die traditionellen Werte westeuropäischer Kunstmusik der Archive und Maschinen der Reproduktionsmedien. Mit der Etablierung dieser neuen Praxis verschiebt sich auch die Diskussion um das musikalische Koordinatensystem der Akteure und ihrer technischen Konfigurationen: Sind DJs Musiker, sind ihre Turntable-Setups Musikinstrumente? In der DJ-Szene selbst gibt es zu diesem Thema engere und weitere Definitionen. Der Turntablist – als Virtuose des Scratch & Mix – gilt gegenüber dem ›traditional DJ‹ unbestritten als Musiker, sein Set wird genauso handwerklich kompetent und künstlerisch sensibel konfiguriert wie die Stimmung und Intonation eines Konzertflügels. »The new name distinguishes the turntablist from the traditional DJ, someone who plays records but is not typically thought of as a musician. Although turntablists consider themselves – and are – musicians, their originality is sometimes questioned because they perform on machines designed for automatic playback«.16
6. ›Wirkliche Instrumente‹ in der Welt der Computer, Sampler und Programme Ende der 1980er Jahre, also noch weit vor der Ära der Laptop-Performance, sieht Serge Dutrieux seinen Macintosh-Rechner als einen Gegenstand, den er auf der Bühne »wie ein wirkliches Instrument« einsetzen möchte. 17 Sein Wunsch richtet sich nicht auf eine bestimmte musikinstrumentale Beschaffenheit, sondern auf die Vorstellung, den Desktop-Rechner wie ein Musikinstrument zu spielen. Dieses »wirkliche Instrument« repräsentiert im Kern ein
15. Tricia Rose zeigt in ihrem Standardwerk zum Hiphop: Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hannover, London: Wesleyan University Press 1994, dass Originalität und Autorschaft auch im Hiphop eine wichtige Rolle spielen, jedoch nicht im klassischen westeuropäischen Sinne. 16. M. Katz, Capturing Sound (s. Anm. 10), S. 116. 17. Vgl. Serge Dutrieux, zitiert nach Rolf Großmann: »Sechs Thesen zu musikalischen Interfaces«, in: Klaus Peter Dencker (Hg.), Interface 2. Weltbilder – Bildwelten: computergestützte Visionen, Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1995, S. 155-162, hier S. 158.
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kulturelles Konzept; der Computer soll aus der Welt der Rechner, der technischen Apparate, in die Musikwelt der Instrumente wechseln. Ein Musikinstrument – soviel konnten wir bisher als Minimalkonsens feststellen – ist ein spezifisches Artefakt, das mit der Intention des Musikhervorbringens verbunden ist. Dieser Minimalforderung würde sowohl der Phonograph als auch der Musikautomat genügen. Musikinstrumente im kulturellen Sinne sind allerdings mehr als nur Musikerzeuger. Entscheidend für ihre Entwicklung ist die Einbindung in die kulturelle Praxis des instrumentalen Spiels von Musik. Eine solche kulturelle Verankerung ist an einer konventionalisierten kommunikativen Rahmung des Spiels eines Instruments zu erkennen, die gleichzeitig die Voraussetzung für eine kollektive Entwicklung von Spieltechniken und musikalischen Gestaltungsoptionen bildet. Verbreitete Praxis, instrumentenspezifische Schulenbildung, Notation und Virtuosität sind Merkmale des kulturellen Settings eines Musikinstruments. Ein solcher erweiterter Instrumentenbegriff gehört jedoch noch zu den Desideraten musik- bzw. kulturwissenschaftlicher Forschung. Es könnte daher sinnvoll sein, zunächst nach den Besonderheiten der neuen Apparate und ihrer Nutzung, den Differenzen zum herkömmlichen Spiel zu fragen. Auch hier geht es wiederum um kulturelle und im engeren Sinne ästhetische Differenzierungen, die nur dann getroffen werden können, wenn die ontologische Perspektive, ein Gegenstand sei per se ein Instrument oder nicht, aufgegeben wird. Ein Plattenspieler, sagen wir ein Technics SL 1200, kann im Wohnzimmer eines HiFi-Fans ein Reproduktionsmedium, in den Händen eines Turntablists wie Kid Koala oder eines experimentellen Virtuosen wie Christian Marclay ein konventionelles Musikinstrument und im DJ-Set eines Grandmaster Flash ein Reproduktionsinstrument sein. Ein Preset-Synthesizer in der Hand eines konventionell spielenden Jazzmusikers ist trotz höchst komplexer Synthesemechanismen entsprechend ein gewöhnliches Musikinstrument, während er im Setup einer interaktiven Installation eine vollständig andere Funktion wahrnimmt. Gleichzeitig kommen die bereits angesprochenen Prozesse der Distanzierung buchstäblich ins Spiel: Schon einfache Instrumente verlagern die Klangerzeugung aus dem menschlichen Körper heraus; sie sind erste Schritte zu einer physischen Distanz von Körperklang und Instrumentenklang. Bernd Enders sieht – im oben zitierten Text – die Instrumente entsprechend als organische Erweiterungen des Körpers. Sie sind Teil eines technikkulturellen Prozesses, der die Entwicklung musikalischer Praxis, ihre Formen und Stile von Beginn an begleitet. Die distanzierten Verhältnisse, von denen der Titel des Beitrags spricht, stellen sich also nicht erst mit den elektronischen Medien oder der Informationstechnologisierung der Musik ein. Sie erreichen jedoch eine neue Qualität, wenn die technikkulturellen Spezifika der Reproduktionsmedien oder der Computermedien als Teil des ästhetischen Prozesses integriert werden. Die präformierte Gestalt und die Form des Zugriffs auf die bereits erwähnte ›halbfertige Musik‹ definieren diese Instrumente mit. Bei den Reproduktionsmedien ist der gespeicherte Klang auf zweifache Weise Teil des instrumentalen Gestaltungsvorgangs: zum einen als Klang194
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schrift selbst, die unvermittelt analog (z.B. beim Plattenspieler) oder vermittelt digital (z.B. beim Sampler) ausgelesen und so gespielt werden kann; zum anderen als Teil des kulturellen Archivs der phonographischen Produktionen, deren sedimentierte Verweisketten spielerisch neu geknüpft werden können. Der Sampler vereinigt als Musikinstrument der digitalen Phonographie beide Aspekte, während sich seine kulturelle ästhetische Tradition aus drei Quellen speist: • der Simulation traditioneller Instrumente; hierzu gehört der Traum der unbegrenzten instrumentalen Verfügbarkeit aller Klänge einschließlich der menschlichen Stimme; • der experimentellen Eroberung der neuen Klanglichkeit der Phonographie; hierzu gehören die Stile der musique concrète, aber auch die Klangexperimente der populären Musik (sowie der Unbefugten und Grenzgänger zwischen den Künsten, z.B. Christian Marclay); • der DJ-Kultur, deren Gegenstand die ästhetische Aneignung der phonographischen Archive zweiter Ordnung (der Archive der persönlichen und gruppenspezifischen Alltagswelten) ist. Verständlicherweise wird sich das instrumentale Spiel des Samplers in der Tradition der Simulation auch in der Spielweise an die simulierten Instrumente anlehnen. Das typische Interface hierfür wäre das Keyboard, welches als Klaviatur bei Cembalo und Piano oder als Orgel-Spieltisch bereits eine vertraute Lösung zur Kontrolle mechanisierter Instrumente darstellt. Als weitere Annäherung an traditionelle Instrumente ist deren technische Ausprägung als Controller, etwa als Blaswandler oder MIDI-Violine möglich. Damit sind in einer früheren Praxis erlernte Spieltechniken auf die medientechnischen Umgebungen übertragbar. Solche Konzepte werden entsprechend als augmented instruments oder extended instruments bezeichnet. 18 Denkbar ist allerdings auch ein idealer Controller, welcher als universelles Musikinstrument dienen könnte und die Universalität des Sampling auf der Ebene des instrumentalen Interfaces repräsentiert. Tatsächlich findet sich vielfach in der Literatur die Vorstellung eines universellen Controllers als Vision eines zukünftigen Instruments. Bei algorithmischen Prozessen der programmierten Erzeugung von Klangstrukturen ist der instrumentale Gestaltungsvorgang auf die Anordnung der Programmteile und ihre Beeinflussung gerichtet. Auch hier gibt es den Simulationsaspekt, etwa bei der Begleit-Automatik von AlleinunterhalterKeyboards oder den scheinbar natürlich verlaufenden Hüllkurven von Klangflächen. Wird dieses Paradigma der Simulation traditioneller Instrumente verlassen, beginnt der vertraute Grund der ›Körperinstrumente‹ brüchig zu werden. Die spielerische Beherrschung oder experimentelle Erprobung der 18. S. dazu Eduardo R. Miranda/Marcelo M. Wanderley: New Digital Musical Instruments: Control and Interaction Beyond the Keyboard, Middleton: A-R Editions 2006, S. 20f.; sowie Jin Hyun Kim/Uwe Seifert: »Embodiment: The Body in Algorithmic Sound Generation«, in: Contemporary Music Review, Vol. 25. No. 1/2, 2006, S. 140f.
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automatischen Prozesse verlangt eine veränderte Kultur des instrumentalen Spiels. Nicht mehr die physische Anordnung der Tasten des Keyboards sind spielerisch zu bewältigen, sondern die generative Struktur der Programme rückt ins Zentrum: »Man muss das Patch lernen wie ein Instrument«. 19 Das Programm und seine technische Konfiguration werden Teil des kulturellen Konzepts ›Instrument‹.
7. Mythos Kontrolle Eine kritische Perspektive soll abschließend auf eine im Diskurs technischer Musikinstrumente immer wieder missverstandene Vision gerichtet werden: die Vorstellung einer möglichst vollständigen Kontrolle des Instruments durch den menschlichen ›Operator‹. Die empfundene Distanz oder Nähe zu technischen Musikinstrumenten ist nicht eine Frage der mehr oder weniger vollständigen Kontrollierbarkeit von Parametern, sondern der Relation von instrumentaler Organisation komplexer Strukturen und ästhetischer Strategie des Spiels. Während traditionelle Instrumente ihre physische Klangerzeugung als dominante Bestimmungsfaktoren ins Instrumentalspiel einbringen (deshalb sind diese Faktoren zu Recht auch in der Klassifi kation der Instrumente so prominent, s.o.), sind elektronische und mehr noch digitale Musikinstrumente selbst vorgängig Produkte einer rationalen und rationalisierten Kultur. Sie enthalten als technisch-kulturelle Artefakte die Ratio musikalischer Produktion bereits als sedimentierte Struktur. Der Versuch, diese Artefakte einer industriellen und postindustriellen Kontrolle zu Werkzeugen ästhetischer Gestaltung zu machen, indem möglichst viele Parameter präzise kontrollierbar implementiert werden, könnte allerdings Probleme mit sich bringen. So beruht die instrumentale Anwendbarkeit des Synthesizers in Form des Mini-Moog gerade auf einer Reduktion der Kontrollmöglichkeiten auf einige wenige zentrale Variablen, welche die technologische Komplexität der modularen Synthesizer-Ära eingrenzen und intuitiv handhabbar machen. Erkauft wird die Handhabbarkeit mit dem weitgehenden Verzicht auf die Flexibilität und Parameterkontrolle der modularen Systeme. Dennoch hält sich der Mythos der totalen Kontrolle hartnäckig in Visionen idealer musikalischer Interfaces. »Je besser kontrollierbar eine Technik ist, desto besser lässt sich diese Technik instrumentalisieren. Je automatischer und unkontrollierbarer die Technik beziehungsweise je eingeschränkter das Interface des technischen Apparates beziehungsweise des medialen Dispositivs sowohl auf der Seite der Hardware als auch der Software ist, desto mehr wird sie als Medium bezeichnet.« 20
19. Christian Fennesz im Interview: »Organisch elektronisch Fennesz«, in: Keys 11 (2007), S. 106-107, hier S. 106. 20. S. Miyazaki: »Medien, ihre Klänge und Geräusche« (s. Anm. 4), S. 4.
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»Sobald der Klang nicht nur rudimentär, das heißt vielleicht durch einen oder zwei Parametern [sic!], sondern durch mehrere bis fast unendlich viele Parameter kontrollierbar wird, kann von einem ›Musik-Instrument‹ im herkömmlichen Sinne gesprochen werden.« 21
Genau dies scheint eine von technischer Vernunft beherrschte InstrumentenVorstellung zu sein, die weit verbreitet ist und oft noch zusammen mit der Forderung nach optimaler Ergonomie auftritt. Damit lässt sich das Paradigma herkömmlicher Instrumente kaum in Richtung der neuen Medientechnologien überschreiten, weniger noch, da auch die herkömmlichen Instrumente sich weder durch eine perfekte Kontrolle aller Parameter noch durch beste Ergonomie auszeichnen. Der britische Elektronica-Produzent, DJ und Bassist Squarepusher (Tom Jenkinson) sieht hier ein dialektisches Verhältnis zwischen der Eigendynamik technischer Konfigurationen, die er als kulturelle Hervorbringungen versteht, und der menschlichen Intentionalität künstlerischer Schöpfung. Seine Position beschreibt eine »Dialektik der Auf klärung« elektronischer und digitaler Musikinstrumente (the machine): »Der Mensch scheitert an den von ihm selbst produzierten zweckrationalen Konfigurationen, wenn er sie im Sinne der totalen Beherrschung einsetzen will«. »Trying to force a machine to manifest a conscious purpose brings about a stifling and deadening process that only in our time could pass for ›creativity‹. It imposes that the didactic ›collaboration‹ with a machine is a strictly one-way energy channel, from the user to the machine. In this situation, the machine cannot constitute a genuine ›oppositional factor‹ in a dialectical equation as it offers not the antithesis of the conscious human will but rather the negation of it. When being forced to ›purpose‹, all the machine seems to be capable of is resistance. It is not that the machine is a lifeless vacuum that continually absorbs inspiration and ideas from its user, but that the user hinders the collaboration by assuming he is the progenitor of these things in the first place. It is in this trick of perspective, from the humble ›it happened‹ to the questionable ›I made it happen‹ to the disastrous ›I can make it happen‹ that lies the labyrinth of paradoxes that is our ›modern‹ world. […] Unfortunately, working with any material in a violent and dictatorial way simply produces artefacts of human stupidity, not art.« 22
Ein positives Gegenbeispiel aus der elektronischen Live-Music wäre die von Michel Waisvisz entwickelte CrackleBox, die für das Instrumentenkonzept des STEIM (Studio for Electro Instrumental Music) in Amsterdam paradigmatisch ist. Andreas Otto, der sich in seiner Magisterarbeit mit der Geschichte der Entwicklung elektronischer Musikinstrumente am STEIM ausführlich auseinander gesetzt hat, schreibt dazu:
21. Ebd., S. 5. 22. Tom Jenkinson »Collaborating with Machines«, in: Flux Magazine March
2004, zit.n. www.warprecords.com/?news=789 vom 1. Juni 2007.
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»Kleinste Druckausübungen und Bewegungen der Finger auf der Strom leitenden Oberfl äche finden ihre unmittelbare klangliche Umsetzung ohne Zeitverlust oder mechanische Verzögerung. Durch die Berührung der Steuerung kann der Körper des Instrumentalisten als physikalisch widerständiger Teil im elektronischen Schaltkreis des Instruments betrachtet werden. Das Spiel ist intuitiv zu erlernen, das heißt durchzuhören bei der Improvisation und nicht durch logische, visuell geleitete Annäherung, wie es bei der Arbeit mit den Oberfl ächen klanggenerierender Apparate häufig der Fall ist.«23
Das Instrument spielt hier gerade nicht die Rolle einer konkreten Ausprägung der Vision totaler Kontrolle, wie sie oft und gerade in digitalen Umgebungen anzutreffen ist, sondern begegnet dem Akteur als gefundenes technologisches Objekt, das durch kleine Modifikationen für einen musikalischen Prozess brauchbar wird, zu dem es seine Eigenschaften beisteuert. Nun ist die CrackleBox gerade kein Instrument, das eine algorithmische oder phonographische ›halbfertige Musik‹ steuert. Sie ähnelt in der Einbeziehung des menschlichen Körpers in den Schwingkreis des elektronischen Oszillators eher dem Theremin als aktuellen Synthesizern. Dennoch lehrt sie auch für die neue Welt digitaler musikalischer Medien-Interfaces, dass Einfachheit, Unmittelbarkeit und spielerische Überraschung mehr Nähe und Ideenreichtum produzieren können als die distanzierten Verhältnisse rationaler Kontrolle. Abbildung 3: The CrackleBox, Michel Waisvisz STEIM.
23. Vgl. Manuskript (Magisterarbeit) Andreas Otto: »Die Entwicklung elektronischer Musikinstrumente am STEIM (Studio für elektro-instrumentale Musik) in Amsterdam seit 1969«, Lüneburg 2008, S. 20.
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Es bleiben, zusammenfassend gesagt, zwei wichtige Desiderate: Es wäre eine kulturelle Definition des Musikinstruments unter Einbezug der technischmedialen Konfigurationen weiterzuentwickeln. In einem weiteren Schritt wären die Instrumente und die neue ästhetische Praxis (die weit über die Tradition der westeuropäischen Kunstmusik hinausgeht und die Formen populärer Musik in den Medien einschließt) in Beziehung zu setzen. Insgesamt könnte so ein besseres Verständnis des (medien-)musikalischen Wandels gewonnen werden. Auch die neuen Instrumente einer technischen Kultur dürften sich in einer ähnlichen Weise etablieren wie die klassischen Instrumente: Einer Phase der Fremdheit und Exploration folgt eine Phase der Komplexreduktion und die Ausbildung einer musikalischen Sprache des jeweiligen Instruments, falls sich die jeweilige Konfiguration in einer breiteren Praxis etablieren kann. Schließlich entsteht – wie an der Verwendung traditioneller Instrumente in der zeitgenössischen Musik des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist – wiederum eine Phase der Distanz, der neuerlichen Rationalisierung und eine darauf auf bauende neue Praxis. Eine breite Phase der Exploration liegt bereits hinter uns, mehr noch, mit DJ-Set und Sampler verbinden sich längst etablierte Formen und Stile. Wie die Dynamik der Simulation und Virtualisierung in den digitalen Medien verraten, sind jedoch weder die technischen Konfigurationen noch ihre kulturelle Aneignung ausentwickelt. Der Diskurs, was ein musikalisches Instrument ausmacht, bleibt in dieser Situation weiter offen. Die direkte Beeinflussung von Parametern in der Zeit scheint mir eine Kategorie zu sein, die übergreifend konsensfähig ist. Ebenso erscheint es notwendig, Aspekte des intuitiven Lernens bzw. Übens und der musikkulturellen Etablierung miteinzubeziehen. Demgegenüber sind Kategorien der umfassenden Kontrolle zurückzustellen. Die technikkulturelle Entwicklung der eingeführten Instrumente zeigt, dass dagegen die Optionen einer Ausdifferenzierung des Klangs und der weiten musikstrukturellen Anwendbarkeit eine zentrale Rolle spielen. Dies könnte auch für Medieninstrumente relevant sein.
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Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Fr iedhöfe. Warum Aufnahmen sterben müssen Daniel Weissberg
1. Aufnahme, Speicherung, Wiedergabe Der überwiegende Teil der Musik, die heute erklingt, wird von Tonträgern abgespielt. Dass bei der Aufzeichnung von Musik Schallwellen – respektive eine kinetische, elektrische oder digitale Repräsentation davon – aufgezeichnet werden, scheint selbstverständlich. Das war es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch keineswegs und ist es, zumindest in der Produktion von Medienmusik, seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr.1 Im Kontext der Aufzeichnung von Schallwellen hat sich auch die Unterscheidung von lebendig und tot etabliert. Gestorben nennt man eine Aufnahme, wenn sie abgeschlossen ist und die Interpretinnen und Interpreten nicht länger benötigt werden. Lebendig bzw. live hat sich als Begriff für nicht-aufgezeichnete Musik etabliert. Unterschieden wird aber auch bei Tonträgern zwischen Studioproduktionen und Live-Mitschnitten. Das bringt zum Ausdruck, dass es sich bei ersteren zwar um Aufzeichnungen handelt, aber nicht um solche, die ein reales Geschehen dokumentieren. Mit Hilfe von Aufzeichnungen wird ein Artefakt hergestellt. Dem gegenüber erhebt der Live-Mitschnitt den Anspruch, Abbild einer Konzertsituation zu sein. Dass Aufzeichnungsmedien dabei nicht (nur) Wirklichkeit abbilden, sondern auch Wirklichkeit(en) kreieren, gehört wohl mit zu den ältesten medientheoretischen Erkenntnissen.2
1. Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986. 2. Vgl. etwa Rolf Großmann: »Abbild, Simulation, Aktion – Paradigmen der Medienmusik«, in: Bernd Flessner (Hg.), Die Welt im Bild. Wirklichkeit im Zeitalter der Virtualität, Freiburg i.Br.: Rombach 1997.
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2. Abstraktion von Klang Um bei der Aufzeichnung von Musik an die Aufzeichnung von Schallwellen denken zu können, braucht es eine Vorstellung von Klang, welche diesen von seiner Erzeugung abstrahiert. Was uns heute selbstverständlich erscheint, war es früher möglicherweise nicht. Klang und dessen Erzeugung stehen in einem quasi symbiotischen Verhältnis zueinander. Anders als das Wort verweist der Klang in der Musik auf sich selbst, seine Erzeugung und damit auch auf die (Spiel-)Bewegung, mit der er erzeugt wurde. Auch wenn ein musikalischer Kontext durch zahlreiche Codes und Konventionen geprägt ist, können Rezipientinnen und Rezipienten der Musik Bedeutung abgewinnen, ohne die Codes und Konventionen zu kennen. Die meisten, die z.B. Musik aus der Zeit des Barock hören, tun dies in Unkenntnis der durch die Affektenlehre festgelegten Konventionen, ohne dabei etwas zu vermissen. Im Unterschied dazu erschließt sich die Bedeutung eines Wortes nicht aus diesem selbst, sondern auf Grund einer Konvention, die ihm eine bestimmte Bedeutung zuweist. Während es durchaus seinen Reiz hat, Musik aus fremden Kulturen zu hören, deren Konventionen man nicht kennt, wird kaum jemand ein Buch in einer ihm oder ihr unbekannten Sprache lesen wollen. Ein hinreichender Teil der Musik erschließt sich aus dieser selbst, während das Verständnis von Sprache die Kenntnis der ihr zu Grunde liegenden Konventionen voraussetzt. Ist diese Voraussetzung erfüllt, kann ohne Verständnisprobleme mit leiser, sanfter Stimme von größter Wut gesprochen werden. Lautet in der Musik die Spielanweisung furioso, muss die Wut gespielt und der Klang mit einer Energie erzeugt werden, welche diesem Zustand entspricht. Sprechen ist eine durch Konventionen codierte Form der Kommunikation. Wer den Code nicht kennt, versteht nicht, wovon die Rede ist.
3. Alphabet und Notenschr if t Geschriebene Sprache codiert seit Erfindung des Alphabets gesprochene Sprache. Das Alphabet ist eine Lautschrift. Die Bedeutung ist somit doppelt codiert: einmal durch den Code, der die Bedeutung festlegt und einmal durch den Code des Alphabets. Das Verständnis der beiden Codes ist unabhängig voneinander. Es ist möglich einen in einer Fremdsprache geschriebenen Text zu lesen und zu sprechen, ohne dessen Bedeutung zu verstehen. Es gehört zum Wesen von Sprache, dass ein Wort sowohl von seiner Aussprache als auch von seiner Bedeutung abstrahiert werden kann.3 Während sich bei der Sprache die Bedeutung vom gesprochenen wie vom geschriebenen Wort abstrahieren und in andere Sprachen übersetzen lässt, ist diese bei der Musik, sofern dort überhaupt von Bedeutung in einem vergleichbaren Sinn gesprochen werden kann, eins mit dem klingenden Resultat und – 3. Zum Diskurs der Funktion und Rolle von Alphabeten vgl. etwa Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München: Fink 2003; Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I, Hellas 1: Aphrodite, München: Fink 2006.
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vor der Erfindung der synthetischen Klangerzeugung – mit der Bewegung, welche den Klang erzeugt hat. Im Unterschied zum Alphabet zielt die symbolische Notation von Musik nicht auf die Codierung von Klängen, sondern von Strukturen. So werden bei den mittelalterlichen Neumen mit einem Zeichen ganze Tonfolgen aufgezeichnet. Was durch Konventionen festgelegt ist, findet sich allenfalls in Lehrbüchern, aber kaum in den Noten. Die – oft improvisatorisch erweiterte – Interpretation (respektive der Vortrag) eines Notentextes ist integraler Bestandteil eines Werks. Symbolische Notation hält primär den Verlauf von Rhythmen und diskreten Tonhöhen fest. Angaben zur Dynamik, Artikulation, Abweichungen von statischen Tonhöhen (Vibrato, Glissando) und Metren werden im Lauf der Geschichte erst allmählich und sehr viel pauschaler notiert als Rhythmen und diskrete Tonhöhen. Im Gegensatz dazu werden mit dem Alphabet ausschließlich klangliche Eigenschaften vergleichsweise genau notiert. Die Formantfrequenzen von Vokalen, die Klangfarbe von Konsonanten, ja sogar die Mischung von Geräusch und Klang bei stimmhaften Konsonanten lassen sich aus den diskreten Buchstaben und deren Kombination ableiten, wenn die Ausspracheregeln bekannt sind. Genau das, was die Notenschrift präzise festhalten kann, Tonhöhen und Rhythmen, notiert das Alphabet (im Unterschied z.B. zur chinesischen Schrift) allerdings nicht. Ähnlich rudimentär wie die Angaben zu klanglichen Eigenschaften in der Notenschrift sind bei geschriebener Sprache die Implikationen von Interpunktionszeichen bezüglich Tonhöhenverlauf und Rhythmus. Das Alphabet bietet das Potenzial, alles, was an wörtlicher Bedeutung ausgesprochen werden kann, auch schreiben zu können. Was bei transkribierter Sprache verloren geht, ist der Subtext, der beim Sprechen durch die Wahl von Betonungen, Pausen und Tonhöhenverläufen transportiert wird. In der Musik ist das, was diesem Subtext vergleichbar ist, der Text. So wie in der Sprache der Subtext an den Akt des Sprechens gebunden ist, so ist (respektive war bis zur Technik der Schallaufzeichnung im Reellen) in der Musik der Text an den Akt der Klangerzeugung gebunden. Medial vermittelt wird der Rahmen, in dem der Musik ihre klingende Bedeutung gegeben werden kann. Anders beim Alphabet: dessen Funktion ist es, einen Text zu codieren und in seiner Bedeutung unverändert medial zu vermitteln. Während das gesprochene und das geschriebene Wort auf dieselbe Bedeutung verweisen, verweist der geschriebene Klang auf den gespielten und dieser ist die Bedeutung. Die Unterschiede, die hier herausgearbeitet wurden (die Gemeinsamkeiten gäbe es auch) beruhen auf den unterschiedlichen Anforderungen an die mediale Vermittlung von Musik und Sprache.
4. Funktion und Bedeutung (nicht nur) des Körpers Schrift entwickelt sich, um Sprache und vor allem deren Bedeutung unabhängig vom Akt des Sprechens aufzuzeichnen. Obwohl die Verwendung von Bild-Symbolen wie z.B. in den Hieroglyphen zunächst nahe liegt, können 203
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unterschiedliche Deutungen von gesprochener und geschriebener Bezeichnung erst ausgeschlossen werden, wenn es für das gleiche Wort nicht sowohl eine gesprochene als auch eine geschriebene Bezeichnung gibt. Mit der Verwendung des Alphabets bezeichnet das gesprochene Wort die Bedeutung und die Schrift bezeichnet das gesprochene Wort. Mit dieser Konstruktion kann die Bedeutung gesprochener und geschriebener Begriffe nicht divergieren. Der Akt des Sprechens wird für die Vermittlung von Sprache verzichtbar. Das Alphabet erlaubt als Lautschrift entkörperlichte Sprache. Mit dieser Erfindung hat sich das Problem der menschen- und damit körperlosen medialen Vermittlung von Sprache vergleichsweise früh und für einige Jahrtausende erledigt. Notenschrift hat die Aufgabe, den Rahmen für den Akt des Musizierens aufzuzeichnen, nicht diesen Akt verzichtbar zu machen. Im Unterschied zu geschriebener Sprache braucht es bei Notentexten ein hohes Maß an Spezialisierung, um allein durch das Lesen zu einer klanglichen Vorstellung zu gelangen. Bei mehrstimmiger Musik braucht das Lesen auch für Spezialisten ein Vielfaches der Dauer der gelesenen Musik, während Sprache schneller gelesen als gesprochen werden kann. Notenschrift soll ja, im Unterschied zum Alphabet, primär die Auff ührung und nicht das Lesen von Musik ermöglichen. Die Entwicklung der Notation verleiht ihr in gewissen Aspekten jedoch allmählich, und im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend, Ähnlichkeit mit dem Alphabet: es werden immer mehr klangliche Parameter immer genauer schriftlich fi xiert. Auch wenn das nicht in der Absicht geschieht, den Körper verzichtbar zu machen, so hat es in der Tendenz doch diese Auswirkung. Je genauer Klang notiert wird, desto stärker wird er von seiner Erzeugung abstrahiert und damit losgelöst von ihr denkbar.
5. Der Verlust der Körperlichkeit Verzichten wollte man auf den körperlichen Akt des Musizierens keineswegs, im Gegenteil: bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden musikalische Werke ausgeführt oder vorgetragen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts sprach man in diesem Zusammenhang von Interpretation. 4 Die Entwicklung der Figur des Virtuosen und des Dirigenten vollzieht sich gleichzeitig. Beide inszenieren den musizierenden Körper zunehmend. Was sich im 19. Jahrhundert anbahnt, manifestiert sich in der zeitgenössischen Medienkunst noch deutlicher: Verzichtbarkeit des Körpers und dessen Inszenierung im Kunstwerk sind zwei Seiten der gleichen Medaille: Inszeniert wird, was sich nicht (mehr) von selbst versteht. Bemerkenswert ist, dass die Reaktion auf einen möglichen Verlust der Körperlichkeit beim Musizieren zu einem Zeitpunkt einsetzt, zu dem dieser zwar bereits denkbar ist, die Maschinen für die körperlose Reproduktion und Produktion von Musik jedoch noch gar nicht erfunden sind. Die Musikauto4. Vgl. Hermann Danuser: »Musikalische Interpretation«, in: ders., Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 11, Laaber: Laaber (1992).
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maten gab es zwar schon lange (der älteste Bericht eines programmierbaren Musikautomaten stammt aus dem 9. Jahrhundert). Bei diesen wird allerdings der Klang nicht von dessen körperlicher Erzeugung abstrahiert, sondern letztere wird mechanisch nachvollzogen. Mit Schallaufzeichnung haben Musikautomaten und Selbstspielinstrumente deshalb nichts zu tun. Was Platten, Walzen und Lochstreifen festhalten, sind – der Notenschrift vergleichbar – symbolische Strukturen von Klangverläufen und nicht Klänge.5 Es sind zahlreiche Voraussetzungen, die es braucht, damit Edison 1877 den Phonographen erfi nden kann. Technisch ist der Phonograph zwar einfacher als vieles, das es lange vor seiner Erfindung gab. Es ist die Idee, den Schall selbst aufzuzeichnen und nicht die Bewegung, die ihn erzeugt, auf die man wohl erst im Lauf des 19. Jahrhunderts kommen konnte. Bezeichnenderweise hat Edison bei der Erfindung zwar zahlreiche mögliche Verwendungszwecke für die Sprachaufzeichnung angeführt, aber nicht an die Aufzeichnung von Musik gedacht. Sprache vom Akt des Sprechens zu abstrahieren, das war man, wenn auch in anderer Form, gewöhnt. Für die Musik war diese Idee keineswegs selbstverständlich. Das mag auch mit der im Vergleich zu Selbstspielinstrumenten erbärmlichen Klangqualität der ersten Phonographen zu tun haben. Musik ist im Unterschied zur Sprache an ihren Klang gebunden. Wird dieser verfremdet, so wird die Musik verfremdet. Wird der Klang einer Sprachaufnahme verfremdet, dann bleibt die Hauptsache, der Inhalt, erhalten. Die Erfahrung, dass man bei Musikaufnahmen auch bei der klanglichen Verfremdung früher Aufnahmeverfahren durchaus auf den musikalischen Gehalt schließen kann, stand zu Edisons Zeiten noch bevor. Damit gerechnet hat er offensichtlich nicht.6 Es gibt somit gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig zwei Entwicklungen, welche ein vom Akt der Erzeugung losgelöstes Denken von Klang begünstigen: eine auf die präzise Beschreibung des klanglichen Resultats ausgerichtete Notenschrift und die Schallaufzeichnung. Während bei der Notenschrift der Endpunkt einer Entwicklung zur größten möglichen Differenziertheit absehbar wird, steht die Schallaufzeichnung am Anfang einer Entwicklung, die nicht nur die Rezeption und Produktion von Musik grundlegend verändern wird. Es ist der seit der Erfindung der Schrift wohl revolutionärste Schritt in der Entwicklung von Aufzeichnungsverfahren.7 Bis zur Erfindung der Photo-, Phono- und Kinematographie waren Aufzeichnungen entweder symbolisch codiert oder Ausdruck subjektiver Vermittlung. Durch die erstmalige Möglichkeit, Bilder und Klänge uncodiert und dennoch objektiv aufzuzeichnen, ergeben sich für die im 19. Jahrhundert eben erst erreichte Subjektivität des künstlerischen Ausdrucks neue Herausforderungen.
5. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 2003. 6. Vgl. Friedrich Kittler: »Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschi-
ne«, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 58f. 7. Vgl. F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (s. Anm. 1).
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6. Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt War es davor die subjektive Sicht auf das Objekt, welche das Kunstwerk prägte, wurde es im 19. Jahrhundert zunehmend die subjektive Betrachtung des Subjekts (oder allenfalls die subjektive Sicht auf das Subjekt bei der Betrachtung eines Objekts). Nicht zuletzt kommt dies im Motiv des Doppelgängers zum Ausdruck, das im Rückgriff auf die Romantik auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte prominent wird. Der Doppelgänger gibt der Selbstreflexion eine literarische Form. Der Dichter beschreibt eine Figur und stellt – in der Regel mit Schrecken – fest, dass er es selbst ist, mithin sein Doppelgänger, den er da beschrieben hat. Das Objektiv (sic!) und später das Mikrofon führt nun eine neue Instanz ein. Die Sicht der Reproduktionsmedien ist eine objektive. Die Wahl des Objektivs bzw. des Mikrofons und dessen Standort schaff t eine Subjektivität zweiter Ordnung. Auch wenn die Wahl ihrer Einsatzweise immer eine subjektive bleibt, so ist der Vorgang der Abbildung selbst doch ein objektiver. Das abgebildete bzw. aufgezeichnete Subjekt wird zum medial verfügbaren Objekt. Der Doppelgänger ist kein literarisches Konstrukt mehr, er lässt sich als objektiv vermitteltes Abbild auf der Fotographie betrachten und aus Lautsprechern hören. Das Subjektive, das zuvor untrennbarer Teil des Menschenbilds war, wird von dem getrennt, was sich photo-, kinemato- und phonographisch festhalten lässt und was sich dem Blick durch das Objektiv entzieht. Magnetismus, Äther und höhere geistige Sphären werden vorübergehend zu Rückzugsorten für das, was das Subjekt vom medial reproduzierten, vom Objekt gewordenen Subjekt unterscheidet. Vorübergehend, weil dorthin u.a. alsbald die Erkenntnisse von Evolutions-, Vererbungslehre und Psychoanalyse dringen, die in dieser Zeit formuliert werden.
7. Play It Again Sam Mit der allgemeinen Verfügbarkeit elektrischer Energie gewöhnt man sich schnell daran, über Kräfte verfügen zu können, deren Ursprung nicht sinnlich nachvollziehbar ist. So wie Lampen leuchten können, ohne etwas zu verbrennen und sich Räder wie von Geisterhand bewegen, so kann Musik erklingen, ohne auf erkennbare Weise hervorgebracht zu werden. Ein von seiner Erzeugung abstrahiertes Verständnis von Klang braucht es zur Erfindung dieser Reproduktionsmedien, nicht zum Hören der damit reproduzierten Musik.8 Die Körper sind bei medial vermittelter Musik zwar nicht in Hörweite, und die Wiedergabe ist zeitlich unabhängig vom Entstehungsprozess. Hörbar bleibt die Spielbewegung respektive der Klang als ein Resultat derselben dennoch. Die von menschlichen Interpreten und Musikinstrumenten unabhängige Wiedergabe von Musik ist eine der Neuerungen, die der Phonograph brachte. Die andere ist deren beliebige, identische Reproduzierbarkeit. Sie wird nicht mehr durch die Starrheit erkauft, die den Selbstspielinstrumenten 8. Vgl. F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (s. Anm. 1).
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eigen ist (und dort erst 1904, also nach der Erfindung des Phonographen, mit der Erfindung des Welte-Mignon-Klaviers, überwunden wird). Die Schallplatte hält einen subjektiv gestalteten und vom Urheber (dem Subjekt) nie genau gleich wiederholbaren Moment fest. Das 19. Jahrhundert hat den Begriff des Genies und das Virtuosentum hervorgebracht. Diese stehen in einem dialektischen Verhältnis zu ihrem zunehmend mechanisierten Umfeld. Die Schallplatte mechanisiert das, was der Virtuose an einmaliger Schöpfung hervorbringt. Allmählich beeinflusst die Reproduzierbarkeit diesen Moment der Schöpfung. Er geschieht im Bewusstsein seiner Reproduzierbarkeit. Während das mechanistische Weltbild der Wissenschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend ins Wanken gerät, fängt die Mechanisierung des musikalischen Ausdrucks an. Die Folge ist ein Bruch mit der Interpretationstradition des 19. Jahrhunderts, die noch stark von der Einmaligkeit der Auff ührung geprägt war. Die Entwicklung der Notation hin zu immer genauerer Beschreibung des klanglichen Resultats, die Verlagerung einer eher von Konventionen geprägten zu einer eher von Innovationen geprägten Musik, haben in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Vorstellung einer Interpretationspraxis begünstigt, die im Wesentlichen – und vor allem ohne Hinzufügungen – zu spielen hat, was in den Noten steht. Diese Vorstellung wurde auf die Musik des 19. Jahrhunderts projiziert. Gerade die Schallplatte (und die Welte-Mignon-Rollen), welche maßgeblich die Idee einer quasi mechanisierten Interpretation befördert haben, sind auch Trägerinnen der Zeugnisse, welche diese in ihrer Projektion auf das 19. Jahrhundert als Irrtum entlarven. Aufnahmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Interpreten, die in der Tradition des 19. Jahrhunderts spielen, zeigen, dass weder die agogische Gestaltung noch die improvisatorische Erweiterung des Notentextes aus den Partituren ablesbar, aber wesentlicher Bestandteil dieser Musik sind. Noch bevor die Individualisierung, die das 19. Jahrhundert gebracht hat, verdaut werden kann, wird sie von einer Kollektivierung durch mediale Reproduktion abgelöst. Wie bei allen Innovationen verändert die Schallplatte nicht nur die Musik, die aufgenommen wird, sie verändert die Auffassung von Musik und Interpretation grundlegend und in allen Bereichen. Die Möglichkeit des wiederholten Hörens stellt andere Anforderungen an die Interpretation als eine einmalige, nicht reproduzierbare Darbietung. Aufnahmen werden zum Maßstab auch für Live-Konzerte. Mussten bei Aufnahmen auf Schallplatten noch ganze Stücke eingespielt werden, so ändert sich das mit der Verfügbarkeit des Magnetbandes (Tonband) ab ca. 1950 und seinen Möglichkeiten von Schnitt und Montage. So kann jetzt aus verschiedenen Aufnahmen des gleichen Stücks eine Fassung montiert werden, die so nie gespielt wurde. Es ist ein Beispiel für das, was man später Virtual Reality nennen wird: etwas, das wie die Dokumentation eines realen Ereignisses wirkt, ist ›in Wirklichkeit‹ ein Artefakt, die virtuelle Interpretation eines Stücks. Dass die einzelnen Versatzstücke einmal real gespielt wurden, ist nur ein gradueller Unterschied zu einer vollständig virtuellen Realisation.
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8. Formen der Transformation Beim Phonographen wird bei der Aufnahme Schallenergie in kinetische Energie umgewandelt, die in einer Mutterplatte ihre Spuren in Form einer lesbaren Schrift des Reellen der Amplituden und Frequenzen hinterlässt. Der Vorgang von Aufnahme und Wiedergabe ist in je umgekehrter Richtung grundsätzlich derselbe. Beim Magnetband werden Schallwellen in entsprechende Veränderungen der elektrischen Spannung umgesetzt und diese werden aufgezeichnet. Es findet eine Transformation von mechanischer in elektrische Energie statt. Das Tonband rückt die Schallaufzeichnung näher an die synthetische Klangerzeugung, die ebenfalls auf dem Prinzip der Umwandlung von elektrischen Spannungsänderungen in Schallwellen beruht. Obwohl die ersten elektroakustischen Klangcollagen mit Schallplatten realisiert werden, gilt das Tonband als Voraussetzung für die Entstehung dessen, was elektroakustische Musik genannt wird. In Verbindung mit synthetischer Klangerzeugung erlaubt es, Musik unabhängig von körperlicher Bedingtheit zu realisieren. Die frühen elektronischen Spielinstrumente heben den zwingenden Zusammenhang von Bewegungs- und Schallenergie, von Spielbewegung und Klang auf. Das Tonband erlaubt zudem die additive Realisation, die Montage eines klanglichen Resultats und somit die zumindest partielle Aufhebung der zeitlichen Bedingtheit der Realisation von Musik. So wie die fertige Mischung klingt, wurde sie nie gespielt. Es ist ein erster Schritt hin zu dem, was Rolf Großmann die »Musikinstrumentalisierung der Aufzeichnungsmedien« nennt.9 Die elektroakustische Musik geht diesbezüglich wesentlich weiter als diejenige für Musikautomaten. Deren Eigenschaften machen sie zu zuverlässigeren Interpreten als es Menschen je sein können. Im Unterschied zur elektroakustischen Musik schaffen sie aber die Funktion des Interpreten nicht ab. Die elektroakustische Musik schaff t mit dem elektronischen Studio und in der Folge generell in den Tonstudios neue Produktionsbedingungen. In gewisser Hinsicht ist es das Pendant zur modernen Fabrik. Das Produkt wird nicht mehr handwerklich, sondern maschinell gefertigt. Aufgabe der Menschen ist dabei die Bedienung der Maschinen. Das Studio löst die Musik zwar von körperlicher Bedingtheit, nicht jedoch von ihrer Bindung an die Materialität der Instrumente und Medien, mit denen sie realisiert wird.10
9. S.a. den Beitrag von Rolf Großmann: »Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien« in vorliegendem Band. 10. Vgl. Tobias Wollermann: Musik und Medium: Entwicklungsgeschichte der Speicherung, Publikation und Distribution musikspezifischer Informationen, Osnabrück: epOs Music 2006.
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9. Medienmusik Motivation für die Erfindung neuer Medien ist der Wunsch nach besserer und einfacherer Verfügbarkeit der damit vermittelten Inhalte. Der Einfluss der Medien auf die Inhalte und die dadurch bedingten Veränderungen werden bei deren Entstehung nur von einer Minderheit bedacht. Notenschrift entstand zunächst als Gedächtnisstütze. Schon bald nach ihrer Erfi ndung entstand jedoch eine Form von Musik, die auf Grund ihrer Komplexität nur mit Hilfe der Notenschrift entstehen und gespielt werden konnte. In diesem Sinne ist die notierte europäische Musik seit dem Mittelalter eine erste Form von Medienmusik. Ähnlich wie die Notenschrift zunächst benutzt wurde, um bestehende Musik zu notieren, dienen der Phonograph und die nachfolgenden elektroakustischen Aufzeichnungsverfahren zunächst zur Aufnahme und Wiedergabe bestehender Musik. Es sind die Komponisten der frühen elektroakustischen Musik, die mit den neuen Verfahren neue spezifisch mediale, klangliche und kompositorische Bereiche erschließen. In der Populärmusik vollzieht sich, im Unterschied zur so genannten E-Musik, der Wandel zu einer Medienmusik, einer Musik, die auf den Einsatz der Studiotechnik angewiesen ist, durch deren pragmatischen Einsatz. Studioeffekte werden vereinzelt bereits in den 1950er Jahren genutzt. Die Playback-Verfahren, welche das Tonband, insbesondere das Mehrspurband ermöglichen, werden zunächst zur Einsparung von Musikern und für die Vereinfachung der Produktionsverfahren eingesetzt, aber bereits die Veränderung der Wahrnehmung, welche dieser additive Entstehungsprozess mit seinen in jeder Phase hörbaren Zwischenresultaten bringt, beeinflusst die musikalische Vorstellung. Zwar wird auch in der Populärmusik lange Zeit hauptsächlich bereits bestehende Musik aufgezeichnet und allenfalls mit Studioeffekten angereichert. In den 1960er Jahren beginnen jedoch Gruppen wie die Beatles, Pink Floyd und andere ihre Stücke im Studio zu entwickeln und es entstehen Produktionen, die nicht mehr Abbild bestehender Musik, sondern eigenständige Medienmusik sind.11 Teilweise findet auch ein Austausch zwischen diesen Exponenten der Populär-Musik und Komponistinnen und Komponisten elektroakustischer Musik statt, so etwa in dem von Thomas Kessler geleiteten Electronic Beat Studio in Berlin.12 Während bei klassischen Aufnahmen die Herausforderung darin besteht, eine Konzertsituation mit größtmöglicher Abbildungstreue auf Tonträger zu bannen, hat sich in der Populärmusik die Situation längst in ihr Gegenteil verkehrt: der Aufwand für die konzertante Auff ührung vieler Studioproduktionen wird immer größer. Playbacks sind längst integraler Bestandteil der Live-Shows mit den entsprechenden Einschränkungen für spontane Entscheidungen während des Konzerts. 11. Vgl. Friedrich Kittler: »Der Gott der Ohren«, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 130f. 12. Vgl. Virgil Moorefield: The Producer as Composer: Shaping the Sounds of Popular Music, Cambridge MA: MIT Press 2005.
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Im Lauf der Entwicklung analoger Verfahren gelingt es, die ungewollten Veränderungen des aufgezeichneten Klangs durch die Reproduktionsmedien immer weiter zu reduzieren. Das Übertragungsrauschen, das bei analogen Medien zum (fehlenden oder dazu addierten) Bestandteil der Information wird, kann minimiert werden, der Umfang von Frequenz und Dynamik entspricht weitestgehend dem des menschlichen Gehörs. Dennoch werden Alternativen zu dem erforscht, was einst die Voraussetzung für die Reproduktionsmedien war: Alternativen zur analogen Informationsübertragung.
10. Null und eins Die binär digitalisierte Aufzeichnung von Bild und Klang macht sich u.a. eine Erkenntnis zu Nutze, welche bereits das Daumenkino gebracht hat: eine Bildfolge von mindestens 16 Einzelbildern pro Sekunde verschmilzt in der Wahrnehmung zu einem Kontinuum. Auch mehr als 16 Schallereignisse oder -veränderungen pro Sekunde werden als Tonhöhen und nicht mehr als Folge von Ereignissen oder Veränderungen wahrgenommen. Dass sich ein Bild in einzelne Punkte auflösen respektive sich aus einzelnen Punkten zusammensetzen lässt, haben u.a. die Pointilisten auf kreative Weise vorgeführt. Wenn es gelingen würde, eine Schallwelle in einem hinreichend feinen Raster diskreter Punkte zu erfassen, müsste sich damit ein Klang digital abbilden lassen. Für die Klangsynthese gelang dies erstmals 1956, für die Schallaufzeichnung in den frühen 1970er Jahren. Die Anforderungen an Auflösung und Anzahl dieser Punkte war für die Technik und die Speicherkapazität in der Pionierzeit der Computermusik eine Überforderung, die Kompromisse bezüglich der Klangqualität erforderte. Die Übersetzung eines kontinuierlichen Spannungsverlaufs in eine Folge diskreter Punkte war als Idee naheliegend, technisch jedoch erst später befriedigend zu realisieren.13 Bei der Digitalisierung stellt sich diesbezüglich die Situation umgekehrt dar wie beim Phonographen. Bei letzterem war es nicht die Technologie, welche der Erfindung im Weg stand. Technisch hätte er schon wesentlich früher realisiert werden können. Es war die Schwierigkeit, Klang von seiner Erzeugung abstrahiert zu denken. Die Digitalisierung von Bildern und Klängen war denkbar, lange bevor sie technisch realisiert werden konnte, und noch als sie realisierbar wurde, überstieg die Datenmenge, die für eine sinnvolle Dauer von Klang- und erst recht von Bildmaterial verarbeitet und gespeichert werden muss, die damals verfügbare Technologie und die Kapazitäten aller bis dahin existierender Speichermedien.14 Erst die enorme Leistungssteigerung der Prozessoren und die fortschrei13. Vgl. Friedrich Kittler: »Der lange Weg zur Compact Disc«, in: Herbert-vonKarajan-Centrum (Hg.), Sigrit Fleiß/Ina Gayed (Red.), Amor vincit omnia: Karajan, Monteverdi und die Entwicklung der neuen Medien, Wien: Zsolnay 2000, S. 215f. 14. Vgl. Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld: transcript Verlag 2004.
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tende Miniaturisierung der Speichermedien haben zu der heutigen Situation geführt, in der Leistungsfähigkeit und Speicherkapazität bei digitalen Aufzeichnungsverfahren die gewünschte Nutzung nur noch in Ausnahmefällen einschränken. Aufnahme und Wiedergabe von Bild und Ton sind für heutige Geräte minimale Anforderungen und deren Verfügbarkeit ist omnipräsent. Die Digitalisierung von Bild- und Tonaufnahmen führt nach den codierten (symbolischen) und den analogen (reellen) Aufzeichnungsverfahren eine dritte Kategorie ein, welche die Eigenschaften der beiden anderen vereint und erweitert. Die herkömmlichen Codierungen wie das Alphabet oder die Notation sind selektiv. Sie zeichnen nur das auf, dem Bedeutung beigemessen wird. So codiert z.B. Schrift im Unterschied zur Schallaufzeichnung von Sprache was, aber nicht wie gesprochen wird, während analoge Aufzeichnungsverfahren gegenüber dem aufgezeichneten Material neutral sind. Diese Eigenschaft teilt die nicht-selektive binäre Digitalisierung mit den analogen Verfahren. Mit ihr setzt sich eine Tendenz fort, die mit der Erfindung analoger Aufzeichnungsverfahren ihren Anfang nahm: Die Qualität der Aufzeichnungsund Wiedergabemedien wird an der Fähigkeit gemessen, sich selbst zu verleugnen. Je weniger ein Lautsprecher als solcher erkennbar ist, desto besser ist er. Entsprechend wird bei der Digitalisierung – der Zerlegung des abgebildeten Materials in diskrete Punkte eines Bilds oder einer Schallwelle – eine Auflösung angestrebt, welche die einzelnen Punkte der menschlichen Wahrnehmung entzieht. Während selektive Codierungen als solche erkennbar sind und von Menschen geschrieben und gelesen werden können, kann der binäre Digitalcode – alleine schon wegen der Datenmenge – nur von Maschinen geschrieben und gelesen werden. Seine Funktion ist die Simulation der analogen Aufzeichnung, Wiedergabe, Bearbeitung und Synthese von Signalen unter Vermeidung der Einschränkungen analoger Verfahren. Damit verbunden sind zwangsläufig spezifische Eigenschaften digitaler Verfahren. Die Tabelle fasst einige der wesentlichen Eigenschaften der unterschiedlichen Kategorien zusammen (s. nachfolgende Tabelle): Die binäre Digitalisierung umfasst alle möglichen Formen der Aufzeichnung und führt zu fließenden Übergängen zwischen Aufzeichnung und Synthese. Sie ist universell einsetzbar. Es werden Bewegungen ebenso aufgezeichnet wie Angaben zur Steuerung und Synthese von Klängen und Bildern sowie die Klänge und Bilder selbst. Alles findet seine Entsprechung in einer Folge von Nullen und Einsen und nur noch dort.15
15. Vgl. Rolf Großmann: »Signal, Material, Sampling. Zur ästhetischen Aneignung medientechnischer Übertragung«, in: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), Übertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld: Kerber 2004, S. 91f.
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Tabelle 1
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11. Die Rückkehr automatisch gesteuer ter Instrumente – MIDI Neben den Standards zur Aufzeichnung und Wiedergabe von Klängen gehört zu den frühen Konventionen für musikalische Anwendungen der MIDI Standard, der 1983 etabliert worden ist. Die allgemeine Verfügbarkeit digitaler Klangsynthese und -bearbeitung in Echtzeit stand an ihrem Anfang. Die oben beschriebene Universalität des Computers für den Umgang mit Klängen und Bildern, vor allem die Aufnahme und Wiedergabe in Echtzeit, war in der Praxis mit erschwinglichen Computern noch nicht realisierbar. Es wird in hybriden Umgebungen mit spezialisierten Geräten wie Synthesizern und Samplern gearbeitet. Computer werden, wie schon früher in großen elektronischen Studios, zur Steuerung dieser Geräte eingesetzt. Im Consumer-Bereich braucht es dazu einen technischen Standard und einen einheitlichen Code, die es erlauben, Geräte verschiedener Hersteller miteinander zu verbinden und mit einem einheitlichen System zu steuern. Bezeichnend ist, dass bei der Ausgestaltung des MIDI-Protokolls weitestgehend auf Metaphern des Instrumentalspiels und nicht etwa auf solche eines kompositorischen Denkens, oder eines Denkens in klanglichen Parametern zurückgegriffen wird. Im Kern geht der MIDI-Standard von einer Klaviatur aus. Für die Bestimmung von Tönen gibt es Notennummern in Verbindung mit einer Anschlagstärke (Velocity). Damit muss zwar nicht zwingend die entsprechende Tonhöhe des herkömmlichen Tonsystems mit der entsprechenden Lautstärke ausgelöst werden, zunächst einmal sind die Empfänger, in der Regel Synthesizer oder Sampler, aber so voreingestellt. Weitere Elemente des Protokolls definieren u.a. ein Sustainpedal (Haltepedal), ein Blaswandler (als einzige Anleihe bei einem Musikinstrument, die nicht von der Klaviatur abgeleitet ist) und als Erweiterung der konventionellen Klaviatur After Touch (den es beim Clavichord bereits gibt) und die Loslass-Geschwindigkeit (Release Velocity) der Taste. Dieses letzte Element, das als einziges eine Erweiterung bestehender Spielpraktiken ist, hat sich bezeichnenderweise nicht durchgesetzt. Es gibt kaum Keyboards, welche die Release Velocity messen und übertragen. Der MIDI-Standard hat sich bis heute erhalten, weil er zwar eine herkömmliche Musizierpraxis abbildet und damit tendenziell auch zu einer solchen verleitet, Alternativen dazu aber nicht verhindert. Zu den wesentlichen Neuerungen der elektroakustischen Gestaltungsmittel gehört die Auf hebung der Grenze zwischen einem Komponieren von und einem mit Klängen.16 In der ersten Generation der Analogsynthesizer, die auch ohne Keyboard benutzt werden können, findet sich eine konkrete Umsetzung dieser Charakteristik. Insgesamt hält sich jedoch ein konventioneller Umgang, der kompositorische und klangliche Gestaltung voneinander trennt, in vielen Bereichen. Er findet sich nicht erst beim MIDI-Standard, sondern bereits in der Programmiersprache Music V, mit der bis weit in die 1970er Jahre der größte Teil der 16. Vgl. Karlheinz Stockhausen: »… wie die Zeit vergeht…«, in: Herbert Eimert (Hg.), Musikalisches Handwerk, Die Reihe, Bd. III, Wien u.a.: Universal Edition 1957, S. 13ff.
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frühen Computermusik realisiert wurde. Es gibt dort eine Trennung in ein Instrument File, das festlegt, welche klanglichen Möglichkeiten verfügbar sind und ein Score File, das festlegt, wie mit diesen Möglichkeiten umgegangen wird. Damit bleibt die Figur des körperlichen Musizierens zumindest metaphorisch in dieser am weitesten entkörperlichten Form der Produktion von Musik erhalten. Der MIDI-Standard wird in einer Zeit als Consumer Format entwickelt, in der die experimentelle Pionierzeit im Umgang mit Synthesizern in der Populärmusik einem Gebrauch elektronischer Klangerzeuger als Tasteninstrumente gewichen ist, oft zur Imitation von Instrumenten mit natürlicher oder elektromagnetischer Klangerzeugung. MIDI ist auch ein Abbild des gebräuchlichen Umgangs mit diesen Instrumenten, und wie jeder Standard perpetuiert er, was er abbildet. Mit Sequencer-Programmen können die Steuerdaten für die Klangerzeugung aufgezeichnet, bearbeitet oder auch direkt generiert werden. Die vielfältigen Formen graphischer Darstellung und Bearbeitung erlauben einen einfach nachvollziehbaren Zugriff auf alle Parameter der Klangsteuerung. Die Flexibilität und Übersichtlichkeit, verbunden mit der ständig in Echtzeit verfügbaren Wiedergabe, eröffnen Gestaltungsmöglichkeiten, für die es früher ein entsprechend geschultes Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit zum Umgang mit Partituren gebraucht hat. Wenn in dieser Hinsicht die Notenschrift mit dem Alphabet gleichgesetzt wird, zeigt sich am Beispiel der Sequencer-Programme, wie elektronische Medien zu einem post-alphabetischen Umgang mit Information führen. So wie die Notenschrift eine Medienmusik hervorgebracht hat, die der medialen Vermittlung durch Noten zwingend bedurfte, so entsteht zuerst mit den Mitteln der Tonbandmontage, vor allem der Mehrspur-Tonbandtechnik, und später mit dem Computer eine Medienmusik, welche durch diese Aufzeichnungs- und Produktionsverfahren geprägt und ohne diese nicht realisierbar ist. Gerade die Orientierung des MIDI-Standards an konventionellen musikalischen Vorstellungen war Voraussetzung für die enorme Verbreitung des Umgangs mit elektroakustischer Musik. Erfindungen wie die Humanize-Funktion, welche eine maschinenhafte Genauigkeit durch kleine Zufallsabweichungen ›vermenschlicht‹ oder die Swing-Quantisierung, welche nicht-swingenden Einspielungen zu einem Swing-Feeling verhelfen soll, zeigen einerseits eine Verankerung in einer körperbetonten Musik, lassen andererseits den Körper in dieser Musik zu einem Simulakrum werden. Das Spiel, zuweilen auch das Kokettieren mit der maschinenhaften Genauigkeit am Computer gesetzter Rhythmen zielt nicht auf eine musikalische Ästhetik jenseits des Körperlichen. Vielmehr leistet die Maschine dasselbe, was auch menschliche Interpreten leisten, allerdings mit unmenschlicher Genauigkeit. »Entkörperlichung ist damit nichts anderes als eine Körper-Erfahrung neuer Art«17, schreibt Hans Belting in anderem Zusammenhang, aber auch für unseren treffend.
17. Hans Belting: Bild-Anthropologie, München: Fink 2001.
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Der Übergang zu einer Musik jenseits der Grenzen einer konventionellen Musizierpraxis wird fließend. Zu einem Einsatz elektroakustischer Gestaltungsmittel für eine eigenständig elektroakustische Musik ist es ein kleiner Schritt, zumal es dazu nur einer Veränderung des Umgangs mit bestehender Software und Geräten bedarf, auch wenn die Sequencer-Programme dabei Grenzen setzen, die durch andere Kategorien von Programmen überwunden werden müssen.18
12. Die Universalmaschine Der Computer als universale Simulationsmaschine hat sämtliche Formen der Aufzeichnung wie auch der Wiedergabe universell verfügbar gemacht. Die Frage, was aufgezeichnet wird, ist kaum noch eine Frage nach dem Medium. Bis zur universellen Verfügbarkeit des Computers im Bereich von Aufnahme und Wiedergabe wurde die spezifische Medialität durch die spezifischen Möglichkeiten eines Mediums und damit zwangsläufig auch durch die Grenzen dieser Möglichkeiten definiert. Die spezifische Medialität des Computers ist, dass er keine spezifischen Möglichkeiten und damit auch keine Grenzen dieser Möglichkeiten hat. Die spezifische Medialität des Computers als universelle Simulationsmaschine manifestiert sich auf einer anderen Ebene: Der Umgang mit ihm ist immer ein metaphorischer. Es ist nicht die Wahl des Mediums, sondern die der Metapher, welche die Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs definiert.19 Zur Universalität des Mediums gehört auch, dass es zwischen Aufzeichnung und Synthese von Klängen und Strukturen ebenso fließende Übergänge gibt wie zwischen Aufzeichnung und Steuerung derselben. In allen Bereichen lässt sich eine zunehmende Körperbezogenheit der Metaphorik feststellen. In den Anfängen der elektroakustischen Musik war die Unabhängigkeit des klanglichen Potenzials von körperlicher Bedingtheit ein zentrales Moment. Die frühen live-elektronischen Versuche waren (in Europa mehr, in den USA weniger) Randerscheinungen. Die Form des Lautsprecherkonzerts hat sich bei einem breiteren Publikum allerdings nie durchsetzen können. Durch die Musikinstrumentalisierung der Aufzeichnungsmedien lässt sich die Wiedergabe aufgezeichneter Klänge nicht mehr mit Entkörperlichung gleichsetzen.20 Je weniger die Leistungsfähigkeit der Computer der Wahl der Metaphorik 18. Vgl. Michael Harenberg: »Virtuelle Instrumente zwischen Simulation und (De)Konstruktion«, in: Marcus S. Kleiner/Achim Szepanski (Hg.), Soundcultures: Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 69-93. 19. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Metaphorologie der Medien«, in: ders., Die Zäsur der Medien, Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 19f. 20. Vgl. Christoph Cox: »Wie wird Musik zu einem organlosen Körper? Gilles Deleuze und experimentelle Elektronika«, in: M. S. Kleiner/A. Szepanski (Hg.), Soundcultures (s. Anm. 18), S. 162f.
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Grenzen setzt, desto körperlicher wird diese. Die Kognitionsforschung geht davon aus, dass auch Begriffe, mit denen wir abstrakte Inhalte bezeichnen, einen körperlichen Erfahrungshintergrund haben. Die Analyse derjenigen Metaphorik im Umgang mit Computern, die sich zunehmend durchsetzt, scheint das Konzept des Embodiments, einer in der Körperlichkeit verankerten Wahrnehmung auch abstrakter Zusammenhänge, zu bestätigen.21 Wenn Filmaufnahmen abgeschlossen sind, hat man sie im Kasten. Tonaufnahmen sind, wenn sie abgeschlossen sind, gestorben. Die Unterschiede zwischen lebendigem Geschehen und dessen photo- oder kinematographischer Aufzeichnung sind zu evident, um mit den Begriffen lebendig oder tot unterschieden zu werden. Beim Schall ist das anders. Das Mikrofon ist dem menschlichen Ohr sehr viel ähnlicher als das Kameraobjektiv dem Auge.22 Gerade beim Schall, bei dem Aufnahmen möglich sind, die sich vom Original akustisch kaum unterscheiden, wird der Unterschied zwischen den beiden dialektisch mit dem für Menschen wohl elementarsten Gegensatz von Leben und Tod zum Ausdruck gebracht. Je näher das medial vermittelte Abbild dem Original äußerlich kommt, desto mehr entfernt es sich von ihm durch die zunehmende Bedeutung seiner medialen Vermitteltheit. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass von der Stereo-Photographie bis zur Surround-Aufnahme bisher alle Versuche, die Distanz zwischen Original und Abbild mittels ›wirklichkeitsgetreuen‹ Technologien zu verringern, gescheitert sind, auch wenn sie technologisch funktioniert haben. Aufzeichnungsverfahren verändern, was abzubilden sie vorgeben. Im Zentrum unserer Betrachtungen standen dabei die Veränderungen, welche die Abstraktion des Klangs von seiner Erzeugung, seine Abbildung und Synthese im Reellen, mit sich gebracht hat. Mit der binären Digitalisierung dienen nur zwei Symbole (Null und Eins) zur Abbildung wie zur Synthese von allem, was sich medial vermitteln lässt. Die Abbildung ist symbolisch, deren Wahrnehmung bei digitalisierten Klängen und Bildern reell. Was sich damit eröffnet, ist die Möglichkeit der Notation des Imaginären in der symbolischen Aufzeichnung von Gedachtem, Imaginiertem und dessen Wiedergabe im Reellen.
21. Vgl. den Beitrag von Jin Hyung Kim: »Embodiment musikalischer Praxis und Medialität des Musikinstrumentes« in vorliegendem Band. 22. Vgl. den Beitrag von Daniel Weissberg: »Klangerzeugung als Drama und Resonanzphänomen« in vorliegendem Band. Im Unterschied zu virtuellen Klangwelten führen uns virtuelle Bildwelten ihre mediale »Vermitteltheit« ständig vor Augen. Vgl. auch Lev Manovich: »Eine Archäologie des Computerbildschirms«, in: Kunstforum: Die Zukunft des Körpers I, Bd. 132 (November 1995-Januar 1996), S. 124-135.
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Autor innen und Autoren
Claudio Bacciagaluppi geboren 1971 in Mailand, studierte Musikwissenschaft in Zürich und promovierte bei Luca Zoppelli an der Universität Freiburg/Fribourg zur Überlieferung und Rezeption der Messen von Giovanni Battista Pergolesi und seiner neapolitanischen Zeitgenossen (1710-1740). Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule der Künste Bern und Forschungsassistent an der Universität Freiburg/Fribourg mit zwei Projekten zur Kirchenmusikpflege in Schweizer Klöstern. Seine Forschungsinteressen betreffen die Kirchenmusik Italiens im Barock und die Auff ührungspraxis der Romantik. Publikationen (Auswahl): Claudio Bacciagaluppi/Luigi Collarile: Carlo Donato Cossoni (1623-1700): catalogo tematico, Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 51, Bern: Peter Lang 2009. Claudio Bacciagaluppi/Roman Brotbeck/Anselm Gerhard (Hg.): Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung: Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert, Schliengen: Argus 2009. »›Primo violoncello al cembalo‹: l’accompagnamento dei recitativi semplici nell’Ottocento«, in: Rivista italiana di musicologia 41 (2006), S. 101-134. »Con quegli ›Gloria, gloria‹ non la finiscono mai: the Neapolitan concerted mass and its reception history«, in: Recercare 18 (2006), S. 113-155. »L’Annuale di G.B. Fasolo tra funzionalità liturgica, didattica organistica e invenzione musicale«, in: L’organo 32 (1998-1999), S. 41-87. »L’enciclica Annus qui (1749) come documento dei rapporti musicali tra Roma e Bologna«, in: Markus Engelhardt/Klaus Pietschmann (Hg.), Päpstliches Liturgieverständnis im Wandel der Jahrhunderte, Analecta musicologica, Bd. 38, in Vorbereitung.
Franziska Baumann Die Vokalkünstlerin Franziska Baumann, geb. 1965, ist composer-performer, Improvisatorin und Klangkünstlerin im Bereich der zeitgenössischen Musik. Nach einem Studium für Querflöte und verschiedenen Stimmausbildungen pflegt sie eine rege internationale Konzerttätigkeit als Solistin mit Live-Elektronik, in verschiedenen Formationen sowie im Rahmen interdisziplinärer 217
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Projekte. Als Vokalistin hat sie das expressive Potential der Stimme enorm erweitert und zu einem eigenen Instrument entwickelt. Multiphonics, Glottal Clicks und verschiedene mikrotonale, timbrale, sprachnahe und perkussive Vokaltechniken wurden zu ihren akustischen Markenzeichen. Ihr Repertoire als Komponistin reicht von elektroakustischen Kompositionen, Hörspiel- und Theatermusik, improvisierten Arbeiten bis hin zu Raumklangprojekten und Stimminszenierungen. Ihr Fokus liegt auf der Suche nach neuen Formen des Klanggedächtnisses, dem Notieren und Festhalten von Klang- und Gestikphänomenen, die wiederum neue künstlerische Impulse auslösen können. Als artist in residence im Elektronik-Zentrum STEIM, Amsterdam, entwickelte sie ein elektronisch interaktives Instrumentarium, einen Sensorhandschuh, der ihr erlaubt, Stimm-, Klang- und Raumartikulationen gestisch in Echtzeit zu kontrollieren. Mit Klangraum-Projekten bringt sie spezifische Orte im Innen- und Außenraum in neue Zusammenhänge. Franziska Baumann ist Dozentin für Improvisation und Stimmperformance an der Hochschule der Künste Bern. Mitarbeit in den BFH-Forschungsprojekten Klang (ohne) Körper (2008) und Gesture Performance/Gestik als künstlerische Impuls (2009). Sie erhielt verschiedene Werk- und Förderungsbeiträge, ist Preisträgerin von »Junge KomponistInnen Bern« (1994) und erhielt 2008 den Anerkennungspreis des Kantons Bern. Klangprojekte/Stimminszenierungen (Auswahl): 2010: Tsanfl euron, Hearing the Body, Seeing the Voice, für Stimme solo und mediale Inszenierung, UA Dampfzentrale, Bern. 2008: Klangspur Segnes, für Tonträger (Gebirgskletterer) und Ensembles, Segnes Ebene 2000 m.ü.M. Festival Flims Klang’08. 2007/08: VOXLabYrinth, für improvisierende Sänger und mediale Inszenierung, CH-Auff ührungen. 2007: Cymatics, Komposition und Stimmperformance für das Tanzensemble a-tempo. 2006: Vom Verschwinden und Vergessen, Klang- Leseperformance zum Zerfall des Hirns, Museumsnacht Psychiatrie Waldau. 2006: Livres des chants, Stimminszenierungen für 4 Sängerinnen mit klingenden Kleidern, Auftragskomposition des CMC La Chaux-de-Fonds. 2005: Utopie! »…die Asche auf meinem Herzen…«, Ensemble Lichtlieder, für Lichtperformance und Ensemble, Kassel (D); Electric Renaissance, für Solostimme mit klingendem Kleid, Halle (D). 2004: Recyclage sonore, Tonkünstlerfest in Monthey; Klang Aar(i)e, auf der Aare Bern für Musikensemble auf Boot und Radio Live Übertragung, ISCM New World Music Days; Stimmen und Gezeiten, Klanginstallation und Konzerte, mit Lautsprecherinstallation auf dem Prau Pulté See und im umliegenden Wald, Festival Flims Klang’04. 2000: Gletscherklangstrom, Klanginstallation und Konzerte, Fest der Künste 2000, Trafostation Albanatscha am Julierpass. Weitere Informationen unter www.franziskabaumann.ch. 218
Autor innen und Autoren
Rolf Großmann Prof. Dr., geboren 1955, studierte Musikpädagogik und -wissenschaft, Germanistik, Philosophie und Physik an den Universitäten Bonn, Siegen und Gießen; Promotion über »Musik als Kommunikation«. Nach einer zehnjährigen Tätigkeit als hauptberuflicher Musiker (Rock und Jazz) folgten Lehraufträge zur digitalen Musikproduktion, -ästhetik und Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln, der Popakademie Baden-Württemberg sowie den Universitäten Siegen und Hamburg. Seit 1997 leitet er den Schwerpunktbereich »((audio)) Ästhetische Strategien« und lehrt und forscht als außerplanmäßiger Professor in den Angewandten Kulturwissenschaften (»Digitale Medien und auditive Kultur«) an der Leuphana Universität Lüneburg. Zusammen mit Hartmut Kinzler gibt er die Reihe »Medienästhetik der Musik« im Osnabrücker EPOS-Verlag heraus. Arbeitsschwerpunkte: Technikkultur und Medienästhetik der Musik, Ästhetik zeitgenössischer Musik (E und U), auditive Gestaltung. Publikationen zur Ästhetik und Technikkultur der Musik (Auswahl): Musik als »Kommunikation«: Zur Theorie musikalischer Kommunikationshandlungen, Braunschweig: Vieweg 1991. »Sechs Thesen zu musikalischen Interfaces«, in: Klaus Peter Dencker (Hg.), Interface 2: Weltbilder/Bildwelten, Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1995, S. 155-162. »Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur ›Medienmusik‹«, in: Thomas Hemker/ Daniel Müllensiefen (Hg.), Medien – Musik – Mensch: Neue Medien und Musikwissenschaft, Hamburg: von Bockel 1997, S. 61-78. »›Hybride Systeme‹ in der Musikproduktion – technische Anfänge und ästhetische Konsequenzen«, in: Christian W. Thomsen/Irmela Schneider (Hg.), Hybrid-Kultur, Köln: Wienand 1997, S. 282-298. »Farbklavier, Oszilloskop, Sequenzer – technische Transformationen von Ton und Bild«, in: Jörg Helbig (Hg), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998, S. 108-119. »Die Phantasie der kalkulierten Welt«, in: Peter Gendolla/Thomas Kamphusmann (Hg.), Die Künste des Zufalls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 122-136. »Spiegelbild, sprechender Spiegel, leerer Spiegel. Zur Mediensituation der Clicks & Cuts«, in: Marcus S. Kleiner/Achim Szepanski (Hg.), Soundcultures, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 52-68. »Signal, Material, Sampling. Zur ästhetischen Aneignung medientechnischer Übertragung«, in: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), Übertragung – Transfer – Metapher: Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld: Kerber 2004, S. 91-110. »Wissen und kulturelle Praxis – Audioarchive im Wandel«, in: Peter Gendolla/Jörgen Schäfer (Hg.), Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft, Bielefeld: transcript 2005, S. 239-256. »Collage, Montage, Sampling – ein Streifzug durch (medien-)material-bezogene ästhetische Strategien«, in: Harro Segeberg/Frank Schätzlein (Hg.),
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Klang (ohne) Körper
Sound: Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg: Schüren 2005, S. 308-331. »Klang – Medium – Material. Über den technikkulturellen Wandel des Materials auditiver Gestaltung«, in: Helga de la Motte-Haber/Matthias Osterwold/Georg Weckwerth (Hg.): Sonambiente Berlin 2006: Klang Kunst Sound Art, Heidelberg: Kehrer 2006, S. 310-319. »Die Spitze des Eisbergs. Schlüsselfragen musikalischer Laptopkultur«, in: Positionen: Beiträge zur Neuen Musik, Ausgabe 68 (August 2006), S. 2-7. Rolf Großmann/Christian Bielefeldt/Udo Dahmen (Hg.): PopMusicology: Perspektiven der Popmusikwissenschaft, Bielefeld: transcript 2008. Weitere Informationen unter http://audio.uni-lueneburg.de.
Michael Harenberg Prof. Dr., geboren 1961, studierte systematische Musikwissenschaft in Gießen und Komposition an der städtischen Akademie für Tonkunst bei Toni Völker in Darmstadt. Medienwissenschaftliche Promotion bei Prof. Dr. Georg Christoph Tholen an der Universität in Basel. Als Komponist sowie als Musik- und Medienwissenschaftler beschäftigt er sich kompositorisch wie theoretisch mit digitaler Audio-Kultur und computergenerierter Musik im Rahmen live-elektronischer, installativer sowie improvisierter Musik. Diverse Preise und Stipendien sowie internationale Vorträge und Publikationen zum Schwerpunkt »Musik und digitale Medien«. Er ist Mitglied in verschiedenen Improvisations- und Kompositionsensembles mit internationaler Konzerttätigkeit und lebt als Komponist und Musik-/Medienwissenschaftler in Bern und Karlsruhe. Michael Harenberg ist Professor für musikalische Gestaltung und Medientheorie sowie gemeinsam mit Daniel Weissberg Leiter des Studiengangs »Musik und Medienkunst« sowie des »Master of Contemporary Arts Practice« (CAP) an der Hochschule der Künste Bern (www.medien-kunst.ch). Als Vorsitzender der »Deutschen Gesellschaft für elektroakustische Musik« (DEGEM) leitet er u.a. das seit 2005 in Kooperation mit dem ZKM in Karlsruhe betriebene WebRadio Projekt »DEGEM WebRadio @ ZKM« (www. degem.de/webradio). Publikationen (Auswahl): »Neue Musik durch neue Technik? Musikcomputuer als qualitative Herausforderung für ein neues Denken in der Musik«, in: Reihe Bärenreiter Hochschulschriften, Kassel et al. 1989. »Entre art et commerce: l’ordinateur dans la musique rock et pop?«, in: Contrechamps 11 »Musiques Électroniques«, Lausanne: Editions l’Age d’Homme 1990. »Neue Musik im Kontext neuer Technologien?«, Eröff nungsvortrag zum KlangArt-Kongreß 1993, in: Bernd Enders (Hg.), Neue Musiktechnologien II, Mainz: Schott 1996.
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Autor innen und Autoren
»Die Rationalisierung des Virtuellen in der Musik«, in: Sigrid Schade/Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen zwischen Kunst und Medien?, Buch und CD-ROM, München: Fink 1999. »Virtuelle Instrumente zwischen Simulation und (De-)Konstruktion«, in: Marcus S. Kleiner/Achim Szepanski (Hg.), Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. »Die musikalisch-ästhetische Verortung klingender Räume. Virtuelle Räume als musikalische Instrumente«, in: Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen (Hg.), HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Bielefeld: transcript 2005. »Die Ästhetik der Simulation. Musik aus virtuellen Räumen«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen 1. Basler Kongress für Medienwissenschaft, Basel: Schwabe Verlag 2006. »Runter Junge! – das Ende der Form und die Katastrophe musikalischer Unendlichkeit«, in: Sebastian Baden (Hg.), Terminator – Die Möglichkeit des Endes: Bewältigung und Zerstörung als kreative Prozesse in Bildender Kunst, Literatur und Musik, Karlsruhe: Engelhardt und Bauer 2007. »Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace. Poietische Dimensionen musikalischer Medialität« (in Vorbereitung).
Jin Hyun Kim studierte Musikwissenschaft (Schwerpunkt: Systematische Musikwissenschaft) und Philosophie an der Seoul National University (B.A.) sowie an der Universität Hamburg (Magister Artium) und promovierte zum Thema »Embodiment in interaktiven Musik- und Medienperformances – unter besonderer Berücksichtigung medientheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektiven« (summa cum laude). Sie war von 2002 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im kulturwissenschaftlichen Forschungskollegium »Medien und kulturelle Kommunikation« (=SFB/FK 427) an der Universität zu Köln, im Rahmen dessen sie zwei medientheoretisch orientierte Forschungsprojekte zu Interaktiver Musik und Medienkunst bearbeitete. Im Sommersemester 2009 war sie Postdoctoral Research Fellow an der University of Ghent im Rahmen des Forschungsprojektes »Embodied Music Cognition & Mediation Technologies for Cultural/Creative Applications«. Seit Oktober 2009 ist sie Postdoktoranden-Stipendiatin am Exzellenzcluster »Languages of Emotion« an der Freien Universität Berlin. Publikationen (Auswahl): Uwe Seifert/Jin Hyun Kim/Anthony Moore (Hg.): Paradoxes of Interactivity: Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interaction, and Artistic Investigations, Bielefeld: transcript 2008. Jin Hyun Kim: »From Interactive Live Electronic Music to New Media Art«, in: ebd., S. 282-297. Ludwig Jäger/Jin Hyun Kim: »Transparency and Opacity. Interface Technology of Mediation in New Media Art«, in: ebd., S. 44-61.
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Klang (ohne) Körper
Jin Hyun Kim/Uwe Seifert: »Embodiment: The Body in Algorithmic Sound Generation«, in: Contemporary Music Review, Vol. 25/1-2, Special Issue: »Bodily Instruments and Instrumental Bodies« (2006), S. 139-149. Jin Hyun Kim: »Toward Embodied Musical Machines«, in: Christoph Lischka/Andrea Sick (Hg.), Machines as Agency. Artistic Perspectives, Bielefeld: transcript 2007, S. 18-33. Uwe Seifert/Jin Hyun Kim: »Entelechy and Embodiment in (Artistic) Human-Computer Interaction«, in: Julie A. Jacko (Hg.), Human-Computer Interaction, Part I, HCII 2007, LNCS 4550, Berlin/Heidelberg: Springer 2007, S. 929-938. Jin Hyun Kim/Luise Springer: »Interaktivität«, in: Ludwig Jäger u.a. (Hg.): Signaturen der Medien. Ein Handbuch zur kulturwissenschaftlichen Medientheorie, München: Fink 2010 (im Druck). Uwe Seifert/Jin Hyun Kim: »Embodiment«, in: Ludwig Jäger u.a. (Hg.): Signaturen der Medien. Ein Handbuch zur kulturwissenschaftlichen Medientheorie, München: Fink 2010 (im Druck).
Kai Köpp geboren 1969 in Northeim, aufgewachsen in Bremen, St. Louis (USA), Konstanz und Bonn, studierte Viola und Viola d’amore in Freiburg und an der Basler Hochschule für Alte Musik Schola Cantorum Basiliensis. Zahlreiche CD- und Rundfunk-Produktionen mit Werken des 17. bis 19. Jahrhunderts entstanden als Mitglied führender Spezialensembles für Alte Musik. Als Solist gilt sein besonderes Interesse der Viola d’amore sowie dem Bachschen Violoncello piccolo (Viola pomposa). Parallel dazu studierte er Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Öffentliches Recht in Bonn und Freiburg und erwarb den Magister Artium mit einer interdisziplinären Arbeit über »Wechselbeziehungen zwischen Musik und Bildender Kunst bei Paul Hindemith«. 2003 promovierte er bei dem Bachforscher Christoph Wolff (Harvard University). Neben seiner Tätigkeit als Mitarbeiter an der Beethoven-Briefausgabe und dem Musiklexikon MGG2 veröffentlichte er vor allem zu Themen der historisch-orientierten Auff ührungspraxis. 2003-2006 leitete er ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik und Theater Zürich und vertrat im Sommersemester 2006 die Professur für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen. Seit 2007 ist er an der Hochschule der Künste Bern tätig, aktuell (2009) als Gastprofessor im Forschungsschwerpunkt Interpretation. Im Herbst 2009 erscheint sein »Handbuch historische Orchesterpraxis« beim Bärenreiter-Verlag. Publikationen (Auswahl): »Die Viola d’amore ohne Resonanzsaiten und ihre Verwendung in Bachs Werken«, in: Bach-Jahrbuch 2000, Hans-Joachim Schulze/Christoph Wolff (Hg.), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000, S. 140-165. »Johann Adolph Scheibe als Verfasser zweier anonymer Bach-Dokumente«, in: Bach-Jahrbuch 2003, Hans-Joachim Schulze/Christoph Wolff (Hg.), Leipzig 2003, S. 173-196. 222
Autor innen und Autoren
»Beethovens Violoncello – ein Geschenk des Fürsten Lichnowsky? Zur Provenienz der Streichquartett-Instrumente Beethovens«, in: Beethovens Werke für Klavier und Violoncello. Bericht über die Internationale Fachkonferenz Bonn, 18.-20. Juni 1998, Sieghard Brandenburg et al. (Hg.), Bonn: Beethoven-Haus 2004, S. 304-353. »Information und Interpretation. Warum der Alte-Musik-Markt nicht auf Quellenforschung verzichten kann«, in: Alte Musik zwischen Geschichte und Geschäft (Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 27.2003), Peter Reidemeister/Dagmar Hoffmann-Axthelm (Hg.), Winterthur: Amadeus 2004, S. 101-121. Johann Georg Pisendel (1687-1755) und die Anfänge der neuzeitlichen Orchesterleitung, Dissertation Universität Freiburg i.B. 2002, Tutzing: Schneider 2005. »Wolfs anonyme ›Wahrheiten die Musik betreffend‹ (1777-1780) und ihre Bedeutung für das Musikverständnis Anna Amalias«, in: Jahrbuch 2007 der Klassik-Stiftung Weimar, Göttingen: Wallstein 2007, S. 272-281.
Peter Reidemeister geboren 1942 in Berlin und seit 35 Jahren Wahl-Basler. Seine musikalische Ausbildung erhielt er an der Musikhochschule in Berlin mit Hauptfach Querflöte bei Aurèle Nicolet, er war dann Mitglied der Berliner Philharmoniker, später der Deutschen Bachsolisten, wirkte als Assistent Nicolets an der Freiburger Musikhochschule. Danach wendete er sich der Musikwissenschaft zu, studierte in München bei Thrasylulos Georgiades und in Berlin bei Carl Dahlhaus, wo er 1972 mit einer Arbeit zum Burgundischen Chanson des 15. Jahrhunderts promovierte. Ab 1973 war er stellvertretender Leiter und von 1978 bis 2005 Direktor der Schola Cantorum Basiliensis, eines der weltweit führenden Institute für Alte Musik, und damit Direktionsmitglied der Musik-Akademie der Stadt Basel. Peter Reidemeister war Herausgeber des »Basler Jahrbuchs für historische Musikpraxis« und für 25 Bände dieser Reihe verantwortlich. Daneben hat er diverse Beiträge zu Fragen der Auff ührungspraxis und Interpretation alter Musik, zur Rezeption alter Musik im 20. Jahrhundert und zum Problem der musikalischen Ausbildung publiziert. Auch Musik-Ausgaben im Amadeus-Verlag Winterthur stehen auf der Liste seiner Veröffentlichungen. Sein verbreitetes Buch »Einführung in die Historische Aufführungspraxis« erschien 1989 (1995 in 2. Auflage) bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Die Mitarbeit in musikpolitischen Kommissionen, in Vorständen bzw. Programm-Kommissionen von Musikgesellschaften und Festivals (z.B. Internationale Bach-Gesellschaft bzw. Bach-Fest Schaff hausen), Mitgliedschaft in Wettbewerbsjurys sowie Vorträge und Kurse an Musikhochschulen ergänzen seine vielfältigen Aktivitäten. Seit 2008 ist er Mitglied des Hochschulrates der Musikhochschule Nürnberg.
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Klang (ohne) Körper
Publikationen (Auswahl): »Die Chanson-Handschrift 78 C 28 des Berliner Kupferstichkabinetts: Studien zur Form der Chanson im 15. Jahrhundert«, Dissertation Techn. Universität Berlin-West, München: Katzbichler 1973. »Johann Gottfried Müthels ›Technische Übungen‹ oder Von der Mehrdeutigkeit der Quellen«, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis, Band XIII (1990), Winterthur: Amadeus 1989, S. 55-98. »Kreatives Üben«, in: Thüring Bräm, Bewahren und Öffnen, Ein Lesebuch zu »50 Jahre Konservatorium Luzern, 1942-1992«, Aarau: Musikedition Nepomuk 1992, S. 121-127. »Generalbass und Improvisation: die Arbeit mit Modellen«, in: Johanna Trummer (Hg.), Neue Beiträge zur Aufführungspraxis: Schriftenreihe des Instituts für Aufführungspraxis an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Graz, Regensburg: ConBrio 1994, S. 111-127. »Wahlverwandtschaften: Streifl ichter zur Rezeption alter Musik im 20. Jahrhundert«, in: Felix Meyer (Hg.), Klassizistische Moderne: Eine Begleitpublikation zur Konzertreihe im Rahmen der Veranstaltungen »10 Jahre Paul Sacher Stiftung«, Winterthur: Amadeus 1996, S. 352-365. »Tempovorschrift und ihre Ausführung: Komponisten als Interpreten eigener Werke«, in: Herbert Schneider (Hg.), Aspekte der Zeit in der Musik, Hildesheim et al.: Olms 1997, S. 302-317. »›Weite Felder für Schatzsucher und Pioniere‹ – Paul Sacher und die Korrespondenzen zwischen neuer und alter Musik«, in: Ulrich Mosch (Hg.) in Zusammenarbeit mit Matthias Kassel, »Entre Denges et Denezy…« – Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 1900-2000, Mainz u.a.: Schott 2000, S. 44-55.
Daniel Weissberg geboren 1954 in Basel. Klavierstudium bei Klaus Linder und Kompositionsstudium bei Jacques Wildberger sowie Studium der elektroakustischen Musik bei David Johnson am Konservatorium Basel. Anschließend Studium bei Mauricio Kagel in der Klasse für neues Musiktheater und Assistent von Kagel an der Musikhochschule Köln. Sein Schaffen umfasst Solo- und Kammermusik sowie Orchesterwerke, Hörspiele, elektronische Musik, Multimediaprojekte und Werke im Bereich des Neuen Musiktheaters. Er spielt als Interpret live-elektronischer Musik vor allem in eigenen Werken (Harpeggio, Zeitball) sowie in Ensembles komponierte und improvisierte Musik u.a. mit Nicola Hanck (Harfe), Ernesto Molinari (Klarinetten), Marcus Weiss (Saxophon) und Michael Harenberg (LiveElektronik). Sein Schaffen ist mehrfach ausgezeichnet worden. Daniel Weissberg leitet zusammen mit Michael Harenberg den Studienbereich »Musik und Medienkunst« sowie den »Master of Contemporary Arts Practice (CAP) an der Hochschule der Künste Bern. Er ist Autor verschiedener Radio-Features zu musikalischen Themen und publizistisch tätig.
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Autor innen und Autoren
Musikalische Werke (Auszug): Domgeflüster für Vierkanal-Tonband (1978). »Like a Rolling Stone« für Objekte auf der schiefen Bahn, 2 Requisiteure und Beleuchter (1978/1985). Woyzeck. Quadrophones Hörspiel nach den Fragmenten von G. Büchner, Coautor Claude Karfiol (1978/1979). Der Schein für 10 Musiker-Darstellerinnen einen Erzähler, Live- und Lautsprechermusik und Videoprojektion (1992/1993). Sind Töne Töne oder sind Töne Webern? Live-Hörspiel und Radiofassung mit den Coautoren Manfred Reichert und Renate Wolff (1993/1994). Fremder Ort Heimat. Schubert – Hölderlin – Feldman. Musikhörspiel für Flöte, Glockenspiel, Klavier, Streichquintett, Achtspur-Tonband. Sprecher: Udo Samel (1995/96). Harpeggio für Harfe, Live-Elektronik und Live-Video. Videographische Gestaltung: Franz Schnyder (1996). Zeitball. Die Moderne im Spiegel ihrer Musik (1999/2000). Die Summe für Bassklarinette und Live-Elektronik (2000/2001) Schichtarbeit für Akkordeon, Schlagzeug und Live-Elektronik (2001/2002) A TROIS für drei elektrische Gitarren und Live-Elektronik (2003) RUN DUM NURDU für Tenorsaxophon und Live-Elektronik (2004/2005). Aura der Interferenz. Klanginstallation mit Donna und Ernesto Molinari und Michael Harenberg (2007). Publikationen (Auszug): »Jacques Wildberger als Lehrer«, in: Jacques Wildberger oder die Lehre vom Andern, Zürich: Hug 1996. »C’est la création du son qui fait la musique«, in: Dissonanz Nr.48 (1996). »Zwischen null und eins«, in: Dissonanz Nr. 91 (2005). »Ein Rebell zweiter Unordnung«, in: Dissonanz Nr. 93 (2006). »Späte Antwort«, in: MusikTexte 119 (2008). »Komponierende Bastler, bastelnde Komponisten«, in: Michael Kunkel/Martina Papiro (Hg.), Der Schall. Mauricio Kagels Instrumentarium, mit AudioCD, Saarbrücken: Pfau 2009
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Danksagung
Wir möchten uns bei allen bedanken, die geholfen haben diesen Band zu realisieren. Vor allem aber bei Iris Rennert, ohne deren tatkräftiger Unterstützung die Manuskripte niemals zur Publikation fertig geworden wären. Unser Dank gilt der Forschungsförderung der Berner Fachhochschule, ohne deren Finanzierung das in diesem Band dokumentierte Forschungsprojekt nicht hätte durchgeführt werden können sowie allen Kolleginnen und Kollegen, Studentinnen und Studenten, die uns während der Forschungsphase an der Hochschule der Künste Bern und speziell in unserem Studienbereich stets unterstützt haben. Michael Harenberg und Daniel Weissberg Herausgeber, Leiter des Forschungsprojektes »Klang (ohne) Körper. Der Verlust der Körperlichkeit und die Entgrenzung des klanglichen Gestaltungspotenzials in der elektronischen Musik« sowie Studienbereichsleiter »Musik und Medienkunst«, Hochschule der Künste Bern (HKB).
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Anhang
Dokumentation und Materialien zu den Veranstaltungen im Rahmen des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper: 1. Mediale Interfaces a) Dokumentation Online-Seminar »Experimentelle Interfaces in Musik und Medienkunst« Projektleitung Online-Seminar: Michael Harenberg, Studienbereichsleiter »Musik und Medienkunst«, Hochschule der Künste Bern (HKB). Um das Forschungsprojekt in den Lehrbetrieb des Studienbereiches »Musik und Medienkunst« an der Hochschule der Künste in Bern zu integrieren, wurde eine internationale Online-Veranstaltung konzipiert. Dokumentiert sind die Einführungstexte für die sieben gemeinsamen OnlineVeranstaltungen. b) Ergebnisse zum Thema »Experimentelle Interfaces« Eine Auswahl von insgesamt drei Arbeitsgruppen dokumentiert ihre Recherche. Im Bericht von Oliver Friedli, Assistent der Studienbereichsleitung »Musik und Medienkunst« (HKB), werden verschiedene Projekte im Bereich »gesture following« und »hyperinstrument« (Augmented Violin, FTM/MnM Libraries etc.) des IRCAM dokumentiert. 2. Materialien zum Symposium »Soundkulturen. Zur Theorie einer Medienkunst des Auditiven am Beispiel der Welte Selbstspielklaviere« Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde eine gemeinsame Lehrveranstaltung mit dem Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel, Prof. Dr. Georg Christoph Tholen, geführt. Neben Seminarveranstaltungen fand eine Demonstration eines Welte-Flügels in Freiburg i.Br. und ein Symposium statt. Dokumentiert ist das Programm der Gastveranstaltung vom 8.11.2007. Details sind unter folgendem Link zu finden: www.hkb.bfh.ch/klangohnekoerper.html. 3. Materialien zum Forschungssymposium »Klang (ohne) Körper« Den Abschluss einer ersten Projektphase des Forschungsprojektes bildete ein internationales Symposium am 28./29.11.2008 an der Hochschule der 229
Klang (ohne) Körper
Künste Bern (HKB). Dokumentiert ist das Programm der zweitätigen Veranstaltung. Details sind unter folgendem Link zu fi nden: www.hkb.bfh.ch/klang ohnekoerper.html.
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a) Dokumentation Online-Seminar »Experimentelle Interfaces in Musik und Medienkunst«
Das Seminar besteht aus sieben gemeinsamen Online-Sitzungen und wird veranstaltet von: • Prof. Dr. Michael Harenberg, Hochschule der Künste Bern • Prof. Dr. Rolf Großmann, Universität Lüneburg • Prof. Dr. Bernd Enders, Universität Osnabrück • Prof. Dr. Uwe Seifert und Dr. Jin Hyun Kim, Universität Köln Die Gäste sind: • STEIM, Amsterdam • Ingeborg Okkels, TU Berlin • Prof. Dr. Elena Ungeheuer • Florian Grote, Lüneburg/Berlin Zeitrahmen der Online-Sitzungen: jeweils Donnerstag 16.15-17.45 Uhr.
I NHALT Wir alle benutzen Musikinstrumente oder unsere Stimme, um Klänge zu erzeugen. Was aber, wie in der elektroakustischen Musik des 20. Jahrhunderts geschehen, wenn für neue Klangerzeugungsverfahren auch neue Instrumente benötigt werden? Wie könnten diese aussehen und wie sollten sie funktionieren? Inwieweit können vielleicht unsere traditionellen Instrumente als Vorlage dienen? Der Begriff des Instruments ist zudem unscharf geworden: Durch die Verwendung von Studiotechnik und Medienmaschinen zum Musizieren. Damit stehen als Hardware wie als Software Verfahren, Techniken und Maschinen prinzipiell auch als Musikinstrumente zur Verfügung. Für den praktischen Einsatz jenseits des Studios bzw. zur Erzeugung von an traditionelle Instrumente rückgekoppelte Ausdrucksqualitäten stellt sich, technisch unterstützt durch real-time Operationen und umfassende Klangerzeugungsverfahren aktueller Computer-Hardware, die Frage nach den Spielinterfaces radikal neu. Der medientheoretische Diskurs hierzu konzentriert sich bis heute im Wesentlichen auf Bildmedien. Zwar lässt sich einiges auf die Musik übertragen, allerdings nicht bei den hier zu behandelnden, genuin musikalischen Aspekten. 230
Anhang
Im Bereich der elektroakustischen Musik wiederum konzentriert sich die Forschung auf Verfahren der Klangerzeugung, -Bearbeitung, -Übertragung und -Wiedergabe. Vereinzelte kompositionstheoretische Ansätze (Schaeffer) konzentrieren sich auf die Kategorisierung von Klängen. Eine medientheoretisch reflektierte kompositionstheoretische Auseinandersetzung mit einer der wesentlichsten Neuerungen, welche die elektronische Klangerzeugung gebracht hat, steht noch weitgehend aus. Aktuelle Forschungen in diesem Bereich untersuchen schwerpunktmäßig die Rolle der Performance im Digitalen bzw. Fragen der Reintegration des Körperlichen in der elektroakustischen Kunst. Dabei spielen hauptsächlich Fragen des Raums und der Performanz elektroakustischer Präsentationen eine Rolle – wie sie auch im aktuellen Popdiskurs behandelt werden. Da sich jedoch die technische Explorationsphase des Digitalen ihrem Ende zuneigt, werden Fragen in Bezug auf Hard- und Software zusehends marginal, während Fragen künstlerischer Qualität und ihrer Präsentation neue Aktualität erhalten. Diesen und weitergehenden Fragen soll im Seminar »Experimentelle Interfaces in Musik und Medienkunst« theoretisch wie praktisch nachgegangen werden. Gemeinsam mit Studienbereichen der Hochschulen in Lüneburg, Köln und Osnabrück, dem niederländischen Forschungsinstitut STEIM sowie Gästen aus Berlin werden im ersten Teil an Online-Sitzungen die historischen und theoretischen Grundlagen erarbeitet. Im zweiten Teil werden alle Beteiligten experimentelle Instrumente konzipieren, entwerfen, bauen und damit komponieren. In einem internationalen Austausch können dann die Ergebnisse demonstriert, Erfahrungen ausgetauscht und gemeinsame Konzerte veranstaltet werden. Im geplanten gemeinsamen Arbeitsprozess enthalten sind – je nach Schwerpunkt der beteiligten Institutionen – theoretische Anteile (Bestandsaufnahme künstlerischer Arbeiten und Diskurse) und praktische Arbeiten (hauptsächlich Bern, Amsterdam, teilweise Lüneburg: Entwurf, Konstruktion und Programmierung medienkünstlerischer Interfaces und kompletter künstlerischer Arbeiten). Die Online-Veranstaltungen werden hauptsächlich den Theoriebereich betreffen und in den Kernzeiten des Wintersemesters 06/07 stattfinden. In Bern und Lüneburg wird das Seminar mit den praktischen Arbeiten voraussichtlich im Sommersemester 07 fortgesetzt. Vorgesehen sind Anfang 2007 auch Treffen in Bern, Basel und Amsterdam evtl. auch an anderen Orten, verbunden mit Seminarpräsentationen und Auff ührungen.
THEMENBERE ICHE 1. Phänomene Instrumenteninterfaces, interaktive Musik, ›interaktive‹ Medienkunstwerke, interaktive und reaktive Klanginstallationen (Lüneburg, Köln). 2. Geschichte Interfacekonzepte elektronischer Musikinstrumente, z.B. Theremin, Trautonium etc. (Osnabrück), über Hybrid-Interfaces, z.B. das Groove-System
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Klang (ohne) Körper
bis zu neueren gesture interfaces (Köln), Geschichte sowie Entwicklung von interaktiver Musik bis hin zu interaktiver Medienkunst (Bern, Köln). 3. Theorie Konzepte, Systematik, Ästhetik (Lüneburg, Bern, Köln), Körperlichkeit (Bern, Köln). 4. Werkzeuge Hard- und Softwareumgebungen, Tools Max/MSP, Pure Data, Reaktor, Ableton Live, Super Collider, Eyes Web etc. 26. Oktober 2006: Erste gemeinsame Online-Sitzung: Beteiligte: Osnabrück, Köln, Lüneburg, Bern Leitung: Michael Harenberg, Bern Inhalt: Einführung und Planung, Themenschwerpunkte der beteiligten Orte, Beispiele zur Exploration des Forschungsschwerpunktes, Präsentation bisheriger Arbeitsergebnisse.
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O NL INE -S EMINAR S
Aufgrund von Testergebnissen werden die gemeinsamen Online-Sitzungen mit Breeze von Adobe durchgeführt. Damit sind Video-, Audio- und Text-Verbindungen zwischen allen Standorten gewährleistet. Für jede der sieben Online-Sitzungen ist eine Person als Leiterin/Leiter bestimmt. Sie führt eine strikte Rednerliste und strukturiert die Diskussion. In der Regel ist dies eine Person derjenigen Institution, welche die Sitzung inhaltlich gestaltet (Referate, Beispiele, Thesen etc.). Für die Anmeldung eines Beitrags wird der Textchat benutzt, damit sind bestehende Audio-/Video-Verbindungen am wenigsten gestört. Materialien für die Sitzungen (Texte, Bilder, Videos, Links etc.) werden vorab per FTP-Server zur Verfügung gestellt.
L I TER AT UR Bongers, Bert: »Physical Interaction in the Electronic Arts: Interaction Theory and Interfacing Technology«, in: Marcelo M. Wanderley/Marc Battier (Hg.), Trends in Gestural Control of Music, Paris: IRCAM 2000, S. 124-168. Douglas, Davis: Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie: Analysen, Dokumente, Zukunftsperspektiven, Köln: DuMont Schauberg 1975. Dinkla, Söke (Hg.): Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute, Ostfi ldern: Cantz 1997. Dreher, Thomas: »›Après John Cage‹: Zeit in der Kunst der sechziger Jahre – von Fluxus-Events zu interaktiven Multi-Monitor-Installationen«, in: Ulrich Bischoff (Hg.), Kunst als Grenzbeschreitung. John Cage und die Moderne, Düsseldorf: Richter 1992, S. 57-74. Großmann, Rolf: »Sechs Thesen zu musikalischen Interfaces«, in: Klaus Peter Dencker (Hg.), Interface 2. Weltbilder Bildwelten: computergestützte Visionen, Hamburg: Bredow-Institut 1995, S. 155-162.
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Anhang
Harenberg, Michael: »Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace«, in: Bildungswerk des Verbandes Deutscher Tonmeister (Hg.), Bericht der 21. Tonmeistertagung Hannover 2000, München: Saur 2001, S. 970-991. Harenberg, Michael: »Virtuelle Instrumente zwischen Simulation und (De-) Konstruktion«, in: Marcus S. Kleiner/Achim Szepanski (Hg.), Soundcultures: Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 69-94. Kim, Jin Hyun/Seifert, Uwe: »Embodiment: The Body in Algorithmic Sound Generation«, in: Contemporary Music Review 25/1-2 (2006), S. 139-149. Jansen, Meike: Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Jenkinson, Tom: »Collaborating with machines«, in: Flux Magazine 03/04 (2004). Lischka, Gerhard Johann/Weibel, Peter: »Polylog, für eine interaktive Kunst«, in: Kunstforum international (September/Oktober 1989), S. 65-86. Malina, Roger F.: »Der Beginn einer neuen Kunstform: Interaktive Kunst«, in: Hannes Leopoldseder (Hg.), Der Prix Ars Electronica – Internationales Compendium für Computerkünste, Linz: Veritas 1990, S. 151-161. Miranda, Eduardo R./Wanderley, Marcelo M.: New Digital Musical Instruments: Control and Interaction Beyond the Keyboard, Middleton: A-R Editions 2006, Kap. 2-4. Nicklaus, Hans-Georg: Die Maschine des Himmels: Zur Kosmologie und Ästhetik des Klangs, München: Fink 1994. Zeitschriften: Contemporary Music Review 25/1-2 (2006), »Bodily Instruments and Instrumental Bodies« (Special Issue). Neue Zeitschrift für Musik, Thema: »Körper« 4 (2006). Internet-Links und Beispiele zu experimentellen Instrumenten – experimentelle Interfaces: www.animusic.com/dvd-info-clips-1.html www.animusic.com/dvd-info-clips-2.html www.hakenaudio.com/Continuum/ www.twelfthroot.com/studio/kymacontinuum.html www.twelfthroot.com/lemur/ www.jazzmutant.com/lemur_overview.php www.jazzmutant.com/lemur_overview.php www.eowave.com/ www.eowave.com/page_produit?prod=29 www.eowave.com/page_produit?prod=5 www.schneidersbuero.de/index.php?sect=products&lang=de&product=Fader fox %202nd %20edition %20LX2&hersteller=Midi %20/ %20Midicon troller %20/ %20Videotools&kategorie=kategorie www.dolphinmusic.co.uk/page/shop/flypage/product_id/6796
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b)Ergebnisse der Arbeitsgruppen zum Thema »Experimentelle Interfaces « Christoph Brünggel, Veronika Klaus (Studierende Studienbereich Musik und Medienkunst, Hochschule der Künste Bern HKB) Beschreibungen der Interfaces, mit welchen wir arbeiteten: Arduino Das Interface von Arduino ist ein preisgünstiges System, das nach eigenen Wünschen modifiziert werden kann. Das Board wird ohne Zubehör wie Sensoren oder Ähnliches geliefert. Der Mikrocontroller auf dem Board ist noch nicht programmiert und kann nach eigenen Bedürfnissen beschrieben und wieder überschrieben werden. Auf der Webseite von Arduino werden dazu vielerlei Hilfestellungen und Ideen geboten. Als Erstes muss definiert werden, für welche Anwendung das Board genutzt werden soll, damit entsprechend programmiert werden kann. Dafür steht die kostenlose Software Arduino-IDE zur Verfügung. Das Arduino-Board wird über Bluetooth oder USB an den Computer angeschlossen. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, mit dem Arduino-Board zu kommunizieren. Eine Möglichkeit ist die bereits erwähnte Software. Auf der Website befinden sich verschiedene vorgefertigte Programmabläufe, die man auf den Mikrocontroller laden kann und die jeweils bestimmte Funktionen haben, wie zum Beispiel das Ansteuern von LED Leuchtdioden. Eine weitere Möglichkeit ist der Datenaustausch über die Programmierumgebung Max/MSP. Auch für diese Anwendung gibt es von Arduino vorgefertigte Objekte, mit denen man das Board ansteuern kann. Es gibt noch einige weitere Möglichkeiten zum Datenaustausch zwischen Arduino-Board und Computer, je nachdem, mit welchem Betriebssystem gearbeitet und welches Ziel verfolgt wird.
Ebenso vielfältig sind die Möglichkeiten, was an das Arduino-Board angeschlossen werden kann: Man kann sich beispielsweise selber Sensoren bauen oder bereits bestehende Sensoren damit nutzen, ebenso können Leuchtdioden und Dimmer angesteuert werden. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Link zu der Webseite: www.arduino.cc Makingthings Interface Kit Das Makingthings Interface Kit besteht aus einer Vielzahl von Sensoren und Motoren, die an das mitgelieferte Interface angeschlossen und darüber betrieben werden können. In der Grundausstattung ist es ein nützliches Werkzeug, um gewisse über Sensoren gesteuerte Prozesse ausprobieren zu können. Für größere Projekte können gegebenenfalls weitere Teile nachbestellt werden. Es bietet den BenutzerInnen einen guten Einstieg in den Eigenbau von Interfaces wie auch von Steuerelementen und vermittelt einen Eindruck von der damit verbundenen Flexibilität.
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Anhang
Das Make Controller Kit lässt sich mit wenigen Schritten in Betrieb nehmen. Beispielsweise mit der Programmierumgebung Max/MSP, wo lediglich bestimmte Externals heruntergeladen und installiert werden müssen. Zudem ist die aktuelle Firmware auf den Chip zu installieren. Die benötigte Software dazu findet man auf der Webseite der Produzenten. Link zu der Webseite: www.makingthings.com
E RFAHRUNGEN UND E RKENNT NI S SE – U MGANG MI T DEN VER SCHIEDENEN I NTERFACE -TYPEN Komplexität des Sensors versus Komplexität der Programmierung Was Sensoren steuern, kann mittels entsprechender Software frei gestaltet werden, was die Entwicklung von sensorbasierten Instrumenten sehr flexibel gestaltet. Ein einfacher Sensor kann komplexe Vorgänge steuern, wenn dies entsprechend programmiert wird. Beispielsweise lassen sich Signale eines einfachen Ein-Aus-Schalters so interpretieren, dass daraus mit Hilfe einer Analyse der Zeitintervalle der Schalterbetätigungen ein vergleichsweise vielschichtiger Datensatz gewonnen werden kann. Genauso kann ein komplexer Sensor auch einfache Vorgänge steuern, wenn zum Beispiel mit einem mehrteiligen Sensorhandschuh Tonhöhen eines MIDI–Pianos gespielt werden. Verglichen mit all den Parametern, die man beeinflusst, wenn man beispielsweise Violine spielt, ist ein Distanzsensor, der etwa nur die Lautstärke steuert, ein äußerst einfaches Interface. Demnach müsste man entsprechende Vorkehrungen in der Software treffen, damit die klanglich beeinflussbaren Parameter komplexer sind. Die non-lineare Klangerzeugung und Klanggestaltungsmöglichkeiten von akustischen Instrumenten unterscheiden sich sehr von den Möglichkeiten eines handelsüblichen Interfaces, bei dem man meist nur einen Parameter mit einer Bewegung steuern kann. Es ist also die Anzahl der beeinflussbaren Parameter, welche bei der Gestaltung der Interface-Instrumentbeziehung relativ schnell an Grenzen stößt. Wenn mit einem Beugesensor die Anzahl Obertöne in einer Additiven Synthese beeinflusst wird, ergibt sich ein sehr linearer Prozess – vielleicht logarithmisch, je nachdem wie es programmiert ist. Das Lebendige und sich ständig Verändernde eines akustischen Klangerzeugers versuchten wir damit zu erreichen, indem wir spezifische physikalische Modelle verwendeten, um auf der Ebene der Klanggestaltung Non-Linearität zu erhalten. Zum Beispiel die ›geblasene‹ elektrische Gitarre, bei der nur durch die Erfahrung des Hörens erlernt werden kann, wie die Klänge auf die Steuerung reagieren. Es ist nicht notwendig, in allen Teilen nachzuvollziehen, welche Parameter wie beeinflusst werden. Sind die Daten von Sensoren auf genügend Parameter geroutet, können auf diese Weise sehr komplexe Auswirkungen erzielt werden.
Gute Strategien sind also: • Komplexe Sensor-Kombinationen; • Komplexe Gestaltung der Verbindungen zwischen Sensor- und Steuer-
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daten (wenig Sensordaten verschieden skaliert auf viele verschiedene Steuerparameter und/oder -prozesse); Nicht-lineare Beziehung zwischen Sensor- und Steuerdaten (komplexe Skalierungen oder Beeinflussung der Parameter durch Integration von Wahrscheinlichkeiten und Zufall).
Sensor gekoppelt mit physischem Widerstand Physischer Widerstand ist eine Voraussetzung für den intuitiven Umgang mit einem Controller. Die Notwendigkeit der visuellen Kontrolle, die Beobachtung von Daten auf dem Bildschirm oder der Stellung von Reglern wird überflüssig. Beispielsweise bietet ein Drucksensor viele Möglichkeiten der Klanggestaltung. Die Bewegung, die es braucht, um diesen Sensor zu betätigen, ist so klein, dass es sehr schwierig ist, seine Möglichkeiten ohne visuelle Kontrolle auszuschöpfen. Kombiniert man den Drucksensor mit einer Stahlfeder, lässt er sich über den Druck, den man auf die Stahlfeder ausüben kann, sehr viel einfacher kontrollieren. Die Position und damit auch die Werte, die generiert werden, sind direkt spürbar und können geübt und bewusst kontrolliert werden. Damit lassen sich Parameter wie die Lautstärke sehr intuitiv steuern, da man neben Verläufen auch sehr abrupte Wechsel machen kann, indem man die Feder hochschnellen lässt oder sie sehr schnell hinunterdrückt. Gestus Wie bei herkömmlichen Instrumenten spielt auch bei der Gestaltung von Controllern die Bewegungsökonomie eine entscheidende Rolle. Wenn beispielsweise mit einem handelsüblichen Potentiometer die Tonhöhe gesteuert werden soll, ist zunächst der Reglerweg für eine genaue Steuerung zu klein. Wenn die Drehachse des Potentiometers mittels eines Hebelarmes verlängert wird, lässt sich eine Distanz finden, die für die gewünschte Genauigkeit der Steuerung optimal ist. In diesem Fall ist nicht der physische Widerstand die Rückmeldung, sondern die Position des eigenen Armes beziehungsweise die Neigung des Handgelenkes. Die Bewegung kann geübt werden und bietet deshalb bei der Verwendung dieses Interfaces eine sowohl kontrollierte als auch intuitive Spielweise. Bei der Performance ist die Konzentration dieser Geste spürbar. Das Interface bestimmt seine Möglichkeiten Herkömmliche Interfaces wie Faderbänke, Klaviaturen u.a. implizieren immer eine bestimmte Spielweise. Mit einem Fader lassen sich keine Sprünge machen, höchstens sehr schnelle Verläufe zum nächsten gewünschten Wert. Eine Tastatur lässt nicht zu, innerhalb eines Klanges (einer Taste) eine musikalische Geste zu erzeugen. Es gäbe sicherlich noch viele Beispiele, auf welche Weise die Wahl eines Interfaces die Klanggestaltung maßgeblich beeinflusst. Es ist deshalb bei der Gestaltung eines neuen Interfaces besonders wichtig, von den musikalischen Vorstellungen auszugehen, die damit realisiert werden sollen. Ein experimentelles Interface erlaubt einen völlig neuen Umgang mit den Klängen und dem Spiel. Unser Ziel war es, wie wir im Abschnitt »Komplexität des Sensors versus Komplexität der Programmierung« erwähnt
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haben, eine intuitive Spielweise zu erreichen, die sich in diesem Aspekt an herkömmlichen Instrumenten orientiert.
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c) Bericht über den Aufenthalt am IRCAM in Paris
Oliver Friedli, Assistent der Studienbereichsleitung Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern HKB. Vorbemerkung Das im Kunst- und Kulturzentrum des Centre Pompidou gelegene Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, kurz IRCAM, öffnete seine Tore 1977. Neben dem Kölner Studio für elektronische Musik ist es eine der weltweit führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Erforschung elektronischer Musik. Die Aufgaben des IRCAM hat der Komponist Pierre Boulez, der an der Gründung maßgeblich beteiligt war, so umrissen: »Man weiß ja inzwischen, dass ich den Plan verfolge, in Paris ein Forschungsinstitut zu gründen, und zwar nicht nur für die Elektroakustik und Elektronik, sondern für die Forschung in allen Bereichen, die das Gebiet der Musik und Akustik betreffen.« Da die Reflexionen über die technischen und kompositorischen Möglichkeiten des elektroakustischen Materials, wie auch der Einbezug von Linguistik, Gestik und Instrumentenentwicklung im Vordergrund stehen, ist eine Recherche vor Ort zum Thema Klang (ohne) Körper unentbehrlich. Meine Aufgabe bestand darin, Recherchearbeiten in der Mediathek des IRCAM in Paris vorzunehmen, wo ich einerseits Zugriffe auf die Jahresberichte, wie auch auf Pressespiegel hatte. Des Weiteren stand mir der Bibliothekscomputer zur Verfügung, von welchem ich direkten Zugang auf öffentliche und interne Abstracts hatte. Das Thema Klang (ohne) Körper fragt nach der Bedeutung des Körperlichen in Bezug auf die Klanggestaltung. Mich interessierten in erster Linie die aktuellen Entwicklungen im Bereich Interface-Technologien, welche zur Erkennung und Deutung verschiedener Arten der Gestik und Bewegungsabläufe entstanden sind. Einige Projekte zu dieser Thematik sind am IRCAM entwickelt worden. Auff ällig ist, dass diese fast alle im Zeitraum von 1995 bis 2000 entwickelt worden sind. Vereinzelt liegen Dokumente und Arbeiten der Real Time Musical Interactions Gruppe unter Norbert Schnell wie auch der Performing Arts Research Gruppe unter Nicolas Leroy bis ins Jahr 2007 vor. Projekte und Stand im Bereich Gesture-Following Auch wenn die Dichte der Arbeiten über das Thema stark abgenommen hat, ist es nach wie vor ein wichtiges Ziel des IRCAM, eine Entwicklungsumgebung für den Bereich der Gestik und Bewegung zu schaffen. Das Erforschen, Modellieren, Analysieren und Erkennen von Bewegungsmustern soll mit der prak-
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Klang (ohne) Körper
tischen Anwendung in der Performance in Musik und Theater einhergehen. Dies erfordert auf der einen Seite Arbeit in einer non-realtime Umgebung, wo es darum geht, eine Datenbank mit Bewegungsmustern und deren Analysen aufzubauen, damit eine Erkennung eines Systems überhaupt ermöglicht wird. Dieses Vokabular fließt dann in den Performance- und den Pädagogikbereich, wo die Erkenntnisse getestet und in Echtzeit angewendet werden können. Gestik in der Performance Die erste Kategorie Gestik am Instrument wurde hauptsächlich von Claude Cadoz, ACROE Grenoble, untersucht. Viele Dokumente entstanden in Zusammenarbeit mit Marcelo M. Wanderley und auch Frederic Bevilaqua, Nicolas Rasamimanana, Remy Müller und Emmanuel Fléty gehören in diese Research-Gruppe. Unter den Autoren Frederic Bevilacqua und Remy Müller wurde am IRCAM 2005 eine Arbeit über Untersuchungen verschiedener Techniken zur Bewegungserkennung veröffentlicht. Darin geht es primär um die Entwicklung von Programmen, welche fortlaufend Echtzeitbewegungen mit bereits aufgezeichneten Bewegungen vergleichen. Am sinnvollsten wird diese Methode in der Choreografie, der Interpretation von komponierter Musik und beim Dirigieren eingesetzt. Die Möglichkeit, kontinuierlich Abweichungen und Gemeinsamkeiten von Live-Bewegungen zu aufgezeichneten Referenzbewegungen erfassen zu können, sollte das Erfassen von Interpretations- und Ausdrucksparametern erleichtern. Die Versuchsanordnung von F. Belivacqua und R. Muller basiert auf einem »versteckten Markov-Modell« (Hidden Markov Model HMM). Bis heute werden in diesem Projekt komplexere HMMStrukturen erforscht und bewertet. Das Papier verweist auf zwei interessante Organisationen, welche hier aufgeführt werden: • Motion Capture Database: http://mocap.cs.cmu.edu/. Hier handelt es sich um eine offene Datenbank, welche eine Vielzahl von aufgezeichneten und animierten Bewegungen beinhaltet und frei zugänglich ist. • Eyes Web: eine OpenSource-Software, welche zur Verarbeitung optischer Signale entwickelt wurde. Näheres findet man unter folgendem Link: www.infomus.dist.unige.it/EyesWeb/EywMotionAnalysisDownload.html. Augmented Violin Der Begriff Augmented Violin beschreibt ein so genanntes »Hyperinstrument«. Dieses stammt aus dem Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology MIT. 1986 gründete der dort dozierende Prof. Tod Machover die Hyperinstrument Group mit dem Ziel, Instrumente und Anordnungen zu entwickeln, welche den Fokus auf die Beziehung der kinetischen Ausdrucksform des Spielenden und des Klanges untersuchen. Sensor Chair, Sensor Frames, Hypercello und Joystick Music sind einige Entwicklungen, welche aus dieser Forschungsarbeit hervorgegangen sind und musikalisch verwendet werden. Beim Projekt Augmented Violin geht es um die genaue Untersuchung der Bewegungen beim Geigenspiel mit dem Ziel, diese zur Steuerung von elektronischen Prozessen anwenden zu können. Es werden Bewegungen von drei Bogenspielarten (détaché, martelé und ponticello) anhand von Sensoren, wel238
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che am Geigenbogen befestigt sind, analysiert und parametrisiert. Auf einem fundamentalen Level wird versucht, ein Modell der Spielbewegungen zu erstellen, indem diese mittels Sensoren digital aufgezeichnet und untersucht werden. Vom technischen Standpunkt aus gesehen hat das Mapping der Bewegungen bei der Verwendung durch zahlreiche Musiker und Musikerinnen sehr zuverlässig funktioniert, und das Gewicht des Bogens nimmt durch die Sensoren nicht erheblich zu. Den Kern des Projektteams bilden Frederic Bevilaqua, Nicolas Rasamimanana und Emmanuel Fléty, Serge Lemouton und Florence Baschet. Genaue Erläuterungen sind unter folgendem Link zu finden: http://imtr.ircam.fr/index. php/Augmented_Violin. Entwicklung der FTM und MnM Libraries: Da die Idee des Hyperinstruments ursprünglich vom MIT stammt, könnte die parallele Entwicklung am IRCAM für einen näheren Vergleich interessant sein. Das Projekt Augmented Violin basiert auf Erkenntnissen der langjährigen Forschungsarbeit in den verschiedenen Departementen des IRCAM und baut auf diesen auf, wie z.B. auf die zum großen Teil am IRCAM entwickelte Umgebung Max/MSP, die im Folgenden beschrieben wird. Im Jahr 2004 startet IMTR, eine Researcher und Developer Gruppe unter der Leitung von Norbert Schnell, mit der Entwicklung der FTM Library für die Programmierumgebungen Max/MSP und PureData, mit dem Ziel Externals für die Interpretationen von komplexen Datensträngen zu entwickeln. Mitwirkende wie Norbert Schnell, Riccardo Borghesi, Diemo Schwarz, Frederic Bevilacqua, Remy Müller, Arshia Cont und Jean-Phillippe Lambert sind Namen, welche im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesture-Control immer wieder auftauchen. FTM basiert auf dem Vorläufer jMax, welches vom Real-Time System Research Team entwickelt wurde. Die Hauptaufgabe von FTM ist es, die Analyse und Interpretation von Bewegungen in Max/MSP zu vereinfachen. Sie übernimmt verschiedene Rechenprozesse im Bereich des Parameter-Mappings. Interessant ist die Entwicklung, welche anhand der neuesten Protokolle zu erkennen ist. Der Gedanke »Mapping ist not Music« lässt darauf schließen, dass man sich am IRCAM über die musikalische Auswertung von komplexen Mappings auch intuitiver und in ihrer Intention nicht auf die Klangsteuerung ausgerichteter Bewegungen Gedanken macht. Die auf der FTM basierte MnM Mapping-Toolbox ist speziell auf das Mapping von Klang und Bewegung ausgerichtet und bietet eine Vielzahl an Externals für die Max/MSP und Pure Data Umgebungen. Weitere Informationen zu den Applikationen sind unter folgendem Link beschrieben: http://ftm.ircam.fr/index.php. Projekte in der Musikpädagogik: Eine aktuelle Arbeit über gestische Schnittstellen liegt im Bereich der Pädagogik vor. In Zusammenarbeit mit dem europäischen i-Maestro Projekt wird am IRCAM in Paris an der Entwicklung von kompletten gestischen Interfaces (inklusive Software) im Bereich der Pädagogik gearbeitet.
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Das Ziel des i-Maestro Projektes ist die Erforschung neuartiger Lösungen für die musikalische Lehre und Übung in Theorie und Praxis, auf bauend auf Innovationen, die sich aus der neueren Entwicklung von Computern und Informationstechnologie ergeben haben. Dazu sollen neue pädagogische Ansätze mit interaktiver Umgebung, gestischen Schnittstellen und erweiterte Instrumente für die computerunterstützte Lehre im Unterricht genutzt werden, um technologisch erweiterte Umgebungen für Gehör- und Spieltraining, Kreativitäts-, Analyse- und Theorietraining, Ensemblespiel, Komposition etc. zu realisieren. Musikalische Interpretation bedeutet nicht nur, die richtige Note zur richtigen Zeit zu spielen: i-Maestro strebt das Studium und die Erforschung vieler relevanter Aspekte an, um Methoden und Werkzeuge mit innovativen pädagogischen Konzepten für den Musikunterricht herzustellen, die Schlüsselelemente wie Expressivität, Interaktivität, Gesten-Steuerung und Kooperation der Teilnehmenden integrieren. Das Projekt am IRCAM ist in erster Linie dem Dirigieren gewidmet. In einem Aufnahmemodus werden Bewegungen der Lehrperson zu einem gewissen Stück mittels Sensoren erfasst und als Open Sound Control Nachrichten drahtlos an den einen Digitizer geschickt. Diese Bewegungen werden als Muster gespeichert und mit dem Stück synchronisiert. Im Spielmodus werden die Bewegungsmuster der Lernenden fortlaufend mit den bereits aufgezeichneten verglichen und verändern bei Abweichungen die Abspielgeschwindigkeit des Stückes entsprechend. Zur Analyse dienen Objekte der FTM Library (s. vorangehendes Kapitel). Zu den wesentlichen Zielen des Projekts gehören die Grundlagenforschung und Entwicklung neuer Lösungen und Technologien, die sowohl traditionelle als auch neuartige Formen der Musikpädagogik unterstützen – mit einem besonderen Schwerpunkt in theoretischem und praktischem Training für Streichinstrumente, das interaktive, gesten-basierte und kreative Werkzeuge erfordert. Zudem wird an einem Rahmen für technologisch unterstützte Musikerziehungsmodelle und -Werkzeuge zur Unterstützung der Erstellung flexibler und personalisierbarer e-Learning Kurse gearbeitet, welche die Zugänglichkeit zu musikalischem Wissen verbessern. Gestik-Interface EtherSense: Das Interface EtherSense ist ein Sensor-Ethernet-Wandler mit 32 analogen Eingängen, welche durch 16-bit-Wandler in digitale Signale konvertiert werden. Die Sensoren können einfach durch Miniklinken-Kabel angeschlossen werden. Aktive Sensoren benötigen eine Speisung von 5 Volt. Digitalisierte Daten werden via Ethernet über das Open Sound Protokoll gesendet. Speziell erwähnenswert ist das praktische LCD Display. Durch das Menü lassen sich einfach und schnell Konfigurationen direkt am Gerät vornehmen. Wie für andere gängige Voltage-to-Midi Converter wurde ebenfalls eine Steuerungssoftware entwickelt (OSX und WIN). Leider wird das Gerät nur noch innerhalb von Projekten des IRCAM eingesetzt und war jedenfalls zum Zeitpunkt meiner Recherche Außenstehenden nicht zugänglich.
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2. Materialien zum Symposium »Soundkulturen. Zur Theorie einer Medienkunst des Auditiven am Beispiel der Welte Selbstspielklaviere«
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Z UR THEOR IE
SYMPOSIUM »S OUNDKULT UREN . E INER M EDIENKUNS T DE S A UDI T I VEN AM DER W ELTE S ELBS T SPIELKL AV IERE «
B E I SPIEL
vom 8.11.2007, Hochschule der Künste Bern (HKB), Studienbereich »Musik und Medienkunst« Im Rahmen des gemeinsamen Medientheorie-Seminars des Instituts für Medienwissenschaft (ifm) der Universität Basel (www.mewi.unibas.ch) und dem Studienbereich Musik und Medienkunst der Hochschule der Künste Bern (www.medien-kunst.ch) im Herbstsemester 2007 wurde eine Gastveranstaltung durchgeführt. In Kooperation mit dem Forschungsprojekt »Wie von Geisterhand: Digitalisierung von Papierrollen für Reproduktionsklaviere« (Prof. Dr. Debrunner, Roger Tschanz, BFH-TI Biel).
P ROGR AMM • • • • • • • • •
DER
G A S T VER ANS TALT UNG
VOM
8.11.2007
Michael Harenberg (HKB Bern): Begrüssung und Einführung »Reproduktionsinstrumente und der Geist der Romantik« Georg Christoph Tholen (ifm Uni Basel): »Automaten und Automationen« David Rumsey (Basel): »Die Britannic-Orgel von Seewen« Claudio Bacciagaluppi (HKB Bern): »Die Vorgänger von Welte«
D I SKUS SION
UND
Z USAMMENFA S SUNG
Soundkulturen und Reproduktionsinstrumente Das Zeitalter der mechanischen Aufzeichnung musikalischer Interpretationen von 1905 bis 1930 soll im Forschungsprojekt »Wie von Geisterhand« dokumentiert, konserviert, vor allem aber in neue Medien übertragen und wiederbelebt werden. Papierrollen aller Fabrikate können in abspielbare MIDI-Befehle konvertiert oder als Rohdaten für eine archivtaugliche Speicherung der Informationen verwendet werden. Die Digitalisierung als Rohdaten ermöglicht das Weiterleben dieser Kunstwerke. Als MIDI-Daten werden diese Tonaufnahmen für die Interpretationsforschung unmittelbar zugänglich. Um aktuelle Strömungen und Entwicklungen sowie die Ästhetik digitaler Strategien der vielfältigen Szenen elektroakustischer Musik verstehen zu können, ist es notwendig, die Geschichte der elektronischen Musik genauer zu untersuchen. Dazu gehört vor allem auch die mediale Vorgeschichte analoger Musikautomaten und automatischer Instrumente, wie wir sie vor allem aus dem 19./20. Jahrhundert kennen. Vorformen digitaler Steuerung von Musik im Analogen im Zusammenhang mit einer von der Romantik geprägten
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Klang (ohne) Körper
Ästhetik der Materialität von medialer Produktion und Rezeption, ergeben eine interessante Vorgeschichte digitaler Medienmusik und -Soundästhetik. Das Medientheorie-Seminar »Soundkulturen. Zur Theorie einer Medienkunst des Auditiven« wird gemeinsam vom Institut für Medienwissenschaft (ifm), Prof. Dr. Georg C. Tholen, der Universität Basel und dem Studienbereich »Musik und Medienkunst«, Prof. Michael Harenberg, der Hochschule der Künste Bern (HKB) veranstaltet.
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3. Materialien zum Forschungssymposium »Klang (ohne) Körper«
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Klang (ohne) Körper
SYMPOSIUM »K L ANG ( OHNE) K ÖRPER . D ER V ERLUS T DER K ÖRPERL ICHKE I T UND DIE E NTGRENZUNG KL ANGL ICHEN G E S TALT UNGSPOTENZ I AL S IN DER ELEK T RONI SCHEN M USIK«
DE S
vom 28./29.11.2008, Hochschule der Künste Bern (HKB), Studienbereich »Musik und Medienkunst« Leitung Prof. Daniel Weissberg, Prof. Dr. Michael Harenberg
E INL ADUNG Als Abschluss des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper möchten wir Sie für ein zweitägiges Symposium einladen um die Ergebnisse vorzustellen und zu diskutieren. Die elektronische Musik ist weder auf eine körperliche Bewegung noch auf ein herkömmliches Instrument zur Klangerzeugung angewiesen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die grundsätzliche Frage nach der historischen wie aktuellen Bedeutung des Körpers für das Musizieren. Erforscht werden die ästhetisch wie formal-strukturellen Implikationen verschieden ausgeprägter Körper-Instrument-Klang Darstellungsqualität-en und ihre Bedeutung für die Musik verschiedener Epochen bis zur zeitgenössischen digitalen Medienmusik und -kunst. Die Beziehung zwischen Körperlichkeit und Musizierpraxis wird von der alten bis zur zeitgenössischen Musik anhand exemplarischer Beispiele wie z.B. der Entwicklung von Streicherbögen und resultierender Spielpraxen oder die Parallelität von Virtuosentum und Musikautomaten historisch und theoretisch dargestellt und auf die Auswirkungen der jeweiligen Musizier- und Interpretationspraxis befragt. Der aktuelle Körperdiskurs in der zeitgenössischen Medienkunst wird dazu ebenso einbezogen wie die praktische Erprobung aktueller Interfacestrategien. Erste Ergebnisse lassen deutlich erkennen, warum das früher alternativlose Verhältnis von Bewegung und Klang die substanzielle Frage nach dem Einfluss der Beziehung einer Epoche zur Körperlichkeit auf die Musizierpraxis jahrhundertelang gar nicht entstehen lassen konnte. Diese ist sowohl in Bezug auf zeitgenössische, elektronische und speziell auch auf alte Musik neu und unbearbeitet. Daraus resultieren weitergehende Fragestellungen, die einer tiefer gehenden Bearbeitung bedürfen. Der medientheoretische Fokus auf die untersuchte Materie erweitert zudem den üblichen Ansatz, der das Potenzial von Instrumenten und Interfaces über die Inhalte definiert, welche damit realisiert wurden, während unsere Ergebnisse das Potenzial über deren spezifische Medialität definieren. Sie erlauben somit neben einer Kategorisierung von bestehendem eine Grundlage für neue Sichtweisen in Bezug auf Interpretation vorhandener wie auf Kreation von neuer Musik in Gegenwart und Zukunft.
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ReferentInnen • Franziska Baumann, Performerin, Dozentin • Rolf Großmann, Musikwissenschaftler, Leiter Ästhetische Strategien (Schwerpunkt Audio), Leuphana Universität Lüneburg • Michael Harenberg, Studienbereichsleitung Musik und Medienkunst, Leiter des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper • Kai Köpp, Musikwissenschaftler, Bratschist • Peter Reidemeister, Musikwissenschaftler, Schola Cantorum Basiliensis Basel • Georg Christoph Tholen, Ordinarius des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Basel • Daniel Weissberg, Studienbereichsleitung Musik und Medienkunst, Leiter des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper Organisation und Leitung • Michael Harenberg, Studienbereichsleitung Musik und Medienkunst, Leiter des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper, michael.harenberg@ hkb.bfh.ch • Daniel Weissberg, Studienbereichsleitung Musik und Medienkunst, Leiter des Forschungsprojektes Klang (ohne) Körper, daniel.weissberg@hkb. bfh.ch • Oliver Friedli, Assistenz Forschungsprojekt Klang (ohne) Körper, oliver. [email protected] • Cathy van Eck, wissenschaftliche Mitarbeiterin Musik und Medienkunst, [email protected] • Cordula Bonanomi, Sekretariat Musik und Medienkunst, [email protected] Programm Abschlusssymposium Klang (ohne) Körper 28./29.3.2008, Hochschule der Künste Bern, Papiermühlestraße 13d Freitag, 28.3.08 09:00 Anmeldung, Organisation etc. 09:45 Begrüßung und Einführung in das Thema, Daniel Weissberg und Michael Harenberg 10:45 Entwicklung des Körperbildes von der Renaissance bis heute, Michael Harenberg 11:30 Virtuosen und Maschinen, Wandlungen musikalischer Körperlichkeit, Peter Reidemeister 12:15 Mittagessen 13:30 Interfaces in der Live-Performance, Franziska Baumann 14:15 Interfaces in der vorelektronischen Musik: Klaviermechaniken, Dirigierbewegungen und historische Streichbögen, Kai Köpp 15:15 Klangerzeugung als Drama und Resonanzphänomen, Daniel Weissberg 16:15 Kaffepause 16:45 Distanzierte Verhältnisse? Die Musikinstrumentalisierung 247
Klang (ohne) Körper
17:30 18:30 20:00
der Reproduktionsmedien und algorithmeischen Prozesse, Rolf Großmann Podiumsdiskussion der Referenten 1 Pause Konzert mit historischen und aktuellen Beiträgen zum Thema des Symposiums
Samstag, 29.3.08 09:30 Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe oder warum Aufnahmen sterben müssen, Daniel Weissberg 10:30 Kaffepause 11:00 Podiumsdiskussion der Referenten 2, mit Georg Christoph Tholen 12:30 Schluss und Verabschiedung Konzert, Freitag, 28. März, 20.00 Uhr, großer Konzertsaal I. Anachronistische und synchronistische Bogenmodelle und ihre Spielweisen dargestellt an Beispielen aus fünf historischen Stilbereichen Ein Vortrag von Kai Köpp mit vorgeführten Klangbeispielen (HCB Bern) Historische Streichbögen werden als jeweils perfekt an ihr Repertoire angepasstes Instrument der Klangformung verstanden. Durch ihre inhärenten Spieleigenschaften geben unverändert erhaltene Originale Hinweise auf klangliche und stilistische Merkmale, die durch schriftliche Quellen allein nicht erfahrbar werden.
Stilbereiche in historischer Abfolge: • süddeutsch-submiss (Schmelzer-Biber Kunstgeigerei) • französisch-prägnant (am Tanz orientierte Taktgewichtung) • französisch-galant (Glockenton: en l’air-Spielweise) • italienisch-gesanglich (cantabile, sägende, leyernde Tonketten) • Vermischter Geschmack (gesanglich-prägnant: ital. Bindungen und frz. Manieren) • Klassischer Stil (Natürlichkeit der Taktgewichtung, agogische Akzente) • Wiener Klassik (Leichtigkeit und Geschwindigkeit, Wispeley der Luftviolinisten) • Frühe Romantik (gediegen und pathetisch, markig im Ton, spiccato altmodisch) 1. Beispiel: Heinrich Ignaz Franz Biber: Sonata Pastorella A-Dur für Violine und B.c. (ca. 1785), Anfang Nicola Matteis sr.: Fantasia – Passaggio rotto ohne B.c. (1676) Bögen: • Herkömmlicher Barockbogen (Diego Rivera) • Steckfroschbogen um 1680 (Biber-Bogen, Kopie des Salzburger Originals, Slg. Köpp)
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2. Beispiel: Georg Philipp Telemann: Fantasie D-Dur ohne B.c. (1735), Presto Bögen: • Herkömmlicher Barockbogen (Diego Rivera) • Steckfroschbogen um 1725 (Kopie des Nürnberger Originals von Caspar Stadler, Slg. Köpp) 3. Beispiel: Gaspard Fritz: Sonate op. 2 (vor 1750), Minuetto con 2 Variazioni Jean-Marie Leclair L’ainé: Sonate op. IX/7 (1748), Andante Bögen: • Klassikbogen (Diego Rivera) • Französischer Schraubbogen um 1750 (Original, Sammlung Köpp) 4. Beispiel: W.A. Mozart: Variationen KV 360 g-Moll, Hélas, j’ai perdu mon amant (1781) Bögen: • Cramer-Bogen um 1775 (Kopie nach Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Slg. Köpp) • Englischer Schwanenhals-Schraubbogen um 1780 (Original, Sammlung Köpp) 5. Beispiel: Ludwig van Beethoven: Sonate op. 23 a-Moll, I. Presto (Wien, 1800/01) Bögen: • Cramer-Bogen um 1775 (Kopie nach Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Slg. Köpp) • Tourte-Modell (französisches Original um 1820, Slg. Köpp) II. Voice Sphere Eine Stimmperformance von Franziska Baumann (HKB Bern) Voice Sphere ist eine Stimmperformance, gestisch verbunden mit weitschwingender vokaler Klangkunst, eine Reise durch die Rachen und Klangräume, durch die elektronische Evolutionsspirale unberechenbarer Tonmoleküle und Kehlkopforgane. Es ist eine modulare Kompositionsanlage, in der sich Stimmkonzepte und freie Improvisation ergänzen. Ein am STEIM Amsterdam entwickelter cyber glove, der ihre Gesten und Bewegungen interpretiert, verbindet ihre Stimme physisch mit elektronischen Prozessen: Benders, Beschleuniger und Ultra Sonic Distanzmesser sind die Schnittstellen zwischen realer und virtueller Welt. III. The real VJ Roland Dill, Lorenz Wortmann (Universität Köln) The real VJ als Umsetzung des klassischen DJ-Setups in Max/MSP führt zu einer Reduktion der originären Haptik von Plattenspieler und Mischpult. Im Zentrum steht der virtuose und präzise Umgang mit technischen Geräten, der bei der Bedienung von Turntables einen entscheidenden Anteil am
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Vorgang des Musikauflegens hat und eine Kreativität erlaubt, die weit über die sukzessive Wiedergabe von Klängen hinausgeht. Die Positionen farbiger Objekte repräsentieren unterschiedliche Wiedergabeparameter von Loops und vereinen in sich somit die Funktion des Pitchcontrollfaders am Plattenspieler und des Crossfaders am Mischpult, jedoch ist hierdurch ein weit tieferer Eingriff in den Mix in Echtzeit möglich. IV. Staccato Soup Eine 4-Kanalige Live-Performance von Springintgut (Andreas Otto), Universität Lüneburg In Staccato Soup dient ein kommerzieller Game-Controller als Eingabeteil einer Improvisationsumgebung, die auf einem MIDI-Arrangement mit zahlreichen Software-Samplern basiert. Das visuelle Feedback, das im Umgang mit diesem alltäglichen Interface selbstverständlich ist, entfällt und wird durch eine 4-Kanal Audioumgebung ersetzt. So entsteht ein nuancenreicher Dialog, zwischen präzisen Rhythmen und Ambienz, zwischen Automatisation und Improvisation. V. Lichtperformance Lilian Beidler (HKB Bern) Mittels Lichtzellen, werden Klänge ohne und mit Licht gesteuert und moduliert. Das kurze Stück ist sowohl eine Performance mit Licht wie auch ein klangliches Erlebnis. VI. Wiimote Pendulum Music Ein Stück für vier WiiMotes und vier Personen von Timo Loosli und Eddi Lecesne (HKB Bern) Als Anspielung auf Steve Reichs Pendulum Music wird mit der Inszenierung von vier Wiimote-Controllern als Mikrofonersatz eine feedback-lose Interpretation des Stückes realisiert. Die Rückkopplungen zwischen Mikrofon und Lautsprecher werden jetzt anhand der Sensoren und der internen Mini-Lautsprechers der Wiimote gespielt. VII. Installationen Faderboxing Solo für erweiterte Faderbox von Tobias Reber (HKB Bern) Normalerweise dient das Interface als Eingebegerät, aber für einmal soll dies hier umgekehrt sein: das Interface als Ausgabegerät, als Outerface. Daten verlassen den hermetischen Raum zwischen 0 und 1 und rücken dem Physischen auf die Pelle.
dii manes Eine Klanginstallation für Lemur und vier Lautsprecher von Stephen Lumenta und Cyrill Lim (HKB Bern) Die Manen sind die Römischen Totengeister. Werden sie vernachlässigt, werden sie zu den Lemuren, bösen Geistern die schlechte Träume senden,
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werden sie geehrt, werden sie zu Lares, den guten Geistern. Finden Sie selbst heraus, wie die Manen besänftigt oder aufgewühlt werden können. Schatteninstallation (Prototyp) in den Schulungsräumen Eine Schatteninstallation von Daniel Werder (HKB Bern) Der Schatten von zwei Personen, die sich in unterschiedlichen Räumen befinden, werden zum Interface für die Klangsteuerung. Die Installation ist ein erster Prototyp und in dieser Phase noch ein Work in Progress.
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MedienAnalysen Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne 2009, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-999-2
Regine Buschauer Mobile Räume Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation Februar 2010, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1246-2
André Eiermann Postspektakuläres Theater Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste 2009, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1219-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Till A. Heilmann Textverarbeitung Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine Juli 2010, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1333-9
Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res Medienkulturwissenschaftliche Positionen Juli 2010, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1181-6
Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte Juni 2010, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1191-5
Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3
Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika Juli 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1387-2
Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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