Der Alterskraftunternehmer: Ambivalenzen und Potenziale eines neuen Altersbildes in der flexiblen Arbeitswelt [1. Aufl.] 9783839429938

The job market needs more and more older employees. It is time for a farewell to deficit-oriented images of age in the w

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German Pages 222 Year 2015

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Inhalt
Geleitwort
Der Alterskraftunternehmer – ein neues Altersbild für die flexible Arbeitswelt? Zur Einführung
Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!
Alte Hasen oder altes Eisen? Handlungsbefähigung als Metakompetenz für ein er folgreiches Älterwerden in diskontinuierlicher Beschäf tigung
»Creativity isn’t a talent, it’s a way of operating« Zur Bedeutung von Diskontinuität als Potenzial im demografischen Wandel
Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern. Diskontinuität in der Erwerbsbiografie
Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich. Ergebnisse der repräsentativen DEBBI-Beschäf tigtenbefragung zur Selbst- und Fremdwahrnehmung innovationsrelevanter Eigenschaften und Kompetenzen
Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung in Deutschland und Frankreich. Thesen zu den Chancen und Grenzen länderübergreifender Lernprozesse zur Gestaltung der Arbeitswelt
Wider den Krieg der Generationen in der Arbeitswelt. Kategorisierung und ›Par titions Sociales‹ als Analyseraster für intergenerationelle Beziehungen in Unternehmen –Unterstüt zungsmöglichkeiten im Bereich Sport
Identifikation von Innovationspotenzialen in Erwerbsbiografien. Bemerkungen aus der Praxis der Personalentwicklung
Der Profiler. Ein Instrument für ein IT-gestüt ztes Kompetenzmanagement
Autorinnen und Autoren
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Der Alterskraftunternehmer: Ambivalenzen und Potenziale eines neuen Altersbildes in der flexiblen Arbeitswelt [1. Aufl.]
 9783839429938

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Helga Dill, Heiner Keupp (Hg.) Der Alterskraftunternehmer

Reflexive Sozialpsychologie Hrsg. von Heiner Keupp | Band 8

Helga Dill, Heiner Keupp (Hg.)

Der Alterskraftunternehmer Ambivalenzen und Potenziale eines neuen Altersbildes in der flexiblen Arbeitswelt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2993-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2993-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Geleitwort Volker Schütte | 7

Der Alterskraftunternehmer – ein neues Altersbild für die flexible Arbeitswelt? Zur Einführung Helga Dill/Heiner Keupp | 9

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war! Heiner Keupp | 17

Alte Hasen oder altes Eisen? Handlungsbefähigung als Metakompetenz für ein er folgreiches Älterwerden in diskontinuierlicher Beschäftigung Helga Dill/Florian Straus | 49

»Creativity isn’t a talent, it’s a way of operating« Zur Bedeutung von Diskontinuität als Potenzial im demografischen Wandel Silke Steinberg/Kim Lauenroth | 65

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern Diskontinuität in der Er werbsbiografie Helga Dill | 89

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich Ergebnisse der repräsentativen DEBBI-Beschäftigtenbefragung zur Selbst- und Fremdwahrnehmung innovationsrelevanter Eigenschaften und Kompetenzen Kurt-Georg Ciesinger/Rüdiger Klatt/Romina Wendt | 115

Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung in Deutschland und Frankreich Thesen zu den Chancen und Grenzen länderübergreifender Lernprozesse zur Gestaltung der Arbeitswelt Silke Steinberg/Rüdiger Klatt | 139

Wider den Krieg der Generationen in der Arbeitswelt Kategorisierung und ›Par titions Sociales‹ als Analyseraster für intergenerationelle Beziehungen in Unternehmen – Unterstützungsmöglichkeiten im Bereich Spor t Marie Jégu/Marie-Françoise Lacassagne/Philippe Castel | 157

Identifikation von Innovationspotenzialen in Erwerbsbiografien Bemerkungen aus der Praxis der Personalentwicklung Kurt-Georg Ciesinger | 183

Der Profiler Ein Instrument für ein IT-gestütztes Kompetenzmanagement Angela Carell/Viktoria Glasmachers | 201

Autorinnen und Autoren | 217

Geleitwort

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um ein Produkt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts »Diskontinuierliche Erwerbsbiografien als berufliche Innovationschance (DEBBI)«, das vom Forschungsinstitut für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP), vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP/VfPI) und vom Unternehmenspartner adesso AG gemeinsam durchgeführt wird. Der Band dokumentiert die Forschungsergebnisse dieses Verbundprojektes. Den Kern bilden die Beiträge der Meilensteintagung »Innovation und Biografie«, bei der das Projekt Debbi am 31.1./1.2.2013 in der Katholischen Akademie in München vorgestellt wurde – und die ich die Ehre hatte, gemeinsam mit anderen Gästen zu eröffnen. Das Vorhaben gehörte zu den ›Gewinnern‹ der vom BMBF unter dem Titel »Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel« veröffentlichten Förderbekanntmachung. Der Verbund leistet dabei einen wesentlichen Beitrag zur Ausgestaltung des Förderprogramms »Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt« und der dazu veröffentlichten Ausschreibung. Mit seinen Zielen nimmt er Bezug insbesondere auf das in der Bekanntmachung formulierte förderpolitische Feld »Innovationspotenziale durch veränderte Erwerbsbiographien«, was auch in der Zugehörigkeit zur einschlägigen Fokusgruppe seinen Ausdruck fand. Das Verbundprojekt ist in erfolgversprechender Weise die Aufgabe angegangen, das Spannungsfeld ›Innovation und Alter‹ auf dem Hintergrund sich verflüssigender Identitätsmuster zu erfassen und ein neues, an innovativen Älteren orientiertes Innovationsparadigma zu modellieren  – insbesondere im Hinblick auf Erwerbsbiografien in der IT-Branche. DEBBI hat beim demografischen Wandel also auch die mit diesem verbundenen Chancen in den Blick genommen, gerade für solche Gruppen wie Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, denen man gemeinhin besondere Risiken zuschreibt. Persönlich glaube ich, dass durch den Fachkräftemangel z.B. mein heute 15jähriger Sohn Moritz – wenn er weiterhin so gut lernt – beruflich alle Chancen haben wird. Die Arbeitgeber werden sich mehr und mehr bei den Arbeitnehmern bewerben müssen – und nicht

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mehr umgekehrt. Hierzu werden die Arbeitsplätze tendenziell immer attraktiver werden, wozu selbstverständlich Gesundheits- und Persönlichkeitsförderlichkeit gerechnet werden müssen. Außerdem werden Gesetz und Tarifvertrag alsbald nicht mehr sklavisch einen bestimmten Zeitpunkt für das Renteneintrittsalter vorgeben. Ob sich jemand mit 63, mit 65 oder mit 67 ›zur Ruhe setzen‹ will – oder aber später, oder aber früher – wird meines Erachtens seiner persönlichen Selbstbestimmung überlassen bleiben, wenn er bereit ist, die jeweiligen Konsequenzen zu tragen. Wie lange er/ sie aber überhaupt berufstätig sein kann, hängt aber natürlich nicht nur von der Bereitschaft ab, sondern in gleichem Maße davon, ob er/sie überhaupt in der Lage ist, das Rentenalter berufstätig zu erreichen. Hier gemeinsam Wege exemplarisch aufzuzeigen, haben sich die Verbundpartner in zahlreichen gemeinsamen Projekten seit Jahren zur Aufgabe gemacht. Bei den Projektnehmern bedanke ich mich also ganz herzlich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und für den Projektträger »Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen« für die immer kompetente und passionierte Durchführung des Vorhabens. Volker Schütte, im Oktober 2014

Der Alterskraftunternehmer – ein neues Altersbild für die flexible Arbeitswelt? Zur Einführung Helga Dill/Heiner Keupp

1. D EMOGR AFISCHER W ANDEL UND S TRUK TURWANDEL DES A LTERS – A MBIVALENZEN UND W IDERSPRÜCHE Der demografische Wandel wurde bisher überwiegend als Katastrophenszenario dargestellt. Seit den 1980er Jahren beginnt die (erneute) Diskussion um »Vergreisung«, »Überalterung« und »Aussterben der Deutschen«1, die in ganz Europa geführt wird, in Deutschland aber mit einem besonders dramatischen Gestus. Die Katastrophenszenarien beziehen sich auf • • • •

die Sozialversicherung: weniger Beitragszahler, mehr Leistungsnehmer, leere Rentenkassen, Altersarmut, regionale Entwicklungen: ausgestorbene Dörfer, Rückbau von Infrastruktur, Gesundheitswesen: Zunahme von kranken, hilfs- und pflegebedürftigen Menschen, Abnahme von jüngeren Pflegekräften, den Arbeitsmarkt: Fachkraftmangel, verlängerte Lebensarbeitszeit, Verlust von Innovationskraft und Produktivität.

Mögliche Chancen, die in der demografischen Entwicklung liegen bzw. eine Entdramatisierung des Diskurses ist etwa seit der Jahrtausendwende zu erkennen. Im Abschlussbericht der Enquête-Kommission »Demografischer Wandel« heißt es: »Der demographische Wandel und die enorme Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit dürfen nicht primär als Problem, sondern müssen als Gewinn gesehen werden. […] Wir dürfen die steigende Anzahl älterer Menschen nicht nur als Kostenfaktor diskutieren. Der ›Nutzen‹, der Gewinn, den gerade ältere Menschen der Gesellschaft durch ihr 1 | Eine ausführliche Darstellung des demografischen Diskurses im 20. Jahrhundert hat Thomas Bryant unternommen (Bryant 2011).

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Helga Dill/Heiner Keupp Engagement und ihre Erfahrung bringen können, muss herausgestellt werden. Die ältere Generation stellt ein Humankapital dar, von dem unsere Gesellschaft lebt. Wir brauchen eine Korrektur des negativ akzentuierten Altersbildes auch in Wirtschaft und Industrie, das die älteren Menschen auch in ihrer Funktion als wichtige Konsumenten und Leistungsträger erkennt.« (Deutscher Bundestag 2002, S. 13)

Diese Diskurslinie wurde im Wissenschaftsjahr 2013 vom BMBF aufgenommen. Unter dem Titel »Die demografische Chance« wurden die Herausforderungen und die Chancen der demografischen Entwicklung diskutiert. Der demografische Diskurs ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Dennoch bleiben vor allem Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten dominant. Auf dem Arbeitsmarkt wird der Fachkräftemangel als zentrales Problem der nahen Zukunft diskutiert. In manchen Branchen – beispielsweise in der IT – ist er schon heute spürbar. Die Trends ›wir werden älter‹ und ›wir werden weniger‹ führen zu einem absoluten Rückgang junger Arbeitskräfte. Noch führt diese absehbare Entwicklung aber nicht dazu, dass die Potenziale der Älteren, deren Erfahrungswissen als eine Kompensationsmöglichkeit gesehen werden, beziehungsweise es führt noch nicht zu Konsequenzen. So konstatieren auch Denninger et al., dass das Beheben der Fachkraftengpässe auf dem Arbeitsmarkt durch Ausschöpfen der Potenziale Älterer als naheliegende Idee erscheine, aber in Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht angekommen sei (Denninger et al. 2014). Gerade auf dem Arbeitsmarkt überwiegen defizitorientierte Altersbilder weiterhin, auch wenn die meisten (Vor-)Urteile über ältere Arbeitnehmer von der Forschung mittlerweile widerlegt sind. Nach dem Altersübergangsreport des Instituts für Arbeit und Qualifikation (Brussig 2011) zeigen verschiedene Untersuchungen, dass »die personalpolitischen Entscheidungen der Betriebe im Rekrutierungsprozess altersselektiv sind und dabei Ältere oft benachteiligen. […] Laut IAB-Betriebspanel ist jeder siebte Betrieb grundsätzlich nicht zur Einstellung von Personen ab 50 Jahren bereit, und etwa jeder dritte knüpft an die Neueinstellung eines Älteren besondere Bedingungen, wie zum Beispiel den Erhalt von Eingliederungszuschüssen. […] Regelrechte Höchstaltersgrenzen für Neueinstellungen gibt es nicht nur bei vielen Beamtenlaufbahnen, sondern auch in Unternehmen. Die niedrigen Rekrutierungschancen Älterer erschweren die Wiederbeschäftigung arbeitsuchender Älterer und fördern Langzeitarbeitslosigkeit und einen vorzeitigen Renteneintritt.« (Brussig 2011, S. 2)

Hartnäckig hält sich die Formel von der ›Generation 50plus‹, unter der die älteren Arbeitnehmer subsumiert werden, zusammen mit allen jungen Alten und Hochbetagten, denn 50plus ist eine nach oben offene Kategorie. Damit wird sowohl die Heterogenität des Alters geleugnet (vgl. hierzu zum Beispiel Stanjek 2012), aber auch die Tatsache, dass die Älteren in ihrem Selbstbild jünger sind als die

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Generationen davor und auch von anderen jünger geschätzt werden (vgl. Otten 2009, S. 140ff.). Ein weiterer Diskussionsstrang dreht sich um die verlängerte Lebensarbeitszeit. Angesichts der demografischen Entwicklung und der auf dem Generationenvertrag beruhenden Alterssicherung geht es darum, die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen und die der Leistungsnehmer zu minimieren. Regelaltersrente mit 67 Jahren war die Lösung der Politik (Rentenversicherungs-, Altersgrenzenanpassungsgesetz, März 2007). Auch wenn die aktuelle große Koalition aufgrund von Protesten der Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen mit dem sogenannten Rentenpaket Modifikationen vorgenommen hat, wird es bei der grundsätzlichen Verlängerung der Lebensarbeitszeit bleiben. Während die Argumente gegen eine verlängerte Lebensarbeitszeit vor allem den körperlichen Verschleiß bei bestimmten Berufen ins Feld führen, gibt es eine neue »Krankheit der Moderne« – die Erschöpfung. Psychische Erkrankungen nehmen nach den Daten aller Krankenkassen dramatisch zu, (vgl. Keupp/Dill 2010). Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreichen gar nicht mehr das reguläre Renten- oder Pensionsalter. Der Anteil der Frühverrentungen wegen psychischer Krankheiten nimmt ständig zu (vgl. die Studie der BPtK 2013). Eine Ursache dafür liegt in der zunehmenden Verdichtung, Entgrenzung und Beschleunigung in der Arbeitswelt (s. dazu den Beitrag von Heiner Keupp in diesem Band). Die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zeigen sich besonders in der sich als jung inszenierenden Branchen IT und Medien.

2. D ER A LTERSKR AF TUNTERNEHMER ALS NEUES A LTERSBILD? Eingebettet sind die demografischen Veränderungen in weitreichende gesellschaftliche Flexibilisierungs- und Auflösungsprozesse. Diese führen gerade auf dem Arbeitsmarkt zu Entgrenzung und Verdichtung. Das jahrzehntelang gültige Paradigma von der Normalbiografie wird abgelöst. Flexible Arbeitsformen setzen sich mehr und mehr durch. Aber auch in ›normalen‹ Angestelltenverhältnissen nehmen die Anforderungen an die Subjekte zu. Pongratz/Voss (1998) haben diese Phänomene mit dem Begriff des »Arbeitskraftunternehmers« griffig gefasst. Selbstverantwortung, Selbstmanagement, Selbststeuerung: Arbeitnehmer werden mehr und mehr zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft, entwickeln, wie Ulrich Bröckling (2007) es genannt hat, ein »unternehmerisches Selbst«. Möglicherweise ist die Generation der Babyboomer die Generation, die am meisten mit dem Verschwimmen der klaren Konturen der Erwerbsbiografien zu kämpfen hat. Als Berufseinsteiger noch mit den Bildern der Normalarbeit sozialisiert, müssen sie sich jetzt mit Flexibilisierung und Entgrenzung in allen Lebensbereichen auseinandersetzen – und dies länger als die Generationen davor. Auf diese hohe Anforderung reagieren manche mit Erschöpfungsphänomenen, andere werden angespornt.

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Die skizzierten Veränderungsprozesse führen dazu, dass ein neues Altersbild propagiert wird. Die Älteren auf dem Arbeitsmarkt werden künftig nicht mehr als ruhebedürftige Auslaufmodelle gelten können. Sie werden zu einer wichtigen Personalressource im Kampf gegen Fachkraftmangel. Dazu wird es nötig, das Erfahrungswissen der Älteren positiv zu werten und ihre Innovationskraft zu sehen. Diskontinuierlich Beschäftigte bringen – so eine Hauptthese dieses Bandes – besonders viele Erfahrungen und Potenziale mit, um in der flexiblen Arbeitswelt (länger) bestehen zu können. Sie können als ›Alterskraftunternehmer‹ ihre Erfahrungen und Kompetenzen managen. Die andere Seite dieser Medaille heißt aber, sie müssen als Alterskraftunternehmer häufig länger fit und aktiv dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, weil die Diskontinuität in einem am Normalarbeiter orientierten Alterssicherungssystem zu Einbußen im Alterseinkommen führen kann. Sie balancieren auf einem schmalen Grat zwischen erfolgreichem Alterskraftunternehmer und Prekarisierung im Alter. Das heißt, die Älteren nicht nur über Engagement zu beteiligen, sondern sie länger im Arbeitsleben zu halten – bei adäquater Bezahlung.

3. W ELCHE R ESSOURCEN SIND NÖTIG , UM IN DER FLE XIBLEN A RBEITSWELT BESTEHEN ZU KÖNNEN ? Eine zentrale Anforderung an die Subjekte in der fluiden Gesellschaft ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Diskontinuität und Unsicherheit aushalten zu können. Dies erfordert – so die zweite wichtige These in diesem Band – spezifische Ressourcen, die Selbstsorge und Selbstverantwortung ermöglichen und eine spezifische Kompetenz. Handlungsbefähigung wird als diese Metakompetenz für die neue Arbeitswelt und die entgrenzte Welt gesehen. Eine ausgeprägte Handlungsbefähigung ermöglicht auch ein erfolgreiches Älterwerden in (diskontinuierlicher) Beschäftigung, sie ermöglicht die gesammelten Erfahrungen, das Erfahrungswissen sichtbar und für andere fruchtbar zu machen. Lebenslanges Lernen – hier verstanden als lebenslange Identitätsarbeit und Sozialisation – gehört zum neuen Altersbild des Alterskraftunternehmers notwendig dazu und ermöglicht ein ›erfolgreiches‹ Altern. Aber das Individuum ist nicht alleine verantwortlich für das Aushalten der Zumutungen der Moderne durch Selbstoptimierung. Die Betriebe, die Arbeitbzw. Auftraggebenden müssen künftig noch stärker für ein gesundheitsförderliches Arbeitsklima sorgen und salutogene Arbeitsbedingungen gewährleisten. Dann kann Arbeit zu einer Stärkung der Handlungsbefähigung führen, kann die verlängerte Lebensarbeitszeit ein erfolgreiches Zukunftsmodell werden. Und: Die Gesellschaft wird sich mit den verjüngten Alten anders auseinandersetzen müssen, deren Innovationspotenziale nutzen, ohne die Jüngeren zu benachteiligen. Es geht nicht um ein gegeneinander, einen Krieg der Generationen, sondern um eine Generationenbalance.

Der Alterskraf tunternehmer

4. Z U DEN B EITR ÄGEN IN DIESEM B AND Die Beiträge in diesem Band sind eine Sammlung der Ergebnisse des Forschungsund Entwicklungsprojektes DEBBI (Diskontinuierliche Erwerbstätigkeit als betriebliche Innovationschance), das von 2011–2015 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Europäischen Sozialfonds gefördert wurde. Gesamtziel des Verbundprojektes war es, am Beispiel der IT-Branche und ihren speziellen, durch Diskontinuitäten geprägten Arbeits- und Innovationsbedingungen, die individuellen, betrieblichen und gesellschaftlichen Faktoren für Erfolg und Scheitern von innovativen Älteren zu untersuchen und auf der Basis der Ergebnisse neu zu gestalten. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse wurden unternehmerisch nutzbare Gestaltungsinstrumente entwickelt, die das Innovationspotenzial diskontinuierlich Beschäftigter analysieren und allgemein nutzbar machen. In einem ersten Teil geht es um die individuelle Verarbeitung von Älterwerden und Beschäftigung. Heiner Keupp setzt sich mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und deren Folgen für die Altersbilder auseinander und plädiert für eine Vorstellung des Älterwerdens, die sich nicht von heteronomen gesellschaftlichen Erwartungen steuern lässt, sondern von der Option ein Stück ›eigenes Leben‹ zu leben bestimmt ist. Um erfolgreiches Altern in der flexiblen Arbeitswelt und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen, biografischen Erfahrungen und psychosozialen Ressourcen geht es in dem Beitrag von Helga Dill und Florian Straus. Handlungsbefähigung erscheint dabei als Metakompetenz für die entfesselte Welt, die Innovation und Kreativität möglich macht. Kim Lauenroth und Silke Steinberg setzen sich mit den Potenzialen von Diskontinuität für Innovationsprozesse auseinander. Sie sehen Diskontinuität als Ressource für Innovationsprozesse im demografischen Wandel. Diskontinuität erscheint in dem Beitrag von Helga Dill als Kette von Übergängen. Die Frage, welche Rolle Sicherheit oder Unsicherheit für ein erfolgreiches Älterwerden in der flexiblem Arbeitswelt spielt, wird nachgegangen, indem sie der diskontinuierlichen Beschäftigung die sicher erscheinenden Beschäftigungsformen im öffentlichen Dienst gegenüberstellt. Kurt-Georg Ciesinger, Rüdiger Klatt und Romina Wendt fassen die Ergebnisse einer repräsentativen Beschäftigtenbefragung zusammen, in der es um die Einschätzung von Innovationspotenzialen im Generationenvergleich ging. Danach ver-

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fügt jede Altersgruppe über innovationsrelevante Eigenschaften, die vor allem in Form einer ausgewogenen Generationenbalance zum Tragen kommen. Diese ist auch ein wichtige Voraussetzung für die Befragten, um bis 67 oder länger erwerbstätig zu sein. In einem zweiten Teil geht es um den europäischen Vergleich. Ein Teilbereich von DEBBI war die Gegenüberstellung der demografischen Situation in Deutschland und in Frankreich und der (unterschiedliche) Umgang mit älteren Beschäftigten in den Unternehmen. Rüdiger Klatt und Silke Steinberg vergleichen die deutsche und die französische Entwicklung für Beschäftigte und Unternehmen und analysieren die jeweiligen ›Rezepte‹ für den demografischen Wandel. Philippe Castel, Marie Jégu und Marie-Françoise Lacassagne von der Universität Dijon beschäftigen sich aus einer sozialpsychologischen Perspektive mit der Thematik der Generationenbalance. Ausgehend von der Theorie der sozialen Identität betrachten sie die Stereotypisierung zwischen den Gruppen jüngerer und älterer Beschäftigter in Frankreich und entwickeln ein Trainingsprogramm zur Zusammenarbeit zwischen Alt und Jung. Der dritte Teil befasst sich mit Fragen der Kompetenzfeststellung und dem Entwicklungsteil von DEBBI. Kurt-Georg Ciesinger zeigt aus der Sicht der Personalverantwortlichen die Möglichkeiten auf, die verschiedenen im Lebenslauf erworbenen, divergenten Kompetenzen sichtbar zu machen. Angela Carell und Viktoria Glasmachers stellen den in DEBBI erarbeiteten ›Profiler‹ vor, ein Instrument für ein IT-gestütztes Kompetenzmanagement. Dabei wird deutlich, dass für ein erfolgreiches Kompetenzmanagement auch die Unternehmen ihre Personalstrategien veröffentlichen müssen. Zu guter Letzt bedanken wir uns bei Anne Spyrka und Bettina Busch herzlich für die kompetente Unterstützung bei der Arbeit an diesem Buch.

L ITER ATUR Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brussig, Martin (2011): Neueinstellungen im Alter: Tragen sie zu verlängerten Erwerbsbiografien bei? Altersübergangsreport 2011-03, www.wzb.eu/sites/de

Der Alterskraf tunternehmer

fault/files/publikationen/wzb_mitteilungen/gesamt_mitteilungen-145_0.pdf (2.10.2014). Bryant, Thomas (2011): Alterungsangst und Todesgefahr – der deutsche Demografie-Diskurs (1911–2011), in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 10-11, 2011), hrsgg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Bonn, 7. März 2011, S.  40–46, www.bpb.de/apuz/33451/alterungsangst-und-todesgefahr-der-deut sche-demografie-diskurs-1911-2011 (02.10.2014). BPtK (2013): BPtK-Studie zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit. Psychische Erkrankungen und gesundheitsbedingte Frühverrentung, www.bptk.de/up loads/media/20140128_BPtK-Studie_zur_Arbeits-und_Erwerbsunfaehigkeit_ 2013_ 1.pdf (02.10.2014). Denninger, Tina/van Dyk, Silke/Lessenich, Stephan/Richter, Anna (2014): Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld: transcript. Deutscher Bundestag (2002): Schlussbericht der Enquête-Kommission »Demographischer Wandel  – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik«, Drucksache 14/8800, v. 28.3.2002, Berlin, Bundesanzeiger, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/14/088/1408800. pdf (02.10.2014). Keupp, Heiner/Dill, Helga (Hg.) (2010): Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld: transcript. Stanjek, Paul (2012): Die Heterogenität des Alters. hg., von ZWAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand), Zentralstelle NRW, Dortmund. www.zwar.org/uploads/media/ Heterogenitaet_des_Alters.pdf (2.10.2014). Voß, Günther/Pongratz, Hans (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, S. 131–158.

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Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war! Heiner Keupp

Die aktuellen Diskurse zum ›grau‹ oder ›silbern‹ schwanken zwischen katastrophischen Prophetien und optimistischen Prognosen. Optimistisch klingen Überschriften wie »Die Zukunft ist silbern«  – so in der SZ vom 04./05.02.2006. »Attraktives Alter« heißt eine Serie, in der Seniorinnen und Senioren der Alterskohorte 50plus als besonders attraktive Kunden für alle möglichen Märkte entdeckt werden. Häufiger waren bislang allerdings solche Kommentare zu unserer alternden Gesellschaft, die vor allem ein demografisches Horrorszenario konstruieren, das dann mit düsteren Prognosen zu einem Generationenkrieg oder zu einem Zusammenbruch sozialstaatlicher System verkoppelt wird. Gegenwärtig jagen uns Thesen vom »Clash of Generations« oder vom »biologischen und sozialen Terror der Altersangst« (so im Klappentext von Frank Schirrmachers (2004) »Das Methusalem-Komplott«) Zukunftsängste ein. Da ist vom ›demografischen Salto‹ die Rede, der die klassische Bevölkerungspyramide von einer »zerzausten Wettertanne« zum »kopflastigen Pilz« hat werden lassen (Barz et al. 2003, S. 113). Diese Szenarien, deren demografische Basis gar nicht bestritten werden soll, verbreiten eher Panik und Hilflosigkeit, als dass sie auf zentrale gesellschaftliche Veränderungsprozesse und deren Konsequenzen für die Lebensführung und die Identitätsarbeit im Alter hinweisen und darauf vorbereiten. Allerdings hat sich seit einiger Zeit ein ganz neuer Diskurs entfaltet. Er sieht in der wachsenden Zahl von jungen Alten eine wichtige gesellschaftliche Ressource, die ermutigt werden soll, sich gesellschaftlich einzubringen, sich zu engagieren und das eigene Älterwerden in die eigenen Hände zu nehmen. Vor einem Jahrzehnt haben Unternehmen und auch die öffentliche Verwaltung große Anstrengungen unternommen, um ihre älter werdenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen möglichst schon Jahre vor dem Renteneintritt los zu werden. Vorruhestandsregelungen wurden propagiert und kamen gut an. IBM hat in den 80er und 90er Jahren einiges unternommen, um Betriebsangehörigen, die älter als 50 Jahre waren, den Weg in die Rente zu erleichtern und dazu durchaus interessante finanzielle Anreize geboten. 1982 sorgte der niederländische Elektronik-Konzern Philips für Furore, weil er seine 40jährigen Wissenschaftler in den

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Forschungslabors ablösen wollte. Diese älteren Menschen seien für die aktuellen technologischen Entwicklungen nicht fit genug. Personalchefs aus der IT-Branche verkündeten in dieser Zeit stolz, dass das Durchschnittsalter ihrer Mitarbeiter unter 40 Jahren läge. Der ökonomisch und demografisch informierte Zeitgeist hat sich aber längst gedreht und jetzt erfährt vor allem der älter werdende Arbeitnehmer eine neue Wertschätzung, es werden Kampagnen ersonnen, um diese neue Haltung gesellschaftlich durchzusetzen (Denninger et al. 2014). Aus der biografisch frühzeitigen Exklusion aus der Erwerbsbevölkerung wird eine Konstruktion des »Alterskraftunternehmers« (van Dyk/Lessenich 2009) und damit auch eine veränderte Sicht auf das Alter, das jetzt in den einschlägigen Diskursen kaum mehr mit Krankheit, nachlassenden körperlichen und psychischen Energien und Resignation verknüpft wird, sondern mit Aktivitäten, Produktivität und Engagement bis ins hohe Alter. Die Lehrbücher der Gerontologie müssen umgeschrieben werden und die Medien 1 liefern die Popularisierung dieses Paradigmenwechsels. Meine Ausgangsthese: Die jeweils vorherrschenden und identitätsrelevanten Vorstellungen vom Alter korrespondieren gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Imperativen. Das lässt sich auch von den wissenschaftlich generierten Alterskonzepten behaupten. So kann man in historischer Reihenfolge sowohl Disengagement-, Stigma-, Befreiungs- oder Aktivierungsvorkonzepte vom Alter einordnen. Es bleiben aber zwei Frage zu beantworten: Zum einen, wie überhaupt eine selbstbestimmte Altersidentität entstehen könnte, die nicht von heteronom vorgegebene Alterskonstruktionen bestimmt wird. Und zum anderen, wo bleibt die Reflexion zum Lebensende, das natürlicherweise und trotz Anti-Aging immer häufiger auch mit erheblichen Einschränkungen der körperlichen und psychischen Gesundheit verbunden ist? Zunächst will ich persönlich einsteigen und darüber einen Blick auf ein verändertes Alter ermöglichen. Älter werden ist in hohem Maße von unserer Kultur und Gesellschaft abhängig und gerade in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die gegenwärtig das Leben aller Menschen betreffen, wird auch das Thema Alter in zentraler Weise berührt. Danach gehe ich auf die Frage ein, welches Identitätsverständnis diesen veränderten Bedingungen gerecht werden kann und komme am Ende auf Fragen der Lebensgestaltung und Identitätsarbeit im Alter und den dazu erforderlichen Ressourcen zurück.

1 | So zum Beispiel DER SPIEGEL in seiner Ausgabe 21/2014 mit der Titelgeschichte »Ich bleib dann mal da!«.

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

1. Ä LTER WERDEN IN EINER G ESELLSCHAF T DES » DISEMBEDDING « Lebensstile und Identitäten verändern sich gegenwärtig in dramatischer Weise und die damit verbundenen Vorstellungen vom ›guten Leben‹. Und natürlich hat auch Auswirkungen auf das älter werden und auf die Lösungen, die wir für Lebensformen suchen (müssen), wenn wir unsere Vorstellungen vom guten Leben mit der Frage verbinden, wie wir auch im Alter gut leben wollen. Klar wird immer mehr, dass es dafür keine traditionellen lebensweltlichen Lösungen mehr gibt und auch die öffentlich angeboten Lösungen längst nicht mehr überzeugend sind. Die eigene Selbstsorge wird immer wichtiger und gerade in der Notwendigkeit solcher Überlegungen zeigt sich am deutlichsten, was gesellschaftlicher Wandel für unser Thema bedeutet. Ich möchte noch bei meinen eigenen Erfahrungen verweilen und ihnen die gerontologische beziehungsweise gerontopsychiatrische Geschichte meiner Familie rekonstruieren. Es ist eine Geschichte von Menschen, die die dramatische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts in Gestalt einschneidender Veränderungen in ihre Biografie erlebt haben, in erstaunlicher Weise damit fertig geworden sind und dann im hohen Alter von Problemen eingeholt wurden, die sie sich nie vorstellen konnten. Es geht um die beiden Generationen vor mir. Und es geht um Gründe, warum wir deren Vorstellungen über Altwerden und Wohnen im Alter nicht mehr als unser Modell ansehen können. Mein Großvater ist 88 Jahre alt geworden. Er ist im Kreis seiner Familie gestorben. Die letzten fünf Lebensjahre sind aus den geordneten Bahnen seines mehr als acht Jahrzehnte geformten Lebens ziemlich herausgefallen. Er fand sich oft im Zeitschema seines eigenen Lebens nicht mehr zurecht, sein Gedächtnis fiel immer mehr aus und in unserem oberfränkischen Dorf hat er sich bei seinen Spaziergängen oft verlaufen. Aber alle im Dorf kannten ihn und ich sehe ihn noch stolz auf dem Traktor eines Bauern sitzen, der ihn irgendwo aufgelesen hatte und ihn nach Hause brachte. Er konnte uns nicht verloren gehen. Er war in ein Netzwerk eingebunden, das seine altersbedingten Defizite wahrnahm und ihn dort unterstützte, wo er alleine nicht mehr zurechtkam. Im engeren Rahmen der Großfamilie war ein noch engeres Netz da, auf das sich Opa Tag und Nacht verlassen konnte. Vor allem war es meine Großmutter, die in loyalem traditionellem Frauenselbstverständnis feinnervig und aufopferungsvoll ihren Mann bis in seine Todesstunde begleitete. Sie selbst ist 90 geworden und war selbständig und geistig hellwach bis zu ihrem eigenen Tod im Beisein ihrer beiden Töchter. Sie starb im Haus meiner Eltern. Und meine Eltern? Nach etwa 30 Jahren Leben und Arbeiten in einem alten fränkischen Pfarrhaus haben sie sich entschlossen, ihre Wohn- und Lebensform möglichst auch über das 68. Lebensjahr meines Vaters hinaus zu verlängern. Sie bezogen wiederum ein leerstehendes altes fränkisches Pfarrhaus, mit mehreren Treppen und einer Anzahl von Zimmern, die vor allem ihren fünf Kindern und deren Familie jederzeit einen Besuch ermöglichte. Das ging etwa zehn Jahre ganz

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gut. Doch dann verlor meine Mutter zunehmend ihre Alltagskompetenz. Ihr Gedächtnis verließ sie immer häufiger. Mein Vater vollzog einen erstaunlichen Rollenwechsel. Er, der für mich immer der Inbegriff eines verwöhnten Paschas war und der dafür auch immer noch hervorragende ideologische Erklärungen mit der Natur der Frau und der Natur des Mannes hatte, stieg zunehmend in die Niederungen der alltäglichen Lebens- und Küchenführung herunter. Doch unsere Bedenken wuchsen. Meine Geschwister und ich fragten uns voller Sorge, wie lange das noch gut gehen kann. Wir lebten alle so, dass es unmöglich war, dass die Eltern bei einem von uns über längere Zeit und gar in einem pflegebedürftigen Zustand hätten leben können. Außerdem wollten sie es nicht, liebten ihre Freiheit und wollten von einem Altenheim überhaupt nichts hören. In unserer Generation und bei unserer Hilflosigkeit im Umgang mit dem Altwerden unserer Eltern, wird fast durchgängig sichtbar, wie radikal sich unsere Lebensformen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Wir sind fast alle auf öffentliche Hilfe angewiesen, in immer mehr Situationen. Seit ich mich selbst intensiver mit gerontopsychologischen Fragen beschäftige wird mir auch zunehmend deutlich, dass mein Großvater und auch meine Mutter als psychisch alterskrank zu bezeichnen wären. Das erschreckt mich und zeigt mir auf, dass in einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, auch alterspsychiatrische Störungen immer mehr zunehmen, ja in gewissem Umfang auch ›normal‹ werden. Die Menschen mit den psychischen Störungen sind zumindest im hohen Alter immer weniger ›die anderen‹, für die wir uns dann professionelle Lösungen ausdenken, das sind wir prospektiv auch selber. Und wir müssen uns einfach klarmachen, dass sie in unseren (post-)modernen Lebensformen nicht mehr so normalisiert und aufgefangen werden können, wie ich das am Beispiel meines Großvaters beschrieben habe. Nach einem schweren Herzanfall musste dann mein Vater für eine Woche in eine Klinik und jetzt war ganz klar, dass meine Mutter ihr Leben überhaupt nicht mehr allein würde managen können. Für die eine Woche konnte sie zu meiner Schwester, die Lehrerin war und gerade Pfingstferien hatte. Vater kam aus der Klinik heim und wenige Tage danach stürzte meine Mutter und brach sich den Oberschenkelhals. Die Folge waren vier Wochen Krankenhaus und die schwere Entscheidung meines Vaters, die eigene Selbständigkeit aufzugeben und ein Appartement in einem neugebauten Altenheim zu beziehen. Eigene Möbel, das geliebte Klavier und ein Teil der manisch zusammengetragenen Briefmarkensammlung zogen mit. Es war der Ort, an dem mein Großvater Direktor eines Diakonissenmutterhauses war, die Schwestern des Altenheims kamen alle von dort, die älteren unter ihnen sprachen noch voller Hochachtung von ihm. Insofern hatten es die Eltern vergleichsweise gut. Die jüngste Schwester meines Vaters, ebenfalls Diakonisse, kam fast jeden Tag einmal vorbei. Trotzdem habe ich vor allem bei meinen Vater Merkmale von Hospitalismus, von Altersdepression und von Demoralisierung beobachtet. Ihm fehlte seine Lebenssouveränität, seine langen Waldspaziergänge, sein Garten etc. Meine Mutter war total auf ihn an-

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gewiesen, die Demenz schritt rapide voran. Sie hatten einen liebevollen Umgang miteinander. Aber hatte mein Vater genügend Chancen, ein Stückchen eigenes Leben zu leben? Seine Briefmarken packte er nicht aus. »Lass mir noch Zeit«, war seine Antwort auf meine Fragen. Aber seine Zeit war abgelaufen. Er hinterließ eine Frau, die körperlich noch ganz gut beieinander war, aber immer wieder vergaß, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Aber ohne ihn konnte und wollte sie nicht mehr leben. Psychisch verabschiedete sie sich immer mehr vom Leben. Es war erneut ein Umzug erforderlich: Sie wurde auf die hervorragend geführte Pflegestation verlegt. Zweieinhalb Jahre überlebte sie meinen Vater. Nach einem Gehirnschlag verlor sie fast vollständig ihre Sprachfähigkeit, das letzte Jahr war sie absoluter Pflegefall und wir konnten nur noch darauf hoffen, dass wir bei unseren Besuchen die große Distanz, die zwischen ihr und der realen Welt entstanden war, durch vertraute Wortmelodien und den Körperkontakt überwinden konnten. Wenn man so will, repräsentieren meine Eltern ein Übergangsmodell. Die Vorstellung von ihrer letzten Lebensphase war noch von dem Modell geprägt, das sie meinen Großeltern ermöglicht haben, das aber für sie nicht mehr tragfähig war und sie hatten für sich kein Alternativmodell im Kopf oder gar Sorge dafür getragen, dass es dann für sie auch trägt. Der Übergang zur Reflexiven Moderne ist nicht vollzogen worden. Am ehesten noch zukunftsfähig war der unbändige Wunsch nach Autonomie, aber er war nicht verbunden mit einer Idee und vor allem einer Praxis der Selbstsorge. Ich denke das ist der zentrale Unterschied zu unserer und den nächsten Generationen. Anthony Giddens hat den Prozess der Modernisierung als einen des »disembedding« beschrieben, der uns aus Lebensmodellen ausquartiert, die für Generationen normalisiert waren. An die Stelle der traditionellen Konzepte treten aber nicht neue, die nach einem Prozess der Normalisierung und der sozialstaatlichen und wohnungspolitischen Absicherung wieder für einige Generationen tragfähige Modelle für die letzte Lebensphase garantieren. Es wird keine einfachen Antworten auf Fragen geben, wie ein bedürfnisgerechter Lebensstil aussehen kann, wenn der Begleitschutz der nicht mehr ortsansässigen nächsten Generationen fehlt und die psychischen und körperlichen Voraussetzungen für ein autonomes und souveränes gutes Leben nicht mehr gegeben sind. Die aktuell transportierten Altersbilder setzen weitgehend auf das ungebrochen aktive und engagierte Seniorensubjekt. Dieser durchaus hoffnungsvoll klingende Diskurs ist nicht nur Ideologie, sondern ist begründet in verbesserten Lebensbedingungen und längeren Phasen gesunden Älterwerdens der Menschen heute, wenn man es mit den Vorläufergenerationen vergleicht. Aber er ist zugleich auch ideologieverdächtig, wenn von »downaging« oder von einer »Juvenilitäts-Tendenz« die Rede ist, die heute das ganze Leben bestimmen würden (Horx 2011). Wo bleiben dann die Fragen nach Altersarmut, dem Fehlen eines familiären Unterstützungswerkes oder der Pflegebedürftigkeit. Wie alle gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die die spätmoderne Gesellschaft strukturell verändern

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und die vor allem durch Individualisierungsprozesse (Berger/Hitzler 2010) und einen Abbau traditioneller Ligaturen (Dahrendorf 1979) bestimmt sind, ist die ambivalente Qualität dieser Veränderungsdynamik in den Blick zu nehmen. Eine einseitig auf die positiven Effekte des verändernden Älterwerdens zielende Kampagne ist auf jeden Fall ideologieverdächtig.

2. Z UR GESELLSCHAF TLICHEN D EKONSTRUK TION KONTINUIERLICHER E NT WICKLUNGSMODELLE In einer traditional geordneten Welt, aber auch noch in der Ersten Moderne bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Lebensübergänge klar markiert, es gab normalbiografische Abläufe, die eine normative Erwartung von Übergängen erlaubte, man konnte sich auf sie einstellen und der sozialwissenschaftliche Fachjargon nennt das »antizipatorische Sozialisation«. Für bestimmte Übergänge im Sinne von Statuspassagen, zum Beispiel der Eintritt in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Schule, von Kindheit in das Jugendalter, zum Abschluss der Lehre oder den Start in die nachberufliche Phase etc. gab es organisierte Übergangsriten. In Vorstellungen von ›Normalbiografie‹ und ›Karriere‹ ließen sich die unterschiedlichen Lebensübergänge als ein kohärentes und vorhersehbares Muster begreifen. Die Klarheit und Berechenbarkeit dieser traditionell geregelten Biografieverläufe wurde auch durch die lange Zeit prägende psychologische Identitätstheorie von Erik Erikson (1964; 1966) unterstützt. Sein epigenetisches Schema hat dies auch in eingängiger Weise graphisch dargestellt (vgl. Abbildung 1). Was bis in die Endphase des 20. Jahrhunderts noch die prägende Gestalt für die biografische Identität war, hatte schon in der Frühphase der Moderne populäre Vorläufer, die normative Vorlagen für Lebensverläufe zumindest der bürgerlichen Schichten zu bieten hatten. Großer Beliebtheit erfreuten sich seit dem 17. Jahrhundert sog. ›Lebenstreppen‹, die anschaulich die einzelnen Lebensetappen darstellten und normierten. Es gab solche Lebenstreppen für Frauen, Männer oder Paare. Dabei wurde der menschliche Lebenslauf meist in zehn Stufen zu je zehn Jahren dargestellt. Der Höhepunkt des Lebens wurde auf die fünfte Dekade gesetzt, da man davon ausging, dass der Mensch in diesem Alter der Vollendung am nächsten komme. Diese Bilderbögen hingen in den Bürgerhäusern und vermittelten Menschen bildhaft das, was man als Normalbiografie bezeichnet, sie bildeten eine Normalformtypisierung, die Kindern, Frauen und Männern vermittelten, was die Ordnung der Dinge in ihrem Alltag und in ihren Biografien garantieren sollte.

VIII Reifes Erwachsenenalter

VII Erwachsenenalter

VI Frühes Erwachsenenalter

V Adoleszenz

IV Schulalter

III Spielalter

II Kleinkindalter

I Säuglingsalter

Zeitperspektive gg. Zeitdiffusion

Unvertrauten gg. Misstrauen

1

Selbstgewissheit gg. peinliche Identitätsbewusstheit

Autonomie gg. Scham und Zweifel

2

Experimentieren mit Rollen gg. negative Identitätswahl

Initiative gg. Schuldgefühl

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Identität gg. Identitätsdiffusion

Zutrauen zur eigenen Leistung gg. negative Identitätswahl Solidarität gg. Soziale Isolierung

Arbeitsidentifikation gg. Identitätssperre

SpielIdentifikation gg. (ödipale) PhantasieIdentitäten

Bipolarität gg. Autismus

Unipolarität gg. vorzeitige Selbstdifferenzierung

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Werksinn gg. Minderwertigkeitsgefühl

4

Abbildung 1: Das epigenetische Schema der Identitätsentwicklung nach Erikson

Intimität gg.Isolierung

Sexuelle Identität gg. bisexuelle Diffusion

6

Generativität gg. Selbstabsorption

Führungspolarisierung gg. Autoritätsdiffusion

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Integrität gg. Lebens-Ekel

Ideologische Polarisierung gg. Diffusion der Ideale

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VIII Reifes Erwachsenenalter

VII Erwachsenenalter

VI Frühes Erwachsenenalter

V Adoleszenz

IV Schulalter

III Spielalter

II Kleinkindalter

I Säuglingsalter

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

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Abbildung 2: Die Lebenstreppe des Menschen

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Lebenstreppe

Solche Ordnungsmuster sind auch heute noch in Restbeständen vorhanden, aber  – wie Richard Sennett (1998) aufgezeigt hat  – sie bilden keinen selbstverständlichen Rahmen mehr. Einerseits werden die Übergänge immer mehr zu riskanten Schwellen, an denen ein gnadenloser Selektionsdruck herrscht und andererseits wird aus der Karriere immer mehr eine Drift. Und Sennett erklärt uns nicht nur den Ursprung des Wortes Karriere, sondern auch den zentralen Grund für den Deutungsverlust dieser Metapher: »›Karriere‹ zum Beispiel bedeutete ursprünglich eine Straße für Kutschen, und als das Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible Kapitalismus hat die gerade Straße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in einen anderen. […] Mit dem Angriff auf starre Bürokratien und mit der Betonung des Risikos beansprucht der flexible Kapitalismus, den Menschen, die kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingehen, statt der geraden Linie einer Laufbahn im alten Sinne zu folgen, mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten.« (Ebd., S. 10f.)

Was hier für die Arbeitswelt angesprochen wird, gilt auch für unsere Vorstellungen vom Aufwachsen, dem Erwachsensein und dem Alter und den Vorstellungen einer geordneten Ablaufstruktur.

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

Unsere Vorstellungen von normalbiografischen Abläufen, die den Lebenslauf in einer erwartbare Abfolge von Phasen taktet und zugleich diesen Altersphasen normative Muster zuordnet, taugen für heutige Lebensabläufe immer weniger.

3. K ONJUNK TURZ YKLEN VON A LTERSKONSTRUK TIONEN In den letzten Jahrzehnten haben die Diskurse zum Alter einen mehrfachen Bedeutungswandel erfahren. Lange Zeit wurde Alter als Problem thematisiert. Mit dem Diskurs zum Ende der Arbeitsgesellschaft wurde Alter als Befreiung gefeiert und wurde dann abgelöst vom aktuellen Diskurs, in dem Alter als Ressource entdeckt wird. Und das waren die prominentesten Alterskonstruktionen, die mit dem Anspruch ihrer seriösen wissenschaftlicher Begründung die Diskurse auch im politischen Raum geprägt haben:

a. Alter als Disengagement Die Disengagementtheorie von Cumming und Henry (1961) geht von einem unvermeidlichen, durch biomedizinische Prozesse des Abbaus und Verfalls bedingten Rückzug älterer Menschen aus den Rollenfigurationen der Erwerbsphase aus. Damit schaffen sie für die Anwärter aus der nachfolgenden Generation freie Positionen. So entsteht eine gesellschaftliche Balance. Diese strukturfunktionalistisch inspirierte Theorie (Talcott Parsons schrieb das Vorwort) beschreibt diesen Rückzug als funktional für das Subjekt und die Gesellschaft.

b. Alter als Stigma Die Stigmatheorie des Alters (vgl. Hohmeier/Pohl 1978) untersucht stereotype Vorstellungen von alten Menschen, die Altenrolle und den Umgang von Institutionen mit alten Menschen. Im Stil einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung würden sich diesem Ansatz zufolge älter werdende Menschen an die gesellschaftlichen Zuschreibungen von Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit anpassen. Ein Fremdbild wird zum Selbstbild und zur Alterspraxis. Das Subjekt wird als hilfloses Opfer gesellschaftlicher Einstellungen und ihrer Transformation in institutionelle Praxen konstruiert. Diese Theorie überträgt den in Kriminologie und Devianzsoziologie prominenten Labeling-Approach (vgl. Keupp 1976) auf den gesellschaftlichen Umgang mit älter werdenden Menschen. Sie will nachweisen, dass vorherrschende Altersstereotype durch die Vollzugspraxis in Altenheimen bedient werden und durch sie verifiziert werden.

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c. Alter als Befreiung Mit dem Diskurs vom Ende der Arbeitsgesellschaft wurde Alter als Befreiung von den maschinenförmigen Zwängen der modernen Arbeitswelten gefeiert. Sie wurden in ihrer Entfremdungsqualität beschrieben, die man so schnell und so gründlich hinter sich lassen sollte, um die späten Freiheiten eines eigensinnigen und selbstbestimmten Lebens genießen zu können (vgl. Schachtner 1988).

d. Das aktivierte Alter Der demografische Wandel ist ein besonderer Motor, zukunftsfähige Altersbilder zu erzeugen und das Alter entwertende oder stigmatisierende Bedeutungsakzente möglichst zu entsorgen. Und so werden wir seit einiger Zeit von der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen Union und vom zuständigen Bundesministerium mit Bild- und Textmaterial versorgt, das dem Alter jeden Schrecken nehmen soll. In einem politisch und ökonomisch vorangetriebenen Aktivierungsregime wird mit dem Konstrukt der »jungen Alten« ein energetisch aufgeladenes Bild gesunder, gebildeter, innovativer handlungsfähiger und -bereiter Subjekte konstruiert, denen ein hoher Stellenwert bei der gesellschaftlichen Wertschöpfung zugeschrieben wird. Diese »produktivistische Mobilmachung« (van Dyk/Lessenich 2009) ist der Lösungsversuch für eine demografisch gewandelte Gesellschaft. In der attraktiven Sozialfigur der jungen Alten steckt die gerontologische Aneignung des unternehmerischen Selbst. Dieses fasziniert durch seinen Zuwachs an Selbstbestimmung, die aber nicht bedingungslos ist. Sie muss gesellschaftlich nützlich sein. Konstruiert wird der Alterskraftunternehmer.

4. A LTERN HEUTE : U NVERMEIDLICH AMBIVALENT Mit dieser letzten Entwicklung entsteht ein höchst ambivalentes Altersbild: Einerseits sehen wir die jungen Alten, die als Konsumenten, bürgerschaftlich Engagierte und als berufserfahrene Arbeitnehmer eine hohe Wertschätzung erfahren und andererseits die Menschen im vierten Lebensalter, die Gesundheits- und Pflegekosten in hohem Maße verursachen. Hier wird erneut Alter als Problem konstruiert. In der Reflexiven Moderne wird das Alter zu einem individuellen Projekt, das in eine politisch-gesellschaftliche Situation eingebettet ist, die zwar Optionsspielräume eröffnet, aber auch Grenzen setzt. Diese Grenzen sind weniger durch normierte Vorstellungen gezogen, was altersgemäß ist, sondern sie werden durch Ressourcen bestimmt, auf die eine Person zurückgreifen kann. Das zentrale gesundheitswissenschaftliche Konzept der »Selbstwirksamkeit« (Bandura 1997) erfüllt durchaus Erwartungen des Aktivierungsregimes geht aber

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

in ihnen nicht auf, sondern beinhaltet die Idee des Eigensinns, auch das Wissen um Widerstandsressourcen, die die Bedingung der Möglichkeit bilden, sich einer gesellschaftlichen Instrumentalisierung zu verweigern. Auch im Alter ist Identitätsarbeit vor allem Passungsarbeit und nicht Affirmation. Es gilt das »Innere des Alterns« (Kenyon et al. 1999, S. 54) zu respektieren. Die alternden Wutbürger, die ermüdeten Alten, die ein belastendes Arbeitsleben hinter sich haben und sich nicht mehr engagieren wollen oder die Alten, die sich ihre ganz eigenen späten Freiheiten nehmen, leben ihren Eigensinn. Das mag auch gesellschaftlichen Nutzen erzeugen, aber damit genügen sie nicht normativen Vorgaben.

5. U NABSCHLIESSBARE I DENTITÄTSARBEIT AUCH IM Ä LTERWERDEN a. Lebensformen und Identitäten im gesellschaftlichen Struktur wandel Identitätspolitik hat gegenwärtig eine rechtspopulistische Konjunktur. Die sogenannten Identitären kämpfen für eine unveräußerliche, authentische und reine ethnokulturelle Identität 2 , die gegen kosmopolitische Entwicklungen, Multikulturalität und Hybridisierung verteidigt werden müsse. Es soll so etwas wie eine »purifizierte Identität« (Sennett 1996) behauptet und erkämpft werden. In regressiver Absicht soll hier etwas aufgehalten werden, was die sozialwissenschaftliche Identitätsforschung seit Jahren untersucht hat. Sie hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen die gesellschaftlichen Lebensformen der Menschen heute prägen, welche Konsequenzen das für die Identitätsentwicklung hat und in unserem Zusammenhang interessiert, welche Auswirkungen sie auf das Älterwerden haben. Hier kann man wieder an den Gedanken vom »disembedding« anknüpfen. Dieser Prozess lässt sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben, der in der Konsequenz als ein tiefreichender Enttraditionalisierungsprozess verstanden werden kann. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität. Peter Berger (1994, S. 83) spricht von einem »explosiven Pluralismus«, ja von einem »Quantensprung«. Seine Konsequenzen benennt er so:

2 | Vgl. die Homepage der Identitären-Bewegung Deutschlands: http://identitaere-bewe gung.de/index.php?id=23 (Aufruf am 23.09.2014).

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Heiner Keupp »Die Moderne bedeutet für das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. […] Aufs Ganze gesehen gilt […], dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern dass es auswählen muss. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zurückgreifen, sondern muss sich nolens volens für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden. […] Sein Leben wird ebenso zu einem Projekt – genauer, zu einer Serie von Projekten – wie seine Weltanschauung und seine Identität.« (1994, S. 95)

An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns ein »fluide Gesellschaft« oder die »liquid modernity« (Bauman 2000) zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist. Abbildung 3: Grundzüge der spätmodernen Gesellschaft

Individualisierung

Pluralisierung

Dekonstruktion von Geschlechtsrollen

*UHQ]HQJHUDWHQLQ)OXVV.RQVWDQWHZHUGHQ]X9DULDEOHQ Wesentliche Grundmuster der FLUIDEN GESELLSCHAFT

• • • • •

Entgrenzung Entgrenzte Normalbiografien Wertepluralismus Grenzenloser Virtueller Raum Kultur/Natur: z.B. durch Gentechnik, Schönheitschirurgie ‚Echtes‘/‚Konstruiertes‘

• • • •

Fusion Arbeit – Freizeit (mobiles Büro) Hochkultur – Popularkultur (Reich-Ranicki bei Gottschalk) Crossover, Hybrid-Formate Medientechnologien konvergieren

Wertewandel

Disembedding • Globalisierung

• •

Digitalisierung

•

Durchlässigkeit Größere Unmittelbarkeit: Interaktivität, E-Commerce Fernwirkungen, Realtime Öffentlich/Privat (z.B. WebCams) Lebensphasen (‚Junge Alte‘)

Wechselnde Konfigurationen Flexible Arbeitsorganisation Patchwork-Familien, befristete Communities (z.B. Szenen) • Modulare Konzepte (z.B. Technik) • Sampling-Kultur (Musik, Mode) • •

Neue Meta-Herausforderung: Identitätsgrenzen

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values (überarbeitet)

Im globalisierten Kapitalismus vollziehen sich dramatische Veränderungen auf allen denkbaren Ebenen und in besonderem Maße auch in unseren Lebens- und Innenwelten. Anthony Giddens (2001), einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat folgende Diagnose gestellt:

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war! »Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben – Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegt überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. […] In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. […] Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen« (ebd., S. 69).

Globalisierung verändert also den Alltag der Menschen in nachhaltiger Form und damit auch ihre psychischen Befindlichkeiten (vgl. Hantel-Quitmann/Kastner 2004). Die Folgen von Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen lassen sich sehr gut an der Entwicklung privater Haushalte aufzeigen (näheres dazu bei Glatzer 2001). Es gibt eine stetige Verkleinerung der Haushalte und eine ungebremste Zunahme von Einpersonenhaushalten beobachten und damit haben wir einen wichtigen Grund für den ständig steigenden Wohnungsbedarf. Von 12 Millionen Haushalten um 1900 sind wir 100 Jahre später bei 31 Millionen Haushalten angelangt. Die Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße ist neben der Bevölkerungszunahme dafür vor allem verantwortlich, ein Prozess, der als Singularisierung der Lebensformen beschrieben werden kann. Um 1900 bestand ein Haushalt durchschnittlich aus 4,5 Personen, heute sind wir bei 2,2 Personen angelangt und die Fachleute halten diesen Trend für nicht gebremst. Vor allem die Anzahl der bewusst oder erzwungenermaßen allein lebenden Personen nimmt weiter zu. 38 Prozent aller Haushalte sind Einpersonenhaushalte. Die Pluralisierung der Haushalte hat zu einer Überwindung des »Ehezentrismus« und hin zu einem »Netz von Lebensformen« (Hefft 1997) geführt. In eine Minderheit ist längst die vierköpfige Familie geraten, es gibt die wachsende Anzahl von Stieffamilien oder Patchworkfamilien, in denen sich nach Trennung und Scheidung unvollständig gewordene Familienbruchstücke zu neuen Einheiten verbinden, Kinder über die Zeit gelegentlich mit zwei, drei Vätern und Müttern arrangieren müssen. Es gibt die Ehen auf Zeit und ohne Trauschein, die bewusst auf Kinder verzichten. Es gibt die bewusst alleinerziehenden Frauen und Männer und es gibt die Wohngemeinschaften in vielfältigsten Konstellationen. Das alles sind Varianten von Familie. Die Pluralisierungsprozesse ergeben schon deshalb ein noch komplexeres Bild, weil es im Lebenslauf eines Individuums immer häufiger zu einem Wechsel zwischen verschiedenen Haushalts- und Familienformen kommt. Auch in diesem Prozess ist die Fluidität der spätmodernen Gesellschaft begründet. Als ein weiteres Merkmal der fluiden Gesellschaft wird die zunehmende Mobilität benannt, die sich unter anderem in einem häufigeren Orts- und Wohnungswechsel ausdrückt, von dem natürlich vor allem die jüngeren Altersgruppen betroffen sind, die in ihrer Ausbildungs- und Berufseinstiegsphase immer häufiger im globalisierten Raum ihren Wohnort wechseln oder zwischen zwei Wohnungen pendeln. Aber auch die älter werdenden Menschen sind längst nicht

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so ortsstabil wie es der klassische Satz ausdrückt: »Einen alten Baum verpflanzt man nicht«. Nach einer Modellrechnung der Schader-Stiftung zieht mehr als die Hälfte (52,23 Prozent) der 55jährigen Menschen in Ein- oder Zweipersonen-Haushalten in Mietwohnungen bis zu zum Alter von 75 Jahren mindestens noch einmal um; bei Eigentümerhaushalten sind es immerhin auch etwa ein Viertel (23,48 Prozent), die noch mindestens einmal die Wohnung wechselt (Heinze et al. 1997, S. 17). Insgesamt geht die Schader-Stiftung von 65 Prozent mobilen Haushalten bei der Altersgruppe der 55 bis 75jährigen Mieterhaushalte aus. Die Folgen von Individualisierung, Pluralisierung und Mobilität gehören also zu den Normalerfahrungen in unserer Gesellschaft. Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die die objektiven Lebensformen von Menschen heute prägen. Doch wir müssen in der Analyse noch einen Schritt weitergehen, wenn wir begreifen wollen, auf welchem Lebensgefühl die unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben, Wohnen und Älterwerden aufruhen. Doch auch hier gibt es in der Werte-, Lebensstil- und Milieuforschung wichtige Hinweise.

b. Vorstellungen vom guten Leben im Wertewandel Die Vorstellungen vom guten Leben, also die zentralen normativen Bezugspunkte für die Lebensführung, haben sich in den letzten 50 Jahren grundlegend verändert. Es wird von einer kopernikanischen Wende grundlegender Werthaltungen gesprochen: »Dieser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekorsetts einer (von der Entwicklung längst ad akta gelegten) religiös gestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaft vollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind ›Tugenden‹ wie ›Gehorsam und Unterordnung‹, ›Bescheidenheit und Zurückhaltung‹, ›Einfühlung und Anpassung‹ und ›Fester Glauben an Gott‹.« (Gensicke 1994, S. 47)

Gerade Menschen, die heute im Seniorenalter sind, haben die Dynamik des Wertewandels erlebt und überwiegend mitvollzogen. In der unmittelbaren Nachkriegsperiode war die Orientierung an traditionellen Pflichtwerten noch sehr dominant und mit einer großen Selbstverständlichkeit sind Rangordnungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern akzeptiert worden. Auch die Ausrichtung an materiellen Werten hatte in der Wiederauf bauphase eine nachvollziehbare Relevanz. Das änderte sich in einem weltweit registrierten Wertewandel, der zu oberflächlich nur der Studentenbewegung zugeschrieben wird, der vor allem immaterielle und posttraditionale Selbstverwirklichungswerte ins Zentrum rückte (vgl. Inglehart 1995; 1997). Auch die Orientierung an utopischen Alternativen zur als entfremdet erlebten Gegenwartsgesellschaft war sehr ausgeprägt. Der Schritt ins neue Jahrtausend ließ utopische Alternativen hinter sich, war bestimmt von der Erfahrung ökonomischer Krisen und dem Bewusstsein, dass der einzelne für sich und seine Biografie die Regie zu übernehmen hätte. Diesen Wertewandel kann man in einem Dreischritt schematisieren (vgl. Barz et al. 2001):

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war!

Abbildung 4: Wertewandel nach dem 2. Weltkrieg Dreischritt im Wertewandel 60er

50er

70er

• • •

90er

•

Gebote und Verbote Rangordnungen und Herrschaftsbeziehungen Konventionen, Institutionen Pflichterfüllung und Anpassungsbereitschaft Tugendhaftigkeit und Verzicht

• • • • •

Maxime: 6HOEVW.RQWUROOH

2000er

Innen/Außen-Orientierung 1HXH9HUPLWWOXQJ]ZLVFKHQ6HOEVW XQG8PZHOW • Steigende Wertigkeit persönlicher Ressourcen • Neues Sozialbewusstsein • Projekte bürgerschaftlichen Engagements vermitteln zwischen Innen und Außen • Identitätsgrenzen im Verhältnis zur Gesellschaft selbst ziehen

Innenorientierung 'DV6HOEVWHPDQ]LSLHUWVLFK

Außenorientierung 'DV6HOEVWSDVVWVLFKDQ • •

80er

Erweiterung der Optionsspielräume Enttraditionalisierung und Individualisierung Emanzipation Autonomie Individualismus Genuss, Erlebnis, Wellness

Maxime: 6HOEVW9HUZLUNOLFKXQJ

Maxime: 6HOEVW0DQDJHPHQW

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values (überarbeitet)

Im Zuge dieses Wertewandels verändern sich die Vorstellungen von Familie, Geschlechterrollen oder Jugend und auch die Altersbilder und -normen sind davon betroffen: Abbildung 5: Folgen des Wertewandels für die Altersvorstellungen 50er

60er

70er

Innenorientierung 'DV6HOEVWHPDQ]LSLHUWVLFK Maxime: Selbst-Verwirklichung

Außenorientierung 'DV6HOEVWSDVVWVLFKDQ Maxime: Selbst-Kontrolle

Alter ist normiert • •

•

•

Alter ist eine klar normierte Phase der Normalbiografie Die Alten müssen die kriegsbedingten Verluste der Erwachsenengeneration kompensieren Die Alten repräsentieren die ‚alte Ordnung‘, an die man nach dem Faschismus anzuknüpfen versucht Familien sind für die letzte Lebensphase verantwortlich

80er

2000er

90er

Innen/Außen-Orientierung 1HXH9HUPLWWOXQJ]ZLVFKHQ 6HOEVWXQG8PZHOW Maxime: Selbst-Management

Alter als Projekt

Alter wird entthront • • • • • •

Auflösung der Normalbiografie Eskalierender Generationenkonflikt Die normierenden Botschaften der Alten werden radikal in Frage gestellt Emanzipation und Berufstätigkeit der Frauen mindern ihre Bereitschaft zur Pflege Zunehmender Kinderverzicht unterbricht die Generationenfolge Alter als Dienstleistungsprojekt

• • • • • • •

Verlängerte nachberufliche Phase Tendenz zum ‚Alterskraftunternehmer‘ Ansprüche auf Lebensgenuss Die Neuen Alten werden zu aktiven Gestaltern ihre Alters Vielfalt und Offenheit von Lebensformen im Alter Eher partnerschaftliches Generationenverhältnis Hochaltrigkeit als Problem

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Der beschriebene Wertewandel macht das Alter zu einem individuellen Projekt, das in eine politisch-gesellschaftliche Situation eingebettet ist, die zwar Optionsspielräume eröffnet, aber auch Grenzen setzt. Diese Grenzen sind weniger durch normierte Vorstellungen gezogen, was altersgemäß ist, sondern sie werden durch Ressourcen bestimmt, auf die eine Person zurückgreifen kann. Wenn man Alter unter Aspekten der alltäglichen Identitätsarbeit betrachtet, dann wird wichtig, dass Individuen für sich herausfinden müssen, was für sie authentisch und tragfähig ist. Bei dieser Passungsarbeit spielen die gesellschaftlichen Vorstellungen vom Älterwerden eine zentrale Rolle. Die Wertewelt ist jeweils auch ein zentraler Rahmen für meine Identitätskonstruktion: »Aufgrund meiner Identität weiß ich, worauf es mir mehr oder weniger ankommt, was mich tief greifend berührt und was eher nebensächlich ist.« (Taylor 2002, S. 271) Insofern kann es nicht überraschen, dass auch die Bezugspunkte für die Identitätsentwicklung vom Wertewandel zentral betroffen sind.

c. Identitätsarbeit heute Die Erste Moderne hat normalbiografische Grundrisse geliefert, die als Vorgaben für individuelle Identitätsentwürfe gedient haben. Innerhalb dieser Grundrisse bildete die berufliche Teilidentität eine zentrale Rolle, die für die Identitätsarbeit der Subjekte Ordnungsvorgaben schuf. Aber auch lebensaltersspezifische Rollen waren relativ klar definiert und im gesellschaftlichen Konsens abgesichert. In der Zweiten Moderne verlieren diese Ordnungsvorgaben an Verbindlichkeit und es stellt sich dann die Frage, wie Identitätskonstruktionen jetzt erfolgen. Wie fertigen die Subjekte ihre patchworkartigen Identitätsmuster? Wie entsteht der Entwurf für eine kreative Verknüpfung? Wie werden Alltagserfahrungen zu Identitätsfragmenten, die Subjekte in ihrem Identitätsmuster bewahren und sichtbar unterbringen wollen? Woher nehmen sie Nadel und Faden und wie haben sie das Geschick erworben, mit ihnen so umgehen zu können, dass sie ihre Gestaltungswünsche auch umsetzen können? Und schließlich: Woher kommen die Entwürfe für die jeweiligen Identitätsmuster? Gibt es gesellschaftlich vorgefertigte Schnittmuster, nach denen man sein eigenes Produkt fertigen kann? Gibt es Fertigpackungen mit allem erforderlichen Werkzeug und Material, das einem die Last der Selbstschöpfung ersparen kann? Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identitätsarbeit formulieren? Hier eine knappe Antwort: Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichen soziokulturellen Rahmen statt, der aber die individuelle Konstruktion dieser inneren Gestalt nie ganz abnehmen kann. Es gibt gesellschaftliche Phasen, in denen der individuellen Lebensführung die bis dato stabilen kulturellen Rahmungen

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abhandenkommen und sich keine neuen verlässlichen Bezugspunkte der individuellen Lebensbewältigung herausbilden. Gegenwärtig befinden wir uns in einer solchen Phase. Meine These bezieht sich genau darauf: Ein zentrales Kriterium für Lebensbewältigung bildet die Chance, für sich eine innere Lebenskohärenz zu schaffen. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum Selbsttätigwerden oder zur Selbsteinbettung. Diese Aufgabe begleitet den gesamten Lebenslauf eines Menschen und sie ist nie abgeschlossen. Das Gelingen dieser Identitätsarbeit bemisst sich für das Subjekt von Innen an dem Kriterium der Authentizität und von außen am Kriterium der Anerkennung. In unserem eigenen Modell (Keupp et al. 2013) lässt sich der innere Zusammenhang der genannten Prozesse darstellen. Die Erfahrungen, die Menschen in unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens mit sich selbst machen, ergeben nicht von sich aus ein konsistentes Muster, sondern bilden Teilselbste, die Subjekte als zu ihnen gehörig zusammenfügen. Auch wenn sie durchaus im Konflikt oder Widerspruch zueinander stehen können, müssen sie als eigenes Erfahrungsassemble angeeignet werden. Das ist der Sinn der Rede von den multiplen Identitäten, die nicht mit dem Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit verwechselt werden dürfen, das die Dissoziation von Teilidentitäten benennt, die nicht mehr gleichzeitig als Teileinheiten des eigenen Selbstbildes erlebt und akzeptiert werden können. Die Entstehung einer multiplen Persönlichkeit ist in aller Regel die Folge schwerer traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit, die unerträgliche Erinnerungsspuren hinterlassen haben, die nicht als eigenes Sozialisationserbe angeeignet werden kann. Die postmodernen Identitätserzählungen und ihre theoretischen Modellbildungen (zum Beispiel Gergen 1996) haben diese Identitätsvielfalt als Befreiung aus den Identitätszwängen der modernen Arbeitsgesellschaft positiv gewertet. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Selbsterfahrungen zu einem Gesamtbild der eigenen Selbstkonstruktion wurde eher als das Weiterwirken moderner Kohärenzzwänge kritisch kommentiert. Hier wurde unterstellt, dass die Frage nach der Kohärenz unweigerlich die in die Identitätstradition von Erikson führen würde, der mit der Betonung von Kontinuität und Einheitlichkeit zentrale Konstruktionsprinzipien der personalen Identität formuliert hatte, die auf dem Weg in spätmoderne gesellschaftliche Verhältnisse aber zunehmend in Frage gestellt wurden. Vor allem die gesundheitswissenschaftliche Kohärenzforschung hat aufzeigen können, dass die Herstellung von inneren Verknüpfungen der vielfältigen und durchaus nicht einheitlichen Selbsterfahrungen nicht Stabilitätserwartungen entsprechen muss. Es geht vielmehr darum, diesen Herstellungsprozess als immer wieder zu leistende Identitätsarbeit zu thematisieren. Bei dieser leisten unterschiedliche Teilidentitäten, die durch spezifische Rollenvorgaben (zum Beispiel Geschlecht oder Lebensalter) oder Lebensbereiche (wie Beruf, Konsum, Freizeit oder Politik) eine fokussierende Verknüpfung. Ei-

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nige dieser Teilidentitäten können eine personenspezifische Dominanz erlangen und ordnen Erfahrungen in ein Relevanzschema. So könnte die Arbeits- und Berufswelt zum Beispiel eine solche dominierende Lebenssphäre bilden, dass alle anderen möglichen Erfahrungswelten nachgeordnet sind. Aber auch zentrale Lebensepisoden können diese Dominanz erlangen. Sie werden dann zu biografischen Kernnarrationen, über die Menschen anderen aufzuzeigen versuchen, wer sie wirklich sind. Ebenso können Werte einen gewichtigen Teil in der Selbstkonstruktion einnehmen. Als zentrales Steuerungsprinzip ist aber vor allem das Identitätsgefühl zu nennen, das als Basis das Erlebnis von Authentizität (»das ist für mich so stimmig«) und Kohärenz (»die unterschiedlichen Erfahrungsbezüge gehören zu mir«) hat. Abbildung 6: Grundzüge der alltäglichen Identitätsarbeit

Biografische Kernnarration

Wertorientierungen

Metaidentität

Dominierende Teilidentitäten

Identitätsgefühl Authentizitäts- und Kohärenzgefühl

Handeln

Teilidentitäten z.B.

Geschlecht

Beruf/Arbeit

Unterhaltung/ Freizeit

Politik

(Lebens)Alter

Konsum Identitätsprojekte

Situative Selbstthematisierung

Quelle: Keupp et al. (2013), S. 218 (erweitert)

Identitätsarbeit lässt sich als Passung zwischen den eigenen individuellen Wünschen, Erwartungen und Fähigkeiten und der gesellschaftlichen Realität fassen, die für Subjekte normierte Anforderungsprofile favorisiert. Passung ist nicht Anpassung, also die Rücknahme von eigenen Ideen und Handlungen, wenn sie nicht den Konformitätserwartungen der sozialen Welt entsprechen. Aber sie setzt voraus, dass eine Realitätsprüfung erfolgt, was eigene Handlungspläne in dem jeweiligen sozialen Umfeld für Konsequenzen hätten. Wenn die eigenen

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Handlungspläne nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entsprechen, wird das unter Umständen Konflikte nach sich ziehen und es wird die Anerkennung für den eigenen Weg nur von einer Minderheit geben. Auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Szenen und Gruppen ist davon abhängig und damit letztlich auch die Basis für das Vertrauen in die für eine Person relevanten Alltagsabläufe. Der Passungsprozess, der immer wieder zu leisten ist, ist ein reflexiver Vorgang, der treffend als Balanceakt bezeichnet wurde (Krappmann 1969), der die Verknüpfung von innerer und äußerer Welt so zu arrangieren hat, dass Subjekte ihren Eigensinn nicht aufgeben, aber auch nicht in eine eigensinnige Isolation geraten. Abbildung 7: Identitätsarbeit als Passung von innerer und äußerer Welt

d. Ressourcen für eine gelingende Altersidentität Die bisherigen Überlegungen zum veränderten Alter kamen ja an den zentralen Punkt, dass gegenwärtig ein Diskurs vorherrschend ist, der dem Alter ein hohes Aktivitätspotenzial zuschreibt und zugleich eine Normierung vornimmt, was denn ein gelungenes sei. Dieses Aktivierungsschema und die entsprechende Mobilisierung von neuen Altersbildern besetzt innerhalb des Prozesses der Identitätsentwicklung vor allem die äußere Welt und unterstellt, dass das immer auch den Wünschen der Subjekte entspricht. Hier ist der Passungsprozess einseitig auf Anpassung gepolt, obwohl gleichzeitig die Entsprechung in der inneren Welt behauptet wird: Welcher ältere Mensch wollte denn nicht dieses aktive Subjekt sein? Es ist deshalb notwendig, Ressourcen zu benennen, die für eine selbstbestimmte Identitätsentwicklung im Alter unabdingbar sind. Besonders wichtige Ressourcen für gelingende Identitätsarbeit und Lebensbewältigung sollen abschließend dargestellt werden:

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• • • • • • •

Herstellung eines kohärenten Sinnzusammenhangs; Die Fähigkeit zum »boundary management«; Sie brauchen ›eingebettete Kulturen‹; Sie benötigen eine materielle Basissicherung; Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit; Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung; Sie brauchen zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen.

Lebenskohärenz In einer hochpluralisierten und fluiden Gesellschaft ist die Ressource ›Sinn‹ eine wichtige, aber auch prekäre Grundlage der Lebensführung. Sie kann nicht einfach aus dem traditionellen und jederzeit verfügbaren Reservoir allgemein geteilter Werte bezogen werden. Sie erfordert einen hohen Eigenanteil an Such-, Experimentier- und Veränderungsbereitschaft. Im Rahmen der salutogenetisch ausgerichteten Forschung hat sich das »Kohärenzgefühl« (sense of coherence) als ein erklärungsfähiges Konstrukt erwiesen (vgl. Antonovsky 1997). Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potenzial gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind symbolisches Kapital, also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky hat diesen Gedanken in das Zentrum seines salutogenetischen Modells gestellt. Es stellt die Ressourcen in den Mittelpunkt der Analyse, die ein Subjekt mobilisieren kann, um mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Alltagserfahrungen produktiv umgehen zu können und nicht krank zu werden (vgl. Antonovsky 1997). Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potenzial gegeben sind. Sie hängen von dem

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kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind symbolisches Kapital, also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in Bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen. Abbildung 8: Das Salutogenesekonzept von Aaron Antonovsky (1997)

Potentielle Stressoren (Risikofaktoren) im Allgemeine WiderstandsRessourcen: - Sozialkultureller und historischer Kontext

-

-

Im psychosozialen Bereich Im genetischen Bereich Im organischkonstitutiotionellen Bereich

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Art der Lebenserfahrungen



psychosozialen Bereich psychischen Bereich biochemischen Bereich

Kohärenzsinn als Gefühl des Vertrauens in die eigene Sinnstiftung

Spannungsmanag ement erfolg- nicht reich erfolgreich

Gesundheits-/Krankheits- Kontinuum

Antonovsky zeigt auf, dass alle mobilisierbaren Ressourcen in ihrer Wirksamkeit letztlich von einer zentralen subjektiven Kompetenz abhängt: Dem Gefühl von Kohärenz. Er definiert dieses Gefühl so: »Das Gefühl der Kohärenz, des inneren Zusammenhangs ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, inwieweit jemand ein sich auf alle Lebensbereiche erstreckendes, überdauerndes und doch dynamisches Vertrauen hat« (1997, S. 19), dass 1) die Anforderungen es wert sind, sich dafür anzustrengen und zu engagieren (Sinnebene); 2) die Ressourcen verfügbar sind, die man dazu braucht, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden (Bewältigungsebene), und 3) die Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehensebene). Das Kohärenzgefühl ist stark bestimmt von der Sinndimension, also von Identitätsprojekten, deren Bedeutung Menschen wichtig ist, für die sie sich mit allen

Stresszustand

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ihren Möglichkeiten engagieren wollen. Die Bedeutung des Kohärenzgefühls beziehungsweise die Schwierigkeit, dieses aufzubauen, zeigt sich auch, wenn wir wieder den Blick auf das Älterwerden beziehen. Da sehen wir große Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen von älter werdenden Menschen. 1997 wurde von der Schader-Stiftung (Heinze et al. 1997) eine interessante Studie in Auftrag gegeben, die vier sehr unterschiedliche Gruppen aus der Alterskohorte der 55–70Jährigen ermittelt hatte: Tabelle 1: Typen von Senioren Typus

Zentrale Merkmale

%

Gemeinschaftsorientierte

Positives Allgemeinbefinden; geringes Interesse an Wohnungs- und wohnumfeldbezogenen Aktivitäten; hohe kommunikative Aktivitäten mit Gleichgesinnten; mittlere materielle Ausstattung; 70 % wohnen zur Miete.

35,5 %

Familienorientierte

Allgemeinbefinden sehr gut; hohe Familien und PartnerInnenorientierung; durchschnittliche materielle Absicherung; 55 % sind Mieter.

31,2 %

Aktive Ältere

Erlebnisorintierte Freizeitorientierung; überdurchschnittlicher materielle Absicherung; starke PartnerInnen- und Familienorientierung; hohe Wertschätzung einer schönen Wohnung; 52 % sind Wohnungeigentümer.

20,8 %

Resignierte Ältere

Eher negatives Lebensgefühl und Allgemeinbefinden; passives Freizeitverhalten; im Vergleich zu den anderen Gruppen geringere Bildungsabschlüsse (93 % Volks-/ Hauptschulabschluss); geringer materieller Spielraum; kleine Wohnungen; 86 % wohnen zur Miete.

12,5 %

Quelle: Heinze et al. 1997

Die Forschung hat sich weiter entwickelt und die aktuelle sozialwissenschaftliche Milieuforschung zeigt auch bezogen auf die Gruppe der älter werdenden Menschen eine hohe Pluralität:

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Diese Sozialmilieus zeigen, wie unterschiedlich zentrale Wertvorstellungen bei Menschen ab dem 50. Lebensjahr in Deutschland vertreten sind. Zwar ist der Anteil der Menschen, der sich traditionsverwurzelt gibt, größer als bei jüngeren Generationen, aber es gibt auch ganz andere Wertekonstellationen, die für Veränderungen und deren aktive Gestaltung offen sind. Diese Typologien zeigen unterschiedliche Segmente der älter werdenden Bevölkerung, die sich vor allem in Bezug auf ihre Selbstdeutungen und ihr Zutrauen zu ihrer eigenen Selbstwirksamkeit unterscheiden. Vermutlich unterscheiden sie sich auch erheblich in ihrem Kohärenzgefühl, was noch in einem künftigen Forschungsprojekt zu untersuchen wäre. In Bezug auf einige der im Weiteren zu explizierenden Ressourcen dürften sich klare Unterschiede ergeben. Boundary management In einem soziokulturellem Raum der Überschreitung fast aller Grenzen wird es immer mehr zu einer individuellen oder lebensweltspezifischen Leistung, die für das eigene gute Leben notwendigen Grenzmarkierungen zu setzen. Als nicht mehr verlässlich erweisen sich die Grenzpfähle traditioneller Moralvorstellungen, der nationalen Souveränitäten, der Generationsunterschiede, der Markierungen zwischen Natur und Kultur oder zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit. Der Optionsüberschuss erschwert die Entscheidung für die richtige eigene Alternative. Souverän alt werden, heißt, seine eigenen Grenzen zu finden und zu ziehen, auf der Ebene der Identität, der Werte, der sozialen Beziehungen und der kollektiven Einbettung. Soziale Ressourcen Neben familiären Netzwerken sind berufliche, freizeitbezogene oder Freundschaftsnetzwerke eine wichtige Ressource. Im Rahmen der Belastungs-Bewältigungs-Forschung stellen soziale Netzwerke vor allem einen Ressourcenfundus dar. Es geht um die Frage, welche Mittel in bestimmten Belastungssituationen im Netzwerk verfügbar sind oder von den Subjekten aktiviert werden können, um diese zu bewältigen. Das Konzept der »einbettenden Kulturen« (Kegan 1986) zeigt die Bedeutung familiärer und außerfamiliärer Netzwerke für den Prozess einer gelingenden Identitätsarbeit. In solchen Netzwerken können Lebensalternativen angeregt und erprobt werden. In ihnen geht es um Ermutigung zu eigenwilligen Wegen, aber auch um Rückmeldung zu Plänen, Projekten, Entscheidungen, die nicht den eingefahrenen Normalitätsmodellen folgen. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Netzwerke bedürfen der aktiven Pflege und ein Bewusstsein dafür, dass sie nicht selbstverständlich auch vorhanden sind. Für sie muss etwas getan werden, sie bedürfen der aktiven Beziehungsarbeit und diese wiederum setzt soziale Kompetenzen voraus. Sind diese Kompetenzen im eigenen Sozialisationsmilieu nicht aktiv gefördert worden, dann werden die einbettenden Kulturen auch nur ungenügend jene unterstützende Qualität für eine souveräne Lebensgestaltung erzeugen können, die ihnen zukommen sollte.

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Materielle Ressourcen Auch wenn uns die Armutsforschung zeigt, dass vor allem Kinder und Jugendliche überproportional hoch von Armut betroffen sind und Familien mit Kindern nicht selten mit dem Armutsrisiko zu leben haben, gibt es nach wie vor auch verdeckte oder offene Altersarmut. Hier holt uns immer wieder die klassische soziale Frage ein. Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich. Die Folgen von Hartz IV können wir noch nicht exakt benennen, aber dieses sozialpolitische Modernisierungsprogramm wird neue Armutslage schaffen. Wenn wir von Henning Scherf, dem ehemaligen Oberbürgermeister Bremens, und seiner Ehefrau hören, was sie sich für ein tolles genossenschaftliches Wohnprojekt in der besten Bremer Innenstadtlage realisiert haben, dann wird sofort klar, dass hier neben einem wachen Kopf und Innovationsfreude auch die gegebene materielle Basis eine zentrale Voraussetzung war. Zugehörigkeitserfahrungen Die gesellschaftlichen »disembedding«-Erfahrungen gefährden die unbefragt selbstverständliche Zugehörigkeit von Menschen zu einer Gruppe oder einer Gemeinschaft. Die Wir-Schicht der Identität – wie sie Norbert Elias (1987) nennt-, also die kollektive Identität wird als bedroht wahrgenommen. Es wächst das Risiko, nicht zu dem gesellschaftlichen Kern, in dem sich dieses »Wir« konstituiert, zu gehören. Die Soziologie spricht von Inklusions- und Exklusionserfahrungen. Nicht zuletzt an der Zunahme der Migration wird der Konflikt um die symbolische Trennlinie von Zugehörigkeit und Ausschluss konflikthaft verhandelt. Rechtspopulistische Deutungen und rassistisch begründete Gewalt sind Teil dieses Zugehörigkeitskampfes. Aber auch älter werdende Menschen, vor allem solche, die materiell schlecht gestellt sind und solche, die zunehmend vereinsamen, weil sie in der nachberuflichen Phase auf keine tragfähigen Netze zurückgreifen können beziehungsweise auf bauen konnten. Anerkennungskulturen Eng verbunden mit der Zugehörigkeitsfrage ist auch die Anerkennungserfahrung. Ohne Kontexte der Anerkennung ist Lebenssouveränität nicht zu gewinnen. Auch hier erweisen sich die gesellschaftlichen Strukturveränderungen als zentrale Ursache dafür, dass ein Kampf um Anerkennung entbrannt ist. In traditionellen Lebensformen ergab sich durch die individuelle Passung in spezifische vorgegebene Rollenmuster und normalbiografische Schnittmuster ein selbstverständlicher Anerkennungskontext. Diese Selbstverständlichkeit ist im Zuge der Individualisierungsprozesse, durch die die Moderne die Lebenswelten der Menschen veränderte und teilweise auflöste, in Frage gestellt worden. Anerkennung muss – wie es Charles Taylor (1993, S. 27) herausarbeitet – auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene erworben werden und insofern ist sie prekär geworden:

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Taylors zentrale These ist gerade für die Entwertung von Lebens- und Berufserfahrung bedeutsam, die bis vor kurzem die häufige Erfahrung von älter werdenden Arbeitnehmern war: Taylor geht davon aus, »dass unsere Identität teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt [werde], so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen« (ebd., S. 13f.).

Die Realisierung von Ideen der Selbstsorge auch und gerade im Hinblick Zivilgesellschaftliche Kompetenzen auf das Alter erfordert zivilgesellschaftliche Kompetenzen. Zivilgesellschaft ist die Idee einer zukunftsfähigen demokratischen Alltagskultur, die von der identifizierten Beteiligung der Menschen an ihrem Gemeinwesen lebt und in der Subjekte durch ihr Engagement zugleich die notwendigen Bedingungen für gelingende Lebensbewältigung und Identitätsarbeit in einer offenen pluralistischen Gesellschaft schaffen und nutzen. Inzwischen liegen Daten aus drei Freiwilligensurveys (1999–2004–2009) vor, die eindrucksvoll zeigen, dass immer mehr älter werdende Menschen, die Bedeutsamkeit zivilgesellschaftlicher Ressourcen entdecken und sich beginnen, in die Gestaltung unserer Gesellschaft einzumischen. Die Altersgruppen 60plus zeigen erstaunliche Zuwachsraten in den unterschiedlichsten Bereichen des bürgerschaftlichen Engagements (vgl. Abbildung 9). Bürgerschaftliches Engagement wird aus dieser Quelle der vernünftigen Selbstsorge gespeist. Menschen suchen in diesem Engagement Lebenssinn, Lebensqualität und Lebensfreude und sie handeln aus einem Bewusstsein heraus, dass keine, aber auch wirklich keine externe Autorität das Recht für sich beanspruchen kann, die für das Subjekt stimmigen und befriedigenden Konzepte des richtigen und guten Lebens vorzugeben. Zugleich ist gelingende Selbstsorge von dem Bewusstsein durchdrungen, dass für die Schaffung autonomer Lebensprojekte soziale Anerkennung und Ermutigung gebraucht wird, sie steht also nicht im Widerspruch zu sozialer Empfindsamkeit, sondern sie setzen sich wechselseitig voraus. Und schließlich heißt eine Politik der Lebensführung auch: Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Vorstellungen vom guten Leben im Delegationsverfahren zu verwirklichen sind. Ich muss mich einmischen. Eine solche Perspektive der Selbstsorge ist deshalb mit keiner Version vormundschaft-

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Abbildung 9: Bürgerschaftliches Engagement in verschiedenen Altersgruppen

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Quelle: www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/3.Freiwilligen sur vey-Zusammenfassung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf

licher Politik und Verwaltung vereinbar. Ins Zentrum rückt mit Notwendigkeit die Idee der Zivilgesellschaft. Eine Zivilgesellschaft lebt von dem Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeiten, im wohlverstandenen Eigeninteresse gemeinsam mit anderen die Lebensbedingungen für alle zu verbessern. Zivilgesellschaftliche Kompetenz entsteht dadurch, »dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglichen« (Ottawa Charta 1986 in: Trojan/Stumm 1992). Die Zuwachsraten beim Freiwilligenengagement der älteren Generationen lassen sich einerseits darüber erklären, dass sich Personen nach ihrem Eintritt in die nachberufliche Phase an Projekten beteiligen wollen, die sie für sinnvoll halten und in denen sie die Chance haben, selbstbestimmt und in Gemeinschaft mit anderen handeln zu können. Für viele bieten die ›späten Freiheiten‹ aber auch die Möglichkeit, sich politisch und gesellschaftlich für oder auch gegen bestimmte Vorhaben zu engagieren, die sie ökologisch, kulturell oder ökonomisch für wichtig oder problematisch finden. Medial wird dann gerne von den Wutbürgern gesprochen (Schulak/ Taghizadegan 2011) und bebildert werden sie mit Seniorinnen und Senioren. Rekrutiert wird diese Protestgruppe in aller Regel von Personen, die seit ihrer Jugend- oder/ und Studienzeit politisch engagiert sind und von dem Bewusstsein bestimmt sind, dass man die gesellschaftliche Entwicklung nicht den politischen und wirtschaftlichen Eliten überlassen darf. Der renommierte kanadische Gerontologe Stephen Katz (2009b) sieht hier ein wichtiges Potenzial des Alters und der späten Freiheiten:

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war! »Möglicherweise ist zu erwarten, dass der stärkste Widerstand gegen die politischen und ökonomischen Kalküle, die die heutige ›Aktivgesellschaft‹ beherrschen, eher von älteren als von jüngeren Menschen ausgehen wird, denn sie sind es, die das professionelle, praktische und ethische System erfahren und kritisch reflektieren, das den gesellschaftlichen Erfolg heute an Aktivität knüpft.« (Katz 2009a, S. 181)

6. S ELBSTSORGE IM A LTER ALS G EMEINSCHAF TSAUFGABE An einem Thema, das durch den demografischen Wandel besonders relevant geworden ist, kann man die Entwicklungsrichtung, die durch Senioren und Seniorinnen bestimmt werden wird, besonders gut ablesen. Es spricht alles dafür, dass auch die älter werdenden Menschen der vor uns liegenden Zukunft ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung gerade im Zusammenhang mit den eigenen vier Wänden nicht aufgeben werden. Sie werden  – entsprechend ihren persönlicher, sozialen und materiellen Ressourcen – immer nach Wohnformen suchen werden, die ihren Vorstellungen vom guten Leben nahe kommen. Sie werden an der Gestaltung ihrer Wohnungen und ihres Wohnumfeldes mitwirken wollen. In kaum einem anderen Bereich wird so viel Eigenarbeit erbracht wie im eigenen Wohnungsrevier. Gerade dieser handlungswirksam werdende Eigensinnführt zu offenen Pluralität auch von Wohnformen im Alter, die vielleicht von uns Wissenschaftlern typologisiert werden kann, aber die nicht planerisch standardisiert werden sollte. •





In meiner Generation wurde viel mit gemeinschaftlichen Wohnformen experimentiert, aber gerade aus jahrelanger WG-Erfahrung kann der Wunsch nach mehr abgegrenzter Privatheit in Form des Alleinwohnens entstehen. Im Wissen darum, dass im höheren Alter dieses Alleinwohnen nicht mehr durch die Unterstützung aus dem eigenen Familiensystem gesichert werden kann, werden sich diese Personen mit der Idee des Service-Wohnens auseinandersetzen und sich solche Möglichkeiten suchen. Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens in deutlich abgegrenzten Familienhaushalten gelebt haben, entscheiden sich im Alter für eine Alten-WG, die ihnen ganz neue Erfahrungen einer Gemeinschaftlichkeit ermöglichen, ohne dass ihr Wunsch nach Privatheit missachtet wäre, ja die sogar in dieser Wohnform eine große Ermutigung zur Autonomie sehen. Für wieder andere ist das Prinzip der Seniorengenossenschaften besonders attraktiv und authentisch, weil es ihnen die Möglichkeit verschafft, einen berechenbaren Beitrag für ihre eigene Zukunft, in der sie vielleicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein könnten. Die eigene Vorleistung schafft die Bedingung dafür, dass ich nicht auf die karitative Bereitschaft meiner Umwelt angewiesen bin.

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Wie immer die konkrete Gestalt altersgerechter Wohnformen aussehen mag, eines zeichnet sich ab: Die Suche nach Alternativen zur klassischen Mehrgenerationenfamilie, in die auch die letzte Lebensphase eingebettet war, oder zu Heimunterbringungen, hat zu einer Reihe von Experimentierbaustellen geführt (Henckmann 1999). Dabei orientieren sich viele Projekte wie Wohngemeinschaften oder Genossenschaften an traditionellen Modellen wie nachbarschaftlichen Netzwerken oder Großfamilien. Allerdings nicht im Sinne romantischer Rückkehrsehnsüchten. Es sind eher »posttraditionale Ligaturen« (Keupp et al. 2001), denn sie sind eigeninitiiert, reflexiv in Bezug auf Regelungen für das Gemeinschaftsleben, die nicht von einer traditionellen Rollenverteilung bestimmt sind, sondern in denen die Arbeitsteilung, die individuellen Bedürfnisse und die Grenzen ausgehandelt werden. Hierbei sollten professionelle Hilfen angeboten werden, die sich aber im Wesentlichen um die Schaffung von Ermöglichungsbedingungen bemühen und nicht durch normative Vorgaben das klassische Modell ›fürsorglicher Belagerung‹ fortführen sollten. Dies kommt auch in der Programmatik eines Projektes der Europäischen Kommission zum Ausdruck, das 1993 gestartet wurde und den Titel »Empowerment älterer Menschen« trägt. Dort heißt es: »Empowerment impliziert Selbstbestimmung, die Fähigkeit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, eigene Vorstellungen zu formulieren, Entscheidungen zu initiieren und Politik auf allen Ebenen aktiv mitzugestalten. Empowerment betrifft somit die ganze menschliche Existenz: die physische, geistige, spirituelle, kulturelle, soziale, ökonomische wie die politische Dimension.« (Freie Altenarbeit Göttingen 1997, S. 9)

Empowerment meint eine professionelle Philosophie, die vor allem eine spezifische Grundhaltung für Professionelle fordert: »Empowerment ist eine Grundhaltung, die zugleich alte Menschen wie auch professionell Beschäftigte ermutigt, ihren Horizont zu erweitern und mehr als bislang von Pflegebeziehungen zu erwarten. Dass sich die ›Machtverhältnisse‹ dabei zugunsten der älteren Menschen verschieben, ist gleichzeitig notwendig und erwünscht: Wir sind davon überzeugt, dass beide Gruppen davon profitieren werden.« (Ebd.)

Und weiter heißt es in diesem Programm: »Empowerment kann ein entscheidender Impuls zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen sein – und zwar unabhängig vom Ausmaß der Beeinträchtigungen. Natürlich: alten Menschen ist, auf weitest mögliche Weise, die Chance der Regie über all die Entscheidungen zu erhalten bzw. zurückzugeben, die ihr tägliches Leben betreffen. Ebenso sind die Chancen alter Menschen zu vergrößern, die Gesellschaft mit ihren Fähigkeiten und Erfahrungen bereichern zu können. Dies alles aber bedingt, dass diejenigen, die professionell mit alten Menschen arbeiten, ihre eigenen Einstellungen, Haltungen und ihre Praxis sorgfältig reflektieren. Entscheidend ist, dass konkrete Verfahren gefunden werden, die

Alter ist auch nicht mehr das, was es einmal war! alte Menschen ermutigen und befähigen, an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein.« (Ebd., S. 4)

Hier wird der Gedanke ins Zentrum gerückt, Menschen zur Selbstsorge zu ermutigen und zu befähigen. Diese Vorstellung ist nicht identisch mit einem Aktivierungs- und Mobilisierungsregime, das Alter auf eine subtile Art normativ einfängt. Vor allem Michel Foucault hat eine Utopie formuliert, die den Einzelnen als Selbstsorgeakteur ins Zentrum rückt und trotzdem ist sie bei ihm kein Ausdruck eines späten Individualismus. Er macht sich Gedanken über ein Gemeinwesen, in dem sich Subjekte zur Schöpfung ihrer eigenen Lebensgeschichte ermutigt fühlen, zu »einer permanenten Kreation unserer selbst in unserer Autonomie« (Foucault 1990, S.  47) und sich nicht als Produkt oder Opfer der gesellschaftlichen Disziplinar- und Normalisierungsmächte erleben zu müssen. »Eine Polis, in der sich jeder auf die richtige Art um sich selbst kümmern würde, wäre eine Polis, die gut funktionierte; sie fände darin das ethische Prinzip ihrer Beständigkeit« (Foucault 1985, S.  15). Selbstsorge ist also letztlich ein Gedanke, der das Subjekt mit seiner »Aufgabe der Ausarbeitung seiner selbst« (Foucault 1990, S. 45) in einen engen Zusammenhang mit der politisch-sozialen Ordnung des Gemeinwesens bringt.

L ITER ATUR Antonovsky, Aaron (1987): Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well, San Francisco: Jossey-Bass (deutsch: Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvtVerlag). Bandura, Albert (1997): Self-efficacy in changing societies, Cambridge: Cambridge University Press. Barz, Heiner/Kampik, Wilhelm/Singer, Thomas/Teuber, Stephan (2001): Neue Werte, neue Wünsche. Future Values, Düsseldorf/Berlin: Metropolitan. Bauman, Zygmunt (2000): Liquid modernity, Cambridge: Polity Press. Berger, Peter/Hitzler, Ronald (2010): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«?, Berlin: VS. Berger, Peter (1994): Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a.M.: Campus. Cumming, Elaine/Henry, William (1961): Growing old. The process of disengagement, New York: Basic Books. Dahrendorf, Ralf (1979): Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Denninger, Tina/Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan/Richter, Anna (2014): Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld: transcript.

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Alte Hasen oder altes Eisen? Handlungsbefähigung als Metakompetenz für ein erfolgreiches Älterwerden in diskontinuierlicher Beschäftigung Helga Dill/Florian Straus

1. D ISKONTINUIERLICHE B ESCHÄF TIGUNG Die Rahmenbedingungen, unter denen heute Menschen in Deutschland einer Arbeit nachgehen, sind vielfältiger geworden. Zum einen ist immer noch das sogenannte Normalarbeitsverhältnis dominant, zum anderen sind diskontinuierliche Beschäftigungsformen auf dem Vormarsch. Unter einem Normalarbeitsverhältnis wird ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis verstanden, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet zudem direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat. Alles, was davon abweicht, gilt als eine atypische Beschäftigung. Das Statistische Bundesamt versteht darunter: • • • •

die Teilzeitbeschäftigung mit 20 und weniger Arbeitsstunden pro Woche, befristete Beschäftigung, geringfügige Beschäftigung und Zeitarbeit (vgl. Statistisches Bundesamt 2008).

Damit sind vor allem abhängige Beschäftigungsformen gemeint. Also Beschäftigungsformen, die zumindest zeitweise beziehungsweise in reduziertem Umfang, sozusagen automatisch, für eine soziale Absicherung sorgen, indem Beiträge an die Sozialversicherungssysteme automatisch abgeführt werden. Im Gegensatz zum Normalarbeitsverhältnis, das in der Regel darauf ausgerichtet ist, den eigenen Lebensunterhalt und eventuell den von Angehörigen voll zu finanzieren, können atypische Beschäftigungsformen diesen Anspruch häufig nur bedingt erfüllen. Sie sind jedoch nicht mit prekärer Beschäftigung gleichzusetzen. Prekäre Beschäftigung zeichnet sich durch ein erhöhtes Armutsrisiko des/der Beschäftigten aus, welches zusätzlich von der persönlichen Berufsbiografie und dem persönlichen Haushaltskontext abhängig ist. Die hier angespro-

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chenen Formen atypischer Beschäftigung können durchaus absichtlich gewählt sein, weil sich beispielsweise im konkreten Fall dadurch berufliche und andere persönliche Interessen besser kombinieren lassen. Parallel dazu existieren und existierten verschiedene Formen der Selbstständigkeit: Selbstständige mit Beschäftigten und Solo-Selbstständige. Noch sind Normalarbeitsverhältnisse die dominante Beschäftigungsform (2010 rund zwei Drittel aller Kernerwerbstätigen 1). Atypische Beschäftigungsformen sind aber auf dem Vormarsch. 2010 waren 7,84 Mio. Personen atypisch beschäftigt. Damit befand sich etwas mehr als jeder fünfte Kernerwerbstätige (22,4  %) in einem solchen Beschäftigungsverhältnis. In den zurückliegenden 15 Jahren ist die Zahl der atypisch Beschäftigten um 2,97 Mio. gestiegen. 1996 betrug ihre Zahl noch 4,86 Mio. Entsprechend hat sich ihr Anteil an den Kernerwerbstätigen deutlich erhöht, der 1996 noch 14,7 % entsprach (Wirtschaftsdienst 2012). »Flexible Beschäftigungsformen sind als Reaktion auf die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft, neue Technologien und den Strukturwandel unerlässlich«, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke zur regionalen Entwicklung atypischer Beschäftigung (Bundestagsdrucksache17/11968).

Diese Beschäftigungsformen dienten nicht nur den Interessen der Arbeitgeber, heißt es in der Vorlage, sondern auch denen der Arbeitnehmer, um unter anderem »Lebensplanung und Erwerbsarbeit besser miteinander zu vereinbaren«. Um alle Formen von Beschäftigung, die vom (lebenslangen) Normalarbeitsverhältnis abweichen einzuschließen, sprechen wir in unserem Arbeitszusammenhang von diskontinuierlicher Beschäftigung. Damit sind atypische Formen abhängiger Beschäftigung gemeint, aber auch verschiedene Formen der selbstständigen, »freien« Tätigkeit sowie Wechsel im Verlauf der Erwerbsbiografie. Diskontinuität umfasst: •

• •

einen Wechsel von verschiedenen Tätigkeiten und Berufen im Sinne von lebenslangem Lernen. Das umfasst auch Quereinsteiger, wie sie in den von uns untersuchten Branchen häufig vorkommen – jedenfalls in der Generation, die wir befragt haben. Wechsel der Arbeitgeber/Auftraggeber. Wechsel von verschiedenen Beschäftigungsformen und dem Umfang der jeweiligen Beschäftigung.

1 | Kernerwerbstätige sind Arbeitnehmer, die zwischen 15 und 64 Jahre alt sind, nicht in Bildung/Ausbildung/Wehr- oder Zivildienst und die einer regulären Beschäftigung von mindestens 10 Stunden nachgehen (Statistisches Bundesamt 2014). https://www.destatis. de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabel lenArbeitskraefteerhebung/AtypKernerwerbErwerbsformErwerbstaetigeZR.html.

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Und vor allem in den Branchen, die bei uns im Fokus stehen, der Wechsel von einem Projekt ins Nächste, von einem Arbeitsinhalt zu einem anderen.

Ein Interviewpartner drückt das folgendermaßen aus: »Du hast halt immer nur Projekte. Die laufen drei Monate, wenn’s gut läuft, sechs Monate, wenn’s länger läuft, ein Jahr. Im Moment hab’ ich ein Projekt, das könnte vielleicht bis 2016 laufen, mal kucken. Aber du kriegst ja immer nur eine Verlängerung auf drei oder sechs Monate maximal. – Was passiert danach? So. Jetzt bist du immer in einem Diskurs.« (Max P., 49 Jahre alt, freiberuflicher IT-ler)

Diskontinuität bedeutet aber auch unfreiwilliger Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit. Damit verbunden sind häufig Erfahrungen der Entwertung der Arbeitsleistung, der Entwertung der erlernten Qualifikationen und des erworbenen Erfahrungswissens. Diskontinuierliche Beschäftigung ist nicht automatisch gleichzusetzen mit prekärer Beschäftigung. Allerdings ist unser Sozialversicherungssystem nach wie vor am Normalarbeitsverhältnis orientiert. Diskontinuierliche Beschäftigung führt damit in der Regel zu geringeren Rentenanwartschaften – außer es gelingt, eine ausreichende private Zusatzversorgung zu organisieren und das nach Möglichkeit bereits in jüngeren Jahren. Die von uns untersuchten Branchen IT und Medien haben Tradition in diskontinuierlicher Beschäftigung. Freiberufliche Tätigkeiten sind im Mediensektor weit verbreitet. Hier kümmert sich sogar die Gewerkschaft um die Freien (zum Beispiel der Beratungsservice mediafon für freie Journalistinnen und Journalisten in der Gewerkschaft ver.di). In der IT-Branche sind die freien Projektarbeiter und -arbeiterinnen verbreitet. Ähnlich wie bei Künstlern gibt es Vermittlungsagenturen, sogenannte Bodyleaser, oder Internetportale, die Auftragsuchende und Auftraggebende zusammen bringen. Ein Beispiel dafür ist GULP, »Projektportal und Personalagentur für externe IT- und Engineering-Spezialisten« mit Hauptsitz in München. »Mehr als 3.000 Kunden, 80.000 eingetragene IT-Experten, davon 12.500 mit Schwerpunkt Engineering, und über 1.100.000 abgewickelte Projektanfragen: GULP2 ist die wichtigste Quelle für die Besetzung von IT-/ Engineering-Projekten mit externen Spezialisten im deutschsprachigen Raum«, heißt es auf der Website. Diskontinuierliche Beschäftigung hat in diesen Branchen langjährige Tradition – woran man sieht, dass auch der IT-Sektor langsam in die Jahre kommt. Die heute 45- bis 65-jährigen IT- und Medienarbeitenden sind also nicht selten schon seit 30 und mehr Jahren diskontinuierlich beschäftigt. Sie leben ein Erwerbsmodell, das erst in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewinnt. 2 | www.gulp.de/. GULP bietet neben der Vermittlung auch Informationen für Freiberufler und betreibt Interessenvertretung für die Freiberufler, etwa durch Analysen der Honorarsätze.

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2. D IE IT-B R ANCHE Die IT-Branche gilt per se als jung und innovativ. Das ist insofern kein Wunder, als die IT-Branche erst durch den Siegeszug von Email und Internet im Bewusstsein und in den Haushalten angekommen ist. Außerdem ist sie gekennzeichnet durch einen rasanten Wandel. Waren von 30 Jahren noch Großrechner Standard, fehlt heute das Smartphone in fast keiner Akten- oder Handtasche mehr. Von Jahr zu Jahr werden die Datenströme größer und schneller, die dafür notwendige Geräte aber kleiner und smarter. Unsere Interviewpartner haben diese Entwicklung miterlebt. Sie sind mitgewachsen: »Ja, was heut‹ im Deutschen Museum steht, hab’ ich noch bedient. Also ich hab’ nicht mehr richtig mitgekriegt die Lochkarten, nur noch am Rand. Aber sonst hab’ ich eigentlich alles mitgekriegt.« (Max P.)

Die Kehrseite ist, dass in dieser Branche das Wissen sehr schnell veraltet. »Wenn du jetzt die Technik siehst, die sich in einem Jahr verändert, und du kriegst davon nichts mehr mit, dann kannst du nach einem Jahr nach Hause gehen. Das ist das Schwierige bei Frauen, die im Technikbereich arbeiten und dann schwanger werden. Die dann zweieinhalb Jahre aus dem Beruf draußen sind, und die technische Entwicklung ist komplett, hat sich komplett geändert. Deswegen ist es auch so schwierig.« (Max P.)

Gleichzeitig sind aber auch in so einer schnell sich wandelnden Branche Routinen, Erfahrungen hilfreich und von Bedeutung. »Ja, also es wird ja immer detaillierter, also je fortgeschrittener dass eine Technik wird, desto detaillierter wird sie ja. […] Da gibt’s C++-Entwickler, dann gibt’s Netzwerk-Administrator, Windows-Administrator, Linux-Administrator, da gibt’s Datenbank-Administratoren, die den ganzen Tag nichts anderes machen als Datenbanken. Und ich komm‹ halt noch von der Schiene: Ich kann halt alles – noch! Also ich hab’, ich sag’ mal, von den Grundzügen eine relativ breite Ahnung. Ich kann’s natürlich nicht mehr im Detail, aber ich weiß noch, wie die Datenbank funktioniert […]. Oder wie die Hardware funktioniert oder wie der Rechner eigentlich rechnet, das wissen ja die Leute heute gar nicht mehr.« (Max P.)

Bei allem (möglichen) Jugendkult  – die IT-Branche bleibt vom demografischen Wandel nicht verschont. Die dort Arbeitenden werden älter. »Bemerkenswert entwickelte sich die Altersstruktur der Beschäftigten im Laufe der letzten fünf Jahre. Denn die Zahl der jungen Beschäftigten unter 35 nahm stark ab (-16,3 %). Alle älteren IT-Fachleute verbuchten dagegen starke Beschäftigungszuwächse. Diese fallen besonders bei den 45- bis 54-jährigen (+32,1 %) und den über 54-jährigen (+42,3 %) auf.

Alte Hasen oder altes Eisen? Auch hier zeigt sich für die Akademiker ein noch extremeres Bild. Die Verschiebung der Altersverteilung hin zu vergleichsweise älteren Beschäftigten hat im Wesentlichen zwei Gründe: zum einen das Älterwerden der Belegschaften und zum anderen die Tatsache, dass Unternehmen bei Neueinstellungen berufserfahrene Bewerber bevorzugen.« (Hohn 2007)

Und: der Fachkräftemangel in der Branche ist bereits deutlich zu spüren. Ende 2012 gab es in Deutschland laut Bitkom in der gesamten deutschen Wirtschaft 43.000 offene Stellen für IT-Expertinnen und –Experten, 18.000 davon im engeren ITK-Sektor. (Quelle: zdnet. 30. Oktober 2012) So gesehen kommt der Diskurs über das positive, aktive Altern für die ITBranche genau zum richtigen Zeitpunkt. Aber trotzdem gibt es arbeitslose IT-ler. Und nicht alle Älteren haben bei der Stellensuche eine Chance. Was entscheidet darüber, ob man zu den alten Hasen oder zum alten Eisen gehört?

3. D AS A LTERN »Also ich hab’ jetzt relativ das Glück, also ich wird’ heuer 55, aber ich fühl’ mich überhaupt nicht so. Also ich bin sportlich fitter, als ich mit zwanzig war, also da merk’ ich jetzt eigentlich gar nichts, also außer dass die Haar’ grau werden, so Sachen. Selbst Kreuzschmerzen hab’ ich schon mit 25 gehabt, also das ist was Wiederkehrendes. Natürlich ist es was Überraschendes, wenn man sich denkt, dass die Pensionierung näher ist als der 40. Geburtstag, aber da hoff’ ich drauf, dass die Hobbys einen einfach dann […] offen halten […]« (Gernot N., Journalist).

Die Volksweisheit ›man ist so alt, wie man sich fühlt‹, wird von der Altersforschung bestätigt. Allerdings gibt es unleugbare körperliche Veränderungen: • • • • • • • •

Ab 15 Jahren lässt die Elastizität der Augenlinse nach. Ab 25 Jahren werden Schleimhaut und Bindegewebe der Nase dünner. Ab 30 Jahren beginnt die Filterleistung der Niere nachzulassen. Ab Mitte 30 schrumpfen die Muskelzellen. Ab 30 Jahren werden die Arterienwände dicker, dafür wird die Haut dünner. Ab Mitte 30 sinkt das Lungenvolumen. Ab 60 Jahren degenerieren die Stimmlippen. Ab 65 Jahren schrumpft das Gehirn. (Quelle: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nummer 4/23. Januar 2013)

Dass so ein Abbau nicht automatisch für die geistigen Kräfte gilt, belegen nicht nur die vielen Künstlerinnen und Künstler, die lebenslange schöpferische Leistungen erbringen (Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Anna Seghers, um nur einige zu nennen), sondern auch diverse Studien und theoretische Überlegungen zur

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Kreativität im Alter. Danach verändert sich mit den biografischen Erfahrungen vor allem der Weg, kreative Lösungen zu entwickeln. Andreas Kruse argumentiert, Kreativität ginge zwar mitunter auf »eine Art Schock-Erlebnis zurück, das schlagartig und fundamental neue Einsichten eröffnet«, sei aber doch »eng verbunden mit einer überlegten und präzisen Problemanalyse, die die in einer Situation bestehenden Möglichkeiten in optimaler Weise ausschöpft und auf dieser Grundlage eine sorgfältige und detaillierte Planung zukünftiger Handlungen leistet.« (Kruse 2011, S. 22f.) Dies sind Faktoren, die ältere Menschen aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen eher mitbringen als Jüngere. Leopold Rosenmayr sieht zudem gerade im Arbeitsprozess Bedingungen, die die Kreativität Älterer begünstigen. Jüngere Menschen seien stärker dem Druck ausgesetzt, sich an berufliche Anforderungen anzupassen, sich am Mainstream zu orientieren, wollen sie weiterkommen. Ältere Menschen können sich eher auf das »Risiko einer Originalität« einlassen. Kreativität bedeutet für ihn Reduktion von Komplexität, Schöpfen aus elaboriertem Wissen, Urteilsvermögen  – alles Faktoren, die durch Lebenserfahrung begünstigt werden (Rosenmayr 2002). »Young creativity is spontaneous, intense and hot from the fire. Older creators sculpt their products with more intermediate processing« (Arieti 1976 zitiert nach Kruse 2011).

Eine solche altersspezifische Kreativität zeichnet sich durch vier Merkmale aus: • • • •

Ein hohes Maß an subjektiver Erfahrungen, eine geschlossene Gestalt im Sinne von Einheit und Harmonie, die Integration unterschiedlicher Ideen und Perspektiven und eine besondere Akzentsetzung auf Altersprozesse (vgl. Kruse 2011).

Kreativität und Innovationsfähigkeit sind somit nicht altersabhängig, sondern – wie auch in jungen Jahren – von einer Reihe von Faktoren abhängig, die sowohl genetisch als auch biografisch bedingt sind. Altern ist kein Prozess, der sich außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten vollzieht. Alle Ratschläge für ein gesundes und zufriedenes Altern, mit denen wir in den Medien und von der Ratgeberliteratur überhäuft werden, gehen zur Recht davon aus, dass Alternsprozesse gestaltet werden können. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Gestaltung des eigenen Lebens und der eigenen Entwicklung. Diese Entwicklungsaufgaben verändern sich je nach Lebensphase. So sieht Erikson die Entwicklungsaufgabe im höheren Alter in der Generativität, gekennzeichnet durch die Pole »schöpferische Tätigkeit« und »Stagnation«. Auch hier klingt das Kreativitätsthema wieder an (Erikson 1965/1966). Der Prozess des (erfolgreichen) Alterns vollzieht sich nicht unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Unsere Interviewpartner formulieren Voraussetzungen für Kreativität und zufriedenstellendes Arbeiten:

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• Eine Tätigkeit, die ausfüllt »Ich kann mir durchaus vorstellen, mit 70 noch zu arbeiten, wenn’s mir gut geht und wenn ich eine Tätigkeit hab’, die Spaß macht, die in irgendeiner Form eben meine Fähigkeiten glänzen lässt.« (Maria P, Geschäftsführerin eines IT-Kleinstunternehmens) • Angstfreies Arbeiten »Ich glaub‹, das Interesse am Neuen, verbunden mit der Nicht-Angst, was verkehrt zu machen. Ich glaub‹, Angst ist ein wichtiger Begriff.« (Gernot N., Journalist) • Offenheit, flache Hierarchien »Also mir ist das ganz wichtig, dass kein Misstrauen herrscht und dass eine offene Gesprächskultur dann da ist.« (Gernot N.) • Anerkennung und Wertschätzung »Respekt, Vertrauen, Offenheit, Transparenz, Wertschätzung, all solche Dinge.« (Jana E., Informatikerin, Trainerin) • Teamarbeit »Bei uns gibt es noch so diesen Spruch von wegen ›es gibt keine technischen Probleme‹, ja, also wenn es halt passt in einem Team und wenn das Team auch nur aus, was weiß ich, vielleicht vier Leuten besteht, wenn das passt, die werden immer eine Lösung finden, aber wenn sie halt nicht an einem Strang ziehen, dann werden sie nie eine finden, ja.« (Jana E.) • Selbst gewählte Diskontinuität als Erfahrungsschatz »Auch wenn man’s vielleicht leichter im Leben hat, aber manchmal glaub‹ ich, dass die Erfahrungen, die man sammeln kann, wenn man nicht den graden Weg, die grade Linie durchgeht, einfach besser ist. Das ist genauso, wenn du durch eine Stadt fährst: Du kannst immer den Hauptstraßen entlang fahren, du lernst aber keine Leute kennen. Sondern du musst einfach durch die Seitenstraßen durchgehen, weil da wohnen nämlich auch die Leute.« (Max P.) In diesen Kriterien, die die Interviewten nennen, klingen die Dimensionen des Kohärenzgefühls (Antonovsky 1998) an: Sinnhaftigkeit der Aufgaben, Bewältigbarkeit der Anforderungen, Verstehbarkeit der Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt. Die Interviewpartner gehen über diese drei Dimensionen des Kohärenzgefühls noch hinaus. Sie beziehen neben bestimmten Rahmenbedingungen des Arbeitens vor allem ihre jeweiligen Gegenüber mit ein. Die Bezogenheit auf die Anderen (das Team, die Vorgesetzten, die Kollegen), deren Feedback, erscheint als weitere wichtige Dimension für kreatives und innovatives Arbeiten. Anerkennung und Wertschätzung gehören ebenso dazu wie die gebündelten biografischen Erfahrungen, die Fähigkeit zur Integration unterschiedlicher Erfahrungen und Kompetenzen. Dies führt zu Überlegungen, die salutogenen Dimensionen zu ergänzen und zu erweitern.

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4. H ANDLUNGS - UND B E WÄLTIGUNGSFORSCHUNG Wir haben uns im IPP in einer Reihe von Forschungskontexten intensiv mit der Frage beschäftigt, was Menschen brauchen, die mit nicht gewollten Diskontinuitäten in ihrem Leben und vor allem in ihrem Berufsleben konfrontiert werden. Was brauchen sie an Rahmenbedingungen im Arbeitsmarkt, bei potentiellen Arbeitsgebern, in ihrem Netzwerk? Vor allem hat uns aber in den letzten Jahren die Frage interessiert: Was müssen die Personen selbst an personalen Kompetenzen mitbringen, um diese schwierige Situation für sich positiv, das heißt konstruktiv in der Arbeitssuche und -gestaltung zu bewältigen und auch Rückschläge in ihrem psychisches Wohlbefinden zu meistern (siehe dazu etwa Keupp/Dill 2010). Natürlich zeigt sich, dass es Faktoren der Benachteiligung gibt, die so viele strukturelle Merkmale haben, dass eine befriedigende subjektive Lösung nahezu unmöglich erscheint. Dies  – und das war ein interessantes und für die weitere Forschung ermutigendes Ergebnis – ist jedoch der seltenere Fall. Bei den meisten zeigen unsere und andere Diskontinuitätsstudien, dass Personen oft mit einer gleichen Ausstattung an äußeren Faktoren sehr unterschiedlich umgehen. Vereinfacht gesagt gelingt es den einen offensichtlich, ihre Ressourcen besser zu nutzen und dann in dieser schwierigen Lebenssituation doch noch das Maximale rauszuholen, andere bleiben unter ihren Möglichkeiten. Bei der Suche nach den Ursachen sind wir auf ganz unterschiedliche Forschungstraditionen gestoßen, die sich mit jeweils eigenen Konzepten mit dieser Thematik auseinandersetzen • • • •

die Belastungs-/Bewältigungsforschung, die Salutogenese in einer gesundheitssoziologischen Tradition, die Identitätsforschung, und eine sich mit Netzwerken und Fragen der soziale Integration beschäftigende gemeindepsychologische Tradition.

Diese Forschungstraditionen verfügen über eine interessante Schnittmenge. Allen ist gemeinsam, dass sie eine Widerstandskraft der Subjekte benennen, die die Bewältigung von Risiken und traumatischen Erfahrungen erleichtert (Straus 2011). Das Modell der Belastungs-/Bewältigungsforschung Die Frage, wie Menschen mit Stresssituationen und Belastungen umgehen, wie sie Stress bewältigen führte seit den 1950er Jahren zu der Entwicklung von Modellen, die Belastungssituationen und Bewältigungsstrategien (Copingstrategien) beschreiben (vgl. zum Beispiel Roskies/Lazarus 1980). Eine wichtige Frage in der wissenschaftlichen Diskussion dieser Belastungs-/Bewältigungsmodelle war die nach dem Einfluss sozialer Ressourcen, die den Subjekten zur Verfügung stehen

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beziehungsweise die sie aktivieren können. Diese spielen zweifellos eine wichtige Rolle für das Bewältigungshandeln. Die individuellen Ressourcen sind aber heute stärker in den Fokus gerückt, wenn es um die Frage geht, warum manche Menschen trotz vergleichbarer sozialer Ressourcenausstattung scheitern. Ein Ansatzpunkt dafür findet sich in der Salutogenese. Das Kohärenzgefühl als Widerstandsressource Den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1979) hat gerade diese Frage interessiert: Was erhält Menschen trotz hoher biografischer Belastungen und potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund und widerstandsfähig. Aus seiner salutogenetischen Perspektive erscheint Gesundheit nicht als stabiler Zustand, sondern als dynamischer Prozess. Gesundheit wird in der Auseinandersetzung mit den äußeren und inneren Einflüssen (Stressoren) immer wieder neu aufgebaut. Risiken sind in diesem Modell eine normale Begleiterscheinung des alltäglichen Lebens. Ob sie als negative, belastende Faktoren wahrgenommen werden, hängt von den Bewältigungsressourcen des Individuums und von seiner Risikowahrnehmung ab (vgl. Bonß 1995). Nach Antonovsky sind es vor allem die generalisierten Widerstandsressourcen, die dazu verhelfen, mit Belastungssituationen und Risiken produktiv umzugehen (vgl. Antonovsky 1988, 1998). Diese Widerstandsressourcen sind auf drei Ebenen angesiedelt. •

• •

Gesellschaftliche Ebene: Erleben von Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe und ein gewisses Maß an materieller Sicherheit (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung). Sozialer Nahraum: Gefühl von Zugehörigkeit und sozialer Verortung, Vertrauen und Anerkennung durch signifikante Andere, soziale Unterstützung. Individuelle Ebene: bestimmte Bewältigungsstrategien und -kompetenzen wie Selbstwirksamkeitserfahrungen, Ich-Stärke, Selbstvertrauen sowie organischkonstitutionelle Widerstandsressourcen wie Intelligenz und Bildung.

Für ein erfolgreiches Bewältigungshandeln ist nicht allein die Summe der Widerstandsressourcen ausschlaggebend, sondern vielmehr das Management dieser Ressourcen. Antonovsky spricht vom Kohärenzgefühl (sense of coherence). Das Kohärenzgefühl wird als Ergebnis eines individuellen Lern- und Entwicklungsprozesses bezogen auf das eigene Handeln beschrieben. Antonovsky hat drei Dimensionen herausgearbeitet (die empirisch mittlerweile vielfach bestätigt sind): • • •

Verstehbarkeit: Ereignisse, die im Leben passieren erscheinen strukturiert, vorhersehbar und erklärbar. Handhabbarkeit: man sieht sich in der Lage, gestellten Anforderungen gerecht zu werden und kann sie konstruktiv bewältigen. Sinnhaftigkeit: Die Anforderungen werden als Herausforderungen begriffen, für die es sich lohnt, sich zu engagieren. (Antonovsky 1998)

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Ein hohes Kohärenzgefühl ermöglicht den Individuen, Probleme als Herausforderung zu deuten, passende Bewältigungsstrategien auszuwählen und in Stresssituationen handlungsfähig zu bleiben. Allerdings bleibt die Frage offen, woraus sich das Kohärenzgefühl speist. Einige Studien belegen den Zusammenhang zwischen Kohärenzgefühl und der Fähigkeit, Ressourcen für sich nutzbar machen zu können. So zeigten Bude und Lantermann (2006), dass derjenige, der »trotz offenbarer Benachteiligung das Gefühl hat, sein Leben meistern zu können und einen Ort in der Welt zu haben, marginalisiert [ist], aber nicht exkludiert« (ebd. S. 234). Die Bedeutung des sense of coherence als intermediäre Variable im Zusammenhang zwischen dem Grad der Belastungen aus der Lebenswelt und den psychosomatischen Stressbeschwerden ist empirisch belegt (vgl. Dill/Höfer 1999, Bengel et.al 1998, Singer/Brähler 2007). Auch biografische Brüche, wie Arbeitslosigkeit und damit verbundene Entwertungserfahrungen können durch ein hohes Kohärenzgefühl eine Zeitlang abgefedert werden, dauert die Arbeitslosigkeit aber lange, geht das Kohärenzgefühl im Durchschnitt zurück (Kuhnert 1999 zitiert nach Deutschmann/Kuhnert 2005). Eine Untersuchung bei älteren Langzeitarbeitslosen, die in ein Förderprogramm der Initiative 50Plus durch die Arbeitsagentur aufgenommen waren zeigt, dass das Kohärenzgefühl nach einer gewissen Zeit wieder angestiegen ist (Dill 2009). Während Antonovsky noch davon ausgegangen ist, dass das Kohärenzgefühl im Kinder- und Jugendalter ausgebildet wird und dann stabil bleibt, zeigen diese neueren Studien, dass zwischen belastenden beziehungsweise Deprivationserfahrungen und Kohärenzgefühl eine Wechselwirkung besteht und dass es Hinweise darauf gibt, dass das Kohärenzgefühl mit zunehmendem Lebensalter steigt (Bengel et al. 1998). Identitätsentwicklung Identitätsentwicklung ist schon seit langem Gegenstand von Theoriebildung und empirischer Forschung. Galt lange Zeit die Prämisse, Identitätsbildung sei ein Entwicklungsprozess, der mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter abgeschlossen ist, wird Identitätsentwicklung heute verstanden als ständiges Ringen der Subjekte um Varianten ihrer Identität, die für die entsprechende Lebensphase sinnvoll erscheinen. Schon Erikson hat sein Stufenmodell der Identitätsentwicklung um die Erwachsenenaltersphasen ergänzt (frühes Erwachsenenalter, Erwachsenenalter und reifes Erwachsenenalter). Er ging aber weiterhin von einem Stufenmodell aus (Erikson 1995/1996). Die fluide, entgrenzte Gesellschaft, das Verschwimmen von Rollenbildern und die Individualisierungsprozesse führen dazu, dass Identität heute als diskontinuierlicher Prozess gesehen wird, als permanente Identitätsarbeit, die die Subjekte zu leisten haben. Verschiedene Lebensphasen und Lebensbereiche erfordern die Herausbildung von Teilidentitäten. Heiner Keupp hat hierfür den Begriff der »Patchworkidentität« geprägt (Keupp et al. 2006).

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Eine wesentliche Bedeutung für die alltägliche Identitätsarbeit kommt den Selbsterzählungen zu. Die zentralen Fragen ›Wer bin ich?‹, ›Wer war ich?‹ und ›Wer werde ich sein?‹ werden im Kontext verschiedener Lebensbereiche bearbeitet: Familie, Arbeit, Gesundheit sind Beispiele für diese Lebensbereiche. Die erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Erfahrungen bei der Bewältigung von Belastungen haben eine wichtige Funktion für die Identitätsbildung, denn diese Erfahrungen werden in der alltäglichen Identitätsarbeit verdichtet, interpretiert und bewertet (Keupp et al. 2006). Für diese Integrationsfähigkeit spielt wiederum das Kohärenzgefühl eine wichtige Rolle. Wie oben bereits angesprochen, erfüllt das Kohärenzgefühl ›Managementfunktionen‹ für das Selbst. Es ermöglicht, verschiedene biografische Erfahrungen als sinnhaft und ineinandergreifend zu sehen. Es ermöglicht somit auch, die verschiedenen Erfahrungsbereiche und Kompetenzen aus diskontinuierlicher Beschäftigung zu integrieren. Netzwerke, Vertrauen und soziale Verortung Der Prozess der Identitätsarbeit findet nicht isoliert in einer Person statt, sondern bezieht sich immer auch auf die Anderen. Soziale Netzwerke galten schon lange als ein wichtiger Faktor menschlicher Identitätsentwicklung. Während jedoch in früheren Konzepten (beispielsweise bei Goffmann, Erikson und Krappmann) zwischen verschiedenen Teilen der Identität (soziale und personale Identität) unterschieden wurde, gehen neuere Konzepte eher von einem integrierten Verständnis aus. Zudem wird Identitätsentwicklung weitaus dynamischer und veränderbarer und damit auch stärker durch sozialen Netzwerke beeinflussbar gesehen (vgl. Höfer/Straus 2007). So ist der Prozess der Identitätsentwicklung eingebettet in einen netzwerkbezogenen permanenten Austausch mit den Anderen. Hier wird die eigene Identität in Bezug gesetzt, die Reaktion der Anderen auf das eigene Handeln als eine Art Feedback erlebt. Die Frage ›Wer bin ich?‹ wird ergänzt um die Frage ›Wer bin ich in den Augen der anderen?‹. Handlungsbefähigung Denkt man diese Forschungstraditionen weiter, spricht vieles dafür, dass es so etwas wie eine Metakompetenz gibt. Wir nennen sie Handlungsbefähigung3, die einem Menschen hilft, in schwierigen Lebenssituationen seine Ressourcen besser nutzen zu können. In den Arbeiten des IPP werden die verschiedenen Stränge der theoretischen und empirischen Ausführungen zu diesen Widerstandsressourcen

3 | Der Begriff der Handlungsbefähigung knüpft an einen soziologischen Diskurs an, der seit den 1970er Jahren geführt wird (vgl. Grundmann et al. 2006). Gemeint ist ein Bündel von Persönlichkeitseigenschaften, das den Subjekten erlaubt, Handlungsoptionen situativ angemessen einzuschätzen. In der soziologischen Diskussion wird Handlungsbefähigung vor allem in handlungs- und sozialisationstheoretischer Perspektive behandelt.

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zu einer Metakompetenz, die es den Subjekten erlaubt, mit den Anforderungen des Lebens und des Alltags zu Recht zu kommen verknüpft. Diese Metafähigkeit hat, zum jetzigen Stand der Forschung, sechs Teilfähigkeiten. Bei diesen geht es jeweils »um ein dynamisches und zugleich doch andauerndes Gefühl« (Antonovsky) •

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der Sinnhaftigkeit, also um die Einschätzung, dass die Anforderungen, vor denen man gerade steht Herausforderungen sind, für die sich Anstrengung und Engagement lohnen; der Verstehbarkeit, das heißt, dass die Dinge, die einem zustoßen strukturiert, erklärbar und verstehbar sind; der Selbstwirksamkeit, das heißt, dass man sich in der Lage fühlt, diese Anforderungen aktiv zu beeinflussen, Probleme aus eigener Kraft zu meistern, eigene Absichten und Ziele zu verwirklichen; der Perspektivität, also die Fähigkeit, konkrete Situationen aus verschiedenen Perspektiven und mit Interesse und Neugier zu betrachten; des positiven Selbstwerts, also eine grundsätzliche Akzeptanz der eigenen Person4; des Vertrauens und der sozialen Integration, das heißt sich als Teil eines tragfähigen sozialen Netzwerks zu sehen, bei dem man sich aktiv Unterstützung holen kann und Menschen zu haben, die einen sicher nicht enttäuschen.

Wichtig in diesem Konstrukt der Handlungsbefähigung ist, dass hier nicht Faktoren beschrieben werden, die eine kurze Halbwertszeit haben beziehungsweise mit dem Alter zurückgehen, sondern möglicherweise gerade mit einer gewissen Erfahrung zunehmend mehr Handlungssicherheit verleihen. Was hat dies mit der Fragestellung von DEBBI zu tun, bei der es ja vor allem um diejenigen geht, die in selbstgewählten diskontinuierlichen Arbeitsverhältnissen arbeiten, also bewusst zwischen verschiedenen Arbeitsformen und damit Arbeits- beziehungsweise Auftraggebern wechseln. Uns ist bei unseren biografischen Analysen aufgefallen, dass es deutliche Parallelen gibt, zwischen dem, was diese Grundkomponenten der Handlungsbefähigung bewirken, und dem was ein Subjekt braucht, um flexibel und kreativ immer wieder mit neuen Arbeitssituationen und Herausforderungen umgehen zu können. Wir haben ja bereits eingangs darauf hingewiesen, dass für viele Beschäftigte der IT-Branche dieser permanente Wechsel von einem Projekt zum nächsten, und auch von einem Arbeitskontext zu einem neuen, zu den Grundkonstanten gehört. Das Konzept der Handlungsbefähigung – so zumindest der aktuelle Stand – ist für diese, von den meisten gewollte Diskontinuität gerade unter einer demografischen Perspektive interessant. Älterwerden in diskontinuierlicher Beschäftigung in der IT Branche wird anders aussehen als Arbeit im Alter bei einer 4 | Anders als ein naives »positiv thinking« oder Narzissmus.

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Zahnärztin oder einem Architekten. Während diese ihren Arbeitsalltag einfach zeitlich ausdehnen, aber weitgehend in den gleichen Routinen bleiben können, bleibt es in der IT Branche bei einem systemimmanenten Wechsel von Projekt, Auftraggebenden und Arbeitskollegen. Dies erfordert eine Fähigkeit, die einem hilft • • •

offen und selbstbewusst mit neuen Herausforderungen umgehen zu können, immer wieder neue, andersartige Verläufe als verstehbar und sinnhaft zu erleben, sich in immer wieder neue Arbeitskontexte sozial integrieren zu können, das heißt vor allem Vertrauen und Anerkennung aufzubauen.

Letzteres ist besonders wichtig, weil es zu den weitverbreiteten Irrtümern über die IT-Fachkräfte gehört, es handele sich bei ihnen um Nerds. Eine unserer Interviewpartnerinnen hat das als Marketingproblem der IT Branche etikettiert: »Das ist ein Riesenproblem, was wir haben […] wir schaffen es scheinbar in der Branche nicht, ein vernünftiges Marketing zu machen und klarzustellen: das, was wir brauchen, sind wirklich kreative Leute, die (auch) Teamplayer sind und mit diesem typischen Bild vom Nerd, da kann der eine oder andere drin überleben, aber eigentlich fängt man im (IT Bereich) nicht viel mit solchen Leuten an, also nicht mehr, ja, das ist schwierig und irgendwie gelingt es uns aber nicht, dieses Bild geradezurücken.« (Jana E., Informatikerin und Trainerin)

Um das Bild des Nerd ebenso wie die Vorstellung, ein IT-ler sei ab dem 50. Lebensjahr nicht mehr zu gebrauchen, Vergangenheit werden zu lassen, müsste es gelingen, die Seiten der Branche, die Teamwork, Projektroutinen, Übersicht, Fachwissen und kreative Prozesse aus Erfahrung und im sozialen Kontext heraus in den Vordergrund zu stellen. Mittlerweile können große Teile der sechs Faktoren der Handlungsbefähigung mit Indikatoren beschrieben und gemessen werden5 . Damit kann man sich gezielt mit der Frage beschäftigen, wie diese Metafähigkeit in Arbeitskontexten gefördert werden kann – und wie sie gezielt bei Älteren genutzt werden kann6.

5 | Für das Kohärenzgefühl liegen beispielsweise seit langem validierte Messinstrumente vor (vgl. Bengel et al. 1998, Höfer 2013). 6 | Das Projekt DEBBI entwickelt auf verschiedenen Ebenen Instrumente für die Sichtbarmachung von Kompetenzen im demografischen Wandel. Das Münchner Teilprojekt beschäftigt sich vor allem mit den älter werdenden diskontinuierlich Beschäftigten, um diese dabei zu unterstützen »demografiefest« zu werden. Dazu wurde ein Trainings- und Coachingkonzept entwickelt, das auf den sechs Dimensionen der Handlungsbefähigung beruht: Self-Care-Innovation (s. dazu Dill/Engel/Straus 2014).

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5. A LTE H ASEN – ALTES E ISEN Was hat die Handlungsbefähigung mit der Frage nach einem erfolgreichen Altern in diskontinuierlicher Beschäftigung zu tun? Wie wir gesehen haben, sind es vor allem salutogenetische Faktoren, die über Wohlbefinden und damit ein gelingendes Altern (und ein gelingendes Leben) entscheiden. Eine zentrale Stellung kommt unserer Einschätzung nach dabei den integrativen Fähigkeiten zu, also den Fähigkeiten, die es ermöglichen, verschiedene biografische Erfahrungen zu verbinden. Diejenigen Interviewpartner, die sich eher dem ›alten Eisen‹ zuordnen, berichten über • • • •

eine größere Zahl von Entwertungserfahrungen, Krankheit, physische und psychische Erschöpfung, ein eher negatives, defizitäres Altersbild, das ihnen entgegen gebracht wird, das sie sich aber auch selbst angeeignet haben und eher unverbundene Kompetenzen und Erfahrungen aus der Biografie.

Dem gegenüber berichten die ›alten Hasen‹ über • • • • • • • •

ein tragfähiges soziales Netzwerk, ›glückliche Fügungen‹, also Erfahrungen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, psychische und physische Gesundheit, Anerkennung, die Entwertungserfahrungen überwiegt, die Integration von Kompetenzen und Erfahrungen, ein positives Selbst- und ein positives Altersbild, Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Kohärenzgefühle, (wechselseitiges) Vertrauen und soziale Integration.

Der Alterskraftunternehmer, also ein Bild von einem aktiven, arbeitenden alten Menschen wird von Denninger et al. (2014) als neues Altersbild für die Ruheständler eingeführt. Aber der Ruhestand als Schlussphase einer Normalbiografie befindet sich in Auflösung. Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter wird aus verschiedenen Perspektiven und aus verschiedenen Gründen notwendig. Auf einer institutionelle Ebene machen die demografischen Veränderungen in der Gesellschaft ein Umdenken nötig: Fachkraft- und Nachwuchsmangel werden beispielsweise bei den Betrieben und Auftraggebenden dazu führen müssen, die Erfahrung und das Erfahrungswissen der Älteren länger und besser zu nutzen. So lange der Generationenvertrag in der Rentenversicherung gilt, braucht auch diese mehr Beitragszahler und spätere Leistungsempfänger. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wie sie der demografische Wandel verlangt, verlangt demnach nach einer offenen, salutogenen Arbeitskultur und Lebenswelt. Und sie verlangt ein verändertes Altersbild, eine Verschiebung des »Alters-Limes«.

Alte Hasen oder altes Eisen? »Wer unter 70 ist, sollte nicht beweisen müssen, dass er nicht alt ist. Er sollte auch nicht den Zwang spüren, seine Jugendlichkeit unter Beweis stellen zu müssen. Heute werden Menschen 70 ohne alt zu sein.« Otten (2009, S. 212)

L ITER ATUR Antonovsky, Aaron (1979): Health, stress and coping. New perspectives on mental and physical well-being, San Francisco: Jossey-Bass. Antonovsky, Aaron (1988): Unraveling the mystery of health, San Francisco: JosseyBass. Antonovsky, Aaron (1998): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: Dgvt-Verlag. Arieti, Silvano (1976): Creativity: The Magical Synthesis, New York: Basic Books. Bengel, Jürgen/Strittmater, Regine/Willman, Hildegard (1998): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert, Köln: BZGA. Bonß, Wolfgang (1998): Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition. Bude, Heinz/Lantermann, Ernst-Dieter (2006): Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 58, Heft 2, S. 233–252. Bundestagsdrucksache 17/11968: http://dip.bundestag.de/btd/17/119/1711968.pdf (30.09.2014). Dill, Helga/Engel, Anneliese/Straus, Florian (2014): Self-Care-Innovation. Ein Trainingskonzept zur Stärkung der Innovationskraft und der Prävention. In: Ciesinger, Kurt-Georg/Klatt, Rüdiger (Hg.): Innovation im demografischen Wandel, Instrumente für den betrieblichen Alltag, E-Book, in Vorbereitung. Dill, Helga (2009): »Wir sind ja nur arbeitslos, nicht gebrochen«. Kohärenzgefühl und Exklusionsempfinden bei älteren Langzeitarbeitslosen, in: Brauer, Kai/Korge, Gabriele (Hg.): Perspektive 50plus? Theorie und Evaluation der Arbeitsmarktintegration Älterer, Wiesbaden: VS Verlag. Dill, Helga/Höfer, Renate (1999): JugendGesundheit zwischen den Kulturen. Eine Befragung an Münchner Berufsschulen, Ergebnisbericht. München. www.ipp-muenchen.de Denninger, Tina/Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan/Richter, Anna (2014): Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld: transcript. Deutschmann, André/Kuhnert, Peter (2005): Kohärenzgefühl – Instrument für Risikogruppen in der Arbeitslosigkeit. Ergebnisse einer Vergleichsstudie, in: Kastner, Michael/Hagemann, Tim/Kliesch, Gesa (Hg.): Arbeitslosigkeit und Gesundheit – Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung, Berlin, Bremen, Miami, Riga, Rom, Viernheim, Zagreb, S. 149–168.

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Erikson, Erik (1995/1966): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Übersetzt von Käte Hügel. [Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Band 16] Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Höfer, Renate (2013): Jugend, Gesundheit und Identität. Studien zum Kohärenzgefühl, Leverkusen: Leske und Burdrich. Höfer, Renate/Straus, Florian (2010²): Identitätsentwicklung und soziale Netzwerke, in: Stegbauer, Christian (Hg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie: Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden: VS-Verlag. S. 201–213. Hohn, Bernhard (2007): Arbeitsmarkt Kompakt 2007 – IT-Fachleute. hg. von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit. Bonn. www.in.tum.de/fileadmin/user_upload/Oeffentlichkeitsarbeit/Broschueren/ Arbeitsmarkt/AM-Kompakt-IT-Fachleute.pdf (30.09.2014). Kastner, Michael/Hagemann, Tim/Kliesch, Gesa (Hg.) (2005): Arbeitslosigkeit und Gesundheit  – Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung, Berlin, Bremen, Miami, Riga, Rom, Viernheim, Zagreb. Keupp, Heiner/Dill, Helga (2010): Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld: transcript. Kruse, Andreas (Hg.) (2011): Kreativität im Alter, Heidelberg. Universitätsverlag Winter. Otten, Dieter (2008²): Die 50+ Studie: Wie die jungen Alten die Gesellschaft revolutionieren, Reinbek: Rowohlt. Rosenmayr, Leopold (2002): Productivity and creativity in later life, in: Pohlmann, Markus (Hg.): Facing an ageing world – recommendations and perspectives, Regensburg: Transfer Verlag, S. 119–126. Roskies, Ethel/Lazarus, Richard (1980): Coping theory and the teaching of coping skills, in: Davidson, Olof/Davidson, Sheela (Hg.): Behavioral medicine: Changing health life styles, New York: Brunner, S. 38–69. Statistisches Bundesamt (2008): Atypische Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonfe renzen/2008/Arbeitsmarkt/Pressebroschuere_Arbeitsmarkt.pdf?__blob=pub licationFile (29.8.2014). Straus, Florian (2011): Handlungsbefähigung als Konzept zur Stärkung junger Menschen, in: Sozialpädagogisches Institut des SOS Kinderdorf e.V. (Hg.): Fertig sein mit 18? Dokumentation zur Fachtagung »Jugendliche und junge Volljährige – eine Randgruppe in der Kinder- und Jugendhilfe?« 4. Bis 5. November in Berlin, München: Eigenverlag. Süddeutsche Zeitung Magazin (2013), Nummer 4/23, Januar 2013, München. Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 92. Jahrgang, Heft 3, März 2012. www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2012/3/2750/(29.09.2014). zdnet. 30. Oktober 2012.www.zdnet.de/88129394/bitkom-43-000-offene-stellenfur-it-experten-in-deutschland (25.09.2014).

»Creativity isn’t a talent, it’s a way of operating«1 Zur Bedeutung von Diskontinuität als Potenzial im demografischen Wandel Silke Steinberg/Kim Lauenroth

Gesellschaften sind einerseits Konstrukte im ständigen Wandel. Dies gilt umso mehr für die von Dirk Baecker (2011) als die »nächste Gesellschaft« bezeichnete Form aktueller Strukturen des menschlichen Zusammenlebens. »Die nächste Gesellschaft unterscheidet sich von der modernen Gesellschaft wie die Elektrizität von der Mechanik. Schaltkreise überlagern Hebelkräfte. Die Dynamik der Moderne, die nur noch als Geschichte, Fortschritt und Dekadenz lesbar war, löst sich in Turbulenzen auf, die nur noch Singularitäten kennen.« (Baecker 2011, S. 9)

Diese »nächste Gesellschaft« erleben wir als tiefgreifende Veränderung auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Realität. Zunehmende Komplexität und Globalisierung, eine Dynamisierung unseres Lebens, eine immer höhere Veränderungsgeschwindigkeit von Prozessen und eine immer stärkere Vernetzung ehemals getrennter und voneinander zu unterscheidender Strukturen haben die Anforderungen an Individuen und Organisationen, an Institutionen und Kategorien, mit denen Wirklichkeit wahrgenommen werden kann, grundlegend verändert. Andererseits soll ein gesellschaftlicher Bezugsrahmen die Möglichkeit bieten, Wahrnehmung und Interaktion der Individuen zu verankern. Dies scheint unter den beschriebenen Bedingungen nur durch eine konstruktivistische Perspektive möglich. Hier bestimmen sich Wahrnehmung und Beschaffenheit eines Objektbereichs wechselseitig, sodass nur über diesen, sich immer in Bewegung befindenden Zusammenhang Erkenntnis gewonnen werden kann. Der Physiker Heinz von Förster nennt diesen konstruktivistischen Vorgang in seiner Biografie poetisch einen »Tanz« mit der Welt (von Förster 2007). In dieser Perspektive kann

1 | Das Zitat bezieht sich auf einen Vortrag von John Cleese aus dem Jahr 1991 (Cleese 1991).

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die Ungleichzeitigkeit der sich konstituierenden Strukturen und der Diskurse über diese Strukturen aufgehoben werden. Das Projekt DEBBI ist als Forschungsprojekt angetreten, um folgende Zusammenhänge aufzudecken: •

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Wie können Potenziale aus diskontinuierlichen Biografien (eben solche mit reichlich Unstetigkeit) besonders älterer Beschäftigter (mit reichlich Erfahrung) den für die deutsche Wirtschaft befürchteten Innovationsverlust im demografischen Wandel aufhalten? Wodurch zeichnen sich spezifische Potenziale von Diskontinuität in der Erwerbsbiografie aus? Welche Aspekte eines modernen Innovationsparadigmas, wie es sich vor allem in der IT-Branche zeigt, bieten Anknüpfungspunkte für die durch Diskontinuität generierten Potenziale? Wie werden die Grundlagen des veränderten Innovationsdenkens im Handeln der Akteure und in den gesellschaftlichen Diskursen umgesetzt?

Um diesen Fragen vor dem Hintergrund der »nächsten Gesellschaft« und ihrer Wahrnehmung nachzugehen, folgt der Forschungsansatz dem »entgrenzten« Wissenschaftsbegriff der »systemisch orientierten Interventionsforschung« (Klatt et al. 2012). Demnach integrieren sich Wissenschaft und Praxis in einen dialogischen Prozess des gegenseitigen Lernens; die tradierte Arbeits- und Wissensteilung zwischen Forschung und Gegenstand wird zu Gunsten eines sich in der Interaktion neu konstituierenden Wissens aufgehoben. Durch diesen Ansatz wird es möglich, die betrachteten Phänomene in ihrer komplexen Struktur wahrzunehmen, die eben auch einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen ist. Die systemisch orientierte Interventionsforschung versucht auf diesem Weg, dem weiter oben erläuterten Abhängigkeitsverhältnis von Wahrnehmung und Wahrgenommenem gerecht zu werden. Nur ein solcher radikal konstruktivistischer Blick auf Realität vermag es, Wissensordnungen nicht als zeitlich aufeinanderfolgende, sich an Epochenschwellen ablösende Grundlagen des Denkens wahrzunehmen, sondern als parallel verlaufende, ineinander greifende und aus zeitlicher Logik gelöste Strukturen von Wirklichkeit. Die unterschiedlichen Perspektiven der drei Teilprojekte in DEBBI spiegeln im Projektkontext diese Komplexität. Die qualitativen Interviews im Teilprojekt DEBBI-INNO2 weisen das Denken der IT-Beschäftigten als einen Ort aus, an dem sich bereits eine Sensibilität für die Anforderungen der veränderten Innovationsprozesse ausgeprägt hat. Hier lassen sich Strukturen ablesen, die auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Innovationsprozesse bereits bestimmen, ohne in dieser Deutlichkeit 2 | Es wurden insgesamt 24 problemzentrierte Interviews in 8 Unternehmen der IT geführt und hermeneutisch und inhaltsanalytisch ausgewertet.

»Creativity isn’t a talent, it’s a way of operating«

wahrgenommen zu werden. Der nachfolgende Text setzt die Forschungsfragen des Projektes zueinander in Beziehung. Er hinterfragt das Innovationsdenken von IT-Beschäftigten und die Bedeutung, die Diskontinuität auf unterschiedlichen Ebenen in diesem Zusammenhang haben kann. (Die Zitate der Interviewpartner werden im Folgenden kursiv gedruckt.)

1. Z UM I NNOVATIONSDENKEN IN DER IT Die im Rahmen von DEBBI geführten Interviews mit Beschäftigten der IT-Branche bezeugen ein sehr differenziertes Innovationsverständnis der Befragten. Innovative Prozesse sind für sie kommunikative Prozesse, die ihnen als Treiber dienen, ein Leben lang kreativ zu bleiben. Innovationsfähigkeit und Alter werden in den Interviews bewusst entkoppelt, was neue Spielräume für den Zusammenhang von demografischer Situation und Innovationsfähigkeit der Branche bietet und wichtige Aspekte des gegenwärtigen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskurses über Innovation und Innovationsfähigkeit spiegelt. Die Branche löst sich aus ihrer zu eng gewordenen, alles bestimmenden Symbiose mit der Technik und kann auch über ihre exponierte Position in Bezug auf technische Innovationen hinaus als Vorreiter bei der Generierung von neuen Innovationsparadigmen gelten. Sie spiegelt auf besonders deutliche Weise die veränderten Voraussetzungen für innovative Prozesse auch in anderen Branchen moderner Gesellschaften, die neue Chancen für die Innovationsfähigkeit vor dem Hintergrund des demografischen Wandels bieten, und die im Zusammenhang mit nichtlinearen, diskontinuierlichen Erwerbsverläufen erworbene Potenziale in ein neues Licht setzen. Die Interviewauswertungen liefern wichtige Grundlagen für die Toolentwicklung im Praxisprojekt, die in einer elektronischen Veröffentlichung (E-Book) vorgestellt werden.3

1.1 Innovation zwischen Technik und Kommunikation Die enge Verknüpfung und ständige Auseinandersetzung der IT mit der Erzeugung von Innovationen wurde lange Zeit vor dem Hintergrund technischer Innovation gesehen. In den Interviews zeigt sich aber deutlich ein anderes Innovationsverständnis. Innovationsprozesse werden nicht ausschließlich über den technischen Bezug definiert, sondern auch mit der kommunikativen Auseinandersetzung zwischen IT und Usern sowie zwischen den einzelnen Aufgabenbereichen der IT im Herstellungsprozess der IT-Produkte in Zusammenhang gebracht. Aspekte wie der 3 | Hinweise zu dieser Veröffentlichung »Innovation im demografischen Wandel, Instrumente für den betrieblichen Alltag« (Ciesinger/Klatt 2014 im Erscheinen) finden sich auf der Webseite des Projektes DEBBI (http://projekt-debbi.de).

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Umgang mit Ungewissheit, Fehlertoleranz und situatives Handeln spielen für die Befragten dabei eine Schlüsselrolle. Viele IT-ler sind überzeugt, dass technische Innovation (beispielsweise das Internet, der Quantencomputer) in den letzten zehn Jahren nur sehr selten vorkam. Eine Interviewpartnerin spricht von »viel altem Wein in neuen Schläuchen«. Die Technik hat für viele Interviewpartner bereits ein derart hohes Niveau erreicht, dass Innovationen nicht mehr über sie ausgelöst werden (für viele ist deshalb auch ein großer Teil der Faszination an Technik verloren gegangen). Eine zu starke Konzentration auf Technik könne sogar innovationsfeindlich wirken: »Man muss wissen, was die Technik kann und was sie nicht kann. Technik ist Funktion, ein Gebrauchsgegenstand, um irgendwohin zu kommen. Technik um der Technik willen, das schließt Innovation aus, weil das, was die Technik bewirken soll, aus dem Blick gerät.«(Frau F. [59] Spezialistin für Anforderungsmanagement bei einem mittelständigem IT Dienstleister.)

Die Interviewpartnerin macht ihre Sicht auf die Funktion von Technik zusätzlich mit einer Anekdote aus der Apple-Historie deutlich. Bei der Suche nach einem Namen für die ersten entwickelten Computer war Steve Jobs Favorit zunächst »bicycle«, weil hier deutlich geworden wäre, dass es sich um einen Gebrauchsgegenstand handelt, ein Mittel, um von einem Ort an den anderen zu kommen, die Kraft zur Fortbewegung des Fahrers wird durch das Fahrrad potenziert, die Festlegung der Richtung obliegt allerdings weiterhin dem Fahrer. Das Fahrrad bezieht seine Wertigkeit über die Funktion, die es erfüllt (wobei es auf individueller Ebene natürlich mit anderen Funktionen, wie ästhetischem Wohlgefallen oder Prestige, in Verbindung gebracht werden kann). Die Technik ist dabei eine wichtige Voraussetzung und Bedingung für innovatives Handeln. Der Bezugsrahmen, in dem sie steht, setzt aber letztendlich erst den Innovationsprozess in Gang. Die Interviewpartner beschreiben übereinstimmend für sich und ihre Arbeit wichtige Innovationsprozesse in nicht technischen Bereichen, die sich auf ganz anderen Wegen vollziehen. Dabei scheint das Bewusstsein, dass Innovation »von außen kommt« und sich über den kommunikativen Austausch vor allem zwischen IT und User vollzieht, von großer Bedeutung zu sein (»[…] der Kunde kommt mit einem Impuls, einer Idee und wir springen an, überlegen, entwerfen und bereichern die Idee. Das ist für uns Innovation.«/»Innovation ist etwas, was für die Unternehmen von außen kommt. Man muss nur den Blick haben und zuhören«/»… es gibt Kunden, von denen kann man wirklich etwas lernen.«). (Herr D. [35] Mitarbeiter im Anforderungsmanagement in einem mittelständigen IT Unternehmen). Innovation ist nicht mehr eine nur aus der IT entspringende Leistung, sondern immer ein Gemeinschaftsprodukt, bei dem alle Beteiligten gleich wichtig sind und bei dem es auf das Zusammenspiel der Beteiligten ankommt, so der Tenor in den Interviews. Die von Andreas Boes (2008) beschriebene Wende in

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der IT und die darin zusammengefassten Aspekte des Wechsels von individueller Entwicklertätigkeit hin zu standardisierten Einheitslösungen (beispielsweise SAP), der Ersetzbarkeit von hochqualifizierten IT-Beschäftigten durch off-shoring, des Verlustes des privilegierten Status von IT Arbeit und der seit Jahren fortschreitenden Internationalisierung in diesem Bereich (Boes/Kämpf 2011, S. 66ff.) haben in ihrer kritischen Reflexion zu einer diskursiven Verschiebung innerhalb der Branche geführt, in der Technik umgewertet wird, um sich als Funktion und nicht als Motor in die Innovationsprozesse moderner, technikgesättigter Gesellschaften einzuordnen. Auch in wissenschaftlichen Diskursen ist seit langem von einem »Paradigmawechsel des Innovationssystems« (Bullinger 2006, S. 13) die Rede. Dieser Paradigmenwechsel ist zunächst auf den vollzogenen gesellschaftlichen Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft zurückzuführen (vgl. Howaldt 2008, S. 7). Das industriegesellschaftlich geprägte, technikorientierte Innovationsparadigma verliert in der Wissensgesellschaft seine Funktionsfähigkeit. Es wird deutlich, dass sich die Bedingungen, unter denen Innovation entsteht, verändern. So verlagern sich die Orte, an denen Innovationen entstehen, von »großen Unternehmen und staatlichen Forschungseinrichtungen« zu »flexiblen Innovationsnetzwerken«, in denen »die verteilten Kompetenzen unterschiedlicher Akteure« miteinander verknüpft werden und in denen auch der Nutzer einen wichtigen Teil des Innovationsgeschehens trägt (vgl. Bullinger 2006, S. 14). Innovationen werden in einem neuen, nachindustriegesellschaftlich geprägten Verständnis ganzheitlich »als Emergenzen des gesamten soziotechnischen Systems […], das sie erzeugt« (Jeschke 2011, S. 2) gesehen und beurteilt. Organisatorische und soziale Innovationen werden mit einbezogen und lösen ein technisch-produktorientiertes Verständnis von Innovation ab (vgl. Böhle 2011 S. 21). 4 In der Praxis gibt es viele Ansätze, die ein neues Innovationsverständnis belegen und die durch den Begriff »Open Innovation« beschrieben werden können. Gassmann und Enkel (2006) definieren dieses Konzept als Innovation im Verbund mit anderen Anbietern, Zulieferern und Kunden und unterscheiden drei Prozesse (Outside-in; Inside-out; Coupled), in denen Innovation generiert wird (vgl. Gassmann/Enkel 2006, S.  134ff.). Am Beispiel des IBM Industry Solution Lab demonstrieren sie Wege, durch die diese Innovationsprozesse realisiert werden können. Die durch Web 2.0-Anwendungen (und somit durch Technik) geschaffenen Möglichkeiten erweitern das Spektrum für Innovationsprozesse, in denen der Nutzer in den Produktionsprozess eines Produktes oder einer Dienstleistung mit einbezogen wird (vgl. Hanekop/Wittke 2008). Die Nutzerintegration wird als Innovationstreiber erkannt und genutzt.

4 | Einen Überblick über die durch diesen Innovationsbegriff geprägte Forschung bieten Howaldt (2008) und Jeschke (2011).

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Trotz dieser Tendenz zu einem neuen, den Anforderungen moderner Gesellschaften angepassten Innovationsverständnis gibt es viele »Ungereimtheiten und Ambivalenzen« (Howaldt 2008, S.  6), die dazu führen, dass Deutschland in seiner Innovationsgeschwindigkeit zurückfällt (vgl. Bullinger 2006, S.  13f.). Diese Befürchtung teilen auch viele der Interviewpartner, die vor allem beklagen, dass in den Innovationsprozessen ein Missverhältnis zwischen dem Denken über diese Prozesse und den Strukturen, in denen sich diese Prozesse vollziehen, herrscht. Es sind oft veraltete Strukturen, die auch dazu führen, dass innovationsförderliche Potenziale verschiedener Gruppen von Beschäftigten unentdeckt und somit ungenutzt bleiben. Hierzu zählen besonders die Potenziale älterer, diskontinuierlich Beschäftigter.

1.2 Bedingungen für Innovation in einem verändertem Bezugsrahmen Die Umdeutung von Innovation macht es nötig, die Fragen nach den Potenzialen und Kompetenzen, die zur Innovation befähigen und nach den Bedingungen, unter denen Innovation möglich wird, vollkommen neu zu stellen. Sie bringt auch einen grundlegenden Wandel der Berufskultur der IT mit sich. Ursula Kreft und Hans Uske (2010) zeigen in ihrem Aufsatz »Die Kultur der IT-Arbeit«, wie diese Kultur im Laufe ihrer noch sehr kurzen Entwicklung verschiedene Typen hervorbringt, darunter den Pionier, den Freak, den Hacker und den Künstler (vgl. Kreft/Uske 2010, S. 33–54). All diesen historischen Ausprägungen des IT-lers ist die starke Bindung des eigenen Selbstverständnisses an die Technik und die Faszination über die Technik zu eigen. Sie – und mit ihnen ein sich konstituierender Interdiskurs5 – definierten das ihrer Arbeit inhärente Innovationspotenzial über die technologischen Möglichkeiten, die sich in der IT bieten. Die revolutionäre Technologie, die in den frühen Siebzigern erst noch als Bedrohung empfunden wurde, galt mehr und mehr als Befreiungsinstrument. »Computing went from being dismissed as a tool of bureaucratic control to being embraced as a symbol of individual expression and liberation.«6 Dabei galt ihnen die IT als Fluchtpunkt, um jenseits traditioneller Erwerbsarbeit ein Lebensideal zu kultivieren, das sich als Gegenentwurf zum Rest der Gesellschaft verstand.7 5 | Kreft und Uske übernehmen die Definition des »Interdiskurses«, den Jürgen Link von »Spezialdiskursen« unterscheidet. Ein Interdiskurs setzt sich aus diskursiven (Mediendiskurse, Literatur, Populärreligion, Weltanschauung etc.) und »indiskursiven« Elementen (Mythen, exemplarische Figuren, kollektiv verankerte Sprachbilder etc.) zusammen und bietet dem Individuum die Möglichkeit, sich mit der Gesellschaft, in der es lebt, zu identifizieren (Kreft/Uske 2010, S. 35f.). 6 | Das Zitat stammt von John Markhoff in »What the Dormouse said« (2005), zitiert nach Isaacson 2011. 7 | Die Argumentationsweise der »digitalen Bohème« baut genau hierauf auf (vgl. Friebe/ Lobo 2007).

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Dieses Selbstverständnis der IT-Kultur als neue, sich auf den Grundlagen einer revolutionären Technik entwickelnden Leitkultur erfuhr in der Gleichsetzung des Computers mit bewusstseinsverändernden Drogen durch den amerikanischen Psychologen Timothy Leary und durch diesen bedingt in den kreativen Zirkeln um Steve Jobs und im frühen Sillicon Valley einen Höhepunkt (vgl. Isaacson 2006, S. 57ff.). Mit der Umdeutung des Innovationsbegriffes und der Lösung von dem Glauben an die Technik als alleinigen Treiber von Innovation verabschiedet sich ITArbeit auch von ihrer der Gesellschaft entgegengesetzten Position des revolutionären Innovators und verlagert die Innovationsprozesse in die Gesellschaft hinein (vgl. Howaldt 2008, S. 11). Das Gegenüber, die soziale Einbettung, der Kunde wird zur wichtigen Bedingung für Innovation, während er zuvor nur als Adressat galt, als ein zu unterstützendes, wenn nicht gar zu befreiendes Gegenüber, von dem man sich deutlich unterschied und das man in gewisser Weise an den von ihm unabhängigen revolutionären Errungenschaften mit teilhaben ließ. Dieser soziale Bezugsrahmen, in den der IT-ler seine Arbeit stellt, wird in den Interviews stark unterstrichen. Zunächst berichten alle Interviewpartner, dass ihre Arbeit immer in Hinblick auf den Nutzer geschieht. Egal, ob man ihm zu mehr Spaß durch das Programmieren von Spielen, zu effektiverer Arbeit und verbesserten Prozessen durch das Konzipieren spezieller Software oder zu vereinfachten Alltagsverrichtungen durch das Entwickeln von Applikationen verhilft, es geht immer darum, sein Leben durch auf ihn zugeschnittene Lösungen zu bereichern. Diese Kundenbezogenheit ist für die Befragten ein wichtiger Antrieb; nur dadurch können sie sich im Verhältnis zu ihrer Arbeit sehen und das, was sie tun, selbst wertschätzen: »Wenn ich der letzte Mensch wäre, würde ich es bestimmt nicht mehr machen, dann wäre der Trieb sozusagen weg, weil es immer einen Betrachter braucht.« (Herr F. [38], Entwickler) Dabei wird noch einmal hervorgehoben, dass dieser Bezug wichtiger ist, als die Motivation über die Technik: »Das, was ich tun will für andere, der Zweck, das kommt vor der Technik, das treibt mich an.« In diesem Zusammenhang sehen die Befragten den Nutzen ihrer Arbeit auch in einem größeren, gesellschaftlichen Bezugsrahmen. Das »Gefühl für die Gesellschaft aktiv zu sein« ist für alle zentral und darf nicht aufhören, da sonst die Arbeit ihren Sinn verliert. Eine Interviewpartnerin postuliert ausdrücklich eine gesellschaftlich verantwortliche IT-Arbeit, die nur durch diesen Aspekt zu wirklich verantwortlicher Arbeit wird: »[…] die Frage ist natürlich, […] ob die Innovationen, die ja kommen, ob man das aus einem Selbstzweck heraus macht, oder ob diese Innovationen einen Nutzen bringen und ob sie in einem größeren Maßstab auch gesellschaftlich, ökologisch oder so einen Nutzen bringen.« (Herr G. freiberuflicher IT Dienstleister) Diese Einbettung der IT-Arbeit in einen sozialen Kontext hat durchaus seine Wurzeln in der Blütezeit der IT. Der Jobs Biograf Walter Isaacson macht an vielen Stellen deutlich, wie es Jobs gelungen ist, seine Mitarbeiter besonders in der frühen Apple Zeit durch die Vorstellung zu motivieren, dass sie mit der Entwicklung der Computertechnologie zur Befreiung und zur Un-

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abhängigkeit der Gesellschaft beitragen. Im Gegensatz zu diesem Diskurs steht die Vorstellung der heutigen IT-Beschäftigten, dass es nicht die Technologie ist, die den Nutzen, die Innovation hervorbringt, sondern vielmehr das Zusammenspiel zwischen IT-Beschäftigten, Nutzern und Gesellschaft, die Entfaltung eines kreativen »Innovationsnetzwerkes« (Bullinger 2006, S. 13), der soziale Rahmen selbst. Der IT-ler verortet sich selbst innerhalb dieses Netzes, wohingegen sich die Revolutionäre der frühen IT eher als Vorreiter außerhalb jeglicher sozialer Bezugsrahmen gesehen haben.8 (Die Verlagerung der Innovationsprozesse in die Gesellschaft hinein spielt auch bei Apple eine wichtige Rolle, was sich an vielen Aktionen des Unternehmens ablesen lässt, die darauf abzielen, den Nutzer in den Innovationsprozess mit einzubeziehen.)

1.3 Innovation als schwebender Prozess Eine weitere stark ausstrahlende Modifikation im Innovationsdenken der Interviewpartner betrifft den in betriebswirtschaftlichen und technischen Diskursen phasenhaft ablaufend gedachten Prozess, der von der Ursprungsidee über Forschung und Entwicklung und über die Einbringung in den Markt zur Durchsetzung im Markt führt.9 Dieser Prozess wird häufig als zielgerichtete, pfadorientierte Entwicklung vorausgesetzt, bei der das Endprodukt von Anfang an feststeht. Der von den Interviewpartnern dargestellte Innovationsprozess zeichnet sich stattdessen als vage und schwebend aus. Er definiert sich über sein offenes Ende. Dabei herrscht ein sehr präzises Bewusstsein über die iterative Funktionsweise des Prozesses. Ausgangspunkt dieses Prozesses ist die Kommunikation mit dem Kunden, der zwar eine Vorstellung hat von dem, was er will, diese aber nicht zum Ausdruck bringen kann, »weil ihm sein Problem gar nicht bis in alle Einzelheiten bewusst ist«. (Herr W. [54], IT Unternehmer) Der Kunde weiß (oder fühlt), dass etwas besser oder anders laufen soll. Er weiß aber weder konkret was schlecht läuft, noch welche Möglichkeiten es gibt, damit es besser läuft. Der IT-ler muss zunächst akzeptieren, dass er über Lösungen für ein Problem diskutiert, die er und sein Kunde nicht vollständig verstanden haben. Daraus ergibt sich eine Vorgehensweise, die iterativ und oft rückwärtsgewandt ist. 8 | Hier lässt sich eine Analogie zur Genese der Hackercommunity herstellen. Die Hacker verfolgen die Ethik moderner Robin Hoods, sie arbeiten für das Wohl der Allgemeinheit (vgl. Levy 2010, S. 27ff.). Die einstigen Robin Hoods sind zwar immer noch Piraten, bilden aber heute eine politische Partei und haben sich somit in das gesellschaftliche Bezugsnetz hinein verlagert, sie wollen nicht mehr außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in ihr und mit ihr arbeiten. Sie definieren sich durchaus als Teil der Gesellschaft. 9 | Fritz Böhle und Markus Bürgermeister zeigen in ihrem Praeviewbeitrag: »Innovationsarbeit und Innovationsprozess – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch«, dass sich Innovationsprozesse eben nicht in klar definierbaren, abgrenzbaren Phasen, sondern in rekursiven und parallel verlaufenden Prozessen vollziehen (Böhle & Bürgermeister 2011).

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»Wenn Sie innovative Lösungen diskutieren, müssen Sie sich sehr weit zurücknehmen, Sie müssen fünf Schritte zurückgehen, um erst die essenziellen Problemstellungen zu verstehen, dann kann man innovativ sein.« (Herr D. [35], Mitarbeiter für Anforderungsmanagement bei einem mittelständigen IT Dienstleister). Der IT-ler muss in diesem sehr »vagen Orbit« möglichst konkrete Vorschläge machen und auf ein »Nein« des Kunden hoffen. Das Paradigma dieser Kommunikation ist »Widersprechen ist einfacher als Erfinden«. Nur ein deutliches ›Nein‹ kann ihn weiterbringen, weil es die Möglichkeiten der Lösung einschränkt. »Ich weiß zwar nicht genau, was der Kunde will, aber ich habe ihm abgerungen, dass das, was ich habe, nicht das ist, was er will. Das ist ein wichtiger Schritt.«10 Nur so nähert sich der IT-Beschäftigte dem innovativen Produkt, von dem er vorher nicht weiß, wie es sich gestaltet. Diese Form der Kommunikation erfordert eine sehr hohe Frustrationstoleranz, denn der überwiegende Teil der Vorschläge und Gedanken des IT-lers wird (und muss!) vom Kunden verworfen werden. Insbesondere ist eine übermäßige »Selbstverliebtheit« in die eigenen Ideen kontraproduktiv, da dies das Loslassen und Verwerfen der Ideen erschwert. Eine weitere Hürde im Innovationsprozess ist dann die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Abteilungen im IT-Unternehmen, um die es noch gehen wird. Wichtig ist, dass für die Interviewpartner der Innovationsprozess als ein offener, schwebender, vager Prozess definiert wird, der sich nicht auf ein bereits festgelegtes Ziel hin bewegt. Auch in diesem Punkt spiegelt das Denken der IT-Beschäftigten grundlegende Elemente eines neuen, modernen Innovationsbegriffes, der immer gezielter ein offenes, situativ-experimentelles Innovationsmanagement in den Mittelpunkt stellt. »Der Erfolg industrieller Innovationsprozesse hängt entscheidend davon ab, die Potenziale offener und unbestimmter Situationen und Prozesse zu nutzen und damit künstlerisch, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit zu fördern.« (Heidling et al., 2011S. 12f.) Der Erfolg der agilen Softwareentwicklung zeigt, dass dieses Denken in der IT auf breite Akzeptanz stößt. Ziel der agilen Entwicklung ist es, Kreativität, Selbstverantwortung und Freiräume im Arbeitsprozess zu fördern. Darüber sollen offene Innovationsprozesse in Gang gesetzt werden, die die IT-Arbeit aus engen Zielvorgaben befreien. »Im Kern geht es bei agiler Softwareentwicklung um möglichst häufige Rückkopplungsprozesse und zyklisches (iteratives) Vorgehen auf allen Ebenen. […] Stattdessen wechseln 10 | Hier beschreibt der Interviewpartner genau den Prozess, den Marcel Duchamp in seinem Vortrag »The Creative Act« den »Kunstkoeffizienten« nennt, auf den wir weiter unten noch zu sprechen kommen. Der persönliche »Kunstkoeffizient« »ist wie eine arithmetische Relation zwischen dem Unausgedrückten, aber Beabsichtigtem und dem unabsichtlich Ausgedrückten« (www.michaelluethy.de/marcel-duchamp-the-creative-act-der-kreativeAkt.pdf. Zugriff am 24.04.2012; siehe unten).

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Silke Steinberg/Kim Lauenroth sich beim agilen Vorgehen kurze Planungs- und Entwicklungsphasen ab. Nachdem eine Vision für das neue System entwickelt wurde, also die Ziele festgelegt und gewichtet wurden, die mit der Software erreicht werden sollen, wird ein Plan für eine erste Version ausgearbeitet und die Entwicklung beginnt.« (It-agile, 2014)

Auch hier spielt die Interaktion zwischen Autor, Nutzer und Produkt eine herausragende Rolle. Es ist dieses Dreiecksverhältnis, auf dem der kommunikative Innovationsprozess beruht. Dieses Dreiecksverhältnis wird sozialwissenschaftlich seit Goffman besonders in der Dienstleistungsforschung betrachtet. In diesen sozialwissenschaftlich orientierten Forschungen liegt der Fokus auf den Abstimmungsproblemen zwischen den Akteuren und der entstehenden »Dilemmasituation« (Dunkel/Weihrich 2003, S. 758ff.). Das Dreieck wird ausschließlich als soziales System betrachtet. Um die Nutzerpartizipation und –interaktion als Treiber im Innovationsprozess besser in den Blick zu bekommen, bietet sich eine Analogiebildung zur Kunst an, die durch die Identifikation vieler IT-Beschäftigter mit künstlerischen Berufen und Prozessen eine zusätzliche Berechtigung erfährt. Wie in vielen anderen Bereichen eröffnet auch hier eine Betrachtung mit ästhetischen Kategorien neue Spielräume und Vorstellungen, die Innovationsbedingungen und -prozesse »jenseits der normativen Kraft des Faktischen« (Arens-Fischer et al. 2011, S. 8) fokussieren. In der modernen Kunst und vor allem in kunsttheoretischen Reflexionen der Moderne ist die Vorstellung, dass die Partizipation des Betrachters für das Kunstwerk konstitutiv ist, ein Leitmotiv. In der französischen Moderne sind es bereits Baudelaire und Mallarmé, die die Idee des offenen Kunstwerks als Grundlage für ihre Poetik sehen.11 Marcel Duchamp beschreibt mit dem bereits erwähnten »Kunstkoeffizienten« den kreativen Akt als Interaktion, bei der die Grenze zwischen Autor und Publikum aufgehoben wird. Bei dieser Idee einer prozessualen, schwebenden Kunst, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute ständig durch die wachsenden technischen Möglichkeiten in der medialen und digitalen Kunst weiterentwickelt (vgl. Daniels 2003), ist es entscheidend, dass es sich um offene Prozesse handelt, in denen das Kunstwerk beziehungsweise das Produkt durch ständige Kommunikation und Interaktion vorangetrieben wird, ohne dass die endgültige Gestalt beziehungsweise die eigentliche Lösung im Voraus abzusehen gewesen wäre. Dieser Gedanke findet sich auch in den Forderungen des »Bauhauses«, wenn Walter Gropius im Bauhausmanifest im April 1919 davon spricht, dass Kunst eine Steigerung des Handwerks ist, die unbewusst, »jenseits des Wollens« 11 | Mallarmé spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise explizit von Leerstellen, die der Autor im Kunstwerk vorhalten muss, um dem Rezipienten möglichst viel Freiraum im Schaffensprozess zu geben; Sprache ist bei ihm nur noch sinnfreier Raum, der Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Bei der künstlerischen Umsetzung dieser Idee ist er mit dem kurz vor seinem Tod erstmals veröffentlichen Werk »Un coup de dés jamais n’abolira le hasard« am weitesten gegangen.

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entsteht. Hier findet sich analog zu dem weiter oben erläuterten Verhältnis von Technik und Innovation im Denken der Befragten eine ähnliche Bestimmung des Verhältnisses von Handwerk und Kunst (vgl. Gropius 1919). Wie in der Kunst öffnen sich in der IT nun die Innovationsprozesse auf allen Ebenen, was wir bereits in der agilen Softwareentwicklung festgestellt haben und was sich auch in der Geschichte des Betriebssystems Linux hervorragend zeigen lässt. Linux gestattet als sogenannte ›open source software‹ komplexe Formen von Zusammenarbeit und Kreativität. Der vorgegebene Programmcode kann vom Nutzer entsprechend seiner Bedürfnisse variiert und uminterpretiert werden. Grenzen zwischen Autor und Nutzer werden hier fließend, was Firmen wie Microsoft lange Zeit als bedrohlich empfunden haben, weil hier der User betriebswirtschaftlich gesehen für das am Marktgeschehen orientierte Unternehmen zu einem unkalkulierbaren Risiko wird. Innovative, kreative IT-Arbeit hingegen hat analog zu Vorstellungen der modernen Kunst das Innovationspotenzial entdeckt, das sich im kommunikativen, gleichberechtigten, offenen und nicht zielgerichteten Schaffensprozess eröffnet. Diese Auffassung hat sich mittlerweile auch bei Microsoft durchgesetzt und wird für neue Identifikationsstrategien des Unternehmens hinreichend genutzt. Historisch betrachtet ist die Entwicklung sogar eine Rückbesinnung auf frühere Werte in der IT. Bereits 1974 bezeichnete Donald E. Knuth, ein Pionier der IT, die Programmierung von Computern als eine Kunst (vgl. Knuth 1974). Auf wissenschaftlicher Ebene stellt vor allem Fritz Böhle die Notwendigkeit eines offenen, schwebenden Innovationsverständnisses heraus. Er betont die Ungewissheit als »strukturelles Merkmal von Innovationen« und fordert »einen tiefgreifenden kulturellen Wandel und grundlegende Neuorientierung« (Böhle 2011, S. 25) für einen neuen Umgang mit Ungewissheit, um zu verhindern, dass die in Deutschland oft angestrebte Ausschaltung von Ungewissheit zu einer Bremse für die Innovationsfähigkeit wird. Es bleibt festzuhalten, dass vor allem zwei Strukturmerkmale die veränderten Innovationsprozesse bestimmen. Einerseits ist es ihre Verlagerung von technischen auf eher kommunikative Zusammenhänge. Andererseits ist es die Lösung von Innovation aus einem festgelegten, pfadorientierten Ablauf hinein in einen schwebenden und iterativen Prozess.

2. D ISKONTINUITÄT ALS R ESSOURCE FÜR I NNOVATION IM DEMOGR AFISCHEN W ANDEL Wie sich in den vorausgegangenen Überlegungen zum Innovationsverständnis der Interviewpartner gezeigt hat, verfügen die Befragten über ein differenziertes, modernes Innovationsdenken, das den Veränderungsprozess als solchen erkannt hat und bringen dementsprechende Vorstellungen über Kompetenzen und Bedingungen, die Innovation tragen, mit.

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Die für das Projekt DEBBI zentralen Phänomene der beruflichen Diskontinuität und der demografischen Verschiebungen in Belegschaften erfahren im Innovationsdenken der Interviewten eine ausgesprochen positive Interpretation und sollen nun auf ihre Bedeutung im veränderten Innovationsparadigma überprüft werden. Aktuelle Entwicklungen der IT, wie beispielsweise die immer wichtiger werdenden Vorstellungen bezüglich agiler Entwicklung, zeigen, dass die Branche sensibel auf die strukturellen Veränderungen innerhalb moderner Gesellschaften reagiert. Gleichzeitig wird in den Interviews aber deutlich, dass dieses Denken nicht der beruflichen und unternehmerischen Praxis entspricht. Sowohl im Bereich der Ausbildung als auch in den Bereichen Unternehmens- und Personalführung werden starke Defizite hinsichtlich eines modernen Innovationsmanagements gesehen, das im Innovationsdenken der Beschäftigten und in ihrem Selbstverständnis unabdingbar geworden ist. Die Strukturen der organisationalen Ebene haben sich sozusagen nicht mitentwickelt und sind ungleichzeitig zu diesem Selbstverständnis. Sie geben den beschriebenen offenen, kommunikativen Prozessen häufig keinen Raum (vgl. Wohland/Wiemeyer 2013). In diesem Punkt soll die Vorstellung von Diskontinuität als Ressource für Innovationsfähigkeit und die sich daraus ergebenden Chancen für die Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel betrachtet werden und die Ungleichzeitigkeit ihrer Bedeutung und ihrer Nutzung dargestellt werden.

2.1 Diskontinuität als Struktur in Lebens- und Arbeitszusammenhängen Unsere heutige Lebens- und Arbeitswelt zeichnet sich durch eine immer stärkere Dynamik und Geschwindigkeit von Veränderungsprozessen aus, die zuvor festgelegte Strukturen von sozialen Systemen und Identifikationsmustern in plurale, komplexe und vor allem offene Gebilde verwandelt, die sowohl das Individuum als auch die Organisation von Gesellschaft annehmen und konstruktiv umsetzen muss, um das Leben in dieser veränderten Welt zu gestalten. Dabei geht es zunehmend um eine Gestaltung von Leerstellen. »Die Organisation der nächsten Gesellschaft ist kenogrammatisch. Sie definiert Leerstellen, die jederzeit anders besetzt werden können. Sie motiviert zu einer Arbeit, die nur in diesem Moment nicht austauschbar ist.« (Baecker 2011, S. 10) Identitäten werden als »entschieden plural« aufgefasst (Sen 2007, S. 34) und als »Patchworkidentitäten«, in denen das Subjekt aus den Erfahrungsmaterialien seines Alltags schöpferisch ein patchworkartiges Gebilde konzipiert (Keupp et al. 2006, S. 8ff.). Häufig wurde in der Vergangenheit diagnostiziert, dass der Mensch auf die Pluralität als Grunderfahrung der Moderne mit Verlustempfindungen, Orientierungslosigkeit und Unbehagen reagiert (beispielsweise Sennet 1998 und Ehrenberg 2004). Der Mensch wird hier als unter der Flexibilisierung und Deregulierung leidend beschrieben. Diskontinuität kann aber auch als Lösung aus

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verkrusteten und erstarrten Strukturen und als Freiraum für eine schöpferische Gestaltung der Leerstellen gesehen werden (beispielsweise Friebe/Lobo 2007, Vomberg 2007 oder Klatt et al. 2005). Diskontinuität in Biografien ist ein Phänomen, das zunächst über sich stark wandelnde Lebensbedingungen erklärt wird. In wissenschaftlichen Diskursen geht man davon aus, dass Diskontinuität in der Erwerbsbiografie eine Folge der Globalisierung und von strukturellen Veränderungen in Unternehmen und Arbeitsprozessen ist, auf die sich die Arbeitnehmer einstellen und die sie bewältigen müssen (Weßler-Poßberg/Vomberg 2007, S. 29). Hinzu kommt ein zunehmender Grad an aufgesuchter oder unfreiwillig erlebter Diskontinuität im Verlauf von individuellen Lebenswegen, die auf Lebensumstände von Individuen zurückzuführen ist und die als Antwort auf veränderte Rahmenbedingungen im gesellschaftlichen Leben zu sehen ist. In den im Teilprojekt DEBBI-INNO durchgeführten Interviews wird Diskontinuität auf beruflicher und privater Ebene häufig nicht als Problem gesehen, das man bewältigen muss, sondern als Chance, die man gezielt aufsuchen kann. Hier manifestiert sich eine positive Sicht auf Diskontinuität, die heute auch in der Forschung stärker berücksichtigt wird, nachdem in früheren Untersuchungsansätzen verstärkt die Risiken, die mit Diskontinuität in Zusammenhang stehen, im Fokus standen. Forschungsprojekte wie NERVUM12 haben gezeigt, dass durch berufliche Diskontinuität Schlüsselkompetenzen aufgebaut werden, die dem Beschäftigten helfen, mit den Herausforderungen moderner Arbeitswelten und Gesellschaften oft besser zurechtzukommen als Beschäftigte mit einer traditionellen Berufsbiografie (vgl. Klatt/Nölle 2006). Auch auf individueller Ebene stehen bei den Interviewpartnern eher die Vorteile eines sich aus linearen Verläufen lösenden, selbst bestimmten Lebens im Vordergrund. Die Interviewpartner beschreiben die Möglichkeit, selbständig Akzente zu setzen, vielleicht sogar private Interessen vor berufliche zu stellen, als Gefühl von Freiheit und Lösung aus Zwängen, die als Grund von Unzufriedenheit identifiziert werden. Der Begriff der beruflichen Diskontinuität ist sehr komplex, umfasst sehr unterschiedliche Erscheinungsformen der modernen Arbeitswelt und ist nur schwer auf das Arbeitsleben einer Person zu beschränken (vgl. Klatt et al. 2005, S. 146 oder Weßler-Poßberg/Vomberg 2007, S. 67). In den Interviews und ihrer Auswertung liegt der Schwerpunkt auf der positiven Betrachtung der Diversität von Erfahrungen in unterschiedlichen Berufen, Berufsbereichen, Ausbildungen, Arbeitssituationen, Arbeitsorten (transnationale Erfahrungen) und im Privatleben. Risiken und Gefahren, die mit Diskontinuität verbunden sind, wurden von den Befragten klar erkannt, aber nicht in den Vordergrund gestellt. Für die IT sind Berufsbiografien, die von Diskontinuität geprägt sind keine Seltenheit und werden auch aus diesem Grund nicht als Gefahr 12 | NERVUM – Neue Erwerbsbiografien in virtuellen Unternehmen der Medienindustrie.

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bewertet. Insbesondere ist deutlich geworden, dass Diskontinuität nicht zwangsläufig mit häufigen Wechseln des Arbeitsgebers einhergeht. Vielmehr entsteht Diskontinuität auch innerhalb eines Arbeitsverhältnisses, beispielsweise durch bewusste Aufgaben-, Rollen- oder Projektwechsel (s. den Beitrag von Helga Dill in diesem Band). Allerdings erscheint es trotz positiver Wahrnehmung schwieriger, Diskontinuität mit zunehmendem Alter zu leben. Hier ergibt sich ein wichtiger Ansatz für innovative Gestaltungsmodelle der Arbeitsbedingungen in der IT. Die Befragten weisen auf den Mangel an Strukturen hin, um Diskontinuität in allen Lebensphasen zu bewältigen und die Potenziale auch zu verwirklichen. Die Auseinandersetzung mit den positiven Effekten von diskontinuierlichen, pluralen, teilweise auch gebrochenen Erfahrungen wurde in den Interviews sehr deutlich. Die Befragten erkennen die Potenziale, die sich hieraus ergeben, und halten sie für notwendige Träger von Innovation. Auf der anderen Seite sehen sie, dass ohne individuelle Initiative diese Potenziale weder entwickelt, noch genutzt werden können, da verbindliche Strukturen, die die Entwicklung und Nutzung der Potenziale aus Diskontinuität unterstützen, auf der organisationalen Ebene fehlen. Hier besteht ihrer Meinung nach dringender Handlungsbedarf. »[…] darum glaube ich, wir bräuchten eine Struktur, so etwas wie einen Rahmen, der auch die Kompetenzentwicklung über eine Unternehmenszugehörigkeit hinaus oder über die momentane Tätigkeit in einem Projekt hinaus im Auge hat.« (Frau F. [59] Spezialistin für Anforderungsmanagement in einem mittelständigen ITUnternehmen.)

2.2 Gestaltete Diskontinuität in Innovationsnetzwerken Für alle Interviewpartner finden Innovationsprozesse in mehrstufigen, komplexen Kommunikationen innerhalb der IT und zwischen der IT und den Nutzern statt. Das Funktionieren dieser oft vagen und schwebenden Kommunikationen ist für sie die wesentliche Bedingung für Innovation in der Branche. Die meisten der Interviewpartner sehen die Schwierigkeit, die hierfür notwendigen Kompetenzen in ihrer beruflichen Praxis zu entwickeln, da diese den Erwerb der Kompetenzen nicht fördert. Sie versuchen durch eine bewusste Planung ihrer Erwerbsbiografie, die nach unterschiedlichen, aber wiederkehrenden Mustern abläuft, diese Defizite auf individueller Ebene zu kompensieren. Dabei sehen sie ihren eigenen Lebenslauf als gestaltungsbedürftig, nicht nur, weil sie »Ungewissheit als Grundlage innovativer Zukunftsgestaltung« erkannt haben, sondern weil sie ganz bewusst ihre »employography« planen, um ihre eigene Innovationsfähigkeit zu erhalten (Elbe, 2011, S. 87ff.).13 Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um individuelle Initiativen der Beschäftigten, die oft eine institu13 | Martin Elbe stellt hier der arbeitgeberorientierten »employability« den arbeitskraftorientierten Begriff der »employography« gegenüber, der die »ungewissheitskonforme Mög-

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tionelle Verankerung solcher Möglichkeiten der Gestaltung der Erwerbsbiografie, aber auch eine systematischere Nutzung dieser so entstehenden Potenziale als sehr wünschenswert, aber nicht gegeben beschreiben. Das Projekt DEBBI hat an diesem Punkt angesetzt und unterschiedliche Tools zur Unterstützung und zur Nutzung der Potenziale aus Diskontinuität entwickelt (Ciesinger/Klatt 2014). Die komplexen Anforderungen in der beruflichen Praxis der IT werden von den Interviewpartnern übereinstimmend zunächst im Problem der »Vielsprachigkeit« gespiegelt. An erster Stelle steht die Wahrnehmung, dass »der Informatiker in einer Welt lebt, der Nutzer in einer anderen«. Beide sprechen unterschiedliche Sprachen und es ist die Aufgabe des Informatikers, das, was der Nutzer ausdrücken will, »zu erspüren«. Hinzu kommt die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Tätigkeiten innerhalb der IT, die grundsätzlich als positiv empfunden wird, mit ihr aber die als innovationsfeindlich zu sehende Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kulturen und Selbstbeschreibungen, die weitere Kommunikationshemmnisse bedeutet.14 Der innovationsorientierte IT-ler sieht sich also mit einer vagen Kommunikation konfrontiert, bei der das Gemeinte nur zu erahnen ist, in der zusätzlich auch noch andere Sprachen gesprochen werden. Im Anschluss an diese Kommunikation schließt sich eine weitere zwischen den unterschiedlichen Funktionen innerhalb des Entwicklungs- und Umsetzungsprozesses an, die wiederum nicht unilingual verläuft. Für eine erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderung werden plurale berufliche und interdisziplinäre Erfahrungen als hilfreich beziehungsweise sogar als notwendig empfunden und deshalb bewusst aufgesucht. Hier gibt es unterschiedliche Muster. Einigen der Interviewpartner wird die technisch-mathematische Ausrichtung in IT Ausbildungen sehr schnell als zu eng bewusst und sie versuchen bereits in ihrer Ausbildung, die Weichen in Richtung Diskontinuität und Pluralität zu stellen. Ein Beschäftigter, der neben Informatik auch Psychologie und Betriebswirtschaftslehre studiert hat, spricht von einem »Dreigestirn an Ausbildungshintergründen«, das für ihn die Grundlage seiner Erwerbsbiografie darstellt. Für ihn handelt es sich um drei »ganz andere Arten zu denken«, die ihm »Zugang zu unterschiedlichen Welten« verschaffen und ihn befähigen, ganz unterschiedliche Sprachen zu verstehen. Er kann deutlich zwischen dem, was ihm die Fachrichtungen bieten, unterscheiden: »Die IT ist sehr präzise mathematisch, sie möchte lichkeit der aktiven Gestaltung eigener Lebenschancen und Bedingungen« beschreibt (Elbe 2011, S. 87ff.). 14 | Viele der Interviewpartner betonen die Wichtigkeit der Herausbildung unterschiedlicher Rollen in einem IT-Unternehmen, die grundsätzlich Innovationen fördert. Sie sind sich einig darüber, dass die Art und Weise, wie diese Arbeitsteilung gelebt wird, innovationshemmend ist. Dabei wird besonders die Herausbildung unterschiedlicher Kulturen (beispielsweise Berater – Entwickler) kritisiert, die die Kommunikations- und Verstehensprozesse erschwert, und die Fixierung der Beschäftigten auf ihren Aufgabenbereich, die berufsblind macht und die erforderliche Multiperspektivität verhindert.

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alles auf Wahr und Falsch abbilden, der Informatiker kennt keine Interpretation.« Hier liegt für ihn auch das Defizit der IT. Wie in Platons Höhlengleichnis bleibt der IT-ler auf die Welt, die ihm die Maschine »vorgaukelt« beschränkt und kann die Realität nicht in ihrer Komplexität wahrnehmen. »Die Strukturen sind so präzise definiert, dass die Maschine immer recht hat, das gaukelt dem Informatiker Sicherheit vor, die sich in total viele Bereiche reindrängelt, was die Denkstrukturen angeht.« Für ihn persönlich eröffnen sich aber durch seine anderen Ausbildungsbereiche, die er immer wieder in seine berufliche Praxis miteinbeziehen kann, andere Perspektiven. »Für den Psychologen gibt es viele Grauschattierungen – er ist auf den Menschen konzentriert.« Dadurch ergibt sich eine vollkommen andere Sicht auf die Dinge, die neben der IT-Perspektive ein neues Spektrum schafft. Die BWL liegt für ihn dazwischen und ist wiederum an anderen, sich aus ihrer Logik ergebenden Schwerpunkten orientiert. Diese unterschiedlichen Perspektiven bieten an sich ein vielschichtiges Geflecht an Bezügen, die für den kommunikativen Innovationsprozess bei der Entwicklung neuer Ideen und Lösungen von Bedeutung sind. Viel wichtiger ist aber für den Interviewpartner, die sich im Wechseln der Perspektiven ergebende Fähigkeit losgelöst von engen Problemzusammenhängen wahrzunehmen und zu denken. Eine andere Interviewpartnerin fasst dies in der Metapher »über den Tellerrand gucken«, eine Fähigkeit, die sie als essenziell erachtet, bei vielen, vor allem auch jüngeren Kollegen aber vermisst: »[…] sie schauen zu wenig über den Tellerrand, sie haben auch zu wenig Mechanismen, Kenntnisse, zu wenig Möglichkeiten, um über den Tellerrand zu blicken, und wenn sie es tun, dann wissen sie oft nicht, wie sie mit dem, was sie da sehen, umgehen sollen«. Auch sie hat früh auf die von ihr wahrgenommenen Defizite der reinen Informatikausbildung reagiert, indem sie ein zweites, fachfremdes Studium aufgenommen und abgeschlossen hat und eigenständig viele, ebenfalls fachfremde Qualifikationen angeschlossen hat. Den Mittelpunkt innovativer IT-Arbeit sieht sie im Moderieren zwischen den Möglichkeiten der IT und den Bedürfnissen und Vorstellungen der Nutzer. Interdisziplinarität und Diskontinuität sind dabei für sie die zentralen Innovationstreiber, die dafür sorgen, dass Mechanismen und Kenntnisse zur Verfügung stehen, um Problemzusammenhänge und Strukturen multiperspektivisch wahrzunehmen und in innovative Lösungsansätze umzusetzen. Der amerikanische Soziologe Ronald Stuart Burt hat versucht, sich dem, was die Interviewpartner aus ihrer intuitiven Erfahrung schildern, in seinem Konzept der »structural holes« als Quellen der »good ideas« zu nähern. Er stellt fest, dass Leute, die an den Schnittstellen unterschiedlicher Gruppen stehen, innovativer sind, wobei er verschiedene Level identifiziert, auf denen sich die Innovation vollzieht und Elemente und Strukturen aus den unterschiedlichen Gruppen jeweils für Lösungswege in den anderen Gruppen nutzbar macht. »People familar with activities in two groups are more able […] to see how a belief or a practice in one group could create value in the other.« (Burt 2004, S. 355) Für ihn entstehen neue Ideen durch Synthese und Selektion über die »structural holes« hinweg, wobei

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die besten Ideen für Lösungen in einer Gruppe von Leuten kommen, die außerhalb der Gruppe stehen. Die Ideen werden sozusagen über die »structural holes« hinweg getragen und generieren in einem kreativen, stetigen Veränderungsprozess Innovation. »Creativity is a diffusion process of repeated discovery in which a good idea is carried across structural holes to be discovered in one cluster of people, rediscovered in another […], each discovery is an expression of creativity.« (Burt 2004, S. 389) Andere Muster des bewussten Aufsuchens von Diskontinuität, die in den Interviews wiederkehren, sind einmal das Bemühen um Pluralität und unterschiedliche Herausforderungen im beruflichen Alltag, was natürlich von den Unternehmen mitgetragen werden muss, und die Flucht in eine weitere, oft nebenberufliche Tätigkeit, die nicht aus monetären Motiven angestrebt wird, sondern durchgängig als Raum betrachtet wird, in dem Erfahrungen gemacht werden, die über die Arbeitsaufgaben im Unternehmen weit hinausgehen und so wiederum den Blickwinkel des Beschäftigten erweitern. Dem Bemühen um Vielfältigkeit in der beruflichen Praxis kommt die projektförmige Struktur moderner IT-Arbeit grundsätzlich sehr entgegen. Die Projektarbeit darf aber für den einzelnen Beschäftigten nicht zu lange dauern, da sonst genau das Gegenteil erreicht wird. Kreativität und Innovationsfähigkeit nehmen durch Routinen ab, die Arbeit wird nicht mehr als Herausforderung betrachtet, was als elementare Bedingung für Innovationstätigkeit bei den Befragten gilt. »Ich glaube, dass Unterforderung ein größeres Problem ist, bore-out ist das Problem, dass Mitarbeiter einfach keinen Bock mehr haben auf ihren stupiden Job.« Diese Unterforderung und die zusätzliche Betriebsblindheit treten ein, wenn ein Mitarbeiter zu lange in einem Projekt steckt. »Das ist für mich, wenn wir von Innovation sprechen, finde ich keine Basis […]. Ich als Externe soll ja Innovation rein bringen, das geht nicht, wenn ich mehrere Jahre da arbeite, dann erlebe ich alles genauso wie die Internen. Man steckt fest.« Es wird als Notwendigkeit betrachtet, dass die Beschäftigten öfter aus ihren Arbeitsprozessen herausgezogen werden, sei es durch den Wechsel von Projekten, in denen man arbeitet, durch Weiterbildungen oder auch durch interkulturelle Erfahrungen, die ebenfalls als wertvolles Instrument erkannt werden, um sich »breit aufzustellen« und so Innovationsprozesse in Gang zu setzen. Das Engagement in nebenberuflichen Tätigkeiten ist ebenfalls als bewusst aufgesuchte Diskontinuität zu verstehen. Hier eröffnen sich für die Beschäftigten oft Kreativitätsfelder, in denen sie neue Kompetenzen erwerben und erproben können, für die ihnen der Spielraum in ihrer hauptberuflichen Tätigkeit zu eng erscheint. Von den betroffenen Interviewpartnern wird aber deutlich betont, dass beide Tätigkeiten sozusagen voneinander profitieren, dass ihre Innovationskraft durch diese unterschiedlichen Betätigungsfelder gestärkt wird und auch die Unternehmen akzeptieren die Nebentätigkeit des Beschäftigten, weil sie wissen, dass sie seiner Arbeit für das Unternehmen zugutekommt.

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2.3 Bedingungen für eine sich steigernde Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel In den Interviews wird Alter grundsätzlich nicht als relevanter Faktor für Innovationsfähigkeit gesehen. Sowohl die älteren als auch die jüngeren Befragten stellen Alter als neutralen oder sogar als positiven Einfluss auf Kreativität und Innovationskraft eines Menschen dar. Ältere Beschäftigte, die auch von außen als kreativ und innovationsstark gesehen werden, argumentieren zunächst mit ihrer Freude an Innovation und mit ihrem positiven und konstruktiven Innovationsverständnis. »[…] wenn man das im Blut hat, ist das so, dann geht man den Weg auch weiter, ich weiß nicht ob das noch bis neunzig so weiter geht, […] die Ausruhphasen werden größer, aber ansonsten, die kreative Kraft lässt nicht nach«, »Kreativität, das ist unsere zweite Haut, die können wir nicht ablegen«, »Innovation und Kreativität, das ist das, was mich antreibt, das kann nicht wegfallen.«

Sowohl bei den Jüngeren als auch bei den Älteren zeichnet sich wiederum eine sehr differenzierte Sicht des Zusammenhangs von Alter und Innovationsfähigkeit ab, der eng an die positive Bewertung diskontinuierlicher Erfahrungen gekoppelt ist. Mehrere Interviewpartner unterscheiden zwischen zwei senioren Innovationstypen, einer der Befragten kann sie sogar ganz klar benennen: »Die einen entwickeln sich zum Spezialisten, das heißt sie haben lange, tiefe Erfahrungen in einem Gebiet, die anderen zum Generalisten. Mit breit gefächerten Erfahrungen sind sie ganz anders aufgestellt. Beide können sehr innovativ sein.« Allen Interviewpartnern, die diese Unterscheidung vornehmen, stellen heraus, dass beide Innovationstypen notwendig sind für das Unternehmen, weil beide eine unterschiedliche Herangehensweise an Probleme haben. Sie betonen aber auch einstimmig, dass das Spezialistentum auch oft einschränkt und übergreifende Innovationsprozesse verhindert. Der Innovationstyp des Generalisten, der in seiner Erwerbsbiografie viele unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat, hat den Vorteil, besser Zusammenhänge herstellen zu können. »[…] dann ist das so, dass die sich in einem Gebiet sehr gut auskennen, aber das ist wirklich ganz begrenzt, also die Breite, die ich habe und die Erfahrung, die ich habe, die ich ja dann auch verbinden kann, das finde ich klasse, da hat man so viele Möglichkeiten.« Als individuelles Optimum wird eine sozusagen dialektische Berufsbiografie beschrieben – und auch von einigen bewusst angestrebt –, die Phasen der konzentrierten, vertieften Auseinandersetzung mit einem Thema und Phasen, in denen unterschiedliche Herausforderungen bewältigt werden müssen, verbindet. Die hier zusammenkommenden Kompetenzen einer diskontinuierlichen, aber auch spezialisierenden Erwerbsbiografie werden in den Interviews oft als Erfolgspotenzial älterer Mitarbeiter gesehen. Für die Innovationskraft eines Unternehmens ist

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es dabei wichtig, diese unterschiedlichen Innovationspotenziale älterer Mitarbeiter zu erkennen und gezielt zu nutzen. Die zum größten Teil positive Interpretation des Faktors Alter für Innovationskraft und Kreativität in den Interviews mit Beschäftigten der IT, darf über generelle Probleme bezüglich dieses Zusammenhangs in der beruflichen Realität nicht hinweg täuschen. In wissenschaftlichen Diskursen werden Stärken und Schwächen älterer Beschäftigter häufig schematisch dargestellt. Die Studie »Ageing and Employment« der europäischen Kommission markiert als zentrale Schwäche älterer Arbeitnehmer »difficulties in adapting to new technologies and in some cases to mobility and flexibility requirements« (European Commission 2006, S. 197). Auch einige der Interviewpartner glauben an einen ›digital divide‹ oder sehen die Gefahr, dass ältere Mitarbeiter technologische Trends nicht immer frühzeitig mitbekommen. Sie sehen das aber nicht als Zeichen einer Überforderung durch ein zu hohes Innovationstempo und zu hohe Komplexität und als Defizit, sondern sie sehen in dieser Haltung auch kritische Distanz und letztendlich eine innovationsförderliche Wirkung. Man »läuft nicht jedem Hype nach«, sondern differenziert nach nützlichen und unnützen Innovationen. Die Überzeugung der Interviewpartner, dass Technologien nur Werkzeuge sind und Innovationen in einem sozialen Zusammenhang stehen müssen, kommt hier zum Tragen. Die Studie »InnoDemo – Innovationsmanagement mit allen Altersgruppen« der Fraunhofergesellschaft (vgl. Dworschak et al. 2012) differenziert klar die Teile des Innovationsgeschehen, die durch höheres Alter positiv beeinflusst werden. Bei den vier Einflussfeldern Sozialkompetenz, Erfahrungswissen, Motivation und Kreativität schneiden Ältere in den beiden ersten Feldern gut ab. In den Bereichen Motivation und Kreativität wird herausgestellt, dass die Innovationskraft Älterer hier durch gestaltete Rahmenbedingungen unterstützt werden muss (Dworschak et al. 2012, S. 32ff.). Insgesamt wird auch in dieser Studie deutlich, dass es um Integration von Potenzialen jüngerer und älterer Beschäftigter gehen muss. Der Fokus sollte auf einem intergenerationellen Innovationsmanagement liegen, das die Unterschiede im Innovationsverhalten der unterschiedlichen Altersgruppen komplementär nutzt. Auch unsere Interviewpartner betonen den komplementären Charakter der altersspezifischen Fähigkeiten, weisen aber auch in diesem Punkt auf einen Mangel an Strukturen hin, diese sich ergänzenden Potenziale auszuschöpfen. Sie heben einige Besonderheiten der Altersgruppen, aber auch Gemeinsamkeiten besonders hervor. Dazu gehört unter anderem die höhere Bereitschaft bis in kleine Details zu gehen, die oft für ältere Mitarbeiter nicht mehr interessant sind und eine bedingungslose Begeisterungsfähigkeit für rein technische Innovationen. Begeisterungsfähigkeit an sich wird aber nicht als auf junge Mitarbeiter beschränkt gesehen, sie gilt eigentlich allen Befragten als wichtige Bedingung ihrer Innovationstätigkeit. Begeisterungsfähigkeit ist für sie eine Kompetenz, die altersunabhängig ist und die in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichs-

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ten Zusammenhängen erlernt werden kann. Ein Befragter geht sogar noch weiter und bezeichnet Begeisterungsfähigkeit als »zu erbringende Dienstleistung gegenüber dem Kunden«. Alle bringen aber sowohl Innovationsfähigkeit als auch die ihr zu Grunde liegende Begeisterungsfähigkeit mit den Anforderungen und Anreizen, mit denen man konfrontiert wird, in Zusammenhang und verweisen so auf die organisationelle Notwendigkeit, ältere und jüngere Mitarbeiter in die Innovationsprozesse mit einzubeziehen. Dabei muss der Beschäftigte immer wieder Routinen durchbrechen können, um sich stetig neu zu entwickeln. »Wenn ich in einer Firma arbeite, wo gesagt wird, alles muss nach Schema F laufen, dann tötet das so einen innovativen Geist sehr schnell ab.« Die Innovationsfähigkeit, die sich durch das Sammeln möglichst unterschiedlicher Erfahrungen steigert, wird gebremst. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der demografische Wandel für die Innovationsfähigkeit einer Branche und auch einer Gesellschaft vor dem Hintergrund veränderter Innovationsprozesse und -bedingungen in modernen Gesellschaften insofern Chancen bietet, dass in einem günstigen Fall im Verlauf einer längeren, diskontinuierlichen Erwerbsbiografie sehr unterschiedliche und komplexe Erfahrungen gemacht werden können, die grundlegend sind für den Auf bau von innovationsförderlichen Kompetenzen. Ob diese Erfahrungen gemacht werden und Kompetenzen entwickelt werden, hängt maßgeblich von einem bewussten Innovationsmanagement auf organisationalen und personalen Umsetzungsebenen in Unternehmen und übergreifenden Institutionen und von einer positiven Einstellung in Bezug auf Pluralität und Komplexität auch bei den Beschäftigten selbst ab. Eine weitere hervorzuhebende Chance ist die Komplementarität der innovationsorientierten Fähigkeiten unterschiedlicher Altersgruppen, die durch ein intergenerationelles Innovationsmanagement das Innovationspotenzial des Unternehmens steigern.

3. A USBLICK Die veränderten Bedingungen des Innovationsgeschehens und auch die sich aus Diskontinuität ergebenden Potenziale in den Kompetenzprofilen der Akteure in diesem veränderten Prozess sind zumindest in den Diskursen einer stark an Innovation orientierten IT-Branche zur Selbstverständlichkeit geworden. Allerdings haben sie in den diese Prozesse stützenden Strukturen noch keinen Niederschlag gefunden. Ihre Entwicklung und Nutzung bleiben selbst in der IT oft der individuellen Initiative der Mitarbeiter überlassen (besonders innovative, junge und große Unternehmen wie Google etc. sind da eine Ausnahme). Insofern ist durchaus von einer Ungleichzeitigkeit von diskursiver Ebene und Handlungsebene zu sprechen. Die Forschungsarbeit im Projekt DEBBI hat gezeigt, dass es einen hohen Bedarf gibt, auf organisationaler und individueller Ebene die Strukturen an die veränderten Innovationsbedingungen anzupassen. Im Projekt ist es gelungen, vier

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unterschiedliche Barrieren für ein effizientes Innovationsgeschehen zu identifizieren und an diesen Stellen unterstützende Instrumente zu entwickeln (Vgl. Ciesinger/Klatt 2014). Hierzu die E-Book Veröffentlichung »Innovation durch Diskontinuität. Gestaltung nichtlinearer Erwerbsbiografien als Chance im War for Talents« (in Vorbereitung; Hinweise auf www.projekt-debbi.de). Auf individueller Ebene gibt es einen hohen Bedarf, in der aktiven, innovationsorientierten Planung der eigenen Biografie unterstützt zu werden. Weiterhin gibt es in vielen Fällen die Notwendigkeit, die Ausbildung der Fähigkeit die positiven Effekte von Diskontinuität umzusetzen und die negativen Effekte zu bewältigen, zu verstärken. Auf der Seite der Unternehmen gibt es Unterstützungsbedarf bei der Identifizierung und beim Management der unterschiedlichen vorhandenen Potenziale (die oft für das Unternehmen verdeckt sind). Das Profiling von Kompetenzen und die Integration von Kompetenzen verschiedener Gruppen (und hier insbesondere Altersgruppen) im Unternehmen ist ein Problemfeld, auf dem ein besonderer Fokus der Projektarbeit liegt. Bei der Übertragbarkeit der Ergebnisse und Instrumente auf andere Branchen muss berücksichtigt werden, dass die IT-Branche in ihrer Sensibilität für die Anforderungen der veränderten Innovationsprozesse zwar eine Vorreiterrolle spielt und unterschiedliche Arbeitszusammenhänge ganz spezifische Problemlagen hervorbringen. Die Notwendigkeit zu einem veränderten, offenen und demografiefesten Innovationsmanagement besteht aber in allen Branchen und muss mit angepassten Instrumenten unterstützt werden. Die Forschungs-und Entwicklungsarbeit im Projekt DEBBI bietet dort einen Ausgangspunkt.

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1. G ESELLSCHAF TLICHE E NTGRENZUNGSPROZESSE UND DISKONTINUIERLICHE B ESCHÄF TIGUNG Die reflexive Moderne wird gekennzeichnet von einem durchgängigen Individualisierungsprozess, der vor allem an der Schnittstelle Subjekt/Struktur zu einschneidenden Veränderungen führt. »In der individualisierten Gesellschaft muss der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Planungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen. ›Gesellschaft‹ muss unter den Bedingungen des herzustellenden Lebenslaufes als eine ›Variable‹ individuell gehandhabt werden«, diagnostizierte Ulrich Beck schon 1986 (Beck 1986, S. 217). Die gesellschaftlichen Passungsangebote verlieren so ihre Prägekraft für die Biografien und die alltägliche Lebensführung. Die Subjekte werden zunehmend mit der Notwendigkeit konfrontiert, die gültigen Muster für die eigene Lebensorganisation selbstständig zu entwickeln. Sie können sich nicht länger auf die bislang gültigen ›Normalformtypisierungen‹ als regulierende Prinzipien für die private und berufliche Lebenswelt verlassen. Vorstellungen von Lebenssicherheit, von eindeutiger und fester sozialer Verortung, von innerfamiliärer Arbeitsteilung oder von der identitätsstiftenden Qualität der Erwerbsarbeit werden in Zweifel gezogen. Die Arbeit an der eigenen Identität wird zum »unabschließbaren Projekt« (Keupp 2010). Für die Einzelnen bedeutet dies einerseits eine Zunahme an Autonomie. Andererseits ist Individualisierung ein Prozess, dem sich niemand entziehen kann, der von den gesellschaftlichen Institutionen (Betriebe, Sozialisationsagenturen etc.) vorangetrieben wird und der den Individuen auch mehr und mehr Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Selbststeuerung, Selbstmanagement und Selbstoptimierung abverlangt. Für die ›Kinder der Freiheit‹ (Ulrich Beck) wird

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diese Subjektivierung der Arbeit zu einem Muss. Hans Pongratz und Günther Voß haben dies den »Arbeitskraftunternehmer« genannt (Pongratz/Voß 2003). Ulrich Bröckling spricht vom »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007). Diese theoretischen Figuren sind Ausdruck für das zunehmende Verschwimmen von Grenzen zwischen den Lebensbereichen – zeitlich und räumlich. Entgrenzungsphänomene sind vor allem in der Arbeitswelt diagnostiziert und beschrieben worden. Arbeits- und privates Leben sind nicht mehr klar voneinander abgegrenzt. Das sogenannte ›Normalarbeitsverhältnis‹ beschreibt ein Idealbild voneinander abgegrenzter Lebensbereiche: Nach Schule und Ausbildung geht der Normalarbeiter (vorwiegend männlich) einer sozialversicherten Beschäftigung nach, Vollzeit, ohne Unterbrechung bis zur Rente, allenfalls gibt es einen Wechsel des Arbeitgebers aus Karrieregründen. Das private Leben – Familie, Kinder, Reproduktion – ist davon zeitlich und räumlich getrennt. Diese klare Abgrenzung ließ sich unter anderem durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit nicht länger halten. Die Frauen brachten die Sorge um die Kinder, die pflegebedürftigen Angehörigen, die alltägliche Reproduktionsarbeit mit in die Erwerbssphäre. Privates wurde in die Arbeitswelt getragen. Diese Entgrenzung von der privaten Seite brachte zunächst vor allem Doppelbelastung, Karrierenachteile und schlechtere Bezahlung für die Frauen mit sich. Aber: Teilzeitarbeit, Unterbrechungen der Erwerbsarbeit wegen Familienarbeit rüttelten auch an den Säulen des Normalarbeitsverhältnisses. Von der Seite der Arbeitswelt wird die Entgrenzung in die andere Richtung vorangetrieben. Die Anforderungen der Arbeit greifen mehr und mehr in das private Leben ein. Abends zu Hause noch mal Emails checken. Wichtige Anrufe im Urlaub tätigen. Mal eben eine Präsentation nach dem Familienausflug fertig stellen. So vermischen sich die Lebensbereiche zunehmend. Das Normalarbeitsverhältnis gerät mehr noch durch den globalisierten Wettbewerb und die Folgen für die Betriebe unter Druck. Die Beschleunigung der Produktzyklen, technischer und wissenschaftlicher Fortschritt führen dazu, dass die Figur vom einmal erlernten und dann perfektionierten Beruf obsolet wird. Mit neuen Technologien verschwinden heute Berufe oder verändern zumindest ihr Gesicht. Diskontinuität stellt sich als Kette von Übergängen dar. Für die Einzelnen heißt das, sich immer wieder mit neuen Rahmenbedingungen des Arbeitens und neuen Arbeitsinhalten zu beschäftigen. Die Forderung nach lebenslangem Lernen ist inzwischen politische Strategie (vgl. Konzeption der Bundesregierung zum Lernen im Lebenslauf, 2008). Dies hat auch Konsequenzen für die theoretischen Konzepte zur Identitätsbildung und zur Erwachsenensozialisation.

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1.1 Berufliche Sozialisation Beruf und Erwerbsarbeit sind in der Industriegesellschaft eine zentrale Größe für die individuelle Lebensgestaltung. Existenzsicherung, Status, Anerkennung speisen sich daraus. Entsprechend ist Arbeit ein wesentlicher Bereich in der Sozialisation. »Bereits in der Kindheit, noch ganz in die Familie eingebunden, erfährt der Heranwachsende den Beruf über den Vater als den Schlüssel zur Welt. Später bleibt Ausbildung durch alle Stationen hindurch auf das in ihr nicht vorhandene ›Jenseits‹ des Berufs bezogen. Das Erwachsensein steht ganz unter den Sternen der Erwerbsarbeit, nicht nur allein aufgrund der zeitlichen Beanspruchung durch die Arbeit selbst, sondern auch deren Verarbeitung oder Planung in der Zeit außerhalb, davor und danach. Selbst ›Alter‹ wird durch den Nichtberuf definiert. Es fängt dort an, wo die Berufswelt den Menschen entläßt – egal ob sie sich alt fühlen oder nicht.« (Beck 1986, S. 221).

Die berufliche Sozialisation kann unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: als Sozialisation für den Beruf (Ausbildung, Weiterbildung, Erwerb von Schlüsselkompetenzen wie Pünktlichkeit, Genauigkeit etc. im familiären oder außerfamiliären Kontext) und die Sozialisation durch den Beruf (Kollegen, Zusammenarbeit, die Aus- und Einübung der fachlichen Komponenten). »Zur beruflichen Sozialisation gehören also zum einen die institutionellen Strukturen, die Verfassung des Betriebes, die Berufsstruktur, die Arbeitsmarktlage, das Arbeits- und Sozialrecht, die Wirtschaftsverfassung eines Landes, die Konjunktur. Zum anderen gehören hierher die direkten Sozialisationsprozesse wie beispielsweise das Bildungs- und Ausbildungssystem, der Alltag betrieblichen Handelns mit Kollegen und Vorgesetzten, die Art der Arbeitstätigkeit selbst und nicht zuletzt die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie durch häusliche Arbeitsteilung – einschließlich wiederum institutioneller Hilfen der Kinderbetreuung, also erneut struktureller Arrangements eines Nationalstaates, eines Bundeslandes, einer Kommune oder privater Institutionen.« (Weymann 2004, S. 138).

Für die Zielgruppe der diskontinuierlich Beschäftigten, die wir in dem Projekt DEBBI im Fokus hatten1, heißt dies, immer wieder neue Arrangements treffen zu 1 | Im Münchner Teilprojekt von DEBBI standen älter werdende diskontinuierlich Beschäftigte aus der IT- und Medienbranche im Mittelpunkt. Insgesamt 30 biografische, leitfadengestützte Interviews mit narrativen Elementen wurden geführt. Dabei ging es um die Fragen, welche Rahmenbedingungen und welche persönlichen und sozialen Ressourcen das Älterwerden in einer jungen Branche und in diskontinuierlicher Beschäftigung ermöglichen oder erleichtern, welche Belastungen und welche Chancen damit verbunden sind, wie sie erlebt und verarbeitet werden. Kontrastierend wurde eine Fallstudie in der IT einer Kommunalverwaltung durchgeführt. Die Leitfrage war dabei: Wie unterscheidet sich das

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müssen oder zu können. Die Berufsbiografie stellt sich als Kette von Übergängen dar: Übergänge von einem Projekt zum anderen, von einem Arbeit- oder Auftraggeber zum nächsten, von einem Beruf in einen neuen oder die Einarbeitung in ein neues Fachgebiet. Welche Rolle spielt bei einer (mehr oder weniger) erfolgreichen Vermarktung der so erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen das Älterwerden, wenn doch dieses Älterwerden nicht übereinstimmt »mit den berufsbiografischen Normen, nach denen die Betriebe Alterungsprozesse organisiert haben« (ebd., S. 130). Oder wenn die Übereinstimmung mit dem Altersbild oder der Alterskultur, die im Betrieb gelebt wird, fehlt. Gerade in der sich als jung inszenierenden Branche IT kann es hier zu Spannungsverhältnissen kommen.

1.2 Diskontinuität als Kette von Übergängen Diskontinuierliche Berufsbiografien können als eine Kette von Übergängen gelesen werden, die »soziale Zustands- und Positionswechsel markieren« (Stauber, 2013). Zentral ist dabei die »Interaktion zwischen veränderten externen Handlungsanforderungen und Rollenerwartungen an und sich wandelnde Selbstkonzepte des Subjektes« (ebd., S. 29). Übergänge erscheinen in früheren Diskussionen als ›Kontinuitätsbrüche‹ (ebd.), oder ›Statuspassagen‹ (Glaser/Strauss 1971). Dabei wird noch von einer gewissen Linearität des Lebensverlaufs ausgegangen, zumindest was die Abfolge bestimmter Statuswechsel betrifft. So ist der Übergang von der schulischen in die berufliche Ausbildung eine Statuspassage oder der Übergang von der Berufstätigkeit in den Ruhestand. Welzer kritisiert an diesem theoretischen Konstrukt, dass hier »ein weitgehend normatives Statuspassagenkonzept entworfen [wird], mit dessen Hilfe man lediglich sozial unterstützte und regulierte Adaptierungsprozesse beschreiben kann, aber eben kein dynamisch-relationales Übergangsgeschehen« (Welzer 1993) und spricht stattdessen von »Transitionen«. »Der Begriff der Transition erscheint hier angemessener, weil er das Bewegungsmoment gegenüber den Stationen hervorhebt – nicht den Übergang von einem definierten Ort zum anderen steht hier im Vordergrund, sondern viel eher das Bild, dass Bewegungssequenzen ineinander übergehen und sich überblenden. Transitionen bezeichnen demnach sozial prozessierte, verdichtete und akzelerierte Phasen in einem in permanentem Wandel befindlichen Lebenslauf.« (Welzer 1993, S. 37).

Folgt man dieser Definition, wäre die Abfolge und ›Überblendung‹ von Übergängen in diskontinuierlichen Berufsbiografien als Transitionen zu begreifen. Diskontinuität im Lebenslauf ist nicht gleich Diskontinuität. Sie kann aus der Perspektive des Normalarbeitsverhältnisses als Bruch verstanden werden. In der neuen flexibÄlterwerden und die Anforderung an Innovationsfähigkeit und Kreativität in einem Arbeitsbereich, der durch größtmögliche Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet ist?

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern

len Arbeitswelt und der entgrenzten, fluiden Gesellschaft beschreibt Diskontinuität dagegen den Wechsel. Dies kann Freiheitsgrade beinhalten, kann aber auch unter materiellen Aspekten prekär werden. Und der Wechsel in die Arbeitslosigkeit oder ein beruflicher Abstieg ist auch in der schönen neuen Arbeitswelt ein Bruch, der bewältigt werden muss.

1.3 Diskontinuität – Unsicherheit – Alter Nach wie vor gilt in Deutschland das Ideal einer Normalarbeitsbiografie. Unbefristete Vollzeitbeschäftigung ist vor allem im Hinblick auf die sozialen Sicherungssysteme notwendig. Der »Eckrentner« (45 Jahre ununterbrochene Beschäftigung bei einem durchgängigen Verdienst auf dem Niveau des Durchschnittsverdienstes aller Beitragszahler) ist zwar nur eine Rechengröße, hat aber eine große sozialisatorische Kraft. Die Lebensläufe werden in Phasen eingeteilt: die Ausbildungsphase, die Erwerbsphase und die Ruhestandsphase. Während die Bismarck’sche Sozialversicherung noch auf dem Modell des lebenslangen Arbeitens beruhte und lediglich eine Zuschussrente vorsah, wurde der arbeitsfreie Lebensabend in Deutschland in den 1930er Jahren thematisiert. (vgl. Denninger et al. 2014, Göckenjan, 2000)2 . Diese Diskussion um das Recht auf einen arbeitsfreien Lebensabend – nach erbrachter Lebensleistung – wurde in den Nachkriegsjahren wieder aufgenommen, allerdings anknüpfend an die Bismarck’sche Tradition und dominiert von einem »Sicherheitsmotiv« (Denninger et al. 2014, S. 68). Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs werden die Sozialleistungen mehr und mehr als berechenbarer Anspruch wahrgenommen, und nicht länger als unkalkulierbare milde Gabe (vgl. Kondratowitz 1986, Dill/Koblinger 2000). Das Einkommen im Alter wird kalkulierbar auf der Basis der sozialversicherten Beschäftigung. Die Rentenreform von 1957 mit dem Kern der dynamischen Rente, die automatisch an das Lohnniveau angepasst wird, transportierte einen gewissen Wohlstand in die Lebensphase Alter. Unter der Voraussetzung ausreichender Rentenanwartschaften  – erworben durch abhängige, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung  – kann der arbeitsfreie Lebensabend materiell abgesichert werden. Das Normalarbeitsmodell gewinnt damit eine in die Zukunft weisende Komponente. Und umgekehrt wird die diskontinuierliche, bunte Berufsbiografie zu einer Bürde für die Zukunft. Nicht nur die aktuelle Situation ist oft unsicher und ungewiss  – das Alterseinkommen droht prekär zu werden. Das Sicherheitsversprechen der Rentenversicherung bezieht sich zunächst nur auf das Normalarbeitsmodell. Für die Generation der Babyboomer hat dieses Sicherheitsversprechen schon die ersten Risse bekommen. Seit den 1990er Jah2 | Dieser »ruhige Lebensabend« bezog sich nach der herrschenden Ideologie im Nationalsozialismus natürlich nur auf einen Teil der Bevölkerung: den arischen Mann, der sich im Dienst der Volksgemeinschaft aufgeopfert hatte.

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ren werden zunehmend Modelle der privaten oder betrieblichen Zusatzversicherungen propagiert. Auch die Normalarbeiter sollen selbst Vorsorge treffen, sich nicht mehr ausschließlich auf die erworbenen Ansprüche verlassen.3 Gleichzeitig ist die Generation der Babyboomer aber noch mit der Aussicht auf kontinuierliche Beschäftigung sozialisiert worden. Allenfalls der geburtenstärkste Jahrgang 1964 hat die Erfahrung gemacht, dass aufgrund der schieren »Masse« nicht jeder Studienplatz oder Job zu haben war (vgl. Arntz 2013). Nach Franz Xaver Kaufmann streben die Menschen umso mehr nach Sicherheit, »je gesicherter die Bedingungen ihrer Existenz sind« (zitiert nach Sander 2012). Demnach würde eine bewusste Wahl der Diskontinuität dazu führen, dass die damit verbundene Unsicherheit der Lebensbedingungen besser ausgehalten werden kann. Da treten auch die Vorteile der Diskontinuität stärker in den Fokus: »Auch wenn man’s vielleicht leichter im Leben hat, aber manchmal glaub’ ich, dass die Erfahrungen, die man sammeln kann, wenn man nicht den graden Weg, die grade Linie durchgeht, einfach besser ist. Das ist genauso, wenn du durch eine Stadt fährst: Du kannst immer den Hauptstraßen entlang fahren, du lernst aber keine Leute kennen. Sondern du musst einfach durch die Seitenstraßen durchgehen, weil da wohnen nämlich die Leute«, wie es der Interviewpartner Max ausdrückt, der im Folgenden noch genauer vorgestellt wird. Diskontinuität fordert den einzelnen eine hohe Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit (aktuell und zukünftig) ab. Dies bezieht sich nicht nur auf die materielle Situation, sondern auch auf die Planbarkeit des Alltags, des Lebens schlechthin. Auch die sichere, unbefristete Beschäftigung spiegelt oft die Planbarkeit des Lebens nur vor. Trotzdem ist die Kalkulationsgrundlage bei diskontinuierlicher Beschäftigung vager und die Ungewissheit größer. Für das Alter müssen diskontinuierlich Beschäftigte – sofern sie nicht über Vermögen verfügen – Arbeit mit einplanen. Der ruhige Lebensabend, der sich auch für die sozialversichert Beschäftigten nach hinten verschiebt, ist für diskontinuierlich Beschäftigte schwerer erreichbar. Gleichzeitig verschieben sich aber auch die inneren Koordinaten der Individuen. Auch die Grenzen zum Alter werden fluide. Die Altersbilder verändern sich. Ein Lebensabend ohne Arbeit ist nicht mehr das erstrebenswerte Ziel. Ein Lebensabend mit größeren Freiräumen, ohne das Korsett der zeitlichen, hierarchischen und inhaltlichen Vorgaben der Erwerbsarbeit, aber mit selbst gewählten Aktivitäten  – Familie, Interessen pflegen, Bürgerschaftliches Engagement und einen Teil bezahlte Arbeit – gewinnt an Attraktivität. Der ›Alters-Limes‹ (Otten 2009) verschiebt sich. »Das Verwirrspiel um ›Junge Alte‹, ›Neue Alte‹ oder ›50+ Alte‹ hängt mit der simplen Tatsache zusammen, dass Männer und Frauen heute zwischen 50 und 70 Jahren schlicht und 3 | Begründet wird dies von der Politik vor allem mit dem demografischen Wandel und damit dem brüchig gewordenen Generationenvertrag: Rückgang der Beitragszahler auf der einen Seite, Zunahme der Leistungsempfänger auf der anderen.

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern ergreifend nicht alt sind, aber erwartungsgemäß alt sein sollten […] Alter als Merkmal hat sich strukturell nach oben verschoben […] Die Moderne hat den Altersmedian vor unseren Augen allmählich von 50 auf 70 Jahre angehoben. Das soll heißen, die Mehrzahl der Menschen um 70 in unserem Land sollte man betrachten wie Menschen um 50.« (Otten 2009, S. 211f.).

2. D ER G EGENENT WURF – GRÖSSTMÖGLICHE A RBEITSPL AT ZSICHERHEIT IM ÖFFENTLICHEN D IENST Im öffentlichen Dienst in Deutschland gab es im Jahr 2013 rund 3,14 Millionen Vollzeit- und 1,49 Millionen Teilzeitbeschäftigte (vgl. statista.com). Traditionell gilt der öffentlichen Dienst als sichere Beschäftigungsform. Nach einer Forsa Umfrage zur Attraktivität des öffentlichen Dienstes 2011 gaben 84 Prozent der Berufseinsteiger an, den öffentlichen Dienst. wegen des sicheren Arbeitsplatzes gewählt zu haben. Sicherheit hatte bei den Befragten (16- 18jährige Berufsanfänger) ohnehin einen hohen Stellenwert. Das Kriterium stand an erster Stelle der Gründe, die für die Berufswahl angegeben wurden (Bundesleitung des dbb 2011, S. 75). Grabe et al. haben in ihrer Untersuchung der öffentlichen Dienstleistungen ein komplexes Gefüge von Loyalität, und Sicherheit bei Inkaufnahme von Nachteilen gegenüber anderen Arbeitgebern festgestellt. »Unsere Interviews […] zeigen, dass viele Beschäftigte bewusst eine Anstellung im öffentlichen Dienst gewählt haben, weil diese in ihren Augen eine sichere Perspektive bietet. Daraus wiederum leiten sie für sich ihr Engagement für den alltäglichen Einsatz und eine Verpflichtung zur Loyalität ab – und in vielen Fällen auch die Akzeptanz eines im Vergleich zur Privatwirtschaft niedrigeren Einkommens. Dafür erwarten und verlangen sie […] ›Würdigung‹ […]. Sie erwarten, dass der öffentliche Arbeitgeber ihnen einen sicheren Arbeitsplatz gewährleistet und somit Planbarkeit bezüglich der beruflichen Laufbahn aber auch des privaten Bereichs ermöglicht. Auf Basis von Zugehörigkeit ist man einen reziproken Tausch eingegangen: beide Akteure gehen eine langfristige Verpflichtung ein, wobei sie sich wechselseitig auf die Einhaltung der Bedingungen verlassen können.« (Grabe et al. 2012, S. 47f.)

Die materielle Benachteiligung und die vom Arbeitgeber erwartete Loyalität werden im öffentlichen Dienst durch verschiedene mitarbeiterfreundliche Förderprogramme ausgeglichen. In den Verwaltungen bestehen Angebote zu Teilzeitarbeit mit verschiedenen Stundenkontingenten. Work-Life-Balance wird so für junge Eltern ebenso ermöglicht wie für Mitarbeiter mit pflegebedürftigen Angehörigen oder um einem Interesse jenseits der Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Diese Flexibilität gibt es auch beim Übergang in den Ruhestand durch Altersteilzeitmodelle. Die unbefristete, planbare Beschäftigung enthält zugleich ein Sicherheitsversprechen für das Alter. Rente oder Pension sind kalkulierbar. Dazu kommen

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Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote. Der große Nachteil des öffentlichen Dienstes auf Bund- bzw. Landebene, die örtliche Versetzung, besteht bei einem kommunalen Arbeitgeber nicht. Letzterer bietet auch Standortsicherheit. Der öffentliche Dienst als der größte bundesdeutsche Arbeitgeber spiegelt die gesellschaftliche demografische Entwicklung wider. Nach einer Prognos-Studie im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung war 2009 ein Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Bund, Länder und Gemeinden) älter als 50 Jahre. »Der Anteil der unter 35-jährigen Mitarbeiter an allen Mitarbeitern bei Bund, Ländern und Gemeinden/Gemeindeverbänden ist von 36 % im Jahr 1986 auf lediglich 16 % im Jahr 2006 gesunken. Damit ging der Anteil der Nachwuchskräfte im Durchschnitt jährlich um 1 % zurück. Demgegenüber ist der Anteil der Mitarbeiter in den Altersklassen der 45-Jährigen und älter im gleichen Maße angestiegen und in nur 20 Jahren von 34 % auf 56 % gestiegen.« (Robert-Bosch-Stiftung 2009).

Gleichzeitig gilt der öffentliche Dienst als bürokratisch, unflexibel und wenig innovationsförderlich. Bürokratie ist in diversen Umfragen der Spitzenreiter bei der Nennung von Innovationshemmnissen 4 . Für DEBBI waren bei der kontrastierenden Fallstudie öffentlicher Dienst besonders folgende Fragen interessant: Erleichtert die Sicherheit, die der öffentliche Arbeitgeber bietet das Älterwerden? Und/oder erschwert die bürokratisierte Struktur das Innovationsgeschehen gerade aus der Sicht der IT? Im Folgenden wird zunächst am Beispiel von zwei ausgewählten diskontinuierlich Beschäftigten dargestellt, welche Chancen und Risiken in dieser Kette von Übergängen enthalten sind. Dem werden zwei ausgewählte Fallstudien aus dem öffentlichen Dienst gegenüber gestellt.

3. D IE F ALLGESCHICHTEN 3.1 Diskontinuität aus Überzeugung – Die Geschichte von Max 5 Max, Jahrgang 1965, ist ein IT-Pionier mit einer durchwegs diskontinuierlichen Berufsbiografie. Derzeit betreibt er gemeinsam mit seiner Frau eine Firma für Internetsicherheit, an der jeder Ehepartner mit 50 Prozent beteiligt ist. Die Firma 4 | S. hierzu zum Beispiel www.vde.com/de/Verband/Pressecenter/Pressemeldungen/Fachund-Wirtschaftspresse/2009/Seiten/2009-59.aspx oder http://deutsche-wirtschafts-nach richten.de/2012/10/04/umfrage-buerokratie-verhindert-innovationen-in-deutschland/ 5 | Die Namen aller Interviewpartner wurden geändert und die Interviews weitgehend anonymisiert. Das heißt, auch manche Kontextinformationen (z.B. Zahl der Kinder, Arbeitsort) wurden abgewandelt, wenn die Aussagen der Interviewten dadurch nicht verfälscht wurden.

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existiert seit 2001. Weil sie drei Söhne zu ernähren haben und in einer teuren Großstadt wohnen, arbeiten beide noch nebenbei – oder die eigene Firma läuft nebenbei. »Ja, wo fangen wir jetzt da an […] Fangen wir mal bei der Grundschule an. Die Grundschule ist ganz normal verlaufen, ich bin dann aufs Gymnasium gegangen ein halbes Jahr, und dann hat sich entschieden, dass – ich sag’ jetzt mal – ich nicht der orthodoxe Gymnasiast bin. […] Bin damals noch auf die Hauptschule zurück, weil’s damals ja noch keine sechsstufige Realschule gab. Hab’ dann die Fünfte und Sechste in der Hauptschule gemacht, bin dann auf die Realschule gewechselt, Siebte, Achte, Neunte ging eigentlich ganz gut. In der Zehnten hatte ich einen relativ schweren Verkehrsunfall, musste dann die Zehnte noch mal wiederholen, bin aber dann nach dem Halbjahreszeugnis von der Schule gegangen, mehr oder weniger freiwillig. Hab’ dann ein Berufsgrundschuljahr […] fertig gemacht, damit ich wenigstens einen Hauptschulabschluss hab’, denn sonst hätt’ ich den ja auch nicht gehabt. Hab’ dann eine Lehre als Industriekaufmann gemacht, […] Ja, und bin dann oder hab’ dann mein Hobby zum Beruf gemacht; hab’ also erst als […] so ein Mädchen für alles in einem Computerladen […] in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, gearbeitet. Der hat […] nach einem halben Jahr Pleite gemacht, das war nicht so gut. Wobei, da bin ich ja nicht ganz unschuldig dran: Weil ich eben drei Monate mein Gehalt nicht gekriegt hab’, hab’ ich Mitarbeiterinsolvenz beantragt. […] Bin dann nach M. gegangen […] [und habe bei einem] mittelgroßen Distributor angefangen. […] hab’ dann eineinhalb Jahre dort gearbeitet. Und mein Chef, der nette Mensch, der mir da begegnet ist, ist dann […] zu einer amerikanischen [Firma gegangen] und hat mich dann drei Monate später angerufen: Willst du nicht zu uns kommen? […] War dann viereinhalb Jahre bei denen. Der Chef ist dann gefeuert worden, und [seine Nachfolgerin] ist schwanger geworden, und plötzlich war ich der Chef. Das geht manchmal ganz schnell. So. Dann hab’ ich zusammen mit einem Kollegen, eigentlich mit drei Kollegen, eine Firma gegründet, was gründlich in die Hose ging. Bin aber mit einem blauen Auge davongekommen. Dann hab’ ich bei einer Softwarefirma angefangen. Da war ich wieder zweieinhalb Jahre unter festen Brot und Bedingungen, […] Dann war ich aber arbeitslos […]. Und dann hab’ ich [meine Frau] kennengelernt […] und hab’ mich dann wieder selbstständig gemacht. […] Das hat auch wunderbar funktioniert, bis dann 2002, 2003 die richtige Wirtschaftskrise kam damals […] nach der großen Blase. […] Bis 2005 hat das ungefähr angehalten, und dann hab’ ich eine Projektanfrage aus K. gekriegt, die auch recht lukrativ war, das ist dann 2006 und 2007 gewesen, aber Montag bis Donnerstag in K., Freitag, Samstag und Sonntag in M. Und dann musst’ ich die Firma auch noch hier machen, alles ein bisschen stressig. Und dann hab’ ich zu denen gesagt: Entweder wir machen was Gescheites mit einem Angestelltenverhältnis […] Oder wir lassen es sein. Ja, und dann war ich bis 2010 […] bei dieser Firma fest angestellt. Aber da die Manager extreme Misswirtschaft gemacht haben, haben sie gesagt: So, die ganzen teuren Leute, die können wir nicht mehr brauchen, weil, die sind zu teuer. Die müssen wir loswerden. Ja, und dann hab’ ich einen Aufhebungsvertrag unterschrieben, hab’ eine schöne Abfindung mitgenommen, und seit Oktober letzten Jahres bin ich wieder selbstständig. So. Das ist so mein beruflicher Werdegang.«

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Die Geschichte von Max kann als eine Geschichte von Übergängen gelesen werden. Der diskontinuierliche Werdegang von Max beginnt bereits in der Schule. Verschiedene Stationen führen schließlich zu einem Hauptschulabschluss und einer Lehre zum Industriekaufmann. Das sind die einzigen Ausbildungszertifikate, die Max erwirbt. Seinen ›eigentlichen‹ Beruf als IT-Spezialist hat er nicht gelernt. Die nötigen Kenntnisse eignet er sich durch Learning by Doing an. Er macht sein Hobby zum Beruf. »Alles autodidaktisch. Internet gab’s auch noch keins […]. Die erste E-Mail hab’ ich irgendwann gekriegt, 1986? 1987? Da hat man sich noch gefreut, wenn man E-Mails gekriegt hat. Und – ja. Hab’ mich dann von der Programmierung mehr aufs Internet gestürzt und mehr dann zum Schluss auch Internet-Security, also das heißt, ich versuch’, die ganzen bösen Jungs von den Netzwerken fernzuhalten.«

Max ist ein IT-Pionier. In der Frühzeit dieser Technologie und in der Frühzeit des Internets war eine Karriere ohne formale Qualifikation noch möglich6. Die gesammelten Arbeitszeugnisse ermöglichen ihm mittlerweile eine gewisse Formalisierung seiner Kenntnisse. Ansonsten muss er durch sein Fach- und Erfahrungswissen, seine Kompetenz überzeugen. Kenntnisse und Wissen hat sich Max angeeignet. Seine beruflichen Stationen sind ein Wechsel zwischen selbstständiger, freiberuflicher Tätigkeit und Angestelltenverhältnissen. Max wechselt nicht nur die Arbeitgeber/Auftraggeber sondern auch die Orte, an denen er tätig ist. Die Höhen und Tiefen einer solchen Karriere hat Max kennen gelernt: »unter festen Brot und Bedingungen«, »Mitarbeiterinsolvenz«, »und plötzlich war ich Chef«, »arbeitslos«, »in die Hose gegangen«, »selbstständig«. Max erzählt diese Erfolge und Misserfolge gleichberechtigt nebeneinander. Auch wenn es anstrengende Zeiten gibt, das Pendeln zwischen zwei Arbeitsorten beispielsweise, sieht er vor allem die Vorteile seiner bunten Berufsbiografie: »Der direkte Weg, Grundschule, Gymnasium, Studium, Doktortitel ist manchmal sogar der einfachere, aber nicht unbedingt der leichteste. […] Weil du kriegst wesentlich mehr Lebenserfahrung mit, wenn du über Umwege gehst.« Die Umwege, das Autodidaktische und eine spürbare Lust an der Technologie haben bei Max zu einem breiten Wissen geführt. Er ist stolz auf seine Kenntnisse, seine Erfahrung und sein Gespür für die Technik. »Und ich komm’ halt noch von der Schiene: Ich kann halt alles. Also ich hab’ von den Grundzügen eine relativ breite Ahnung. Ich kann’s natürlich nicht mehr im Detail, aber ich weiß noch, wie die Datenbank funktioniert oder wie man das Programm filen könnte. Oder wie 6 | Heute gibt es eine breite Palette von IT-Berufen in der Entwicklung und Anwendung von IuK-Technologien, die neben den akademischen Berufen im IT-Bereich im dualen System erlernt werden können. Siehe dazu etwa www.it-berufe.de/. Die Spezialisierungen werden immer ausgefeilter. www.berufe-lexikon.de/berufsbild-beruf-informatiker.htm.

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern die Hardware funktioniert oder wie der Rechner eigentlich rechnet, das wissen ja die Leute heute gar nicht mehr«.

Die prinzipielle Unsicherheit und Ungewissheit seiner Beschäftigungsform ist für Max persönlich kein Problem. Aber die Notwendigkeit, seine Familie zu ernähren, führt mitunter zu Kompromissen. »So kann ich mir meine Kunden aussuchen, für die ich arbeite, manchmal nicht; manchmal geht’s halt nicht anders, weil du einfach deine Miete zahlen musst. Und dann machst du halt manchmal auch Sachen, die du nicht so gerne machst, aber dann machst du sie halt. Aber das ist in jedem Beruf so«.

Dafür gibt es zwischen solchen »Verdien-Jobs«, wie Max es nennt, Freiräume für die Entwicklung von neuen Produkten, für neue Ideen, die er zusammen mit seiner Frau abends am Küchentisch entwickelt. »Man kann sich nicht auf einem Produkt einfach ausruhen. Also versucht man ständig, irgendwelche Produkte neu zu bauen, von denen man sich versprechen könnte, dass das, wenn das eine Produkt nicht mehr so nachgefragt wird, dass man sich dann parallel immer zwei dementsprechend aufbaut: also eines, das läuft, eines, das man aufbaut. Und wenn das nicht mehr läuft, dann das andere in der Schublade hat, das kann man rausziehen.«

Die Entwicklung neuer Ideen und Produkte ist nicht nur wichtig, um als kleine Firma im Wettbewerb bestehen zu können, sie ist auch wichtig für das Selbstwertgefühl. Allerdings gibt es ein großes Aber. Ein professioneller Vertrieb ist für die Firma zu teuer und damit nicht zu leisten. So bleiben die innovativen Entwicklungen manchmal in der Schublade liegen. Manchmal sind es Auftragsarbeiten und werden als Unikat für einen einzelnen Kunden entwickelt. Die Kredite, die notwendig wären, um so ein Produkt richtig auf dem Markt zu bringen, können und wollen Max und seine Frau Kerstin nicht aufnehmen. Diese Unsicherheit ist ihnen zu groß und sie haben Angst davor, dass das Geld dann nicht mehr für das Leben reicht. Da nimmt Max dann lieber ein Projekt in einer anderen Stadt an und Kerstin jobbt nebenbei in verschiedenen Sekretariaten oder hat gelegentlich ein Engagement in ihrem erlernten Beruf als studierte Konzertpianistin. Für Max ist das Älterwerden in einer sich als jung gerierenden Branche kein Problem. Im Gegenteil: er sieht viele Vorteile im Älterwerden: Erfahrung, Überblick, Dinge schnell einschätzen zu können. »Manchmal sind die [Jungen] überkreativ. Die haben zwar Ahnung, was ihren Fachbereich anbelangt – also ich sag’ jetzt einfach mal Proxys oder Firewalls […] die kennen aber nicht das Gesamte. Ich hab’ eine Kollegin, die […] kennt sich mir Proxys wunderbar aus, hat aber keine Ahnung von Netzwerk. Keinen blassen Schimmer. […]. Also ich hab’ viele Junge auch kennengelernt in dem Projekt, so zwischen 20 und 25, die haben ihre Verträge absolut mies

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Helga Dill ausgehandelt. Okay, das kommt mit der Erfahrung […]. Wenn du einen gewissen Erfahrungshorizont hast und auch weißt, wie Rechner ticken, also wenn du das Ganze kennst […], Im Projektgeschäft oder im Managementgeschäft bräuchte man das schon, um große Sachen zu überblicken. Das können die Jungen meistens nicht. Die Jungen sind zwar billiger, aber viele Unternehmer sagen: Ich zahl’ lieber einen, der’s kann, bevor ich hier Pfusch krieg«.

Mit diesem Selbstbewusstsein geht Max in die Verhandlungen, wenn es um Projekte oder Aufträge geht. Die Kombination zwischen Freiberufler und Firmenchef kommt ihm dabei sicher auch zu Gute. Aber Max fühlt sich ja auch noch nicht alt. Das Alter relativiert sich in seinen Augen je nach dem Blickwinkel. »Man sagt ja auch immer, man ist so alt, wie man sich fühlt. Und manche Dreißigjährige fühlen sich älter, als man selber vielleicht mit fünfzig ist. Solche gibt’s auch. Also ich kann das nicht konkret festmachen. Das hängt auch von dem Blickwinkel ab, wo man’s betrachtet. Wenn man zehn ist, ist natürlich sechzig sehr alt. Oder wenn man zwanzig ist. Aber wenn man selber sechzig ist – alt?« Andererseits überlegt Max, wie lange er noch diese bunte und teilweise atemlose Berufstätigkeit fortsetzen will und kann. »Ja, also ich denk’ schon gelegentlich [über das Alter] nach: Will ich das die nächsten zehn Jahre noch machen? Da denkt man oft drüber nach. Aber ich sag’, solang es mir Spaß macht, mach’ ich das. Und es kommen ja immer wieder neue Aufgaben dazu, so ist es nicht. Man entwickelt sich ja weiter. Du bist ja nicht immer technikfixiert […] schrauben und unterm Tisch rumkrabbeln, dafür hast du inzwischen andere Leute, die machen das. Das möcht’ ich auch nicht machen. Manchmal mach’ ich’s gern, aber die ganze Zeit – wird schwierig. Ich hab’ schon ungefähr eine konkrete Vorstellung, was ich in zehn Jahren machen will oder was ich ändern will in diesen nächsten Jahren: Gehen wir mehr auf Projektmanagement, gehen wir doch wieder mehr auf Programmierung? Vermischung, das wär’s eigentlich. Und das versuch’ ich immer zu finden und hab’s bisher auch immer gefunden.«

Dazu kommt die Frage nach der Alterssicherung. Das Beispiel von Max macht deutlich, dass er aktuell zwar immer unter dem Druck steht, genügend Geld zu verdienen, um die Familie zumindest mit zu ernähren, gleichzeitig aber auch Rücklagen für die Zukunft, den arbeitsfreien Lebensabend bilden muss. »Doch, ist alles geplant. Erstens die Abfindung von der einen Firma. Dann: ich leg’ meine Kohle zurück; und wenn’s mal ein bissl schlechter ist, dann wird ein bissl auf die Kohle zugegriffen, wenn’s wieder gut wird, dann wird wieder ein bissl angespart. Wir überlegen, uns nächstes Jahr eine Immobilie zu kaufen, die wir erst mal vermieten, was ja steuerlich wieder besser ist. Also das ist so im Prozess.«

Bei allem Optimismus, den Max ausstrahlt, macht dieses Zitat auch deutlich, dass die Altersvorsorge einer permanenten Anstrengung bedarf.

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3.2 Diskontinuität am Rande der Prekarität – Die Geschichte von Beatrix Beatrix, Jahrgang 1964 ist alleinerziehende Mutter zweier (fast) erwachsener Töchter. Sie arbeitet freiberuflich als Grafikerin/Webdesignerin und Programmiererin. »Nach dem Schulabschluss hab’ ich so mehr oder weniger unsicher erst mal Englisch studiert, aber nur ganz kurz; und dann bin ich auf die Meisterschule für Mode gegangen, hab’ da Diplomgrafikerin gemacht, also Modedesign und Grafikdesign. Danach hab’ ich kurz in einer Agentur gearbeitet, vielleicht so sieben, acht Monate, dann habe ich ein Kind gekriegt, dann hab’ ich noch ein Kind gekriegt, also innerhalb von eineinhalb Jahren. Und danach, wie die Kinder noch sehr klein waren, hab’ ich bei einer Kunstmalerin gelernt, hab’ auch bei ihr gearbeitet, soweit das halt ging mit den Kindern. Und dann hab’ ich eine Fortbildung gemacht, so eine Berufswiedereingliederung übers Arbeitsamt […]. Dann war ich an dieser Akademie, hab’ da so ein digitales Publishing [gelernt], das ist so ein Rundumschlag am Computer, wo man alle Bereiche irgendwie streift. Und da kam dann einer, der hat Leute gesucht für seine Firma, und da hab’ ich dann gearbeitet als Grafikerin, war aber auch immer so ein bisschen mit der Programmierung befasst, hat mich auch interessiert. Und dann ist diese Firma nach zwei Jahren […], [als] diese Internetblase geplatzt [ist], da ist diese Firma auch dabei geplatzt. Und ich hab’ aber [wieder] einen Auftrag bekommen. […]. Meistens waren das Leute, die damit auch irgendwo in Zusammenhang standen. Also ich hab’ mich eigentlich nie beworben, bin immer irgendwie so zu einer Arbeit gekommen. […]. Es hat immer komischerweise gepasst, hoffentlich wird das weiterhin so bleiben. Ja. Und ich hab’ also da das Programmieren, was ich jetzt auch sehr viel mache, also mindestens 50 Prozent, ja, das hab’ ich eigentlich so nebenbei irgendwie […] gelernt. […] Also ich mach’ halt Internetseiten.«

Beatrix hatte bereits während der Suche nach dem passenden Beruf ihre Kinder bekommen. Daraufhin musste sie vor allem Geld verdienen, aber gleichzeitig eine Art der Berufstätigkeit finden, mit der sie Kinder und Erwerbstätigkeit vereinbaren konnte. Eine bewusste Karriereplanung erschien ihr in dieser Situation nicht möglich zu sein. Die Möglichkeit, als Webdesignerin selbstständig zu arbeiten, kam ihr da entgegen. »Ich find’ das eben schon auch sehr anspruchsvoll, alleinerziehend die Familie zu ernähren, und da hatte ich jetzt nicht so den Spielraum irgendwie, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Sondern ich hab’ einfach mal geschaut, wie’s geht. Ist vielleicht nicht richtig, aber so war’s zumindest. […] Seit 2003 bin ich jetzt selbstständig, ja. Hab’ dann bis 2007/8 eigentlich hauptsächlich für einen gearbeitet; also schon für mehrere, aber hauptsächlich für einen. Und seit 2008, glaub’ ich, arbeite ich für verschiedene Kunden.«

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Beatrix trifft das Schicksal der Alleinerziehenden. Trotz ihrer Qualifikation und obwohl sie auch mit Kindern immer gearbeitet hat, reicht das Geld nur knapp zum Leben. Ohne ihr Netzwerk wäre das Überleben schwieriger. »[…] also ich bin ja alleinerziehend und hab’ aber immer irgendwie Leute kennengelernt, die mich unterstützt haben. Jetzt halt nicht so finanziell, aber zum Beispiel, wenn ich ein Auto brauch’, dann leih’ ich mir das halt immer von meinem Freund. Und wenn wir einkaufen gehen, dann zahlt er ganz oft. Weil er halt weiß, dass ich kein Geld hab’. Also insofern […] Wenn ich natürlich ganz viel arbeite und ganz wenig eigentlich dann hängenbleibt […] Also die Frage [ob ich davon leben kann] ist nicht so eindeutig zu beantworten. Aber es geht schon irgendwie. Und, mei, es gibt ganz viele Sachen gebraucht. Und wenn man sich ein bisschen umschaut, gibt’s ganz gute Sachen: geschenkt, gebraucht, und so weiter. Und freundliche Leute, die einem irgendwie weiterhelfen. […] Also ich leb’ wirklich ziemlich von der Hand in den Mund. Wenn ich gar keine Arbeit hätte, könnte ich zwei Monate grade knapp leben, und dann hab’ ich überhaupt kein Geld mehr. Also das heißt, ich muss schon immer echt schauen – und ich hoffe, dass das so bleibt: dass dann doch immer wieder was kommt.«

Bei diesem Leben »von der Hand in den Mund« ist die Absicherung des Alters ein Problem, das Beatrix für sich darüber löst, dass sie auf die gesellschaftliche Unsicherheit im Allgemeinen verweist. »Also ich hab’ das Glück, dass ich in der KSK 7 bin, das heißt, die zahlen für mich meine Rentenbeiträge. Das wurde jetzt irgendwie so alles nachgerechnet, was ich eigentlich krieg’ mit Kindererziehungszeiten, ich krieg’ dann, wenn ich bis zum 65. Lebensjahr weiterarbeite, 458 Euro. […] Also mit der Absicherung ist es jetzt nicht so. Aber ich denk’ mir halt, also die Leute, die jetzt ganz viel Geld haben und total nervös sind, weil sie Angst haben, dass sie das alles verlieren, da denk’ ich mir, na ja mei, ich hab’ halt kein Geld. Also in dieser Zeit jetzt grade, da denk’ ich mir auch, mit der Rente, mei […] Auch wenn ich jetzt tausend Euro, wenn die mir sagen, dass ich zu kriegen habe – was dann sein wird, wenn ich 65 bin oder 67, das weiß ja eh keiner.«

Die selbstständige Tätigkeit, aber auch die Arbeit im Internetbereich machen es notwendig, sich permanent auf dem neuesten Stand zu halten, kontinuierlich zu lernen. Das kostet Zeit und wird nicht bezahlt. In diesem Punkt sieht Beatrix das Älterwerden, vor allem in der IT-Brache, als Nachteil an. »Ich hab’ diese Weiterbildung gemacht und bin ja eigentlich ständig am Lernen. Das heißt, nach ein paar Jahren […] bin ich in vielen Dingen veraltet. Und die Jungen, die können das alles besser. Also die haben eine ganz andere Basis. Und das find’ ich ziemlich tragisch bei mir an der Geschichte. […] Es ist halt, wenn man, weiß ich nicht, Kindergärtner oder so was ist, dann lernt man ja mit der Erfahrung, da muss man nicht ständig von neuem was 7 | Künstlersozialkasse

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern lernen. Also man muss ich sicher auch über die Dinge immer wieder informieren und aktuell bleiben, aber im Grunde gibt’s Berufe, wo man mit Erfahrung einfach immer besser wird […] und bei mir ist es so, dass die Erfahrung jetzt nicht so viel zählt, sondern ich muss immer total mithampeln und -radeln, dass ich aktuell bleib’. Weil sich das so schnell weiterentwickelt. Und damit ich da nicht völlig veraltete Sachen mach’ – ja, es werden immer wieder neue Anforderungen gestellt. Jetzt mit den Handys, dass man mit denen auch ins Internet kann. Das muss man jetzt, wenn man so eine Seite macht, auch berücksichtigen.«

Beatrix hat den IT-Bereich nicht freiwillig gewählt. Es war für sie eine Chance, ihre Grafikkenntnisse einzubringen. Die Arbeit macht ihr über weite Strecken auch Spaß, aber das Veränderungstempo empfindet sie als anstrengend. »Na ja, […] es macht mir schon auch Spaß. Also dieses Programmieren. Ich hatte mich auch an der TU angemeldet für Physik und wollte eigentlich Umwelttechnologie studieren, aber dann hat mich die Modeschule noch mehr interessiert. Aber das Rechnen und Denken und Programmieren, das macht mir schon auch viel Spaß. […] aber ich find’s halt sehr anstrengend. Ich werd’ halt älter, und ich merke, dass mein Elan, mich immer wieder auf was Neues einzulassen, so ein bissl schwindet […]. Ich mein’, das interessiert mich, das macht mir auch Spaß, Internetseiten macht mir total Spaß. Und was gestalten. Das tu’ ich einfach total gern. Da muss ich mich gar nicht motivieren. Da freu’ ich mich, wenn ich dann eine Gelegenheit hab’, was zu machen. Und alles ist eine neue Herausforderung, und ich lern’ immer was.«

Ähnlich wie die Notwendigkeit zur Weiterbildung, gehört zu ihrer Arbeit ein guter Kontakt zu den Kunden. Und Kreativität ist ein wesentliches Element für die Gestaltung von Webseiten. »Ein klares Briefing ist gut. Einen guten Kontakt zu den Kunden. Also ganz schlimm find’ ich es, wenn’s über zwei Ecken geht, […] das ist ein totaler Mist; direkten Kundenkontakt find’ ich total wichtig. […]. Und Zeitdruck ist manchmal hilfreich, find’ ich, weil Entscheidungen schneller gefällt werden, wenn ein bissl Zeitdruck ist, und manchmal nicht […]. Es ist auch wichtig, sich in ein Thema einzuarbeiten. Und dann merk’ ich, die ersten Entwürfe sind nicht so gut. Und wenn ich mich länger, als mir lieb ist, damit beschäftige – also ich brauch’ ziemlich lang, bis ich persönlich in einem Thema drin bin. […] Ich brauch’ lang, bis ich mir sicher bin, dass ich das verstanden hab’, was der andere will und meint und wie das läuft, damit ich auch wirklich damit hantieren kann.«

Das Verstehen des Kunden und seiner Arbeit, um die passende Gestaltung, das passende Gesicht im Netz für den Kunden zu entwickeln macht Arbeit, die Beatrix nicht vollständig in Rechnung stellen will. Die kreativen Ideen, die sie so entwickelt, werden nicht bezahlt – im Gegenteil. Durch die Vertragsgestaltung fühlt sich Beatrix nicht selten »über den Tisch gezogen.«

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Helga Dill »Ja, und das mit dem Kreativsein ist ja auch, also das ist ja teilweise echt unbezahlbar. Eine gute Idee, mit der kannst du ja […] sehr viel Geld […] verdienen. Und ich hab’ auch schon Verträge unterschrieben, wo ich einfach sämtliche Rechte an allem für immer und ewig abtrete und auch nicht mal so ganz viel dafür gekriegt hab’ […]. Und das find’ ich, da werden die Kreativen nämlich schon auch oft ganz schön […].«

Ihren Wettbewerbsvorteil durch die Doppelqualifikation Design und Programmierung führt Beatrix zwar ins Feld. Sie kann ihn aber nicht in entsprechende Preisgestaltung umsetzen. »Ich hab’ eine Ahnung von Design und ich hab’ eine Ahnung von Programmierung. Und das ist nämlich meistens so, dass gute Programmierer eben keine Ahnung von Design haben und Designer keine Ahnung von Programmierung. Und da denk’ ich, wenn das eine Person macht, dann fallen schon mal viele Probleme auch weg. Also das versuch’ ich jetzt so als den Vorteil bei mir zu betonen.« Beatrix ist in vielen Bereichen kreativ tätig: sie malt, töpfert, macht Musik, arbeitet künstlerisch mit Kindern. Das Gestalten der Webseiten ist nur ein Teil ihrer Kreativität. »Ich würd’ alles gerne zu meiner Professionalität machen, also zu meiner Hauptbeschäftigung. Das muss ich noch sagen zu der Kreativität. […] Also wenn ich töpfere, dann komm’ ich in so was ganz Tolles, Ruhiges rein. Und wenn ich das übertragen könnte auf alle anderen Bereiche, das wär’ ganz wunderbar. Aber da hab’ ich so den Eindruck, da ist was, da fließt irgendwas ganz gut. Also ich finde, man braucht Ruhe, man braucht Abwechslung – ich brauch’ das. Ich brauch’ nämlich alles.«

Das Älterwerden und das Alter sieht Beatrix ambivalent – als Chance durch Lebenserfahrung und Wissen Neues anzugehen, aber auch als bedrohlich durch den körperlichen und/oder geistigen Verfall. »Ja, mei, ich werd’ halt älter. Und ich stell’ jetzt fest, dass man viele Dinge einfach ganz anders begreift, wenn man eben schon ein Stück Leben hinter sich hat. […] Ich find’, es gibt auch noch so viele Sachen, die mich interessieren, die ich noch beobachten möchte, die mir ja auch jetzt erst klar werden. Und insofern glaube ich, dass es schon immer ganz spannend bleibt. Oder auch eben zu sehen, wie dann die anderen, die nächsten Generationen daherkommen und wie die drauf sind. Und auch wie ich mich entwickeln werde, was ich dann wichtig finde. Und was für Menschen ich noch treff’ und so was. Aber ich […] glaub, das muss man sich auch immer wieder vorsagen, dass das, was man heute tut, dass das die Basis ist für […] wenn man alt ist. […] Ja. Und deswegen versuch’ ich auch, so wenig Sorgen wie möglich mir zu machen. Über die finanzielle Zukunft zum Beispiel. […] Aber wenn man alt ist, dann muss man sich halt leider damit abfinden, dass der Körper nicht mehr eine so gemütliche Aufenthaltsstätte ist. […] Ich orientier’ mich ein bissl an meinen Eltern. […] und ich find’ es schon sehr interessant zu sehen, wie […] ja, dass das Leben […] so ein bisschen dünnflüssiger wird irgendwie. Also […] dass alles langsamer geht.[…] Meine Mutter, die ist auch total kreativ, aber die hat sich da irgendwie abgewandt. Und da hoff’ ich, dass ich das besser mach’.«

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern

3.3 Entwertete IT-Pionierin – Die Geschichte von Roswitha Roswitha, Jahrgang 1960, hat bisher ihr gesamtes Berufsleben im öffentlichen Dienst verbracht. Sie begann nach der mittleren Reife als Verwaltungskraft im Büro einer großen Kommunalverwaltung und ist mittlerweile freigestellte Personalrätin. »Ich wollt’ eigentlich Automechanikerin oder Schreinerin oder so was werden. Aber das [war] zu der Zeit schier unmöglich. Aber na ja gut, dann hab’ ich die Chance ergriffen und bin bei der Behörde angefangen. Hab’ dann im Ausländeramt Ausweisungsbescheide und Asylanträge geschrieben. Das war eigentlich auch eine sehr interessante Tätigkeit. Also wirklich, da mit Menschen in Verbindung zu kommen, die straffällig geworden sind, und die anderen, die Hilfe gesucht haben. Also das war schon mal interessant. Hab’ dann den Angestelltenlehrgang I besucht und bin dann ins Einwohnermeldeamt gekommen, also mit Parteiverkehr. Und, na ja, hab’ dann gedacht, jetzt reicht’s auch wieder, und bin dann in die Gehaltsabrechnung gegangen, hab’ Lohnabrechnungen gemacht und hab’ dann währenddessen den Angestelltenlehrgang II gemacht, also sprich dann die gehobene Laufbahn eingeschlagen. Ja, und irgendwann mal kam das Angebot, dass die ein neues Gehaltsabrechnungsprogramm selbst auf die Füße stellen wollen […]. Dann denk’ ich mir, ja, okay, das ist deine Chance, gehst du mal in die EDV. Und, ja, da bin ich dann 1989 gelandet. Das fachliche Wissen, das fachliche Know-how war da, und dann hab’ ich halt quasi das Programmieren gelernt, so mit einer halbjährigen Ausbildung. Ja, und seither bin ich in der IT. Genau. Das war damals noch möglich, sich das so anzueignen. Ist auch gegangen. Wir haben auch ein wunderbares Programm, dem man heute noch hinterherweint, fertiggestellt […]. Heute müssen sie in SAP alles machen, und das ist nicht so gut, ist nicht so geeignet für den Öffentlichen Dienst. […] Ja, dann war das Projekt halt quasi gestorben, weil man SAP gekauft hat. Und dann gab’s ein neues Projekt. Also ich war dann Führungskraft, und dann war ich Projektleiterin für ein neues Projekt, und irgendwie – aber man hat mir eigentlich meine Kompetenzen weggenommen als Führungskraft, und das hat mir keinen Spaß mehr gemacht. Ich war gerne Führungskraft, und ich war aber immer schon Personalrätin. Und dann hat sich die Gelegenheit ergeben, mich freistellen zu lassen, und ich hab’ dann nur noch die Personalratsschiene eingeschlagen. Und bin immer noch freigestellt, also ich mach’ jetzt nur noch Personalrat. Genau. So war das.«

Auch Roswitha ist in gewisser Weise eine IT-Pionierin. Mitte der 1980er Jahre wurde in der Verwaltung für bestimmte Arbeitsgänge Software eingesetzt, die die Mitarbeiter der damaligen IT-Abteilung selbst programmiert haben. Die Verwaltungsfachleute wurden dafür in Programmierlehrgänge geschickt, teilweise bei großen Soft- und Hardwareherstellern. Sie lernten eine Programmiersprache und übersetzten die analogen Arbeitsschritte in ein Programm. »Das fachliche Wissen, das fachliche Know-how war da, und dann hab’ ich halt quasi das Programmieren gelernt, so mit einer halbjährigen Ausbildung. Ja, und seither bin ich in der IT. Genau. Das war damals noch möglich, sich das so anzueignen. Ist auch gegangen«.

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Dieses Pionierdasein hat die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich die ITKenntnisse angeeignet hatten, mit Stolz erfüllt. Mit der zunehmenden Professionalisierung in der IT genügten die handgestrickten Programme nicht länger. In der untersuchten kommunalen Verwaltung wurde die Software zunehmend von außen eingekauft. Mittlerweile werden mehr und mehr Informatiker mit Universitätsabschluss eingestellt. Diese werden von den gelernten Verwaltungsfachleuten als Externe begriffen. In der Verwaltung kristallisiert sich weniger der Gegensatz alt/jung als Gruppenkonflikt heraus, stattdessen der Gegensatz intern/extern. »Also was sehr auffällt, sind die verschiedenen Kulturen. Also Kolleginnen und Kollegen, die von extern kommen, und Kolleginnen und Kollegen, die unsere Verwaltungskultur haben. Also das ist sehr auffällig.[…] Da gibt’s sehr viel Knackpunkte. Aber in den Teams [ist] alt und jung überhaupt kein Thema.«

Die Externen – sowohl die neuen Kollegen, die als IT-ler eingestellt werden, als auch die von außen eingekauften Dienstleistungen im IT-Bereich – begreift Roswitha in gewisser Weise als Bedrohung. Sie empfindet es als entwertend, wenn die Verwaltungsexperten mit angelernten IT-Kenntnissen von IT-Experten mit angelernten Verwaltungskenntnissen abgelöst werden. Sicherheit ist für Roswitha ein entscheidendes Kriterium, bei ihrem Arbeitgeber zu bleiben, obwohl ihr Traumberuf ein ganz anderer war und immer noch wäre. »Die Frage war damals nach, […] zwei, drei Jahren, wo das dann gekommen ist, dass man sagt, okay, Frauen können schon mal in Lehrberufen anfangen, grad als Schreinerin oder so was, […] da kam das dann schon mal zu sagen, okay, fang’ ich dann noch mal an. Aber […] ich konnte mir da schon ein Auto leisten und, lauter so Dinge. Und schon Urlaube. […]. Da haben die Anderen noch sich ausgebildet und haben gesagt. Oh, was, du kannst schon da fortfliegen! Und dann sollten sie noch mal zurück […] Also der Weg, der war für mich dann schon ausgegangen.«

Und mittlerweile ist die Arbeitsplatzsicherheit wichtiger als die Arbeit in einem Traumberuf. »also das kann ich mir nicht erlauben, die Sicherheit einer Verwaltung aufzugeben«. . Die Sicherheit des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst ist aber keineswegs verbunden mit einer feststehenden Aufgabe, die das gesamte Berufsleben gleich bleibt. Roswithas Berufsbiografie ist bunt, gekennzeichnet von häufigen Wechseln des Arbeitsplatzes und des Arbeitsgegenstands: Ausweisungsbescheide und Asylanträge bearbeiten, Einwohnermeldeamt mit Parteienverkehr, Gehaltsabrechnung, Softwareentwicklung, Personalvertretung sind die Stationen, die sie bisher durchlaufen hat. Die Ablösung der Verwaltungsexperten mit angelernten IT-Kenntnissen durch externe IT-Experten, die sich jetzt die Verwaltungskenntnisse anlernen

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern

müssen, empfinden Roswitha und viele ihrer Kollegen als Entwertung ihrer bisherigen Arbeit. Dieses Verhalten des öffentlichen Arbeitgebers ist sozusagen nicht Bestandteil des impliziten Vertrages, den sie eingegangen sind. So beklagt Roswitha: »[…] aber man hat mir eigentlich meine Kompetenzen weggenommen als Führungskraft, und das hat mir keinen Spaß mehr gemacht.« Roswitha würde die Personalvertretung gerne die Jahre bis zur Rente weiter machen. In die IT möchte sie »definitiv« nicht mehr zurückkehren. »Weil so im Großen und Ganzen, die IT ist interessant, aber mich hat damals eigentlich der fachliche Aspekt, die Gehaltsabrechnung, zur IT gebracht und nicht die IT selber«. Sollte es mit dem Personalrat nicht klappen, würde sie lieber wieder »die Verwaltungsschiene« einschlagen. Materielle Absicherung ist für Roswitha kein Thema – weder aktuell (da geht es ihr mehr um die Arbeitsbedingungen), noch im Alter. Die Sicherheit des öffentlichen Dienstes befreit von diesen Sorgen, die Max und Beatrix begleiten. Insofern sieht Roswitha das Älterwerden entspannt. »Manchmal denk’ ich mir, mein Gott, wie schnell die Zeit vergeht. Auf der anderen Seite denk’ ich mir, mein Gott, das ist so. Und so, wie ich jetzt dasitz’, ich denk’, […] eigentlich bist du ja noch jung irgendwo. […] Das Einzige, ich möcht’ nicht so werden wie meine Mama im Alter, weil die bloß daheim sitzt und nichts tut. Aber da, glaub’ ich, bin ich anders. Also indem ich eh schon mehr unternehme.«

3.4 Bunte Berufsbiografie mit aufsteigender Tendenz – die Geschichte von Ansgar Ansgar, Jahrgang 1965, ist Beamter in der Kommunalverwaltung. Nach verschiedenen Stationen ist er derzeit Leiter der IT-Abteilung im Personalwesen. »Ich seh’ mich weniger als ITler. Also ich bin ja Beamter und hab’ eine klassische Beamtenausbildung, also Studium, Beamtenfachhochschule. […] Vorher habe ich schon mal ein längeres Praktikum gemacht bei der Verwaltung und zwar bei der DV-Fortbildung, jetzt heißt es IT-Fortbildung; also tatsächlich im technischen Bereich. […] Das war ein ganz neues Sachgebiet. Ich hätte das Studium auch nicht gepackt, wenn ich nicht gewusst hätte, ich hab’ eine gute Chance, da wieder hinzukommen. […] War dann sieben Jahre tatsächlich in der IT, allerdings jetzt weniger als IT-Schaffender im Sinne von Programmieren oder Hardware und Software; das war zwar auch mit dabei, aber der Schwerpunkt war in der Organisation von Fortbildungsmaßnahmen, also durchaus IT-lastig, aber auch personalentwicklungslastig. […] Irgendwann ist mir das zu eng geworden, und man will dann auch mal weiterkommen, und ich war dann viele, viele Jahre in komplett anderen Bereichen: zuerst Verwaltungsreform, wo die IT eigentlich überhaupt keine Rolle gespielt hat, abgesehen vom täglichen Handwerkszeug. Danach ist die komplette Einheit in der Organisationsberatung aufgegangen. […] Da war ich Teamleiter dann schon. […] Und dann hab’ ich gewechselt zum Neuaufbau des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Das war klasse. Das hab’ ich fünf

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Helga Dill Jahre gemacht, von der grünen Wiese bis zum Konzept. […] Und dann war ich ein Jahr als Beamtenvertreter im Personalrat. […] Und musste dann wieder untergebracht werden. Ich bin dann als Dispositions- oder Unterbringungsfall, was ja einen ganz schlechten Ruf hat, hier in die IT. Und insofern war das, Gott sei Dank, nicht ganz so fremd hier. Aber bei mir ist der Managementaspekt praktisch nahe bei 100 Prozent und der IT-Aspekt, dafür hab’ ich meine Leute. […] Ich hab’ zwar alles mal gemacht, war auch Programm-Administrator, das ist nicht das Thema, alles in dieser Zeit bei der IT-Fortbildung. Aber abgesehen von rudimentären Kenntnissen und einer gewissen Vorstellung, wenn die über eine Datenbank reden oder über den Server – ja, aber das war’s auch. Aber was die Dynamik anbelangt und die Veränderungen und das alles, da war ich tatsächlich immer relativ dicht dran. Diskontinuität – viele würden Ihnen sagen: Wir haben das grade auch in der IT«.

Ansgar charakterisiert seine Berufsbiografie als diskontinuierliche, was insofern stimmt, als er verschiedene Arbeitsbereiche innerhalb der Verwaltung kennen gelernt hat, ohne den Arbeitgeber zu wechseln und ohne materielle Unsicherheit. Seine häufigen Wechsel der Arbeitsinhalte waren mit einem stetigen Aufstieg in der Verwaltungshierarchie verbunden. Auf seiner aktuellen Position hat er Personalverantwortung über eine große Abteilung und ist an der strategischen Ausrichtung der IT mit beteiligt. Anders als Roswitha sieht Ansgar die Professionalisierung durch externe Informatikerinnen und Informatiker als notwendig und längst überfällig an. »Es ist festgestellte worden, dass viele Personen suboptimal geeignet sind für die Jobs in der IT, weil wir nie – oder nur in sehr geringem Maße – Knowhow von außen eingekauft haben. Wir haben praktisch Leute, wie ich früher einer war – es gab die böse Bemerkung: ›aufgeschlaut‹. Das darf man intern nicht mehr sagen. Aber wir haben die halt so weiterqualifiziert, dass die dann programmieren konnten, dass die ein IT-Projekt leiten konnten, dass die Prozesse gemacht haben. […] Aber das war halt alles, sag’ ich mal, hemdsärmlig, selbergestrickt und hat mal mehr, mal weniger gut funktioniert. […] Und jetzt machen wir’s halt richtig. […] Und ich würde sagen, wenn Sie einige Protagonisten fragen, würden die tatsächlich eine Diskontinuität empfinden. Weil die mussten – ich hab’ hier ganz viele Leute jetzt bei mir, die machen einen komplett anderen Job als vorher. Es ist zwar noch in der IT, aber die machen jetzt eine Kundenbetreuung. Da hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun.«

Durch seine Erfahrungen, die er in den verschiedenen beruflichen Stationen in der Verwaltung gesammelt hat, beschreibt sich Ansgar als multiqualifiziert. »… also ich bin Organisator, ich bin Veränderungsmanager, ich bin Gesundheitsmanager …«. Als Manager ist Ansgar mit den neuen Steuerungsprozessen hoch identifiziert. Er schreibt einen großen Anteil an dieser Entwicklung der IT zu. »Die Fachbereiche haben den Sprung in die neue Zeit […] noch nicht wirklich gemacht. […] Wir haben ja jetzt das Thema Kundenorientierung deutlich prominenter platziert, wir haben

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern professionelle Prozesse aufgelegt im Innenverhältnis der IT, die aber auch Schnittstellen zu den Prozessen der ›normalen Verwaltung‹ brauchen, […] und die ersten Aktivitäten laufen, insbesondere auch im Prozessmanagement; […] Die IT macht das jetzt, und wir versuchen, danach zu arbeiten.«

Ansgar sieht in den durch die Professionalisierung des IT-Bereichs angestoßenen Prozessen die Chance, den »Investitionsstau« der Vergangenheit anzugehen. So sind viele heute selbstverständliche Kommunikationswege in der Verwaltung noch verschlossen. »Praktisches Beispiel: Zugriff von beurlaubten Dienstkräften auf das Intranet. Da sagt man: Ja, wo ist denn jetzt eigentlich das Problem? Das geht technisch nicht! Weil wir eine so veraltete Hardware haben, dass es nicht möglich ist, einer beurlaubten Dienstkraft den Zugriff auf das Intranet [zu geben]. Bei jedem modernen Thema der IT sagen wir: Das geht bei uns noch nicht. Weil wir die letzten zehn Jahre verschlafen haben.« Den Nachteil dieses Modernisierungs- und Professionalisierungsschubes erkennt Ansgar als Personalverantwortlicher vor allem darin, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht intensiv genug mitgenommen werden. »Ich behaupte jetzt mal so aus dem Brauch raus von den IT-Schaffenden, haben wir wahrscheinlich deutlich über 20 Prozent in der inneren Kündigung grade, aufgrund der Prozesse, die passiert sind. Das ist dramatisch.« Die innere Kündigung ist vor allem verursacht durch die Entwertung der ITArbeit der internen, angelernten Kräfte und die Aufwertung der externen studierten IT-ler. »Wahrscheinlich ist das so, dass […] auch ein verwaltungsinternes Pflänzchen, das Spezialist geworden ist zum IT-Thema X, sehr wohl innovativ sein kann. Aber dass vielleicht ein Informatiker […] durch Studium ein pauschal höheres Maß an IT-Innovationsfähigkeit hat, das mag durchaus sein, ja. Aber das allein bringt ja auch noch nichts. Ich muss mich ja immer noch – das ist für mich immer die Frage: Ein Verwaltungsmitarbeiter [sollte sich] aus meiner Sicht zunächst als Verwaltungsmitarbeiter sehen […] weniger als Informatiker.«

Nichtsdestotrotz ist der IT-Bereich auch der Bereich, in dem Ansgar große Chancen für Kreativität und Innovation sieht. »Wenn ich jetzt […] als Analogie das Thema Gesundheitsmanagement [nehme]. Irgendwann hat die Kommune gesagt, wir müssen uns jetzt mal aufstellen zu diesem Thema, das grade anfängt, als kleines Ferkel durchs Dorf getrieben zu werden. Nehmen wir uns dieses Ferkels an und schauen wir mal, was wir draus machen […] und wir hatten eine grüne Wiese und einen Auftrag: Macht was draus! Das ist die Voraussetzung für Innovation überhaupt! […] Und ähnlich ist ja jetzt die Situation bei der IT auch gewesen. […] eigentlich ist der gewöhnliche […] IT-Mitarbeiter ein innovationslastiger eher. Weil sie in der IT ständig gezwungen sind, nach der nächsten Hard- und Software-Generation zu schauen. […]. Also wie gesagt, angefangen hab’ ich ja in der IT. Ich hab’ die ersten PCs aufgestellt, ich hab’ den ersten

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Helga Dill Seminarraum mit PCs ausgestattet, damals noch als Praktikant. Und jetzt schauen wir mal, was daraus geworden ist […]. Wir sind [heute] wie jedes andere Logistikunternehmen inzwischen hundert Prozent abhängig von der IT.«

Für Ansgar war die aktuelle Position in der Verwaltung zunächst wenig schmeichelhaft. Er galt als Versorgungsfall mit Anspruch auf Personalführung und wurde dann in die Leitungsposition in der IT gesetzt. Mittlerweile ist er mit dieser Aufgabe hoch identifiziert und sehr zufrieden. »Jetzt hat man als ITler, der ich ja jetzt bin, auch wenn Sie das merken, das bin ich ja nicht wirklich, den Vorteil, dass das nach wie vor für unsere herausgehobene Hierarchie ein Buch mit sieben Siegeln ist. Die können damit nichts anfangen. Was dazu führt, dass ich hier einen noch höheren Autonomiegrad hab’ als bei all den Sachen, die ich vorher hatte. Also insofern, […] so schnell geh’ ich jetzt hier nicht weg. […] Der Status und die persönliche Karriere gehören dazu, da ist für mich noch ein Weiterkommen möglich. Das [ist] ja beamtenrechtlich immer alles superklar und einfach. […] Dann und dann krieg’ ich meine Beförderung, die halt diese Stelle hier nicht kriegt, aber ich werd’ mich nicht umschauen nach dem nächsten, sondern dann möcht’ ich wieder was Querschnittsbezogeneres machen. IT ist zwar auch Querschnitt, und es ist total spannend, aber so Personalentwicklung, Personalwirtschaft, also irgendwas […] Das hat mir immer viel Spaß gemacht.«

Die hohe Identifikation mit der Arbeit und seine ausgeprägte Karriereorientierung führen zu einem enormen Arbeitspensum, das Ansgar bewältigen muss. Eine 50-Stunden-Woche ist normal. Nach einem gesundheitlichen Problem im Jahr zuvor beginnt Ansgar seine Dienstbereitschaft ein wenig zu überdenken – hin und hergerissen zwischen seiner dienstlichen Verantwortung und den Belastungen. »Mein angeborener Fatalismus hat sich deutlich eingetrübt dadurch. Aber, wie gesagt, Erfahrungen verändern den Blickwinkel. Logisch. […] Momentan könnte ich abschlagsfrei mit 64 gehen. […] Wenn Sie mich vor einem guten Jahr gefragt hätten, hätt’ ich gesagt: Ich arbeite bis 67, überhaupt kein Thema. Ich hab’ Spaß dran, ich will, ich kann. […] Aber ob man die Belastung […] Ich geh’ von Besprechung zu Besprechung, wir versuchen, Probleme zu lösen, ich hör’ mir irgendwelche Sachen an, die ich nicht immer wirklich versteh’. [Aber] wir glauben an Verwaltung, an kommunale Daseinsfürsorge. Es ist wichtig. Das da draußen funktioniert: sozial, kulturell, bildungsmäßig und auch sicherheitsmäßig, weil ganz viele von uns da sind und dafür sorgen, dass es funktioniert. Und da haben wir eben hohe Kräfte, aber auch einen hohen Einsatz, es funktional zu halten und immer wieder neu funktional zu gestalten. Und das treibt aber auch.«

Dieser öffentliche Dienst steht ihm persönlich unabhängig vom Alter offen. Aber auch für seine Mitarbeitenden und alle in der Verwaltung sind mittlerweile demografieorientierte Regeln eingeführt worden, die nicht mehr nach dem Alter der Beschäftigten oder neu Eingestellten fragen.

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern »Ich erlebe und nehm’ das für mich höchstpersönlich in Anspruch, dass wir eine sehr hohe Offenheit haben gegenüber älteren Beschäftigten in der Sicht auf die – die holen wir uns auch gerne rein als mit Erfahrungswissen versehene Mitarbeiter. […] Wir kommen nicht drum herum, uns mit den älteren Beschäftigten in der aktiven Arbeitswelt auseinanderzusetzen. Es gibt keine Alternativen. Also stellt sich diese Frage nicht.«

Für Ansgar hat die Verwaltung als sozialer Arbeitgeber den unbedingten Auftrag, für die Mitarbeiter unabhängig von deren Leistungsbereitschaft zu sorgen. Das verstehen die externen IT-Spezialisten nicht immer. Und gerade im Verhältnis interne/externe Mitarbeiter sieht Ansgar das Erfahrungswissen der älteren Verwaltungsleute als sehr wertvoll an. »Weil für mich hat das immer die unterschiedlichen Ebenen: Erfahrungswissen im Kontext fachlicher Applikationen bei einem IT-Schaffenden oder eben Erfahrungswissen im Kontext der Verwaltung im Allgemeinen als Funktionseinheit Kommune, Erfahrungswissen im Sinne von Abläufe vorher, Abläufe jetzt, und, und, und. Es gibt ja diesen schönen Spruch: Neue Besen kehren gut, und alte Besen wissen, wo der Dreck sitzt.« In dieser Verwaltung sieht Ansgar auch seinen Beitrag zu Innovationen. »Aber diese Verwaltung, in der ich im Innenverhältnis arbeite, ist so innovations- und improvisationsfähig, das kann sich von außen gar keiner vorstellen. Nicht an jeder Stelle […], aber an den Stellen, an denen ich war, war das immer so. Das war gefragt, das war nötig, es war gut so. Und wir haben eine Menge Sachen erreicht damit.«

4. F A ZIT Folgende Erkenntnisse lassen sich aus den Fallstudien gewinnen: •





Diskontinuierlich Beschäftigte behalten eine gefährliche Nähe zur Prekarität. Auch wenn es im IT-Bereich eine Reihe erfolgreicher und gut verdienender Freiberufler gibt, ist für einen anderen Teil die materielle Existenzsicherung ein ständiger Kampf. Diese Unsicherheit ist für einen Einzelnen noch auszuhalten, für Menschen mit Familie wie Max und noch mehr für Ein-ElternFamilien wie Beatrix ist die Herausforderung noch größer. Die Absicherung für das Alter bleibt für die diskontinuierlich Beschäftigten eine zusätzliche Bürde. Kreativität, Innovationsfähigkeit und Lust auf Innovationen sind für unsere Interviewpartner keine Frage des Alters, sondern eine Frage der Rahmenbedingungen. Kreativität braucht Freiräume. Das kann sich auf die materielle Lebenslage beziehen, aber auch auf Spielräume, die beim Arbeiten gegeben sind und genutzt werden können. Erfahrungswissen im IT-Bereich wird ambivalent gesehen. Während der Autodidakt Max sehr stark auf sein Gespür für die Rechner setzt (»wissen, wie die

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Rechner ticken«), empfindet Beatrix den Zwang zum ständigen Auf-dem-Laufenden-bleiben als sehr anstrengend. Und die Verwaltungsmitarbeiter führen das Erfahrungswissen bezogen auf Abläufe, auf Verwaltungssozialisation gegen das sich ständig ändernde fachliche IT-Wissen ins Feld. Die Berufsbiografien im öffentlichen Dienst sind oft ebenso bunt, wie die der diskontinuierlich Beschäftigten. Die gelernten Verwaltungsmitarbeiter bzw. Beamten sind Experten für Verwaltung, die sich die verschiedensten Fachgebiete zusätzlich aneignen. Darunter auch IT. Auf diese Art können sie die verschiedensten Stationen der Verwaltung durchlaufen. Die Aufstiegsregeln des öffentlichen Dienstes erfordern diese inhaltliche Flexibilität, da die hierarchischen Stufen an bestimmte Aufgaben gebunden sind. Erfahrungswissen im öffentlichen Dienst wird durch diesen ›Marsch durch die Institution‹ erworben. Damit sind die älteren Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung auch als Experten der Abläufe gefragt. Arbeit, die Sinn macht, kann auch bis ins Alter hinein weitergeführt werden, wenn die Rahmenbedingungen nicht zu erschöpfend wirken. Insofern ist die Identifikation mit dem Arbeitsinhalt ein zentrales Moment für Arbeitszufriedenheit und verlängerte Lebensarbeitszeit.

Denninger et al. sprechen vom ›Alterskraftunternehmer‹ als neuer Sozialfigur, die im Ruhestand mehr und mehr dem Aktivitätsdiktat unterliegt (Denninger et al. 2014). Nach unseren theoretischen Überlegungen und empirischen Erkenntnissen, bleibt für die Generation der Babyboomer (und hier vor allem die diskontinuierlich Beschäftigten) der Arbeitskraftunternehmer auch im Alter das lebensbestimmende Leitbild. Das hat die positiven Seiten des Jungbleibens, der länger andauernden gesellschaftlichen Teilhabe über bezahlte Arbeit. Aber es kann auch – verbunden mit der materiellen Notwendigkeit der verlängerten Lebensarbeitszeit – die Erschöpfungsphänomene ins Alter tragen.

L ITER ATUR Arntz, Jochen (2013). 1964  – Deutschlands stärkster Jahrgang. München. Süddeutsche Zeitung Edition. Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. edition suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007). Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. Suhrkamp. Bundesleitung des dbb beamtenbund und tarifunion (Hg.) (2011). Bürgerbefragung öffentlicher Dienst. Einschätzungen, Erfahrungen, Erwartungen. Berlin. dbb Verlag GmbH. www.dbb.de/fileadmin/pdfs/themen/forsa_2011.pdf (1.10.2014).

Von Sicherheit und Unsicherheit, Gewinnern und Verlierern

Denninger, Tina/Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan/Richter, Anna (2014): Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft. Bielefeld. transcript. Dill, Helga/Koblinger, Dagmar (2000). Soziologie für die Altenpflege. Köln. Stam Verlag. Göckenjan, Gerd (2000). Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a.M. Suhrkamp. Grabe, Lisa/Pfeuffer, Andreas/Vogel Berthold (2012). »Ein wenig erforschter Kontinent«? Perspektiven einer Soziologie öffentlicher Dienstleistungen. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien, Jahrgang 5, Heft 2, Oktober 2012, S. 35–53. Online-Journal der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). www.ais-studien.de/home/ver oeffentlichungen-12/oktober.html (30.08.2014). Keupp, Heiner (2010). Das erschöpfte Selbst – Umgang mit psychischen Belastungen. In: Keupp, Heiner/Dill, Helga (Hg.). Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt. Bielefeld. transcript Kondratowitz, Hans-Joachim v. (1986). Allen zur Last, niemandem zur Freude. Die institutionelle Prägung des Alterserlebens als historischer Prozess. In: Göckenjan, Gerd/Kondratowitz, Hans-Joachim von (Hg.) Alter und Alltag. Frankfurt a.M. Suhrkamp. S. 100–136 Konzeption der Bundesregierung zum Lernen im Lebenslauf. 23. April 2008. www.saarland.de/dokumente/thema_bildung/Konzeption_LernenImLe benslauf_Kabinett_FINAL_A.pdf (22.9.2014) Otten, Dieter (2009²). Die 50+ Studie. Wie die jungen Alten die Gesellschaft revolutionieren. Reinbek bei Hamburg. Rowohlt Taschenbuch Verlag Robert-Bosch-Stiftung (Hg.) (2009). Demographieorientierte Personalpolitik in der öffentlichen Verwaltung. Studie in der Reihe »Alter und Demographie«. Stuttgart. www.bosch-stiftung. de/content/language2/downloads/Demographieorientierte_Personalpolitik_ fuer_Internet.pdf (10.9.2014) Sander, Nadine (2012). Das akademische Prekariat. Leben zwischen Frist und Plan. Konstanz. UVK Verlagsgesellschaft mbH .staista.com (2014) http://de.statista.com/statistik/daten/studie/12910/umfrage/ entwicklung-des-personalbestandes-im-oeffentlichen-dienst-in-deutschland (10.10.2014). Walther, Andreas/Stauber, Barbara (2013). Übergänge im Lebenslauf. In: Schröer, Wolfgang et al. (Hg.). Handbuch Übergänge. Weinheim. Beltz. S. 23–43. Welzer, Harald (1993). Transitionen: Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse. Tübingen. edition diskord Weymann, Ansgar (2004). Individuum  – Institution  – Gesellschaft. Erwachsenensozialisation im Lebenslauf. Wiesbaden. VS Verlag.

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Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich Ergebnisse der repräsentativen DEBBI-Beschäftigtenbefragung zur Selbst- und Fremdwahrnehmung innovationsrelevanter Eigenschaften und Kompetenzen Kurt-Georg Ciesinger/Rüdiger Klatt/Romina Wendt

1. E INLEITUNG Der demografische Wandel führt dazu, dass sich das Durchschnittsalter in den deutschen Unternehmen in den nächsten Jahren erheblich erhöhen und die mitarbeiterstärksten Alterskohorten in den Bereich zwischen 45 und 60 Jahren verschieben werden (Klatt 2013). Laut Statistischem Bundesamt (StBA) werden Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren bis zum Jahre 2030 um 15 Prozent zurückgehen, hingegen werden die 65-Jährigen und Älteren um rund 33 Prozent von 16,7 Millionen im Jahr 2008 auf 22,3 Millionen Personen im Jahr 2030 ansteigen (StBA 2011). Waren es früher die jüngeren Beschäftigten, von denen Innovationsimpulse ausgingen, weil sie neue technologische Entwicklungen aufnahmen und in Produktideen umsetzten, so werden es in Zukunft die mittleren und höheren Altersgruppen sein müssen, die diese Aufgabe übernehmen. Kreativität und Innovation werden damit eine »Altersaufgabe« (Klatt/ Straus/Carell/Ciesinger 2012). Viele Unternehmen sehen hier für die Zukunft Probleme. Fast jedes vierte vom Institut für Mittelstandsforschung zum demografischen Wandel befragte Unternehmen (unabhängig von Branche oder Unternehmensgröße) befürchtet mittel- und langfristig einen Rückgang an Flexibilität, Kreativität und Innovationsfähigkeit (Kranzusch/Suprinovič/Wallau 2010). Und auch in der Gesellschaft verankerte Stereotype lassen viele vermuten, dass Innovationskraft eher eine Domäne der jüngeren Beschäftigten sei (Heyer/Henkel 1996). Im Rahmen des Projektes DEBBI wurde deshalb die Innovationsfähigkeit der Beschäftigten im demografischen Wandel auf der Basis qualitativer und quantitativer Methoden der Sozialforschung untersucht. Da insbesondere die IT-Branche

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Kur t-Georg Ciesinger/Rüdiger Klatt/Romina Wendt

ein hohes Maß an Kreativität und Innovationsfähigkeit im Wettbewerb benötigt, rücken ältere Beschäftigte der IT-Branche – und hier die bislang vernachlässigte Gruppe der Beschäftigten mit nichtlinearen Erwerbsverläufen – als Potenzial und Ressource zur Erhaltung und Steigerung der Innovationsfähigkeit in den Blick. Ein Ziel des Projektes DEBBI war es, die Innovationsressourcen, die eine älter werdende Arbeitsgesellschaft in sich birgt, aufzuzeigen und durch eine demografieorientierte Personalentwicklung und Organisationsgestaltung in Unternehmen zu entfalten (Klatt 2012). Hierzu müssen die Innovationspotenziale aller Beschäftigtengruppen systematisch erschlossen und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen genutzt werden (Klatt/Straus/Carell/Ciesinger 2012). Eine der Hypothesen des Verbundprojektes DEBBI war, dass insbesondere ältere Beschäftigte mit diskontinuierlichen Erwerbsbiografien aufgrund ihrer Potenziale und Kompetenzen eine bedeutende Rolle im Innovationsprozess spielen könnten (Klatt/Neuendorff/Nölle 2005). Unter Berücksichtigung ihrer komplexen Berufs- und Lebenserfahrung und den daraus resultierenden Potenzialen einer hoch ausgeprägten Fach- und Innovationskompetenz könne die Innovationsfähigkeit der Unternehmen nicht nur erhalten, sondern auch nachhaltig gesteigert werden, so die zentrale These von DEBBI. Insbesondere die Nutzung der Innovationspotenziale älterer Beschäftigter mit nichtlinearen Karrieren wird daher eine entscheidende Einflussgröße für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sein (Klatt/Neuendorff/ Nölle 2005). Auf der Grundlage der praxisnahen Kooperation mit Unternehmen der ITBranche sowie wissenschaftlichen Analysen von spezifischen Innovationsressourcen älterer Beschäftigter wurden in der repräsentativen Beschäftigtenbefragung des Projektes DEBBI 1. innovationsrelevante Eigenschaften und Kompetenzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung unterschiedlicher Altersgruppen eingeschätzt, die eine annähernd valide Ableitung des Grades an Innovationsfähigkeit in unterschiedlichen Altersgruppen ermöglichen. Mithilfe unseres Befragungsinstrumentes wurde so eine Messung innovationsrelevanter Eigenschaften und Kompetenzen für jede Altersgruppe möglich. 2. Darüber hinaus wurde über unsere Befragung auch eine vergleichende Untersuchung der Relevanz positiver wie negativer Typisierungen in der Wahrnehmung anderer Altersgruppen möglich, sodass auch Aussagen über etwaige Stereotypisierungen generationeller Gruppen getroffen werden können. 3. Des Weiteren können wir auf der Basis eines Vergleiches mit den Ergebnissen der InnoDemo-Studie des Fraunhofer Institutes für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) (Dworschak/Buck/Nübel/Weiß 2012) mit unseren Ergebnissen ermitteln, inwieweit die dort befragten Personalverantwortlichen

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

in deutschen Unternehmen zu einer abweichenden Wahrnehmung der Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer und so zu einer Über- oder Unterschätzung der altersgruppenspezifischen Potenziale beitragen. 4. Zuletzt zeigt die DEBBI-Studie auch auf, an welchen Stellen Arbeitsbedingungen besser werden müssen, um die Beschäftigungsfähigkeit als Grundlage und Bedingung für Innovationsfähigkeit bis zum Ende der zunehmend verlängerten Erwerbslauf bahn zu erhalten.

1.1 Vorgehensweise und Ziele Der wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen hängt entscheidend von der Innovationsfähigkeit ab (Seeger 2007). Innovationsfähigkeit gilt nach landläufigen Stereotypen eher als eine Domäne der jüngeren Generation (Heyer/Henkel 1996). Jüngeren werden innovationsrelevante Eigenschaften wie Kreativität, Lernbereitschaft, Lernfähigkeit und Flexibilität eher zugeschrieben als Älteren (Buck/Kistler/Mendius 2002). Es stellt sich daher die Frage, welchen Einfluss der demografische Wandel auf die Innovationsfähigkeit von Unternehmen und im Zuge dessen auf deren wirtschaftlichen Erfolg haben könnte. Vor diesem Hintergrund führten das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart und das Fraunhofer IAO im Rahmen des Projektes InnoDemo im Jahr 2011 eine Befragung mit 191 Personalverantwortlichen aus deutschen Unternehmen durch. Zentraler Fokus lag auf dem Zusammenhang von Alter und Innovationsfähigkeit. Hierzu gaben die Personalverantwortlichen (überwiegend Geschäftsführer sowie Bereichs- und Abteilungsleiter im Alter zwischen 46 und 55 Jahren) ihre Einschätzung bezüglich innovationsrelevanter Eigenschaften ihrer älteren und jüngeren Beschäftigten ab (Dworschak/Buck/Nübel/Weiß 2012). Die Ergebnisse legen nahe, dass ältere und jüngere Beschäftigte mit je spezifischen Eigenschaften beziehungsweise Kompetenzen für den Innovationsprozess relevant sind, da sich ihre Eigenschaftsprofile unterscheiden und sie sich in ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Hauptziel der repräsentativen DEBBI-Beschäftigtenbefragung war es, die Einschätzungen der Personalverantwortlichen mit den Einschätzungen des Beschäftigtenquerschnitts zu vergleichen, die Selbst- und Fremdbilder der Generationen gegenüberzustellen und die Ergebnisse der IAO-Befragung nach Möglichkeit auch aus dieser neuen Perspektive zu vervollständigen. Dazu führte das Forschungsinstitut für Arbeit, Bildung und Partizipation (FIAP) in Zusammenarbeit mit der gaus gmbh eine repräsentative Beschäftigtenbefragung durch. Die Befragung bestand aus zwei Teilen: Im ersten Teil wurde das ›Bild‹ der Beschäftigten in Bezug auf die innovationsrelevanten Eigenschaften aller Altersgruppen untersucht. Ziel dieses Teils der Befragung war es, innovationsrelevante Eigenschaften unterschiedlicher Altersgruppen näherungsweise valide zu bestimmen und die Altersgruppen miteinander zu vergleichen. Herausgearbeitet werden sollte auch, ob es zu erkennbaren Stereotypisierungen zwischen

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unterschiedlichen Altersgruppen, insbesondere von Älteren und Jüngeren in der Fremdeinschätzung, kommt. Im zweiten Teil der Befragung sollten die Befragten über die Erwartungen an ihre Beschäftigungsfähigkeit – verstanden als Grundlage und Voraussetzung für Innovationsfähigkeit – vor dem Hintergrund eines ansteigenden Rentenalters Auskunft geben. Zudem sollte auch erfasst werden, inwieweit sich die Erwartungen an betriebliche Rahmenbedingungen für die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit in unterschiedlichen Altersgruppen verändern und welche Rahmenbedingungen Betriebe zukünftig schaffen müssen, um die Innovationsfähigkeit ihrer Beschäftigten über den gesamten Erwerbsverlauf zu erhalten. Hierzu wurde im Auftrag des FIAP im Frühjahr 2014 eine Repräsentativbefragung der Beschäftigten in Deutschland durch die forsa Politik- und Sozialforschung GmbH durchgeführt. Als Grundgesamtheit wurden die Beschäftigten der Bundesrepublik Deutschland im Alter von 18 bis 65 Jahren definiert. Zur Generierung der Stichprobe wurden durch die systematische Zufallsauswahl 1.000 Personen aus der Grundgesamtheit gewählt. Anhand eines strukturierten Fragebogens wurden computergestützte Telefoninterviews durchgeführt. Eine Gewichtung der Stichprobe nach Geschlecht, Alter, Region, beruflicher Stellung und Schulabschluss wurde bei der Auswertung zugrunde gelegt. Analog zu der Befragung der Fraunhofer IAO (Dworschak/Buck/Nübel/Weiß 2012) sollte im ersten Teil der Befragung ein Eigenschaftsprofil der Befragten erstellt werden. Dazu sollten folgende innovationsrelevante Eigenschaften 1 Älterer (über 50 Jahre) und Jüngerer (bis 30 Jahre) mit Hilfe einer fünfstufigen Skala (1= »trifft überhaupt nicht zu«; 5= »trifft voll und ganz zu«) bewertet werden: • • • • • • • • •

Erfahrung Fachwissen Lernbereitschaft Motivation Kreativität Netzwerkfähigkeit Teamfähigkeit Kommunikationsfähigkeit Flexibilität

Während bei der Befragung der Fraunhofer IAO Personalverantwortliche ihre Mitarbeiter bezüglich der innovationsrelevanten Eigenschaften bewerten sollten (Fremdeinschätzung), wurden innerhalb der hier vorgelegten Studie die Beschäftigten selbst befragt. Hierbei wurde zwischen der Selbsteinschätzung (jüngere Mitarbeiter schätzen jüngere Mitarbeiter ein/ältere Mitarbeiter schätzen ältere 1 | Zur Auswahl der innovationsrelevanten Eigenschaften vgl. Dworschak/Buck/Nübel/ Weiß, 2012.

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

Mitarbeiter ein) und Fremdeinschätzung (jüngere Mitarbeiter schätzen ältere Mitarbeiter ein/ältere Mitarbeiter schätzen jüngere Mitarbeiter ein) innovationsrelevanter Eigenschaften differenziert. Eine weitere Besonderheit der DEBBI-Studie im Vergleich zur Befragung der Fraunhofer IAO bildete die Ergänzung der innovationsrelevanten Eigenschaft Flexibilität, die sich in den im Projekt DEBBI durchgeführten qualitativen Interviews zur Innovationsfähigkeit als relevant erwies. Im zweiten Teil der Befragung sollten die Beschäftigten angeben, unter welchen Voraussetzungen sie persönlich dazu bereit wären, bis 67 oder länger zu arbeiten. Hierzu wurden folgende sechs Kategorien mit jeweils drei Items vorgegeben, die wiederum auf einer fünfstufigen Skala (1= unwichtig, 5= sehr wichtig) bewertet werden sollten: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Arbeitszeiten Arbeitsaufgabe Kompetenzentwicklung Work-Life-Balance Generationenbalance Gesundheit

1.2 Stichprobenbeschreibung Befragt wurden insgesamt 1.000 Beschäftigte. Die nach demografischen Statistiken gewichtete Stichprobe beinhaltet folgende Verteilungen: • • • • •

Geschlecht: 580 Männer, 420 Frauen Altersgruppe: 18–30 Jahre: 21,6 %; 31–50 Jahre: 46,9 %; 51–65 Jahre: 31,5 % Region: 83,8 % Westbürger, 16,2 % Ostbürger berufliche Stellung: Arbeiter: 18,8 %, Angestellte: 72,1 %, Beamte: 9,1 % Schulabschluss: Hauptschulabschluss: 30,9 %, mittlerer Abschluss: 31,5 %, Hochschule/Abitur: 31,3 %

2. E RGEBNISSE Im ersten Teil des folgenden Abschnitts werden zunächst die Eigenschaftsprofile der innovationsrelevanten Eigenschaften der gesamten Stichprobe dargestellt. Anschließend werden die Eigenschaftsprofile der Teilstichproben Jüngerer und

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Älterer visualisiert und miteinander verglichen. Im zweiten Teil werden die Voraussetzungen, die Beschäftige an die Arbeitsbedingungen für die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit bis 67 stellen, dargestellt.

2.1 Allgemeiner Vergleich der Eigenschaftsprofile Älterer und Jüngerer Tabelle 1 bietet eine vergleichende Mittelwertübersicht der Einschätzungen der gesamten Stichprobe bezüglich der innovationsrelevanten Eigenschaften gegenüber den Einschätzungen der Teilstichproben der Jüngeren (18–30 Jahre) und Älteren (51–65 Jahre). Dabei werden die Einschätzungen nach dem Geschlecht (männlich und weiblich), der beruflichen Stellung (Arbeiter, Angestellte und Beamte) sowie dem Schulabschluss (Hauptschule, mittlerer Abschluss und Abitur/Hochschulreife) differenziert. Insgesamt ergeben sich innerhalb der DEBBIStudie hohe Mittelwerte, mit einem Range zwischen 3,1 und 3,8 Skalenpunkten auf einer fünfstufigen Skala. Die neutrale Mitte läge bei der verwendeten Skala bei 3,0 Skalenpunkten; dementsprechend lassen die Ergebnisse darauf schließen, dass über alle Eigenschaften hinweg eine hohe Zustimmung sowohl für die älteren als auch für die jüngeren Beschäftigten besteht. Die Ergebnisse zeigen somit – etwas überraschend – in einem ersten Zugriff, dass die Ausprägung von innovationsrelevanten Eigenschaften bei den älteren Beschäftigten von einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung tendenziell (etwas) höher eingeschätzt wird als die der jüngeren Beschäftigten. Es besteht demnach offenbar ein Konsens darüber, Ältere gegenüber Jüngeren als innovativer einzustufen.

2.2 Innovationsrelevante Eigenschaften: Bewertungen durch die Gesamtstichprobe Die nachstehenden Grafiken und Tabellen geben einen Überblick über die Ergebnisse der DEBBI-Beschäftigtenbefragung über die Gesamtstichprobe hinweg.

2.2.1 Eigenschaftsprofil Jüngerer bewertet durch die Gesamtstichprobe Abbildung 1 spiegelt die mittlere Einschätzung der innovationsrelevanten Eigenschaften Jüngerer, bewertet durch die gesamte Stichprobe, wider. Daraus geht hervor, dass den jüngeren Beschäftigten, besonders in den Bereichen der Netzwerkfähigkeit (MW=3,9) sowie Kommunikations-, Teamfähigkeit und Lernbereitschaft (MW=3,5) Stärken zugeschrieben werden. Die Schwächen Jüngerer liegen nach Einschätzung der gesamten Stichprobe in den Bereichen Fachwissen (MW=3,1) und Erfahrung (MW=2,5).

3,5

3,7

jüngere Beschäftigte

ältere Beschäftigte

IAO

3,6

3,3

DEBBI

Studie

3,6

3,3

m

3,7

3,4

w

Geschlecht

3,5

3,4

18-30

3,6

3,3

31-50

3,8

3,2

51-65

Altersgruppe

3,7

3,2

Arbeiter

3,6

3,3

Angestellte

3,5

3,6

Beamte

Berufliche Stellung

Tabelle 1: Zusammenfassende Übersicht der Mittelwerte über die gesamte Stichprobe

3,8

3,1

Hauptschule

3,6

3,4

Mittlerer Abschluss

3,5

3,4

Abitur/ Hochschulreife

Schulabschluss

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

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Abbildung 1: Innovationsrelevante Eigenschaften Jüngerer, Mittelwert, bewertet durch die gesamte Stichprobe

2.2.2 Eigenschaftsprofil Älterer bewertet durch die Gesamtstichprobe Wie aus Abbildung 2 ersichtlich, weisen Ältere in der mittleren Einschätzung der innovationsrelevanten Eigenschaften, bewertet durch die gesamte Stichprobe, besondere Stärken in den Bereichen Erfahrung (MW=4,7) und Fachwissen (MW=4,4) auf. Zu den Stärken können zudem auch Team- und Kommunikationsfähigkeit (MW=3,7) gezählt werden. Die Schwächen Älterer liegen nach Einschätzung der Gesamtstichprobe im Bereich Lernbereitschaft (MW=3,0), in der Netzwerkfähigkeit (MW=3,1) und weniger ausgeprägt in der Kreativität (MW=3,3). Hier werden die Älteren – für uns unerwartet – ähnlich positiv eingeschätzt wie die jüngeren Beschäftigten. Alle weiteren Einschätzungen der Gesamtstichprobe bezüglich der innovationsrelevanten Eigenschaften Älterer liegen im Bereich von 3,1 bis 3,3 Skalenpunkten. Abbildung 2: Innovationsrelevante Eigenschaften Älterer, Mittelwert, bewertet durch die gesamte Stichprobe

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

2.2.3 Vergleich der Eigenschaftsprofile Älterer und Jüngerer bewertet durch die Gesamtstichprobe Vergleicht man die Eigenschaftsprofile Älterer und Jüngerer, bewertet durch die gesamte Stichprobe, ergibt sich ein relativ klares Bild der Verteilung der Innovationsfähigkeit (vgl. Abbildung 3): Während den älteren Beschäftigten insbesondere Fachwissen und Erfahrung zugeschrieben werden, werden diese beiden Eigenschaften, insbesondere jedoch die Erfahrung, bei Jüngeren um bis zu 2,2 Skalenpunkte geringer eingeschätzt. Dieser Befund lässt sich durch das fortgeschrittenere Lebensalter, mit dem ein erhöhter Erfahrungsschatz einhergeht, begründen. Jüngeren werden demgegenüber verstärkt die Eigenschaften Netzwerkfähigkeit, Lernbereitschaft und Flexibilität zugesprochen, wobei sich die Differenzen auf maximal 0,8 Skalenpunkte belaufen. Interessanterweise schneiden die Jüngeren aus Sicht der Gesamtstichprobe bei den innovationsrelevanten Eigenschaften Kreativität und Flexibilität nur knapp besser, bei Motivation, Kommunikationssowie Teamfähigkeit sogar schlechter ab als die Älteren. Aus den Ergebnissen lässt sich ein breiter Konsens der Beschäftigten in Deutschland über die Verteilung von innovationsrelevanten Eigenschaften auf unterschiedliche Altersgruppen ableiten, die die Komplementarität altersgruppenspezifischer Stärken und Schwächen im Innovationsprozess aufzeigen. Während Älteren eher Erfahrung und Fachwissen, aber auch Team- und Kommunikationsfähigkeit zugeschrieben wird, erweisen sich Kreativität, Lernfähigkeit und Flexibilität – wenn auch in etwas geringerem Maße als erwartet – als relative Stärken der Jüngeren. Betrachtet man den gesamten Innovationsprozess, so ist das Erreichen eines Innovationsoptimums also verbunden mit der Frage, inwieweit es gelingt, komplementäre innovationsrelevante Eigenschaften – und damit die unterschiedlichen Altersgruppen – im Innovationsprozess des Unternehmens miteinander auszubalancieren. Abbildung 3: Vergleich Innovationsrelevanter Eigenschaften Älterer und Jüngerer, Mittelwert, bewertet durch die gesamte Stichprobe

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2.3 Bewertungen durch die Teilstichprobe Jüngerer 2.3.1 Eigenschaftsprofil Jüngerer bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren Bei den Eigenschaftsprofilen jüngerer Beschäftigter, bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren (n=216), handelt es sich um die Perspektive der Selbsteinschätzung. Abbildung 4 visualisiert die mittlere Einschätzung der innovationsrelevanten Eigenschaften Jüngerer, bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren. Betrachtet man die Selbsteinschätzungsperspektive Jüngerer, so zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Einschätzung Jüngerer durch die Gesamtstichprobe: Jüngere Beschäftigte schreiben sich selbst nahezu ein ebenso geringes Maß an Fachwissen und Erfahrung zu wie die Gesamtstichprobe aller Beschäftigten. Die Selbsteinschätzung erreicht nur 3,1 Skalenpunkte im Bereich des Fachwissens und nur 2,5 Skalenpunkte im Bereich Erfahrung. In den Bereichen der Netzwerkfähigkeit (MW=3,8), der Teamfähigkeit (MW=3,7), der Flexibilität, der Kommunikationsfähigkeit, der Kreativität und Lernbereitschaft (MW=3,6) schreiben sich die Jüngeren Stärken zu. Abbildung 4: Innovationsrelevante Eigenschaften Jüngerer, Mittelwert, bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren

2.3.2 Eigenschaftsprofil Älterer bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren Ein besonderes Augenmerk richtete die DEBBI-Beschäftigtenbefragung auf die Fremdwahrnehmungen der unterschiedlichen generationellen Gruppen. Jüngere sollten dabei die innovationsrelevanten Eigenschaften Jüngerer bewerten, Ältere die der Jüngeren. Die Frage dabei war, ob es bedeutsame Abweichungen ins Positive oder auch Negative gab, die auf Stereotypisierungen hindeuten könnten, etwa wenn die Jüngeren den Älteren eine schlechtere Ausprägung an innovationsrelevanten Eigenschaften zuschreiben als die Gesamtstichprobe. Aus Abbildung 5 geht hervor, dass auch Jüngere den älteren Beschäftigten besondere Stärken in den Bereichen Erfahrung (MW=4,7) und Fachwissen

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

(MW=4,2) zuschreiben. Tendenziell bewertet die Teilstichprobe der Jüngeren die älteren Beschäftigten jedoch bis zu 0,4 Skalenpunkte negativer als die Gesamtstichprobe. Dies bezieht sich auf die innovationsrelevanten Eigenschaften Flexibilität, Team- und Netzwerkfähigkeit, Kreativität, Motivation, Lernbereitschaft sowie Fachwissen. Abbildung 5: Innovationsrelevante Eigenschaften Älterer, Mittelwert, bewertet durch die Teilstichprobe der Jüngeren

Ähnlich wie bei der Bewertung Älterer und Jüngerer durch die Gesamtstichprobe, zeigen sich bei der Bewertung der älteren Beschäftigten durch die Teilstichprobe der Jüngeren die größten Differenzen im Bereich des Fachwissens und der Erfahrung. So werden Fachwissen und Erfahrung besonders den älteren Beschäftigten, also der Fremdgruppe, zugeschrieben. Flexibilität, Netzwerkfähigkeit und Lernbereitschaft werden hingegen eher den Jüngeren, also der eigenen Gruppe, zugeschrieben. Die Differenzen liegen hierbei zwischen 0,6 und 1,0 Skalenpunkten. Aus Sicht der Teilstichprobe Jüngerer sind sowohl die Jüngeren als auch die Älteren in den Bereichen Kommunikation, Teamfähigkeit und Motivation ähnlich stark. Die Differenzen liegen in diesen Bereichen zwischen 0,1 und 0,2 Skalenpunkten. Insbesondere bei den Eigenschaften, bei denen die Jüngeren ihre eigenen Stärken sehen, wird die Gruppe der Älteren – verglichen mit den Werten der Gesamtstichprobe – etwas abgewertet.

2.4 Bewertungen durch die Teilstichprobe Älterer 2.4.1 Eigenschaftsprofil Älterer bewertet durch die Teilstichprobe Älterer Ältere Beschäftigte sollten in der DEBBI-Studie eine Selbstbewertung durchführen (n=310). Abbildung 6 zeigt die mittlere Einschätzung der innovationsrelevanten Eigenschaften Älterer, bewertet durch die Teilstichprobe der Älteren. Im Mittel liegen die Bewertungen der innovationsrelevanten Eigenschaften zwischen 3,2 und 3,6 Skalenpunkten. Vergleicht man die Selbsteinschätzungsperspektive

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Älterer mit der mittleren Einschätzung Älterer bewertet durch die gesamte Stichprobe, ergibt sich ein tendenziell deckungsgleiches Eigenschaftsprofil. Jedoch schätzen sich auch die älteren Beschäftigten hinsichtlich Flexibilität, Kommunikations-, Team- und Netzwerkfähigkeit, Kreativität, Motivation sowie Lernbereitschaft etwas positiver ein als die Gesamtstichprobe. Die Selbsteinschätzung Älterer liegt aber mit Abweichungen von maximal 0,3 Skalenpunkten sehr nah bei dem Gesamtmittelwert. Wie schon in der Bewertung durch die gesamte Stichprobe, sind Fachwissen (MW=4,4) und Erfahrung (MW=4,6) die dominantesten Eigenschaften der älteren Beschäftigten. Schwächste Eigenschaft aus Sicht der Älteren selbst ist ihre Netzwerkfähigkeit (3,2 Skalenpunkte). Abbildung 6: Innovationsrelevante Eigenschaften Älterer, Mittelwert, bewertet durch die Teilstichprobe der Älteren

2.4.2 Eigenschaftsprofil Jüngerer bewertet durch die Teilstichprobe Älterer Auch die Teilstichprobe der älteren Beschäftigten (n=306) sollte im Rahmen der DEBBI-Studie die innovationsrelevanten Eigenschaften der jüngeren Beschäftigten einschätzen. Aus Abbildung 7 geht hervor, dass Ältere bei den jüngeren Beschäftigten eine besondere Stärke in Bezug auf die Netzwerkfähigkeit (MW=3,9) ausmachen. Die jüngeren Beschäftigten werden aus der Sicht der Teilstichprobe Älterer insgesamt strukturell sehr ähnlich, in den Bereichen Netzwerkfähigkeit, Motivation, Lernbereitschaft, Fachwissen und Erfahrung sogar identisch bewertet wie von der Gesamtstichprobe. Lediglich im Bereich der Teamfähigkeit werden die jüngeren Beschäftigten durch Teilstichproben der Älteren um 0,3 Skalenpunkte schlechter als die Gesamtstichprobe eingeschätzt. Die Abweichungen für Flexibilität, Kommunikations- und Teamfähigkeit sowie Kreativität liegen zwischen 0,1 und 0,2 Skalenpunkten. Vergleicht man die Eigenschaftsprofile Jüngerer in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, so lässt sich feststellen, dass die Jüngeren sich selbst besser bewerten als die Gesamtstichprobe, also über ein höheres Maß an innovationsrelevanten Eigenschaften zu verfügen glauben, als

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

die Gesamtstichprobe wahrnimmt. Die Differenzen belaufen sich auf maximal 0,5 Skalenpunkte im Bereich der Teamfähigkeit. Nur im Bereich der Netzwerkfähigkeit schätzen sich die Jüngeren mit 0,1 Skalenpunkten etwas schlechter ein, als sie durch die Fremdgruppe sowie durch die Gesamtstichprobe bewertet werden. Im allgemeinen Vergleich zeigt sich, dass sich die Jüngeren selbst in fast alle innovationsrelevanten Eigenschaften um 0,1 beziehungsweise 0,2 Skalenpunkte besser bewerten als die Gesamtstichprobe beziehungsweise auch als die Teilstichprobe der Älteren. Abbildung 7: Innovationsrelevante Eigenschaften Jüngerer, Mittelwert, bewertet durch die Teilstichprobe der Älteren

Verglichen mit der Bewertung Älterer und Jüngerer durch die gesamte Stichprobe zeigt sich eine strukturell ähnliche Bewertung, mit Abweichungen von maximal 0,3 Skalenpunkten sowohl für die jüngeren als auch für die älteren Beschäftigten aus Sicht der Älteren. Ähnlich wie bei der Bewertung Älterer und Jüngerer durch die Gesamtstichprobe zeigen sich bei der Einschätzung durch die Teilstichprobe der Älteren die größten Differenzen in den Bereichen des Fachwissens und der Erfahrung. So werden Fachwissen mit 1,3 Skalenpunkten Vorsprung und Erfahrung mit 2,1 Skalenpunkten Vorsprung besonders den Älteren, also der eigenen Gruppe, zugeschrieben. Aus Sicht der Älteren wird den Jüngeren, also der Fremdgruppe ein Vorsprung von 0,6 Skalenpunkten im Bereich der Netzwerkfähigkeit zugeschrieben. Im Vergleich der Selbst- und Fremdeinschätzungsperspektive Älterer zeichnet sich eine leichte positive Verschiebung der Bewertung der eigenen Gruppe ab. Insbesondere in den Bereichen Flexibilität und Lernbereitschaft schneiden ältere Beschäftigte in der Selbstbewertung mit 0,6 beziehungsweise 0,7 Skalenpunkten besser ab als in der Fremdbewertung durch die Teilstichprobe Jüngerer. Vergleicht man also die Eigenschaftsprofile Älterer und Jüngerer, bewertet durch die Teilstichprobe Älterer, ergibt sich, ähnlich wie in der Bewertung durch die Gesamtstichprobe, auch hier eine klare Verteilung der Eigenschaften. Wie

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schon in der Einschätzung durch die Gesamtstichprobe schreiben die älteren Beschäftigten sich selbst insbesondere Fachwissen und Erfahrung zu, den Jüngeren hingegen wird mehr Netzwerkfähigkeit zugeschrieben.

2.5 Vergleich der Eigenschaftsprofile der Teilstichproben Älterer und Jüngerer 2.5.1 Eigenschaftsprofile Jüngerer bewertet durch die Teilstichproben Älterer und Jüngerer Abbildung 8 zeigt die Einschätzungen Älterer und Jüngerer hinsichtlich der innovationsrelevanten Eigenschaften jüngerer Beschäftigter. Diese fallen sehr ähnlich, in den Bereichen Fachwissen und Erfahrung sogar identisch aus. Bezüglich aller anderen innovationsrelevanten Eigenschaften liegen die Abweichungen in den Einschätzungen älterer und jüngerer Beschäftigter im Bereich zwischen 0,1 und 0,5 Skalenpunkten. Hierbei fällt auf, dass, mit Ausnahme der Netzwerkfähigkeit, die Jüngeren in der Selbsteinschätzung besser abschneiden als aus Sicht der Fremdgruppe der Älteren. Die Unterschiede liegen im Durchschnitt bei 0,3 Skalenpunkten. Die Bedeutsamkeit und der Wert jüngerer Beschäftigter für Innovationsprozesse – operationalisiert über die Einschätzung des Maßes an innovationsrelevanten Eigenschaften – wird also durch Ältere tendenziell etwas geringer eingeschätzt als durch die Jüngeren selbst. Abbildung 8: Innovationsrelevante Eigenschaften Jüngerer, Mittelwert, Vergleich der Teilstichprobe der Älteren mit der der Jüngeren

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Innovationsrelevanz jüngerer Beschäftigter von der Teilstichprobe der Jüngeren und der Älteren relativ hoch bewertet wird. Dies gilt besonders für die Eigenschaften Netzwerkfähigkeit, Kreativität, Lernbereitschaft, Kommunikationsfähigkeit und Kreativität. Aus naheliegenden Gründen wird die Fähigkeit Jüngerer, Fachwissen und Erfahrung in Innovationsprozesse einzubringen, weniger hoch bewertet. Insgesamt scheinen Jüngere ihre innovationsrelevanten Eigenschaften in der Selbstwahrnehmung et-

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

was höher zu werten als dies von den Älteren eingeschätzt wird. Dies zeigt sich besonders bedeutsam an der Eigenschaft Teamfähigkeit, die von den Älteren recht deutlich schlechter benotet wird als durch die Jüngeren selbst.

2.5.2 Eigenschaftsprofile Älterer bewertet durch die Teilstichproben Älterer und Jüngerer Abbildung 9 zeigt die Mittelwerte in der Einschätzung der innovationsrelevanten Eigenschaften Älterer im Vergleich zu der Bewertung durch die Teilstichproben der Älteren und Jüngeren. Die Einschätzung der Eigenschaftsprofile älterer Beschäftigter weist lediglich hinsichtlich der Netzwerkfähigkeit eine identische Bewertung im Gruppenvergleich auf. Die Eigenschaften Kommunikationsfähigkeit, Fachwissen und Erfahrung weisen geringe Abweichungen von maximal 0,2 Skalenpunkten auf. Hinsichtlich der Eigenschaften Flexibilität, Teamfähigkeit, Kreativität, Motivation und Lernbereitschaft zeigen unsere Daten eine zum Teil deutlich bessere Selbsteinschätzung der Älteren gegenüber der Fremdeinschätzung durch die jüngeren Beschäftigten. Mit anderen Worten: Jüngere beobachten bei den älteren Beschäftigten in wesentlich geringerem Grad diese innovationsrelevanten Eigenschaften als die Älteren bei sich selbst wahrnehmen. Die Teilstichprobe der älteren Beschäftigen bewertet die eigene Gruppe zwischen 0,4 und 0,7 Skalenpunkten besser als die Teilstichprobe der Jüngeren. Abbildung 9: Innovationsrelevante Eigenschaften Älterer, Mittelwert, Vergleich der Teilstichprobe der Älteren mit der der Jüngeren

Legt man den Mittelwert der Gesamtstichprobe bei der Beurteilung der innovationsrelevanten Eigenschaften älterer Beschäftigter als Maßstab zugrunde, so kann vermutet werden, dass ältere Beschäftigte das Maß ihrer Flexibilität, Teamfähigkeit, Kreativität, Motivation und Lernbereitschaft eher überschätzen, wohingegen die Teilstichprobe der jüngeren Beschäftigten Ältere in Bezug auf die Ausprägung dieser Eigenschaften eher unterschätzen.

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2.6 Vergleich der DEBBI-Studie mit der IAO-Studie Ein Vergleich der Ergebnisse der IAO-Studie, bei der 191 Personalverantwortliche aus dem Bereich des Managements befragt wurden, mit den Ergebnissen der DEBBI-Beschäftigungsbefragung zeigt einige Übereinstimmungen, aber auch bedeutsame Unterschiede in den Einschätzungen von Beschäftigten über ihre innovationsrelevanten Eigenschaften einerseits und der Sicht von Personalverantwortlichen über die Eigenschaften dieser Beschäftigtengruppen andererseits (vgl. Tabelle 1). Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei einerseits auf dem Mittelwertvergleich der Fraunhofer IAO-Studie (Dworschak/Buck/Nübel/Weiß 2012) und der DEBBI-Studie sowie auf dem Mittelwertvergleich der jüngeren und älteren Altersgruppe. Sowohl bezüglich der Teilstichprobe der Jüngeren als auch der Teilstichprobe älterer Beschäftigter schätzen Personalverantwortliche die innovationsrelevanten Eigenschaften im Schnitt etwas höher ein als die Beschäftigten selbst. Die Älteren werden zudem in beiden Studien im Schnitt etwas stärker eingestuft als die Jüngeren. Die Tendenz der höheren Bewertung Älterer bezüglich ihrer innovationsrelevanten Eigenschaften ist in der DEBBI-Studie in allen Teilgruppen erkennbar und beläuft sich im Schnitt auf 0,3 Skalenpunkte (vgl. Tabelle 1). Abbildung 10 spiegelt diese Tendenzen für die einzelnen innovationsrelevanten Eigenschaften wider: Demzufolge werden in der Studie des IAO die Lernbereitschaft um 0,6 Skalenpunkte, Kreativität um 0,5 Skalenpunkte und Fachwissen um 0,2 Skalenpunkte höher eingeschätzt. Die Differenzen sind mit bis zu 0,7 Skalenpunkten deutlich größer als die Differenzen, die sich innerhalb der DEBBIBefragung zum Beispiel zwischen den Teilstichproben der Älteren und Jüngeren finden lassen. Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit und Netzwerkfähigkeiten liegen innerhalb der Beschäftigtenbefragung zwischen 0,2 und 0,4 Skalenpunkten über der Einschätzung der Personalverantwortlichen. In Bezug auf Erfahrung liefern beide Studien übereinstimmend den niedrigsten Mittelwert (2,5). Die Ergebnisse legen somit die These nahe, dass Personalverantwortliche zumindest die innovationsrelevanten Eigenschaften Kreativität, Motivation und Lernbereitschaft bei Jüngeren eher überschätzen. Hinsichtlich dieser Merkmale attestieren sie dieser Altersgruppe ein höheres Maß an Innovationsfähigkeit als diese sich selbst zuschreiben. Es wäre weiter zu fragen, ob daraus auch eine Einstellungs- und Personalpolitik erwächst, die Jüngere gegenüber Älteren begünstigt.

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

Abbildung 10: Eigenschaften Jüngerer – Vergleich der IAO-Studie InnoDemo und der DEBBI-Studie

Im Vergleich der IAO- und DEBBI-Studie zur Einschätzung innovationsrelevanter Eigenschaften Älterer sind geringere Abweichungen im Bereich bis 0,2 Skalenpunkten festzustellen. Lediglich die Netzwerkfähigkeit wird durch die Gruppe der Personalverantwortlichen um 0,6 Skalenpunkte höher bewertet als im Beschäftigtendurchschnitt (vgl. Abbildung 11). Abbildung 11: Eigenschaften Älterer – Vergleich der IAO-Studie InnoDemo und der DEBBI-Studie

Im Vergleich beider Studien wird deutlich, dass sowohl die Personalverantwortlichen als auch die Beschäftigten selber ein übereinstimmendes Bild des älteren Beschäftigten bezogen auf die innovationsrelevanten Eigenschaften zeichnen. Besonders auffällig  – aber auch nicht unerwartet  – ist, dass beide Studien den Älteren in sehr hohem Maße Fachwissen und Erfahrung zuschreiben. Jüngere weisen in diesen beiden Feldern die niedrigsten Werte aus. Insgesamt lässt sich durch den Vergleich der beiden Studien herausstellen, dass es einen breiten Konsens bei Beschäftigten und Unternehmen hinsichtlich

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der ›Verteilung‹ innovationsrelevanter Eigenschaften auf unterschiedliche Altersgruppen gibt. Alle Gruppen verfügen über ein relativ hohes Niveau an Innovationsfähigkeit, jedoch mit je spezifischen Stärken und Schwächen, die sich im Innovationsprozess komplementär ergänzen (könnten). Während die Gruppe der Jüngeren über ein höheres Maß an Lernbereitschaft, Flexibilität und Kreativität verfügt, stehen die Älteren für Fachwissen und Erfahrung.

2.7 Voraussetzungen zur Bereitschaft Beschäftigter, bis 67 zu arbeiten Im zweiten Teil der Beschäftigtenbefragung wurden die Teilnehmer gebeten, Einschätzungen darüber abzugeben, unter welchen Voraussetzungen sie persönlich dazu bereit wären, bis 67 oder länger zu arbeiten. Hierzu wurden den Beschäftigten folgende Kategorien der Arbeitsgestaltung mit jeweils drei zu bewertenden Items vorgegeben: Arbeitszeiten, Arbeitsaufgaben, Kompetenzentwicklung, Work-Life-Balance, Generationenbalance und Gesundheit. Die Bewertung fand auf der Basis einer fünfstufigen Skala (1= unwichtig, 5= sehr wichtig) statt.

2.7.1 Voraussetzungsprofil der Gesamtstichprobe Alle abgefragten Bereiche der Arbeitsgestaltung besitzen eine hohe Priorität bei der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Beschäftigten bereit wären, bis zur Rente mit 67 oder länger zu arbeiten. Die Mittelwerte der Items variieren zwischen 3,2 und 4,4 auf der fünfstufigen Skala. Kein abgefragter Bereich ist also unwichtig. Bildet man das arithmetische Mittel über die jeweiligen drei Items einer Kategorie der Arbeitsgestaltung, ergibt sich folgende Rangfolge nach Wichtigkeit. 1. 2. 3. 4.

Generationenbalance (4,2) Arbeitszeiten, Work-Life-Balance und Gesundheit (4,0) Arbeitsaufgaben (3,6) Kompetenzentwicklung (3,4)

Die Kategorie der Generationenbalance erzielt mit durchschnittlich 4,2 Skalenpunkten die höchste Wichtigkeit vor der Arbeitszeit, der Work-Life-Balance, der Gesundheit, den Arbeitsaufgaben und der Kompetenzentwicklung, die mit 3,4 Skalenpunkten die geringste Wichtigkeit durch die Gesamtstichprobe erhält.

2.7.2 Voraussetzungsprofile der Teilstichprobe Älterer und Jüngerer Der Vergleich der Prioritäten der älteren und jüngeren Beschäftigten bezüglich der Voraussetzungen, unter denen sie dazu bereit wären, bis zu Renten mit 67 oder länger zu arbeiten, geht aus Tabelle 2 hervor. Bildet man das arithmetische Mittel über die jeweiligen drei Items einer Kategorie der Arbeitsgestaltung, ergibt sich für die jeweilige Teilstichprobe folgende Rangfolge:

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

Rangfolge der Teilstichprobe der Älteren: 1. Generationenbalance (4,2) 2. Arbeitszeiten (4,1) 3. Gesundheit (4,0) 4. Work-Life-Balance (3,9) 5. Arbeitsaufgaben (3,6) 6. Kompetenzentwicklung (3,3) Rangfolge der Teilstichprobe der Jüngeren: 1. Generationenbalance (4,3) 2. Arbeitszeiten, Work-Life-Balance (4,1) 3. Gesundheit (4,0) 4. Arbeitsaufgaben (3,6) 5. Kompetenzentwicklung (3,5) Es zeigt sich, dass die Rangfolgen der Kategorien zwischen den Altersgruppen nur gering voneinander abweichen: Beide Altersgruppen haben nahezu identische Prioritäten: Die Gestaltungsbereiche Generationenbalance, dicht gefolgt von den Arbeitszeiten, erzielen die höchste Wichtigkeit. Lediglich bezüglich des Gestaltungsbereiches Gesundheit und Work-Life-Balance finden sich zwischen den Teilstichproben Älterer und Jüngerer Abweichungen. Während die älteren Beschäftigten die Gesundheit über die Work-Life-Balance stellen, zeigt sich im Vergleich bei den Jüngeren eine umgekehrte Tendenz, die jedoch sehr gering ist. Die Kategorien Arbeitsaufgaben und Kompetenzentwicklung liegen in beiden Teilstichproben auf den letzten Rangplätzen. Vergleicht man die einzelne Bewertung aller Items durch die Teilstichprobe älterer und jüngerer Beschäftigter, so ergibt sich auch hier eine ähnliche Bewertung der Wichtigkeit hinsichtlich der einzelnen Items (vgl. Tabelle 2). Demnach unterscheiden sich die Teilstichproben maximal um 0,3 Skalenpunkte, wie zum Beispiel bei der Frage der Karrieregestaltung jenseits der 60, die die Jüngeren mit 3,4 Skalenpunkten wichtiger bewerten als die Älteren mit 3,1 Skalenpunkten. Auch genug Zeit für die Familie und die Möglichkeit zu selbstbestimmten Auszeiten wird von den Jüngeren für wichtiger befunden. Andererseits plädieren die älteren Beschäftigten stärker dafür, dass die Arbeit zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen müsse und dass Ältere durch die jüngere Generation nicht verdrängt werden dürfen. Die Mittelwerte der Items variieren bei der Teilstichprobe der Älteren zwischen 3,2 und 4,6 bei der Teilstichprobe der Jüngeren zwischen 3,2 und 4,4 Skalenpunkten auf der fünfstufigen Skala. Betrachtet man die Rangfolgen der unterschiedlichen Altersgruppen für die einzelnen Items, fällt auf, dass bei den Älteren alle Items zur Generationenbalance zwischen dem ersten und vierten Rangplatz liegen. Auch bei den Jüngeren sind zwei Items auf Platz zwei und drei der Rangfolge, darüber steht bei den Jüngeren nur die Zeit für die Familie (MW=4,6), die bei der Teilstichprobe der Älteren

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Tabelle 2: Einschätzungen zur Frage »Unter welchen Voraussetzungen wären Sie persönlich dazu bereit, bis 67 oder sogar länger zu arbeiten?« Mittelwerte, Vergleich der Teilstichprobe Älterer und Jüngerer

Arbeitszeiten

18–30 Jahre

51–65 Jahre

4,1 

4,1

Möglichkeit, selbst bestimmen zu können, wann und wie lange man arbeitet Arbeitszeiten müssten sich der persönlichen Situation anpassen Möglichkeit, notfalls auch früher in Rente gehen zu können

4,1

4,3

4,0

4,0

4,1

4,1

Arbeitsaufgabe

3,6

3,6

Interessante, herausfordernde und sinnvolle Arbeitsaufgaben

4,2

4,1

Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln

3,4

3,2

Arbeit müsste zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen

3,2

3,5

Kompetenzentwicklung

3,5

3,3

Chance zur lebenslangen Weiterbildung

3,8

3,6

3,4

3,1

3,4

3,2

Work-Life-Balance

4,1

3,9 

Genug Zeit für die Familie

4,6

4,3

Möglichkeit längerer selbstbestimmter Auszeiten

4,0

3,7

Arbeitgeber soll auch ehrenamtliches Engagement unterstützen

3,6

3,8

Generationenbalance

4,2

4,3

Bessere Zusammenarbeit von Alt und Jung am Arbeitsplatz

4,4

4,3

Ältere dürfen nicht von Jüngeren verdrängt werden

3,9

4,2

Jüngere Generation darf nicht vernachlässigt werden

4,3

4,4

Gesundheit

4,0 

4,0

4,0

4,2

3,9

3,8

4,0

4,0

Chance auf eine Karriereentwicklung für Mitarbeiter über 60 Außerberufliche Fähigkeiten im Unternehmen stärker nutzen

Belastungen müssen mit zunehmendem Alter abnehmen Technische Unterstützungssysteme, die körperlich entlasten Angebote zur Erhaltung psychischer Gesundheit

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

mit  4,3 Skalenpunkten auf Platz zwei liegt. Interessante und herausfordernde Arbeitsinhalte sind bei beiden Teilstichproben unter den Top 5-Ansprüchen. Alle Items bezüglich der Arbeitszeiten, also selbst zu bestimmen, wann und wie lange man arbeitet, die Anpassung der Arbeitszeiten an die persönliche Situation sowie die Möglichkeit, auch früher in Rente gehen zu können, liegen bei beiden Teilstichproben im oberen Drittel der Rangfolge. Die Abnahme von Belastungen mit zunehmendem Alter, technische Unterstützungssysteme zur körperlichen Entlastung sowie Angebote zum Erhalt der psychischen Gesundheit rangieren sowohl bei älteren als auch bei jüngeren Beschäftigten auf den mittleren Rangplätzen. Die Items der Arbeitsaufgabe zur Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln, und Entwicklung der Persönlichkeit durch Arbeit, sowie alle Items zur Kompetenzentwicklung durch lebenslange Weiterbildung, der Chance der Karriereentwicklung über 60 Jahre sowie das Einbringen außerberuflicher Fähigkeiten im Unternehmen sind bei beiden Teilstichproben auf den letzten Rangplätzen zu finden. Auffällig ist, dass die Karrierechance über 60 Jahren von den älteren Beschäftigten mit 3,1 Skalenpunkten weniger wichtig bewertet wird als von den Jüngeren mit 3,4 Skalenpunkten. Insgesamt zeichnet sich also ein klarer Trend ab: Zwar haben alle abgefragten Kategorien zur Arbeitsgestaltung eine hohe Priorität, wenn es um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen die Beschäftigten bereit wären, bis zur Rente zu arbeiten, der Generationenbalance wird in der Gesamtschau der Ergebnisse jedoch sowohl von der Gesamtstichprobe als auch von den Teilstichproben der Älteren und Jüngeren die höchste Wichtigkeit zugesprochen. Platz zwei in der Rangfolge ist in allen Betrachtungen mit der Kategorie Arbeitszeiten belegt. Die Gestaltung der Arbeitsaufgabe und die Kompetenzentwicklung erhalten in beiden Teilstichproben sowie der Gesamtstichprobe die geringste Wertschätzung.

3. A USBLICK Die DEBBI-Beschäftigtenbefragung zeigt einen breiten Konsens über die altersgruppenspezifische Eigenschaftsverteilung. In der Selbstwahrnehmung der eigenen Altersgruppe gibt es dabei eine Tendenz, sich besser einzuschätzen als der Beschäftigtendurchschnitt der Gesamtstichprobe. Diese Tendenz ist bei jüngeren Beschäftigten noch stärker ausgeprägt als bei den Älteren. In der Fremdwahrnehmung der jeweils anderen Gruppe gibt es die Tendenz, die anderen eher unterdurchschnittlich zu bewerten. Die eigene Gruppe wird in punkto Innovationsfähigkeit also eher überschätzt, die Fremdgruppe eher unterschätzt. Während den älteren Beschäftigten insbesondere Fachwissen und Erfahrung zugesprochen werden, zeichnen sich die jüngeren Beschäftigten in der Wahrnehmung durch die Beschäftigten in besonderem Maße durch Netzwerkfähigkeit und Lernbereitschaft, Team- und Kommunikationsfähigkeit aus.

135

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Kur t-Georg Ciesinger/Rüdiger Klatt/Romina Wendt

Vergleicht man die Befragung von Personalverantwortlichen zu den innovationsrelevanten Eigenschaften älterer und jüngerer Beschäftigter der InnoDemo-Studie mit den Ergebnissen von DEBBI, so fällt ein breiter Konsens bei Beschäftigten und Unternehmen hinsichtlich der Verteilung innovationsrelevanter Eigenschaften auf unterschiedliche Altersgruppen auf. Alle Gruppen verfügen aus Sicht Personalverantwortlicher wie aus Sicht der Beschäftigten selbst über ein relativ hohes Niveau an innovationsrelevanten Eigenschaften, jedoch mit je spezifischen Stärken und Schwächen, die sich im Innovationsprozess durch geeignete Strategien des »Team Buildings« komplementär ergänzen könnten. Es kann geschlussfolgert werden, dass sowohl die Personalverantwortlichen als auch die Beschäftigten selbst eine unterschiedliche Verteilung der Eigenschaften in unterschiedlichen Altersgruppen wahrnehmen. Für den Erhalt der Innovationsfähigkeit von Unternehmen im demografischen Wandel scheint es unausweichlich, die Zusammenarbeit älterer und jüngerer Generationen zu fördern und zu verbessern, da sich beide Generationen in ihren Stärken und Schwächen ergänzen und voneinander profitieren können, auf der anderen Seite aber gerade im Arbeitsgestaltungsfeld Generationenbalance einen erhöhten Handlungsbedarf sehen. Auch für Innovationsprozesse sollte zukünftig gelten: ›Jedes Alter zählt‹, denn ein Innovationsoptimum kann offenbar nur dann erreicht werden, wenn es gelingt, die Innovationsprozesse und Innovationsteams altersgemischt auszubalancieren, sodass sich die unterschiedlichen Generationen in ihren Eigenschaftsprofilen ergänzen können. Hierzu muss in alle Generationen gleichermaßen viel, aber altersdifferenziert und bedarfsorientiert investiert werden (Sanchez-Mayoral 2013). Gleichzeitig müssen sich Unternehmen der Herausforderungen der ›age diversity‹ (Altersvielfalt), die in der Literatur kontrovers diskutiert wird, stellen (vgl. Wegge/Schmidt 2009), um ein Innovationsoptimum erreichen zu können. Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen der älteren und jüngeren Belegschaft müssen überwunden werden. Zur Innovationsoptimierung sollten also im Bereich der Organisations- und Personalentwicklung geeignete, neue Instrumente für die Entfaltung innovationsförderlicher Kompetenzen der Beschäftigten aller Altersgruppen sowie für eine innovationsförderliche Generationenzusammenarbeit im Unternehmen entwickelt werden. Auch der zweite Teil der Beschäftigtenbefragung, bei der abgefragt wurde, unter welchen Voraussetzungen die Befragten persönlich dazu bereit wären, bis 67 oder länger zu arbeiten, hebt die Wichtigkeit der Generationenbalance hervor. Zwar weisen alle Handlungsfelder der Arbeitsgestaltung eine hohe Relevanz auf, die Kategorie der Generationenbalance erzielt jedoch sowohl in der Gesamtstichprobe als auch bei der Betrachtung der Teilstichproben älterer und jüngerer Beschäftigter die höchste Priorität vor den Bereichen der Arbeitszeit, der Work-LifeBalance, der Gesundheit, den Arbeitsaufgaben und der Kompetenzentwicklung. Die sehr starke Gewichtung der Generationenbalance könnte darauf hindeuten, dass die intergenerationelle Zusammenarbeit einerseits als gefährdet, anderer-

Innovationsfähigkeit Älterer und Jüngerer im Vergleich

seits aber als ein besonders wichtiger Faktor für eine erfolgreiche und altersentsprechende Arbeitsgestaltung wahrgenommen wird. Auch hieran zeigt sich die Relevanz des Themas für die unternehmerische Praxis. Personalentwicklungskonzepte müssen zukünftig verstärkt den Bedarf nach Generationenbalance, in der weder die älteren noch die jüngeren Beschäftigten vernachlässigt oder bevorzugt werden, berücksichtigen. Die Forderung nach einer besseren Zusammenarbeit von Alt und Jung an einem gemeinsamen Arbeitsplatz erfordert eine Entwicklung und geeignete Anwendung von demografiesensiblen Personalentwicklungsinstrumenten, die sich der Problemlage des demografischen Wandels stellen, Innovationschancen durch die Zusammenarbeit älterer und jüngerer Generationen antizipieren, sichtbar und nutzbar machen und aktiv das Erwerbsbiografiemanagement des Unternehmens verbessern, um die Zusammenarbeit von Alt und Jung effektiv und effizient zu gestalten.

L ITER ATUR Buck, Hartmut/Kistler, Ernst/Mendius, Gerhard (2002): Demographischer Wandel in der Arbeitswelt: Chancen für eine innovative Arbeitsgestaltung, Stuttgart: Fraunhofer-IRB-Verlag. Dworschak, Bernd/Buck, Hartmut/Nübel, Liselotte/Weiß, Maren (2012): Innovationsmanagement mit allen Altersgruppen, InnoDemo, Stuttgart: Fraunhofer Verlag . Heyer, Klaus/Henkel, Hardo (1995): Älter werden im Betrieb. Risiko und Chance (Personal- und Organisationsentwicklung), Eschborn: Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft. Klatt, Rüdiger (2012): Erwerbsbiografien gestalten! in: præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 3, S. 2. Klatt, Rüdiger (2013): Intergenerationelle Balance – Demografische Herausforderungen in der Arbeitswelt Frankreichs und Deutschlands. in: præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 3 (2013), S. 2–5. Klatt, Rüdiger/Ciesinger, Kurt-Georg/Steinberg, Silke (2013): Gestaltete Diskontinuität als Ressource im demografischen Wandel. in: præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 3, S. 14–15. Klatt, Rüdiger/Neuendorff, Hartmut/Nölle, Kerstin (2005): Kompetenzprofile in diskontinuierlichen Erwerbsverläufen, in: Neuendorff, Hartmut/Ott, Bernd (Hg.), Unternehmensübergreifende Prozesse und ganzheitliche Kompetenzentwicklung. Neue Forschungsergebnisse und visionäre Instrumente zur Unterstützung virtueller Zusammenarbeit, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 145–159. Klatt, Rüdiger/Straus, Florian/Carell, Angela/Ciesinger, Kurt-Georg (2013): Diskontinuität im Erwerbsverlauf als Innovationschance nutzen. in: præview  – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 3, S. 8–9.

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Kur t-Georg Ciesinger/Rüdiger Klatt/Romina Wendt

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Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung in Deutschland und Frankreich Thesen zu den Chancen und Grenzen länderübergreifender Lernprozesse zur Gestaltung der Arbeitswelt Silke Steinberg/Rüdiger Klatt

1. E INLEITUNG Ein Aspekt der Arbeit im Projekt DEBBI war zu versuchen, die Forschungsarbeiten und auch die Entwicklung von anwendungsbezogenen Konzepten für eine generationssensible Organisationsentwicklung, die insbesondere die Potenziale diskontinuierlich Beschäftigter aufgreift, im Hinblick auf europäische Vergleichsdimensionen zu analysieren. In der praktischen Arbeit hat sich vor allem eine intensive deutsch-französische Kooperation ergeben, die in einer festen Arbeitsgruppe zum demografischen Wandel in der Arbeitswelt Deutschlands und Frankreichs institutionalisiert wurde und deren erste Ergebnisse in einer deutsch-französischen Ausgabe der Zeitschrift Praeview veröffentlicht wurden (Praeview 3/2013). Der Prozess dieser Zusammenarbeit, der Nutzen für die deutsche Arbeitsforschung und ein Beispiel für die transnationale Entwicklung anwendungsbezogener Konzepte werden in diesem Text vorgestellt. Ein modernes Innovationsmanagement setzt auf Öffnung, auf Lösung aus festgelegten Prozessen und erkennt Ungewissheit als »strukturelles Merkmal von Innovationen« (Böhle 2011, S. 19) an. Aus unserer Sicht bietet die transnationale Entwicklung von Handlungsstrategien für Unternehmen im demografischen Wandel – ähnlich wie die Nutzung interdisziplinärer Kontexte zu diesem Zweck – einen Spielraum für Entwicklungsprozesse, der zwar mit Ungewissheit konfrontiert, es aber ermöglicht, auf gegebene Komplexität angemessen zu reagieren. In der anwendungsbezogenen Forschung bietet ein solches »entgrenztes« Wissenschaftsverständnis große Vorteile (vgl. Klatt et al. 2012). Die Lösungen aus definierten disziplinären oder nationalen Zusammenhängen bieten einen

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Silke Steinberg/Rüdiger Klatt

erweiterten Spielraum für die Entwicklung von Lösungsstrategien für Probleme moderner Gesellschaften. Um diesen Spielraum in transnationalen Kontexten zu nutzen, bedarf es einer transkulturellen Handlungskompetenz im weitesten Sinne, die unterschiedliche Kulturparameter, disziplinäre Paradigmen und spezifische nationale Entwicklungen nicht als Gegensatz behandelt, sondern das mehrdimensionale Bild eines gemeinsamen Handlungsfeldes eröffnet. Ein weiterer Aspekt, der speziell für eine transnationale Entwicklung von Handlungsstrategien bei der Auseinandersetzung mit Problemen moderner Gesellschaften im europäischen Rahmen spricht, ist die Tatsache, dass die Gesellschaften Europas gemeinsam vor der Herausforderung des demografischen Wandels stehen. Sie müssen die Grundlagen ihres Zusammenlebens überdenken und auf kreative Weise den Bedingungen moderner Lebensweisen und sich globalisierender Ökonomien anpassen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen wurden im deutsch-französischen Arbeitskreis zum demografischen Wandel in der Arbeitswelt Deutschlands und Frankreichs Ausgangssituation, Problemstellung und Lösungsstrategien beider Länder vergleichend analysiert, um die Ergebnisse für einen holistischen Handlungsansatz zu nutzen, der bei einer Fokussierung auf die Probleme des eigenen Landes nicht in den Blick kommen würde. Während der Forschungsarbeit war es hilfreich, die Entwicklungen des einen Landes vor dem Hintergrund der Entwicklungen des anderen Landes zu betrachten und dabei zu reflektieren, wie in Deutschland und Frankreich auf unterschiedliche Weise Denk- und Handlungsweisen entwickelt und umgesetzt werden. Die als gegenteilig wahrgenommenen Tendenzen erscheinen so als Prozesse, die durch die Loslösung aus der nationalen Perspektive Defizite offen legen, die nachhaltige Erfolge bei der Bekämpfung demografiebedingter Probleme auf dem Arbeitsmarkt oft verhindern. Deutschland und Frankreich stehen dabei vor ähnlichen arbeitspolitischen Herausforderungen. In beiden Ländern müssen zukünftig Ältere länger arbeiten, um die sozialen Sicherungssysteme in Balance zu halten. In beiden Ländern müssen betriebliche und soziale Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Ältere länger motiviert, kreativ und gesund bleiben. Dabei ist die demografische Ausgangssituation sehr unterschiedlich. Während für Frankreich, das auf Jahrzehnte hoher Geburtenraten zurückblicken kann, bis 2050 ein Bevölkerungszuwachs prognostiziert wird, wird in Deutschland in diesem Zeitraum die Bevölkerung um weitere 10 Millionen Einwohner sinken. Die Tendenzen in der Bevölkerungsentwicklung sind bereits heute deutlich spürbar und bedingen die gesellschaftlichen Diskurse und politisches Handeln. Die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen, die auch diese demografische Ausgangssituation begründen, haben in beiden Ländern zu spezifischen Problemen und Fokussierungen für Problemlösungen geführt, die im deutschfranzösischen Arbeitskreis des Projektes DEBBI analysiert und für die anwendungsbezogene Entwicklung von Instrumenten eines demografieorientierten

Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung

Personalmanagements in Deutschland genutzt wurden. Die Absicht war dabei zu erkennen, ob eine komplementäre Zusammenführung der unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze einen zusätzlichen Nutzen bei der Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels hat.

2. B E VÖLKERUNGS - UND B ESCHÄF TIGUNGSENT WICKLUNG IN D EUTSCHL AND UND F R ANKREICH Zunächst zur demografischen Situation in beiden Ländern: Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich steigt der Anteil der Alten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, sodass man von einer Überalterung der Gesellschaft sprechen kann. In Deutschland wird laut Prognosen von Eurostat (2014) der Anteil der über 65-Jährigen von 20,6 Prozent (2010) auf 32,3 Prozent (2050) ansteigen (Europäische Union 2011, S. 278), in Frankreich von 16,7 Prozent (2010) auf 26,1 Prozent (2050) (Europäische Union 2011, S. 282). Grund für diese Entwicklung ist der allgemeine Anstieg der Lebenserwartung. Abbildung 1: Entwicklung der Geburtenrate in Frankreich und Deutschland Ϯ͕ϱ

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Frankreich blickt auf einen konstanten Anstieg der Geburtenrate zurück und hat somit nicht nur im Hinblick auf den Anstieg der Lebenserwartung einen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen (bereits zwischen 1950 und 2010 gab es einen Zuwachs von 49,5 %). In Deutschland hingegen schrumpft die Bevölkerung, obwohl die Menschen immer länger leben, weil die Geburtenraten zurückgehen.

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Silke Steinberg/Rüdiger Klatt

Dies ist im Vergleich zu Frankreich umso dramatischer, wenn man den Zeitraum der letzten 50 Jahre betrachtet. »Depuis plus de cinq décennies, les femmes françaises ont en moyenne plus d’enfants que les femmes allemandes. Durant ces dix dernières années, les différences se sont même accrues en raison de la hausse des taux de fécondité en France. En Allemagne, en revanche, ces derniers sont à peu près restés au même niveau.« (Sievert/Klingholz 2010, S. 10)

Dies ist eine erstaunliche Entwicklung, vor allem wenn man bedenkt, dass Frankreich trotz der hohen Geburtenrate zur gleichen Zeit auf positivere Beschäftigungsquoten bei Frauen blicken kann. Zwar liegt die allgemeine Beschäftigungsquote für Frauen in Deutschland sogar höher als in Frankreich (Deutschland 66,2 %; Frankreich 60,1  %). Betrachtet man die Beschäftigungssituation für Frauen in beiden Ländern aber differenzierter, wird deutlich, dass Frauen in Deutschland, und hier besonders Mütter, häufig in prekären Beschäftigungen und Teilzeitverhältnissen arbeiten. Die Teilzeitquote der berufstätigen Mütter mit Kindern von null bis fünf Jahren liegt in Deutschland bei 46,2 Prozent, in Frankreich bei 22,2 Prozent. Berufstätige Mütter mit Kindern zwischen sechs und 14 Jahren arbeiten in Deutschland zu 59,3 Prozent in Teilzeit, in Frankreich zu 27,9 Prozent (Luci 2011). Die hohe Anzahl von Müttern auch mit kleinen Kindern in Vollzeitbeschäftigung führt zu der Annahme, dass sich Beruf und Familie in Frankreich besser vereinbaren lassen. Hierfür gibt es vielschichtige Gründe. Die wichtigste Voraussetzung ist vielleicht die gute Betreuungssituation von Kindern in Frankreich. Die Betreuungsdichte bei den Null- bis Zweijährigen liegt bei 28 Prozent, in Deutschland bei neun Prozent, die der Drei- bis Sechsjährigen bei 99 Prozent, in Deutschland bei 78 Prozent (vgl. Luci 2011, S. 4). Es ist aber nicht allein das Betreuungsangebot, das die gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit auch die hohen Geburtenraten in Frankreich begünstigt, sondern vielmehr der kulturelle Kontext und ein kontinuierliches politisches Gesamtkonzept von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Bildungspolitik und finanzieller Unterstützung für Familien zumindest in den vergangenen Jahrzehnten. Ein ausschlaggebender Unterschied in den kulturellen Aprioris in Deutschland und Frankreich ist zunächst das für französische Frauen seit Jahrzehnten selbstverständliche Nebeneinander von Familie und Beruf und die Rolle des Staates bei der Betreuung von Kindern, beziehungsweise die Wertschätzung der Erziehung von Kindern im Kollektiv. »Diese Vorstellung ist in Frankreich traditionell verankert. […] Je mehr unterschiedlichen Einflüssen das Kind ausgesetzt ist, desto förderlicher ist es für seine geistige und charakterliche Entwicklung.« (Luci 2011, S. 12) In Deutschland hingegen galt lange ein traditionelles Familienmodell als ideale Erziehungsform, bei dem der Vater der Alleinernährer ist und die Mutter sich um Kindererziehung und Haushalt kümmert. Außerhäuslichen Betreuungsinstanzen wird oft ein grundsätzliches Misstrauen entgegengebracht.

Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung

Hinzu kommt ein dadurch geformtes Selbstverständnis der Geschlechterrollen (vgl. Brachet/Salles 2011; Salles 2011). Die in Frankreich bereits früh in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende familienorientierte Fiskal- und Sozialpolitik tut ein Übriges, um die kontinuierlich hohen Geburtenraten zu erklären.1 Resümierend lässt sich festhalten, dass unter anderem diese unterschiedlichen Voraussetzungen zu den gegensätzlich verlaufenden Tendenzen bei der Bevölkerungsentwicklung geführt haben. Es wird prognostiziert, dass sich die Bevölkerungszahlen der beiden Länder auch bei unterschiedlichen Ausgangsannahmen in den nächsten Jahren kreuzen: Abbildung 2: Bevölkerungsprognose 2010–2050 (in Mio.) ĞǀƂůŬĞƌƵŶŐƐƉƌŽŐŶŽƐĞϮϬϭϬͲ ϮϬϱϬ;ŝŶDŝŽ͘Ϳ ϴϭ͕ϳ

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Diese konträren Entwicklungen in den Bevölkerungszahlen beeinflussen alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Bezogen auf den Arbeitsmarkt hat der Bevölkerungsrückgang in Deutschland bereits heute zu einer Verknappung junger Arbeitskräfte geführt und in Verbindung damit zu einer Neubewertung der unterschiedlichen Altersgruppen auf dem Arbeitsmarkt. In Frankreich drängen sowohl ältere als auch jüngere Beschäftigte auf den Arbeitsmarkt. Im Hinblick auf die Proportionen der erwerbstätigen Bevölkerung und der Personen im Rentenalter und deren Abhängigkeitsverhältnis bezüglich der Finanzierbarkeit der Renten muss in beiden Ländern eine Verlängerung des Erwerbslebens angestrebt werden, auch wenn die Zahlen in Frankreich positiver sind. Laut Eurostat (2014) betrug das Verhältnis der nicht Erwerbstätigen über 65 Jahren zu den Erwerbs1 | Zum Vergleich der familienpolitischen Maßnahmen in Deutschland und Frankreich siehe Fagnani/Letablier 2011.

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tätigen zwischen 15 und 64 Jahren in Deutschland im Jahr 2012 31,2 Prozent, in Frankreich 26,6 Prozent. Das heißt rund 1/3 der Bevölkerung in Deutschland und 1/4 der Bevölkerung in Frankreich waren bereits 2012 im Generationenvertrag auf der passiven Seite, wobei in beiden Ländern aufgrund der Zunahme des Anteils der Älteren diese Tendenz steigt. Auf die Bedeutung dieses Verhältnisses für die sozialen Sicherungssysteme auch in Frankreich verweist die Demografieforscherin Michèle Dion (2013) in ihrem Artikel in der deutsch-französischen Ausgabe der Zeitschrift Praeview und fordert eine kulturelle Neuorientierung, um die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern.

3. D EMOGR AFIEBEDINGTE K ONFLIK TE UND F OKUSSIERUNGEN AUF DEM DEUTSCHEN UND DEM FR ANZÖSISCHEN A RBEITSMARK T Die Arbeitsmarktsituation in Deutschland und in Frankreich ist grundsätzlich sehr unterschiedlich. Frankreich verzeichnet nach den Jahren der wirtschaftlichen und politischen Krisen im Jahr 2013 eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 11,8 Prozent, die Tendenz ist weiterhin steigend. Wichtige Reformen, die diese Situation verbessern könnten, können politisch und gesellschaftlich nicht durchgesetzt werden. Durch ein Ensemble von Maßnahmen (beispielsweise Agenda 2010) wurde in Deutschland bereits früh damit begonnen, Arbeit zu flexibilisieren und billiger zu machen. Die Wochen- und Lebensarbeitszeit wurden verlängert, was zu einer niedrigen Arbeitslosigkeit und zu einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft führte. Deutschland kam so relativ unbeschadet durch die Krise, doch gab es durchaus negative Seiteneffekte: Erhöhte psychische Belastung durch Burnout, schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, prekäre und diskontinuierliche Arbeitsverhältnisse. Die Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen wird auch durch diese Aspekte gefährdet. Der demografische Wandel und der drohende Fachkräftemangel verstärken die negativen Entwicklungen in der Arbeitswelt und werden als Schlüsselprobleme betrachtet. Aus diesem Grund setzt sich seit einigen Jahren der öffentliche Diskurs mit diesem Thema auseinander. Die Bundesregierung entwickelte eine eigene Demografiestrategie (»Jedes Alter zählt«) mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erhalten; Unternehmen schlossen sich zu Netzwerken zusammen (beispielsweise »Das Demografienetzwerk« [ddn]), um die hiermit verbundenen Probleme anzugehen. Ein starker Akzent liegt bei allen Ansätzen auf dem Bestreben, bisher nicht genutzte Potenziale für den Arbeitsmarkt zu aktivieren. Vergleicht man die Entwicklung der Arbeitslosenquoten Älterer (55–64 Jahre) in den letzten zehn Jahren in Deutschland und Frankreich wird deutlich, dass es in Deutschland gelungen ist, mehr Ältere in die Arbeitsprozesse einzubinden, während in Frankreich die Tendenz rückläufig ist, wobei in Frankreich hinzu kommt, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter mit 59,3 Jahren zwei Jahre unter

Demografischer Wandel und generationssensible Organisationsentwicklung

dem deutschen Durchschnitt liegt.2 Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird verständlich, dass neben der Beschäftigungsquote der Älteren in Deutschland auch die der Jüngeren stieg. Die steigenden Beschäftigungszahlen bei Älteren bezeugen auch eine steigende Wertschätzung dieser Beschäftigungsgruppe, was in Frankreich eben auch aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung nicht der Fall ist. Hier muss kein Rückgang der jüngeren »workforce« befürchtet werden, die Potenziale Älterer rücken so erst gar nicht in den Blick. Französische Unternehmen sind oft nicht bereit, Beschäftigte über 50 in die entscheidenden Arbeitsprozesse und vor allem in die Innovationsprozesse einzubinden. Eigentlich gilt man bereits ab 45 als »Sénior»› und damit oft als unbrauchbar: »Der Begriff ›Sénior‹ ist in Frankreich negativ besetzt. In der allgemeinen Vorstellung ist ein Sénior nicht flexibel. […] Die neuen Managementmodelle geben den Älteren wenig Spielraum. Ein Beschäftigter muss perfekt anpassbar sein, die Potenziale älterer Beschäftigter werden nicht wahrgenommen.« (Migliore 2013, S.  17) Diese mangelnde Wertschätzung der Potenziale Älterer führt dazu, dass die Arbeit für diese Beschäftigten als Belastung betrachtet wird und ein früher Ruhestand als Privileg gesehen wird. Da auch den Jüngeren keine Wertschätzung entgegengebracht wird und sie oft als billige Arbeitskräfte in prekären Arbeitsverhältnissen missbraucht werden, sehen sie in den Älteren nur die, die ihnen gute Arbeitsplätze streitig machen. Dass die Kompetenzprofile der unterschiedlichen Altersgruppen komplementär sind, ist ein Gedanke, der vor diesem Hintergrund in Frankreich keine Bedeutung hat. Eine funktionierende Zusammenarbeit ist unter diesen Voraussetzungen nicht realisierbar; sowohl die Unternehmen als auch die französische Regierung haben dies erkannt und versuchen mit unterschiedlichen Konzepten, die weiter unten thematisiert werden, die Situation zu verbessern. Darüber hinaus hat diese Entwicklung zu einer Entwertung der Arbeit in Frankreich geführt. Mangelnde Wertschätzung, niedrige Löhne, schlechte soziale Beziehungen zu den Kollegen, fehlende Identifikationsmöglichkeiten und Sinnhaftigkeit, all das hat dazu geführt, dass Arbeit für viele Franzosen ihren Wert verloren hat und ein frühes Ende der Erwerbstätigkeit als Privileg gesehen wird. Arbeit gilt nicht mehr als eine Unterstützungsstruktur, durch die persönliche Freiheit umgesetzt werden kann. Für die allermeisten ist eine Berufstätigkeit jenseits der 60 nicht akzeptabel. Die Unternehmen unterstützen diese Tendenz durch Vorruhestandsregelungen, an denen sie festhalten, obwohl sich seit langem erwiesen hat, dass ein 55-jähriger Mitarbeiter nicht einfach durch einen 25-jährigen Mitarbeiter ersetzt werden kann (vgl. Dion 2013). Auch in Deutschland war eine Vorruhestandskultur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Dieser wurde durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters ein Ende ge-

2 | In Deutschland sank die Arbeitslosenquote Älterer von 12,4 % in 2006 auf 6,4 % in 2011, in Frankreich stieg sie von 5,4 % auf 6,5 % (Quelle Eurostat 2014).

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setzt, allerdings gab es auch hier nie eine Entwertung der Arbeit in dem Maße, wie sie in Frankreich erfahren wird. Bei dem Vergleich der vor dem demografischen Hintergrund betrachteten Situation des Arbeitsmarktes in Deutschland und Frankreich ergeben sich zwei für beide Länder unterschiedliche Problem- und damit Handlungsfelder. Während in Deutschland das Hauptinteresse darin liegt, das gesamte vorhandenen Arbeitspotenzial zu aktivieren, zu innovieren und zu entwickeln, geht es in Frankreich darum, den Clash der Generationen auf dem Arbeitsmarkt in den Griff zu bekommen und die Wertschätzung für Arbeit wieder zu erhöhen.

4. L ÖSUNGSSTR ATEGIEN IN D EUTSCHL AND UND F R ANKREICH Der Schwerpunkt der arbeitspolitischen Maßnahmen in Frankreich liegt auf einer generationssensiblen Personalentwicklung, da hier ein hohes Konfliktpotenzial zu erkennen ist. Jüngere und ältere Beschäftigte bilden benachteiligte Gruppen auf dem Arbeitsmarkt und konkurrieren um wenige freie Stellen. Auch die Regierung Hollande konnte vor allem die schwierige Situation der »Séniors« nicht ändern. Bis Mai 2014 ist die Zahl der Arbeitslosen 50+ sogar noch um 12 Prozent gestiegen. Auf der anderen Seite gelten auch jüngere Arbeitnehmer als benachteiligte Gruppe; von einem ausgerollten roten Teppich wie in Deutschland kann hier nicht die Rede sein (die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen lag im Mai 2014 in Frankreich noch über dem EU-Durchschnitt bei 22,5 %, in Deutschland bei 7,8 %, vgl. Le Monde Blog, Luiprésident 2014). Die Generation zwischen den »Jeunes« und den »Séniors« gilt als die Generation, die die wichtigen Positionen innehat, aber auch einer hohen Belastung unterliegt. Diese Situation hat zu einer starken Stigmatisierung der generationellen Gruppen untereinander und zu einer gestörten Generationenbalance in der Arbeitswelt geführt, auf die Unternehmen und Politik gezielt reagieren, um die Zusammenarbeit zu verbessern und Stereotype abzubauen. Dabei sind auch für Deutschland interessante Ansätze erkennbar, denn hier hat das Thema nicht wie in Frankreich Priorität und führte somit bisher nicht zu hervorgehobenen Maßnahmen. In Deutschland stellt sich aufgrund des Fachkräftemangels vornehmlich die Frage, wie die Innovationsfähigkeit älterer Beschäftigter, die hier nunmehr als Potenzial in den Blick gerückt sind, erhalten und wie Erwerbsbiografien dahingehend gestaltet werden können. Die Beschäftigungsrate der über 50-Jährigen ist bedeutend höher als in Frankreich und es wird immer deutlicher, dass ältere Beschäftigte zunehmend Aufgaben übernehmen müssen, die zuvor eher von jüngeren Beschäftigten übernommen wurden. Dieser besonders in Innovationsprozessen deutliche Wandel muss, so glauben Politik und Unternehmen, durch Maßnahmen unterstützt werden, damit die Innovationsfähigkeit Deutschlands erhalten bleibt. Die Jüngeren werden aufgrund ihrer schrumpfenden Zahl verstärkt von den Unternehmen nachgefragt, ihr Marktwert und somit auch ihr

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Selbstverständnis haben sich in Deutschland beträchtlich verändert. Daneben werden aber immer öfter auch bisher benachteiligte Personengruppen (Beschäftigte mit Migrationshintergrund, Frauen nach der Erziehungspause, ältere Beschäftigte) als Potenzial erkannt. Diese Aspekte rücken in Frankreich nicht von allein in den Blick, da das Damoklesschwert des Fachkräftemangels fehlt. Die beiden skizzierten Handlungsfelder haben in Deutschland und Frankreich zu unterschiedlichen demografieorientierten Konzepten und Strategien geführt. Dabei gibt es natürlich in beiden Ländern vielfältige auf unterschiedliche demografische Probleme bezogene Ansätze. In diesem Beitrag geht es darum aufzuzeigen, dass sich durch unterschiedliche Schwerpunkte spezifische Sichtweisen herausgebildet haben, die bestimmte Handlungsfelder des demografischen Wandels deutlich machen, andere hingegen verdecken. Führt man diese Sichtweisen zusammen, können beide Seiten davon lernen. Der drohende Fachkräftemangel und die Angst vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft haben in Deutschland zu einer Art Diskurswende in Bezug auf die Sichtweise der Potenziale älterer Beschäftigter geführt. Seit einigen Jahren bemüht sich die Bundesregierung, den demografischen Wandel als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu gestalten. Unter dem Motto »Jedes Alter zählt« wurden Handlungsvorschläge erarbeitet, die arbeitsmarktpolitisch besonders auf die Sicherung des Fachkräftepotenzials, die Mobilisierung aller Potenziale und das Kompetenzmanagement abzielen. In zahlreichen Initiativen, Programmen und Projekten wurden und werden Ansätze entwickelt, die es Unternehmen und Beschäftigten ermöglichen, die Herausforderungen des demografischen Wandels anzunehmen und zu gestalten. Demografie-Checklisten, Instrumente zur Altersstrukturanalyse, zur Gesundheitsprävention und zum Erhalt beziehungsweise zur Unterstützung der Arbeitsfähigkeit, zu lebensphasensensiblem Personalmanagement und zum Kompetenzprofiling beziehungsweise der Entwicklung der Kompetenzen und zur Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung sind Beispiele für konzeptionelle Entwicklungen und Instrumente zur Unterstützung von Beschäftigten und Unternehmen. Das Projekt DEBBI und zahlreiche weitere Projekte im Förderschwerpunkt »Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel« stehen für Programme der angewandten Forschung, die das Bemühen zeigen, die gemeinsame Strategie von Staat, Wirtschaft, Sozialpartnern und Forschung voran zu bringen. Die Befürchtung, dass Engpässe beim Fachkräftepotenzial und eine Alterung des Arbeitskräftepotenzials zu einem Verlust an Wirtschaftskraft führen, hat zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein für die demografischen Herausforderungen, zu einer Neubewertung und zu einem neuen Selbstbewusstsein spezifischer Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt und auch zu einer Aufwertung von Arbeit geführt. Vor allem kleine und mittelständige Unternehmen in Deutschland lernen Arbeitskräfte als ein Potenzial zu betrachten, das es zu erhalten und wertzuschätzen gilt. Dies hat direkte Folgen für Arbeitsbedingungen und Selbsteinschätzung der Beschäftigten. Arbeit wird tendenziell positiver bewertet, auch wenn prekäre Arbeitsverhältnisse und psy-

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chische Belastungen nach wie vor ernste Probleme schaffen. Trotzdem gibt es viele besonders auch junge Menschen, die Arbeit als Medium sehen, persönliche Freiheit zu gestalten. Alle diese auch durch die Bevölkerungsentwicklung verursachten positiven Tendenzen in der Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Bewertung von Arbeit vollziehen sich allerdings vor dem Hintergrund einer stark durch Individualisierung geprägten Gesellschaft. Diese Individualisierung wird durch moderne Arbeitsformen und diskontinuierliche Erwerbsbiografien noch verstärkt. Es gibt Problemfelder, die, wenn man allein mit dem deutschen Blickwinkel auf demografische Herausforderungen blickt, oft nicht berücksichtigt werden. Auf der Ebene von diskontinuierlichen Erwerbsbiografien gibt es noch keine überzeugenden und nachhaltig effizienten Lösungsmodelle für Beschäftigte, ihr Arbeitsleben gesundheitsfördernd, Arbeitskraft erhaltend und wirtschaftlich und sozial abgesichert zu gestalten. In den durch Diversität geprägten Teams treten häufig Dysbalancen auf, die eine innovationsförderliche Zusammenarbeit und eine Zusammenführung unterschiedlicher Potenziale verhindern. Die existierenden Ansätze sind häufig zu stark aus einer ökonomischen Perspektive gedacht, die die Interessen des Unternehmens klar in den Vordergrund stellt. Natürlich sind auch in Frankreich die Folgen moderner, globalisierter Arbeit in einem deutlichen Trend zur Individualisierung zu spüren. Der Kult um das Individuum ist vor allem in der französischen Kunst und Literatur sprichwörtlich, doch blieb er hier im Gegensatz zu Deutschland immer auf die Gesellschaft bezogen.3 Bezogen auf die Arbeitswelt als einen Teil des gesellschaftlichen Lebens war Individualismus hier immer eingebettet in eine Tradition kollektivistischer Identifikationsstrukturen, deren Verlust auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zu Problemen und Frustration führt. »In der Vergangenheit wurden die Entwicklung gemeinsamer Werte und eine Identifikation jenseits generationeller Opposition durch Strukturen gestützt, die auf Unternehmenszugehörigkeit und kontinuierlicher Erwerbstätigkeit basierten. Die Beschäftigten entwickelten über die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen ein positives Selbstwertgefühl. Alt und Jung waren verstärkt an der Entwicklung und Realisierung gemeinsamer Ziele interessiert.« (Lacassagne/Steinberg 2013, S. 26)

Arbeit wurde in Frankreich nicht als Gestaltungsmittel persönlicher Ziele und Interessen gesehen, sondern als kollektives Handlungsfeld zur Realisierung gemeinsamer gesellschaftlicher Werte. Diese Sichtweise von Arbeit ist in modernen, globalen, ökonomisch orientierten Gesellschaften nur sehr schwer zu realisieren, wodurch sie für viele französische Arbeitnehmer ihre Bedeutung verloren hat und keinen Identifikationsraum mehr bietet. Hinzu kommt, dass für

3 | Vgl. hierzu bereits die Ausführungen von Mme de Stael (1958) (beispielsweise in Kapitel 3).

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Frankreich häufig eine relativ hohe Machtdistanz diagnostiziert wird, 4 die den Verlust der Sinnhaftigkeit der Arbeit noch schwerer erträglich macht, weil sie in innerbetrieblichen Strukturen Zusammenarbeit und gemeinsame Identifikationsmöglichkeiten beeinträchtigt. Vor diesem Hintergrund wird der Kampf um den Arbeitsplatz, der für viele nur noch als Mittel zum Lebenserhaltung gesehen wird, und die mangelnde Wertschätzung bestimmter Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt sehr viel intensiver erlebt. Die hohen Arbeitslosenquoten und der Bevölkerungszuwachs sowohl bei den Älteren (erhöhte Lebenserwartung) als auch bei den Jüngeren (hohe Geburtenraten) haben gerade diese beiden generationellen Gruppen zu Benachteiligten des Arbeitsmarktes gemacht, die sich zudem als Konkurrenten empfinden (Thévenet-Abitbol 2013). Die seit Jahren hohe Arbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass Arbeitskräfte nicht als Potenzial behandelt und wertgeschätzt werden und auf der anderen Seite die Arbeit nicht mehr als Wert wahrgenommen wird, sondern als notwendige Lebensphase, die man möglichst schnell hinter sich lassen will. Arbeitsmarktpolitisch hat nicht die Kompetenzentwicklung und die Mobilisierung von Potenzialen höchste Priorität, vielmehr die Balance von unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, die ihren als höchstes Gut betrachteten Gemeinsinn verliert. Den generationellen Gruppen gilt aufgrund ihrer dargelegten Situation eine besondere Aufmerksamkeit auf dem französischen Arbeitsmarkt. Die Handlungsansätze der französischen Regierung und der Unternehmen weisen genau in diese Richtung. Hier sei nur auf einige Beispiele verwiesen. Mit dem »pacte générationnel« oder »contrat de génération« hat Arbeitsminister Michel Sapin seit Herbst 2012 ein Instrument eingeführt, das die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und das Erfahrungswissen Älterer sichern soll. Das Gesetz verpflichtet Unternehmen abhängig von ihrer Größe zu unterschiedlichen Modellen von Tutoriaten (vgl. beispielsweise Le contrat de génération, mode d’emploi, Le Monde.fr). In groß angelegten Kampagnen wird der »contrat de génération« von den Sozialpartnern umgesetzt und kontrolliert. Der Erfolg ist allerdings noch gering und viele Franzosen kritisieren ihn als rückwärtsgerichtete Strategie, die den veränderten kulturellen Rahmenbedingungen nicht angepasst ist. Durch die als Folge der Krise und der Globalisierung allgegenwärtige Knappheit der Ressourcen in der Arbeitswelt finden sich ältere Beschäftigte heute in einem 4 | Geert Hofstede (2011) spricht von Machtdistanz als einer von vier Kulturdimensionen, über die sich unterschiedliche nationale Kulturen vergleichen lassen. Machtdistanz bezeichnet das Ausmaß, in welchem akzeptiert wird, dass Macht ungleich verteilt ist und ist somit auch ein Indikator für hierarchische Strukturen innerhalb von Kulturen. In seiner IBM Studie weist Frankreich mit 68 Punkten im Vergleich zu Deutschland mit 35 Punkten einen hohen Wert auf (Hofstede/Hofstede 2011, S. 55). In den im Projekt geführten Interviews spiegelt sich dies in den Aussagen zu starken Hierarchien in französischen Unternehmen.

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komplett anderen Arbeitszusammenhang wieder als dem, mit dem sie sich während ihres ganzen Erwerbslebens identifiziert haben. Die ihnen heute auferlegte Arbeitsweise steht im Widerspruch zu einer Kultur der Solidarität, die vor der Krise in vielen Unternehmen existierte. Zudem werden die auf anderen Werten und Vorstellungen beruhenden Erwartungen und Bedürfnisse der Jüngeren immer mehr kulturprägend. Älteren Beschäftigten gelingt es oft nicht mehr, ihre eigene Kultur in ihrer täglichen Arbeit wiederzufinden. Ihr Wissen scheint jegliche Relevanz verloren zu haben und aus ihrer Sicht gibt es nichts, was sie einer Generation, mit der sie nichts teilen, vermitteln könnten. (Dion 2013, S. 10) Die Konzepte zur Umsetzung des Generationenvertrags basieren auf einem tradierten Rollenverständnis der Generationen, das in modernen Arbeitsprozessen das Verhältnis zwischen Alt und Jung nicht mehr trägt, das wird in einer deutsch-französischen Perspektive deutlich. Man bemüht sich, Wissen und hier besonders Erfahrungswissen zu transferieren. Unterschiedliche, sich ergänzende Kompetenzen der verschiedenen Altersgruppen werden nicht reflektiert. Ansätze wie das Programm »Octave« der Unternehmensgruppe Danone sind da wesentlich kreativer und effizienter. Hier werden in Führungskräftetrainings und speziellen Programmen für Beschäftigte Stereotypisierungen aufgedeckt und abgebaut, was zu einer effizienteren intergenerationellen Zusammenarbeit führen soll (Thévenet-Abitbol 2013). Diese Ansätze werden auch bei intermediären Institutionen in Frankreich (beispielsweise CCI [Industrie und Handels Kammer], APEC [Association pour l’emploi des cadres], Gewerkschaften) realisiert, doch haben alle Bemühungen bisher noch nicht zu einer veränderten Wahrnehmungen der Generationen geführt, da die Situation auf dem Arbeitsmarkt und auch die Einstellungspolitik der Unternehmen das nicht zulässt. Deutlich wird dies vor dem Hintergrund der deutschen Strategie, an der sich zeigen lässt, dass nur durch eine gemeinsame gesellschaftliche Handlungsstrategie, die Politik, Wirtschaft und Beschäftigte integriert und die in Deutschland durch die Befürchtung des Fachkräftemangels unterstützt wurde, eine nachhaltige Verbesserung der Situation möglich wird. Der Vergleich der unterschiedlichen prioritären Handlungsfelder in Deutschland und Frankreich zeigt, dass aufgrund einer spezifischen demografischen Ausgangssituation und aufgrund von kulturellen Unterschieden verschiedene nationale Lösungsansätze entwickelt wurden, die in ihrer Umsetzung auf nationale Probleme treffen. Eine transkulturelle Sichtweise der gemeinsamen Herausforderung könnte zu einer holistischen Auseinandersetzung mit den Problemen führen, die natürlich auf der anwendungsbezogenen Ebene auf den jeweiligen kulturellen Hintergrund heruntergebrochen werden müsste.

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5. TR ANSNATIONALE H ANDLUNGSKOMPE TENZ ZUR B E WÄLTIGUNG KOMPLE XER H ER AUSFORDERUNGEN MODERNER G ESELLSCHAF TEN Unseren Folgerungen liegt die Annahme zu Grunde, dass transnational entwickelte Handlungsstrategien die Auseinandersetzung mit Problemen moderner Gesellschaften erheblich vereinfachen. Am Beispiel der Konsequenzen des demografischen Wandels für die Arbeitswelt wird dies hier dargestellt. In vielen westlichen Gesellschaften führen die Erhöhung der Lebenserwartung und ein moderner Lebensstil, in dem die Geburtenraten sinken, zu demografischen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur. Diese Gesellschaften stehen vor der Herausforderung, die Grundlagen ihres Zusammenlebens zu überdenken und den neuen Bedingungen anzupassen. Für diese Anpassung ist ein hohes Maß an Kreativität und innovativem, Grenzen überschreitenden Denken notwendig. Nicht nur diese gemeinsame Herausforderung, sondern auch die Tatsache, dass sich Ökonomien immer mehr globalisieren und moderne Lebensweisen zu vielen Problemen führen, die nicht an nationalen Grenzen Halt machen, legen nahe, dass gemeinsame Strategien zur Bewältigung der Probleme entwickelt werden sollten. Auf der anderen Seite wurde durch den Vergleich DeutschlandFrankreich deutlich, dass Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung, verschiedene wirtschaftliche Ausgangssituationen und auch kulturelle Profile spezifische nationale Ansätze hervorbringen, die nicht einfach zu übertragen sind. Wir haben aber auch erkannt, dass der durch die nationale Fokussierung beschränkte Blickwinkel verengt ist und viele Aspekte, die für nachhaltige Lösungsstrategien nötig wären, unberücksichtigt lässt. Hier kann nur ein Blick über den Tellerrand Abhilfe schaffen. »Indem man über die Grenzen hinweg schaut, erhält man auf effektivste Art und Weise neue Ideen für Management, Organisation und Politik. Doch sie in andere Länder hinauszutragen, erfordert Umsicht und Urteilsvermögen. Nationalität engt Rationalität ein.« (Hofstede 2011, S.  364) Für uns stellte sich die Frage, auf welche Weise Länder voneinander lernen können. Wie können Ideen, die in einem spezifischen kulturellen Kontext entstanden sind, durch ihre Übertragung auf einen anderen Kontext profitieren und wie kann man diesen Vorgang zu einer Handlungsstrategie modellieren? Lässt man sich auf eine den eigenen kulturellen Kontext überschreitende Perspektive mit der Absicht ein, diesen erweiterten Blickwinkel für die Gestaltung von Lösungsstrategien der Probleme moderner Gesellschaften zu nutzen, bedarf es einer besonderen Handlungskompetenz, die unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern zu kontextualisieren und auf unterschiedliche Ebenen zu beziehen. Michel Mattoug (2006) spricht von einer Interface-Kompetenz zur Bewältigung von Hyperkomplexität (S. 216). So wird deutlich, dass die Handlungsstrategien in Deutschland und Frankreich einen komplementären Charakter haben, der sich erst durch die spezifische nationale Entwicklung offenbart. Der »contrat de génération« könnte funktionieren, wenn ihm die Strategie »Jedes Alter zählt« zu Grunde liegen würde. Altersgruppen können ihre Potenziale nur in

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gemeinsame Arbeits- und Innovationsprozesse einbringen, wenn die Parameter der Zusammenarbeit neu definiert werden. Die Komplexität dieser Zusammenhänge ist leichter zu erkennen, wenn man den nationalen Kontext verlässt. Um die kontrastierende Analyse der Probleme und der Ansätze für Lösungsstrategien, vor deren Hintergrund ein transnationales Handlungskonzept erarbeitet wurde, zusammenzufassen, lassen sich folgende Tendenzen herausstellen: Frankreich: • steigende Arbeitslosenquoten bei älteren und jüngeren Beschäftigten, • geringe gesellschaftliche Wertschätzung beider generationeller Gruppen, • Maßnahmen zielen auf Wissenstransfer, um Wissen zu erhalten, berücksichtigen nicht die unterschiedlichen komplementären Kompetenzprofile, • aufgrund der schwindenden gesellschaftlichen Identifikationsstrukturen verliert die Arbeit, die als gesellschaftliche Aufgabe interpretiert wurde, für viele an Wert. Deutschland: • steigende Beschäftigungsquoten bei Älteren und Jüngeren, • steigende gesellschaftliche Wertschätzung dieser Beschäftigtengruppen, • Priorität von Maßnahmen liegt auf der Förderung und Entwicklung der Kompetenzen einzelner, • Arbeit gilt als Gestaltungsmittel persönlicher Ziele, nicht als gesellschaftliche Aufgabe, dadurch kommt es zu einer steigenden Individualisierung und zu Problemen bei der Zusammenführung von Kompetenzen. Betrachtet man die französischen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Generationenbalance, wird durch eine an der deutschen Situation orientierten Lesart deutlich, dass ihr Erfolg unterstützt werden könnte, wenn durch Maßnahmen zur Identifizierung und Entwicklung der Potenziale generationeller Gruppen die Wahrnehmung dieser Gruppen untereinander verändert und ihr gesellschaftlicher ›Wert‹ verbessert werden könnte. In Deutschland würde ein Ansatz zur Wiederherstellung der Generationenbalance helfen die Zusammenarbeit zu optimieren und sie in einen auf Gemeinschaftlichkeit basierenden Kontext zurückzuholen. Die transnationale Perspektive verändert den Blick auf die Realität und lässt Interrelationen erkennen, die ansonsten unberücksichtigt geblieben wären. Dabei geht es nicht um die transnationale Adaption von Handlungsstrategien, sondern um einen Erkenntnisgewinn bei der Bewältigung von Komplexität. Im Projekt DEBBI wurden Handlungskonzepte für eine moderne demografiesensible Personalarbeit entwickelt, die in einem »begehbaren Werkzeugkoffer« deutschen und französischen Unternehmen präsentiert und zur Verfügung gestellt werden. Dieser Werkzeugraum soll Personalverantwortliche und auch Beschäftigte selbst dazu einladen, die unterschiedlichen Problemebenen des demografischen Wandels in der Arbeitswelt zu reflektieren und Lösungsstrategien zu

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erproben. Insbesondere das Tool zur Entwicklung einer intergenerationellen Innovationskultur »Fit For Intergenerational Innovation« wurde in direkter Zusammenarbeit aus einer transnationalen und interdisziplinären Perspektive heraus entwickelt und berührt somit Zusammenhänge, die in einer nationalen, auf eine Disziplin bezogenen Perspektive nicht in den Blick rücken. Das Workshopkonzept visiert eine Kultur der Zusammenarbeit an, die die Fähigkeiten und Potenziale der unterschiedlichen Gruppen identifiziert und integriert und darüber die Wahrnehmung der Akteure untereinander verändert. Die Wahrnehmung von Anforderungen in Innovationsprozessen und das Verständnis von Innovation selbst haben sich in den letzten Jahren stark modifiziert.5 Es geht mehr und mehr um die Verknüpfung der Kompetenzen unterschiedlicher Akteure und die Komplementarität verschiedener Innovationstypen. Altersheterogene Teams, in denen sich die Stärken und Schwächen von jungen und älteren Beschäftigten ergänzen und somit Diversität abbilden, sind für Unternehmen ein Weg, Innovationsfähigkeit zu erhalten und zu erhöhen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass altersspezifische Fähigkeiten gezielt eingesetzt und entwickelt werden müssen und dass sie sich in den Arbeitsprozessen komplementieren. Hierzu ist ein gezielt auf diesen Zusammenhang abgestimmtes Personal- und Innovationsmanagement nötig. Hierzu leistet der Workshop für Unternehmen in Deutschland und Frankreich einen Beitrag. Er wendet sich an Unternehmen und Organisationen, die die Generationenzusammenarbeit verbessern und intergenerationelle Innovationspotenziale besser ausschöpfen wollen und ist konzipiert für Personalgespräche zwischen Personalverantwortlichen (oder externen Coaches) und Mitarbeitern aus unterschiedlichen Generationen (mindestens 2). Interaktion und Verhältnis der Generationen untereinander sollen verbessert werden. Der Abbau von Stereotypen und die Visualisierung der Stärken und Schwächen der Altersgruppen sollen altersspezifische Potenziale erkennbar machen und zu einer multigenerationellen Innovationskultur führen, die in beiden Ländern angestrebt wird, dort aber auf unterschiedliche Barrieren trifft. Der Workshop ist in direkter deutsch-französischer Zusammenarbeit entstanden und setzt sich aus vier Phasen zusammen. Diese entsprechen unterschiedlichen Problemlagen in Deutschland und Frankreich und verfolgen unterschiedliche aufeinander auf bauende Ziele. Die Idee wurde auf der Basis der Konzeption der »Partition Sociale« (Castel/Lacassagne 2011) und dem darauf auf bauenden Befragungsinstrument REPMUT entwickelt, das von einer Arbeitsgruppe am Institut für Sozialpsychologie und Sportmanagement an der Universität Burgund kontinuierlich genutzt und weiterentwickelt wird.6 Ein weiterer Ausgangspunkt für die Entwicklung war das OE- und PE-Programm »Octave«, das in der Unternehmensgruppe Danone in Frankreich entwickelt und mit dem FIAP diskutiert wurde (Thevenet-Abitbol 2013). Diese Ins5 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Silke Steinberg und Kim Lauenroth in diesem Band. 6 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Marie Jégu et al. in diesem Band.

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trumente wurden vor dem Hintergrund der Problemlage in Deutschland und Frankreich erörtert und am FIAP zu einem anwendungsbezogenem Tool moderner Personalentwicklung in Deutschland weiterentwickelt. Die vier Phasen setzen sich wie folgt zusammen: Phase 1: Visualisierung der Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung älterer und jüngerer Beschäftigter (Erkundungsphase); Phase 2: Aufdeckung von Stereotypen (Reflexionsphase); Phase 3: Entwicklung und Reflexion altersspezifischer Kompetenzprofile und ihrer Funktion in Innovationsprozessen (Auf bauphase); Phase 4: Zusammenstellung altersdiverser, innovationsorientierter Teams in konkreten Arbeitsaufgaben, Visualisierung der Komplementarität der altersspezifischen Kompetenzen (Umsetzungsphase). Durch die moderierte Interaktion soll von den Teilnehmern selbst ein Szenario entwickelt werden, in dem die Innovationsanforderungen in den Arbeitsprozessen durch den gezielten Einsatz und die Verbindung altersspezifischer Fähigkeiten ideal erfüllt werden. Sowohl visuell als auch in der Diskussion soll deutlich werden, dass in diesem Szenario nur die Komplexität der unterschiedlichen Innovationsbeiträge den Erfolg sichert. Durch die Diskussion und die Zusammenarbeit in der Übungsaufgabe soll eine Basis für das intergenerationelle Verständnis und die gegenseitige Wertschätzung in den Interaktionen der realen Arbeitsprozesse geschaffen werden. Phase 1 und 2 sind der französischen Perspektive zuzuordnen. Sie reagieren auf die Problematik, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Generationenbalance aufgrund tradierter, festgefahrener Generationenbilder und oppositioneller Identifizierung der unterschiedlichen Altersgruppen nicht greifen. Phase 1 dient der Entwicklung der Selbst- und Fremdbilder der unterschiedlichen generationellen Gruppen aus jeweils getrennten Perspektiven. Diese werden in Phase 2 gegenübergestellt und reflektiert. Ziel ist es, Stereotypisierungen und Stigmatisierungen und das Missverhältnis in der Wahrnehmung der Generationen aufzudecken und über die Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdbild zu einer veränderten Wahrnehmung zu gelangen. Auch in deutschen Unternehmen erhöht das die Bereitschaft zu einer multigenerationellen Zusammenarbeit. Phase 3 und 4 fokussieren den Bedarf eines auf eine multigenerationelle Innovationskultur zielenden Kompetenzmanagements, das nicht die Kompetenzen des Einzelnen, sondern die Komplementarität der spezifischen Kompetenzen unterstreicht. In Frankreich stärkt dies die Wertschätzung der Altersgruppen untereinander, in Deutschland wird so der Innovationsprozess in einen Kontext gebettet, der die gemeinschaftliche Leistung betont. Der Entwicklungsprozess dieses Workshopkonzepts unterstreicht nicht nur den Vorteil einer transkulturellen Perspektive, sondern auch den Nutzen eines interdisziplinären Ansatzes. Sozialpsychologen, Demografieforscher, Sozialwissenschaftler und Kulturwissenschaftler haben in der Arbeitsgruppe gemeinsam versucht,

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ihre Instrumente und Objektbereiche zusammenzuführen, um so einen erweiterten Aktionsraum zu schaffen, der die Komplexität moderner Realität spiegelt. Alle im Projekt entwickelten Ergebnisse und Tools werden in ihrer Interdisziplinarität in Unternehmen in beiden Ländern präsentiert und diskutiert. Die Ergebnisse dieser Anwendungsphase sollen verglichen und weiterentwickelt werden, um so die Kontinuität des Austausches zu gewährleisten. Der dargestellte Arbeitsprozess der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Arbeitskreis zu den Auswirkungen des demografischen Wandels in der Arbeitswelt Deutschlands und Frankreichs demonstriert eine Antwort auf die Frage, wie Länder voneinander lernen können. Die Zusammenführung von unterschiedlichen nationalen und kulturellen Entwicklungen vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Problems, das sozusagen als Klammer die verschiedenen Perspektiven integriert, bietet sowohl einen komplexeren Erkenntnisbereich als auch eine Erweiterung des Handlungsspielraums für beide Länder. Sie verlangt eine übergreifende Handlungskompetenz, die von spezifischen Problemen abstrahiert und einen mehrdimensionalen Gesamtzusammenhang in den Blick bringt. Nicht nur die Forschung, sondern auch die Entwicklung von Handlungsstrategien in der Praxis profitieren von einem solchen Vorgehen.

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Wider den Krieg der Generationen in der Arbeitswelt Kategorisierung und ›Partitions Sociales‹ als Analyseraster für intergenerationelle Beziehungen in Unternehmen – Unterstützungsmöglichkeiten im Bereich Sport 1 Marie Jégu/Marie-Françoise Lacassagne/Philippe Castel

1. E INLEITUNG Die unterschiedlichen Probleme der demografischen Verschiebungen in der Bevölkerung erfordern einen möglichst langen Verbleib der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt, sowie Unterstützungsinstrumente, um die Rückkehr älterer Beschäftigter auf den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Diese Ziele können nicht realisiert werden ohne zuvor die Strategie für eine nachhaltige intergenerationelle Zusammenarbeit zu implementieren, welche die in der Funktionsweise von Unternehmen und der Gesellschaft im Allgemeinen verankerte, altersbezogene Segmentierung durchbricht und verwirft. In diesem Artikel wird versucht, die Beschäftigungssituation älterer Beschäftigter sowie die durch Altersdiskriminierung im Arbeitsumfeld und bei der Einstellung entstehenden Probleme insbesondere in Frankreich zu verdeutlichen. Die Notwendigkeit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit erfordert eine Analyse der Mechanismen und Prozesse, die die Beschäftigung von Älteren erschweren und intergenerationelle Konflikte hervorrufen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Versuch, die konstituierenden Elemente dieser Beziehungen und die gegenseitige Wahrnehmung der Individuen zu verstehen. Die Analyse stützt sich auf die jeweiligen sozialen Repräsentationen und die in diesem Kontext bestehenden Vorurteile und Stereotype. Die Theorie der sozialen Kategorisierung (die Arbeiten von Tajfel und Turner) und ihre Weiterentwicklung in den »Partitions Sociales« (Castel/Lacassagne 2011, 2005, 2004) bilden dabei die Grundlage, um Altersdiskriminierung und die Schwierigkeiten älterer Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt zu erklären. Ziel ist die Definition von 1 | Dieser Beitrag wurde aus dem Französischen übersetzt von Silke Steinberg.

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Lösungsstrategien, um die intergenerationelle Balance in den Unternehmen wieder herzustellen und die Komplementarität der altersspezifischen Kompetenzen in der intergenerationellen Zusammenarbeit zu stärken. Die Beschäftigungsfähigkeit, die Kreativität und Innovationsfähigkeit aller Beschäftigten sollen so gefördert werden. Ohne die intergenerationelle Balance wird es den Unternehmen nicht möglich sein, die Potenziale ihrer Mitarbeiter im demografischen Wandel zu nutzen. Betriebliche Sport- und Bewegungsangebote sind als Unterstützungsmaßnahmen in Unternehmen bisher wenig über ihre gesundheits- und leistungsbezogenen Aspekte hinaus erforscht. Hier wird eine Nutzung dieser Maßnahmen in Verbindung mit einem Kontrollindikator (die RepMut Methode zur Analyse von Intergruppen-Beziehungen) vorgeschlagen, die einerseits die intergenerationelle Balance verbessert und andererseits eine demografiesensible Unterstützung der individuellen Kompetenzentwicklung ermöglicht. Kontextfaktoren zum Verständnis der Beschäftigungssituation Älterer Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen, mit denen die Arbeitswelt aufgrund der Alterungsprozesse der Gesellschaften in Europa konfrontiert ist (Fagnani/Letablier 2011; Meier 2008), ist der Erhalt der Arbeitskraft der älteren Beschäftigten in Frankreich eines der wichtigsten Themen, das sowohl auf wirtschaftlicher, sozialer und demografischer Ebene, als auch für den Bereich Human Resources diskutiert wird (Farvaque 2011; Juban 2013). Trotz einer Erhöhung der Beschäftigtenquote Älterer von 38,4 Prozent (2003) auf 49,1 Prozent (2013) (ein Phänomen, das sich durch die Senkung des Renteneintrittsalters und verschiedener Möglichkeiten der Frühverrentung erklärt [Juban 2013]), liegt Frankreich immer noch deutlich unter dem Durchschnittswert der EU- 27 mit 54,5 Prozent angegeben wird (Eurostat Juli 2014). Dies, obwohl die auch die französische Gesellschaft mehr denn je darauf angewiesen ist, dass die Älteren so lange wie möglich aktiv bleiben: • • • • •

die Finanzierung der Renten, die Kosten für das Gesundheitssystem, die erhöhte Arbeitslosenquote bei den Jüngeren und den Älteren (und die damit verbundenen Kosten), die Furcht vor dem Fachkräftemangel und vor dem Verlust des Erfahrungswissens (im Sinne von Tardif/Lessard 1999), die Bedeutung der sozialen Bindung zwischen den Generationen und des sozialen Gleichgewichts (Cahuc 2005; Guillemard 2007; Juban 2013; Loisel 2002; Meier 2008).

Diese Herausforderungen machen eine Verlängerung des Erwerbslebens erforderlich.

Wider den Krieg der Generationen in der Arbeitswelt

Angesichts der Diskriminierungspraktiken gegenüber spezifischen Bevölkerungs- und Beschäftigtengruppen versucht die französische Politik einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der den Unternehmen gesetzliche Verpflichtungen auferlegt (Poilpot-Rocaboy/Pijoan/Chevance 2013). Seitdem erkannt wurde, dass die Frühverrentungsstrategie keine positiven Effekte auf die Beschäftigungsrate der Jüngeren hatte, sondern als kontraproduktiv angesehen werden kann (Guillemard 2007), hat die Regierung unter dem Druck der EU eine radikale Kursänderung vorgenommen. Seit Mitte der 2000er Jahre wurden Reformen implementiert, die auf den Verbleib der Älteren in der Beschäftigung und auf eine optimierte Nutzung und Entwicklung ihrer Kompetenzen abzielen (Farvaque 2011). Diese neue Orientierung bezeugt unter anderem ein nationaler Aktionsplan für den Zeitraum von 2006–2010. Dessen Resultate im Hinblick auf die Beschäftigungsraten und die Erhöhung des Renteneintrittalters sind ambivalent (Guillemard 2007). Sie haben zu einer erneuten gesetzlichen Verpflichtung (Gesetz zur Finanzierung der Sozialversicherung) geführt. Seit 2009 müssen Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern entweder eine Betriebsvereinbarung oder einen Aktionsplan zur Beschäftigung Älterer (Poilpot-Rocaboy/Pijoan/Chevance 2013) vorlegen. Seit März 2013 gilt das Gesetz n° 2013-185, das den »Contrat de génération« implementiert. Die Hauptziele dieser neuen Maßnahme sind: • • •

Einstellung jüngerer Beschäftigter in unbefristeten Arbeitsverhältnissen, der Verbleib in der Beschäftigung oder die Wiedereinstellung Älterer, der Transfer von Kompetenzen und Erfahrungswissen.

Es handelt sich um eine Unterstützungsmaßnahme, die, angepasst an die Unternehmensgröße, eine Finanzierungshilfe für die Einstellung eines Jüngeren und/ oder eines Älteren vorsieht, um die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen zu erhalten und zu steigern. Ohne in die gesetzlichen und administrativen Details zu gehen, bleibt zu betonen, dass diese Beschäftigungsmaßnahmen der Regierung nur mittelmäßige Resultate erbracht haben (Farvaque 2011; Guillemard 2007; Poilpot-Rocaboy et al. 2013). Trotz der gesetzlichen Bestimmungen und finanzieller Strafen bei Nichtbeachtung, treffen sie auf große Umsetzungsbarrieren in den Unternehmen. Auch wenn sich die unterschiedlichen Akteure aus Wirtschaft und Politik sowie die Sozialpartner2 gemeinsam der Problematik der Beschäftigung Älterer annehmen und ihre Unterstützungs-

2 | Gewerkschaften, nationale, regionale Regierungsinstanzen, öffentliche Verwaltungsstellen unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Arbeit, Beschäftigung und Gesundheit (wie zum Beispiel die Agence Nationale zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit ihrem Netz der Regionalagenturen), die Unternehmensinteressenvertretungen (wie beispielsweise die Industrie und Handelskammern oder die Vermittlungsagentur für Führungskräfte [APEC]).

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angebote, Subventionen oder Vorschläge zur sofortigen Nutzung3 erweitern, tun sich die Unternehmen weiterhin schwer oder verweigern sich, die Situation der älteren Beschäftigten nachhaltig zu verändern. Beispielsweise zeigen Zahlen der APEC-Bourgogne (Vermittlungsdienst für Führungskräfte), die bei einer Vorstellung des »Contrat de génération« innerhalb einer Führungskräfteschulung zur intergenerationellen Kooperation präsentiert wurden, dass nur 13 Prozent der berechtigten Führungskräfte die vorgesehene Beratung zur zweiten Karrierehälfte (gesetzliche Maßnahme zur Unterstützung des Erhalts der Beschäftigungsfähigkeit Älterer) seit 2009 auch wirklich erhalten haben und weniger als ein Viertel der Unternehmen im Burgund dem »Contrat de génération« angemessen handeln. Trotz der zehnjährigen Praxis von Maßnahmen und Instrumenten, trotz des Dialogs der Sozialpartner und der öffentlichen Regulierung bleibt das Alter noch immer das erste Diskriminierungskriterium bei Einstellungen (Amadieu et al. 2012, für die Beobachtung von Diskriminierung; IFOP und Organisation Internationale du Travail [OIT] 2014, für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen). Die Versuche, den Erhalt der Beschäftigung Älterer (Farvaque 2011) zu fördern, scheinen an sehr subtilen Widerständen zu scheitern, die man auf einer den betroffenen Bevölkerungsgruppen inhärenten Ebene verorten kann und die über ökonomische, politische und soziale Aspekte im Hinblick auf die Beschäftigung Älterer hinausgehen. Unsere Absicht, diese Widerstände bezüglich der Generationenbalance, der Kooperation zwischen Älteren und Jüngeren und der Nutzung altersspezifischer Kompetenzen zu identifizieren, hat uns veranlasst die existierenden Stereotype und die Diskriminierungen sowie die relevanten sozialen Repräsentationen und Intergruppen-Beziehungen zu hinterfragen. Wir glauben, dass das Problem nicht nur auf struktureller und organisationaler Ebene zu diskutieren ist, sondern auch hinsichtlich gesellschaftlicher und sozialer Kategorien analysiert werden muss, damit existierende Maßnahmen greifen können. Das Analyseraster der sozialen Kategorisierung und der »Partitions sociales« verspricht dabei präzise, auf den Kontext angepasste Resultate.

3 | Die CCI de Côte d’Or (Industrie und Handelskammer der Côte d’Or) bietet den Unternehmen Diagnosetools und HR Lösungskonzepte an, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern (beispielsweise »Diagnostic RH«, »Diagnostics spécialisés«, »Diagnostic Séniors«, »Gestion Prévisionelle des Emplois et des compétences«, »Accompagnement RH«, »Le Pack’age carrière« … Die APEC stellt Qualifizierungsmodule bereit »Objectif intergénération« für Verfahren des Altersmanagements in Unternehmen, »Ateliers Pratiques RH« für Wissenstransfer. Sie bieten auch Programme zur Eingliederung jüngerer Arbeitnehmer und individuelle Beratungsangebote für Führungskräfte.

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2. S OZIALE K ATEGORISIERUNG UND A NALYSE DER I NTERGRUPPEN -B EZIEHUNGEN Um die Intergruppen-Beziehungen und die Diskriminierung älterer Beschäftigter im Arbeitsumfeld zu untersuchen ist das Verständnis des Prozesses der sozialen Kategorisierung notwendig. Der Begriff der sozialen Kategorisierung, insbesondere durch die Arbeiten von Henri Tajfel und seinem Schüler John C. Turner zuerst in Hinblick auf die soziale Identität und dann auf die Selbstkategorisierung entwickelt, bietet einen Analyserahmen für soziale Phänomene wie Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung (vgl. Salès-Wuillemin 2006).

2.1 Theorie der sozialen Kategorisierung im Kontext älterer und jüngerer Beschäftigter Der demografische und wirtschaftliche Kontext sowie die Organisationsstruktur der französischen Gesellschaft versetzen die älteren und jüngeren Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt und in den Unternehmen in einen Wettbewerb zueinander. Sie finden sich in zwei sehr verschiedenen Gruppen wieder, was nicht ohne Auswirkungen auf die Intergruppen-Beziehungen bleibt. Der Ansatz der sozialen Kategorisierung erlaubt uns, die Mechanismen aufzudecken, die die Gruppeninteraktion oder die Interaktion zwischen Mitgliedern der einzelnen Gruppen bestimmen. Die soziale Kategorisierung bezieht sich auf einen psychischen Prozess, in dem das Individuum seine Umwelt in Kategorien einteilt, die sich voneinander unterscheiden: »processus psychologiques qui tendent à ordonner l’environnement en termes de catégories: groupes de personnes, d’objets, d’événements (ou groupes de certains de leurs attributs), en tant qu’ils sont soit semblables soit équivalents les uns aux autres pour l’action, les intentions ou les attitudes d’un individu« 4 (Tajfel 1972, S. 272).

Nach Tajfel und Turner (1979, 1986), sind Kategorisierungen »kognitive Werkzeuge, die die soziale Umgebung segmentieren, klassifizieren und ordnen« (S. 40). Sie dienen auch als Handlungsleitfaden und vermitteln soziale Werte. Nach Turner et al. (1987) benutzen Individuen Kategorien, um ihre soziale Welt zu strukturieren und ihr Bedeutung zu verleihen. Diese Segmentierung der Welt ermöglicht es ihnen, Situationen gleich zu bewerten und eine Gruppe zu bilden (hier zum Beispiel die Gruppen der jüngeren und die der älteren Beschäftigten), wenn 4 | »…psychologische Prozesse, die darauf abzielen, die Umgebung anhand folgender Kategorien zu ordnen: Gruppen von Menschen, Objekten oder Ereignissen (oder Gruppen einiger ihrer Attribute), denn diese sind in Bezug auf die Handlungen, Absichten oder Einstellungen eines Individuums entweder ähnlich oder äquivalent zueinander.«

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sie sich als Mitglieder der gleichen Kategorie erkennen und wenn bezüglich dieser Zuordnung Konsens herrscht. Als Mitglieder von Gruppen wiederum reagieren die Individuen anders und das wirkt sich auf die Intergruppen-Beziehungen aus. Zur Analyse dieses Phänomens entwickelten Tajfel und Turner (1979) die Theorie der Sozialen Identität (SIT). Ihre These ist, dass die Individuen durch die Suche oder das Bestreben nach der Erhaltung einer positiven sozialen Identität motiviert werden. Dadurch wird eine Aufwertung der eigenen Gruppe (Ingroup) und eine Abwertung der anderen Gruppe (Outgroup) verursacht (Tajfel 1979). Die Tatsache, dass die älteren und jüngeren Beschäftigten zwei sehr verschiedenen Gruppen angehören, motiviert auch in unserem Analysefeld die Suche nach einer positiven sozialen Identität. Diese Suche mündet in einen Intergruppen-Vergleich, der in Abhängigkeit der Gruppenzugehörigkeit unterschiedliches Verhalten hinsichtlich der verschiedenen interagierenden Individuen analysiert. Zum Beispiel wird ein älterer Beschäftigter im Wettbewerb mit einem jüngeren Beschäftigten seine Erfahrung innerhalb des Unternehmens hervorheben und sich von der Unerfahrenheit des jüngeren Beschäftigten abgrenzen, um so eine positive soziale Identität zu erzeugen. Das Resultat dieser spezifischen nicht-objektiven Umgangsweise, die beide Gruppen betrifft, wird in der Theorie der sozialen Kategorisierung als Ingroup-Favorisierungs-Bias bezeichnet (Tajfel et al. 1971) und kann zu Diskriminierungen führen. In Anschluss an die Theorie der sozialen Identität, in der das Subjekt seine eigene Gruppe zu Lasten der anderen bevorzugt, um sein Selbstwertgefühl zu verbessern, entwickelten Turner und seine Mitarbeiter in den 1980er Jahren die Selbstkategorisierungstheorie. Die Selbstkategorisierung betrachtet das Individuum als direkt an der Dekodierung der Situation beteiligten Autor (Castel/Lacassagne 2011). Das heißt, das Individuum ordnet sich selbst bei der Interpretation einer Situation als Mitglied einer spezifischen Gruppe ein. Für seine Deutung wählt das Subjekt die Kategorien, die zur Erzeugung einer positiven Identität die Günstigsten sind (ebd.). Zum Beispiel wird eine ältere Führungskraft in einer Interaktion mit einem jüngeren Angestellten die Kategorie ›Führungskraft‹ wählen anstatt ›älterer Beschäftigter‹ weil dies die Erzeugung einer positiven sozialen Identität erlaubt. Die Selbstkategorisierung wird durch das auf die eigene soziale Identität bezogene Interesse des Subjekts und die subjektive Interpretation der Situation bestimmt.

2.2 Das Konzept der »Partitions sociales« Bestimmte Situationen können nicht losgelöst von dem sozialen Kontext (»scène sociale«) betrachtet werden (Brown/Fraser 1979). Sie verorten sich in einem spezifischen kategorialen Gefüge und können dieses nicht wechseln. In einer Bewerbungssituation befinden sich der Personalverantwortliche und der Arbeitssuchende beispielsweise in festgelegten Kategorien. Die Wahl einer anderen Kategorie ist für beide Akteure in dieser Situation nicht möglich. Für diese Art der Situation

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haben Castel und Lacassagne (2004, 2005) die Idee entwickelt, dass das Subjekt in der Repräsentation der Verbindung dieser festgelegten Kategorien variieren kann (Castel/Lacassagne 2011). Die Autoren präzisieren detailliert die Mechanismen der Kategorisierung und der Diskriminierung und setzen sie in Beziehung zu der Aktivierung unterschiedlicher »Partitionen«. Sie definieren eine Partition als »Struktur der Repräsentation in einer Situation der Kategorisierung« (ebd. S. 25). Für sie ist die aus einer Interaktion resultierende Partition eine Ko-Konstruktion der Akteure in einer Situation. Die die Kategorien festlegende Partition resultiert aus der Informationsverarbeitung der beiden aufeinander treffenden Gruppen (Castel et al. 2006, S.  306). In der Interaktion erzeugen alle Akteure unterschiedliche Repräsentationen, die ihrer Zugehörigkeit zu einer zu einer bestimmten Kategorie entspricht. Dies mit dem Ziel, eine gegenüber dem Anderen bevorzugte Positionierung einzunehmen und ein möglichst positives Selbstbild zu erzeugen, auch wenn die Situation die Zugehörigkeit zu Kategorien festlegt. Die Repräsentation der Situation korrespondiert mit einer Partition, die eine besondere Lesart der Situation zulässt, oder um es deutlicher zu formulieren, den Fokus zu verschieben. Die Akteure aktivieren dabei nicht die gleiche Partition, da sie jeweils eine andere Lesart der Situation benötigen, um ein positives Selbstbild zu erzeugen. Es werden drei »Partitionen« identifiziert, die jeweils ein Ungleichgewicht zwischen Ingroup und Outgroup beschreiben und unterschiedliche Diskriminierungen nach sich ziehen. •

• •

Die »statuarische Partition« etabliert ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Akteuren, in dem die Ingroup einen höheren Status einnimmt als die Outgroup (dominant-dominiert). In der »oppositiven Partition« gibt es eine positive Bewertung der Ingroup. Die Outgroup bildet einen negativen Gegenpol und wird abgewertet. Für die »gemeinschaftsbezogene Partition« wird eine Referenzkategorie basierend auf der Gemeinschaft, der das Individuum zugehörig ist, erzeugt. Der Mechanismus beruht hier auf dem Ausschluss des Anderen aus der eigenen Zugehörigkeitskategorie (Castel/Lacassagne 2011).

Alle drei Partitionen bieten jeweils einen unterschiedlichen strukturellen Rahmen, um die Ingroup von der Outgroup zu unterscheiden. Die Mechanismen dieser drei Partitionen erlauben dem Individuum, trotz des festgelegten Charakters der Situation, zwischen unterschiedlichen Lesarten zu wählen, um so eine möglichst positive soziale Identität zu erzeugen. Das von Castel und Lacassagne beschriebene Modell lässt sich am Beispiel der Interaktion Seniorexperte/Personalchef versus junger Angestellter verdeutlichen. Der Interaktionsrahmen der beruflichen Situation legt zunächst eine eindeutige Kategorisierung Vorgesetzter – Untergebener fest. Beide Akteure können innerhalb dieses Rahmens aufgrund ihrer spezifischen Lesart der Situation eine positive Identität erzeugen. Der Personalchef hat drei Möglichkeiten die Kategorisie-

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rung zu erzeugen: es handelt sich um eine klar hierarchische Beziehung, in der er als Führungskraft in seinem Unternehmen dem jungen Angestellten überlegen ist (statuarische Partition), was die Erzeugung einer positiven Identität unterstützt; es handelt sich um eine Gegenüberstellung oppositiver Werte (oppositive Partition), in der der Personalchef die Werte der Unternehmensführung repräsentiert, die den positiven Pol in der Interaktion bilden, der Angestellte hingegen die Werte der Arbeitnehmer, die den Gegenpol bilden (können); es handelt sich um eine Konfrontation zwischen einem Experten und einem Novizen (gemeinschaftsbezogene Partition), in der der Personalchef zu einer elitären Minderheit gehört (Seniorexperte/Erfahrungswissen) und der Angestellte zur Mehrheit des Personals des Unternehmens, die sich zunächst noch beweisen muss. Der Personalchef kann sich so, wenn er sich bei der Erzeugung seines positiven Selbstbilds etwa aufgrund seines Alters bedroht fühlt, einer dieser Mechanismen bedienen, um beispielsweise den Anderen als unerfahrenen Neuling abzuwerten und vom eigenen Status (erfahren und versiert) abzugrenzen. Eine oppositive Partition erlaubt dem jungen Angestellten seinerseits, sich auf die mit seiner Jugend assoziierten Werte (dynamisch, flexibel) und die damit verbundenen Kompetenzen (neue Technologien, digitales Knowhow) zu beziehen. Er könnte sich als Repräsentant der Zukunft und Motor des Unternehmens betrachten und sich somit von den älteren Beschäftigten ungeachtet ihrer Position abgrenzen. In diesem Sinne können sowohl der Personalchef als auch der junge Angestellte die Situation auf eine Art lesen, die es ihnen erlaubt, die Kategorisierung Führungskraft-junger Angestellter mithilfe der drei Typen der Partition auf drei unterschiedliche Arten zu interpretieren. Die Möglichkeit, eine Repräsentation der Situation so auszuwählen, dass sie die Erzeugung eines positiven Selbstbildes ermöglicht, ist eine von verschiedenen Identitätsstrategien, über die ein Individuum verfügt. Sie ermöglichen die Aufwertung der sozialen Identität, wenn die Situation selbst es nicht erlaubt, ein positives Selbstbild zu erzeugen. Falls die soziale Identität nicht durch eine Identitätsstrategie aufgewertet werden kann, ist es auch möglich das Paradigma der sozialen Identität zu Gunsten dem der personalen Identität aufzugeben. In dem zuvor dargestellten Beispiel haben beide Akteure die Möglichkeit, die Lesart der Situation zu wählen, die ihnen ein positives Selbstbild garantiert. Man kann davon ausgehen, dass sich diese Situation ohne Konflikte und Probleme vollzieht, da jeder implizit den für sich günstigen Typen der Partition gewählt hat. Unsere Beobachtungen bei Befragungen in deutschen und französischen Unternehmen im Rahmen des Projektes DEBBI führen zu der Hypothese, dass die Selbst- und Fremdbilder älterer und jüngerer Beschäftigter in den aktuellen Diskursen derart negativ und prägnant sind, dass sie die Erzeugung einer positiven sozialen Identität erschweren oder sogar verhindern. Die vorgestellten Strategien zur Erzeugung einer positiven sozialen Identität scheinen nicht wirksam. Darum erscheint es uns unerlässlich für die Unternehmen, die Intergruppen-Beziehungen in ihrer Organisation zu analysieren und mögliche Identitätsstrategien

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zu identifizieren, um Stereotypen und den Auswirkungen der sozialen Kategorisierung entgegen zu wirken und ein intergenerationelles Gleichgewicht wieder herzustellen.

2.3 Stereotype und Vorurteile: die Grundlage der Diskriminierung Für Wenzel et al. (2007) und Fiske (1998) führt der Prozess der sozialen Kategorisierung zu einer Aktivierung von Stereotypen und bringt Repräsentationen der Gruppe hervor, die die Ingroup zu Lasten der Outgroup begünstigen. Ihrer Ansicht nach sind die Stereotype ein Kernelement der Kategorisierung. Sie sind umso ausschlaggebender, da Diskriminierung als ihre Folge angesehen werden kann. Stereotype über ältere Beschäftigte in Unternehmen sind zudem sehr dominant und von negativen Vorurteilen begleitet. Stereotype sind ein Weg zum Verständnis der umgebenden Welt und bieten die Möglichkeit, die Verarbeitung von Informationen durch die Reduzierung von Komplexität zu beschleunigen. Es geht um Merkmale (»Traits«), die allen Mitgliedern einer Zielkategorie zugewiesen werden. Nach Leyens et al. (1996) sind die Stereotype gemeinsame Überzeugungen bezüglich persönlicher Merkmale, in der Regel Charakterzüge, aber oft auch Verhaltensweisen einer Gruppe von Personen. Salès-Wuillemin (2006) erklärt, dass diese sowohl eine Rationalisierung als auch eine Rechtfertigung des Vorurteils (Evaluierung durch das Individuum) sind; sie dienen somit als kognitives Instrument. In diesem Sinne zeichnen sie ein Porträt der Zielgruppe mit bestimmten Charakterzügen und erlauben den Subjekten eine Orientierung, welche Verhaltensweise im Hinblick auf das Zielobjekt angebracht ist. Die Autorin beschreibt die Eigenschaften von Stereotypen wie folgt: sie setzen eine Herkunft (jemand, der das Stereotyp nutzt) und ein Ziel (jemanden, auf den das Stereotyp zielt) voraus, sie werden den Individuen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zugewiesen und sind einvernehmlich, das heißt, von einer großen Zahl von Individuen gemeinsam genutzt. Die Stereotype können sowohl die Outgroup als auch die Ingroup betreffen, auch wenn es in diesem speziellen Falle nicht unbedingt Zustimmung gibt. Durch die Stereotype wird eine Vereinheitlichung der Zielgruppe vorgenommen, weil diese auf eine Reihe von Charakterzügen reduziert wird, ohne interne Disparitäten zu berücksichtigen (Salès-Wuillemin 2006). Vorurteile sind direkt mit Stereotypen verbunden. Sie sind die »korrespondierende Haltung der Stereotype« (Salès-Wuillemin 2006, S. 15). Sie korrespondieren mit dem Wert (positiv oder negativ) einer Gruppe. Nach Fischer (1987) verweisen Vorurteile auf eine Haltung des Individuums, die eine evaluative Dimension enthält, oft negativ gegenüber Personen- oder Gruppentypen, unter Berücksichtigung der eigenen sozialen Zugehörigkeit. Sie sind darum als erworbenes Steuerungsinstrument zu betrachten, dessen Ziel es ist, »eine soziale Differenzierung zu etablieren« (ebd., S. 104). Mit anderen Worten sind Vorurteile eine begünstigende oder (sehr viel häufiger) benachteiligende Haltung gegenüber einer

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anderen Person oder einer Gruppe von Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Nach Salès-Wuillemin (2006) bestehen Vorurteile (niemals neutral) aus Bewertungsprozessen (Annahme oder Ablehnung), die voraussetzen, dass Ursprung und Ziel unterschiedlichen Gruppen angehören. Sie sind ohne jegliche Kenntnis der Zielperson übertragbar, wobei das Subjekt Träger des Vorurteils der Gruppe ist, berücksichtigen aber immer den Kontext, bzw. das soziale Verhältnis, in dem sich die Gruppen untereinander befinden: »un préjugé ne peut être appréhendé sans considérer les caractéristiques spécifiques du contexte social, c’est-à-dire des relations (sociologiques, historiques, économiques …) existant entre le groupe qui en est le porteur et le groupe qui en est l’objet 5 « (Salès-Wuillemin 2006, S. 16).

Bezogen auf unser Beispiel: Unter den Stereotypen über ältere Beschäftigter finden sich: ›unflexibel‹, ›schwach‹, ›teuer‹, ›verschlossen‹, ›langsam‹ … Diesen Merkmalen können Vorurteile zugeordnet sein. Dies sind festgelegte Haltungen gegenüber den Angehörigen einer Zielkategorie und determinieren die Beurteilung. Zum Beispiel: Ein älterer Arbeitsloser wird apriori als inkompetent eingeschätzt, wie alle Älteren ist er veränderungsresistent. In diesem Fall ist das Vorurteil negativ und wertet die Zielperson ab. Gegenüber jüngeren Beschäftigten funktioniert der Mechanismus auf die gleiche Weise: unerfahren, faul, arrogant, individualistisch, lässig … Auf der Grundlage dieser Merkmale werden Vorurteile gebildet und Verhalten bewertet.

2.4 Stereotype und ältere Beschäftigten in Unternehmen Der »Jugendwahn«, der in der heutigen Gesellschaft Frankreichs vorherrscht, die Segmentierung des Unternehmens nach Altersgruppen (Guillemard 2007), die Modifikation von Lernmodi mit dem Übergang von informellen Wissen hin zu kodifiziertem Wissen (Meier 2008), die Behandlung älterer Beschäftigter als Anpassungsvariable im Beschäftigungsmanagement (Poilpot-Rocaboy et al. 2013), all das sind Faktoren, die eine Herausbildung und Prägung von negativen Vorurteilen und Stereotypen gegenüber älteren Beschäftigten zur Folge gehabt haben. Alle Maßnahmen für einen verfrühten Eintritt in den Ruhestand, die lange Zeit von den Unternehmen unterstützt wurden, haben im gesellschaftlichen Bewusstsein ein Bild des älteren Beschäftigten entstehen lassen, das ihn als wenig produktiv, teuer und veränderungsresistent definiert (Guillemard 2007). Die Managementstrategien der letzten 20 Jahre haben dazu geführt, ältere Be5 | »Ein Vorurteil kann nicht verstanden werden ohne die spezifischen Charakteristiken des sozialen Kontextes zu berücksichtigen, d.h. Beziehungen (soziologisch, historisch, wirtschaftlich …) zwischen der Gruppe, die der Träger [des Vorurteils] und der Gruppe, die Gegenstand [des Vorurteils] ist.«

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schäftigte zu stigmatisieren, um sie auf einen »Prototypen« des für berufliche, organisationale, technische und administrative Veränderungen unzugänglichen, der modernen Wirklichkeit nicht mehr angepassten Mitarbeiters zu reduzieren (Meier 2008). Poilpot-Rocaboy et al. (2013) gehen sogar weiter und stellen fest, dass die negative Repräsentation des älteren Beschäftigten in seiner spezifischen Funktion im Unternehmen den einvernehmlichen Ausschluss des Älteren vom Arbeitsmarkt unterstützt. Altersstereotype sind zahlreich und fokussieren sich im Feld der Kompetenzen und der Kompetenzentwicklung. Es geht zumindest in Frankreich um das, was der ältere Beschäftigte nicht oder nicht mehr kann, aber nicht um das, was er kann. Das scheint sich in Deutschland in den letzten Jahren verändert zu haben. Unter den geläufigsten Stereotypen in Frankreich findet sich die angebliche Veränderungsresistenz älterer Beschäftigter: der Mangel an Flexibilität, Anpassungsprobleme und eine eingeschränkte und verlangsamte Lerngeschwindigkeit (Behaghel 2006, zitiert nach: Poilpot-Rocaboy et al. 2013). Von einigen Autoren wird allerdings herausgestellt, dass der Rückgang der psychologischen Kapazitäten erst bei einem Alter von über 70 Jahren nachweisbar ist (Greller/Simpson 1999, zitiert nach: Poilpot-Rocaboy et al. 2013). Migliore (2013) weist des Weiteren auf die negative Konnotation des Begriffs »älterer Beschäftigter (senior)« in Frankreich hin, in dem Vorstellungen von Inflexibilität, Anpassungsresistenz, hoher wirtschaftlicher Kosten und durch Alter bedingtem Unvermögen konstitutiv sind. Wir haben zuvor dargestellt, dass die Stereotype sowohl im Hinblick auf die Ingroup als auch auf die Outgroup zu betrachten sind. Die Selbstwahrnehmung der älteren Beschäftigten, das heißt die von ihnen selbst erzeugte Repräsentation ist stark durch die Stereotype, die ihnen zugewiesen werden, beeinflusst. Sie beeinflussen gleichermaßen ihr Verhalten. Steele und Aronson (1995) zeigen, dass die Stereotype, wenn sie salient sind, also wenn sie aktiv verwendet werden, einen direkten Einfluss auf das Verhalten und das Leistungsprofil ihrer Zielgruppe haben. Follenfant et al. (2005) stellen heraus, dass die Aktivierung eines mit einer sozialen Kategorie assoziierten Stereotyps die Verwendung dieses Stereotyps erleichtert. Die mit Stereotypen verbundene Vorstellung wird Teil der Gesamtheit der sozialen Repräsentationen, die bezüglich dieser Kategorie existieren und ist so für die Wahrnehmung der Kategorie verfügbar (Follenfant et al., 2005, S. 122). Die Autoren glauben, dass Stereotype, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, ebenso wie andere soziale Repräsentationen verwendet werden. Die Hauptstudie von Steele und Aronson (1995) hat gezeigt, dass bereits die Vermutung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie aufgrund der Salienz der Stereotype das Verhalten von Individuen beeinflussen kann. Der automatische Prozess der Aktivierung von Stereotype wird durch Merkmale ausgelöst, die mit einer bestimmten sozialen Kategorie assoziiert werden oder durch die Wahrnehmung des Individuums als einer stereotypisierten Kategorie zugehörig erkannt werden (Bourguignon et al. 2007). Die Autoren bestätigen die Arbeiten von Steele und Aronson, indem sie zeigen, dass die Aktivierung der Stereotype einen beträchtlichen Einfluss auf die

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Wahrnehmung der Umgebung und das Verhalten von Individuen ausübt. Steele und Aronson (1995) legen dar, dass ein zutreffendes Stereotyp für das Individuum das Risiko birgt, dass es in der Selbstbeschreibung (aber auch in der Fremdbeschreibung, wenn die Stereotype bekannt sind) bestätigt wird. Sie vermuten, dass selbst wenn das Stereotyp intellektuell als solches wahrgenommen wird, der Effekt so stark sein kann, dass er die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Dieses Phänomen wird als Bedrohung durch Stereotype bezeichnet und korrespondiert mit der Angst des Individuums, durch ein die eigene Gruppe betreffendes Stereotyp negativ bewertet zu werden. Diese Angst beeinflusst das Verhalten der Individuen, die der Gruppe angehören, auf die sich das Stereotyp bezieht. Nach Steel (1997) ist die Bedrohung durch Stereotype für alle sozialen Gruppen erkennbar, die durch ein bekanntes negatives Stereotyp beschrieben werden. Auslöser der Bedrohung ist die Angst des Individuums, das negative Stereotyp durch das eigene Verhalten zu bestätigen und dadurch bewertet zu werden. Das Ausmaß der empfundenen Bedrohung variiert je nach sozialer Kategorie und Bewertungssituation. Das Individuum selbst muss nicht an die Richtigkeit des Stereotyps glauben, um die Auswirkungen der Bedrohung zu empfinden. Bourguignon et al. (2007) stellen drei Variablen zusammen, die das Ausmaß und die Effekte der Bedrohung durch Stereotype modifizieren können: Sie betonen die Bedeutung des Identifizierungsgrads mit dem Handlungsfeld, auf das sich das Stereotyp bezieht (Steele/Aronson 1995), die Notwendigkeit der Identifizierung mit der sozialen Kategorisierung (Schmader 2002, zitiert nach: Bourguignon et al. 2007) und der Bewusstheit der Stigmatisierung (Brown/Pinel 2003, zitiert nach: Bourguignon et al. 2007). Da das beschriebene Problem die Mitglieder aller Gruppen, über die Stereotype existieren, betreffen kann, nehmen wir an, dass auch die älteren Beschäftigten (sowie die jüngeren) in ihrem Verhalten von der Bedrohung durch Stereotype betroffen und beeinflusst sind. Ebenso wie andere Formen von Bewertungsdruck löst die Bedrohung durch Stereotype eine Ineffizienz innerhalb von Prozessen aus (Steel/Aronson 1995). Die Leistungsfähigkeit von älteren Beschäftigten wird durch die Bedrohung durch Stereotype herabgesetzt. Diese Herabsetzung der Leistungsfähigkeit führt zu einer noch negativeren Repräsentation der Gruppe. Eine Konsequenz dieses Phänomens ist die Abwertung der Arbeitsaufgaben der Mitglieder der stigmatisierten Gruppe, sowohl in der Wahrnehmung der Gruppenmitglieder selber als auch in der Wahrnehmung von außen. So nimmt beispielsweise ein älterer Beschäftigter die ihm zugewiesenen Projekte leicht als weniger wichtig für die Entwicklung des Unternehmens, wenig erfolgversprechend, wenig finanzintensiv und häufig sogar als zum Scheitern verurteilt wahr. Sowohl ältere als auch jüngere Beschäftigte werden im Unternehmen permanent mit den sie betreffenden Stereotypen konfrontiert. Der dargestellte Effekt der Bedrohung durch Stereotype zeigt die Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit. Es wird auch deutlich, dass der Rückgang von Produktivität und Effizienz nicht an den Faktor Alter oder an den Mangel an Kompetenzen oder Erfahrung bei älteren und

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jüngeren Beschäftigten gebunden ist, sondern eine Folge der Stereotype ist, die ihnen zugeschrieben werden. Auf der anderen Seite verspricht die Aufhebung der Bedrohung durch Stereotype eine Steigerung der Leistungsfähigkeit. Die Emergenz der Bedrohung ist stark von der Situation abhängig. Verhindert man in der Situation die Möglichkeit, mithilfe von Stereotypen beurteilt zu werden, kann das den empfundenen Druck vermindern und so auch die negativen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit (Désert et al. 2002; Steele/Aronson 1995). In der durch Wettbewerb geprägten Umwelt des Unternehmens ist es in der alltäglichen Praxis aber schwer umsetzbar, die Situationen dahin gehend zu gestalten, dass der Druck hinsichtlich der Bedrohung durch Stereotype reduziert wird. Andere Autoren schlagen vor, die Subjekte zu reindividualisieren, um die negativen Effekte der Stereotype zu bekämpfen (Désert et al. 2001, zitiert nach: Désert et al. 2002). Die grundlegende Idee ist hier, die persönlichen Charakteristika des Individuums zu betonen, das heißt die multiplen Dimensionen, die das Individuum ausmachen (Désert et al. 2002). Auf diese Weise soll die Anwendbarkeit des Stereotyps in Frage gestellt werden. Die Herausstellung der Diversität des Individuums, die Rückführung der Subjekte auf ihre personale Identität vermindert das Risiko ihrer Reduzierung auf Stereotype, auch wenn die Situation es impliziert (Désert et al. 2002). In diesem Falle wäre es dann nicht mehr die Angst als älterer oder jüngerer Beschäftigter einem Stereotyp zu entsprechen, sondern dies auf individueller Ebene zu tun. Désert et al. (2002) stellen heraus, dass tief in gesellschaftlichen Diskursen verankerte Stereotype auf dem Niveau sozialer Gruppen nicht hinterfragt werden können, sehr wohl aber auf der Ebene des Individuums: »lorsque le risque d’être perçu uniquement comme des représentantes typiques du groupe des femmes diminuait, les participantes ne présentaient plus la chute de performance habituellement associée à la menace du stéreotype 6 « (Désert et al. 2002, S. 571).

Alle angesprochenen Aspekte bestätigen unsere Annahme, dass vor allem die älteren Beschäftigten (zum Teil aber auch die Gruppe der jüngeren Beschäftigten) unter einer stark negativen sozialen Repräsentation und Selbstwahrnehmung leiden, die es ihnen nicht ermöglicht, eine positive soziale Identität zu erzeugen, was ihre Leistungsfähigkeit und ihr Verhalten im Unternehmen stark beeinflusst. Unserer Ansicht nach ist es unumgänglich, diesen Personengruppen innerhalb der Arbeitssituation Angebote zu machen, die es ihnen erleichtern, im Sinne unseres dargestellten Ansatzes eine »Partition« zu wählen, die eine positive Lektüre der Interaktionen ermöglicht. Dies könnte zu einer besseren Kooperation der Generationen und letztendlich zu einer Ergänzung und zu einem Austausch von Kompetenzen in den Arbeitsprozessen führen. 6 | »Wenn das Risiko nachließ, nur als typische Repräsentanten der Gruppe der Frauen wahrgenommen zu werden, zeigten die Teilnehmer nicht mehr den Leistungsabfall, der gewöhnlich mit der Bedrohung durch Stereotype assoziiert wird.«

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3. D IE E FFEK TE DER K ATEGORISIERUNG : M ODIFIZIERUNG UND A NPASSUNG Die Kategorisierung »sie – wir« und die Identifikation mit der Ingroup unterstützen die Aktivierung von Stereotypen, von Vorurteilen und Diskriminierungen, teilweise ohne zu Grunde liegende reale Konflikte zwischen den Gruppen (Tajfel/ Turner 1986). Die Individuen können, wie wir ausgeführt haben, auf unterschiedliche Identitätsstrategien zurückgreifen, um die Auswirkungen der Kategorisierung zu modifizieren. Dabei ist insbesondere die soziale Kategorisierung in Hinblick auf die »Partitions sociales« herausgestellt worden. Auf dem Hintergrund dieser Logik untersuchen wir ebenfalls die Intergruppen-Kontakte, sowie die Mechanismen der Querkategorisierung. Wir betrachten sie als Ansätze zur Verbesserung der Intergruppen-Verhältnisse zwischen älteren und jüngeren Beschäftigten im Unternehmenskontext.

3.1 Die »Intergruppen-Kontakthypothese« Die »Intergruppen-Kontakthypothese« in Bezug auf Intergruppen-Verhalten wurde 1954 von Gordon Allport begründet. Hier wird die Vorstellung entwickelt, dass unter geeigneten Bedingungen der Kontakt zwischen den Mitgliedern verschiedener Gruppen zu einer Reduktion von Feindseligkeiten und zu einem positiveren Intergruppen-Verhalten führen kann (Turner et al. 2007). Der Kontakt zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen führt dann zu einem Abbau von Diskriminierungen und Vorurteilen, weil die Mitglieder der Ingroup ermutigt werden, Bindungen zu den Mitgliedern der Outgroup aufzubauen. Sie werden auch dazu veranlasst bestehende Stereotype zu relativieren. Der Intergruppen-Kontakt allein reicht hierzu allerdings nicht aus (Wenzel et al. 2007). Damit die intergruppalen Stereotype tatsächlich reduziert werden, müssen die entsprechenden erforderlichen Bedingungen gewährleistet sein. Allport präzisiert vor allem drei wichtige Voraussetzungen: Statusgleichheit, Kooperation bei der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels und eine institutionelle Unterstützung (Turner et al. 2007). Die Meta-Analyse von Pettigrew und Tropp (2006) (zitiert in Turner/Crisp 2010 und Turner et al. 2007) zeigt die Auswirkung des Intergruppen-Kontaktes auf die Vorurteile, was zu einer häufigen Verwendung der Kontakthypothese in Interventionsstudien und Feldversuchen zur Verbesserung von Intergruppen-Beziehungen führte. Betrachtet man die Kategorisierungen und ihre kognitiven Repräsentationen als wesentlichen Kern des Problems, erscheint die Annahme, dass der Intergruppen-Kontakt sowie alle sonstigen Maßnahmen zur Modifizierung von Stereotypen und zur Reduzierung der Salienz der Unterscheidung Ingroup/Outgroup relevant sind (Wenzel et al. 2007). Wir bekräftigen diese Erwägungen durch einen weiteren soziokognitiven Ansatz, der ebenfalls die Verbesserung der Intergruppen-Beziehungen anvisiert: die Kreuz-Kategorisierung. Dieser Ansatz fokussiert

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die Idee der Reduzierung sozialer Konflikte durch eine Verringerung der Intergruppen-Diskriminierung (Deschamps/Doise 1979; Storari/Giles 2008).

3.2 Die Kreuz-Kategorisierung Die Kreuz-Kategorisierung, die angeregt durch die Arbeiten von Willem Doise 7 entwickelt wurde, hebt die Möglichkeit hervor, zwei oder mehrere simultane subjektive Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen sozialen Kategorien zu erzeugen (Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion …). Für Echebarria-Echabe und Fernandez-Guede (2006) tritt die Kreuz-Kategorisierung in normalen Situationen mindestens so häufig auf wie die einfache Kategorisierung. Die Erfahrungen von Doraï (1993) zeigen, dass die Kreuz-Kategorisierung gegenüber der einfachen Kategorisierung die Effekte der Bevorzugung der Ingroup und der Abwertung der Outgroup abschwächt. Die in Bezug auf eine soziale Kategorie entgegengesetzten Individuen können in einer anderen Kategorie zu einer Ingroup gehören. Die Bevorzugung der Ingroup wird so modifiziert, weil ein Konflikt zwischen der Betonung der Ähnlichkeiten und der Unterschiede im Inneren der Gruppe und zwischen den Gruppen erzeugt wird. Beispielsweise können eine jüngere und eine ältere Beschäftigte, obwohl sie unterschiedlichen Alterskategorien angehören, eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen Kategorie aktivieren (zum Beispiel die der Frauen gegenüber der der Männer). Deschamps und Doise (1979), sowie Doraï (1993) sehen für diese Form der Kategorisierung die Konsequenz der Reduzierung von Vorurteilen und Diskriminierungen. Durch die Verbindung dieser beiden Konzepte mit dem Konzept der sozialen Kategorisierung hinsichtlich der sozialen Partitionen sowie der Nutzung des gezielten Einsatzes sportlicher und physischer Aktivitäten, glauben wir, die Effekte der Kategorisierung (Diskriminierung und Stereotype) modifizieren zu können, um ein intergenerationelles Gleichgewicht herzustellen, die Zusammenarbeit zu unterstützen und die Identifizierung der Kompetenzen von Beschäftigten zu fördern.

3.3 Der Beitrag der sportlichen und physischen Aktivitäten Seit den 1980er Jahren gibt es eine wachsende Einbindung sportlicher Aktivitäten in den Unternehmen und einen immer bedeutsamer werdenden Austausch zwischen Sport und Unternehmensprozessen. Wie der Sport Inspirationen der Organisation »Unternehmen« nutzt, um seine strukturelle und organisationale Entwicklung voran zu treiben, hat das Unternehmen die im Sport festgeschriebenen, symbolischen Werte für Ziele der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit instrumentalisiert (Barbusse 2002). Jenseits der Vorstellungen von Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, von Teamgeist und Zusammenhalt (Naves 2012), die die 7 | Der belgische Sozialpsychologe war bis 2003 Professor für experimentelle Sozialpsychologie an der Universität Genf.

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symbolische Ebene konstituieren, ist es vor allem der Aspekt der Gesundheit und des körperlichen Wohlergehens, der die Attraktivität des Sports für die Unternehmen ausmacht. Regelmäßige moderate körperliche Aktivität wird in medizinischen Diskursen als ein die Gesundheit verbessernder Faktor herausgestellt (ebenda). Allgemein lässt sich feststellen, dass sportliche Aktivitäten in modernen Gesellschaften wertgeschätzt werden und zur Bildung positiver, aber auch negativer Stereotype beitragen. Investitionen der Unternehmen in den Sport, um ihre Unternehmenskultur positiv zu prägen (Barbusse 2002) sowie mentale (Motivation und Wettbewerbsbereitschaft) und körperliche (Gesundheit) Orientierungen der Mitarbeiter zu beeinflussen, zeigen, dass die Kompatibilität der beiden Objektbereiche (Unternehmen  – sportliche und physische Aktivitäten) gewährleistet ist. Der gezielte Einsatz sportlicher Aktivitäten in Unternehmen bleibt bisher aber auf diese Bereiche reduziert. In Bezug auf unser Thema eröffnet sich ein komplett unerforschter Zusammenhang, der uns wesentlich erscheint: der soziale Raum, der sich aus den Beziehungen der Mitarbeiter untereinander eröffnet. Dieser Zusammenhang zwischen dem betrieblichen Sportangebot und den sozialen Beziehungen im Unternehmen, der zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen kann und nicht die Nutzung ideologischer Modelle zur Erhöhung der wirtschaftlichen Performance des Unternehmens, die sich ebenfalls aus dem Sport herleiten lassen, ist es, den wir analysieren möchten. Dabei geht es um die Nutzung betrieblicher Sportangebote als Instrument zur Verminderung von Diskriminierungen im Unternehmen. Wir glauben, dass sich hier eine Möglichkeit eröffnet, das intergenerationelle Gleichgewicht in den Unternehmen zu unterstützen und die Intergruppen-Kooperation, das Management und den Austausch von Kompetenzen und die Beschäftigungs- und Innovationsfähigkeit der unterschiedlichen Altersgruppen im Unternehmen zu verbessern.

3.3.1 Stereotype und Kategorisierung Ein Großteil des Widerstandes gegenüber der Veränderung der Situation dieser Beschäftigtengruppe auf dem Arbeitsmarkt beruht auf Stereotype, die auf die älteren Beschäftigten übertragen werden. Der erste Beitrag, den sportliche und physische Aktivitäten bieten könnten, basiert auf der Existenz der positiven Sportstereotype und insbesondere auf der Idee, dass die auf die Ausübung eines Sports bezogene, positive Stereotypisierung die negative Stereotypisierung älterer Beschäftigter überlagern würde und somit die sportlichen älteren Beschäftigten positiver besetzt werden würden als die unsportlichen älteren Beschäftigten. Greenlees et al. (2007) haben nachgewiesen, dass älteren Beschäftigten, die regelmäßig eine physische Aktivität ausüben (Tennis, Zirkel-Training und Salsa), eher positive Eigenschaften zugeschrieben werden (physische und charakterliche Eigenschaften), als denen, die erklärt haben, keine Aktivitäten auszuüben. Sie werden als freundlicher und kompetenter angesehen als die Kontrollgruppe oder als die Gruppe, denen die unsportlichen Merkmale zugeschrieben wurden. Des Weiteren werden sie auch als gesünder eingestuft, als kräftiger, fitter, mit

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einem besseren Erscheinungsbild und muskulöser als andere. Die Autoren haben später Vorbehalte darüber geäußert, dass die physischen Aktivitäten in den Beschreibungen der Profile nicht ausreichend waren, da es sich ausschließlich um Gruppenaktivitäten handelte. Es wurde problematisiert, dass die Resultate leicht mit dem sozialen Interaktionsniveau dieser Aktivitäten verwechselt werden konnten. Trotzdem wurde aus den Untersuchungen geschlossen, dass das Training und die soziale Dimension der Aktivitäten dabei helfen können, Vorurteile gegenüber dem Alter zu reduzieren oder umzukehren (Greenlees et al. 2011). Der Forschungsbericht von Naves (2012) im Auftrag der französischen Regierung umfasst eine Vielzahl von Forschungen, die in diese Richtung gehen. Hier sind die Forschungen hervor zu heben, die auf einem Programm der finnischen Regierung (National Programme for Ageing Workers, FINPAW) basieren (Kenny et al. 2008; Strijk et al. 2012). Deren Ergebnisse betonen, dass die sportlichen und physischen Aktivitäten einen »allgemeinen Effekt auf die Repräsentationen« haben und das Bild der älteren Beschäftigten in Hinblick auf ihre berufliche Leistungsfähigkeit verbessern (Naves 2012, S. 11). Die Intergruppen-Kontakthypothese zielt auf den Kontakt der Mitglieder unterschiedlicher Gruppen bei Statusgleichheit und einem gemeinsam zu erreichenden Ziel, um Diskriminierungen und Vorurteile zu reduzieren, die Intergruppen-Kooperation zu verbessern und das Unternehmen als Referenzstruktur zu unterstützen. In dieser Situation sollen die Kontakte zwischen den Mitglieder der gegensätzlichen Gruppen die Akteure dazu ermutigen, eine Bindung aufzubauen und sich über ihre unterschiedlichen Auffassungen auszutauschen. Es entsteht so die Möglichkeit die Stereotype zu korrigieren, weil der Kontakt die Feindseligkeit zwischen den Gruppen reduziert und zu einer positiveren Haltung der fremden Gruppe gegenüber führt (Turner/Crisp/Lambert 2007). Sportliche und physische Aktivitäten erfüllen die für Intergruppen-Kontakte notwendigen Konditionen gänzlich. Nicht nur, weil sie den Praktiken einen institutionellen Rahmen bieten, sondern auch, weil ein gemeinsames Ziel verfolgt wird, die Kooperation weiter entwickelt wird und der Sport einen gleichen Status der Sport-Praktizierenden voraussetzt. Des Weiteren unterstützen die sportlichen und physischen Aktivitäten die Intergruppen-Kohäsion (Joubert/De Beer 2011). Diese Kohäsion ist von Carron et al. (zitiert nach: Burke/Carron/Shapcott 2008) definiert als ein dynamischer Prozess, der die Tendenz innerhalb der Gruppe vereint zu bleiben, während ein gemeinsames Ziel verfolgt wird, reflektiert. In diesem Sinne existiert Kohäsion in einer Gemeinschaft, wenn ein Ziel, eine Vision und ein Zugehörigkeitsgefühl geteilt werden. Ausgehend von dieser Kohäsion können starke Beziehungen zwischen unterschiedlichen Personen im Unternehmen entwickelt werden, auch wenn diese Personen unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören (Joubert/ De Beer 2011). Das Ziel ist die Identifikation mit einer gemeinsamen Struktur und die Bindung der Mitarbeiter untereinander, um eine gegenseitige Akzeptanz zu unterstützen. Gegenseitige Akzeptanz und die Kohäsion zwischen den unterschiedlichen generationellen Gruppen kann die intergenerationelle Kooperation

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entscheidend beeinflussen, weil sich die Generationen ansonsten aufgrund ihrer unterschiedlichen Kulturen als entgegengesetzte Gruppen gegenüber stehen (Rump/Eilers 2012; Zemke et al. 2013). Die Auffassung und Erwartungen gegenüber dem Unternehmens und die Wertigkeit von Arbeit sind grundlegend unterschiedlich in den Generationskulturen interpretiert: die jüngeren Beschäftigten erkennen sich in dem Modell und der Art, wie ältere Beschäftigte arbeiten, nicht wieder, die Älteren fühlen sich aus der Kultur des modernen Unternehmens ausgeschlossen und leiden an den fehlenden Identifikationsmöglichkeiten (Migliore/ Steinberg 2013). Der Intergruppen-Kontakt ermöglicht es diesen beiden Gruppen, durch die Praktik einer physischen Aktivität einen Schnittpunkt und einen Austausch zu etablieren. Dies schafft die Möglichkeit, Repräsentationen und Stereotype weiterzuentwickeln. Um eine wirksame Kooperation der Generationen zu ermöglichen, muss eine Komplementarität der unterschiedlichen Kompetenzen akzeptiert werden und eine Struktur entstehen, in der Aspekte jeder Kultur zur Zusammenarbeit beitragen. Eine die Effekte einer einfachen Kategorisierung abschwächende Kreuz-Kategorisierung bietet zudem die Möglichkeit, den Mechanismus der Bevorzugung der Ingroup und die Abwertung der Outgroup außer Kraft zu setzen, indem den Mitgliedern der jeweiligen Gruppen eine andere kategoriale Zugehörigkeit angeboten wird, die die zuvor etablierten Kategorien unterläuft. Das Ausüben sportlicher und physischer Aktivitäten erlaubt es sowohl den älteren, als auch den jüngeren Beschäftigten, sich über eine neue gemeinsame Kategorie, die der gemeinsam praktizierten sportlichen Aktivitäten, zu identifizieren. Man bietet in den gemischten Teams den Beschäftigten unterschiedlicher Altersklassen eine neue positive Identifikationsplattform, die die Zusammenarbeit in Teams jenseits der an das Alter gebundenen Stereotype ermöglicht. Der gemeinsam praktizierte Sport könnte so zu einer verbesserten Akzeptanz der anderen Gruppe und ihrer Kompetenzen führen. Das eigentliche Ziel unseres Ansatzes ist eine durch die Ausübung einer sportlichen Aktivität modifizierte Wahrnehmung der Gruppen untereinander. Wir versuchen durch die Analyse der Stereotype und durch die Implementierung einer neuen Kooperationssituation die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Generationen zu beeinflussen. Die Kooperationsbereitschaft und auch die Fähigkeit zu einer intergenerationellen Kooperation hängt unserer Meinung nach von einer den Kooperationssituationen inhärenten Generationenbalance ab. Das Funktionieren dieser Zusammenarbeit ist die Kernvoraussetzung des reziproken Kompetenztransfers, der zum Gegenstand politischer Programme geworden ist (eines der Ziele des »Contrat de génération«, loi n° 2013-185).

3.3.2 Kompetenz-Entwicklung und Kompetenz-Management Unserer Ausgangsannahme folgend, dass die älteren Beschäftigten unter einer derart negativen und prägnanten sozialen Repräsentation und Selbstwahrnehmung leiden, dass es ihnen nicht möglich ist, eine positive soziale Identität zu er-

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zeugen, möchten wir abschließend die Möglichkeit analysieren, betriebliche Sportangebote als Instrumente der individuellen Kompetenzentwicklung zu nutzen, um die neuen positiven Identifikationsstrategien zu fördern. Da die negativen Stereotype gegenüber den älteren Beschäftigten stark an ihre vermeintlich fehlenden Kompetenzen gebunden sind, glauben wir, ihr Selbstwertgefühl und ihre eigene soziale Repräsentation dadurch verbessern zu können, ihnen die Entwicklung und die Identifizierung ihrer Kompetenzen zu ermöglichen. Indem wir versuchen, ihre eigentlichen Kompetenzen und ihr Erfahrungswissen hervor zu heben, versuchen wir eine Partition nutzbar zu machen, in der die Erzeugung einer positiven sozialen Identität möglich wird. Es geht konkret darum, die älteren Beschäftigten im Unternehmen in die Lage zu versetzen, ihr eigenes Potenzial und ihren Wert für die Arbeitsprozesse im Unternehmen zu erkennen und zu definieren. Es geht auch darum, versteckte Kompetenzen ihrer langjährigen auch unterschiedlichen Berufserfahrungen aufzudecken und durch ein unterstütztes aktives Karrieremanagement nutzbar zu machen. Hinsichtlich eines durch sportliche und physische Aktivitäten gestützten Kompetenzmanagements gibt es einige Untersuchungen, die sich allerdings auf die Bedeutung des Schulsports und seinen pädagogischen Nutzen reduzieren (Bailey 2005; Bailey et al. 2009). Bailey und seine Mitarbeiter (Bailey et al. 2013) begründen mit ihren Untersuchungen einen neuen Rahmen für das Verständnis der Beziehung zwischen sportlichen und physischen Aktivitäten und den unterschiedlichen Aspekten der menschlichen Entwicklung. Genereller Konsens der Forscher ist, dass didaktisch modifizierte, gezielt eingesetzte sportliche Aktivitäten das Potenzial haben, als Vektor für die Entwicklung und Stärkung sozialer Kompetenzen zu dienen (Bailey et al., 2013). Die Autoren zeigen auch, dass man beginnt, interessante Perspektiven zu diesem Handlungsfeld zu entwickeln, die es verdienen, zum Gegenstand vertiefter Forschungen zu werden. All diese Ansätze betonen das dem Einsatz von sportlichen und physischen Aktivitäten inhärente Potenzial, ein ganzes Ensemble von sozialen Werten und Kompetenzen zu fördern und zu entwickeln, wie beispielsweise die Teamfähigkeit, kommunikative Kompetenzen, die Kompetenz Entscheidungen zu treffen und Problemlösungsstrategien zu entwickeln, Verantwortlichkeit, Empathie und Resilienz. Neben der Förderung dieser Fähigkeiten kann der gezielte Einsatz sportlicher Aktivität die Entwicklung moralischer und praktischer Werte, die in der Arbeitswelt geschätzt werden, unterstützen (ebenda). In einer weiterführenden Perspektive ist es interessant, einen Referenzrahmen zu entwickeln, aus dem hervorgeht, welche Aktivität die Entwicklung einer bestimmten Kompetenz unterstützt, was erlauben würde, individuelle Sportprogramme in Hinblick auf die in den individuellen Karrieren zu entwickelnden Kompetenzen zu konzipieren. Für die älteren Beschäftigten würde sich auf diese Weise nicht nur die Integration in die intergenerationelle Zusammenarbeit verbessern, sondern es würde ihnen auch die Möglichkeit eröffnet, gezielt an der Entwicklung ihres Kompetenzprofils zu arbeiten, was wiederum ihre Selbst- und auch die Fremdeinschätzung verbessern

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würde. Ein zweiter Vorteil ergibt daraus, dass es sich um einen Entwicklungsprozess in einer Gruppe handelt und die anderen Beteiligten die tatsächlichen Möglichkeiten der älteren Beschäftigten wahrnehmen können, was eine Abstraktion von Stereotypen und Repräsentationen erleichtert. Ein speziell als Unterstützungsinstrument in der Kompetenzdiagnostik konzipiertes Sportprogramm könnte dabei helfen Innovationspotenziale aufzudecken, das individuelle Kompetenzprofil zu stärken und vorhergehende Berufserfahrungen aufzuwerten. Ziel ist es, hier teilweise verdeckte Erfahrungen und Potenziale der Beschäftigten sichtbar und nutzbar zu machen, um so das Selbstvertrauen des Beschäftigten zu aktivieren und ihm die Möglichkeit zu geben, eine positive soziale Identität zu erzeugen. Die im Projekt DEBBI geführten Interviews zeigen, dass besonders ältere Beschäftigte häufig das Gefühl haben, die in ihrem Berufsleben erworbenen Kompetenzen und Erfahrungen nicht in ihre aktuellen Tätigkeiten einbringen zu können, und dass sie sie aus diesem Grund als nutzlos empfinden (Migliore/Steinberg 2013). Diese unterschiedlichen, im (kontinuierlichen oder diskontinuierlichen) Erwerbsverlauf erworbenen Kompetenzen und Erfahrungen können dabei, wenn sie identifiziert werden, zu einem Trumpf des Beschäftigten werden. Die durch oder in der sportlichen Aktivität aufgedeckten Fähigkeiten können bewertet und als tatsächliche Kompetenzen anerkannt werden. Die Durchführung einer dokumentierten Kompetenzbilanz, die in die Sportprogramme integriert werden könnte, würde es einerseits dem Individuum erlauben, sich seine eigenen Fähigkeiten bewusst zu machen, andererseits würde eine Bestätigung dieser Kompetenzen den Marktwert des Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt erhöhen und beispielsweise auch die Rückkehr in den Arbeitsmarkt nach einer Phase der Arbeitslosigkeit erleichtern. Sowohl ältere Beschäftigte als auch Beschäftigte mit diskontinuierlichen Erwerbsverläufen hätten die Möglichkeit, ihre Innovationspotenziale und Ressourcen zu zeigen und würden so als Experten in ihren Arbeitsbereichen wahrgenommen. Eine Stärke betrieblicher Sportangebote kann es sein, unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten durch die Kombination diverser Aktivitäten anzubieten. Wir möchten hier die Notwendigkeit unterstreichen, unterschiedliche Angebote für sportliche Aktivitäten, die die intergenerationelle Zusammenarbeit und die individuelle Kompetenzentwicklung unterstützen zu mischen. Es geht unserer Ansicht nach um eine Operationalisierung des »Contrat de génération«. Die Implementierung intergenerationeller Tandems in den Arbeitsprozessen, die einen Transfer von Erfahrungswissen und Kompetenzen anvisiert, ist ein erklärtes politisches Ziel der französischen Regierung. Damit dieses System funktioniert, müssen zwei grundlegende Bedingungen gewährleistet sein: die Individuen müssen sich auf Augenhöhe begegnen (Statusgleichheit im Sinne des Intergruppen-Kontakt-Ansatzes) und ihre Kompetenzen müssen komplementär sein (das heißt unterschiedlich, aber kompatibel). Der Transfer der Kompetenzen ist für die älteren Beschäftigten nur dann interessant, wenn er reziprok ist. Die unterschiedlichen generationellen Kulturen der älteren und der jüngeren Beschäftig-

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ten müssen weiterhin in Kontakt gebracht werden. Innovationsprozesse speisen sich vor allem aus der Diversität und der Komplexität des Austausches zwischen unterschiedlichen Kulturen. Mit den Konzepten für betriebliche Sportprogramme muss ein systematischer Ansatz entwickelt und umgesetzt werden, um für die intergenerationelle Kooperation und die individuelle Kompetenzentwicklung in der modernen Personalarbeit verfügbar zu sein.

4. F A ZIT Im Kontext des demografischen Wandels und der Alterung der Gesellschaft wurde im Rahmen des Verbundprojektes DEBBI ein Beitrag zu einem Lösungskonzept vorgeschlagen, um der Herausforderung der intergenerationellen Balance im Unternehmen zu begegnen. Ziel war es zu zeigen, was die Konzepte der sozialen Kategorisierung und der Stereotype bei der Analyse der Situation älterer Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt leisten können. Wir haben uns dabei insbesondere auf die Verbindung zwischen den Generationen, ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Entwicklung einer intergenerationellen Balance durch die Reduzierung von Stereotypisierungen und Diskriminierungen, denen ältere Beschäftigte im Unternehmen ausgesetzt sind, fokussiert. Der letzte Teil stellte einen Ansatz vor, der darauf abzielt, die individuellen Kompetenzen der Beschäftigten als Hebel zu nutzen, um die Erzeugung einer positiven sozialen Identität zu ermöglichen. Aufgrund der großen Bandbreite sportlicher und physischer Aktivitäten erlaubt unser Vorschlag, sie als Unterstützungsinstrument sowohl auf der Ebene der intergenerationellen Kooperation, als auch auf der Ebene der individuellen Kompetenzentwicklung zu nutzen. Sie bieten einerseits die Möglichkeit, Kompetenzen zu identifizieren und zu entwickeln, andererseits aber auch einen Raum des Austauschs und des Dialogs, in dem negative Urteile und Unverständnis, die auf Stereotype und Vorurteilen beruhen, nicht weiterhin den intergenerationellen Konflikt motivieren, der die Innovationsfähigkeit der Mitarbeiter und der Unternehmen bedroht. Die Personalarbeit im demografischen Wandel kann und darf die Herausforderung der Integration der älteren Beschäftigten und die Frage nach den intergenerationellen Beziehungen im Unternehmen nicht außer Acht lassen. Ältere Beschäftigte stellen wichtige Ressourcen für das Unternehmen dar und verfügen über eine Vielzahl von Kompetenzen und Erfahrungswissen, die häufig nicht genutzt werden. Während die Frage nach der intergenerationellen Balance in Unternehmen 2004 eine zukünftige Kernherausforderung darstellte (Alexandre-Bailly et al. 2004), scheint sie heute im Herzen der französischen Gesellschaft angekommen zu sein. Das Unternehmen ist zum Symbol der Verschlechterung der intergenerationellen Beziehungen geworden (Meier 2008). Gleichzeitig erfordern die demografischen Veränderungen und die Anforderungen der modernen Wirk-

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lichkeit eine Zusammenführung aller gesellschaftlichen Potenziale. Es ist somit wichtiger denn je, eine neue Form des Managements der Generationen zu definieren, die wirtschaftliche und soziale Notwendigkeiten abbildet und versöhnt.

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Identifikation von Innovationspotenzialen in Erwerbsbiografien Bemerkungen aus der Praxis der Personalentwicklung Kurt-Georg Ciesinger

1. I NNOVATION UND A LTER Innovationsfähigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft und der Unternehmen ist notwendig für internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Die Entwicklung der globalen Märkte hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass Deutschland als Hochlohnland mit ethischen Arbeitsstandards nur dort international erfolgreich ist, wo Wertschöpfung aus der Generierung neuer Ideen für Produkte und Verfahren gewonnen wird, also im Bereich der Innovation. Innovation wurde dabei früher als Domäne der Jüngeren betrachtet. Viele Innovationsbeispiele, so etwa die Entwicklung der gesamten IT-Branche von Bill Gates bis Mark Zuckerberg, resultieren aus den Ideen und der Begeisterung jüngerer Menschen für neue Technologien. Diese jungen Innovatoren entwickelten ihre Visionen oftmals gegen erhebliche Widerstände und unter Ignoranz von Erfahrungswerten. Und genau das ist der Kern, wenn man sich die weitreichenden Neuerungen der Geschichte anschaut: Die systematische Fortschreibung der Erfahrung führt zur inkrementellen, die jugendliche Negierung jeglicher Erfahrungen zur radikalen Innovation. Bedingt durch den demografischen Wandel fehlen jedoch perspektivisch diese jungen Menschen in der benötigten Masse. Denn nicht jede Idee wird zur Innovation und nicht jede Innovation wird zum Markterfolg, sodass man als Unternehmen viele innovative Köpfe benötigt, um die im internationalen Wettbewerb notwendigen, ständig neuen Ideen zu produzieren und umzusetzen. So viele, dass die abnehmende Zahl Jüngerer dies nicht mehr in der Fläche leisten können wird. Ältere müssen damit Innovationsträger bleiben – oder gar werden, wenn sie es in der Jugend nicht waren. Dies ist weder für die Unternehmen noch für die Betroffenen eine gewohnte Situation. Innovationen entstehen in der Regel dann, wenn Bekanntes, aber bisher Unverbundenes zusammengeführt wird (zum Beispiel Staudt, 1986). Vor diesem

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Hintergrund werden oft Innovationsteams aus Experten verschiedener Disziplinen gebildet, die ihre jeweiligen Kompetenzen übereinanderlegen sollen, um daraus, mehr oder minder planvoll, etwas Neues zu generieren. Ideen zu Innovationen können aber auch – und dies dürfte der häufigere Fall sein – von nur einer Person entwickelt werden. Aber auch hier gilt: Das Innovative entsteht in der Regel aus der Neukopplung von Bestehendem. Gelingt es also, heterogenes, aber bisher unverbundenes Wissen einer Person zusammenzuführen, entstehen daraus erhebliche Innovationspotenziale. Ein plakatives Beispiel dafür ist die reale Person Franz Schnurbusch, der als Waldarbeiter Pädagogik studierte und Jahre später seine beiden Kompetenzen als »Waldpädagoge« zusammenführte: Nach einer Ausbildung als Forstwirt und einer siebenjährigen Tätigkeit als Förster absolvierte er ein Studium der Lehramtsfächer Biologie, Mathematik und Deutsch. Nach dem Einsatz als klassischer Lehrer schloss er ein Sonderpädagogikstudium an. Am Ende seiner schulischen Lauf bahn begann er mit Sonderschülern durch Unterricht im und am Wald verschüttete Lernpotenziale zu wecken und begründete damit seine Form der Waldpädagogik. Seit über 18 Jahren leitet und moderiert er mittlerweile waldpädagogische Veranstaltungen im In- und Ausland, weiterhin für Kinder, aber auch für Unternehmen, insbesondere Manager (http://wald-paedagogik.de). Innovationen können aber auch entstehen, wenn bekanntes Wissen in einen neuen Kontext gestellt wird. Rudolf Diesel konnte seinen Dieselmotor nur erfinden, weil er bei Linde in der Kältetechnik gelernt hatte, mit großen Drücken umzugehen. Diese Kompetenz setzte er später bei der Entwicklung seines hochverdichtenden Motors bei MAN ein. Die Kompetenzen der Mitarbeiter sind also das größte Innovationspotenzial der Unternehmen. Dies gilt insbesondere, wenn es gelingt, diese Kompetenzen wie beim Waldpädagogen neu zu verbinden – in einer Person oder zwischen Personen. Oder aber, wenn die Kompetenzen wie bei Rudolf Diesel in einen neuen Kontext übertragen werden. Voraussetzung für beide Formen der Innovationsentwicklung sind somit möglichst viele und möglichst heterogene Kompetenzen, möglichst viel (noch) unverbundenes Wissen, das potenziell neu gekoppelt werden kann. Die wichtigsten Innovationsträger werden in Zukunft daher ältere Menschen mit bunten Lebensläufen sein. Denn diskontinuierliche Erwerbsbiografien – als Thema und Gestaltungsfeld des Projektes DEBBI – erzeugen mehr unterschiedliches Wissen: Die Tätigkeitsbereiche diskontinuierlich Beschäftigter können heterogen sein und beanspruchen unterschiedliche Kompetenzbereiche. Ältere Menschen, die lange und viele Phasen diskontinuierlicher Beschäftigung durchlaufen haben, besitzen einen breiten Erfahrungsschatz und tragen damit das größte Innovationspotenzial. In der Praxis stellen sich jedoch eine Reihe von neuen Fragen und Problemen, die gelöst werden müssen, sollen die hypothetischen Innovationspotenziale diskontinuierlich Beschäftigter in tatsächliche Wettbewerbsvorteile der Unternehmen überführt werden.

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

2. D AS P ROBLEM VON I NNOVATION UND I DENTIFIK ATION Kompetenzprofile sind umso wertvoller für Innovationen, je heterogener sie sich darstellen. Homogene Kompetenzen und bereits verbundenes Wissen können schwerlich zu Innovationen führen, weil sich daraus kaum Neues, Unbekanntes entwickeln lässt. Die Kehrseite der Innovationspotenziale heterogener Kompetenzprofile ist jedoch die mangelnde Möglichkeit der Ausbildung einer beruflichen Identität. Eine Identität bildet sich aus dem ständigen Vergleich des Individuums mit seiner Umwelt heraus: Worin unterscheide ich mich von anderen, worin bin ich ihnen gleich? Dabei ist der Gruppenbezug besonders identitätsstiftend: Gruppen stellen hervorragende Identifikationsmöglichkeiten her, da sie gesellschaftlich relevante Muster darstellen, denen man sich verbunden fühlen oder gegen die man sich abgrenzen kann. Wenn Gruppenzugehörigkeiten nicht etabliert werden können oder verloren gehen, ist damit auch die Identität bedroht. Dies trifft bei den diskontinuierlich Beschäftigten in ihrer beruflichen Identifikation oftmals in dramatischem Umfang zu: Sie erwerben bei einem Wechsel der Beschäftigung oder Tätigkeit zwar oftmals neue Kompetenzen, entfernen sich damit aber von ihrer früheren beruflichen Identität. Im besten Fall werden die alten durch neue Identitäten ersetzt (Franz Schnurbusch war zuerst Förster, dann Lehrer). Oftmals bleiben die Identitäten aber diffus: Man ist nicht mehr das eine, aber auch (noch) nicht etwas anderes. Eine berufliche Identität (und damit in unserem Kulturraum auch eine persönliche Identität, die durch die Beruflichkeit maßgeblich beeinflusst wird) wird behindert, wenn man sich keiner Berufsgruppe zuordnen kann. Wer also in der Heterogenität seiner Kompetenzen keine Identität definieren kann, ist dem Risiko der Isolation und nachfolgenden psychischen Problemen ausgesetzt. »Nur der richtige Name gibt allen Wesen und Dingen ihre Wirklichkeit«, sagt die Kindliche Kaiserin in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende. Auch eine berufliche Identität, eine Kompetenzidentität benötigt damit einen kommunizierbaren Namen. Im Falle von Franz Schnurbusch ist dies der Begriff Waldpädagoge. Ein solcher Begriff ist nicht nur für die individuelle Etikettierung wichtig, sondern auch für die Fähigkeit zur Identitätsbildung. Da sich Identität immer im Zusammenspiel mit der sozialen Umwelt entwickelt, ist die Kommunizierbarkeit der eigenen Identität notwendig. Eine Identität, die nicht kommunizierbar ist, wird leicht pathologisch, denn sie besitzt keine soziale, sondern nur eine individuelle Validität und damit in sozialen Zusammenhängen keine Wirksamkeit. Eine berufliche Identität setzt damit voraus, dass man einen kommunizierbaren Begriff für sein höchst individuelles Kompetenzprofil findet, einen Begriff, der unmittelbar intersubjektiv verständlich ist. Dazu gibt es traditionellerweise Berufsbezeichnungen. Wenn diese aber nicht mehr ausreichen, wird aus der klaren, kommunizierbaren Benennung der beruflichen Identität ein Aufzählen von Einzelkompetenzen, beruflichen Episoden und Tätigkeitsfeldern. Eine sinnstiftende Identität kann dieser Flickenteppich nur bei sehr starken, ich-bezogenen Charakteren darstellen.

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Aber es wird noch komplizierter. Ist es schon schwierig, ein heterogenes Kompetenzbündel sinnstiftend zu benennen, so ist es logisch unmöglich, ein innovatives Kompetenzbündel zu benennen. Denn der Name, der Sinn ergibt sich aus der Innovation, die dem Kompetenzbündel ja erst entspringen soll. Vor der Idee zur Innovation ist das innovative Kompetenzbündel unzusammenhängend und definitiv nicht sinnstiftend. Es ist also ausgesprochen schwierig, sich auf der Basis neuer Konzepte (Innovationen) Identitäten zu verschaffen. Vielmehr ist die Identität Ergebnis eines Prozesses der Gewöhnung an Neues. Identität entsteht, wenn die Innovation vergangen ist. Die Innovatorin und der Innovator sind damit in ihrer Identität gefährdet, bis sich die Innovation durchgesetzt hat (und nicht mehr neu ist). Die potenzielle Innovatorin und der potenzielle Innovator aber sind hinsichtlich ihrer Kompetenzprofile damit heimatlos, weil diese zwar Innovation versprechen, aber solange, bis die Idee zur Innovation geboren ist, keinen erkennbaren und vermittelbaren Zusammenhang darstellen. So entsteht ein logisches Dilemma: Einerseits verhindert die Innovation die Identitätsbildung, andererseits behindert die Identität die Innovation, denn die Identität strebt zur Stabilität und nicht zur Veränderung. Vielleicht ist aber die Forderung, aus der innovativen Kompetenzkoppelung eine (berufliche) Identität zu gewinnen, auch zu weit gegriffen, zu akademisch. Vielleicht benötigen Innovatorinnen und Innovatoren gar keine stabilen, kommunizierbaren beruflichen Identitäten, die auf ihren heterogenen Kompetenzen und ihrem verstreuten Wissen auf bauen. Nach einem salutogenetischen Verständnis (Antonovsky 1997) sollte aber mindestens ein Sinn, ein Zusammenhang, eine Gestalt in diesem Kompetenzprofil erkennbar sein, unabhängig davon, ob dies ausreichend für die Ausbildung einer vollständigen Identität ist. Sprechen wir also im Folgenden von einer Kompetenz-Gestalt, einer Systematisierung von Kompetenzen auf der Basis von wie auch immer gearteten Gemeinsamkeiten, die einen Zusammenhang zwischen den Elementen des Kompetenzprofils herstellt und so die Beliebigkeit durch einen Sinn ersetzt – ohne zu beanspruchen, dass dies ausreicht, eine Berufsidentität zu stiften.

3. »K OMPE TENZGESTALTEN « Ä LTERER Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem solche mit beruflichen Diskontinuitäten, haben viele heterogene Kompetenzen. Die Erfahrungen aus dem Projekt DEBBI zeigen, dass sie sehr defensiv damit umgehen, diese zu benennen und damit zu einer persönlichen Kompetenzgestalt zu machen. Erstens halten ältere Kompetenzträgerinnen und -träger ihre Qualifikationen, Kenntnisse und Fertigkeiten für normal und nicht erwähnenswert. Diese Beobachtung korrespondiert mit dem sog. Dunning-Kruger-Phänomen (Dunning  & Kruger, 1999). Dieses beschreibt die Tendenz inkompetenter Menschen, das

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

eigene Können zu überschätzen und die Leistungen kompetenterer Personen zu unterschätzen  – umgekehrt schätzen hochkompetente Menschen ihr Können tendenziell niedriger ein. Dies resultiert aus dem Effekt, dass ein Maß von Wissen notwendig ist, um die Komplexität eines Gegenstandsbereiches zu erfassen – und quasi demütig zu werden: Je mehr Wissen man erwirbt, desto mehr lernt man darüber, was man noch nicht weiß. Zweitens haben Trägerinnen und Träger heterogener Kompetenzen wie oben beschrieben keinen Begriff dafür und müssen daher eine episodische Beschreibung ihrer Kompetenzen und Tätigkeiten liefern. Drittens ist die soziale Wertschätzung nichtlinearer Kompetenzentwicklungen eher gering. Vielfach werden diese Biografien als Verlierer-Karrieren bewertet. Auch wenn dies als überkommenes und vielleicht auch auf dem deutschen Kulturraum begrenztes Phänomen erscheinen mag, ist die Geringschätzung von Diskontinuität hier und jetzt gesellschaftliche Realität. Nur wer erfolgreich geworden ist, darf mit seiner (zurückliegenden) Diskontinuität prahlen. Die kommunizierte Kompetenzgestalt wird daher von diskontinuierlich Beschäftigten meist entweder auf die Erstausbildung oder die aktuelle Tätigkeit reduziert. Das ist natürlich viel zu kurz gesprungen. Insbesondere bei Älteren, deren Erstausbildung Jahrzehnte zurück liegt, ist ein Ausweichen auf diese in Ermangelung anderer sinnstiftender Begriffe für die Kompetenzgestalt geradezu absurd. Vor allem besteht die Gefahr, dass man die übrigen Kompetenzen selbst aus den Augen verliert, wenn man die Kompetenzgestalt in der Darstellung der eigenen Person immer nur auf spezielle, gegebenenfalls unwichtige oder überholte Kompetenzbegriffe reduziert, nur weil diese kommunizierbar sind. Wie findet man aber den sinnstiftenden roten Faden im Kompetenzprofil oder gar in der gesamten Kompetenzbiografie? Und wie kann dies dann noch innovativ sein, wenn sich Identität und Innovation gegenseitig behindern? Mit der Suche nach dem Begriff für den roten Faden in der Kompetenzbiografie einer Person sind wir noch zu nah bei der traditionellen Orientierung an beruflich-fachlicher Kontinuität. Ziel dieser klassischen Kompetenzentwicklung ist die Vervollkommnung der einen vorgegebenen Kompetenzgestalt« – sei es durch Soll-Ist-Vergleiche oder Karriereziele. Die Gestalt wird als Sollprofil definiert und durch Weiterbildung und Personalentwicklung modelliert. Abweichungen von der Gestalt werden als Makel betrachtet, auch wenn es Kompetenzüberhänge sind, weil sie die Stromlinienförmigkeit und Marktgängigkeit stören. Was nicht zu der gültigen Kompetenzgestalt gehört, wird abgeschliffen. Entweder die Person verliert diese Kompetenzen perspektivisch völlig oder aber sie schiebt sie in eine, zum Beispiel private, Teilidentität (siehe dazu auch den Beitrag von Heiner Keupp in diesem Band) ab, macht sie zum Hobby oder thematisiert sie nur selektiv in bestimmten Umfeldern. Innovativ wäre hingegen die Suche nach Innovationspotenzialen einer Erwerbsbiografie durch den Entwurf neuer, alternativer, paralleler, spekulativer

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Kompetenzgestalten. Solche Kompetenzgestalten, die nicht als Fakt, sondern als Hypothese, als Möglichkeit gedacht werden, können nebeneinander existieren, ohne dass sie sich behindern oder stören. Sie sind latent und virtuell – im Sinne von vorhandenen Möglichkeiten – und werden bei Bedarf aktiviert. Kompetenzen, die nicht zu einer Kompetenzgestalt gehören, werden dann nicht abgeschliffen. Vielmehr können sie in einer anderen virtuellen Kompetenzgestalt sehr wichtige, konstituierende Funktionen haben. Solchermaßen verstandene Kompetenzgestalten oder Identitäten bedeuten aber auch das Akzeptieren von Lücken und Inkompatibilitäten. Ziel der Innovationssuche in Kompetenzprofilen wäre unter dieser Vorstellungsweise die Modellierung einer Multiplen Kompetenzpersönlichkeit mit alternativen Identitäten, die in unterschiedlichen Innovationskontexten getriggert werden können.

4. D IE S UCHE NACH DEM ROTEN F ADEN IN DER E RWERBSBIOGR AFIE ALS I DENTITÄTS - UND I NNOVATIONSANKER Innovationen sind neu und vorher unbekannt. Damit stellt sich das Problem, wie Unternehmen oder Beschäftigte in Kompetenzprofilen nach unbekannten Innovationspotenzialen suchen sollen. Wie findet man den roten Faden eines Kompetenzprofils, wenn Kompetenzgestalten sich aus der Innovation ergeben und die Innovation aus den Kompetenzen? Damit man interessante Kompetenzgestalten finden kann, müsste man vorher wissen, was interessant ist. Das kann man aber nicht, weil das Ergebnis ja neu und unbekannt sein soll. Daher weiß man nicht einmal, welche Kompetenzen man erfassen soll, könnten doch alle denkbaren Kompetenzen in Kombination mit anderen eine neue Kompetenzgestalt ergeben. Und nicht zuletzt: Wie soll man Innovationen erkennen, selbst wenn sie vor einem auf dem Tisch (im Kompetenzprofil) liegen, wenn man sie nicht kennt, man also nicht einmal weiß, welche Form und Farbe die Nadel im Heuhaufen hat? Daher sind Innovationen, zumindest radikale, heute wie zu Anbeginn der Zeit in der Regel Zufallsprozesse. Dennoch gibt es Möglichkeiten, Hypothesen über mögliche Kompetenzgestalten zu bilden, quasi einen Möglichkeitsraum für Identität und Innovation aufzuspannen und sich so Lösungen anzunähern. Nehmen wir dazu das Beispiel einer bewusst und gewollt gestaltlosen heterogenen Kompetenzbiografie: das Beispiel des Kasimir Kardan. Kasimir Kardan ist das Pseudonym des bekannten Journalisten Klaus Kulkies. Er beschrieb sich selbst in seiner Kolumne der Autozeitschrift Off Road so: »Vom Sägewerksarbeiter zum Autoverkäufertrainer, vom Ford-Werbechef zum Twen-Chefredakteur, vom Autotester zum Werbeagentur-Geschäftsführer, vom Marketingberater bis jenseits vom Alltag.«

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

Kasimir Kardan hat offensichtlich keinen sinnstiftenden Begriff für den roten Faden seiner Erwerbsbiografie, keinen Namen wie Waldpädagoge. Er macht daher gerade die Heterogenität seines Kompetenzprofils zum Programm, um sich ironisierend von anderen Journalisten abzuheben. Wollte er aber in seiner Biografie vermittelbaren Sinn stiften, zum Beispiel weil er einen Job suchte, so fehlte ihm ganz offensichtlich der Name für sein Kompetenzprofil. Welche Kompetenzgestalt kann daraus generiert werden? Die Analyse der Zusammenhänge des Profils liefert dazu Kompetenzgestalthypothesen: Wir kommen zu verschiedenen Lösungen, je nachdem welche Interpretationsebene wir wählen: 1. Inhaltsebene = Werbung, Journalismus, Autos Wertet man die Inhalte oder Tätigkeiten, Branchen oder Berufe aus, so mag man zu dem Schluss kommen, dass Kasimir ein Autojournalist ist. Viele seiner beruflichen Stationen hatten mit Journalismus und der Autoindustrie zu tun. 2. Funktionsebene = Training, Führung, Beratung Betrachtet man hingegen, welche Funktionen er in seiner Karriere übernommen hat, Training, Führung, Beratung, so stellt man vielleicht fest, dass er ein Manager sein muss, zumindest jemand, der Menschen leitet. 3. Strukturebene = Extravaganz, Unruhe, Autonomie Analysiert man tiefer, so stellt man Unruhe und das Bedürfnis nach Autonomie, dem Sich-nicht-festlegen-wollen fest. Bezieht die extravagante Form der Selbstdarstellung mit ein, so mag man Kasimir freundlich als Querdenker titulieren. Je flacher die Analyse beziehungsweise Interpretationsebene, desto näher sind die Begriffsbenennungen am Arbeitsmarkt: Mit der Bezeichnung Autojournalist könnte sich Kasimir Kardan beim Job Center vorstellen, mit der Vorgabe Manager könnte er zumindest Stellenanzeigen durchforsten. Die Tätigkeit des Querdenkers ist jedoch am Arbeitsmarkt nicht kommunizierbar. Andererseits: Je tiefer man in die Analyse einsteigt, desto näher ist man an stabilen Persönlichkeitsmerkmalen, am roten Faden der Biografie und damit näher am Innovationspotenzial des Betroffenen. Diese Innovationspotenziale will das Projekt DEBBI aufspüren. Kann es eine Software geben, die dies erleichtert, die auf der Basis von Kompetenzprofilen verschiedenste Vorschläge zu innovativen Kompetenzgestalten macht. Dabei stellt sich jedoch zunächst die Frage, welche Kompetenzen erhoben werden sollen und wie diese praktisch zu erheben sind.

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5. I NNOVATIVE K OMPE TENZERHEBUNG Üblicherweise werden Kompetenzen durch Selbsteinschätzungen oder Fremdbeurteilungen erhoben. Vor der Entscheidung dieser, zentralen Frage ist aber, welche Kompetenzbereiche erfragt werden sollen. Im Laufe des Projektes wurde eine Vielzahl von Möglichkeiten innovativer Kompetenzerhebung entwickelt. Ziel der Ideengenerierung war dabei, Methoden zu entwickeln, die in dieser Form noch nicht in gängigen Systemen der Kompetenzmessung eingesetzt werden. Die strukturierte Erhebung durch Vorgabe von Kompetenzitems als einfachste Form der Kompetenzerhebung basiert auf einem festen Set von Kompetenzen aus vorgegebenen, für die zentralen Geschäftsfelder des Unternehmens relevanten Bereichen. Diese sind aus Anwendungssicht des Unternehmens erschöpfend oder zumindest ausreichend und werden ständig aktualisiert. Vernachlässigt werden aber in der Regel fachliche Kompetenzen aus anderen Bereichen der Wirtschaft und der Beruflichkeit des Beschäftigten. Aus der Kopplung solcher Qualifikationen mit den fachlichen Kompetenzen im Kerngeschäft können sich aber durchaus große Innovationspotenziale ergeben. Es gilt also Kompetenzitems wahlweise aus allen denkbaren Bereichen anzubieten. Eine Möglichkeit bieten hier Datenbanken zum Beispiel von Jobvermittlungsagenturen, die umfassende Tätigkeitsbeschreibungen, Kenntnisse und Fertigkeiten beschreiben. Es könnten zur Erhebung weiterer Kompetenzen zusätzlich neue Rubriken eingeführt werden: zum Beispiel jobfremde Fähigkeiten und Zertifikate, Hobbie, Erfahrungen aus früherer beruflicher Tätigkeit etc., die den Betrachtungsrahmen der eigenen Kompetenzen erweitern und die alleinige Fokussierung auf die aktuell ausgeübte Tätigkeit verhindern. Wichtig ist dabei generell, dass der Aufwand zur Beschreibung gering gehalten wird. Die Erfassung von Kompetenzen aus Listendarstellung ist für die Dokumentation von heterogenen Erfahrungen aber gegebenenfalls sehr mühsam und kann dazu führen, dass der Dokumentationsprozess von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern abgebrochen wird. Daher können Freitexteingaben verwendet werden, um Wissen aus spezifischen berufsbiografischen Episoden oder Projekten zu beschreiben. Diese Freitexteingaben könnten über die Systematiken/ Ontologien maschinell ausgewertet werden, das heißt Freitexte könnten auf ein gemeinsames Begriffsgebäude reduziert werden. Hierzu können mittlerweile bestehende und frei verfügbare Ontologien (wie zum Beispiel Open Thesaurus) eingesetzt werden. Es ist schwer, die eigenen Kompetenzen ohne die Vorgabe von Kompetenzitems zu beschreiben. Durch Projektretrospektiven (zum Beispiel unmittelbar nach Abschluss eines Projektes) können die dort durchgeführten Tätigkeiten als Kompetenzen gelistet werden. Nach jedem Projekt findet ein Workshop statt, in dem genau beschrieben wird, wer was in dem Projekt getan hat. Das bezieht sich auf die unmittelbar funktionale Tätigkeiten (wie zum Beispiel Programmieren), aber auch extrafunktionale Tätigkeiten wie Streitschlichten oder Moderieren. In der

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

Retrospektive wird die Frage nach der Chronologie der Tätigkeiten gestellt: ›Was wurde zuerst getan, was danach?‹. Es wird eine Liste von Tätigkeiten mit Zuordnung zu Personen angefertigt: ›Wer hat was gemacht?‹. Die Tätigkeiten werden in der Projektgruppe in Kompetenzen übersetzt. Dadurch entsteht eine Kompetenzliste jedes einzelnen Teammitglieds und sukzessive auch ein Begriffsrahmen für projektbezogene Kompetenzen. Üblicherweise werden Qualifikationsbedarfe statisch ermittelt: Ein aktuelles Ist-Profil wird einem Soll-Profil gegenübergestellt. Dies ist ein ständiges Hinterherlaufen hinter den sich verändernden Qualifikationsanforderungen. Sinnvoll wäre es, bereits weit im Voraus die in einem Projekt oder einem Geschäftsfeld erforderlichen Kompetenzen im Rahmen dynamischer Qualifikationsbedarfsermittlung zu beschreiben. Motto: Was brauchen wir heute? Was brauchen wir morgen? Was in fernerer Zukunft? Ein konkretes Vorgehen könnte folgendermaßen aussehen: Für jedes Geschäftsfeld oder jeden Projektbereich erarbeitet eine Arbeitsgruppe Trends in den Bereichen Technologie, gesellschaftliche Entwicklungen und Nachfrage. Von diesen Megatrends werden Veränderungen in den Geschäftsbereichen abgeleitet. Daraus werden auf einer Timeline Qualifikationsanforderungen beschrieben. Damit entstehen dynamische Soll-Profile und damit auch neue Bezugsrahmen für die individuelle Kompetenzbeschreibung. In evolutionären Entwicklungen wird ein immer neuer Fit zwischen einer sich ständig verändernden Umwelt und sich verändernden Lebewesen hergestellt. Das kann bedeuten, dass sich Lebewesen anpassen, aber auch, dass sie aktiv ihre Umwelt ändern oder eine andere suchen. Wenn man über genaue Beschreibungen der Umwelt (=  Kompetenzanforderungen eines Geschäftsfeldes) verfügte und diese mit ebensolchen Beschreibungen der Kompetenzen der Beschäftigten oder Teams gegenüberstellte, so würde man Kompetenzdefizite wie auch -überschüsse feststellen können. Das bedeutet, ein Team mit Kompetenzüberschüssen könnte sich eine neue Umwelt suchen (neue Projektfelder), oder Auftraggebern kompetenzbasiert neue zusätzliche Leistungen anbieten. Evolutionäres Vorgehen würde bedeuten, mit der Kompetenzentwicklung nicht nur hinter den aktuellen und erwartbaren Kompetenzanforderungen herzulaufen, sondern offensiv kompetenzbasierte neue Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Durch diese und andere Formen der Kompetenzerhebung ist es möglich, die für die Suche nach Kompetenzgestalten notwendige möglichst breite, im Idealfall weitgehend erschöpfende Datenbasis für die Beschreibung der individuellen Kompetenzen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder von Arbeitsgruppen zu erstellen. Wie aber ergeben sich daraus innovative rote Fäden der Kompetenzbiografie?

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6. A UTOMATISIERTE V ORSCHL ÄGE DURCH DEN J OBPROFILER Es wird nicht gelingen, individuell sinnstiftende Kompetenzgestalten automatisiert zu erzeugen. Es erscheint aber durchaus möglich, Kompetenzgestalthypothesen als Vorschläge zu entwickeln, die auf Basis semantischer Technologien und assoziativer Verfahren den Zufall beschleunigen. Ähnliche Ideen finden wir bei Webtechnologien großer Online-Dienstleister und Verkaufsportale. Diese Anbieter versuchen seit Jahren höchst erfolgreich, die Daten, die von Kundinnen und Kunden selbst in das System gespeist werden, auszuwerten und diesen zurückzuspielen. Das Ziel ist dabei immer, den Kundinnen und Kunden neue, interessante und möglichst für deren Bedürfnisse passende Produkte zum Kauf anzubieten. Produkte, die der Kunde noch nicht kennt, aber potenziell interessant findet und damit kaufen könnte, sind so gesehen Innovationen für ihn. Metainformationen, Tagging: Eine Möglichkeit, neue Produkte anzubieten, ist die Generierung von Kaufempfehlungen aus Tags der gekauften Produkte. Wenn ich ein Buch von Henning Mankell gekauft habe (Tags: Schweden, Krimi), werden mir auch schwedische Bücher, Landkarten oder amerikanische Krimis angeboten. In einem weiteren Schritt und weiter unten im Ranking folgen dann Bücher über Afrika, wo Henning Mankell lebt, Bücher norwegischer Autoren, weil Norwegen wie Schweden zu Skandinavien gehört und so weiter. Übertragen auf die Generierung von Kompetenzgestalthypothesen würde dies bedeuten: Kompetenzen werden mit Metainformationen angereichert (zum Beispiel Zuordnung zu Berufen, Rollen, Branchen, Prozessen). Aus den bisher isolierten Kompetenzlisten werden damit verbundene Kompetenznetze, die sich semantisch auswerten lassen. Kompetenzitems, die in semantischem Zusammenhang stehen, wären die gesuchten Kompetenzcluster, die die Chance auf Innovation bieten – zumindest statistisch gesehen. Statistische Auswertung: Kaufempfehlungen bei Internet-Verkaufsportalen basieren nicht nur auf Produktähnlichkeit, sondern auch auf dem Kaufverhalten der Nutzerinnen und Nutzer (›Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch …‹). So werden der Nutzerin und dem Nutzer ihnen bisher unbekannte, aber möglicherweise ihrem Geschmack entsprechende Produkte angeboten. Dabei bleibt unklar und ist auch vollkommen egal, warum es einen Zusammenhang zwischen den Produkten geben mag. Die Statistik liefert nur die Information, dass es einen Zusammenhang gibt. Ob das so gefundene Produkt den Nutzer überzeugt, wird in einem späteren Schritt und auf Basis vollkommen anderer Kriterien entschieden. Übertragen auf die Generierung von Kompetenzgestalthypothesen hieße das, man müsste ausreichend viele Kompetenzprofile auswerten, um Kompetenzen zu identifizieren, die häufiger gemeinsam auftreten. Solch gemeinsames Auftre-

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

ten gäbe einen Hinweis auf einen wie auch immer gearteten inhaltlichen Zusammenhang, eine Gestalt. Dabei werden aus Sicht der Identifikation von Innovationen aber vor allem solche Zusammenhänge interessant sein, für die es zunächst keine inhaltliche Erklärung gibt. Die Aufgabe der Funktion eines InnovationsScouts wäre es demnach, statistische Cluster zu untersuchen, die in keinem bekannten semantischem Zusammenhang stehen und zu spekulieren, wie sie in einen innovativen Zusammenhang gestellt werden könnten. Assoziative Verfahren: Die Funktion ›Stöbern‹ bei Online-Warenhäusern gibt durch Zufallsdarbietungen Anregungen für zum Beispiel Geschenke. Man denkt nicht nach: ›Was brauche ich?‹, sondern überlegt sich ›Wofür könnte ich das gebrauchen?‹. Das Prinzip ist die Kreativitätsförderung durch Rekontextuierung, in dem Objekte in einem neuen Umfeld neu beschrieben werden. Für die Entwicklung von Hypothesen über innovative Kompetenzgestalten ist dies eventuell das erfolgversprechendste Vorgehen, denn Unbekanntes kann nicht durch gezielte Suche gefunden werden. Innovationen werden nicht gefunden, indem man mit bekannten Strategien sucht, denn so findet man nur das Bekannte. Assoziative Verfahren ermöglichen es hingegen, neue Suchpfade sukzessive zu beschreiten, ohne das genaue Ziel der Suche vorab angeben zu müssen. Die Suchrichtung ergibt sich dabei aus dem Suchprozess selbst und verändert sich im Verlauf der Suche. In technischen Systemen der Kompetenzdiagnose kann dies durch die Einrichtung einer Stöberfunktion abgebildet werden, in der, zum Beispiel durch grafische Darstellungen wie Mindmaps mit Hyperlinks, ein Kompetenzprofil systematisch oder auch assoziativ durchgegangen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit Irgendetwas zu finden ist mit dieser Vorgehensweise geringer als bei deterministischer Suche. Die Wahrscheinlichkeit Neues zu finden, ist jedoch ungleich höher.

7. U MSE T ZUNG IM ADESSO -P ROFILER Angestoßen durch die oben ausgeführten Überlegungen wurde im Projekt DEBBI das bestehende Personalentwicklungstool der Projektpartnerin adesso AG unter anderem in Richtung der Unterstützung der Identitätsbildung in heterogenen Kompetenzprofilen weiterentwickelt (vgl. den Beitrag von Carell/Glasmachers in diesem Band und Carell/Glasmachers 2014). Der adesso Profiler ist im Kern ein technisch unterstütztes Tool zur Kompetenzdiagnostik von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Unternehmens. Jeder Beschäftigte pflegt die eigenen Kompetenzdaten (als Selbsteinschätzung) in eine Datenbank ein, die im Unternehmen mit unterschiedlichen Nutzungsrechten sichtbar ist. Auf der Basis der im Vorangegangenen geschilderten Kompetenzerfassungsmethoden werden fachliche Kompetenzen im Kernge-

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schäft, überfachliche Kompetenzen, Schlüsselqualifikationen und Erfahrungen aus zurückliegender Tätigkeit bei der adesso AG oder in früheren beruflichen Phasen erhoben. In der Summe entsteht ein sehr differenziertes Kompetenzprofil aus der Perspektive der Selbsteinschätzung. Dieses Instrument wird im Unternehmen adesso intensiv zum Staffing genutzt, das heißt zur Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Zusammenstellung von Teams für die Projektarbeit. Hierzu stellen die Leitungskräfte des Unternehmens Kompetenz-Sollprofile auf und lassen diese über die Datenbank der Mitarbeiter-Kompetenzen laufen. Ergebnis dieser Suchanfrage sind Listen von Beschäftigten, die über diese Kompetenzen verfügen. Aus diesen Listen wählen die Führungskräfte Wunschkandidaten aus. Prinzipiell liegen damit folgende Daten vor: Welche Kompetenzen werden gesucht und welche Mitarbeiter wurden dann ausgewählt? Damit wären folgende Fragen aus der Sicht der Beschäftigten beantwortbar, die unmittelbar die individuelle Karriere- und Kompetenzentwicklungsplanung beeinflussen könnten: • • •

Welche (Einzel-)Kompetenzen werden derzeit von adesso gesucht? Verändern sich die nachgefragten Kompetenzen? Welche Kompetenzbündel werden gesucht? Welche Kompetenzen werden gefunden, welche sind in der Belegschaft unterrepräsentiert?

Der adesso Profiler ermöglicht damit – auf einer sehr pragmatischen Ebene – eine Reihe von identitätsstiftenden Auswertungen und Prozessen. Die Daten über das Unternehmen ergeben sich aus der Nutzung des Profilers, das heißt technisch gesprochen über die Auswertung der Suchanfragen nach Personen im Rahmen des Staffings. Die im Profiler eingegebenen Suchbegriffe werden gespeichert, ausgewertet und übersichtlich ausgegeben, zum Beispiel als • • • • •

Top 10 der Suchbegriffe des letzten Monats; Trendstatistik; Suchbegriffe, die neu aufgetaucht sind; Suchbegriffe, die über die Zeit in steigender Häufigkeit gesucht werden; Suchbegriffe, die über die Zeit weniger gesucht werden.

Die Beschäftigten können auch über ihre individuellen Accounts einsehen, bei welchen Projekten sie gefunden wurden und wie weit sie jeweils in der Auswahl gekommen sind. Aus diesen Daten kann die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter unmittelbar ableiten, in welchen Bereichen sie/er Weiterbildungsbedarfe besitzt. Zugleich kann er sich ein Bild machen, in welche Richtung das Unternehmen kompetenzmäßig denkt und für sich entscheiden, ob dies Entwicklungspfade

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

sind, die mit ihren/seinen Vorstellungen übereinstimmen: ›Setzt das Unternehmen auf die richtigen Technologien, Methoden, Konzepte, Branchen?‹ Der Abgleich der Suchanfragen mit der Auswahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lässt weitere Auswertungen zu: • • • • •

Welche Kompetenzen haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die schnell gefunden und oft ausgewählt werden? In welchen Projekten wurde die/der individuelle Beschäftigte gefunden, aber nicht ausgewählt? Bei welchen Suchabfragen wurde sie/er nicht gefunden? Auf welche Attribute, das heißt Kompetenzanforderungen, wurde bei der Auswahl gegebenenfalls verzichtet, welche sind Pflichtanforderungen? Für welche Projekte/Kompetenzen werden selten geeignete Kandidatinnen und Kandidaten gefunden?

Diese Daten geben den Beschäftigten Aufschlüsse über den »internen Arbeitsmarkt«. Sie stellen dar, in welchen Bereichen das Unternehmen Bedarfe hat und in welchen es »gesättigt« ist. Es zeigt sich aber auch auf individueller Ebene, in welchen Bereichen die Kompetenzen des Mitarbeiters selbst stärker herausgebildet, oder aber auch, im Sinne eines Selbstmarketing, besser kommuniziert werden müssen. Überdies können sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesammelte Kompetenzprofile von Personen und Gruppen als Referenzen für das eigene Profil anschauen. Sie können sich anzeigen lassen, wie weit sie hinsichtlich ihrer Kompetenz von Zielpersonen entfernt sind und wie sie sich hinsichtlich ihrer Qualifikationen und Erfahrungen innerhalb einer Referenzgruppe (zum Beispiel der Abteilung) verorten lassen. In Begriffen der Identitätsbildung und Innovationssuche gesprochen, kann der Mitarbeiter damit folgende Informationen gewinnen und Identitätshypothesen entwickeln: 1. Beschäftigte können sich anzeigen lassen, welche Personen ihnen hinsichtlich seiner Kompetenzen ähnlich sind. Hierzu werden Ähnlichkeitsmaße eingesetzt, die einen numerischen Wert der Übereinstimmung ausgeben. Die Kompetenzen dieser Personen kann man sich anonym anzeigen lassen, um die Ähnlichkeiten inhaltlich zu analysieren. Um daraus eine Identität zu generieren, können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das System eine Kontaktanfrage senden, um sich mit den Personen in Verbindung zu setzen. Gemeinsam mit den ihnen ähnlichen Personen können sie nun kommunikativ ihre Identität herausarbeiten oder sich ohne gemeinsame Identität als Gruppe verbinden – in dem Wissen über eine hypothetische Ähnlichkeit. Allein die Verbindung als Gruppe ist identitätsstiftend, auch wenn (noch) kein Begriff für die Identität gefunden wurde.

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In diesen Gruppen kann auch die Vermarktung der eigenen Kompetenz zum Thema gemacht werden. Wenn die Kompetenzträger Gemeinsamkeiten identifizieren, so können sie auch gemeinsam überlegen, wie sie diese einsetzen – im Idealfall natürlich mit dem Unternehmen zusammen. So können kompetenzbasierte Innovationen durch Gruppenintelligenz entstehen. 2. Das System zeigt an, welche Kompetenzen aufsteigende und absteigende Relevanz haben. Dies wird aus der Nachfrage nach den Kompetenzen in den Suchanfragen im Rahmen des Staffings abgeleitet. Die Beschäftigten können sich anzeigen lassen, welche Experten diese spezifischen Einzelkompetenzen besitzen. Damit ist nicht nur die gleiche Kompetenz das verbindende Element zwischen den Personen, sondern auch das gleiche Schicksal im Sinne der Gestalttheorie: Wer die nachgefragte Kompetenz besitzt, befindet sich unter den Gewinnern, wer die auslaufende Kompetenz und keine der nachgefragten Kompetenzen besitzt, gehört zu den Verlierern. Diese Gruppen mit gemeinsamem Schicksal können die am stärksten sozial verbundenen und damit am stärksten identitätsprägenden Gruppen sein. Zudem sind sie als Selbsthilfegruppen potenziell sehr wichtig für die substanzielle Kompetenzentwicklung. Die Inkongruenz zwischen Kompetenz und Nachfrage kann jedoch auch ein Anzeichen dafür sein, dass das Unternehmen Innovationen verschläft. In diesem Fall können die Gruppen mit gemeinsamem Schicksal mit dem Management des Unternehmens in Diskussionen über die Entsprechung von Kompetenz und Innovationsstrategie des Unternehmens eintreten. Dieser Rückkoppelungsprozess ist im Profiler vorgesehen. 3. Das System zeigt an, wie weit sich die eigene Kompetenz von den Suchanfragen (Nachfragen des Unternehmens nach Kompetenzen) fortentwickelt – oder aber ihnen vorausläuft. Im einen Fall werden Beschäftigte perspektivisch von der Unternehmensentwicklung abgehängt, im anderen Fall sind sie Vorreiter im Unternehmen. Beide Fälle sollen bei der Anwendung des Profilers Anlass sein für Personalentwicklungsgespräche, bei denen die Führungskraft dem Mitarbeiter die Fragen stellt: ›Wo hin willst du dich entwickeln?‹. Die Gegenüberstellung der Perspektiven des Unternehmens und der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters sollte dazu führen, dass die Rolle im Unternehmen ausgebaut und wenn möglich die Identifikation mit dem Unternehmen erhöht wird. Zumindest aber wird eine Klärung darüber herbeigeführt, inwieweit die Perspektiven des Unternehmens und der Beschäftigten noch konform sind. Das Vorauslaufen der Kompetenz gegenüber der Unternehmensnachfrage ist die klassischste aller Innovationssituationen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügen über identifizierbare Kompetenzen, die vom Unternehmen noch nicht genutzt werden. Für den Fall, dass die Beschäftigten solche Feststellungen machen, sollte das Unternehmen großzügige Incentives ausloben, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich unmittelbar nach Feststellung mit dem Management in Verbindung setzen. Nicht jede dieser vorauslaufenden Kompetenzen

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

wird in Innovationen umsetzbar sein, aber es sind die wirksamsten Indikatoren für Felder, in denen Innovationen kompetenzbasiert möglich sind! 4. Die Suche nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für bestimmte Projektfunktionen liefert wie oben beschrieben eine Liste, aus der die Kandidatinnen und Kandidaten nach anderen als automatisierten Kriterien ausgewählt werden. Der Mitarbeiter erfährt zwar, für welches Projekt sie oder er letztendlich eingesetzt wird, nicht aber, bei welchen Projekten sie oder er abgelehnt wurde – und schon gar nicht, aus welchem Grund. Genau dies wäre aber für die Betroffenen eine höchst interessante Information, denn hieraus könnten sie ersehen, welchen Kompetenzwert sie im Unternehmen besitzen, was ihnen zugetraut wird und was nicht. Es entsteht also neben dem formalen Kompetenzprofil ein Profil faktischer (vielleicht informeller oder gar intuitiver) Bewertung der Kompetenz durch die auswählenden Vorgesetzten. Denkbar wäre also zunächst eine einfache Protokollierung der Suchanfragen und Kandidatenlisten und Meldung an den Mitarbeiter. Diese erhalten also Informationen darüber, bei welchen Anfragen sie auf welchem Platz der Kandidatenliste gerankt wurden. Es entstehen persönliche Suchstatistiken für die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: • • •

Welches sind die Suchbegriffe, durch die der Mitarbeiter gefunden wurde? Wie oft wurde der Mitarbeiter im vergangenen Monat über die Suche gefunden? Wie oft wurde das Profil des Mitarbeiters von anderen Personen aufgerufen?

Damit kann sich jeder Beschäftigte ein Bild darüber machen, welche Kompetenzen ihm zugetraut werden und welche nicht. Dies kann durch einfache Auswertungen auch technisch unterstützt werden (Korrelation von Kompetenzen und Rangplätzen). Sind die Mitarbeiterin und der Mitarbeiter nicht zufrieden mit dieser Bewertung der Vorgesetzten, so haben sie zwei prinzipielle Möglichkeiten der Reaktion: 1. Sie können akzeptieren, dass sie ein faktisches Kompetenzdefizit haben. In diesem Fall haben sie die Möglichkeit, sich dazu zu entschließen, Kompetenzen proaktiv aufzubauen, um den gewünschten Kompetenzstand zu erreichen. Die Erreichung dieser Kompetenzziele können im Zeitverlauf an den Rankings abgelesen werden. 2. Sie können die Sichtweise des Vorgesetzten bezweifeln und konstatieren, dass dieser eine falsche Einschätzung ihrer Kompetenzen hat. In diesem Fall sollte in einem Dialog mit dem Vorgesetzten eruiert werden, worin genau der Bewertungsunterschied begründet liegt, und wie er behoben werden kann. Die Beschäftigten erhalten so wichtige Informationen über ihren faktischen Kompetenzstatus, der Anhaltspunkte und Richtungen für den Kompetenzerwerb und die Karriereplanung liefert.

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Die Vorgesetzten wiederum erhalten durch den Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wichtige Informationen über diese und können gegebenenfalls ihre subjektive Kompetenzbewertung relativieren oder aktualisieren.

8. F A ZIT Ältere müssen nicht die schlechteren Innovatoren sein und sind perspektivisch aus dem betrieblichen Innovationsgeschehen nicht wegzudenken. Sie haben auch – aus der theoretischen Sicht der Innovationsforschung – nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um innovative Ideen zu entwickeln, vor allem dann, wenn sie über breite Kompetenzen und Erfahrungen verfügen. Ein zentrales Problem bei aller Euphorie über den Innovationswert Älterer und diskontinuierlich Beschäftigter ist aber deren individuelle Perspektive: Wie kann ich meine Innovationspotenziale einem Arbeitgeber vermitteln? Wie kann ich mich selbst definieren, wenn meine Kompetenzen nach gängigen Standards des Arbeitsmarktes nicht zusammen passen? Und letztlich: Wie überführe ich die theoretischen Potenziale in konkrete Innovationen? Die Entwicklungen des adesso Profilers zeigen eine Richtung auf, in der diese Fragen beantwortet werden können 1 . Im Rahmen der Entwicklung des adesso Profilers 3.0 wurde erstmals in einem Kompetenzdiagnosetool die Auswertungsrichtung umgekehrt: Stand bislang immer die Transparenz über die Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Fokus, so werden jetzt Informationen über den Status quo und die Entwicklungslinien, Chancen und mögliche Kompetenzdefizite des Unternehmens in den Mittelpunkt gerückt. So kann sich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter nicht nur über die eigenen Kompetenzen Klarheit verschaffen, sondern auch über den individuellen aktuellen Kompetenzstatus im Unternehmen und die Entwicklungstendenzen von Kompetenzanforderungen im Tätigkeitsfeld. Hierdurch erhalten sie auch einen relevanten und nahen Bezugsrahmen für die Verortung der eigenen Kompetenzen als Grundlage für die Bildung einer Identität wie auch der Identifikation erster Ansätze innovativer Ideen. Die entscheidende Perspektivenwechsel liegt schlicht darin: Es geht nicht mehr darum, die Beschäftigten gläsern zu machen, sondern das Unternehmen!

1 | Eine ausführliche Darstellung des adesso-Profilers ist nachzulesen bei Ciesinger/Klatt 2014, E-Book in Vorbereitung.

Identifikation von Innovationspotenzialen in Er werbsbiografien

L ITER ATUR Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: dgvt-Verlag. Carell, Angela/Glasmachers, Viktoria (2014): Der »Profiler«. IT-gestütztes Kompetenzmanagement, in: Ciesinger, Kurt-Georg/Klatt, Rüdiger (Hg.): Innovation im demografischen Wandel, Instrumente für den betrieblichen Alltag, E-Book, in Vorbereitung. Ciesinger, Kurt-Georg/Klatt, Rüdiger (Hg.) (2014): Innovation im demografischen Wandel, Instrumente für den betrieblichen Alltag, E-Book, in Vorbereitung. Kruger, Justin/Dunning, David (2014): Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. In: Journal of Personality and Social Psychology. 77, Nr. 6, 1999, S. 1121–1134. Staudt, Erich (1986): Das Management von Nicht-Routineprozessen, in: Staudt, Erich (Hg.): Das Management von Innovationen, S.  11–22. Frankfurt a.M.: Frankfurter Zeitung Blick durch die Wirtschaft.

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Der Profiler Ein Instrument für ein IT-gestütztes Kompetenzmanagement Angela Carell/Viktoria Glasmachers

Die ITK-Branche ist volkswirtschaftlich gesehen eine der Kernbranchen der Bundesrepublik Deutschland. Mit hohen Wachstumsraten und Innovationsimpulsen trägt sie wesentlich zum Erfolg des Wirtschaftsstandortes Deutschland bei. Besonders dynamisch entwickelten sich in den vergangenen Jahren die Bereiche Software und IT-Services. Hier wurden im Zeitraum von 2009 bis 2013 rund 56.000 zusätzliche Stellen geschaffen (vgl. BITKOM 20131). Treiber dieser Entwicklung ist vor allem die hohe Innovationsdynamik in dieser Branche. So wird IT in Unternehmen nicht mehr nur zur Unterstützung und Optimierung der Geschäftsprozesse eingesetzt, sondern wird immer mehr zum Treiber für die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Damit steigt aber auch der Innovationsdruck innerhalb der IT-Unternehmen selbst und wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor in dieser Branche. Ob IT-Unternehmen diesen hohen Innovationserwartungen tatsächlich auch längerfristig Stand halten können, hängt wesentlich auch davon ab, inwieweit es ihnen gelingt, hoch qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und an das Unternehmen zu binden (vgl. Klatt et al. 2012). Angesichts des demografischen Wandels und dem damit einhergehenden »Kampf um die Talente«, wird dies aber auch für IT-Unternehmen zunehmend schwieriger und stellt ein dauerhaftes Risiko für das Wachstum dieser volkswirtschaftlich so wichtigen Branche dar (vgl. Striemer/Carell 2013a/b). Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, sowohl ausreichend Fachkräfte von außen in die Unternehmen zubekommen, als auch die Potenziale der bereits verfügbaren Fachkräfte gemessen an den Unternehmenszielen optimal zu nutzen, diese Ressourcen langfristig zu erhalten beziehungsweise sogar auszubauen. Im Rahmen des Rekruiting suchen deshalb schon jetzt viele IT-Unternehmen grenzüberschreitend nach Arbeitskräften und versuchen zunehmend auch nicht-

1 | www.bitkom.org/de/themen/54621.aspx (01.10.2014).

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klassische Personalressourcen zu erschließen (vgl. Kleefeld 2011, S.  185)2 . Auch die adesso AG, ein IT-Beratungs- und Entwicklungsunternehmen mit Hauptsitz in Dortmund mit mehr als 1.200 Beschäftigten, hat Arbeitsfelder innerhalb der IT identifiziert, in denen Fachkräfte aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften nicht nur sehr gut einsetzbar sind, sondern sogar eine Bereicherung darstellen. Im Rahmen der optimalen Ressourcennutzung geht es vor allem um den Erhalt und den Ausbau der im Unternehmen verfügbaren Kompetenzen. Es geht in diesem Zusammenhang aber auch darum, die vorhandenen Ressourcen optimal für die anfallenden Arbeitsaufgaben einzusetzen, das heißt um die Herstellung einer optimalen Passung von Kompetenzen der Beschäftigten auf der einen Seite und den Anforderungen der Arbeitsaufgaben auf der anderen. Insbesondere bei projektorientiert arbeitenden Unternehmen  – wie dies häufig bei IT-Unternehmen der Fall ist – und angesichts der Zunahme von Kompetenzen im Unternehmen, die nicht zu den klassischen IT-Kompetenzen zählen, stellt dies eine dauerhafte und hoch anspruchsvolle Herausforderung dar. Ein weiterer Trend kommt hinzu: Berufsbiografien sind zunehmend nicht mehr geradlinig und mit der ersten Berufswahl für die nächsten Jahrzehnte vorherbestimmt, sondern weisen Brüche und Diskontinuitäten3 auf. Dazu zählen zum Beispiel der Wechsel in andere Branchen und Tätigkeitsfelder, Phasen von Familienarbeit, freiberuflicher Tätigkeiten oder Zeiten vorübergehender Arbeitslosigkeit. Solche bunten Erwerbsbiografien bieten für IT-Unternehmen tatsächlich große Chancen, weil die Kompetenzprofile ihrer Mitarbeitenden facettenreicher werden und sich damit auch ihre Einsatzmöglichkeiten erweitern. Gerade für projektorientiert arbeitende Unternehmen stellt dies in Zeiten von Arbeitskräfteknappheit eine große Ressource dar. Gleichzeitig sind Vielfalt und Interdisziplinarität der Nährboden für Innovationen. Es ist deshalb sowohl Herausforderung als auch Chance für Unternehmen, diese sich aus bunten Erwerbsbiografien ergebenen Potenziale auch freizulegen und zu nutzen. Für Beschäftigte bietet die zunehmende Diskontinuität ihrer Erwerbsverläufen ebenfalls sowohl Chancen als auch Risiken: Sie sind eine Chance, weil sie damit ein breites berufliches Tätigkeitsfeld abdecken und aufgrund ihrer viel2 | Schlagzeilen machte jüngst SAP mit der Meldung, für bestimmte Tätigkeiten Autisten einzustellen. www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/sap-stellt-autisten-ein-a-9010 90.html (2013). (03.10.2014). 3 | In der Literatur werden unter dem Begriff ›diskontinuierliche Erwerbsverläufe‹ vor allem solche Verläufe verstanden, die durch Phasen der Erwerbslosigkeit beziehungsweise der Teilzeitbeschäftigung gekennzeichnet sind (vgl. zum Beispiel Seifert/Götz/Huber 2007). Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff weiter gefasst und auf Berufsbiografien bezogen, die sich durch wechselnde und zum Teil grundsätzlich unterschiedliche Arbeitsbereiche auszeichnen. Diese Umorientierungen müssen dabei nicht durch eine Erwerbslosigkeit hervorgerufen worden sein. Deshalb wird im Text auch der Ausdruck ›die bunte Seite‹ verwendet, um die Vielfalt der Kompetenzen zu betonen.

Der Profiler

fältigen Erfahrungen zum Innovationstreiber im Unternehmen werden können. Gleichzeitig stehen sie aber auch vor der Herausforderung, den roten Faden ihrer Berufsbiografie im Blick zu halten, damit die Diskontinuität nicht in eine Sackgasse führt, sondern zu einer zukunftsorientierten Erwerbsperspektive wird. Mehr noch: Die Kompetenzen, die sie im Rahmen ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten erworben haben, sind nicht mehr ohne weiteres für Dritte nachvollziehbar und werden auch nur zum Teil von branchenspezifischen Kompetenzkatalogen erfasst. Personen mit bunten Erwerbsbiografien sind deshalb in gesonderter Weise gefordert, ihre vielfältigen Kompetenzen sichtbar zu machen und neue berufliche Anknüpfungspunkte zu identifizieren.

1. Z IELSE T ZUNG Die adesso AG hat sich im Rahmen des Verbundprojektes DEBBI die Aufgabe gestellt, ein Werkzeug zu entwickeln, mit dem heterogene Kompetenzprofile von Beschäftigten darstellbar und besser für den beruflichen Kontext nutzbar sind. Der entwickelte adesso Profiler richtet sich •





an Unternehmen, die überwiegend projektorientiert arbeiten und ganz entscheidend darauf angewiesen sind, eine passgenaue Zuordnung der Kompetenzen ihrer Beschäftigten zu Projektanforderungen vornehmen zu können. an Beschäftigte, die die Möglichkeit erhalten, ihre vielfältigen Kompetenzen sichtbar zu machen und ihre berufliche Weiterentwicklung unter Einbeziehung ihrer ›bunten Seite‹ systematischer als bisher planen zu können. an Führungskräfte und Personalverantwortliche, denen es die Möglichkeit bietet, einen ganzheitlichen Einblick in die Kompetenzprofile ihrer Beschäftigten zu erhalten und diese systematisch zu entwickeln. Das Werkzeug zielt auch darauf ab, einen systemischen Blick auf das Kompetenzprofil von Teams und Organisationseinheiten zu ermöglichen, über aufkommende Kompetenztrends zu informieren sowie Weiterqualifizierungsbedarfe auf organisationaler Ebene frühzeitig zu erkennen.

Die Werkzeugentwicklung orientierte sich wesentlich an drei Leitprinzipien: • • •

Freiwilligkeit bezüglich der Erfassung von Kompetenzen, Transparenz bezüglich des Umgangs mit Kompetenzprofilen, Selbstverantwortung bezüglich der proaktiven Nutzung, um das eigene Kompetenzprofil zu stärken und die Employability zu erhöhen.

Nachfolgend wird der Profiler detailliert dargestellt. Anschließend wird gezeigt, wie die adesso AG den Profiler für die strategische Kompetenzentwicklung prototypisch nutzt.

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2. D IE B AUSTEINE DES P ROFILERS Der Profiler setzt sich aus drei Bausteinen zusammen, die eng miteinander verwoben sind. Baustein 1: Kompetenzprofile anlegen (Competence Capturing), Baustein 2: Suchen, Finden und Weiterverarbeiten von Kompetenzprofilen (Workforce Management), Baustein 3: Kompetenztrends und -entwicklungen frühzeitig erkennen (Business Intelligence).

2.1 Baustein »Kompetenzprofile anlegen« (Competence Capturing) Profil anlegen: Jeder Beschäftigte legt im Profiler ein individuelles Profil seiner Kompetenzen an. Der Profiler verfügt dafür über einen entsprechend ausdifferenzierten Kompetenzkatalog. Dieser ist auf die IT-Branche zugeschnitten, kann aber durch andere branchenspezifische Kompetenzkataloge ersetzt werden. Neben der Erfassung von Abschlüssen und dem beruflichen Werdegang werden insbesondere IT-Erfahrungen (zum Beispiel in den Bereichen Betriebssysteme, Werkzeuge, Programmiersprachen, Datenbanken), branchenspezifische Kenntnisse, Projekterfahrung und weitere relevante Qualifikationen (zum Beispiel Publikationen, Fachvorträge, Sprachkenntnisse) systematisch abgefragt und erfasst. Den Ausprägungsgrad der Kompetenzen (das Kompetenzniveau) können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über eine sechsstufige Skala im Sinne einer Selbsteinschätzung bewerten (von 1 = theoretische Grundkenntnisse bis 6 = hervorragende Kenntnisse). Diese Bewertungen werden im Weiteren gemeinsam mit Dritten (zum Beispiel Teamleitern, Vorgesetzten) besprochen, validieren sich aber auch im konkreten Praxiseinsatz in Kundenprojekten. Die bunte Seite: Bunte Erwerbsverläufe führen dazu, dass Kompetenzen, die in nicht IT-bezogenen Bereichen oder außerberuflich erworben wurden, über solche vordefinierten, branchenspezifischen Kataloge nur schwer oder gar nicht darstellbar sind. Im Profiler können solche Kompetenzen nun über ›die bunte Seite‹ im Mitarbeiterprofil angegeben werden. Die Seite ist wiederum unterteilt in zunächst vier verschiedene Kategorien. • • • •

Ausbildungen, Kompetenzen und Qualifikationen, Ehrenamtliche Tätigkeiten, Hobbys.

Diese Kategorien können beliebig erweitert werden. In diesen Feldern beschreiben die Beschäftigten stichwortartig entsprechende Erfahrungen und Kompetenzen.

Der Profiler

Die Tagging4-Komponente erlaubt es, Querbezüge zwischen Kompetenzen herzustellen (insbesondere auch zu den strukturiert erfassten) und Kompetenzen, die in IT-fremden Bereichen erworben wurden, in einen unmittelbaren berufsbezogenen Kontext zu setzen. Mit diesen Kopplungen ist es möglich, Querbezüge zu (scheinbar) heterogenem Wissen herzustellen. Eine ehrenamtliche Tätigkeit als Finanzvorstand einer Kita kann zum Beispiel mit dem Tag ›Rechnungswesen‹ annotiert werden. Die ergänzenden Tags erleichtern es somit, die außerhalb des aktuellen Tätigkeitsfeldes erworbenen (oftmals verborgenen) Kompetenzen in den Betriebskontext einzuordnen und nutzbar zu machen. Darüber hinaus kann die ›bunte Seite‹ bei adesso auf Wunsch des Mitarbeitenden auch in die jährlichen Kompetenzentwicklungsgespräche einbezogen werden, um gemeinsam mit Dritten (Teamleiter, HR-Verantwortlichen, Kollegen oder Personal Coaches) einen roten Faden im Lebenslauf zu identifizieren oder aktiv die Berufsbiografie in eine neue Richtung zu lenken. Darstellung: Alle erfassten Informationen werden im Profiler übersichtlich dargestellt. Eine Kompetenz-Cloud (Stichwortwolke) bietet einen schnellen und ersten Überblick über die Kompetenzen eines Beschäftigten. Dargestellt werden die 20 Skills eines Mitarbeitenden5 mit den höchsten Kompetenzausprägungen. Je besser die Bewertung des Skills im Profil ist, desto größer wird das Wort in der Wolke dargestellt. Daneben können die im Profil hinterlegten Kompetenzen auch im Detail betrachtet werden. Ein Bild des Mitarbeitenden unterstützt die Wiedererkennung, was insbesondere bei verteilt arbeitenden Organisationen vorteilhaft ist. Abbildung 1: Kompetenzprofil mit Kompetenzcloud

4 | Tags = elektronische Etiketten oder Anmerkungen. 5 | Die Begrenzung auf 20 Skills dient der besseren Übersichtlichkeit.

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2.2 Baustein »Suchen, Finden und Weiter verarbeitung« (Workforce Management) Projektorientiert arbeitende Unternehmen sind darauf angewiesen, dass sie Projekte mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzen, deren Kompetenzprofil zu den in einem Projekt gestellten Kompetenzanforderungen optimal passt. Der Profiler unterstützt diesen Prozess mit einer differenzierten Suche. Die folgenden Funktionalitäten stehen hierbei zur Verfügung: •







Klassische Suche: Kompetenzen können über eine klassische Suchfunktion gefunden werden. In das Suchfeld werden dazu Suchbegriffe eingegeben, die über sogenannte ›Boolesche Operatoren‹ (»AND«, »OR«, »XOR«, …) miteinander verknüpft werden können. Es erfolgt keine Suche im Bereich ›die bunte Seite‹. Semantische Suche: Über die semantische Suche können inhaltliche Querbezüge zwischen den strukturiert erfassten und den über die ›bunte Seite‹ eingetragenen Kompetenzen sowie den gesetzten Tags hergestellt werden. Die Tags werden hier wie Synonyme der eingetragenen Kompetenzen behandelt und in die Suche einbezogen. Die Suchfunktion des Profilers macht so die verdeckten Fähigkeiten der Mitarbeitenden im beruflichen Alltag sichtbar.6 Um die Kompetenzen der ›bunten Seite‹ bei Suchanfragen finden zu können, muss am Anfang des Suchfeldes das Zeichen »~« eingetragen werden. Dann wird wie bei der klassischen Suche verfahren werden. Darstellung der Suchergebnisse: Die Suchergebnisse werden in einer übersichtlichen Liste dargestellt. In der Übersichtsansicht können die Kompetenzen der Gefundenen auf den ersten Blick grob eingeschätzt werden.

Dazu dienen die vier ersten Spalten, die angeben • wie aktuell das angezeigte Profil ist, • in wie vielen Projektbeschreibungen im Profil des Beschäftigten der Begriff genannt wird (PR), • wie viele Kompetenzen (Skills) zum Suchbegriff im Profil aufgelistet sind (SK), • wie viele Zertifikate im Zusammenhang mit dem Suchbegriff erworben wurden (CE). Wurden geeignete Personen identifiziert, kann über die Detailansicht das komplette Kompetenzprofil dieser Personen aufgerufen werden. 6 | An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass ein solches Konzept nur mit Einwilligung der Mitarbeitenden realisiert werden kann und absolut freiwillig sein muss. Die Unternehmenskultur spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle für die Nutzung dieser Lösung. Auf technischer Ebene lässt es der Profiler durch ein ausgefeiltes Rechte- und Rollenkonzept auch zu, differenzierte Sichtbarkeiten und Zugriffsmöglichkeiten zu definieren.

Der Profiler

Abbildung 2: Darstellung der Ergebnisse einer Suchanfrage

Neben der beschriebenen Darstellung, die die wesentlichen Aspekte der gefundenen Kompetenzprofile übersichtlich zusammenfasst, gibt es fünf Suchmodi mit darauf angepassten Ergebnissichten. • • • • •

›Mitarbeiter‹, eine gezielte Suche nach Mitarbeiternamen, ›Projekte‹, eine gezielte Suche nach Projekten, ›Zertifikate‹, eine gezielte Suche nach Zertifikaten, ›Sprachen‹, eine gezielte Suche nach natürlichen Sprachen, ›Skills‹, eine gezielte Suche mach technischen Skills.

Die verschiedenen Suchmodi können mit der Drop Down Box vor der Suchleiste ausgewählt werden. Verknüpfung mit Einsatzplanung: Der Profiler kann optional mit der Einsatzplanung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verknüpft werden. Dann wird die Ergebnisliste zusätzlich nach Verfügbarkeit der gefundenen Personen sortiert. Lässt sich die Einsatzplanung nicht elektronisch anbinden oder sollen/dürfen die Mitarbeitenden aktiv selbst ihre Verfügbarkeit angeben, steht dem Mitarbeitenden ein entsprechendes Auswahlfeld zur Verfügung. Über das Rechte- und Rollenkonzept lässt sich für ein Unternehmen einstellen, wer diese Einstellung sehen darf.

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2.3 Baustein »Kompetenztrends und -entwicklungen frühzeitig erkennen« (Business Intelligence) In diesem Baustein werden Informationen bereitgestellt, die dazu dienen, die Nachfrage nach bestimmten Kompetenzen im Zeitverlauf nachzuverfolgen und mit den verfügbaren Kompetenzen im Unternehmen in Beziehung setzen zu können. Auf Ebene des Unternehmens kann damit eine vorausschauende Ressourcenplanung und -entwicklung vorgenommen. Auf Ebene der Beschäftigten können die Informationen genutzt werden, um die persönliche berufliche Weiterentwicklung systematisch und orientiert an den Bedarfen im Unternehmen auszurichten. Die Statistiken und abgeleiteten Trends basieren dabei wesentlich auf den Analysen der Suchanfragen und den erfassten Kompetenzprofilen der Mitarbeitenden. Je häufiger und intensiver der Profiler für die Suche nach geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eingesetzt wird, desto zuverlässiger werden die auf diesen Daten beruhenden Aussagen. Trendstatistiken: Sie geben an, nach welchen Begriffen und in welcher Häufigkeit in einem definierten Zeitraum gesucht wurde. In der Regel handelt es sich bei den eingetragenen Begriffen um Kompetenzen. Wird über die Suchfunktion gezielt nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesucht (Eintrag des Namens), werden diese Eintragungen in den Statistiken ignoriert. Die Suchhäufigkeit wird als Balken- und als Verlaufsdiagramm angezeigt. Durch Selektion eines Suchbegriffs (Klick auf einen Balken), wird der zeitliche Verlauf der Suchanfragen dieses Begriffes in einer Extragrafik angezeigt, so dass eine Detailanalyse möglich wird (vgl. Abbildung 3) Kombinierte Suchbegriffe: Oftmals wird nicht nach einem einzelnen Begriff gesucht, sondern nach einer Kombination aus mehreren Begriffen, die mit einem AND oder OR verknüpft sein können. Suchbegriffe, die häufig zusammen gesucht werden, können Aufschluss darüber bringen, welche Kompetenzen häufig zusammen benötigt werden. Die Analyse erfolgt für einen vorgegebenen Zeitraum und einen angegebenen Begriff (vgl. Abbildung 4). Wenige Experten: Diese Darstellung zeigt an, bei welchen Suchanfragen (= Suche nach Kompetenzen) nur relativ wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefunden wurden. Qualifizierungsbedarf lässt sich so schnell und frühzeitig identifizieren. ›Wenig‹ bedeutet in der aktuellen Einstellung des Profilers, dass weniger als dreimal so viele Beschäftigte im Unternehmen über diese Kompetenz verfügen als Suchanfragen gestellt wurden (vgl. Abbildung 5).

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Abbildung 3: Trendstatistik

Abbildung 4: Kombinierte Suchbegriffe

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Abbildung 5: Wenige Experten

Beispiele (vgl. 15 Suchanfragen zu ›gwt‹) 34 Personen verfügen über diese Kompetenz. J Es sind »wenige Experten« im Unternehmen verfügbar, der Begriff wird in der Grafik angezeigt. 50 Suchanfragen zu ›c++‹ 165 Personen verfügen über die Kompetenz. J Es sind ausreichend Experten im Unternehmen verfügbar, der Begriff wird nicht angezeigt. Kompetenzmatrix: Es wird für jeden Beschäftigten aus seinen Projekterfahrungen (zeitliche Dauer) und seinen eingetragenen Kompetenzen (Skills, gewichtet nach Kompetenzgrad) eine Position in der Kompetenzmatrix berechnet. Es kann so das Kompetenzgefüge einer Unternehmenseinheit sichtbar gemacht und die Position eines Mitarbeitenden in Relation zu anderen ermittelt werden. Die Kompetenzen können für diese Analyse unterschiedlich gewichtet werden. Voreingestellt ist keine Gewichtung. Die Interpretation dieser Matrix muss immer vor dem Hintergrund der Ausrichtung eines Teams/eines Bereiches vorgenommen werden. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, viele Beschäftigte mit wenig Projekterfahrung im Team zu haben (das sind zum Beispiel Personen, die gerade ihr Studium beendet haben), weil vor allem Wert auf neues Wissen gelegt wird. Für ein anderes Team, bei dem Projekterfahrung mehr Bedeutung hat, wäre eine solche Verteilung dagegen nicht optimal (vgl. Abbildung 6).

Der Profiler

Abbildung 6: Kompetenzmatrix

3. D ER P ROFILER ALS I NSTRUMENT DES STR ATEGISCHEN K OMPE TENZMANAGEMENTS Um die Praktikabilität und den Nutzen des Profiler in der Praxis zu erproben und diesen an die Erfordernisse des betrieblichen Alltages anzupassen, setzt die adesso den Profiler in der vorgestellten Form prototypisch zur Unterstützung des Kompetenzmanagements ein. Dieses an den strategischen Zielen von adesso ausgerichtete Kompetenzmanagement wird immer bedeutsamer, weil es angesichts des demografischen Wandels auch unter zunehmend schwierigen Rahmenbedingungen gelingen muss • • •

geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und dauerhaft an das Unternehmen zu binden, sie optimal auf ihre Aufgaben vorzubereiten, zu qualifizieren und sie passgenau in Kundenprojekten einzusetzen.

Unter Kompetenzmanagement fasst adesso dabei alle Aktivitäten zusammen, die darauf abzielen, die Kompetenzen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

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systematisch zu beschreiben, transparent zu machen, weiter zu entwickeln und optimal dort einzusetzen, wo sie den besten Nutzen stiften und Innovationspotenziale aufschließen (vgl. Carell/Gerwert 2014). Strategisch meint in diesem Zusammenhang, dass adesso ihr Kompetenzmanagement konsequent an ihren strategischen Grundsätzen und Zielen ausrichtet. Nachfolgend werden die einzelnen Bausteine des strategischen Kompetenzmanagements erläutert und der Einsatz des Profilers im Kontext der Bausteine skizziert.

3.1 Bausteine und Instrumente des Kompetenzmanagements bei adesso Das strategische Kompetenzmanagement von adesso setzt sich aus vier zentralen Bausteinen zusammen. Ein darauf abgestimmtes Instrumentarium gewährleistet, dass diese Ziele umgesetzt werden können (vgl. Abbildung 7). Abbildung 7: Bausteine des strategischen Kompetenzmanagements bei adesso

Baustein Recruiting: Um sicherzustellen, dass mittel- und langfristig geeignete Bewerber gefunden werden, die zur Unternehmensstrategie und Kultur von adesso passen und den beruflichen Anforderungen entsprechen, hat adesso das Recruiting in Richtung einer potenzialorientierten Einstellungsstrategie weiterentwickelt. Konkret bedeutet dies, dass Anforderungsprofile definiert werden, die aus adesso-spezifischen Lauf bahnstufen abgeleitet werden. Es können zum Beispiel

Der Profiler

technische Lauf bahnen (zum Beispiel IT-Entwickler, IT-Architekten), Beraterlauf bahnen oder auch Führungskräftelauf bahnen eingeschlagen werden. Das Lauf bahnstufenmodell ist insgesamt sehr durchlässig, so dass aus den mitarbeiterorientierten Lauf bahnstufen leicht in die Führungskräftelauf bahn gewechselt werden kann. Zusammen mit Instrumenten der Potenzialerkennung und der Personalentwicklung (zum Beispiel Leistungspotenzialmatrix) hat adesso mit dem Profiler die Möglichkeit, Kompetenzprofile von Bewerberinnen und Bewerbern nicht nur auf die Anforderungen von Lauf bahnstufen abzubilden und so Entwicklungspotenziale zu identifizieren, sondern kann auch frühzeitig Kompetenzengpässe auf organisationaler Ebene erkennen und das Recruiting entsprechend steuern. Baustein Mitarbeiterentwicklung: adesso hat für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein sehr umfangreiches und vielfältiges Qualifikationsprogramm entwickelt, mit Schulungen aus den Bereichen Technologie, Fach- und Branchenwissen, Methodenkompetenz, Projektmanagement, Produkt- und Soft Skills. In vielen dieser formalen Qualifikationsangebote können marktgängige Zertifikate erworben werden, die sowohl die Employability der Beschäftigten erhöhen als auch zum Unternehmenserfolg von adesso beitragen. Die formalen Kompetenzentwicklungsmaßnahmen gliedern sich auf horizontaler Ebene in Angebote, die eine Vertiefung des Wissens und einen Ausbau von Expertise ermöglichen und in vertikal ausgerichtete Angebote, die auf die Übernahme einer Leitungsfunktion in der Aufbauorganisation vorbereiten (zum Beispiel adesso Academy, vgl. Abbildung 8). Abbildung 8: Instrumente der Kompetenzentwicklung

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Mit dem Profiler lässt sich nun auf organisationaler Ebene systematisch erkennen, welche Kompetenzen in einem definierten Zeitraum nachgefragt werden und ob ausreichend Beschäftigte mit diesen Kompetenzen im Unternehmen verfügbar sind. Die Beschäftigten können darüber hinaus auch auf die Statistiken zugreifen und sich selber neue Kompetenzentwicklungsmöglichkeiten erschließen. Absolvierte Schulungen und erworbene Zertifikate können unmittelbar im Profiler erfasst und im Mitarbeiterprofil angezeigt werden. Baustein Projektentwicklung: Für den Geschäftserfolg von adesso ist es von entscheidender Bedeutung, dass die IT-Experten die Branche und das Kerngeschäft der Kundenunternehmen genau kennen und dieses mit hervorragendem ITKnow-how verknüpfen können. Eine wesentliche Aufgabe des Personalmanagements von adesso ist es daher, Kundenprojekte passgenau mit geeigneten Experten zu besetzen. adesso setzt hier den Profiler ein, um diesen Prozess zu optimieren. So können geeignete Mitarbeitende schneller gefunden und die Mitarbeiterprofile durch eine Exportfunktion unmittelbar an Auftraggeber weitergeleitet werden. Baustein Innovation: Die adesso versteht sich als ein IT-Dienstleister, der durch die Entwicklung kundenspezifischer Informationstechnik Innovationspotenziale für seine Kunden erschließen will. Für das Kompetenzmanagement bedeutet dies, dass im Baustein Innovation Instrumente bereitgestellt werden müssen, um die vom Markt getriebenen Innovationen schnell zu identifizieren, aufnehmen und umsetzen zu können (market driven innovation). Dazu gehört als Instrument die kontinuierliche Trendanalyse, die von Technologie- und Branchen Experten durchgeführt wird. Der Profiler unterstützt diesen Prozess nun auch technisch. Die Auswertungen der Suchanfragen geben Auskunft darüber, welche Kompetenzen in einem definierten Zeitraum besonders beziehungsweise zunehmend nachgefragt wurden. Die Kompetenzentwicklung kann so prospektiv gesteuert werden. Darüber hinaus lassen sich mit dem Profiler Innovationsteams gezielt zusammenstellen: Gerade hier kommt es darauf an Vielfalt im Team zu haben, gleichzeitig aber auch sicherzustellen, dass eine gemeinsame Verständigungsbasis besteht. Insbesondere über die Integration der ›bunten Seite‹, lassen sich diese Anforderungen bei der Teamzusammensetzung nun leichter realisieren.

4. F A ZIT Mit dem Profiler steht Unternehmen und Beschäftigten nun ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem sie nicht nur die branchenüblichen Kompetenzen ihrer Beschäftigten erfassen, sondern auch Kompetenzen sichtbar und für den beruflichen Kontext nutzbar machen können, die in anderen auch außerberuflichen Bereichen erworben wurden. Unternehmen haben damit trotz des sich verschärfenden Fachkräftemangels die Chance, passgenau die Mitarbeitenden zu finden,

Der Profiler

die für eine Aufgabe oder ein Projekt erforderlich sind. Durch das systematische Aufschließen verborgener Kompetenzen können neue Innovationspotenziale erschlossen werden. Und auch die Beschäftigten selber haben nun die Möglichkeit, die Buntheit ihres Kompetenzprofils als Ressource zu sehen und systematisch zur Verbesserung ihrer Employability zu nutzen. Der Profiler wird als Produkt von der adesso vertrieben und kann individuell an die spezifischen Bedürfnisse anderer Unternehmen angepasst werden.

L ITER ATUR Bitkom (2013): www.bitkom.org/de/themen/54621.aspx (01.10.2014). Carell, Angela/Gerwert, Kristina (2014): Kompetenzmanagement: Immer in Bewegung bleiben, Personalwirtschaft online. Ausgabe 6/2014. https://www.per sonalwirtschaft.de/media/Personalwirtschaft_neu_161209/Startseite/Down loads-zum-Heft/Downloads_2014/0614/pw-0614-Kompetenzmanagement_ adesso.pdf (03.10.2014). Klatt, Rüdiger/Straus, Florian/Carell, Angela/Ciesinger, Kurt-Georg (2012): Diskontinuität im Erwerbsverlauf als Innovationschance nutzen, præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 03/2012, S. 8–9. Kleefeld, Heidrun (2011): Demografischer Wandel und Innovationsfähigkeit in der IT-Branche: Anforderungen an ein strategisches Human Ressource Management, BoD. Seifert, Manfred/Götz, Irene/Huber, Birgit (2007): Flexible Biografien. Horizonte und Brüche im Erwerbsleben, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Striemer, Rüdiger/Carell, Angela (2013a): Neue Gestaltungsmodelle und Unterstützungstools für diskontinuierliche Berufsbiografien in der IT-Branche, præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention, 02/2013, S. 10–11. Striemer, Rüdiger/Carell, Angela (2013b): Erwerbsbiografie-Management in der Softwareentwicklung  – Das Beispiel adesso AG, In: Jeschke, Sabina (Hg.): Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel, Beiträge zur Demografietagung des BMBF im Wissenschaftsjahr 2013, Frankfurt, New York: Campus: S. 81–82.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Angela Carell studierte Sondererziehung und Rehabilitation an der Universität Dortmund. Sie arbeitete in verschiedenen, vorwiegend interdisziplinär ausgerichteten außeruniversitären und universitären Forschungseinrichtungen, zuletzt am Lehrstuhl für Informations- und Technikmanagement der Universität Bochum. 2011 wechselte sie zum IT-Dienstleister adesso AG in Dortmund. Dort verantwortet sie die Bereiche Forschungsförderung und Engagement Management. Philippe Castel ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Burgund in Dijon und verantwortlich für den Forschungsschwerpunkt Identitätsdynamiken und »Partitions Sociales« am Laboratoire SPMS. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf den Mechanismen der Diskriminierung und der Frage, wie diese mit den gesellschaftlichen Partitionen (statuarische, oppositive und gemeinschaftliche) korrespondieren. Dies wird mit den Mitteln der Diskursanalyse intersucht. Seine Forschungen beschäftigen sich aktuell mit den Identitätsstrategien, die von den Akteuren in Abhängigkeit von den Partititonen und ihrer sozialen Integration entwickelt werden. Dazu wird gerade eine Software zur Analyse von Intergruppenbeziehungen auf der Grundlage der gegenseitigen Repräsentationen (RepMut) entwickelt. Kurt-Georg Ciesinger, Psychologe und Arbeitswissenschaftler, Geschäftsführer der gaus GmbH medien bildung politikberatung, Dortmund, ist seit vielen Jahren forschend und beratend in den Themenfeldern Modernisierung von Branchen und Unternehmen, Innovations-, Kooperations- und Wissensmanagement, Entwicklung von Netzwerkstrukturen, Schnittstellenmanagement und Prozesskettenoptimierung, Kompetenzentwicklung und Weiterbildung sowie Politik- und Wissenschaftsmarketing tätig. Helga Dill hat in München Soziologie studiert und forschte danach an der FU Berlin, dem Institut für gerontologische Forschung München und der LMU. Bei der AWO München arbeitete sie fünf Jahre als Altenhilfereferentin. Seit 1995 ist sie Mitglied des IPP und dort derzeit zuständig für das Projekt DEBBI. Ihre aktu-

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Der Alterskraf tunternehmer

ellen Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheit, Arbeitsmarkt, Lebenslauf/Biografie, Alterssoziologie – und als Mediatorin auch Umgang mit Konflikten zwischen Personen und in Organisationen. Viktoria Glasmachers studierte Informatik an der TU Dortmund mit Schwerpunkt Algorithmen, Komplexität und formale Modelle. Sie arbeitet seit 2012 als Software Entwicklerin für die adesso AG in verschiedenen Projekten. Marie Jégu ist seit Juli 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP) e.V. in Gelsenkirchen. Sie studierte Sportwissenschaft, Sportmanagement und Erziehungswissenschaft in Cergy-Pontoise. Im Moment ist sie Doktorandin am Institut für Sozialpsychologie und Sportmanagement (SPMS) an der Université de Bourgogne in Dijon. Im Rahmen des Projektes DEBBI setzt sich ihre Doktorarbeit mit den intergenerationellen Beziehungen in deutschen und französischen Unternehmen auseinander. Heiner Keupp, Prof. Dr. war bis 2008 Professor für reflexive Sozialpsychologie an der LMU München. Er hat diverse Gastprofessuren inne (zum Beispiel in Bozen und Klagenfurt), war Vorsitzender der Kommission zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung und ist im IPP München u.a. verantwortlich für Projekte zu Verwirklichungschancen und Handlungsbefähigung und Missbrauch in kirchlichen und pädagogischen Institutionen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich von Gemeindepsychologie, Identitäts- und Gesundheitsforschung, Netzwerkanalyse, Sozialpsychologie von Rechtsradikalismus und Fundamentalismus. Dr. Rüdiger Klatt, Sozialwissenschaftler und Arbeitsforscher, war Projektleiter im Forschungsbereich Arbeitssoziologie der TU Dortmund und ist aktuell Institutsleiter des Forschungsinstituts für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP) e.V. Er ist Herausgeber der præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention und Sprecher der Fokusgruppe »Erwerbsbiografien als Innovationstreiber im demografischen Wandel« im BMBF-Förderschwerpunkt »Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel«. Außerdem ist Mitglied der Initiative »Social Science Service Research« (3sR). Aktuelle Forschungsthemen: demografischer Wandel in der Arbeitswelt; diskontinuierliche Erwerbsbiografien; präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Wissensökonomie; Arbeitsbedingungen von Freelancern und Alleinselbständigen; Dienstleistungsinnovationen. Marie-Françoise Lacassagne ist Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Burgund und Leiterin des »Laboratoire Socio-Psychologie et Management du Sport (SPMS-EA4180) (Lehrstuhl für Sozialpsychologie und Sportmanagement). Ihren Arbeiten liegt ein theoretisches Modell zur unterschiedlichen Funktionsweise von Subjekten in Abhängigkeit von ihrer sozialen Integration  zugrunde.

Autorinnen und Autoren

Sie versucht, auf der Basis bisheriger Forschungen in der Psychologie und der Sozialpsychologie des Sports, die besonderen Zusammenhänge in den individuellen und sozialen Identitäten zu erkennen. Ein Schwerpunkt ist dabei die Altersdiskriminierung, die als Resultat von Strategien des Identitätsmanagements verstanden wird. Dr. Kim Lauenroth ist Competence Center Leiter und Chief Requirements Engineer bei der adesso AG. Nach dem Studium der Informatik, BWL und Psychologie an der Universität Dortmund zog es ihn 2003 an die Universität Duisburg-Essen, dort promovierte er 2009 im Bereich Requirements Engineering. Neben Beruf und Familie engagiert er sich im IREB e.V. für die Aus- und Weiterbildung im Requirements Engineering. Silke Steinberg, Romanistin M.A. ist Mitglied der Geschäftsführung des Forschungsinstitutes für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP) e.V. in Gelsenkirchen. Sie studierte romanische Philologie, Literatur- und Kulturwissenschaften in Paris und Bochum. Nach dem Magister-Abschluss an der RuhrUniversität Bochum führte sie 17 Jahre lang ein Weiterbildungsinstitut u.a. für interkulturelle Trainings in Unternehmen. Seit 2010 arbeitet sie am FIAP und koordiniert den Bereich internationale Forschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Chancen und Barrieren der interkulturellen Kompetenzentwicklung; transkulturelle Aspekte in der Entwicklung von Dienstleistungen; Gesundheit und mobile Arbeit. Dr. Florian Straus hat an der LMU München Soziologie, Psychologie und Philosophie studiert und über Netzwerke promoviert. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München. Dr. Straus hat sich in verschiedenen Forschungsprojekten mit Identitätsentwicklung, Salutogenese und Handlungsbefähigung auseinandergesetzt. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Kooperation und Vernetzung, Netzwerkanalysen, Interkulturelles Handeln, Bürgerschaftliches Engagement, Jugendhilfe- und Sozialplanung sowie Beratungsforschung. Dr. Straus hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten/Hochschulen inne und begleitet und berät Organisationen und Projekte im Nonprofit-Bereich. Romina Wendt ist seit April 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP) e.V. in Gelsenkirchen. Derzeit studiert Sie Wirtschaftspsychologie an der Ruhr-Universität Bochum und schreibt im Rahmen des Projektes DEBBI ihre Masterarbeit. Schwerpunkt der Abschlussarbeit ist die Analyse innovationsrelevanter Kompetenzen unterschiedlicher Generationen.

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Reflexive Sozialpsychologie Heiner Keupp, Helga Dill (Hg.) Erschöpfende Arbeit Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt 2010, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1556-2

Holger Knothe Eine andere Welt ist möglich – ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritik bei Attac 2009, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1241-7

Birgit Schneider Narrative Kunsttherapie Identitätsarbeit durch Bild-Geschichten. Ein neuer Weg in der Psychotherapie 2009, 594 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1195-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Reflexive Sozialpsychologie Elisabeth Summer Macht die Gesellschaft depressiv? Alain Ehrenbergs Theorie des »erschöpften Selbst« im Licht sozialwissenschaftlicher und therapeutischer Befunde 2008, 268 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1017-8

Friederike Werschkull Vorgreifende Anerkennung Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen 2007, 206 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-658-8

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