Noise - Klang zwischen Musik und Lärm: Zu einer Praxeologie des Auditiven 9783839439289

What does it take to perceive sound as music? This ethnographic study explores auditory meaning by taking the noise cult

205 112 2MB

German Pages 272 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkungen und Danksagung
1. Einleitende Worte
2. Theoretische Fundierung
3. Methode
4. Noise als Gegenstandsbereich
5. Hörkompetenz und Distinktion
6. Klang-Raum-Körper
7. Kollektivität zwischen Dynamik und Routine
8. Praktisches Wissen und Transformationsleistungen
9. Zu einer Soziologie des Auditiven
Literatur
Nichtwissenschaftliche Internetquellen
Medienquellen
Kurzzusammenfassung
Recommend Papers

Noise - Klang zwischen Musik und Lärm: Zu einer Praxeologie des Auditiven
 9783839439289

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Kai Ginkel Noise – Klang zwischen Musik und Lärm

Kulturen der Gesellschaft | Band 27

Kai Ginkel (Dr.), geb. 1981, ist Projektmitarbeiter an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Der Soziologe promovierte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zuvor war er PhD-Scholar im postgradualen Lehrgang »Sociology of Social Practices« am Institut für Höhere Studien Wien.

Kai Ginkel

Noise – Klang zwischen Musik und Lärm Zu einer Praxeologie des Auditiven

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

Land Steiermark

Dissertation der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat & Satz: Jan Leichsenring Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3928-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3928-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkungen und Danksagung | 7 1. Einleitende Worte | 9

1.1 Fragestellung | 11 1.2 Wissenschaftlicher Kontext und Desiderat der Studie | 13 1.3 Argumentationsschritte | 15 2. Theoretische Fundierung | 21 2.1 Praxistheoretische Perspektiven | 21 2.2 Perspektiven der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) | 28 2.3 Ethnomethodologische Ansätze | 29 2.4 Zum Verhältnis von Theorie und Empirie | 31 3. Methode | 33

3.1 Modus der Feldteilnahme | 34 3.2 Datenkorpus der Studie | 37 3.3 Forschungsethische Überlegungen und Anonymisierung | 41 3.4 Phasen der Feldarbeit und Analyse | 42 3.5 Das Codieren im Analyseprozess | 44 3.6 Spontaneität und Gegenstandskonstruktion | 45 3.7 „Going native“ versus „coming home“ | 48 3.8 Der Vergleich als Werkzeug der Befremdung | 52 3.9 Ethnografisches Schreiben | 54 4. Noise als Gegenstandsbereich | 57

4.1 Allgemeines über Noise | 58 4.2 Doing sound als Etablierung von Bedeutung und Sinn | 71 4.3 Grenzfall: Zwischen Musik und Geräusch | 77 5. Hörkompetenz und Distinktion | 83

5.1 Fragen der Bewertung als ethnografische Fährtenlegung | 84 5.2 „Being willing to be annoyed“? | 91 5.3 Den Saal leeren: Raum- und Körperordnung | 94 5.4 Distinguierende Exklusion | 97

5.5 Normativität: „Concert for one person“ | 100 5.6 (Selbst-)Ermächtigung und Kapitalerwerb? | 104 6. Klang-Raum-Körper | 109

6.1 Noise in Bewegung | 111 6.2 „The feel and the surroundings“: Körper in Räumen | 113 6.3 „Sich umspülen lassen“ | 119 6.4 Performative Repertoires | 125 6.5 Kollektiv-körperliche Einstimmung | 129 6.6 Exkurs: „Rückführung“ und Ausklingen | 132 6.7 Soziomaterielle „companionships“ | 134 6.8 Exkurs: Orte und Wege als teleoaffektive Besinnung | 141 6.9 „Unexpected dynamics“: Das Unerwartete integrieren | 148 6.10 Lautstärke versus Fragilität von Klangräumen | 156 7. Kollektivität zwischen Dynamik und Routine | 161

7.1 Kunst als Katalysator von Interaktionen | 163 7.2 Dynamik versus Routine | 180 7.3 Exkurs: Über das Miteinander im Gegeneinander | 182 7.4 Subkulturelle „Beschlagnahmung“ und Umdeutung | 187 8. Praktisches Wissen und Transformationsleistungen | 191

8.1 Praktische Fertigkeiten | 193 8.2 Zur Etablierung von Verzerrung und Fremdartigkeit | 206 8.3 Klang und Sozialität | 227 9. Zu einer Soziologie des Auditiven | 231

9.1 Normativität und Distinktion in actu | 232 9.2 Klang im Spannungsfeld von Körper und Raum | 233 9.3 Das Erkenntnispotenzial der Stimmungsverschiedenheit | 235 9.4 Experimentelles und Konventionelles | 238 9.5 Praktisches Wissen und Kompetenz | 239 9.6 Perspektiven und Anschlussfragestellungen | 243 9.7 Methodologische Implikationen | 246 Literatur | 251 Nichtwissenschaftliche Internetquellen | 265 Medienquellen | 268 Kurzzusammenfassung | 269

Vorbemerkungen und Danksagung

Dieses Buch entstand auf Basis meiner Dissertationsschrift, die im März 2016 an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Eichstätt-Ingolstadt eingereicht und am 15. Juni 2016 ebendort verteidigt wurde. Gegenüber dem ursprünglichen Manuskript wurde die vorliegende Version überarbeitet und speziell im abschließenden Kapitel argumentativ zugespitzt. Mein besonderer Dank gilt Robert Schmidt und Tasos Zembylas für die Betreuung meiner Arbeit sowie zahllose produktive Diskussionen und Anregungen über den Entstehungsprozess hinweg. Neben kritischen Anregungen, die von meinen Betreuern außerdem aus Gutachten und Disputation in das endgültige Manuskript einflossen, ist noch auf den wertvollen Input von Joost van Loon und Angela Treiber hinzuweisen, die dem Promotionsausschuss ebenfalls angehörten. Beate Krais danke ich für ihre Unterstützung und Ermutigung in der Frühphase meiner Studie. Eine erste Version meines Buchmanuskripts wurde von Alexander Antony kritisch kommentiert. Für seine hilfreichen Anregungen danke ich ihm. Auch zuvor begleitete er meine Arbeit durch fortlaufende Fachgespräche und hatte stets ein offenes Ohr bei Herausforderungen aller Art. Überdies danke ich Jonas Hartmann für kritische Rückmeldungen. Vorrangig entstand meine Dissertation in Wien. Für Unterstützung und konstruktives Feedback im postgradualen Lehrgang Sociology of Social Practices danke ich Beate Littig und dem übrigen Lehrteam des Instituts für Höhere Studien (IHS), namentlich Michael Jonas, Lorenz Lassnigg und Angela Wroblewski. Wichtige Anregungen erhielt ich im Rahmen des Lehrgangs zudem durch Feedback von und Diskussionen mit den GastprofessorInnen Kathy Charmaz, Kathy Davis, Uwe Flick, Richard Freeman, Stefan Hirschauer, Marianne de Laet, Otto Penz, Theodore Schatzki und Dvora Yanow. Auch dem Kreis meiner KollegInnen im Lehrgang bin ich zu Dank verpflichtet. Mit Robin Rae teilte ich am IHS drei Jahre lang mein Büro, und ich danke

8 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ihm für die produktive Atmosphäre sowie die zahllosen Gespräche über Fachliches und den Doktorandenalltag im Allgemeinen. Manche Analyse meines Datenmaterials wurde durch unsere Diskussionen stark geprägt. Für anregenden Austausch und ein angenehmes Arbeitsklima danke ich im Kreis des IHS des Weiteren meinen MitabsolventInnen Anna Pichelstorfer, Sarah Schönbauer, Katja Schönian, Michal Sedlacko, Barbara Stefan und Anna Wanka. Für Verständnis und organisatorisches Entgegenkommen im Endspurt meiner Dissertation danke ich Barbara Lüneburg aus dem Forschungsprojekt TransCoding – From ‚Highbrow‘ Art to Participatory Culture. Dem Land Steiermark sowie der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz danke ich für die finanzielle Förderung der Publikation meiner Arbeit. Ermöglicht wurde meine Dissertation außerdem durch einen fortwährenden Prozess der Vorstellung und Publikation von Zwischenstationen meiner Forschung auf Fachtagungen, in Kolloquien sowie in Journalen und Sammelbänden. Besonders danke ich in diesem Zusammenhang den jeweiligen OrganisatorInnen und HerausgeberInnen. Teile dieses Buches basieren mal mehr, mal weniger ausgeprägt auf überarbeiteten Passagen der Fachartikel Ginkel (2015), Ginkel (2016) und Ginkel (2017). In einzelnen Abschnitten der Arbeit verdichten sich diese Bestandteile. Hinweise auf die Verwendung finden sich in Fußnoten zu Beginn der jeweiligen Kapitel bzw. Unterkapitel. Jan Leichsenring danke ich für das Lektorieren meines Buches. Im Feld gilt mein Dank insbesondere dem Musiker Stephan Dragesser für zahlreiche gemeinsame „Sessions“ und die jederzeit offene und interessierte Art, mit der er mir in einem wechselseitigen Austausch Einblick in sein Schaffen gewährte. Ich bedanke mich außerdem bei allen KünstlerInnen und OrganisatorInnen, die Aspekte ihrer Beteiligung am großen Feld des Noise und der experimentellen Musik mit mir teilten. Familie und FreundInnen danke ich von Herzen für Verständnis, Zerstreuung und moralische Unterstützung. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

1. Einleitende Worte

Was machen wir, wenn wir Musik hören – oder allgemeiner: Klang wahrnehmen? Schon ganz basale körperliche Haltungen und Aufführungen zeigen, dass Hören mehr ist als das Eintreffen und die sensorische Verarbeitung eines Signals: Wir neigen etwa den Kopf, um zu zeigen, dass wir aufmerksam zuhören. Wir schließen beim Musikhören vielleicht die Augen, um uns zu vertiefen, während wir anderen um uns herum durch die kleine Geste dieses „Eintauchen“ schlüssig anzeigen. Wenn wir plötzlich einen schrillen Alarmton hören, verziehen wir schmerzvoll das Gesicht, als ob wir sagen wollten: „Bitte aufhören!“ Und so weiter. Klang betrifft zwar zentral, aber eben nicht nur unser Ohr: Klang kennt Verkörperung, und Klang kennt die beiläufige Deutung in actu, die sich in einem performativen Zeigen beobachtbar manifestiert. In seiner Soziologie der Sinne setzt sich Georg Simmel bereits vor 100 Jahren mit dem bemerkenswert flüchtigen Charakter von Klang auseinander, kontrastiert am Visuellen: „Im allgemeinen kann man nur das Sichtbare ‚besitzen‘, während das nur Hörbare mit dem Moment seiner Gegenwart auch schon vergangen ist und kein ‚Eigentum‘ gewährt“ (Simmel 2009 [1907], S. 122). Angedeutet wird durch Simmels Beobachtungen eine Raum füllende und somit Raum schaffende Qualität von Klang, die offenbar günstige Voraussetzungen zum Affizieren einer Gruppe kopräsenter TeilnehmerInnen birgt: „Man vergleiche ein Museumspublikum mit einem Konzertpublikum; die Bestimmung des Gehörseindrucks, sich einheitlich und gleichmäßig einer Menschenmenge mitzuteilen, – eine keineswegs nur äußerlich-quantitative, sondern mit seinem innersten Wesen tief verbundene Bestimmung – schließt soziologisch ein Konzertpublikum in eine unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinsamkeit zusammen, als die Besucher eines Museums“ (ebd., S. 123).

Diese „Stimmungsgemeinsamkeit“ ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass das Hören nicht als ein bloßer Aufnahmevorgang zu begreifen ist, der individuell

10 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

geleistet wird: Vielmehr wird das Hören sozial mithergestellt und unterliegt dabei, wie schon Simmels Beispiel evoziert, in entscheidendem Ausmaß z.B. räumlich-materieller Konstitution. Wie Wulf (1997) eindrücklich darstellt, vermag der Mensch insbesondere über den Hörsinn schon in frühen Stadien der Körpergenese an Sozialität teilzunehmen: „Bereits mit viereinhalb Monaten ist der Fötus in der Lage, auf akustische Reize zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung des Ohrs in anatomischer Hinsicht abgeschlossen, und der Hörnerv beginnt seine Funktion aufzunehmen. Der Fötus hört die Stimme seiner Mutter, ihr Atmen, die Geräusche ihres Blutkreislaufs und ihrer Darmtätigkeit. Von fern vernimmt er die Stimmen seines Vaters, seiner Geschwister, sowie angenehme und störende Geräusche, die Mitteilungen von außen sind und auf die er reagiert“ (S. 459).

Das Privileg der frühen Entwicklung teilt der Hörsinn, so Wulf, in ontogenetischer Hinsicht mit dem Bewegungssinn (vgl. ebd.). Das Hören nun verbindet schon den scheinbar isolierten Fötus mit einem tendenziellen Außen, in das er sozial involviert wird, indem er sich zu dem, was zu ihm vordringt, verhält und, wenn man so will, positioniert. Interessant muss diese Darstellung nun erscheinen, da sie eine umfassend körperliche sowie eine rundum reziproke Dimension des Hörens unter Beteiligung mannigfaltiger Materialitäten andeutet: Über das Auditive macht sich Gesellschaft in der scheinbaren Abgeschiedenheit des Ungeborenen präsent und verleitet zu – vollkommen buchstäblichen – Regungen. Folgt man der Darstellung, so lässt sich Klang als ein zentraler Träger von Sozialität begreifen, der nicht einfach „Information weitergibt“, sondern in die Hervorbringung jener Sozialität vermittlungsintensiv eingebunden ist. Mehr noch: Es muss angenommen werden, dass Hören auch ein Spüren ist. Wenn das Wort „auditiv“ also „das Gehör betreffend“ bedeutet, ist diese Betroffenheit im Rahmen meiner Studie in einer praxeologischen Verständnisweitung gemeint. Analytisch hervorgehoben wird somit die „‚implizite‘ Logik“ der Praxis und die „Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen“ sowie der Materialität von Praktiken „in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten“ (Reckwitz 2003, S. 282). Gegenstandsbereich meiner Studie ist Noise. Der Begriff bezeichnet eine Art der meist elektronischen Klang- und Musikproduktion. Alle Spielarten verbindet die starke Verzerrung, Verfremdung, das Rauschen. PraktikerInnen positionieren sich in Opposition zur „normalen“ Musik und treten ihr gegenüber gezielt provokativ auf. Im Noise ist es legitime Praxis, dass selbst ein durchgehendes Rauschen ohne Variation als Musikstück verhandelt werden kann. Dass die Fra-

1. E INLEITENDE W ORTE

| 11

ge „Musik oder störender Lärm?“ für KünstlerInnen, Fans und Zaungäste praktisch relevant ist, prädestiniert Noise somit als Fallstudie für die Erforschung musikalischer Sinnstiftung und Ordnungsbildung.

1.1 F RAGESTELLUNG Die vorliegende Studie thematisiert das Hören – und jedweden Umgang mit Klang allgemein – als sozialen Prozess im Sinn einer Praxeologie des Auditiven. Meine Auseinandersetzung folgt der Fragestellung: Was wird – mit Bezug auf Noise als Gegenstandsbereich – sozial „geleistet“, um eine Erfahrung von Klang als musikalisch oder nichtmusikalisch, als sinnvoll oder nicht sinnvoll herzustellen? Konkret zugespitzt wird diese Fragestellung im zweiten Teil des vierten Kapitels, das die Idee eines doing sound im Sinn einer angenommenen „Nichtwesenhaftigkeit“ von auditivem Sinn skizziert. Das bedeutet, dass der Sinn von Klang nicht aus sich selbst heraus besteht und z.B. einem Musikstück intrinsisch ist. Stattdessen muss dieser Sinn in Praktiken schlüssig etabliert werden. Die Perspektive, die ich wähle, geht somit auf größtmögliche Distanz gegenüber jedwedem Reduktionismus oder Naturalismus: Klangerfahrung speist sich aus einem Fundus sozialer Praktiken, in die Körper, Orte, Räume, Artefakte, Diskurse, Leidenschaften und Transformationsleistungen bedingungs- und verstrickungsreich involviert sind. Mit dieser analytischen Orientierung gehen verschiedene Teilfragestellungen einher: 



Welche praktischen Wissensformen und Kompetenzen zirkulieren innerhalb der Gegenstandskultur? Diese Fragestellung richtet sich sowohl auf die Normativität sozialer Praktiken (als Deutungs- und Beglaubigungsvorgänge in actu) als auch auf Aneignungsprozesse sowie die Kontextabhängigkeit und Relationalität von Fertigkeiten. Wie wird Klang in puncto Noise verkörpert, und was implizieren die Verkörperungen – im Sinn von Ordnungsbildungen entlang des Auditiven – in Hinblick auf das wechselseitige Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2006)? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang überdies Raumkonstitutionen? Wie also wird Klangerfahrung in Klang-Raum-Körper-Arrangements hergestellt? Tangiert wird in der Be-

12 | N OISE – K LANG



ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

antwortung der Fragestellung ein spezifisches Verhältnis zwischen „unexpected dynamics“ und charakteristischen Ordnungsbildungen im Noise. Das Verhältnis zwischen Dynamik und Routine soll somit analytisch näher bestimmt werden. Inwiefern legt die dem Noise charakteristische Etablierung von konflikthaften Deutungskämpfen in ihrer sozial konstituierenden, geradezu produktiven Rolle eine Weiterentwicklung soziologischer Auffassungen von Kollektivität nahe? Auch im Zusammenhang mit der Relationalität kursierender Wissensformen und Kompetenzen fragt die Studie hier nach einem Miteinander im Gegeneinander, abseits einer Vorstellung von Gemeinschaftlichkeit als Ergebnis rationaler Entscheidungsprozesse.

Das Datenmaterial meiner Studie speist sich aus einem umfassenden Textkorpus ethnografischer Feldnotizen, die im Zuge einer gut dreijährigen Vertiefung in das Feld rund um Noise generiert wurden. Die Ethnografie als „lokal operierende [Forschungsmethode]“ setzt in diesem Kontext eine „Würdigung des Situativen als eigendynamisch und strukturbildend“ (Scheffer 2002, S. 352) voraus. Meine Studie entschlüsselt die Praktiken von Sinngebung und Ordnungsbildung also anhand detaillierter Beschreibungen und Analysen in Hinblick auf Verkörperung, Räumlichkeit, Technizität, Wissen und Kompetenz sowie mit einem durchgehenden Fokus auf die Rolle sozialer Deutungskonflikte. Die Noise-Künstlerin Blanca Rego schreibt auf Twitter: „Noise is the chaos that resists social order (music)“.1 Gegenüber solchen (reizvollen) Perspektiven aus dem Feld war im Lauf der Untersuchung ein analytischer Bruch nötig. So konnten Ordnungsbildungen auch gerade dort identifiziert werden, wo sie negiert oder zumindest nicht explizit thematisiert werden. Meine Studie macht somit jene Stationen der Herstellung von Sinn in puncto Sound sichtbar, die dem Alltagsverständnis oft implizit bleiben. Zeigen will ich insgesamt, unter welchen jeweils spezifischen Bedingungen wir Klang als Musik erkennen oder auch als bloßen Krach verkennen.

1

Online: https://twitter.com/null66913/status/809423502344388608, zugegriffen am 28.12.2016. Siehe Internetquellen: Rego (2016).

1. E INLEITENDE W ORTE

1.2 W ISSENSCHAFTLICHER K ONTEXT DER S TUDIE

UND

| 13

D ESIDERAT

Mein soziologischer Blick auf den Gegenstandsbereich ist vorrangig von praxeologischen Theoriebeständen geprägt, die ich im zweiten Kapitel der vorliegenden Schrift en detail expliziere. In der Nähe zu sozialwissenschaftlichen Perspektiven haben sich dem Phänomen Noise (oder jedenfalls artverwandten Formen der geräuschintensiven Experimentalmusik) in der Vergangenheit etwa die Philosophie (vgl. Sangild 2002, Hegarty 2012), die ethnografische Soziologie (vgl. Liegl 2010), die Musikwissenschaft (vgl. Demers 2010) sowie die Wissenschafts- und Technikforschung (vgl. Klett/Gerber 2014) im Sinne verschiedener Gewichtungen und Desiderate zugewandt, die meine Perspektive auf das Feld allesamt nachhaltig informierten. Nicht zuletzt sind auch die sound studies als junges Feld kulturwissenschaftlicher Klangforschung als eine wichtige Stütze meiner Auseinandersetzung zu begreifen: So konnte meine Studie von den Klangwissenschaften in Hinblick auf ein Verständnis von Klang-Raum-Material-Verhältnissen zehren (vgl. sechstes Kapitel). Im Übrigen wird in den Kultur- und Medienwissenschaften gegenwärtig ein sonic turn in ersten Ansätzen proklamiert und diskutiert, dessen Stoßrichtung ich mich grundlegend anschließe: „Während die Frage ‚What do pictures want?‘ bereits eine längere Geschichte hat und zur Bildung fruchtbarer interdisziplinärer Forschungsansätze wie etwa den Visual Studies und der Bildwissenschaft geführt hat, sind Fragen nach der kulturellen Bedeutung von gestal teten und kommunizierten Klängen noch weitgehend offen“ (Volmar/Schröter 2013, S. 9ff.).

Nimmt man dieses Kerndesiderat als Ausgangspunkt einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Klang, muss die praxeologische Perspektive sich mit der Frage befassen, was Hören – im Englischen ausdifferenziert in hearing und listening – über die Auffassung einer sensorisch-kognitiven Rezeptionsleistung hinaus bedeutet: Die Studie fragt nach dem Verhältnis KlangRaum-Körper, den Modi der Verzerrung als Materialbearbeitung oder gemeinhin auch nach der Herstellung spezifischer Hör- und Erfahrungsmodi. Christoph Maeder (2014, S. 424) konstatiert: „Whenever society happens there is sound“. Mir war es wichtig, diese Auffassung konsequent beim Wort zu nehmen. Eine meiner zentralen Ambitionen war es, im Sinn einer ethnografischen Beschäftigung mit Sound zu konkreten Forschungsimplikationen für eine Erschließung von Klang als Gegenstand qualitativer Sozialforschung zu gelangen – auch

14 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

im Sinn des Beitrags zur Schließung einer Forschungslücke. Maeder formuliert hier ein klares Desiderat: Entsprechende Auseinandersetzung sei besonders für jene Fälle erwünscht, in denen Klang nicht von vornherein in Hinblick auf seine kommunikative, sprachliche oder musikalische Rolle thematisiert wird: „By mainly considering the non-linguistic and non-musical aspects of sound in society, we are challenged by a whole new field of study“ (ebd.). Dieser Feststellung gegenüber geht meine Studie nun nicht etwa einen Schritt weiter, sondern sie macht zunächst einen entscheidenden Schritt zurück, indem ich frage: Wie überhaupt werden mögliche Unterscheidungen zwischen kommunikativ und nichtkommunikativ – im Fall meines Forschungsgegenstandes: zwischen musikalisch und nicht-musikalisch – von sozialen Akteuren erarbeitet und in beiläufiger Schlüssigkeit geleistet? Unter welchen Voraussetzungen ist Klang für TeilnehmerInnen sozialer Praxis als beispielsweise musikalisch (oder anderweitig als sinn- und kunstvoll) „intelligibel“? Robert Schmidt und Jörg Volbers (2011) betonen: „[Praktiken] sind […] immer auch durch eine öffentliche, praktische Intelligibilität ge kennzeichnet: Sie zeigen an, ‚um was es sich hier jetzt handelt‘, ‚wie man etwas ge braucht‘ etc. Man sieht nicht ‚Dinge‘, ‚Körper‘ oder ‚Bewegungen‘, sondern erkennt ‚Gebrauchsgegenstände‘, ‚Personen‘ und ‚Handlungen‘“ (S. 33).

Ein solches Anzeigen und Erkennen ist auch in Hinblick auf Klang nicht voraussetzungslos, wie Noise als ästhetischer Grenzfall (siehe hierzu im Detail: 4.3. Grenzfall: Zwischen Musik und Geräusch) suggeriert. Aufgrund dieser Ungeklärtheit und Grenzhaftigkeit begreife ich die vorliegende Schrift nur unter Vorbehalt als einen musiksoziologischen Text: Die entscheidende Kategorie ist zunächst einmal der Klang, der Sound, und diesem gegenüber ist die Musik eine mögliche, jedoch nicht von allen TeilnehmerInnen vertretene Sinndeutung. Forschungspraktische Debatten will ich durch meine Studie insofern anregen, als den klanglichen Bestandteilen sozialer Praxis keine solitäre Eigenmächtigkeit zugesprochen wird, sondern vielmehr, im Sinn eines doing sound, von einer Multiplizität an Einstellungen, Leidenschaften, Räumen, körperlicher Performances und materieller Arrangements in Fragen der schlüssigen Erfahrung ausgegangen werden muss. Das bedeutet: Der Blick auf das doing sound eröffnet neue, mitunter kontraintuitive Betrachtungsweisen auf das Hören, das sich in dieser Perspektive eben keinesfalls in einer sensorischen Rezeptionsleistung erschöpft. Die Studie fragt vielmehr danach, wie Hör- und Erfahrungsmodi vom Feld kollektiv hergestellt werden. Für rezente Debatten um die Ethnografie der

1. E INLEITENDE W ORTE

| 15

Sinne (vgl. Arantes/Rieger 2014, Pink 2009) bedeutet dies eine Bereicherung und Zuspitzung methodisch-methodologischer Implikationen.

1.3 ARGUMENTATIONSSCHRITTE Nachfolgend will ich vorab die wichtigsten Schritte der Argumentation meiner Studie skizzieren. Das kurze zweite Kapitel ist der theoretischen Fundierung gewidmet und stellt praxeologische Perspektiven in den Mittelpunkt. Offeriert werden neben grundlegenden Punkten etwa Perspektivierungen zu den Themen Körper und Wissen. Fruchtbare Ansätze der Ethnomethodologie sowie der AkteurNetzwerk-Theorie werden des Weiteren vorgestellt, und für die Studie allgemein kläre ich in diesem Abschnitt zuletzt das Verhältnis von Theorie und Empirie. Daran anschließend widmet sich das Kapitel zur Methode ausführlich den Spezifika der ethnografischen Vorgehensweise. Adressiert werden dabei die Phasen der Feldarbeit als Prozess, der Datenkorpus meiner Studie sowie der besondere Modus der Feldteilnahme. Da es sich hierbei um eine besonders tiefe Immersion im Sinne der Teilnehmenden Beobachtung handelte, diskutiere ich in der zweiten Hälfte des Kapitels ausführlich das Spannungsfeld zwischen „going native“ und „coming home“ in Hinblick auf ethnografische Vorgehensweisen: Für die vorliegende Studie ergibt sich dabei eine Diskussion um Forschung in unmittelbarer Nähe zu künstlerischen Praktiken; dem folgt eine Auseinandersetzung mit Befremdungstechniken, die in Bezug auf das „coming home“ forschungspraktisch hilfreich waren. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zu Spezifika des ethnografischen Schreibstils. Erläutert werden zudem die Modi des Codierens und der Datenanalyse. Im Anschluss wird im ersten Teil des vierten Kapitels ein genauerer Blick auf den besonderen Forschungsgegenstand meiner Fallstudie eröffnet: In einer Annäherung informiere ich in einem historisierenden Zugriff über zentrale Charakteristika von Noise als „Szene“ sowie als Genre und Prozess. Zudem lasse ich, der interpretativen Vorgehensweise meiner Studie gemäß, das Feld selbst zu Wort kommen und erläutere anhand eines Twitter-Postings aus dem NoiseUmfeld wichtige Verstrickungen, Verwandtschaften und Selbstauffassungen. Der zweite Teil des Kapitels dreht sich zunächst ganz allgemein um die Frage, was doing sound im Sinn der praxeologischen Auseinandersetzung bedeutet. Dargestellt wird hier das Argument einer „Nichtwesenhaftigkeit“ von auditivem Sinn in größtmöglicher Abgrenzung gegenüber z.B. der philosophischen Auffassung, dass Musik über „ewige Botschaften“ verfügt. Vor diesem Hintergrund perspek-

16 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

tiviert der abschließende Teil des Kapitels den Gegenstandsbereich als einen ästhetischen Grenzfall zwischen Musik und Geräusch, der aufgrund dieser Eigenschaft vertieften Einblick in die Etablierung praktischer Deutungs- und Beglaubigungsvorgänge rund um das Auditive gewährt. Ganz im Sinn des analytischen „coming home“ widmet sich das Folgekapitel daraufhin einer externalistischen Beobachtung in Hinblick auf die Frage, wie durch Noise-PraktikerInnen die mitunter typische Auffassung besonderer Hörfertigkeiten praktisch plausibilisiert wird. In diesem ersten Empiriekapitel der Studie frage ich in diesem Sinn nach situativ beobachtbaren Distinktionspraktiken, die sich etwa in Form einer spezifischen Raum- und Körperordnung nachvollziehen lässt. Darstellen will ich hiermit eine Normativität, die sich keinesfalls in einem „Sprechen über“ erschöpft. Die Argumentation folgt der praktisch etablierten Auffassung eines „Innen“ der Subkultur oder Szene, das annimmt, kompetent hören zu können, und einem „Außen“, dessen Rolle es ist, dezidiert nicht zu verstehen. Die Trennung zwischen Innen und Außen wird sich später auch für das Kapitel zur Kollektivität als relevant erweisen: Hier zeigt sich, dass die InnenAußen-Trennung als TeilnehmerInnenkonstruktion zwar sinnvoll ist, aber dass sie analytisch nicht vollends aufrechterhalten werden kann, will man die wechselseitigen Verstrickungen in die künstlerischen Praktiken vollumfänglich anerkennen. Die Auseinandersetzung mit der beiläufigen Normativität sozialer Praktiken wird im Unterkapitel zum „concert for one person“ weiter vertieft und tan giert hier erneut die Frage „Musik oder Geräusch?“ Ein abschließender Abschnitt zu Ermächtigung und Kapitalerwerb fragt schlussendlich danach, wie mit dem Spannungsfeld zwischen Distinktion und damit einhergehenden Umständen für KünstlerInnen (kleines Publikum, prekäre Lebensstile) analytisch zu verfahren ist. Ein argumentatives Herzstück der vorliegenden Studie ist das insgesamt längste Empiriekapitel, das sich unter der Überschrift Klang-Raum-Körper dem Forschungsgegenstand in Fragen der Verkörperung sowie der Raumkonstitutionen annimmt. Raum wird hier in Hinblick auf Deutungs- und somit auch Kontrasterfahrungen thematisiert. Es sind also nicht nur in Architekturen festgeschriebene Strukturen, die ein Klangerleben in Räumen konstituieren, sondern es sind spezifische Nutzungen, Arrangements, Erwartungen usw., die im situativen Zusammenspiel mit Architekturen, Kompositionen und Performances wirksam werden. Das Kapitel fragt im Folgenden nach typischen Modi der Verkörperung, nach Noise in Bewegung. Die Raum- und Körperdimension findet zueinander im Hörmodus des „Sich-umspülen-Lassens“, der besonders in hybriden Stilformen zwischen Noise und der vergleichsweise sanften und leisen Ambient-Musik be-

1. E INLEITENDE W ORTE

| 17

obachtbar ist. Daran anschließend beschreibe ich weitere performative Repertoires, die mit der Klangerfahrung niemals arbiträr, sondern vielmehr in einer praktischen Etablierung von Sinn qua Bewegung und Haltung verbunden sind. Das Kapitel offeriert daraufhin einen Blick auf Modi der kollektiven Einstimmung: Hier verwischen die Grenzen zwischen KünstlerInnen und Publikum in Form geteilter Performances, die im Zusammenspiel Klangerfahrungen herstellen und plausibilisieren. In diesem Kontext wähle ich einen gezielt „befremdenden“ Blick über Noise hinaus und stelle im Folgenden die Frage nach soziomateriellen „companionships“, d.h. nach der Involvierung von technischen Artefakten in das performative Gesamtgeschehen. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der integrierten Technik und der Affektivität der Aufführungspraxis von Noise: Zur „tortured stage presence“ gehört z.B. oftmals auch ein besonderer Umgang mit den verwendeten Gerätschaften. Ein folgender Exkurs über Orte und Wege vertieft das Nachdenken über Modi der Einstimmung und Besinnung. Zeigen will ich hiermit, dass es fruchtbar ist, die raumsoziologische Ablehnung einer Auffassung von Raum als bloßem Containerraum (vgl. Löw 2001) auch insofern ernst zu nehmen, als sie gestattet, das Davor und Danach von Konzerten in den ethnografischen Forschungsprozess miteinzubeziehen und in diesem Sinn nach Praktiken der Besinnung zu fragen, die etwa beim Zurücklegen von Wegen an einen Ort stattfindet. Ein folgendes Unterkapitel thematisiert eine Noise-typische Wertschätzung für unerwartete Dynamiken und versucht diesbezüglich ein Einstimmungs- und Affektverständnis abseits der konventionellen Rhythmisierung. Rekurriert wird hierbei argumentativ auf den Modus des „Sich-umspülenLassens“: Dieser zeigt eben dann, wenn er gestört wird, dass Klang-Raum-Körper-Arrangements fragile Unterfangen sind, gegen die sich extreme Spielarten von Noise geradezu immunisieren. Diese „Absicherung“ wiederum ist relevant für das darauffolgende Kapitel: Wenn ein Klanggeschehen besonders laut ist und geradezu undurchdringbar erscheint, müssen um so „schwerere Geschütze“ aufgefahren werden, wenn es TeilnehmerInnen, die als verärgerte Zaungäste involviert sind, darauf anlegen, solcherlei Szenarien gezielt zu irritieren. Im Kapitel zur Kollektivität zwischen Dynamik und Routine wird die Grenze zwischen KünstlerInnen und Publikum nun auch insofern als teildurchlässig thematisiert, als das „Innen“ und „Außen“ der Gegenstandskultur im Sinn eines konflikthaften Zusammenspiels, einem „Miteinander im Gegeneinander“, dargestellt werden. Zunächst wird das für den Fall offen opponierender Kommentare dargestellt. In solchen wird Noise-MusikerInnen beispielsweise vorgeworfen, keine „echten“ KünstlerInnen zu sein. Für solcherlei Kommentare existiert im Feld selbst eine verblüffende Wertschätzung, und mitunter werden sie gar in die

18 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

eigentlichen Kunstwerke – z.B. über Plakate oder in Booklets – intentional inkorporiert. Dieser Umstand informiert im Folgenden eine empiriegeleitete Diskussion um Formen von Kollektivität: Adressiert werden in diesem Zusammenhang verschiedene community-Konzepte, an die ich meine Argumentation opportunistisch anlehne, um zu einem Begriff von sozialer Verstrickung gelangen, der über ein Kollektivitätsverständnis im Sinn der soziologischen Szeneforschung (Hitzler/Niederbacher 2010) hinausreicht: Betonen will ich hier die potenziell konstituierende, paradox verbindende Seite sozialer Konflikte sowie ein Verständnis von dokumenthafter Materialität (siehe Booklets und Poster) im Zusammenhang mit dieser Kollektivität. In einem früheren Abschnitt des Kapitels wähle ich krisentheoretische Überlegungen, um dem Spannungsfeld zwischen Dynamik und Routine im Sinn der hier so wichtigen Noise-Konflikte gerecht zu werden: Zwar werden in einer Art Drehtürdynamik immer wieder aufs Neue Außenstehende in krisenhafte Klangerfahrungen involviert. Zugleich aber bringt das Feld jene Erfahrungen mit einer bemerkenswerten Verlässlichkeit hervor, so dass keinesfalls von einer genuin freien Regellosigkeit ausgegangen werden kann – so sehr Noise in Selbstauffassungen auch das Experimentelle oder das „Indeterminierte“ (vgl. Klett/Gerber 2014) betonen mag. Das Verbindende zwischen „Innen“ und „Außen“ diskutiere ich des Weiteren in einer doppelten Wendung von Goffmans „creating a scene“, illustriert anhand der Störung eines Konzerts, im Zuge derer KünstlerInnen und Störende wortwörtlich die Bühne teilen und sich darüber hinaus auch ästhetisch überaus nah sind: Das Konzert und seine Störung, beides ist Noise – schroff, unerwartet dynamisch und laut. Nachdem in Fragen der Kollektivität bis zu diesem Punkt der Szenebegriff sowie zweierlei community-Konzepte diskutiert wurden, thematisiert das Kapitel zuletzt den Begriff der Subkultur, um auf die darauffolgende Auseinandersetzung mit Umdeutungs- und Transformationsleistungen innerhalb des Feldes vorzubereiten: Hier wird examplarisch dargestellt, unter welchen Bedingungen ein Klang praktisch als Musik oder Geräusch gedeutet werden kann. Das abschließende Empiriekapitel meiner Studie widmet sich Noise-typischen Leistungen der Transformation und Verzerrung in Hinblick auf Wissensbestände und Kompetenzen. Einführend wird im Sinn der darauffolgenden Argumentation zunächst der praxistheoretische Wissensbegriff, der im Theoriekapitel schon angeschnitten wurde, spezifisch vertieft. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Wissen nicht als „praxisenthoben“ zu begreifen ist (Reckwitz 2003, S. 292), werden „skills“ und Kompetenzen in Hinsicht auf Haltung (also: Performances, die ein Können anzeigen) und insbesondere auch in der Frage ihrer Kontextabhängigkeit in situ thematisiert: Wann wird eine bestimmte Vorgehens-

1. E INLEITENDE W ORTE

| 19

weise als ein Nichtkönnen, wann als eine gekonnte Kompetenz wahrgenommen und verhandelt? Als Beispiel dient hier ein im Feld schlüssiges „Neben-derSpur-Sein“ in Bezug auf musikalische Sequenzen und Rhythmen. Vor diesem Hintergrund adressiert die zweite Hälfte des Kapitels die Etablierung von Verzerrung und Fremdartigkeit, die dem Noise-Sound eigentümlich ist. Der Fokus ist hier ein „multisituierter“ (vgl. Hine 2007): Er führt von Beschreibungen entsprechender Klangbearbeitung über damit konvergierende Visualisierungen, und schließlich mündet die Argumentation in ein betont materielles Verständnis von Verzerrung und Verfremdung. Hier wird deutlich, dass das Feld gegenüber der „konventionellen“ Musik kein vollkommen ablehnendes, sondern vielmehr ein überraschend enges Verhältnis pflegt, das auch mit der Beherrschung spezifischer Kompetenzen aus dem ästhetisch gegenüberstehenden Terrain einhergeht. Noise-PraktikerInnen, in Selbst- und (!) Fremdauffassungen oft „Nicht-Musiker“ oder musikalische Dilettanten, sind der Welt der Musik in Fragen von Wissen und Kompetenz also ebenso wenig äußerlich, wie Noise-GegnerInnen sich im beschriebenen Stören von Noise-Konzerten der typischen NoiseÄsthetik – etwa: Konfrontation und Lautsein – nicht entziehen können. Hier schließt sich der Kreis im Sinn eines konsequent kollektiv – und paradox partizipativ – gedachten doing sound. Es zeigt sich: Noise als informelle Wissens- oder Expertenkultur ist nicht hermetisch begrenzt, sondern in vielerlei Hinsicht ein fluides, konfliktgeladenes und augenscheinlich paradoxes Praxisgebilde, das sich durch ein gemeinsames Sich-auf-etwas-Beziehen konstituiert. Das Abschlusskapitel ist nicht zuletzt ein Angebot zu Vertiefung und Dialog. Es resümiert die empirischen Befunde meiner Studie im Sinn ihrer Bedeutung für eine Forschung, die – der Idee eines sonic turn verbunden – für eine Soziologie des Auditiven eintritt. Diskutiert werden methodologische Implikationen, relevante Aspekte rund um Körper und Raum oder auch das meinem Forschungsgegenstand immanente Spannungsfeld zwischen Konvention und Experiment, das praxistheoretische Debatten um Routinen vertieft und zuspitzt. Damit in Verbindung stehen abschließende Überlegungen zur konflikthaften Kollektivität, die soziologische Debatten um Szenen und Subkulturen kritisch ausweiten und bereichern. Außerdem widmet sich das Kapitel der Kontextabhängigkeit von Kompetenzen sowie den Transformationsprozessen als Materialbearbeitungen. Ein allgemeiner Ausblick adressiert, inwiefern die zusammengetragenen Erkenntnisse die Auseinandersetzung mit Klang auch außerhalb künstlerischer Felder beleben können und wählt exemplarisch eine Perspektive auf Phänomene wie die urbane Lärmbelastung.

20 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

2. Theoretische Fundierung

Heuristisch informiert ist meine Studie vorrangig von praxeologischen Perspektiven. Diesen ist die Nähe zur Ethnografie immanent, und sie erweisen sich zudem als anschlussfähig an körpersoziologische, raumsoziologische und ethnomethodologische Ansätze. Jene werden teils im vorliegenden Kapitel skizziert, teils an späterer Stelle – im Sinn einer unmittelbaren argumentativen Verschränkung von Theorie und Empirie – ausgeführt. In dieser Art wird auch das Feld der sound studies behandelt, das episodisch als Impulsgeber von Argumentationsfiguren in Erscheinung tritt.

2.1 P RAXISTHEORETISCHE P ERSPEKTIVEN Theorien sozialer Praktiken bezeichnen ursprünglich die anthropologische Theoriebildung Pierre Bourdieus (vgl. Bueger 2014, S. 383), finden seither jedoch eine Verbreitung und Diversifizierung in einem weiten Feld wissenschaftlicher Disziplinen, wie beispielsweise den organization studies, der Geschichtswissenschaft sowie in Teilbereichen politikwissenschaftlicher Forschung (vgl. ebd.). Unabhängig davon, in welcher Disziplin eine praxistheoretische Auseinandersetzung nun angesiedelt ist, gilt grob für sämtliche Ansätze gleichermaßen: „They take social practices which are materially anchored in bodies and artefacts and dependent on implicit knowledge as the smallest and prior unit of analysis“ (ebd., S. 384). Durch Andreas Reckwitz (2003) wird das Feld der Praxistheorien allgemein „nicht als Feld miteinander konkurrierender Theorien, sondern als eine sozialtheoretische Perspektive“ beschrieben. Ziel sei demnach ausdrücklich eine „systematische Synthese“ sowie eine „theoretische Programmatik“ (S. 284). Diese Synthese mag man grundlegend durchaus mit jener Spannung in Verbindung bringen, die der Autor im Feld der Theorien sozialer Praxis entlang einer kulturellen Reproduktion einerseits (repräsentiert durch den Ansatz Pierre Bour-

22 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

dieus) und einer „spielerischen“ kulturellen Offenheit andererseits (repräsentiert etwa durch die cultural studies und die Arbeiten Judith Butlers) identifiziert (vgl. ebd., S. 297). Konstatiert wird in einer Aufzählung weithin ungeklärter Bereiche praxistheoretischen Denkens im Übrigen das „Spannungsfeld zwischen den Grundannahmen der Repetitivität und der kulturellen Innovativität von sozialen Praktiken; die Stellung von Artefakten als Gebrauchsgegenstände oder als ‚Aktanten‘“ sowie „die Frage nach dem Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken“ (ebd.). Die vorliegende Studie kann zu einer Vertiefung jener Spannungsmomente insofern einen produktiven Beitrag leisten, als ich mich etwa mit der Frage von kultureller Reproduktion gegenüber der kulturellen Dynamik auseinandersetze (siehe siebtes Kapitel). Diese wird im Folgenden in ihrem aufschlussreichen Verhältnis zwischen einer „experimentellen“ Selbstauffassung und den sozialen Ordnungsbildungen des Feldes reflektiert. Zembylas (2014) verweist darauf, dass das Konzept der sozialen Praktiken nach einer Vermeidung klassischer Dualismen strebt: Zunächst, so stellt der Autor fest, werde die Rolle von Akteuren, Objekten und institutionellen Arrangements gleichzeitig abgedeckt. Für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelte grundsätzlich dasselbe. Hervorgehoben werde die gleichermaßen kontextuelle wie situationelle Verankerung von menschlichem Verstehen ohne eine starke Anlehnung an den Determinismus strukturalistischer Erklärungsmodelle (vgl. S. 9). Reckwitz (2003) stellt fest, dass die Strukturtheorien „zunächst in ihrer Ausrichtung auf nicht-sinnhafte Strukturen in der größtmöglichen Entfernung zu den Kultur- und somit auch zu den Praxistheorien“ stünden (S. 287). In der Nähe dieser entscheidenden Abgrenzung mag man punktuell auch die Verwandtschaft zwischen Praxistheorie und Akteur-Netzwerk-Theorie verorten 1, der ich im Folgenden noch einen gesonderten Unterabschnitt widmen werde. Grundsätzlich erschöpfen sich soziale Praktiken nicht in einer sprachlich-diskursiven Dimension: Vor Augen führen mag man sich hier das praxistheoretische Verständnis am Beispiel von Burris (2008) Auseinandersetzung mit Bildern, die für die vorliegende Studie programmatisch auf den Gegenstand des Auditiven gewendet werden soll. „[Der] visuelle Eigenwert der Bilder […] ist begrifflich darauf angelegt“, so die Autorin, „die nichtdiskursive Spezifik der Bildlichkeit zu erfassen“. Argumentiert wird demzufolge in aller Konsequenz für eine visuelle Eigenqualität gegenüber Wörtern und Zahlen. Hervorgehoben wird, dass sich visuelle Zeichen und visuelle Elemente, aus denen Bilder bestehen, nicht vollständig in sprachliche oder numerische Zeichen transformieren lassen (S. 348).

1

Vgl. zur Frage der ANT als Strukturalismuskritik allgemein: Wieser (2012).

2. T HEORETISCHE F UNDIERUNG

| 23

Einen vergleichbaren Eigenwert hat auch das Auditive, und diesen in seinen Verstrickungen mit Körpern, Räumen, Leidenschaften etc. einzuholen, ist ein zentraler Teil meiner Studie. Zugleich suggeriert schon das Schlagwort der Leidenschaften freilich, dass bei aller Abgrenzung gegenüber reduktionistischen Diskursansätzen jedwede Klangerfahrung niemals als diskursfrei gedacht werden darf. Sie erschöpft sich eben nur, wie noch gezeigt werden soll, keinesfalls in dieser Dimension. Die Erfahrung von Klang (und somit auch Musik) ist nicht nur im Sinn zir kulierender Leidenschaften stets ein emotives und affektives Unterfangen. Fraglos bedarf es aus praxeologischer Sicht einer Auffassung, die Erfahrung nicht als individuelles und somit gleichsam solitär konstituiertes Phänomen begreift, sondern demgegenüber das Kollektive und Bedingungsreiche betont. Reckwitz (2012) perspektiviert einen dementsprechend gewichteten Affektbegriff: „Affect is reminiscent of ‚to affect‘ and ‚to be affected‘ and thus of dynamic and interactive dimensions that the term ‚emotion‘ lacks, as it rather implies the static notion of hav ing an emotion ‚deep inside‘. […], the praxeological perspective offers the advantage of closely tying perspective/affective processes to actions and activities which always involve limitless amounts of implicit knowledge“.

Schlussendlich heißt es: „There is no such thing as a pre-cultural affect“ (S. 250 f.). Diese Feststellung dient der vorliegenden Studie als umfassender Grundsatz: Erfahrung ist stets in soziale Praktiken und Prozesse eingebettet, die das Was und das Wie in Fragen der Affektivität immer mitbestimmen. Immanent ist praxistheoretischen Perspektiven nach Theodore Schatzki (2002) des Weiteren der Begriff der „site“, der in der vorliegenden Schrift wiederholt auftauchen wird. Dem Autor zufolge bezeichnet die „site ontology“ ein spezifisches Verständnis von Aktivität und Ordnung (vgl. S. XII). „Site“ ist in diesem Zusammenhang als eine besondere Art von Kontext zu begreifen: „A site is a special sort of context, the strongest and, to my mind, most interesting type. For it is the one type where entities are intrinsically part of their own context. In social theory, contextualism is the position that the character and transformation of social affairs are beholden to contexts. Typical examples of such contexts are abstract structures, systems of action, worldviews, social practices, and fields of various sorts“ (ebd., S. 65).

Den Begriff der „site“ verwende ich im Rahmen meiner Studie heuristisch im Hinblick auf die Kontexthaftigkeit raumzeitlich organisierter Praktiken, die ih-

24 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

rerseits die „Schauplätze und Arenen des Sozialen“ (Schmidt/Volbers 2011, S. 33) konstituieren. 2.1.1 Soziale Praktiken und Körper Körpersoziologische Perspektiven befassen sich mit einem „wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft“ (Gugutzer 2006, S. 13). Der Begriff der Wechselseitigkeit impliziert dabei, dass der Körper als Produkt von Gesellschaft wiewohl auch als Produzent von Gesellschaft in den Blick genommen wird (vgl. ebd.). Wie Villa (2002) nahelegt, ist der Körper „ambivalent in gleich mehrfacher Hinsicht: zugleich passiv und aktiv, eigenständig kreativ und sozial determiniert, materiell und symbolisch, konstruiert und faktisch, natürlich und kulturell“ (S. 180). Als nicht-intendierter Träger von Zeichen und sonstigen Zuschreibungen, die soziale Zugehörigkeiten und Machtverhältnisse anzeigen, gilt der Körper der Bourdieu’schen Habitustheorie etwa als Produkt gesellschaftlicher Strukturen (vgl. Gugutzer 2006, S. 15). Als Produzent von Gesellschaft wiederum wird der Körper beispielsweise in Hinsicht auf die Frage thematisiert, „wie körperliche Praktiken zur Herstellung, Stabilisierung und zum Wandel sozialer Ordnung beitragen“ (ebd., S. 17). Gemeinhin bricht der körpersoziologische Blick mit jenem mentalistischen Bias der Sozialwissenschaften, der mit deren Vorlieben für Sprache, Semantik und (explizites) Wissen korrespondiert (ebd., S. 21). In dieser zentralen Kritik des Mentalismus ist die Perspektive grundlegend der praxeologischen Programmatik verwandt (vgl. etwa Reckwitz 2003, S. 288). Auch Fragen um die Intentionalität sozialer Praktiken lassen sich durch körpersoziologische Zuspitzungen bereichern: So wird der Körper in sozialen Interaktionen etwa eingesetzt, um gezielt spezifische Eindrücke zu erwecken (vgl. Gugutzer 2006, S. 18); zugleich ist es opportun, ein vorreflexives körperliches Handeln zu adressieren. Die Rede ist hierbei von einem eigenwilligen Agieren: „Dieses Verständnis vom eigensinnig handelnden Körper kann als Kritik am Rationalismus in der Soziologie aufgefasst werden. Denn an Beispielen eigensinnigen körperlichen Handelns wird deutlich, dass der menschliche Körper keineswegs jederzeit kontrollierbar ist. Er ist eben auch eigenwillig und widerspenstig“ (ebd., S. 19).

Dieser körperliche Eigensinn nimmt in meiner Argumentation episodisch eine tragende Rolle ein: Der sich unwillkürlich verhaltende Körper vermag beispielsweise intentional arrangierte Klang-Raum-Körper-Arrangements zu stören und weist damit auf deren Irritierbarkeit – und damit Fragilität – hin. Mehr noch: Die

2. T HEORETISCHE F UNDIERUNG

| 25

besondere Art der Fragilität legt überhaupt erst zentrale Aspekte der – eben auch körperlich gewährleisteten – Ordnungsbildung offen, und im Umgang mit dieser Brüchigkeit kennt mein Gegenstandsbereich regelrechte Immunisierungen (siehe Kapitel 7). 2.1.2 Soziale Praktiken und Wissen Die körpersoziologische Abgrenzung von der Vorliebe für Sprache, Semantik und Wissen (siehe oben) macht es notwendig zu spezifizieren, was im Sinn der Praxeologie gemeint ist, wenn ich im Folgenden von Wissen spreche. Hirschauer (1999) warnt gemeinhin davor, einen Ansatz zu wählen, der „Gesellschaft nur in den Köpfen stattfinden läßt“ (S. 228). Praxistheoretische Perspektiven betonen nicht etwa propositionales Wissen, bewusste Performances und „rational choices“, sondern rücken die Auseinandersetzung mit den nicht-propositionalen Formen von Wissen in den Mittelpunkt (vgl. Zembylas 2014, S. 9). Daher wird durch praxistheoretische Überlegungen auch hier Körperlichkeit betont. So handelt es sich bei einer Praktik nach Reckwitz (2003) jederzeit um eine „skillful performance“ von kompetenten Körpern. „Generell gilt: Eine Praxis besteht aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers“ (S. 290). Die Frage nach einem ethnografisch einholbaren Zusammenhang zwischen Körperroutinen und der Herstellung sozialer (Sinn-)Ordnung steht in der vorliegenden Schrift durchaus im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hirschauer (2004), der den Goffman’schen Ausspruch von den „Situationen und ihren Menschen“ in einen Begriff von „Praktiken und ihren Körpern“ wendet, nimmt eine umfassende Abgrenzung gegenüber textualistischen Ansätzen vor, deren Erfassen von embodiment oder körperlicher Performance grundlegend als defizitär betrachtet werden muss: „Das Geschlecht“, so argumentiert der Autor exemplarisch, werde etwa „im Normalfall weder erfragt noch mitgeteilt, son dern dargestellt. […] Und über das, was sich zeigt, braucht man nicht zu sprechen. Verkörperung meint pantomimische Symbolisierung, eine dezidiert nichtdiskursive Praktik“ (S. 77). Eine Anerkennung des Nichtdiskursiven wird hier in einer ausgeprägten Konsequenz gedacht, die weitere Abgrenzungen evoziert: Als „primäre Erscheinungsform kultureller Verhaltenslimitierungen“ identifiziert Hirschauer nicht etwa synthetische Bilder oder Benimmbücher, sondern vielmehr verkörperte Darstellungen per se. „Sie zeigen, ‚was geht‘ und ‚was nicht geht‘“ (S. 77f.). Wichtige Implikationen für die vorliegende Studie birgt diese Darstellung insofern, als in künstlerischen Feldern ein ausgeprägtes diskursives Geschehen zu beobachten ist, das bei einer nicht hinreichend sensibilisierten He-

26 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

rangehensweise dazu verleiten könnte, dem Sprechen, Schreiben und Verbildlichen, das durch TeilnehmerInnen im Feld geleistet wird, unvermittelt „auf den Leim zu gehen“ und sich einer kursierenden „folk sociology“ (siehe unten zu Wacquant 2005) in chronistischer Gutgläubigkeit anzuschließen. In einer Art Sonderstellung ist eine Soziologie der Praxis somit insgesamt zu einer mindestens zweifachen Vorsicht gegenüber Wissen über Gesellschaft angehalten: „Zum einen wendet sie sich gegen die herrschenden Konventionen des wissenschaftlichen Feldes der Soziologie und zum anderen möchte sie es ebenso entschieden vermeiden, der Spontansoziologie des Alltags unreflektiert zu folgen“ (Hillebrandt 2014, S. 28). Ausdrücklich spricht Hirschauer (2008a) vom „wissenden Körper“: „Die alte wissenssoziologische Frage, wer etwas weiß (welche Trägerschaft, Experten/Laien, Lehrer/Schüler), wird verdrängt durch die konstitutionstheoretische Frage, wie etwas überhaupt gewusst wird?“ (S. 978). In einem praxistheoretischen Wissensverständnis stehen für Wissen keine klaren „Container“ mehr zur Verfügung wie in Texten oder wie im „Kopf des Gelehrten“. In Bezug auf Wissen sei der Körper darüber hinaus als ein Kommunikationsmedium zu begreifen (vgl. ebd.). Es handelt sich bei dem hier fokussierten Wissen um eines, das sich zeigt oder gezeigt wird, um ein visuell verfasstes Wissen, „das der Körper prozessiert“, in einem Zeigen, einer Verkörperung und deren „nicht-sprachliche[n] Zeichensysteme[n]: Kleidung, Haltung, Gestik, Mimik und Blick“ (ebd., S. 979). Wie im Kapitel zur Methode dargestellt werden soll, werden Zeigen und Verkörperung im Kontext dieser Studie im Rahmen der dichten Beschreibung, die zur methodischen Grundausstattung der ethnografischen Feldarbeit gehört, eingeholt. In diesem Kontext wird ein besonderes Augenmerk im Übrigen spezifischen Arten des Verfassens ethnografischer Feldnotizen geschenkt: So wird zum einen in Anlehnung an Alkemeyer (2007) die Nutzbarmachung literarischer Formen im Sinn eines wissenschaftlichen „Landgewinns“ diskutiert. Dabei gehe ich auf die Vorzüge eines spezifischen Schreibstils im Interesse einer Erschließung von Sinn ein, der sich in seiner Komplexität zu Teilen einer vollkommen unmittelbaren Versprachlichung verschließt. Hirschauers Kritik an einer Soziologie, die den Körper vernachlässigt, ist besonders grundlegend: „Der Körper ist die Grundausstattung jedes Zugangs zur Welt. Alles Wissen“, so konstatiert der Autor, „ist körperlich vermittelt“ (Hirschauer 2008a, S. 977). Ein praxistheoretischer Wissensbegriff ziele demnach auf vorsprachliche Kompetenzen (vgl. die „skillful performances“ bei Reckwitz, siehe oben), „denen gegenüber das auskunftsfähige Wissen nur eine Restgröße darstellt“ (ebd.). Dementsprechend ist der Umgang mit verbalen Daten in der vorliegenden Studie einer, aus dem sich Anregung und ethnografische ‚Fährtenlegung‘ speisen, keinesfalls aber vollum-

2. T HEORETISCHE F UNDIERUNG

| 27

fänglich die schlussendliche Analyse: Was TeilnehmerInnen zu berichten haben oder in schriftlichen Dokumentationen relevant machen, ist der Auseinandersetzung jederzeit ein wichtiges Datum, unterliegt notwendigerweise aber der Rückbindung an und der Bereicherung durch Beobachtungsdaten und Brüchen mit den TeilnehmerInnenkonstruktionen. Im Rückblick auf die Feldarbeit, die hinter mir liegt, sehe ich im Übrigen mitunter einen konstruktiven Nutzen in der gezielt kontrastierenden Gegenüberstellung von verbal Artikuliertem und jenen Daten, die aus der umfassenden Beobachtung performierender, wissender Körper hervorgingen. In voller Konsequenz betreffen die aufgeführten Punkte freilich auch die Körper der WissenschaftlerInnen in ethnografischen Forschungsprozessen selbst: Der Körper als ausgewiesenes Forschungssubjekt gestattet demnach ein doing sociology, das dezidiert nicht die Auffassung vertritt, dass zu Forschungsgegenständen „neutrale“ Haltungen eingenommen werden sollten: Vielmehr ist der Körper als Speicher von Wissen und Erfahrungen unbedingt ernst zu nehmen, so dass Forschungsprozesse die Anerkennung leiblich-affektiver Stellungnahmen inkludieren, die sich technisch im Übrigen ohnehin nicht einfach „ausblenden“ lassen. Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt werden insofern gezielt zusammengeführt und nicht als grundlegend voneinander getrennte Entitäten gedacht. Interessant werden insofern besonders jene Momente, in denen sich der Körper „deutlich zu Wort meldet“. Die „Stellungnahmen“ begleiten und formen die wissenschaftliche Erkenntnisbildung in Sympathien oder auch in Episoden, in denen Widerstand empfunden wird (vgl. zu sämtlichen Punkten Gugutzer 2006, S. 38f.). Plädiert werden muss insofern dafür, „dass der/die Forscher/in eine selbst-bewusste, aufmerksame und selbstreflexive Hinwendung zu den eigenen leiblich-affektiven Empfindungen in der konkreten Forschungspraxis vorzunehmen habe“ (ebd., S. 39). Im ethnografischen Schreiben war es mein Anliegen, mir selbst recht akribisch jene Episoden ausgeprägter Unlust zu schildern, die mich als Insider – paradoxerweise – auffällig oft unmittelbar vor dem Aufsuchen von Noise-Konzerten befielen. Diese Episoden, die mir mitunter zunächst überflüssig und psychologisierend erschienen, waren mir schlussendlich analytisch z.B. ein Wegweiser zur Rolle des Ertragens, die im Kapitel zu Distinktion und Hörkompetenz relevant wird: zum Aufsuchen und Verbleiben entgegen manchmal starker „innerer“ Widerstände, die sich freilich stets in Form körperlicher Widerstände äußerten.

28 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

2.2 P ERSPEKTIVEN (ANT)

M USIK

DER

UND

L ÄRM

A KTEUR -N ETZWERK -T HEORIE

Reckwitz (2002) adressiert die „symmetrische Anthropologie“ Bruno Latours als ein Konzept, das den Theorien sozialer Praxis mindestens verwandt und daher an diese anschlussfähig ist (vgl. S. 207ff.). Von Latour (1996) geprägt wurde der Begriff der „Interobjektivität“, der den Anspruch vertritt, sozialer Interaktion über die leibliche Kopräsenz hinweg gerecht zu werden. Beklagt wird durch den Autor in Hinblick auf die Soziologie eine Konstitution ihrer selbst bar einer Anerkennung von Objekten, die von ihr schlicht als Fetische begriffen würden, die lediglich animiert würden durch „our belief, the social life that we project into them“ (vgl. S. 236). Die Latour’sche Perspektive distanziert sich von einem Blick, der materielle Entitäten lediglich als Objekte zur Interpretation, nicht aber als „things to be handled“ thematisiert: „The central concept of [Latour’s] alternative outlook is that of a ‚network‘ or a practice and that of a ‚nature/culture’ […]. […] Social networks and practices in their historical variability consist not only of human beings and their ‚intersubjective‘ relationships, but also simultaneously of non-human ‚actants‘, things that are necessary and are so-to-speak ‚equal‘ components of social practice“ (Reckwitz 2002, S. 208).

Durchaus in diesem Sinn argumentiert Hirschauer (2004), dass „Sachtechnik“ und „Körpertechnik“ in der Praxis amalgamieren: Technologien konstituieren Interaktionsmuster (vgl. S. 79). Der Autor thematisiert grundlegend das Verhältnis zwischen Nutzer und Artefakt. Die Praxis, heißt es dabei, bestehe „aus der technischen Konditionierung von Handlungen durch das Artefakt“ (ebd.). Im Übrigen nutze ich den Artefaktbegriff der ANT, der gegenüber der Rede von bloßen „Objekten“ spezifische Formen der Involviertheit impliziert. Dazu Callon (2006) exemplarisch: „Artefakte sind nicht die rätselhaften und unnahbaren Objekte, auf die sie oft reduziert werden. Wenn sie in Kontakt mit ihren Benutzern kommen, werden sie von einer Welle von Texten getragen, welche die Klippen der Textualisierung bezeugen, die ihr Design und ihre Verschiebung begleiten […]. Technische Objekte definieren und verteilen auf diese Art mehr oder weniger die Rollen an Menschen und Nicht-Menschen. Wie Texte verknüp fen sie in Netzwerken Entitäten in einer Art und Weise miteinander, die dekodiert werden kann“ (S. 316).

2. T HEORETISCHE F UNDIERUNG

| 29

Bedeutsam ist das Artefaktverständnis der ANT heuristisch z.B. in Hinblick auf jene „soziomateriellen companionships“, die ich im Zusammenhang mit Noisetypischen Klang-Raum-Körper-Arrangements beschreibe (siebtes Kapitel). Aufmerksamkeit zu schenken ist darüber hinaus der soziomateriellen Performativität flüchtiger, sich wandelnder Phänomene (vgl. Orlikowski 2007, S. 1445). So vertreten etwa Law und Urry (2004) eine Anerkennung der Flüchtigkeit sozialer Phänomene unter den Gegebenheiten einer fortschreitenden Globalisierung: Es sei Aufgabe der Sozialwissenschaften, deren Geburtsstunde schließlich noch das 19. Jahrhundert gewesen sei, mit der veränderten „sozialen Realität“ Schritt zu halten: „So-called ‚globalization‘ means that the phenomena (including the horrors) of the social sciences are less about territorial boundaries and states and more about connection and flow“ (S. 403). Ein gegenwärtiges Verständnis des Sozialen müsse vielmehr die zunehmende Bedeutung vergänglicher, flüchtiger und geografisch verteilter Phänomene beachten. Das Argument der Autoren ist schlussendlich ein methodologisches, das zu einer gesteigerten Sensibilität gegenüber Komplexität und Flüchtigkeit aufruft, der mit einer dezidierten „Mobilität“ zu begegnen sei (vgl. ebd., S. 403f.). Eine Konsequenz daraus für die vorliegende Studie ist eine Anerkennung der Multisituiertheit sozialer Praktiken, die im Abschnitt zur Methode diskutiert werden soll und analytisch z.B. im Kapitel zur Kollektivität relevant wird.

2.3 E THNOMETHODOLOGISCHE ANSÄTZE Folgt man Wieser (2012), so birgt Latours Verortung der Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Algirdas Julien Greimas und Harold Garfinkel im Zuge einer immanenten Kritik direkte methodische Implikationen: „‚Greimas‘ und ‚Garfinkel‘ stehen [bei Latour – d. Verf.] für die Verbindung der amerikanischen und der französischen Strukturalismuskritik, welche die ANT betreibt – das ist das theoretische Argument. Das methodische Argument ist das […] ‚Anzapfen‘ der inneren Reflexivität mündlicher wie schriftlicher Aussagen. Garfinkel und Greimas stehen somit stellvertretend für die zwei methodischen Prinzipien von Latours Studien: die Ethnografie und die Textexegese. Sie stehen stellvertretend für das Interesse an Praktiken und Inskriptionen“ (S. 136f.).

Grundlegend grenzt sich bereits die Ethnomethodologie von einer Vorstellung ab, Bedeutung in Köpfen oder im Bewusstsein zu verorten. Das Verständnis von

30 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Bedeutung und Sinn in Ethnomethodologie und Konversationsanalyse schließlich fußt auf der Fokussierung von „vocal and nonvocal behavioral displays“ (Maynard/Clayman 2003, S. 173f.) gegenüber – und das wird rigide abgelehnt – der Referenz auf internalisierte Werte, Regeln, Attitüden usw.: „Both [ethnomethodology] and [conversational analysis] are concerned with the methods and practices whereby participants in talk, action, and social interaction – who are ‚communicating‘ with one another by the use of symbols and language – manage their joint affairs“ (ebd., S. 174). Nicht zwingend muss man sich in Hinblick auf die Ethnomethodologie, für die Garfinkel schließlich steht, konsequent deren methodischer Fortentwicklung und Anwendung in der Konversationsanalyse zuwenden, um grundlegend die Auffassung zu teilen, dass soziale Ordnung in „alltäglichen Praktiken, in practical accomplishments“ hergestellt wird: „Soziale Ordnung ist dann nicht, wie bei Parsons und Durkheim, durch Normen und Regeln, welche das Handeln bestimmen, charakterisiert“ (Wieser 2012, S. 138). Entgegen einer solchen Annahme sei vielmehr auf einer „Konkretheit sozialer Tatsachen“ zu beharren, „die durch komplexe soziale Praktiken produziert werden, welche wiederum von Teilnehmern sozialer Ordnung enacted (aufgeführt/erlassen) werden“ (ebd.). Grundlegend interessiert sich die Garfinkel’sche Perspektive für die „rule-governed activities of everyday life“ (vgl. Garfinkel 1967, S. 35); der Autor plädiert also gleichsam für eine Wiederentdeckung alltäglicher Aktivitäten als Gegenstand von Sozialforschung und richtet damit den Blick auf die Frage: Was trägt in diesen alltäglichen Situationen, um die es geht, zu Stabilität bei? Wie wird Stabilität ‚gemacht‘ und gewährleistet? Von ausgewiesenem Interesse sind hierbei die „the socially standardized and standardizing, ‚seen but unnoticed‘, expected background features of everyday scenes“ (ebd., S. 36). Weil diese Eigenschaften also gesehen, aber nicht explizit erkannt werden, bringt es nach dieser Auffassung nichts, soziale Akteure über die Praktiken, in die sie eingebunden sind, zu befragen: Um etwas über den Alltag herauszufinden, muss man dem gewöhnlichen Leben tendenziell ein „Fremder“ werden oder sich ihm gegenüber zumindest durch Zuhilfenahme spezifischer Techniken befremden. Der ethnografischen Perspektive auf den Gegenstandsbereich hilft der ethnomethodologische Blick, indem Ordnungsbildungen in situ in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rücken. Auch der Aspekt der notwendigen Befremdung wird aufgegriffen. Hierzu findet sich im Kapitel zur Methode zum einen eine forschungsstrategische Diskussion um „going native“ und „coming home“ sowie eine Darstellung des „minimalen und maximalen Vergleichs“ als Befremdungstechnik im Feld.

2. T HEORETISCHE F UNDIERUNG

2.4 Z UM V ERHÄLTNIS

VON

T HEORIE

UND

| 31

E MPIRIE

Einer dualistischen Polarität von Theorie und Empirie entschieden entgegengesetzt, argumentiert Hirschauer (2008b) eine Theoriegeladenheit aller Beobachtung sowie gleichfalls eine Empiriegeladenheit von Theorien, die ihrerseits die oftmals spezifische Fallbezogenheit von Theoriebildung adressiert (vgl. S. 169). Einer „betulich anmutende[n] Treue zu den Teilnehmerkonstruktionen“ (S. 166) gegenüber kritisiert der Autor entschieden jene Genres von Ethnografie, die den Textpositivismus gleichermaßen umfassen wie die Absicht, einen insiderhaften oder lebensechten „Bericht vom Standpunkt des Eingeborenen“ zu verfassen (vgl. S. 166f.). Die Unabdingbarkeit einer Verzahnung von Theorie und Beobachtung entfaltet sich einerseits in einer theoretischen Optik, die eine notwendige Strukturierung von Erfahrungen gewährleistet; andererseits ist die Rede von einer empirischen „Hintergrundbeleuchtung“, „in deren Licht eine verallgemeinernde Aussage erst zu einer sinnhaltigen Aussage wird“ (ebd., S. 171). In einem konsequent praxissoziologischen Verständnis jener Nonpolarität von Theorie und Empirie ist dem hinzuzufügen, dass empirischem Material grundlegend das Potenzial innewohnt, Theoriebestände in Frage zu stellen. Schmidt (2012) zufolge soll Theorie im Sinn praxissoziologischer Forschung ohnehin „so gebaut sein, dass sie sich vom Empirischen fortlaufend verunsichern, irritieren und revidieren lässt“ (S. 31). Dementsprechend ist festzustellen: „Ein scholastisches Theorieprinzip, das ausschließlich an der logischen Konsistenz und hermetischen Schlüssigkeit der Theoriebildung interessiert ist“, wird in den soziologischen Praxistheorien grundsätzlich abgelehnt (Hillebrandt 2014, S. 117). Obgleich sich der Theoriezweig allgemein spezifischer Axiome bedient, die beispielsweise Materialität, Körper und Sinn betreffen, vermag die Praxistheorie keine „ahistorische Gültigkeit“ ihrer Perspektiven zu beanspruchen: Begriffen werden muss sie vielmehr als in permanenter Weiterentwicklung begriffen (vgl. ebd.). Aufgrund dieser Vorgehensweise werden Theorie und empirische Methoden unbedingt als eng miteinander verwoben aufgefasst: „Eine soziologische Theorie ist in der Praxisforschung nie ohne empirische Arbeit möglich und umgekehrt ist die empirische Arbeit nur mit Hilfe eines theoretischen Instrumentariums zur Bestimmung dessen, was untersucht werden soll, möglich“ (ebd., S. 118). Zu betonen ist in diesem Zusammenhang mit einiger Bestimmtheit, dass Studien der kulturellen Praxis „nicht als bloße Erzählungen verstanden werden [können], die ohne soziologische Ansprüche vorgenommen werden“. Die Anleitung der Forschung durch Theorien ist als essenziell zu betrachten, „weil nur Theorien, die es ermöglichen,

32 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

die Alltagspraxis methodisch zu reflektieren, sicherstellen, dass sich das durch Praxisforschung gewonnene Wissen vom alltäglichen Wissen über die soziale Welt unterscheiden kann“ (ebd., S. 24).

3. Methode

Die soziologische Ethnografie hat mit ihrer charakteristischen, durch und durch buchstäblichen Nähe zu ihren Forschungsgegenständen eine lange Tradition, die zentral auf die Arbeit der Chicago School in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreicht (vgl. Musolf 2003). Robert E. Park formulierte folgendermaßen die Notwendigkeit zur Vertiefung gegenüber einem bloßen Theoretisieren: „Go and sit in the lounges of the luxury hotels and on the doorsteps of the flop houses; sit on the Gold Coast settees and on the slum shakedowns; sit in the Orchestra Hall and in the Star and Gartler Burlesk. In short, gentlemen, go get the seats of your pants dirty in real research“ (Hammersley 1990, S. 76, zitiert nach Musolf 2003, S. 93).

In das von Park formulierte forschungspraktische Credo stimme ich im Rahmen meiner eigenen Studie mit ein: Die zugrundeliegende Methode meiner Arbeit ist eine ethnografische Vorgehensweise, die Modi der Beobachtung gegenüber anderen Formen der Datengenerierung eindeutig priorisierte. Es war die Vorgehensweise der Chicagoer Soziologie, „firsthand inquiry“, also Erhebungen aus erster Hand, mit allgemeinen Ideen zu verknüpfen (vgl. Musolf 2003, S. 92), mit dem ausgewiesenen Ziel „to understand the relations among specific actors in circumscribed times and places“ (Tomasi 1998, S. 2, zitiert nach Musolf 2003, S. 92). Mit dem Verweis auf „allgemeinen Ideen“ ist die Anschlussfähigkeit des gewonnenen Materials an eine theoretische Rahmung gemeint, um das Beobachtete nicht nur beschreiben, sondern letztlich verstehen zu können. Schwerpunktmäßige Ausdifferenzierungen ethnografischer Sozialforschung (wie die sinnliche Ethnografie oder die „at-home ethnography“) werden auf den kommenden Seiten punktuell in Hinsicht auf ihre Relevanz für meine Studie angerissen.

34 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Im Grunde genommen ist ein doing ethnography (vgl. Geertz 1973a, S. 5f., sowie Gobo 2008) im Sinn sozialwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion nach wie vor dem Zusammenspiel von Konkretem und Allgemeinem verpflichtet. Befunde der vorliegenden Studie sind im Sinn der Ethnografie für das beforschte Feld nicht im Sinn einer Idealvorstellung von Repräsentation zu denken, sondern sie sind für das Feld typisch: So ist die Ethnografie „in ihrer Abkehr von der Idee der Repräsentation“ ohnehin „nicht mehr in der Pflicht, Narrative der Reproduzierbarkeit zu reproduzieren“ (Dellwing/Prus 2012, S. 169). Vielmehr eröffnet meine Untersuchung den Blick auf ein Spektrum beobachtbarer Charakteristika, die in analytischen Zuspitzungen implikationsreiche Schlüsse für den Fall insgesamt und besonders auch für das doing sound (siehe Kapitel 4) allgemein nahelegen. Reckwitz (2003) zufolge leiten Praxistheorien „einen quasi-ethnologischen Blick auf die Mikrologik des Sozialen an“. Ethnografie und dichte Beschreibung (siehe unten) seien daher nicht zufällig „eine bevorzugte Forschungsmethode“, die einen „quasi-ethnologischen Blick auf die ‚Fremdheit‘, die Kontingenz des scheinbar Selbstverständlichen wie auch auf die implizite Logik des scheinbar Fremden“ gewähre (S. 298).

3.1 M ODUS

DER

F ELDTEILNAHME 1

Die Phase der Datengenerierung umfasste für die vorliegende Studie einen Zeitraum von insgesamt gut drei Jahren: Der hauptsächliche Teil der Beobachtungen wurde zwischen Juni 2012 und August 2015 durchgeführt. Vornehmlich wurden Daten im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen in Konzertsituationen sowie während der Produktion von Musik in isolierten Improvisations- und Aufnahmesettings zusammengetragen. Darüber hinaus wurde dem Hören von Tonträgern, der Auseinandersetzung mit einschlägigen Booklets, Videos, Bildern und Texten, dem Führen flüchtiger Gespräche sowie dem Verfolgen relevanter Online-Debatten eine zentrale Bedeutung im Forschungsprozess beigemessen. Ziel war es in diesem Zusammenhang, über die unmittelbaren Beobachtungssituationen hinaus den Relevanzen, die das Feld in seiner alltäglichen Praxis in multisituierter Weise setzt, nachzuspüren: Somit ist die Verschriftlichung von Klang- und Hörerfahrung ebenso wie die Auseinandersetzung mit Dokumenten, Texten etc. als ein entscheidender Teil ethnografischer Forschungspraxis in Beschreibungen und Analysen aufzufassen (vgl. hierzu Pink 2009, S. 47f.).

1

Das Unterkapitel greift Material aus Ginkel (2015) auf.

3. M ETHODE

| 35

Persönlich war ich dem Feld über den Zeitraum des gesamten Forschungsprozesses hinweg in eigener künstlerischer Aktivität verbunden. Die Anfänge dieses Engagements reichen zurück in das Jahr 2003, so dass ich an den Prakti ken des Feldes schon etliche Jahre vor Beginn meines Dissertationsprojekts aktiv partizipierte. In Hinblick auf Noise-spezifische Modi der Klangerzeugung und -verfremdung sowie den dazugehörigen Umgang mit Instrumenten und relevanter Software bestand somit längst eine praktische Vertrautheit. Man kann also sagen, dass ich von meinem Feld schon vor Beginn der nun abgeschlossenen Studie durch und durch sozialisiert wurde: dass mir Erfahrungsmodi daher bei Forschungsbeginn schon intuitiv vertraut waren oder dass sich etwa Repertoires körperlicher Performance im schleichenden Prozess der Habitualisierung bzw. Inkorporierung in meinen Körper eingeschrieben hatten (vgl. etwa Bourdieu 1997, S. 177ff.2). Meiner späteren Feldarbeit voraus ging im Übrigen ein musikjournalistisches Engagement für das deutsche Musik- und Kulturmagazin Spex: Hier schrieb ich in den Jahren 2007 bis 2009 die monatliche Kolumne Geräuschmusik, die der Auseinandersetzung mit neuen Veröffentlichungen und aktuellen Entwicklungen im Kontext von Noise und artverwandten Formen der Klangkunst gewidmet war. Im Unterkapitel 3.7. „Going native“ versus „coming home“ will ich mich mit meiner Rolle im Feld und den damit einhergehenden Implikationen selbstreflexiv auseinandersetzen. Gewertet werden muss der Modus meiner Feldbeteiligung als entscheidender Teil der ethnografischen Erschließung selbst: Die forschende Arbeit aus der teilnehmenden Mitte des Feldes heraus erwies sich für die Studie als konstitutiv und gibt ihr eine autobiographische Note. Entsprechend einer Typologie von membership roles in qualitativer Feldforschung nach Adler & Adler (1987) entspricht meiner Präsenz innerhalb des Feldes der Status einer vollständigen Mitgliedschaft: „The complete membership role entails the greatest commitment on the part of the researcher. Rather than experiencing mere participatory involvement, complete-member-researchers (CMRs) immerse themselves fully in the group as ‚natives‘. They and their sub-

2

Bourdieu (1997) schreibt hier etwa zum praktischen Sinn: „Die von ihm aktualisierten Dispositionen resultieren aus einer durch die Erziehung bewirkten dauerhaften Modifikation der Körper; sie bleiben so lange unbemerkt, wie sie nicht agieren, ja, darüber hinaus: so selbstverständlich, da erforderlich und unmittelbar situationsgerecht erscheinen sie“ (S. 178).

36 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

jects relate to each other as status equals, dedicated to sharing in a common set of experiences, feelings, and goals“ (S. 67).

Die opportunistisc complete membership bildet in diesem Kontext einen Subtypus, der für meine Teilnahme relevant ist: „[R]esearchers study settings in which they are already members“ (ebd., S. 68). Die Vertiefung meiner Feldteilnahme erweist sich als günstig für eine praxeografische Vorgehensweise: Die Praxeografie, so betonen etwa Beck et al. (2012), lege grundlegend Wert darauf, „dass sie selbst immer notwendig Teil der Praxis ist, in der das zu untersuchende Phänomen produziert wird“ (S. 21). Im Sinn einer „beobachtenden Teilnahme“ (vgl. Wacquant 2011, S. S. 87) eröffnet die besonders tief involvierte Partizipation an den Praktiken des Feldes zudem Anschluss an die Vorzüge der „carnal ethnography“ nach Loïc Wacquant, die Hegner (2013) zufolge eine Privilegierung von Sinneswahrnehmungen jenseits eines „Okularzentrismus“ gestatten: „In besonderer Weise scheint die leibliche Ethnografie mit einer Ethnografie der Sinne zusammenzugehen. Empfindungen jenseits des Auges werden hier verstärkt zum Thema“ (Abs. 39). Meine Beschäftigung mit Noise schließt dementsprechend an gegenwärtige Debatten an, die unter dem Schlagwort einer „Ethnografie der Sinne“ firmieren (vgl. Pink 2009, Arantes/Rieger 2014). Obgleich dem Hören gegenüber dem Sehen grundlegend also eine gesteigerte Rolle zukommt, wird im Folgenden trotzdem auf untrennbar miteinander verschränkte „Bündel“ der Herstellung von Klangerfahrung rekurriert: Keinesfalls soll eine Anerkennung des Hörens als zentraler Zugang zur Datengenerierung schließlich dazu verleiten, beispielsweise für die räumliche und körperliche Konstitution jener Erfahrung sprichwörtlich blind zu werden. Die Synästhesie weiß davon: Wo gehört wird, wird auch visuell – und darüber hinaus anderweitig über sämtliche Sinne – wahrgenommen. Mehr noch, bisweilen ist ein „tatsächliches“ Hören im Noise-Kontext sogar geradezu ein Ding der Unmöglichkeit bzw. zumindest zweitrangig: Das Label Raster Noton, allgemein der experimentellen Sound Art verbunden, klanglich durch TeilnehmerInnen oft dem Noise zugerechnet, verweist im Booklet der CD Test Pattern des japanischen Künstlers Ryoji Ikeda darauf, dass es sich bei dem Tonträger um eine – will man dem Hinweis Glauben schenken – handfeste Gefahrenquelle handelt: „‚Caution!‘ This CD contains specific waveform, impulse and burst data that perform a response test for loudspeakers and headphones. High volume listening of the last track may cause damage to equipment and eardrums“ (Ikeda 2008). Eine Hörerfahrung bei hoher Lautstärke, wie sie im Noise üblich ist, wird hier also gegebenenfalls nicht einmal unternommen. Vielmehr wird sie durch Künstler und Label angedroht

3. M ETHODE

| 37

und durch HörerInnen vorrangig imaginiert (z.B. als ungewöhnlich oder gar gefährlich). Wenngleich hierbei also vielleicht gar kein „echtes“ Hören stattfindet, ist die Beschäftigung mit Test Pattern ein ethnografischer Glücksfall und legt Praktiken des Feldes offen, die das Hören referenzieren bzw. tangieren, aber nicht einmal unbedingt direkt inkludieren. Als Extremfall berührt Test Pattern mehrere Aspekte, die im Folgenden argumentativ eine tragende Rolle spielen sollen: die Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“ (siehe fünftes Kapitel) beispielsweise, die als Raum- und Körperordnung in situ das distinguierende Spiel mit Erträglichkeit und Unerträglichkeit von Klang betrifft.

3.2 D ATENKORPUS

DER

S TUDIE

Flick (2011) postuliert für die nichtstandardisierte qualitative Sozialforschung ein enges Verhältnis zwischen dem Verfassen von Feldnotizen und der Suche nach Erklärungen (vgl. S. 55). In offener Anlehnung an die Grounded Theory fasst der Autor zusammen: „The aim is to do empirical research in order to use the data and their analysis to develop a theory of the issue under study. Thus the ory is not a starting point for research, but rather the intended outcome of the study“ (ebd.). Die Dokumentation von Feldnotizen erfolgte für die vorliegende Studie im Sinn der dichten Beschreibung nach Clifford Geertz (1973a), der folgendermaßen argumentiert: „Culture is public because meaning is. You can’t wink (or burlesque one) without knowing what counts as winking or how, physically, to contract your eyelids, and you can’t conduct a sheep raid (or mimic one) without knowing what it is to steal a sheep and how practic ally to go about it. But to draw from such truths the conclusion that knowing how to wink is winking and knowing how to steal a sheep is sheep raiding is to betray as deep a confu sion as, taking thin description for thick, to identify winking with eyelid contractions or sheep raiding with chasing wooly animals out of pastures“ (ebd., S. 12).

Bedeutung und Wissen müssen insofern, folgt man Geertz, auch für Noise als öffentlich zirkulierend begriffen werden. In Konzertkontexten versammeln sich in zeitlich begrenzten Situationen relevante Körper und Artefakte, findet Sinn konstituierender Austausch statt, wird Klangerfahrung nicht zuletzt auch räumlich hergestellt. In erster Linie also umfassen meine Feldnotizen Verschriftlichungen öffentlicher Konzertveranstaltungen, die per se einen reichen Fundus an Beobachtungsmöglichkeiten offerierten: Performative Repertoires waren hier sowohl

38 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

auf Seite der KünstlerInnen als auch auf der des Publikums in ungezwungener Art öffentlich und somit per Beobachtung einholbar. 3 In einer konsequenten Anerkennung der Öffentlichkeit sozialer Praktiken (vgl. Lynch 1997) war es mein Ziel, in der Beforschung des Feldes jedenfalls zu einem beträchtlichen Teil solche Orte und Situationen aufzusuchen, die einem interessierten Publikum in niederschwelliger Weise zugänglich waren. Anwesend war ich in den meisten der beobachteten Konzertsituationen übrigens als zahlender Besucher ohne eine bemerkenswerte Sonderstellung gegenüber anderen Gästen. Freilich ist stets darauf hinzuweisen, „dass ‚Sichtbarkeit‘ und Öffentlichkeit nicht zusammenfallen und nicht gleichgesetzt werden dürfen“ (Schmidt/Volbers 2011, S. 29). Hier wird die Rolle von Artefakten virulent, die in der vorange gangenen Argumentation durch den Bezug auf die Akteur-Netzwerk-Theorie geebnet wurde: „Die geteilte Aufmerksamkeit wird nicht durch die Kopräsenz von Teilnehmerinnen gestiftet, sondern mit Hilfe von Artefakten und Praktiken über die Zeit hinweg. Da diese auf den Kontext und die Funktionen hindeuten, für die sie geschaffen wurden, verweisen sie zugleich auch auf die Teilnehmer, derer sie sich bedienen“ (ebd., S. 30). Von forschungspraktischer Relevanz war jener Aspekt im Zuge meiner Feldphase z.B. beim Hören von Tonträgern, beim Bedienen von Instrumenten, beim Lesen einschlägiger Texte, während gemeinsamer „Sessions“ usw. Es war im Übrigen stets Teil meiner Vorgehensweise, das Feld im Sinn einer opportunistischen Spontaneität aufzusuchen: Im Zeitraum der Datengenerierung wurden meinerseits nach Möglichkeit all jene Konzerte im Raum Wien und Frankfurt am Main sowie zuweilen in Berlin besucht, die mir im Sinn einer umfassenden Erschließung relevant erschienen. Leiten ließ ich mich dabei ganz von der Fährtenlegung des Feldes: Wann immer mir über Vernetzungen in sozialen Medien – über Twitter, Soundcloud, Magazine, mitunter auch Facebook – erreichbare Veranstaltungen unterkamen oder mir von Bekannten innerhalb des Feldes solche empfohlen wurden, tat ich mein Bestes, vor Ort zu sein. Zwischen Juni 2012 und August 2015 wurden meinerseits Beobachtungsprotokolle zu Konzerten (und mitunter auch Installationen oder anderweitigen Aufführungen) folgender KünstlerInnen, Bands und Projekte aus den eng verwandten, einander überlappenden und stilistisch oftmals hybriden Bereichen von Noise, Klangkunst, Ambient-Drone und der experimentellen Musik verfasst:

3

Wörtliche Rede in meinen Beschreibungen geht im Übrigen im Regelfall auf Gedächtnisprotokolle zurück. Es handelt sich um möglichst originalgetreue Paraphrasen.

3. M ETHODE

| 39

Zbigniew Karkowski, Christian Fennesz mit Burkhard Stangl, C.C. Hennix, Esther Urlus, Joost Rekveld, Makino Takashi und Telcosystems, Philip Jeck, Thomas Ankersmit, Phill Niblock, Daina Dieva, Bruzgynai, Oorchach, Ex cepter, Nadja, Pete Swanson, Jung an Tagen, Marta Zapparoli, Johannes Muik, Oren Ambarchi, Heavy Listening, Asfast, Esther Urlus, Martijn van Boven, Gert-Jan Prins, Spire (Projekt von Charles Matthews und Mike Har ding), Morton Subotnik mit Lillevan, Circuitnoise, Patrick Bessler, Phober, Dario Sanfilipo sowie Katharina Ernst und Kazuhisa Uchihashi. Zum Zweck des minimalen und maximalen Vergleichs (siehe unten) wurden in gezielten Kontrastierungen meinerseits episodisch zudem ausgewählte Konzerte aus den Bereichen Death Metal (Bolt Thrower), Rap (Dälek, Remi) sowie der Orchestermusik (Wiener Symphoniker mit Grubinger und Vänskä: Werke von Arvo Pärt, Kalevi Aho und Jean Sibelius) aufgesucht und in Beschreibungen dokumentiert. Der Datenkorpus umfasst insgesamt circa 300 Seiten „Rohnotizen“. Aus diesen Notizen zitiere ich im nachfolgenden Verlauf der Schrift in ausgewählten Episoden, die Argumentationspunkte anzeigen, illustrieren und bereichern sollen. Den ursprünglichen Texten gegenüber wähle ich dabei eine quasi-dialogische Form: Analysen gehen über den ersten Schritt der ethnografischen Dokumentation hinaus, und zugleich enthalten Feldnotizen solche Zuspitzungen, die der analytische Stil allein nicht abdecken kann. Zielsetzung dieser Form ist etwa die gezielte analytische Durchdringung von Selbstverständlichkeiten. Gekennzeichnet und eingeleitet werden die Feldepisoden stets mit dem Hinweis: „Auszug aus den Feldnotizen“. Neben den Konzertbesuchen war eine wichtige Station der Beobachtung mein mehrjähriger Austausch mit dem Noise- und Experimentalmusiker Stephan Dragesser, mit dem ich über den Zeitraum meiner Datengenerierung etwa zehn gemeinsame „Sessions“, das heißt improvisatorisch ausgerichtete Produktionsund Aufnahmesitzungen abhalten durfte. Mit Stephan spielte ich zudem ein DuoKonzert in einer einschlägigen Veranstaltungsreihe, das meinerseits ausführlich verschriftlicht wurde und für das die vorangegangenen Sessions schlussendlich als Proben, als ein gemeinsames Sich-Einspielen bei geteilter Aus- und Weiterbildung improvisatorischer Fertigkeiten fungierten. Eine weitere künstlerische Kollaboration, die einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen der vorliegenden Studie leistete, war das gemeinsame Musizieren mit den Jazz- und Improvisationsmusikern Piotr Zabrodski (Bass) und Piotr Łyszkiewicz (Saxofon) im Rahmen eines gemeinsam Konzerts und mehrerer gemeinsamer Aufnahmesessions

40 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

über den Zeitraum von zwei Tagen. Das Zusammenspiel mit Stephan, Piotr Z. und Piotr Ł. gewährte mir Einsichten in Aspekte der Vor- und Nachbereitung, der Improvisation und interaktiven Ordnungsbildung, die der Studie durch die bloße Konzertbeobachtung „von außen“ in der somit erfahrenen Breite und Tiefe verwehrt geblieben wären. Wie sich zeigen wird, greift meine Studie wiederholt auch auf die Humorbestände der Gegenstandskultur zurück, beispielsweise in Form von zirkulierenden Cartoons, gezielt überspitzten Äußerungen oder ironisierten Beschreibungen auf Online-Message-Boards. Humor muss in einem soziologischen Verständnis immer referenziell gedacht werden. Verwandt ist er der dichten Beschreibung in Hinblick auf ein Offenlegen des Impliziten. Wie Fine und de Soucey (2005) argumentieren, geht etwa das Dekodieren humoristischer Metaphern einher mit einem Dekodieren von Sinnstrukturen desjenigen sozialen „Systems“, in das der Humor eingebettet ist (vgl. S. 4): „Joking presumes that the parties involved share references – their idioculture – by which they make sense of the implicit meanings of this jocular interaction“ (S. 3f.). Die Autoren stellen fest, dass zur Herausbildung sozialer Gruppen häufig die Herausbildung komischer, humoresker Themen gehört, auf die im Folgenden rekurriert werden kann (vgl. ebd., S. 1). Etwas wie „Szenehumor“ mag Außenstehenden idiosynkratisch oder gar vollkommen kryptisch erscheinen, stiftet schlussendlich aber Sinn und Gemeinsamkeit im Inneren der sozialen Gruppe. Relevant ist also die kollektive Dimension humoresker Praxis, denn Humor referenziert in Gruppen geläufige Verständnisse und die Geschichte sozialer Beziehungen (vgl. ebd., S. 3). Der Humor einer Subkultur oder Szene (zu den Begriffen später mehr) ist im Rahmen der vorliegen den Studie also deshalb interessant, weil sich in ihm die angesprochene Sinndimension gleichsam verdichtet. Methodisch verwende ich den kursierenden Humor demnach als Werkzeug, um TeilnehmerInnenkonstruktionen sowohl zu verdichten als auch aufzuschlüsseln. Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung performativer Repertoires auf Grundlage einer Liste von „Noise-Klischees“ aus dem Online-Forum von noiseguide.com (siehe 6.4. Performative Repertoires) oder auch die mehrfache Referenz auf den Online-Cartoon Harsh Noise Wally (siehe Kapitel 5 und 6).

3. M ETHODE

3.3 F ORSCHUNGSETHISCHE Ü BERLEGUNGEN ANONYMISIERUNG

| 41

UND

Im Folgenden will ich in aller Kürze die forschungsethischen Erwägungen schildern, die meine Feldarbeit und den anschließenden Analyseprozess begleiteten. In ethnografischer Feldarbeit stellt sich oft die Frage: Wie offen oder wie ver deckt ist der Modus der Beobachtung angelegt? Wie Dellwing und Prus (2012) betonen, handelt es sich hierbei nicht um eine Überlegung, die sich in „unrealistischen Absolutismen“ ergehen sollte (vgl. S. 126). Darüber, ob und in welchem Umfang TeilnehmerInnen über ihr Beobachtetwerden explizit in Kenntnis gesetzt werden, muss demgegenüber in einem verantwortungsvollen Abwägen zwischen ethischen und praktischen Aspekten entschieden werden (vgl. ebd., S. 126ff.). Unmittelbare Kontaktpersonen, mit denen ich situativ stark konzentriert oder über längere Zeiträume hinweg zusammenarbeitete, wurden über meine Forscherrolle in aller Regel informiert. Für kontraproduktiv hielt ich es hingegen, z.B. im Fall jener Konzerte, in die ich selbst als Musiker involviert war, das ganze Publikum über meine „Doppelrolle“ in Kenntnis zu setzen: Hier war es meiner Auffassung nach klar zu bevorzugen, mich auf die Teilnehmerrolle voll und ganz einzulassen und das Verhalten der Anwesenden nicht durch einen sonderbaren Eingriff meinerseits zu hemmen oder anderweitig irritierend zu beeinflussen: „Es befinden sich immer Personen im Feld, die nicht eingeweiht sind und in ihrem kurzen Gastspiel auch nicht eingeweiht werden können, ohne das Feld damit massiv zu stören“ (ebd., S. 129). Da es sich bei sämtlichen Konzerten, die aus Zuschauerperspektive beobachtet wurden, um öffentlich zugängliche Veranstaltungen handelte, wie sie auch von MusikkritikerInnen besucht und anschließend für Artikel verschriftlicht werden, hielt ich die Notwendigkeit zum umfassenden „Einweihen“ der Anwesenden auch hier nicht für gegeben. Abseits unmittelbar ethischer Erwägungen sah ich im Übrigen davon ab, für jede einzelne zitierte Feldnotiz explizit darzulegen, welcher Konzertveranstaltung die jeweilige Beobachtung entstammt. Manchmal zwar erschien diese Art der Kontextinformation angemessen (beispielsweise um einem Noise-kundigen Publikum, das ich mit meiner Studie neben der scientific community adressiere, neue Erkenntnisse zu vermitteln). In zahlreichen Fällen allerdings schien es mir adäquat, auf die explizite Nennung von KünstlerInnenund Projektnamen zu verzichten, auch im Sinn der Argumentation insgesamt:

42 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Schlussendlich fokussiert meine Studie die Praktiken des Feldes – gegenüber dem Werk individuell geglaubter KünstlerInnen. Gründlich anonymisiert wurden schließlich verwendete Daten in spezifischen Fällen: In Zitaten aus dem Rohmaterial wurden meinerseits Details subtil modifiziert oder ausgespart, die in Fällen, die mir heikel erschienen, die Identität Beobachteter offenlegen könnten. Dellwing und Prus halten fest: „Die ethische Frage besteht für uns nicht darin, was wie offengelegt wird, sondern darin, wer wie geschützt wird: Es handelt sich um eine Ethik der Stille“ (S. 126.). Dem schließe ich mich an. Wann nun echte durch frei gewählte Namen ersetzt wurden, ist im nachfolgenden Text nicht explizit gekennzeichnet.

3.4 P HASEN

DER

F ELDARBEIT

UND

ANALYSE

Die erste Phase der Feldarbeit war der Exploration und Inventarisierung gewidmet: Mit noch unscharfer Fragestellung, die zu diesem Zeitpunkt in einer permanenten Optimierung begriffen war, näherte ich mich Kontakten innerhalb des Feldes durch Interviews oder erzählte KollegInnen auf Plattformen wie Soundcloud von meinem Vorhaben, Noise zum Gegenstand meiner soziologischen Dissertation zu machen. Es stand zunächst das Vorhaben im Raum, Noise gleich einer informell operierenden Wissenskultur zu begreifen und hierbei zu erfassen, welche Formen von „skills“ und Wissen innerhalb des Feldes zirkulieren – ein Fokus, der sich in abschließenden Analyseschritten lautstark zurückmelden sollte. Meine empirische Arbeit begann mit vereinzelten qualitativen Interviews. Der erste Termin dieser Art verlief fruchtbar, während schon beim zweiten Zusammentreffen mit einem Künstler das, was am Rande des Interviews geschah und in einen umfangreichen Textkorpus von Feldnotizen einging, deutlich aufschlussreicher erschien als alles, was während der anderthalbstündigen Interviewsituation unmittelbar sprachlich zum Ausdruck gebracht wurde. Ein konsequentes Arbeiten mit der ethnografischen Methode schien mir nach einem weiteren Termin, der in dieser Art verlief, äußerst reizvoll und geradezu notwendig. Mit der ideellen und finanziellen Förderung durch das Institut für Höhere Studien in Wien ab Oktober 2012 begann vor diesem Hintergrund der zentrale Teil meiner Arbeit im Feld: Zum Start der Förderung fasste ich den Entschluss, den hauptsächlichen Datenkorpus meiner Untersuchung in der Tat auf Feldnotizen aus Teilnehmenden Beobachtungen zu stützen. In diesem Zeitraum war ich innerhalb meiner Gegenstandskultur so aktiv wie nie, spielte erstmals „live“ und

3. M ETHODE

| 43

veröffentlichte auf einem britischen Netlabel4 mehrere Alben und Singles, die von einem stets überschaubaren Publikum positiv rezipiert wurden. Ein entscheidender Teil meiner Feldarbeit ist insbesondere jener Zeitraum zwischen Frühjahr 2013 und Sommer 2014, in der die akademische Produktivität – in Form von Vorträgen auf Fachtagungen und Vorbereitungen erster Publikationen zum Thema – der aktiven Feldteilnahme geradezu konkurrierend gegenüberstand: Durch das hilfreiche Feedback zahlreicher FachkollegInnen wurde ich wieder und wieder auf die Notwendigkeit einer umfassenden Befremdung meiner Perspektive auf das Feld aufmerksam gemacht. Konfrontiert war ich diesbezüglich mit Rollenkonflikten: „While role immersion represents infusing the self with new dimensions, it also signifies a bifurcation of self. The complete membership role exemplifies the ultimate existential dual role“ (Adler/Adler 1987, S. 73). Das Changieren zwischen Feldperspektiven und wissenschaftlicher Analyse erschien mir zu diesem Zeitpunkt spannungsreich, mitunter mühsam, aber auch reizvoll und manchmal sogar amüsant. 5 In letzter Konsequenz gelingen sollte es schließlich in Form episodischer Teilschritte. Die letzte Phase ist dann auch – in Anlehnung an Bonz (2014, S. 246) – mit einem allmählichen „Herausfallen“ aus dem Feld zu beschreiben. Der Druck, mit meinen eigenen Feldperspektiven zugunsten soziologischer Analysen zu brechen, sorgte in dieser Phase für ein temporäres Abstandnehmen: Kontakte innerhalb des Feldes wurden von mir vergleichsweise vernachlässigt, während mein musikalischer Output im Feld fortan zumeist aus bislang ungenutztem Archivmaterial bestand, das nur mehr rudimentär aufbereitet wurde, so dass kaum krea-

4

Ein Netlabel ist eine meist sehr kleine Plattenfirma, die Musik vor allem digital und oftmals unter Creative-Commons-Lizenzen veröffentlicht, die dem strengen Copyright gegenüber ein laxeres Urheberrecht inkludieren, das eine „freie“ Verbreitung der Veröffentlichungen gewährleisten soll. Monetär verdient man an Netlabel-Veröffentlichungen nur selten: Selbst wenn Geld fließt, handelt es sich oft um kleine Beträge, nicht selten im Sinn freiwilliger Spenden, die auf Plattformen wie Bandcamp spontan per Paypal gezahlt werden.

5

Eine Anekdote zum Rollenkonflikt blieb mir besonders in Erinnerung. Im Frühjahr 2014 verabschiedete mich mein Mitmusiker Piotr Z. nach gemeinsamen Aufnahmen mit seinem Kollegen herzlich mit den Worten: „Now go write your book about us!“ Der Ausspruch erinnerte mich unweigerlich an den Schluss von Wacquants Body and Soul: „Ashante is eagerly inquiring about my next fight when DeeDee shuts the party down: ‚There ain’t gonna be no next time. You had yo’ fight. You got enough to write your damn book now. You don’t need to get into d’ring‘“ (Wacquant 2004, S. 255).

44 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

tive Vertiefung stattfand. Die Distanz also wuchs und verdichtete sich schlussendlich in einer exemplarisch aussagekräftigen Entscheidung: Das Angebot, im September 2015 in einem meiner Lieblingsclubs ein Solokonzert zu spielen, wurde meinerseits ausgeschlagen. Zum einen befürchtete ich, durch meine zuletzt umfassende Rückkehr an den Schreibtisch in Fragen des Improvisationsgeschicks aus der Übung gekommen zu sein; zum anderen lastete der Druck auf mir, für mein Dissertationsprojekt durchgängig disziplinierte Analyse- und Schreibarbeit zu leisten. Zur gleichen Zeit ein vertretbares Repertoire für das potenzielle Konzert zu erarbeiten und des Weiteren noch dafür zu proben, erschien mir illusorisch. Zum Zeitpunkt dieser für mein Projekt „historischen“ Entscheidung erfolgten entscheidende Schritte einer abschließenden Auswertung, gefolgt von einer fünf Monate währenden Schreibphase mitsamt theoretischer Rückbindung.

3.5 D AS C ODIEREN

IM

A NALYSEPROZESS

Im Verständnis der Grounded Theory nach Kathy Charmaz (2006) wird das Codieren als ein offener Prozess begriffen, der sich mit der Generierung von Datenmaterial abwechselt. Ziel ist es, durch diese Vorgehensweise in Einzelschritten immer wieder aufs Neue analytische Fragen an den entstehenden Datenkorpus zu stellen: „These questions not only further our understanding of studied life but also help us direct subsequent data-gathering toward the analytic issues we are defining“ (S. 42). Die analytische Vorgehensweise wird somit sukzessive ausdefiniert und bleibt jederzeit – auch in ihren theoretischen Rückbindungen – durch das empirische Material im besten Sinn irritierbar. Die Autorin unterscheidet in diesem Stadium mindestens zwei verschiedene Formen des Codierens: das initial coding und das focused coding. Das initial coding impliziert dabei ein aufmerksames Studium einzelner Datenfragmente in Hinblick auf analytische Potenziale und fragt u.a.: „What is this data a study of?“; „What does the data suggest? Pronounce?“; „From whose point of view?“ (ebd., S. 47). Das fokussierte Codieren wiederum wählt eine spezifische Perspektive auf das Datenmaterial: „While engaging in focused coding, we select what seem to be the most useful initial codes and test them against extensive data“ (S. 42). In einer offenen Anlehnung an diese Vorgehensweise erfolgte im Zuge der Studie in ersten analytischen Arbeitsschritten ein fortwährendes Zusammenführen gesammelter Daten mit schlagwortartigen initial codes, darunter

3. M ETHODE

| 45

beispielsweise „Konflikt“ oder – als in-vivo code (vgl. ebd.), der vom Feld selbst verwendet wird – „relentlessness“ (siehe fünftes Kapitel). Wie erwähnt, wird durch Charmaz eine grundlegende Irritierbarkeit theoretischer und analytischer Vorannahmen im schlussendlichen Vollzug des Auswertungsprozesses argumentiert: „The actual research you conduct through analyzing your data likely differs at least somewhat from what you may have planned earlier in a research or grant proposal. We learn through studying our data“ (ebd., S. 46). Bewähren konnte sich im Rahmen meiner Arbeit insgesamt ein kontinuierliches Schreiben und Umschreiben analytischer Textfragmente, die in ihren Rohfassungen zwar zentrale Aspekte tangierten und vielversprechende Perspektivierungen eröffneten, in diesen ersten, teils isoliert für sich stehenden Versionen aber noch nicht ganz „ins Schwarze trafen“. Erste Kategorienbildungen und das Verfassen von Memos (vgl. ebd., S. 72ff.) diffundierten in diesen Arbeitsschritten ineinander, wobei später eine Sättigung der Kategorien angestrebt wurde (vgl. ebd., S. 96ff.). Die relative Offenheit dieser Vorgehensweise wurde dabei gezielt von einer beständigen kritischen Reflexion konterkariert: Durch ein schrittweises Zusammenführen der permanent unfertigen Fragmente wurde ein Umarbeiten im Sinn einer breiten Kontextualisierung notwendig, und im Zuge einer fortschreitenden Kategorienbildung formierten sich analytische Pointen, die im Rahmen von Präsentationen und vergleichbaren Möglichkeiten zur kritischen Reflexion einer beständigen Prüfung unter Berücksichtigung von Theoriefundamenten unterzogen wurden. Das Verfassen von Memos als ein Explizieren und Ausfüllen von Kategorien stand im Dienst einer Analyse von Datenmaterial bereits in frühen Stadien des Forschungsprozesses. Gewährleistet wurde hierdurch eine zunehmende Abstraktion von Ideen, die ForscherInnen grundlegend schon während der Phase der Datengenerierung in Analyseprozesse zu involvieren vermag (vgl. ebd., S. 72).

3.6 S PONTANEITÄT

UND

G EGENSTANDSKONSTRUKTION

Carol Cohn (2006) verweist mit Bezug auf ihre eigene Forschung (zu nationalen Sicherheitsdiskursen in den USA) auf die tragende Rolle einer Vorgehensweise, in der, was die Auswahl der spezifischen sites betrifft, vorab geplante Elemente wie auch eine „opportunistische“ Spontaneität enthalten sind (vgl. S. 94). Ein solcher Opportunismus, der die Fährtenlegung des Feldes in einer situativen Offenheit anerkennt, adressiert eine produktive Nutzbarmachung der Grenzen von unmittelbarer Planbarkeit im ethnografischen Forschungsprozess. Insbesondere

46 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

in der frühen Phase der Erschließung und Datengenerierung konnte mein Projekt von einer solchen Offenheit profitieren und war dezidiert explorativ angelegt. Giampietro Gobo (2008) skizziert eine ertragreiche Vorgehensweise diesbezüglich folgendermaßen: „[The] researcher can select and follow a particular participant, letting his or her action define the boundaries of the context of observation“ (S. 166). Der Autor weist also darauf hin, dass durch ein Selektieren und ein „Nachfolgen“ der Rahmen tatsächlicher Beobachtungen konstituiert werden kann. Auch Yanow (2009) betont die notwendige Bereitschaft zur offenen, spontanen Begegnung mit Situation, die nach einer opportunistisch strukturierenden Begegnung mit dem Feld verlangen. Diese Art der Begegnung inkludiert, dass die erkenntnisrelevante Rolle von Überraschungen und unvorhergesehenen Ereignissen in der Feldarbeit anerkannt und gewürdigt wird: „Ethnographers need to (be able to) respond ‚in the moment‘, as theatrical improv has it, to what their interlocutor has just said in a conversational interview or to the suggested invitation just extended by the copy or coffee machine. They need to ‚yes – and‘ (drawing once more on improv theory): to take the conversational ‚move‘ and build on it, rather than throwing a ‚block‘ that will stop the interaction“ (S. 192).

Durch eine solchermaßen offene, nicht rigide durch theoretische Vorannahmen strukturierte Herangehensweise war es möglich, im Prozess der Feldarbeit nach und nach auf entscheidende Phänomene des Feldes in gebührender Tiefe aufmerksam zu werden, die im Verlauf der vorliegenden Schrift schließlich analytische Grundpfeiler ausbildeten: z.B. die Rolle der konflikthaften Kollektivität; die innerhalb des Feldes schlüssige Rede von einem „Hören für Fortgeschrittene“; oder die Rolle performativer Repertoires auf Seite der KünstlerInnen wiewohl auch des Publikums – und noch mehr. Geradezu selbstverständlich entspinnt sich durch die explorative Vorgehensweise ein Charakter der ethnografischen Erschließung, der der Multisituiertheit sozialer Praktiken Rechnung trägt: Wie bereits mit der Benennung der unterschiedlichen Kontexte der Datengenerierung – vom Verfolgen einer OnlineDebatte bis zum Spielen eines Konzerts – erstmalig angedeutet, macht sich meine Studie ohnehin die Vorzüge einer dezidiert multisituierten Ethnografie zunutze. Van der Waal (2009, S. 24f.) betont bezüglich dieser Vorgehensweise und ihrer Implikationen aus einem organisationsethnografischen Kontext heraus: „Ethnographic research […] benefits from the awareness of it being an open and contin gent process. […] It is true that much that occurs during ethnographic work is unpredict -

3. M ETHODE

| 47

able“. Weiter heißt es: „[…] the possibility of multi-sited ethnographic research is very promising. In this way important connections between organizations and their interactions can be followed from local to global levels“ (ebd., S. 27).

Glaser und Strauss (1967) formulieren im Kontext der Grounded Theory grundlegende Eigenschaften einer Methode des theoretical sampling, die mit der dargestellten Rolle einer offenen Spontaneität im Feld vereinbar ist und darüber hinaus Aufschluss über die – in diesem Fall kaum nachfolgende, vielmehr begleitende – Analyse gewährt: Angesprochen wird ein „[...] process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly collects, codes, and analyses his data and decides which data to collect next and where to find them, in order to develop his theory as it emerges“ (S. 45). Die sozialwissenschaftliche Annäherung an ausgewählte Forschungsgegenstände darf grundsätzlich nicht als ein objektives Erfassen sich darbietender Eindrücke und Daten aufgefasst werden, die in ihrer messbaren Präsenz nur darauf warten, von ForscherInnen gefunden, eingesammelt und zuletzt in neutraler Unschuldigkeit an ein interessiertes Fachpublikum kommuniziert zu werden. Angenommen werden muss demgegenüber stets, dass Forschung in die Herstellung von Wirklichkeiten aktiv eingebunden ist. Es handelt sich um eine Involviertheit, der sich Datengenerierung, Analyse und Präsentation nicht durch eine Behauptung des Gegenteils entziehen können, wie von Law und Urry (2004) mit Nachdruck betont wird: „If methods also produce reality, then whatever we do, and whatever we tell, social science is in some measure involved in the creation of the real. There is no innocence. But to the extent social science conceals its performativity from itself it is pretending to an inno cence that it cannot have“ (S. 404).

Reimers (2014) vergleicht die subjektive Gegenstandskonstitution, die also, folgt man dem vorangegangenen Zitat, niemals eine unschuldige, stets eine aktive und Realität erzeugende ist, in ihrer ethnografischen Auseinandersetzung mit „EssSettings“ mit typischen Charakteristika der Nahrungsaufnahme. Was die Analogie illustrativ verdeutlicht, ist eine leibliche Immersion in den Forschungsprozess, derer wir uns nicht erwehren können und die in ihrem Vollzug mehrere essenzielle Stadien durchschreitet: „In beiden Feldern nähert man sich einem Gegenstand, analysiert und verarbeitet ihn, bis man sich schließlich wieder Neuem zuwendet. […] Beide Vorgänge – das Essen und For-

48 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

schen – sind dabei sehr subjektiv und an den eigenen Körper gebunden. Wenn wir Dinge betrachtend oder reflektierend erfassen, werden sie verinnerlicht und einverleibt“ (S. 75).

Dabei bliebe, so die Autorin weiter, stets zu bedenken, dass Forschende wie Essende nie genau dasselbe erforschen oder essen könnten: „[Es] bedarf stets einer Verhandlung über den betreffenden Gegenstand“ (ebd.). Betont wird summa summarum also eine unter leiblicher Teilnahme stattfindende Prozesshaftigkeit, die den Gegenstand, dessen sie sich annimmt, selbst aktiv mitkonstituiert. Die Analogie zum Essen, die dem Gegenstand meiner eigenen Studie gegenüber auf den ersten Blick arbiträr erscheinen mag, zitiere ich nicht ohne Grund: Sie gemahnt auch im Kontext künstlerischer Praxis, die selbst oftmals Abstraktion oder monologische Vertiefung betont, die subjektive Direktheit eigenleiblicher Involviertheit. Kurzum: Die Sinne, mit denen ein Geschehen konstruierend erfahren werden kann, entsprechen immer auch dem praktischen Sinn (vgl. etwa Bourdieu 1997, S. 178), der einer niemals unspezifischen, niemals einem Gegenstand gegenüber wirkungslosen Habituierung entspricht. 6 Von jener Habituierung handelt naturgemäß auch die Auseinandersetzung mit dem „going native“, einer Art Kunstfehler der ethnografischen Forschung, dem ich mich im folgenden Unterabschnitt im Rahmen einer reflexiven Diskussion meiner Feldteilnahme annehmen will.

3.7 „G OING

NATIVE “ VERSUS

„ COMING

HOME “

7

Eng verwandt ist die „opportunistic complete membership“ (siehe oben) der „athome ethnography“, wie sie von Alvesson (2009) beschrieben wird. Diese Form der Ethnografie bezeichnet schließlich „a study and a text in which the researcher-author describes a cultural setting to which s/he has a natural ‚access‘ and in which s/he is a natural participant, more or less on equal terms with other participants“ (S. 159). In der Tat, so der Autor, sei es grundlegend schwierig, sich wissenschaftlich mit einem Gegenstandsbereich auseinanderzusetzen, in den man selbst als ForscherIn eng involviert ist (vgl. S. 156). Die unmittelbare Nähe zum Feld, die Involviertheit in den selbstverständlichen Vollzug sozialer Praktiken des Forschungsgegenstandes, birgt einige Vorteile: in Fragen des Zugangs beispielsweise. Zugleich verlangt sie nach strengen Modi von Reflexivität, die 6

Zu einer entsprechenden „symbolischen Ordnung“ im Kontext der Erschließung künstlerischer Subkulturen vgl. etwa Bonz (2014, S. 244).

7

Das vorliegende Unterkapitel basiert zu beträchtlichen Teilen auf Ginkel (2015).

3. M ETHODE

| 49

auch eigene – oder besser: per Habituierung angeeignete – Haltungen, Leidenschaften etc. stets einer kritischen Kontrastierung gegenüber anderen, konkurrierenden, vielleicht auch offen opponierenden Haltungen unterzieht. Salzman (2002) bemerkt dazu: „If we are studying people’s lives, we cannot privilege our impressions as authoritative, even under such an impressive label as ‚reflexivity‘; rather, we must measure our ideas against people’s lives“ (S. 808). Unterschieden wird in diesem Kontext zwischen einer dezidiert angewandten Reflexivität einerseits und einer lediglich theoretischen andererseits. Eine schlüssige, den sozialwissenschaftlichen Blick nicht aufgrund einer eigenen Involviertheit verengende Gegenstandskonstruktion sucht daher naheliegenderweise nach einer „Multivokalität“ (Mizzi 2010) des beforschten Feldes, sowohl in diskursiver wie natürlich in performativer Hinsicht. Für die autoethnografische Forschungspraxis, die der Vorgehensweise meiner Studie trotz partieller Differenzen verwandt ist, formulieren Ellis und Adams (2014) eine Reihe wichtiger Anforderungen zur kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Beobachtungsdaten: „Autoethnography requires that we observe ourselves observing, that we interrogate what we think and believe, and challenge our own assumptions, asking over and over if we have penetrated as many layers of our own defenses, fears, and insecurities as our project requires“ (S. 271).

Grundlegend mahnt Yanow (2009) zudem zu einer ausgeprägten Reflexivität in der Auseinandersetzung mit Feldbeteiligungen, die man klassischerweise an den Begriffen „emisch“ und „etisch“ konturieren könnte: „The old formulations, ranging from admonitions about ‚going native‘ to injunctions to join ‚emic‘ with ‚etic‘ and ‚insider‘ with ‚outsider‘ positions, are outdated, themselves having emerged from a particular construal of ‚natives‘ and researchers, and of their rela tionships, that almost every ethnographer, in every discipline, today rejects“ (S. 195).

Diese Perspektivierung also warnt davor, zwischen dem Innen und dem Außen ethnografischer Forschungsarbeit eine starke, zudem artifizielle Trennlinie zu ziehen. Es geht mir im vorliegenden Abschnitt darum, die Vorzüge einer besonders „tiefen“ Feldteilnahme unter der ausgewiesenen Bedingung nachfolgender Brüche mit den allfälligen TeilnehmerInnenkonstruktionen zu argumentieren. Obgleich zwischen einem „Innen“ und einem „Außen“ also keine klaren Trennlinien gezogen werden können, verlangen die verschiedenen Stadien ethnografischer Datengenerierungen und Analysen nach spezifischen Perspektivwechseln,

50 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

nach einem Changieren, dessen Werkzeug das Befremden des eigenen Blicks, also der eigenen Habituierung, ist. Nicht zwangsläufig plädiere ich für ein Format der hybriden Harmonie zwischen Feldteilnahme und sozialwissenschaftlicher Räson, sondern betone das Potenzial einer gezielten Ausbeutung der Spannungseffekte zwischen künstlerischer Praxis und analytischer Haltung. Breidenstein et al. (2013) verweisen im Kontext der ethnografischen Forschung mit einiger Dringlichkeit auf die Notwendigkeit der reflexiven analytischen Durchdringung der Felderfahrung, gewährleistet durch einen Rückzug an den universitären Arbeitsplatz: Dem „going native“ sei unbedingt ein „coming home“ entgegenzusetzen (vgl. S. 44). Dem liegt die sicherlich legitime Befürchtung zugrunde, EthnografInnen könnten im Fall eines „going native“ ihrer Fachdisziplin „verloren gehen“ (ebd., S. 42). Diesem Appell zum umfassenden Befremden des Blicks stellt Victoria Hegner (2013) eine Diskussion der verschiedenen Lebensbereiche gegenüber, die hier aufeinandertreffen: Feld auf der einen und Universität auf der anderen Seite. An der Universität, an die die ethnografische Forschung gewöhnlich ideell und finanziell angebunden sei, herrsche gegenüber dem Feld, so die Autorin, „eine ganz andere Identitätsanforderung. Hier liegt die Betonung auf der Distanz, als Nachweis für die Zugehörigkeit zur Welt der Intellektuellen“ (Abs. 13). Als „complete member“ meiner eigenen Gegenstandskultur werde ich im Folgenden eine Verortung meiner selbst inmitten dieser Debatte um die verschiedenen „Identitätsanforderungen“ mitsamt ihrer Implikationen für die analytische Erkenntnis versuchen. Hegners durchaus provokante Position im Spannungsfeld zwischen „going native“ und „coming home“ ist zentral von der eigenen ethnografischen Feldarbeit der Autorin im Bereich der, wie sie es nennt, „Hexenforschung“ informiert, d.h. der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit neoheidnischen religiösen Bewegungen: „Keine Hexe zu sein oder während der Forschung nicht initiiert zu werden“, wird von der Autorin als wenig gangbarer Weg gewertet. Sie betont demgegenüber ein genuines Sich-Einlassen auf die sprichwörtlichen Glaubenssätze ihres Gegenstandsbereichs: „So stellt das persönliche Engagement, die Nähe und Übernahme naturreligiöser Weltansichten eine vom Feld aktiv herangetragene Identitätserwartung dar. […] Die Protagonist_innen im Feld haben […] ein feines Sensorium dafür entwickelt, inwiefern man bestimmtes Empfinden und Verhaltensweisen nur ‚vorgibt‘ oder sich ‚tatsächlich‘ darauf einlässt“ (ebd., Abs. 12).

3. M ETHODE

| 51

Hegner adressiert einen essenziellen Punkt: Ist man dem beforschten Feld in einer genuinen Beteiligung verbunden, in der man dezidiert „mehr“ ist als der distanzierte Sozialwissenschaftler mit Notizblock, der dem beobachteten Geschehen äußerlich bleibt, vermag die Beteiligung von einer umfassenden Identifikation mit der Gegenstandskultur immens zu profitieren. Im Fall der Übernahme alternativreligiöser Glaubenssätze mag dieses Unterfangen nun besonders heikel erscheinen: Die Kluft zwischen sozialwissenschaftlicher Räson und alternativreligiösem Glauben erscheint nur schwer überwindbar und selbst mit den Mitteln einer bewussten Gratwanderung überaus anspruchsvoll. In puncto Noise freilich wurde ich jedenfalls nicht mit dem Einfordern expliziter Glaubensbekenntnisse konfrontiert: Dazu ist mein Gegenstandsbereich zu sehr jenen Auffassungen verpflichtet, die ein „Anything goes“ (siehe hierzu: Kapitel 4, erste Hälfte) proklamieren. Bedeutet: Glaubensbekenntnisse, z.B. an das „Experimentelle“, sind vergleichsweise impliziterer Natur, werden nicht als ein ausgesprochenes Bekenntnis eingefordert, sondern zirkulieren als Überzeugungen, Haltungen oder Leidenschaften innerhalb sozialer Praxis. Gerade die Selbstverständlichkeit einer tendenziellen Freiheit von Regeln und Glaubenssätzen gehört zu den spezifischen Charakteristika meiner eigenen Habituierung in der Noise-Kultur: Wenn schon nicht in sämtlichen Stationen der Feldarbeit, dann zumindest in der sich anschließenden Analyse war es notwendig, nicht weiter der Rede von Experiment und Regellosigkeit aufzusitzen, sondern zu einer theoretisch informierten Durchdringung meiner Notizen und Codes zu gelangen, die es gestattete, zu einer Anerkennung von praktischen Ordnungsbildungen zu gelangen. Um es mit den Worten Wacquants (2011) zu sagen: „Go ahead, go native, but come back a sociologist!“ (S. 88). Befremdende Brüche mit meinen Feldperspektiven, mit den „Glaubenssätzen“ des Noise also, nahm ich im Zuge meiner eigenen Feldarbeit episodisch als irritierend, manchmal gar als kränkend wahr – und trotzdem als notwendig. Schlechthin sind Brüche mit TeilnehmerInnenperspektiven dem Forschungsprozess ohnehin immanent: So streben ethnografische Perspektivierungen stets danach, das Unsichtbare sichtbar zu machen (vgl. Pader 2006, S. 166ff.), und in diesem Prozess der Annäherung ist es unabdingbar, als ForscherIn eine bestimmte „ethnographic sensibility“ zu kultivieren (ebd., S. 172ff.). „What is particular to researchers is making explicit, or visible, the patterns that we tend to take for granted as second-nature common sense. This is what differentiates ethnographic research from daily life“ (ebd., S. 174). Notwendigerweise unterscheidet sich also die ethnografisch informierte Analyse von jenen Auffassungen, die unter den „natives“, den TeilnehmerInnen des Feldes selbst, zirkulieren. Eine man-

52 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

gelnde Übereinstimmung zwischen einer tendenziellen Innen- und einer tendenziellen Außenperspektive ist gleichsam vorprogrammiert und kann mitunter in Form der Zurückweisung sozialwissenschaftlicher Analysen durch das Feld einen Ausdruck finden: „Despite legislation promoting transparency and a commitment to free flows of information, many gatekeepers are well aware of the damage that can be done by the publication of ‚misinterpretations‘ by social scientists“ (van der Waal 2009, S. 27f.). Es ist meine Auffassung, dass man sich gerade als tief involvierter Teilnehmer bei ausreichendem Bruch mit den genuinen Feldperspektiven dazu eignet, treffende Analysen als solche zu identifizieren: eben daran beispielsweise, dass man sich als Teilnehmer selbst gekränkt fühlt; daran, dass sie in das positiv besetzte Verhältnis zum Gegenstandsbereich zumindest vorübergehend stark eingreifen, es modifizieren oder vielleicht sogar durch Entzauberung beschädigen. Die Position der zunächst gerade nicht distanzierten Teilnahme, sondern einer „mit Fleisch und Blut“, gestattet ein subjektiv ausgeformtes „Durchleben“ der mannigfaltigen (d.h. affektiven, sinnstiftenden etc.) Dimensionen sozialer Praxis, ein subjektiv ausgestaltetes und vor diesem Hintergrund in Textform übertragbares Wirken des Sozialen in einen mit typischen Könnerschaften und Glaubenssätzen ausgestatteten Feldteilnehmer hinein, dem es nun obliegt, die habituellen Voraussetzungen, die er mitbringt, zu reflektieren und zu durchdringen. Wie solche Durchdringungen auch im Sinn spezifischer ethnografischer Schreibstile mitgeleistet werden können, will ich im nachfolgenden Abschnitt detailliert ausführen. Relevant wird – wie in der vorangegangenen Argumentation um meine vertiefte Feldimmersion – auch hierbei ein (wenngleich anders gearteter) Spagat zwischen sozialwissenschaftlicher Analyse und tendenziell künstlerischen Arbeitsweisen. Zunächst aber will ich, um ein Bewerkstelligen von der Befremdung des eigenen Blicks zu argumentieren, einen Exkurs zu Vergleichstechniken aus der Grounded Theory einschieben.

3.8 D ER V ERGLEICH

ALS

W ERKZEUG

DER

B EFREMDUNG

Zu den Gütekriterien qualitativer Sozialforschung gehöre nicht, so Strübing (2008) in seiner Diskussion der klassischen Trias von Reliabilität, Repräsentativität und Validität in Anlehnung an Corbin und Strauss, das „in der quantitativen Sozialforschung traditionell als unverzichtbar erachtete Erfordernis der Wiederholbarkeit“ (S. 81, Hervorhebung im Original; siehe hierzu auch die das Kapitel

3. M ETHODE

| 53

einleitende Feststellung in Anlehnung an Dellwing/Prus 2012). Die Qualitätssicherung sei demgegenüber anders zu gewichten: „Man könne zwar die in der Theorie getroffenen Kausalaussagen testen, müsse sich dabei allerdings darüber im Klaren sein, dass für soziale Phänomene eine buchstäbliche Wiederholbarkeit der Studie mit identischen Ergebnissen faktisch ausscheidet, weil die Herstellung identischer Ausgangsbedingungen für die erneute Untersuchung nicht zu leisten sei. Dahinter steht die Idee der Prozesshaftigkeit sowohl der sozialen Wirklichkeit als auch der Theorien darüber“ (Strübing 2008, S. 81).

Strauss und Corbin (1996 [1990]) definieren Prozess im Sinn der Grounded Theory als miteinander verknüpfte Handlungs- und Interaktionssequenzen. Jeder Untersuchung mit dem Zugang per Grounded Theory wird eine entscheidende Bedeutung von entscheidenden Prozessaspekten zugesprochen: Sie sind „Bestandteil jeder empirischen Wirklichkeit“ (S. 118). Obgleich sie sich unmittelbarer Beobachtung mitunter verschließen mögen, wird ihre Anwesenheit aufgrund von Veränderungen gespürt (vgl. S. 118f.). Inkludiert werden in das Prozessverständnis der Autoren auch jene „nicht fortschreitenden“ Bewegungen, die flexibel sind, „im Fluß befindlich, reagibel, mit veränderten Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen antwortend“ (S. 131). Insbesondere dieser dezidiert flexible Begriff von Prozess scheint dem Forschungsgegenstand meiner Studie nun adäquat: So vermag man mit seiner Hilfe mit der nötigen Offenheit etwa jenen Auffassungen des Feldes zu begegnen, die das Experimentelle oder schlechthin das Indeterminierte (vgl. Klett/Gerber 2014) in den Vordergrund stellen. Zugleich sucht die Auseinandersetzung mit Prozess notwendigerweise stets nach Struktur, nach Sequenz und nach Regelmäßigkeit: „Veränderung besitzt Eigenschaften, und diese Eigenschaften geben ihr Form, Gestalt und Charakter“ (Strauss/Corbin 1996 [1990], S. 124). Gerecht werden kann eine theoretisch derart unterfütterte Perspektive insofern einem Spannungsfeld zwischen proklamierter Unvorhersehbarkeit einerseits und der Notwendigkeit eines verlässlichen Erkennens dieser als „experimentell“ konnotierten Charakteristik durch TeilnehmerInnen innerhalb des Feldes. Marcus und Cushman (2011 [1988]) beschreiben ein hier hilfreiches, leicht ironisierendes Befremden vertrauter Phänomene als Kernpraktik der ethnografischen Feldarbeit. Angeführt werden mehrere Beispiele: „[The] coke dealer as small businessman (Adler, 1985); the computer hacker as Bohemian artist (Turkel, 1984); the independent trucker as corporate victim (Agar, 1985); the funda-

54 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

mentalist Christian school as a haven for indifferent students and a blessing for parents who fear the secular influence of public schools on their children (Peshkin, 1986)“ (S. 126).

Und so weiter: Die Liste ließe sich lang fortsetzen. Bezogen auf eine forschungspraktische Programmatik bietet die Grounded Theory nach Strauss und Corbin prinzipiell die „ausdifferenzierte Heuristik des Vergleichens, bei der durch kontrastive Verfahren versucht wird, alle Facetten eines jeweiligen Phänomens detailliert und vollständig herauszuarbeiten und in die theoretische Kategorie einfließen zu lassen“ (Strübing 2008, S. 22f.). Die von Everett Hughes formulierte Frage „How is a priest like a prostitute?“ lässt sich für den Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie in folgende Teilfragen übertragen, durch die sich das Phänomen entscheidend dimensionalisieren (vgl. ebd., S. 23) lässt: How is Noise like ‚actual‘ music? How is a Noise show like a classical concert? – und so weiter. Daran anknüpfend erscheint jene Vorgehensweise adäquat, die sich den „maximalen Vergleich“ zunutze macht: „[So] wird nach dem Erreichen der theoretischen Sättigung diese Strategie des minimalen Vergleichs von einer Strategie des maximalen Vergleichs abgelöst, d.h. es werden nun systematisch Daten zu Falldomänen ausgesucht, die gute Chancen haben, abweichende Aus prägungen des Phänomens aufzuweisen (Glaser & Strauss 1998: 62f.). Damit lassen sich Variationen bereits erarbeiteter ebenso wie bislang noch unbekannte Konzepte entwickeln, aber auch Indikatoren für die Kontextbedingungen gewinnen, unter denen bestimmte Phänomene typischerweise auftreten“ (ebd., S. 32).

In nachfolgenden Episoden soll daher in Kontexten aus Orchestermusik oder Death Metal sowie sozialwissenschaftlichen Analysen punktuell anschlussfähiger Sportarten veranschaulicht werden, wie sich praktische Sinnstiftung über diskursive Plausibilisierungen hinaus in verschiedenen Modi einer durch und durch soziomateriellen Dimension manifestiert.

3.9 E THNOGRAFISCHES S CHREIBEN Scheffer (2002, S. 352) betont, dass es sich „bei soziologischen Beobachtungen zumeist um Beobachtungen von Beobachtungen“ handelt, „um die Interpretation von Interpretationen“. Aufgrund ihrer Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung (vgl. analog zum Visuellen: Burri 2008, S. 345) entziehen sich klanglich-musika-

3. M ETHODE

| 55

lische Phänomene einer Beobachtung und Verschriftlichung abseits von Interpretation und Rezeption: Ethnografisch betrachtet gibt es somit kein „vorsoziales“ Hören, und jede naive Vorstellung, Klang „in Reinform“ transkribieren zu können, muss in die Irre führen. Wie Geertz (1973a) zusammenfasst: „Doing ethnography is like trying to read (in the sense of ‚construct a reading of‘) a manu script – foreign, faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behavior“ (S. 10).

Ein ethnografisches Schreiben, das sich ohnehin eng an den Praktiken eines künstlerischen Gegenstandsbereichs bewegt, ist methodisch gut damit beraten, auch in der Form auf das Dokumentationsrepertoire der Kunst allgemein zu rekurrieren – nicht unter beliebigen Vorzeichen, wohlgemerkt: Alkemeyer (2007) etwa argumentiert, „dass die spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen literarischer Repräsentationen über eigene, im wissenschaftlichen Diskursuniversum vernachlässigte, ästhetische Erkenntnispotentiale verfügen, die, so die These, im Rahmen qualitativer Forschungen zum Verständnis des Sozialen beitragen können“ (S. 13).

Der Autor stellt in Aussicht, „dass die Sozialwissenschaften dem von Hirschauer formulierten Problem, ‚etwas zur Sprache zu bringen, das vorher nicht Sprache war‘ [...], ein wenig besser zu Leibe zu rücken vermögen, wenn sie sich gegenüber literarischen Darstellungsformen öffnen und ihre – selber historisch und soziologisch zu erklärenden – Berührungsängste gegenüber Kunst und Literatur ablegen“ (ebd., S. 15).

Explizit verweist Alkemeyer auf die erkenntnistheoretischen Potenziale und die ästhetisch affektiven Eigenschaften der angesprochenen Kunstformen (vgl. ebd.); zugleich will er den Gebrauch dieser Vorzüge als „Instrument wissen schaftlichen ‚Landgewinns‘ in den Blick“ (ebd., S. 16) nehmen. Nach Auffassung von Dellwing und Prus (2012) bleibt die spezifische Ausführung in Hinblick auf das Verfassen von Feldnotizen dem ethnografischen Forscher selbst überlassen: Klare Vorgaben gibt es nicht, ebenso wenig wie eine einzige „korrekte“ Weise, die Texte anzufertigen. Entscheidend sei vielmehr, so die Autoren, dass der gewählte Stil funktioniert, „d.h. geeignet ist, die benötigten In-

56 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

formationen in einer Form festzuhalten, die später analysierbar und in den Hauptteilen der Arbeit zitierbar ist“ (S. 170). Bewährt hat sich in diesem Zusammenhang für mich ein Schreibstil, der sich quasi-satirische Zuspitzungen zunutze macht. Alkemeyer (2007) konstatiert: „Der satirische Tonfall irritiert den common sense und eröffnet neue Blickwinkel“ (S. 22). Virulent wird hierbei erneut eine Praxis der produktiven Befremdung: „Stilmittel und Strategien der Ironie, der Parodie oder der Übertreibung können eine spezifische Aufmerksamkeit dem gegenüber erzeugen, was von Erwartungen abweicht und sich gewohnten Strukturen verweigert: das Selbstverständliche der eigenen Kultur wird aktiv befremdet“ (ebd.).

4. Noise als Gegenstandsbereich

Das vorliegende Kapitel teilt sich in zwei Abschnitte, die im Sinn meiner Argumentation untrennbar zusammengehören. Zunächst präsentiere ich eine Einführung in meinen Gegenstandsbereich. Solche Einführungen bekleiden im Rahmen ethnografischer Studien zuweilen eine Sonderstellung: Sie historisieren das Forschungsobjekt bestenfalls aus einer Überblicksposition heraus, die die Heterogenität kursierender Erzählungen anerkennt. Die Gegenstandskonstruktion erfolgt durch den forschenden, hier somit auch den sammelnden Blick. Es werden akkumulierte Erzählungen und Wissensbestände zusammengetragen: Entstehungsund Schöpfungsmythen, die unter den „natives“ von Generation zu Generation weitergegeben (und dabei inhaltlich variiert) werden, oder auch Auffassungen um Bedeutung und soziale Verstrickungen der Gegenstandskultur. Zwar kann ich in meiner nun folgenden „Erzählung“ über Noise mit verdichteter Geschichte, gar mit Gründungsjahren oder der Namensnennung wichtiger ProtagonistInnen aufwarten. Doch es bleibt eine von vielen möglichen Darstellungen, akzentuiert mit Blick auf die allgemeinen Fragestellungen meiner Studie. Der zweite Teil des Kapitels nimmt sich nach dieser Einführung der Idee des doing sound in einer ersten Zuspitzung an: In einer breiten Perspektivierung will ich klären, weshalb ich mich in meinem praxeologischen Klangverständnis konsequent jeglicher Annahme von wesenhaftem Sinn oder „ewigen Botschaften“ in Hinblick auf Musik entgegengesetzt positioniere. Die Auffassung, dass Bedeutung stets praktisch etabliert wird, eröffnet erneut den Blick auf den Gegenstandsbereich meiner Studie: So wird Noise schlussendlich als ästhetischer Grenzfall zwischen Musik und Geräusch dargestellt, der ethnografisch einen Blick auf die Etablierungsarbeit von Sinn gewährt, die von TeilnehmerInnen beiläufig, gekonnt und vielfältig performativ geleistet wird.

58 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

4.1 A LLGEMEINES

M USIK

ÜBER

UND

L ÄRM

N OISE 1

Über das soziale Netzwerk Twitter zirkulierte unter dem „Szene-Hashtag“ #noiselife, einer Chiffre für Noise betreffende Postings, ein Charlie-Brown-Cartoon aus dem Jahr 1954, der sich hervorragend als ein ironisch (leicht) gebrochenes Selbstverständnis von Noise-PraktikerInnen deuten lässt (dafür spricht nicht zuletzt die Begeisterung, mit der sich der Cartoon unter den KennerInnen verbreitete). Charlie Brown, der Protagonist dieser kleinen Geschichte, wird in der ersten Box des Comic-Strips vor einem Transistorradio sitzend gezeigt. Aus dem Lautsprecher dieses Radios steigt eine Sprechblase auf, die mit einem zackigen Gekritzel gefüllt ist, das wohl einen abrasiven, weithin ungeordneten Klang symbolisieren soll. Mit einem fröhlichen Lächeln zeigt uns das Gesicht des Protagonisten, dass ihm das, was er hört, offenbar gefällt. Im Hintergrund zu beobachten wiederum ist Schroeder, bekannt für seinen Hang zum Klavierspiel sowie seine damit zusammenhängende Liebe zur Musik von Beethoven. Er nähert sich der Szene mit einem geradezu verdutzten Blick sowie einem Fragezeichen in der Sprechblase über ihm. In Bild Nummer zwei zeigt er sich engagiert und bietet Charlie wohlmeinend seine Hilfe an: „Do you want me to fix that for you, Charlie Brown?“ Das zuvor so selbstsichere Lächeln verschwindet nun aus dem Gesicht des Adressaten: Während die Sprech- oder „Klangblase“ über dem Transistorradio nun eine wilde Ansammlung von Symbolen zeigt, die an den Anblick von Nadeln erinnern, steht Charlie Brown nun eine gewisse Besorgnis ins Gesicht geschrieben. Schroeder wird dazu angehalten, doch bitte seine Finger vom Radio zu lassen, und während sich die Mimik der Hauptfigur nun zu einem schelmischen Stirnrunzeln verzieht, kulminiert der Strip in der von ihr geäußerten Pointe: „I like to listen to static!“ Das ist es schließlich, was Charlie Brown mit den Noise-PraktikerInnen verbindet: Sie hören gerne Rauschen, und sie scheinen in diesem Rauschen etwas zu hören, das anderen vorenthalten bleibt. Folgt man ihrem Selbstverständnis, so pflegen Noise-PraktikerInnen in diesem Zuge sogar, wie ich an späterer Stelle zeigen und analytisch erschließen will, die Auffassung von einem „Hören für Fortgeschrittene“. Als Musikstil bezeichnet Noise eine stark geräuschaffine Art der vorrangig elektronischen Musik. Empfunden wird Noise oft als klanglich barsch, mitunter als aggressiv und penetrant. Im Selbstverständnis der PraktikerInnen ist Noise zudem unkonventionell (zum Begriff des „Unkonventionellen“ später mehr). Alle Spielarten von Noise verbindet tendenziell das Kakophone, die starke Ver1

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2015).

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 59

zerrung, Verfremdung sowie das Rauschen als buchstäbliche wall of sound2. Auch Feedbacks, also Rückkopplungen, werden gern in das Klanggeschehen integriert und wirken auf Außenstehende enervierend. Die Aneinanderreihung und Überlappung von Geräuschtexturen steht oftmals im Vordergrund, während Melodie und nachvollziehbarer Rhythmus tendenziell marginalisiert werden. Entstehen kann Noise z.B. digital am Notebook, häufig auch mit Hilfe von Modular synthesizern, Kontaktmikrofonen, Alltagsgegenständen, sogar Trommeln, Violinen oder elektrischen Gitarren, konventionellen Instrumenten also, die in dezidiert ungewöhnlicher Weise Verwendung finden. Noise-Fans und -KünstlerInnen sind oft technikaffin und kulturell gebildet. Das Feld altert mit seinen ersten Protagonisten (ähnlich der Rockmusik) und verjüngte sich etwa durch die fortschreitende Demokratisierung des Zugangs zu den Mitteln seiner Produktion (Software, Instrumente, Technikwissen). Als bedeutende Vertreter des Noise werden international u.a. Masami Akita alias Merzbow (bekanntester Exeget des Japanoise), die britische Gruppe Whitehouse oder auch der Österreicher Peter Rehberg alias Pita, Gründer des innerhalb der Szene überaus einflussreichen Labels Editions Mego, gehandelt. Im Spannungsfeld zwischen Klangkunst und Noise ist der Japaner Ryoji Ikeda, etwa mit seinen audiovisuellen Noise-Räumen, ein wichtiger Vertreter. Die Amerikanerin Holly Herndon wiederum steht für eine neue Generation stilistisch hybrider, konzeptionell ausgefeilter Projekte zwischen Geräusch- und Tanzmusik, und sie repräsentiert zudem die langsame, jedoch beständige Zunahme tonangebender weiblicher Stimmen im Feld. Romain Perrot alias Vomir ist dem stilistischen Extremfall verbunden und gilt als konsequenter Vertreter der Richtung Harsh Noise Wall, deren Markenzeichen eine nahezu vollkommene Variationslosigkeit in Fragen der musikalischen Dynamik ist: Hier hört man oft einfach statisches Rauschen, sonst nichts. Im August 2004 veröffentlichte das britische Musikmagazin The Wire einen überblicksartigen Artikel mit der Überschrift An Abuser’s Guide to Noise (Keenan 2004). Einige Titel der dort vorgestellten, nach Auffassung des Autors David Keenan prägenden Klassiker des Genres sprechen für sich: Metal Machine Music (Lou Reed3), The Lowest Form of Music (von The Los Angeles Free Music Society), The Full Use of Nothing (von Ferial Confine), Cosmic Coincid-

2

In der Popmusik bedeutet wall of sound freilich etwas anderes: Der bekannte Produktionsstil der sechziger Jahre (Phil Spector, Brian Wilson) ist hier nicht gemeint, eine technische Verwandtschaft besteht bei aller stilistischen Differenz jedoch im gezielten „Überladen“ von Musikproduktionen durch Klangtexturen.

60 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ence Control Center (von CCCC) oder Sheer Hellish Miasma (Kevin Drumm). Auf den Punkt gebracht werden in diesen Titeln geradezu schlagwortartig Haltungen und Leidenschaften, die innerhalb des Feldes zirkulieren. Keenan formuliert in der Einleitung seines Artikels im Übrigen eine Definition von Noise als Genre gegenüber Noise als Stilelement in anderen Spielarten von Musik: „Many contemporary artists have used noise as a functional base, from free jazz through the conceptual sound art of The Sonic Arts Union and the laminal improvisations of AMM and MEV. It has also thoroughly infected and reinvigorated rock music, thanks to artists like Mars, John Zorn, Fushitsusha and Sonic Youth, all of whom helped to bring noise out of the dark and into the light. But this Primer [article] is about those artists who bypass genre conventions in their wholesale embrace of noise“ (ebd., S. 38).

Noise erscheint mir in dieser Definition gleichwohl weniger als ein festgeschriebenes Genre denn als ein „Programm“, das in verschiedenen Graden angewandt und verwirklicht werden kann. Schon die Artikelbenennung auf dem Titel der Ausgabe, An Abuser’s Guide to Noise (in Anspielung auf den „user’s guide“, das Benutzerhandbuch), macht das klar: Im Noise wird etwas malträtiert. Dieser Auffassung will ich analytisch nachspüren, wenn später beispielsweise Verzerrung als buchstäbliche Materialbearbeitung beschrieben wird – und somit als ein Prozess, in dem sich Noise gleichsam programmatisch an Musik abarbeitet und hierbei die Polarität zwischen „konventioneller“ und „experimenteller“ Musik praktisch etabliert. Mehr noch, sie wird in Materialeigenschaften mitunter wortwörtlich greifbar. Dass Noise als Programm oder Prozess begriffen werden kann, zeigt sich im spezifischen Verhältnis gegenüber anderen Musikformen. Abschließend vertieft wird dieser Punkt im letzten Empiriekapitel meiner Arbeit. Über die KünstlerInnen und Fans hinaus sind heterogene Akteure auszumachen, die alle – mal mehr, mal weniger intendiert – zu Noise beitragen. Dazu gehören auch jene Außenstehende, die sich schroff gegenüber Noise positionieren. Nicht zu vergessen sind auch Blogger und Forenbetreiber, die an Noise diskursbildend und gewährleistend mitwirken. Herstellerfirmen von Synthesizern oder anderen Noise-affinen Instrumenten gehören im weitesten Sinn auch dazu, und die Kernszene kennt Zusammenschlüsse wie den Frankfurter Verein Phonophon,

3

Die Namensnennung mag auf den ersten Blick überraschen. Lou Reed ist als Mitbegründer von The Velvet Underground in erster Linie als Rockmusiker bekannt. Seine von Rückkopplungsklängen geprägte LP Metal Machine Music ist ein stilistisches Unikum in seinem Katalog und gilt der Noise-Musik als stilbildendes Referenzwerk.

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 61

der regelmäßig an einem entlegenen Ort im Industriegebiet Noise-Konzerte veranstaltet. Es gibt einflussreiche Figuren in lokalen Undergroundszenen, die als Ansprechpartner fungieren, wenn man in einem Club spielen möchte. Ihre Hauptrolle scheint das Organisieren zu sein und das Wachen darüber, wer „dazugehört“ und wer nicht. Durch ihre Aktivität werden z.B. Konzertreihen etabliert oder Tonträgerprojekte ins Rollen gebracht. Sind Noise-PraktikerInnen äußerlich als solche erkennbar? Nicht selten schließlich zeichnen sich Musikkulturen im Spektrum zwischen Pop und „Underground“ durch relativ einheitliche Kleidungsstile unter einem Gutteil der TeilnehmerInnen aus. Zur Illustration des Phänomens allgemein folgt eine Beschreibung von einem Konzert der Stilrichtung Death Metal, in der ein recht homegener Stil gepflegt wird. Dem schließt sich analytisch ein Vergleich mit Noise an. Auszug aus den Feldnotizen, September 2014: Gewandet ist das Publikum farblich innerhalb eines klar abgesteckten Spektrums. Man trägt in der Regel schwarz, und daneben gibt es noch ein paar weitere Farbtöne, die geduldet werden: das Farbspektrum militärischer Tarnkleidung – grau, olivgrün, braun – sowie abgewetztes bis dunkles Jeansblau. Helle Farbtöne sieht man in aller Regel nicht, insbesondere weiß und gelb scheinen hier gar nicht zu existieren. Viele TeilnehmerInnen tragen T-Shirts oder im gleichen Stil geschnittene Langarmhemden, auf denen die Logos oder Tonträgercover von Lieblingsbands zur Schau getragen werden. Diese Logos wirken ikonisch und zeichnen sich oft durch komplizierte Schnörkelstrukturen aus, die es Außenstehenden unmöglich machen, die jeweiligen Schriftzüge ohne Mühe zu entziffern. Die Szeneeli te macht sich damit für flüchtige Zaungäste nicht direkt „lesbar“, schafft eine Distanz nach außen durch ein somit etabliertes Wissensgefälle. Umgekehrt schaffen die Hemden unter Eingeweihten die Möglichkeit zum unmittelbaren Erkennen von Gemeinsamkeiten, feinen Unterschieden und Kennerschaft.

Im Vergleich zu diesem recht einheitlichen Bild will sich auch bei eingehender Beschäftigung mit Noise kein verbindender Kleidungsstil, erst recht kein eindeutiger Dresscode unter TeilnehmerInnen ausmachen lassen. Jungbauer-Gans et al. (2005, S. 321) betonen, „dass Kleidung und äußere Erscheinung die Interaktionen zwischen Individuen relativ stark beeinflussen, möglicherweise stärker als das den Einzelnen bewusst ist“. Ganz grundlegend wird zudem darauf hingewiesen, dass „die äußere Erscheinung angesichts zunehmender Wahlmöglichkeiten hinsichtlich individuellen Geschmacks sowie des Kleidungs- und Lebensstils in alltäglichen Interaktionen nicht unwichtig geworden ist“ (ebd.). Was also sagen uns die für eine Musikkultur sehr heterogenen Kleidungsstile des Noise? Dass

62 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

sie ausgerechnet in diesem Feld bedeutungslos sind? Gewiss nicht: Die bemerkenswerte Uneindeutigkeit der angetroffenen Bekleidungsstile verweist auf ein „doing individuality“, eine beiläufige Plausibilisierung, dass hier im Selbstverständnis der Anschluss an Gruppenzugehörigkeit verweigert wird. Man demonstriert Vereinzelung. Aus einer distanzierten Betrachtung kommt man freilich zu dem Schluss, dass gerade dieses Phänomen Noise als Gruppe auszeichnet – wenn auch weniger direkt und weniger am Einzelfall erkennbar als beim dunkelfarbigen Dresscode des Death Metal. Auch kann man die heterogenen äußeren Erscheinungen des Noise als eine Abgrenzung gegen den Stil von Jugendkulturen allgemein deuten – zugunsten eines potenziellen Anschlusses z.B. an die Neue Musik. Damit einher geht also eine implizit geleistete ästhetische Aufwertung der im Feld produzierten Werke. 4.1.1 Geschichte und Ausprägungsformen 4 Die Darstellung eines Feldes ist immer Teil der wissenschaftlichen Gegenstandskonstruktion, die niemals neutral gegenüber dem Feld und der eigenen biographischen Verstrickung mit ihm ist. Offenkundig ist, dass im untersuchten Feld eine eklektische Vielfalt an Definitionen, Geschichten, Traditionslinien und Leidenschaften zu Noise unter TeilnehmerInnen kursiert. Dieser Vielfalt im Rahmen einer qualitativen Studie mit chronistischer Sorgfalt Herr zu werden, war niemals Ziel meiner Auseinandersetzung. Gleichwohl will ich darauf hinweisen, dass sie existiert. Sie anzuerkennen, entlastet meine Forscherperspektive von der schwierigen wie Erkenntnis mindernden Herausforderung, sich auf genau eine, nämlich „die richtige“ der zahllosen Historisierungen und Sinngeschichten festzulegen: Es erscheint mir wichtig, die Legitimität von konkurrierenden, sich teils sogar widersprechenden Erzählungen hinzunehmen. In der eigenen Forschungspraxis ist mir das Phänomen der Vielfalt aus Situationen bekannt, in denen ich dazu angehalten war, in einführenden Schilderungen zu meinem Gegenstand die Ursprünge von Noise darzustellen. Unmittelbar präsentierte sich mir – gerade durch die lange Vertrautheit aus verschiedenen Perspektiven – eine Summe von möglichen Darstellungen. Schnell also mag man sich hier als Ethnograf in der eigenartigen Situation wiederfinden, einen Gegenstand, mit dem man sich sozialwissenschaftlich sowie künstlerisch auseinandersetzt, nicht aus dem Stegreif in Hinblick auf ganz grundlegende Eigenschaften eindeutig vorstellen zu können. Es ist ein vielsagendes Erlebnis, das sich in bemerkenswerter Regelmäßigkeit wiederholte. Durch meine doppelte Position im 4

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2015).

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 63

Feld – einmal als Forscher, einmal als Musiker – war mir dabei auffällig, dass ich je nach Rahmen und Zusammenhang zu bestimmten Geschichten tendierte. In akademischen Kontexten etwa schien mir eine spezifische Historisierung, die in der Noise-Kultur kursiert, immer wieder besonders plausibel: Dieser Erzählung zufolge beginnt die Geschichte des Noise schon am Anfang des 20. Jahrhunderts, denn man kann argumentieren, dass Noise ursprünglich im Italienischen Futurismus wurzelt. Bei Bedarf mag man sich sogar an einem Geburtsjahr erfreuen, nämlich 1916, dem Jahr, in dem erstmals die oft zum Manifest erhobene Schrift L’arte dei rumori (Deutsch: Die Kunst der Geräusche) herausgegeben wurde: ohne Frage ein Schlüsselwerk! Durch den Autor Luigi Russolo (2000 [1916]) wurden hier klangliche Limitierungen in der Musik allgemein angeprangert. Er schlug vor, aus den bestehenden Beschränkungen auszubrechen und sich in Kompositionen und Arrangements fortan der schier unendlichen Vielfalt der Geräusche zuzuwenden. In der gegenwärtigen Noise-Kultur gibt es eine Reihe von MusikerInnen oder auch LabelmacherInnen, die diesen Text immer wieder gern rezitieren und als eine ihrer Hauptinspirationsquellen ausweisen. Der Verweis auf Die Kunst der Geräusche kann im Feld die Funktion erfüllen, um sich offensiv gegen den Vorwurf der Nichtmusikalität zu wehren, dem sich Noise-MacherInnen zuweilen ausgesetzt sehen. Die Idee, dass Noise aus den Überlegungen hervorgegangen ist, die dem Text von Russolo entstammen, ist oft in jenen Kontexten anzutreffen, in denen man allgemein die „große Idee“ zu schätzen weiß. Eine große Idee wird von einem großen Denker hervorgebracht, und im Zuge ästhetischer Traditionen kommt es zur Annahme stammbaumartiger Kontinuitäten. In einem solchen Stammbaum hat dann auch die spezialistische Subkultur Noise einen legitimen Platz: als vielleicht kuriose, aber doch nicht unsinnige Verästelung, in auffällig unmittelbarer Nachbarschaft zur Neuen Musik oder anderen zeitgenössischen Kunstformen – und das ist für TeilnehmerInnen schmeichelhaft. Die Zahl alternativer, im jeweiligen Kontext vollkommen schlüssiger Historisierungen und Herleitungen ist groß. Im Folgenden will ich einige skizzieren, um die Breite des Spektrums in Hinblick auf die jeweiligen Kontexte exemplarisch darzustellen. Eine Alternative zum Futurismus in puncto Rückbindung an die legitime Kunstgeschichte eröffnet mir im Feld ein Noise- und AmbientMusiker, der auf John Cage als Schlüsselfigur der Geräuschkompositionen verweist. Vom Teilnehmer wird eine Ästhetik des Hörens betont, die potenziell eben Sounds aller Art betrifft, und als relevant erachtet er zudem die Rückbindung von Cage an spirituelle Praktiken.

64 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Um etwas näher an der Gegenwart anzusetzen, will ich Noise nun in Hinblick auf Verzweigungen auf weitere zeitgenössische Szenen und Undergroundkulturen skizzieren. In dieser Hinsicht wurzelt das Genre im europäischen Raum in der Post-Punk-Bewegung der ausgehenden 1970er Jahre. Enge Verwandtschaftsgrade unterhält Noise hier mit der so genannten Industrial Music, wie sie von der Gruppe Throbbing Gristle mithervorgebracht wurde. Eine Historisierung des Feldes hebt in diesem Kontext deutlich den Aspekt der Provokation hervor: „A controversial avant-garde and power electronics scene developed that, its adherents boasted, took the DIY spirit of punk more seriously than did many punks themselves“5. Die erwähnte Unterspielart Power Electronics ist ein früh entstandenes und bis heute als „extrem“ konnotiertes Subgenre von Noise. Es handelt sich um einen Stil, der nicht nur klanglich ein konfrontatives Gebaren pflegt (charakteristisch: die Mischung aus besonders hohen und besonders tiefen Tonfrequenzen), sondern auch im Rahmen von Songtexten (sofern vorhanden: oftmals mit verfremdeter Stimme im parolenhaften Sprechgesang rezitiert), Tonträgertiteln und Artworks an gesellschaftliche Reizthemen rührt, die die Musik für Nicht-InsiderInnen oft abseitig, „roh“ und bedrohlich erscheinen lassen. Zu den Themen, auf die rekurriert wird, gehören Gewaltverbrechen, Krieg, sexuelle Devianz, Krankheit und gemeinhin vieles, was sich alltagssprachlich mit dem Attribut „bizarr“ markieren lässt. Assoziationen dieser Art werden stark über Plattencover oder sonstige begleitende Medien evoziert. Das Image von Noise in dieser Variation ist besonders schroff und stößt in Bereiche vor, wie sie in der Musik der Gegenwart z.B. noch im Black Metal tangiert werden. Beide Stilrichtungen verbindet zudem ein Hang zum Klandestinen: So wird Musik oft in Kleinstauflagen herausgegeben, gern auf dem anachronistischen Medium Musikkassette, das mit einem elitären Charme behaftet ist – zum impliziten Sinn solcher Formate mehr am Ende des Unterabschnitts 6.8. Exkurs: Orte und Wege als teleoaffektive Besinnung. Noise also reizt, will reizen, soll reizen – und doch hat sich im Laufe der Zeit ein breites stilistisches Spektrum entwickelt, das auch ein Aufgreifen solcher Empfindungen und Thematiken gestattet, die gemeinhin als schön oder angenehm aufgefasst werden. Der Wiener Christian Fennesz ist aktuell der berühmteste Vertreter jener Richtung, die im Dickicht durchdringender Verzerrung mit harmonischen Anklängen liebäugelt. Nicht nur feiert ein Künstler wie Fennesz mit seinem Noise/Harmonie-Crossover beachtliche Erfolge auch jenseits der eingeschworenen Kernszene. Auch die Musikwissenschaft ist auf das Potenzial von 5

Online: http://souciant.com/2012/07/a-brief-history-of-noise-part-i/, zugegriffen am 20.11.2014. Siehe Internetquellen: Sheppard (2012).

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 65

Noise, aus seinem ureigenen Bereich von Missklang und derben Inhalten auszubrechen, aufmerksam geworden. So bemerkt die Musikwissenschaftlerin Joanna Demers (2010) beispielsweise, Noise sei unterhalb seiner betäubenden Lautstärke, der Verzerrung und der Rückkopplung von geradezu traditioneller Schönheit: „[Amid] devices and imagery that point to the pushing of physical, physiological, and psychological limits, these works use consonance and tonality, foundations of the language of Western art music“ (S. 103). Hier wird eine besondere stilistische Hybridität angedeutet, deren Sinn ich im abschließenden Empiriekapitel der Studie klären will: Es handelt sich um mehr als ein beliebiges Miteinander, auch um mehr als ein von Erfolgsinteressen geprägtes Zugeständnis an die „echte“, an eine „leicht(er)“ zugängliche Musik. Vielmehr wird gerade hier, im Verschwimmen stilistischer Grenzen, entscheidende Konturierungsarbeit in Hinblick auf die Frage geleistet, was Noise eigentlich ist und welches Verhältnis Noise zur Musik unterhält. Als Soundkultur bedient sich Noise am ästhetischen Vokabular und am experimentellen Gestus der Neuen Musik und der Klangkunst: Oft genannte Referen zen sind Arbeiten von Alvin Lucier (Bird and Person Dyning und I Am Sitting in a Room) oder Robert Ashley (The Wolfman und Automatic Writing). Zugleich steht Noise dem Do-It-Yourself wesentlich nah und greift dazu passend Elemente eines absichtsvollen Dilettantismus, eines erwünschten Nichtkönnens mit antivirtuoser Selbstauffassung auf. Die Musik erscheint dadurch abseitig. So bekennt der italienische Underground-Künstler Venta Protesix beispielsweise provokativ: „I want to make people suffer with my unbearable noise. […] My ‚music‘ shouldn’t make any contribution to the well-being of the listener but merely increase their anxiety and general discomfort. If that happens, then it means my work is well done“6.

Wie auch dieses Beispiel zeigt, tritt die Wertschätzung für störende und ver-störende Qualitäten von Noise immer wieder und im Zuge von Erwartungshaltungen zu Tage7. Der Aspekt der gewollten Irritation wird im Verlauf der vorliegen6

Online: http://kulturterrorismus.de/interviews/13-questions-to-venta-protesix.html, 14. 12.2014. Siehe Internetquellen: Kulturterrorismus. Die Seite ist gegenwärtig nicht mehr verfügbar, eine lokal gespeicherte Version des Interviewauszugs liegt mir vor.

7

Die Formulierung erwünschter, dabei wirkmächtiger Effekte auf das Wohlbefinden des Menschen sind aus anderen Bereichen bekannt, in denen die avisierten Effekte ausdrücklich positive sind. Die New-Age-Szene verhandelt beispielsweise die so genannten Solfeggio-Frequenzen, die durch bloßes Zuhören heilsame Leistungen vollbringen sollen. Dem Noise gegenüber sind die Solfeggio-Frequenzen ein effektives

66 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

den Schrift noch von besonderem Interesse sein. Die Charakterisierung durch Venta Protesix unterscheidet sich auffällig von der vorangegangenen akademischen Perspektivierung nach Demers: Die künstlerische Selbstdarstellung betont hier die Provokation. Im folgenden Fall tritt Noise schlicht als verneinend auf: In einem Konzertbericht des Online-Magazins The Quietus über einen Auftritt von Harsh-Noise-Musiker Romain Perrot alias Vomir heißt es etwa: „Perrot describes the essentials of his aesthetics as ‚no ideas, no change, no development, no entertainment, no remorse‘“8. Diese Art der Negation ist aufschlussreich und verlangt nach einem analytischen Ausholen: Im sozialwissenschaftlichen Verständnis von juvenilen Vergemeinschaftungsformen stand zunächst nicht Arbeit, sondern demgegenüber Amusement, Hedonismus und Konsum im Vordergrund (vgl. Chaker 2014, S. 49). Abgesehen davon, dass es mir fraglich erscheint, ob es sich bei Noise um eine Jugendkultur handelt, scheint Noise hier laut Selbstauffassung ohnehin ein Gegenprogramm darzustellen: So trägt eines der bedeutenden Szenefestivals den Namen No Fun Fest. Man pflegt zudem die Copyright-kritische Creative-Commons-Kultur, man gibt Tonträger in ökonomisch wenig rentablen Kleinstauflagen heraus und rühmt sich gar damit, dass man die wenigen BesucherInnen, die sich auf vielen Noise-Konzerten einfinden, teils wieder zu vertreiben. Inwiefern sich hinter dieser letztgenannten Ausprägung ein normativer Sinn verbirgt, der nicht nur Trotz oder „Anti-Haltung“ ist, will ich im Rahmen der Studie an mehreren Punkten eruieren. 4.1.2 Das Feld spricht: „Was ist Noise?“ Aufmerksamkeit schenken will ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit immer wieder den Selbstauffassungen von TeilnehmerInnen: So votiere ich in AnlehInstrument der befremdenden Perspektivierung: Sie machen mit ihren begleitenden Verweisen auf heilsame Effekte darauf aufmerksam, dass Klangerfahrungen, wie schon erwähnt, niemals ganz diskursfrei sind. Durch ihre Verbindung mit der NewAge-Kultur schärfen sie des Weiteren den Blick dafür, dass ein spezifischer Effekt von Klang oft mit ebenso spezifischen Visualisierungen, Bildern und Farbgebungen korrespondiert, die die Erfahrung stützen oder sie auch vorreflexiv plausibilisieren. Im Fall der Solfeggio-Frequenzen sind das etwa in einschlägigen Youtube-Videos farbenprächtige Bilder mit satten Rot-, Gelb- und (ganz besonders) Violetttönen, manchmal auch NASA-Weltraumfotografien, die ohnehin einer ausgeprägten, ästhetisch sicher nicht beliebigen Farbgebung unterliegen. 8

Online: http://thequietus.com/articles/15315-live-report-hnw-fest-iii, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Williams (2014).

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 67

nung an Latour (2005) für eine opportunistische Privilegierung von Feldperspektiven in Hinblick auf die Erschließung spezifischer Fährtenlegungen und Relevanzen. Der Autor schreibt im Zuge einer – durchaus polemischen – Abgrenzung von der Soziologie: „Without this strong obligation to play the legislating role, sociologists would not have limited the first obvious source of uncertainty, cutting all the links with the explicit and re flexive labor of the actors’ own methods. Anthropologists, who had to deal with premoderns and were not requested as much to imitate natural sciences, were more fortunate and allowed their actors to deploy a much richer world. In many ways, ANT is simply an attempt to allow the members of contemporary society to have as much leeway in defining themselves as that offered by ethnographers. If, as I claim, ‚we have never been modern‘, sociology could finally become as good as anthropology“ (S. 41).

Diese Forschungsmaxime will ich aufgreifen und das Feld auch selbst zu Wort kommen lassen, in der Absicht, zentrale Charakteristika der praktischen Sinnstiftung von Noise zu benennen, die unter Insidern etwa in Form von Selbstver ständlichkeiten, Klischees und philosophischen Herleitungen angedeutet werden. Ein sorgfältiges Changieren zwischen Feldperspektiven und dem analytischen Moment ist dabei unbedingt notwendig. Zum Zuge kommt im Folgenden auch mein eigenes Hintergrundwissen, das mit dem zu analysierenden Zitat in eine Art Dialog tritt. Wie also wird die Frage „Was ist Noise?“ innerhalb des Feldes selbst aufgegriffen und verhandelt? Hierzu will ich einführend eine schlichte, beiläufige Kurzmitteilung aus dem Fundus des Kurznachrichtendienstes Twitter heranziehen, verfasst von einem Harsh-Noise-Musiker aus dem Mittleren Westen der USA. Eine „große Nummer“ – im Sinn einer breit rezipierten Schlüsselfigur – ist dieser Musiker innerhalb des Feldes nicht, er ist vielmehr „einer von vielen“, einer von jenen TeilnehmerInnen, die „ihr Ding machen“ und hiermit bei einem kleinen Kreis, der sich zumeist aus wohlgesonnenen Interaktionspartnern von Social-Media-Plattformen zusammensetzt (Soundcloud, Twitter, Facebook etc.), auf weithin positive oder jedenfalls anerkennende Resonanz stoßen 9. Das Schaffen dieses Künstlers zeichnet sich durch eine thematische wie musikalische Einseitigkeit aus: Für sich selbst hat der Protagonist ein künstlerisches Image

9

Zuweilen aber wird ihre Arbeit sogar von diesem Kreis der Wohlgesonnenen schlicht ignoriert oder gar nicht erst wahrgenommen. Auf diesen zentralen Punkt, dieses Präsentsein ohne Publikum, komme ich an späterer Stelle ausführlich zu sprechen.

68 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

kreiert, das gestützt ist auf permanente, sich scheinbar unendlich wiederholende Anspielungen auf den Sumo-Kampfsport sowie auf die Fetisch-Pornographie asiatischer Provenienz. Die musikalische Untermalung dessen ist Geräuschmusik in Reinkultur: Rauschen und Verzerrung nonstop, Dynamikwechsel sind Mangelware. Auf Twitter wurde der Musiker schon mehrfach wegen des Postens obszöner Inhalte (vornehmlich Bilder) verwarnt und gesperrt. Über eine Definition von Noise sinniert er unaufgefordert auf eben dieser Plattform, die sich zuvor schon mehrfach seiner Präsenz entledigt hatte: „What the fuck is #noise? Fuckin’ anything. But after years of recording this shit, the most menacing sound is my own spoken word“.10

Was sich aus einer derart knappen Aussage zum Verständnis von Noise ableiten lässt, will ich im Folgenden anhand dreier zentraler Punkte in einer explorativen Rekapitulation demonstrieren, die Verbindungen skizziert und Selbstauffassungen für Analysen öffnet. 1. Noise kann nach Auffassung des Teilnehmers offenbar „alles“ sein – sprich: Noise ist diffus, enigmatisch, scheint sich einer Kategorisierung zu verwehren und ist daher per se geradezu undurchschaubar, ist wohl immer den einen entscheidenden Schritt voraus, der es selbst erfahrenen Protagonisten nicht gestattet, im Rahmen einer Definition auf den Punkt zu kommen. Etwas, das sich in genau dieser Art dezidiert nicht einordnen lässt, ist spannend, aufregend, „edgy“, vielleicht sogar gefährlich, denn es ist tendenziell unberechenbar. 11 Auch in akademischen Diskursen wird die Betonung der kaum möglichen Fassbarkeit von Noise, der im Feld sicherlich eine identitätsstiftende Rolle zukommt, mitunter reproduziert. Der Philosoph Torben Sangild (2002) beispielsweise schreibt in den einleitenden Worten über The Aesthetics of Noise: „Noise can blow your head out. Noise is rage. Noise is ecstatic. Noise is psychedelic. Noise is often on the edge between annoyance and bliss. Noises are many things. Noise is a difficult concept to deal with“ (Abs. 3).

10 Da der User inzwischen von der Plattform erneut entfernt wurde, kann ich keinen Link zu seiner Äußerung anbieten. Ein Screenshot des Postings wurde meinerseits allerdings gespeichert. 11 Zugleich muss Noise selbstverständlich erkennbar sein, dem kompetenten Blick (oder Gehör) mühelos intelligibel. Das allerdings kommt im vorliegenden Definitionsversuch nicht explizit zur Sprache.

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 69

Erneut scheint man hier mit der Haltung konfrontiert: Noise ist alles und nichts – ganz schwer zu beschreiben, möchte man meinen. Auffällig ist jedoch, dass Charakterisierungen der Art, wie sie von Sanglid vorgenommen werden, nicht den Blick auf ein volles Spektrum an potenziell möglichen Reaktionen gewähren, sondern geradezu ausschließlich auf die Empfindung von Extremen verweisen: auf der Kippe zwischen Belästigung und Verzückung, nicht aber, wie man einwenden könnte, z.B. auch zwischen Gleichgültigkeit und leichter Amüsiertheit. Kurz: Der sinngebende Diskurs um Noise scheint keine Beiläufigkeit der Erfahrung zu dulden. Diskursiv zirkulieren hier regelrechte „Empfindungsimperative“. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie die Rede von derlei Erfahrung mit körperlich-performativen Aktivitäten korrespondiert: wie hier durch Aufführungen Plausibilität geschaffen wird. 2. Zweimal fällt das Wort „fuck“, und einmal fällt das Wort „shit“, zudem in einem knappen Rahmen von höchstens 140 Zeichen, der technischen Obergrenze für Twitter-Postings. Noise ist mitunter dem Kraftausdruck verbunden, eine Neigung, die man beispielsweise mit dem Gangsta Rap amerikanischer oder auch bundesdeutscher Herkunft teilt. Beide Musikrichtungen sind bzw. waren vorrangig Männerdomänen, und in beiden Fällen korrespondiert die Verwendung des Kraftausdrucks mit der thematischen Exploration teils pornografischer oder auch Gewalt adressierender Inhalte. 3. Noise muss sich, wie die zitierte Definition von Twitter suggeriert, immer wieder „neu erfinden“: Das bedeutet, MusikerInnen und Fans müssen sich zuweilen vom aktuellen Status der Noise-Kultur gelangweilt, regelrecht angeödet zeigen: Alles schon mal dagewesen, so der hier zur Schau getragene Tenor. Das, was man vorfindet, ist quasi „nicht mehr extrem genug“. Glücklicherweise lässt sich seit rund 30 Jahren jedoch wieder und wieder erfolgreich Abhilfe schaffen, nicht zuletzt deswegen, weil es sich bei Noise-MusikerInnen im Selbstverständnis um KünstlerInnen handelt, die den schlichtesten Mitteln ein Maximum an Effekt entlocken können. Das bedeutet konkret im vorliegenden Fall eine Besinnung auf ganz basale Techniken wie eben die Tonaufnahme von „spoken word“, um der technischen Einschränkung zum entschiedenen Trotz den notwendigen, heiß ersehnten Effekt herbeizuführen: Denn bedrohlich, „menacing“, soll es sein – dieser Effekt wird von dem zitierten Künstler offenbar geschätzt, und so darf er nicht fehlen. Dem Noise als Stilrichtung ist das Ergebnis per Definition auch dann potenziell noch zugehörig, wenn es sich „nur“ um eine Aufnahme von „spoken word“ handelt, denn wir wollen uns erinnern: „What the fuck is #noise? Fuckin’ anything“. In diesem knappen Zitat konzentriert sich zum einen die Auffassung ei-

70 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ner ausgeprägten Regellosigkeit, nach dem Motto: Alles ist möglich, „anything goes“. Zum anderen tangiert es die Auffassung von Noise als Avantgarde-Kultur, die nach Erneuerung und Fortschritt strebt oder den Fortschritt zumindest auch dann zentral thematisiert, wenn er im Harsh-Noise-Bereich zuweilen provokativ abgelehnt wird.12 Das Selbstverständnis als Avantgarde geht nicht zuletzt mit einer Betonung der Fremd- und Neuartigkeit von Klängen und musikalischen Strukturen einher. Als Kerneigenschaft elektronischer Musik im dezidiert experimentellen Sinn benennt Holmes (2008) unbegrenzte Klangressourcen gleichermaßen wie Klang per se als Rohmaterial von Kompositionen. Überdies sei diese Musik als „[unaffected] by human performance limitations“ zu begreifen. Elektronische Musik im Besonderen kategorisiert der Autor als „disassociated from the natural world“, ausgezeichnet durch einen „expanded use of tonality“. Ein grundlegender Begriff elektronischer Musik scheint in der Betonung von Andersartigkeit demnach durchaus auf „Unnatürlichkeit“ zu gründen. Experimentelle Musik, so heißt es zuletzt außerdem, „[exists] in a state of actualization, often without a traditional score“ (S. 335). In seiner Rekapitulation der Entwicklungen der frühen elektronischen Musik speist sich die Kategorisierung der Klangkompositionen als avantgardistisch beispielsweise an Erzählungen wie jener, in der die Aufführung von Edgard Varèses Déserts den Architekten Le Corbusier inspiriert und ihn dazu veranlasst, Tonbandkompositionen des Künstlers in einem von ihm entworfenen Pavillon zu spielen (vgl. ebd., S. 336). Experimentelle Musik entspinnt sich in solcherlei Geschichten nicht nur entlang „großer Namen“ als Traditionslinie von legitimer Tragweite (siehe oben zur Kunst der Geräusche), sondern auch als ein Feld, das als Brutstätte neuartiger Ideen und Praktiken Bestätigung von anderen Feldern findet, die gemeinhin als avantgardistisch gelten. Sofern im Noise – je nach Sparte – Fortschritt als ein Muss verhandelt wird, wird alles andere mitunter hart sanktioniert. So fällt etwa John Olson, Mitglied der Noise-Band Wolf Eyes, in einem Interview mit Miami New Times ein hartes Urteil als Antwort auf die Frage, ob das Genre sich selbst überlebt habe: „Completely, 100 percent. […] All the categories, everything has run its course. The whole solo culture of it has invented a million people playing by themselves try ing to be geniuses. You’re getting a million one-way conversations“.13 In Insider-

12 Ohnehin mag man das als zwei Seiten einer Medaille betrachten: In beiden Fällen ist Fortschritt ein Thema. Die Ablehnung ist auch im Harsh Noise ein Fokus, und ohnehin handelt es sich bei ihr um eine hochgradig ironisierte Haltung.

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 71

kreisen wurde die Aussage belächelt, und doch konnte die Band ihren langjährigen Status als eine der Speerspitzen der Szene aufrechterhalten.

4.2 D OING SOUND UND S INN

ALS

E TABLIERUNG

VON

B EDEUTUNG

In seiner Vorbemerkung zu The New Soundscape formuliert R. Murray Schafer (1969) einen quasi-historischen Abriss über Frage „Musik oder nicht?“, die musikhistorisch perpetuiert in Erscheinung tritt. Die Darstellung zeigt, dass die Verhandlung darüber, ob Musik tatsächlich Musik ist, oft mit sozialen Konflikten verbunden ist: „Overheard in the lobby after the première of Beethoven’s Fifth: ‚Yes, but is it music?‘ Overheard in the lobby after the première of Wagner’s Tristan: ‚Yes, but is it music?‘ Overheard in the lobby after the première of Stravinsky’s Sacre: ‚Yes, but is it music?‘ Overheard in the lobby after the première of Varèse’s Poème électronique: ‚Yes, but is it music?‘ A jet scrapes the sky over my head and I ask: ‚Yes, but is it music? Perhaps the pilot has mistaken his profession?‘“ (ohne Seitenangabe).

Schafer zeigt, dass das musikalische „Wesen“ dem jeweiligen Klangereignis offenbar nicht per se immanent ist, auch wenn uns Beethovens Fünfte – und vielleicht inzwischen auch der Poème électronique – längst unzweifelhaft musikalisch erscheinen mögen. Die Kategorisierung als Musik – oder eben „Nichtmusik“ – unterliegt kollektiv konstituierten sozialen Praktiken, die sich eben nicht in einem mentalen oder kognitiven Erkennen im Sinn einer geglückten Rezeptionsleistung erschöpfen. Ein alltägliches Beispiel soll in Hinblick auf eine nachfolgende Kontrastierung an ein Konzertgeschehen aus dem Spektrum der Neuen Musik einen ersten empirischen Aufschluss über den Umfang der Nichtwesenhaftigkeit gewähren: Wenn eine Sozialwissenschaftlerin beim angestrengten Nachdenken in ihrem Büro mit einem Kugelschreiber wiederholt an ihre Kaffeetasse tippt, wird diese Handlung im Regelfall nicht als Musik verhandelt. Im Konzertsaal aber ist eine

13 Online: http://www.miaminewtimes.com/music/wolf-eyes-john-olson-says-noise-mus i c-is-over-completely-100-percent-6483837, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Preira (2013).

72 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ganz ähnliche Hervorbringung von Klang für ein Publikum durchaus als einem musikalischen Kontext zugehörig erkennbar, wie das Beobachtungsprotokoll eines Auftritts des amerikanischen Komponisten Alvin Lucier – der im Noise, wie erwähnt, zahlreichen KünstlerInnen als Einfluss gilt – im Haus der Berliner Festspiele zum Anlass der Festivalreihe MaerzMusik zeigt: Auszug aus meinen persönlichen Notizen, März 2009, überarbeitet im Juli 2015: Auf der Bühne steht ein relativ breiter Tisch, der längs zum Publikum platziert wurde, das der Bühne in aufsteigenden Reihen, ca. 30 an der Zahl, gegenüber sitzt. Auf dem Tisch sind mehrere kleine Alltagsgegenstände nebeneinander aufgestellt, darunter etwa Kaffeetassen oder Streichholzschachteln. Lucier betritt die Bühne und verzichtet auf jegliche direkte Interaktion mit dem Publikum: Keine verbale oder gestische Be grüßung findet statt, ebenso wenig gibt es eine Verbeugung vor dem Publikum, das lediglich einen zeitlich knapp bemessenen, in Frequenz und Lautstärke zurückhaltenden, dabei „wohlwollenden“ Applaus spendet, bevor das eigentliche Bühnengeschehen ohne weitere Einleitung beginnt. Luciers Blick erfasst das Publikum allenfalls kurz, und er widmet sich direkt dem ersten der aufgereihten Gegenstände, den er in Brust- bis Kinnhöhe vor sich hält, um ihn im Folgenden mit einem kleinen Stöckchen, das an einen kurz geratenen Taktstock erinnert, in knappen Intervallen und von mehreren Seiten sowie aus unterschiedlichen Winkeln abzuklopfen, um dem (vermeintlichen?) Alltagsgegenstand, wie es scheinen muss, also ein betont facettenreiches Spektrum an möglichen Klängen zu entlocken. So geht das Procedere mit den weiteren, insgesamt etwa 20–30 Gegenständen weiter, wobei der Künstler sich jedem Objekt allerhöchstens eine Minute widmet. Es verstreichen etwa zwei bis drei solcher „Abklopfungen“, bis für mich als Beobachter unmissverständlich ist, dass es im weiteren Fortschreiten des Auftritts zu keinem Bruch mit dieser Routine kommen wird. Die dargestellten Klangspektren per se sind keinesfalls als ungewöhnlich zu beschreiben – ganz im Gegenteil sogar, sie sind ausgesprochen alltäglich, wenngleich sie „vertieft“ wirken, indem die Aufmerksamkeit der ZuhörerInnen bewusst auf sie gelenkt wird. Ein Hervorbringen offensichtlicher rhythmischer Figuren findet beim „Klopfen“ im Übrigen nicht statt.

Im Anschluss dieser Beschreibung interessiert mich in Bezug auf die praktische Etablierung von Klang- und Hörerfahrung: Unter welchen räumlichen, affektiven, performativen, gewährleistenden und beschränkenden Bedingungen, denen das auditiv wahrnehmbare Klanggeschehen immer teilhaftig ist, ist das, was der Künstler – in praktischer Kooperation mit Raum und Publikum – als scheinbarer Autor des Geschehens hervorzubringen scheint, als Konzert, als sinnvolle Dar-

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 73

bietung von Musik oder kunstvollem Klang für TeilnehmerInnen erkennbar? Grundlegend muss also danach gefragt werden, wie sich ein Hören praktisch vollzieht, im Sinn einer grundlegenden Inventarisierung beteiligter Körper, Affekte, sites, Materialitäten und Diskurse. Wie also konstituiert sich das Hören in einem Verständnis, das das Soziale „wesentlich und allererst [als] ein Beziehungsgefüge situierter Praktiken“ (Schmidt 2012, S. 24) begreift? Die praxeologische Konstruktion des Objektes folgt der Kernannahme, dass ihre Gegenstände sich „in Feldern verkörperter, materiell vermittelter Aktivitäten und Prozesse, die entlang kollektiv geteilter praktischer Wissensformen organisiert sind“ (ebd., S. 31), konstituieren: „Praxisanalysen vollziehen einen Blickwechsel, um soziale Phänomene in ihrem Zustandekommen, in ihrer prozessualen, sich immer wieder aufs Neue vollziehenden Erzeugung verständlich zu machen. Ihr Fokus liegt auf solchen Vollzugswirklichkeiten, das heißt auf den Prozessen der Hervorbringung sozialer Ordnung in „gegenwartsbasierten Operatio nen“. […] So werden in einem praxeologischen Verständnis beispielsweise Phänomene wie ‚Klasse‘ oder ‚Geschlecht‘ nicht konzeptionell vorkonstruiert, sondern als Resultate und Voraussetzungen fortlaufender Praktiken des doing class oder doing gender aufgefasst“ (ebd., S. 32f.).

Meine Betrachtung des Auditiven folgt dieser Fokussierung auf die gegenwartsbasierte Operation abseits konzeptioneller Vorkonstruktionen und adressiert daher – am Beispiel Noise – ein doing sound. Zusammengefasst: Die vorliegende Studie fragt nicht nach den wesenhaften „Eigenschaften“ von Klang, die von Akteuren lediglich wahrgenommen, erkannt, kognitiv verarbeitet werden müssen, um Aufschluss darüber zu liefern, ob es sich bei dem Schallsignal, das in die Ohrmuschel eindringt, um ein artikuliertes oder ein unartikuliertes handelt. Wir kennen das Musikhören in der Alltagspraxis oftmals als eine scheinbar monologische Aktivität, die uns ganz und gar als Person, als fühlendes Individuum anzusprechen scheint, das tief empfindet und sich in diesen Empfindungen durch die AutorInnen oder die InterpretInnen des jeweiligen Musikstücks verstanden fühlt. Die Annahme, dass es Musik gleichsam im Alleingang leistet, uns in Stimmungen zu versetzen und uns zu affizieren, setzt eine romantisierte wie tendenziell reduktionistische Sichtweise auf eine wesenhafte Wirkmächtigkeit von Musik voraus. Blind ist diese Annahme zwangsläufig für jene Modi umfassender Sinnstiftung im Auditiven, die ein Erkennen organisierter Klangereignisse als Musik und – daran anschließend – als Musik von spezifischer Stimmung überhaupt erst gewährleistet. Philosophische Auseinandersetzungen kennen gar

74 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

die Rede von „ewigen Botschaften“, die der Musik grundlegend eingeschrieben sind. Demers (2010) fasst ein dementsprechendes Verständnis exemplarisch folgendermaßen zusammen: „What Hanslick and Scruton both take from Kant is the position that good music is uni versally recognizable because it conveys eternal messages rather than those contingent on social situation, time, or place. Good music is also universally meaningful and cannot be reduced to one specific reading, whether that reading emerges from a composer’s program or a scholar’s analysis. In the hands of Scruton as well as Adorno (2002a; 2002b), the Kantian position has justified the superiority of Western art music over pop, jazz, and world musics“ (S. 139f.).

Dass eine solche Auffassung von Wesenhaftigkeit möglich ist, weist darauf hin, dass wir auch im Rahmen von wissenschaftlichen Perspektivierungen mitunter blind für jene Deutungs- und Beglaubigungsvorgänge bleiben, im Zuge derer Sinn und Bedeutung in Aufführungen, Interaktionen, Transformationen usw. praktisch hervorgebracht werden. Meine Beschäftigung mit auditivem Sinn geht einen konsequent entgegengesetzten Weg zur Kantianischen Position und sucht insbesondere nach jenen Stationen von Verkörperung, Zeit, Raum, Kontext usw., in denen Botschaften und Bedeutungen, die immer nur vermeintlich ewig und universell sein können, hergestellt und sozial geleistet werden. So sehr ein alltägliches Sprechen über Musik oftmals die individuelle Vertiefung hervorhebt, so sehr also muss Klang von Vornherein nichtsdestoweniger als Bestandteil reziproker und allgemein verstrickungsreicher sozialer Praktiken begriffen werden. Wie Chaker (2014, S. 28) zusammenfasst, „[…] zeigte beispielsweise der Musiksoziologe und -ethnologe Christian Kaden auf, dass bei den Suya, einer indigenen brasilianischen Kultur, oder bei den Kaluli, einer Pa puakultur, „Musik“ als ein abstrakter Oberbegriff ebenso wenig existiert wie Ideen vom „rein Musikalischen“ (vgl. Kaden 2004: 21ff. und 1993: 19ff.). Die Abspaltung des Erklingenden vom Körperlichen und/oder Sprachlichen, wie sie sich in der abendländischen Musikgeschichte im Bereich der so genannten Kunstmusik ereignete, sei also keinesfalls als der Normalfall zu betrachten, sondern vielen Kulturen unbekannt, weil in diesen Musik mit allen Sinnen erlebt und erfahren werden müsse, um verstanden zu werden und um An schlusshandlungen anzuregen“ (vgl. ebd.).

Zu einem derart multisensorisch wie multisituiert orientierten Musikbegriff muss die Erschließung auditiver Sinnstiftung durch die praxeologische Perspektive ge-

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 75

radezu zwangsläufig eine ausgewiesene Nähe demonstrieren. Es ist meine Ansicht, dass auch die „abendländische Kultur“ in der Praxis des alltäglichen Vollzugs keine klare Trennung zwischen Musik und mit ihr verbundenen Sinneseindrücken oder Darstellungsrepertoires vollzieht. So bezeichnet das Wort Tango gleichermaßen einen Tanzstil wie ein musikalisches Genre – beide Aspekte sind vollkommen untrennbar miteinander verknüpft. So demonstrierte etwa der Aufstieg von MTV – als Music Television – in den achtziger und neunziger Jahren in Hinblick auf Musik eine Konzentration auf visuelle Aspekte, denen auch in wissenschaftlichen Fachdebatten beiläufig und selbstverständlich eine geradezu untrennbare Verbindung mit den musikalischen Inhalten zugesprochen wurde. 14 Gemeinhin strebe ich also einen sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in einem Aufzeigen und Nachvollziehen jener „Arbeit“ an, die von TeilnehmerInnen geleistet wird, um Klang als musikalisch oder unmusikalisch, als sinnvoll oder sinnfrei intelligibel zu machen. Hierfür ist Noise in seiner Beschaffenheit als „borderline case“ zwischen Musik und Geräusch, wie ich zeigen will, ein zur Beobachtung besonders günstiges Fallbeispiel, das die Bedingungen für ein praktisches Erkennen – und somit auch ein Zeigen – von Musik als Musik sozialwissenschaftlich erschließbar macht. Analog zu einer Soziologie des Visuellen, wie sie von Burri (2008) vorgeschlagen wird, fließt die Idee einer „visual performance“ (S. 355) im Rahmen der Studie somit in konkrete Darstellungen einer „sonic performance“ ein: In Anlehnung an jene Überlegungen, die Burri für das Visuelle formuliert, kann festgehalten werden, dass eine Soziologie des Auditiven nicht allein vom Klang „per se“, „sondern vielmehr von den sozialen Praktiken seiner Produktion, Interpretation und Verwendung ausgehen“ muss (ebd., S. 345, Hervorhebung im Original). Es findet dabei eine Auseinandersetzung mit der Etablierung sozialer Ordnungen statt, die Inspirationen von jener analytischen Akribie der Ethnomethodologie bezieht, die sich für die Leistungen von TeilnehmerInnen im Kontext situativer Begebenheiten interessiert: Sie verweisen auf ein Verständnis sozialer Praxis unter zentraler Berücksichtigung der „Alltagstechniken der Herstellung von Ordnung“ (Keller 2009, S. 94). Im Regelfall handelt es sich bei einem Erkennen von Musik als Musik um eine unhinterfragte Alltagspraxis, deren Normen15 demgemäß in latenter Weise zirkulieren (vgl. ebd., S. 109): Welche Arbeit

14 Zu einer inhaltlichen Veranschaulichung vgl. die Auseinandersetzungen von Jones (1997) oder Smith (2005) zu Gewalt, Sex und Drogenkonsum im Kontext vorwiegend amerikanischer Rap-Videos.

76 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

geleistet wird, verbirgt sich dem Alltagsblick gerade durch die beiläufige Selbstverständlichkeit, in der sie vollzogen wird. West und Zimmerman (1987) formulieren eine systematisch vergleichbare Selbstverständlichkeit für das mühelose Erkennen von Geschlechtszugehörigkeit und die damit korrespondierenden Zuschreibungen: „Competent adult members of [Western] societies see differences between [women and men] as fundamental and enduring differences seemingly supported by the division of labor into women’s and men’s work and an often elaborate differentiation of feminine and masculine attitudes and behaviors that are prominent features of social organization. Things are the way they are by virtue of the fact that men are men and women are women – a division perceived to be natural and rooted in biology, producing in turn profound psychological, behavioral, and social consequences“ (S. 128).

So, wie die Perspektive von West und Zimmerman im Folgenden einen konsequenten Bruch mit dem naturalistischen Trugschluss vollzieht, so muss auch das Erkennen von Musik als Musik in Hinsicht auf seine Selbstverständlichkeit gründlich hinterfragt und einem hinreichenden Perspektivwechsel unterzogen werden. Die Ethnomethodologie, im Vorangegangenen in Grundzügen skizziert und zudem im Verweis auf doing class und doing gender bereits tangiert (siehe oben), steht für Verfahrensweisen, mit deren Hilfe es möglich ist, jenen Aufwand zur Etablierung des mühelosen Erkennens, der in seiner Kenntlichkeit als Aufwand gleichsam unter dem Deckmantel seines alltäglichen Vollzugs verstummt, sozialwissenschaftlich erschließbar zu machen. Was die Ethnomethodologie also anbietet, ist eine spezifische Perspektive auf das Wesen und den Ursprung von sozialer Ordnung. So werden „Top-down“Modelle grundlegend zurückgewiesen und stattdessen der Blick den „Bottomup“-Modellen zugewandt: „[It] seeks to recover social organization as an emergent achievement that results from the concerted efforts of societal members acting within local situations. Central to this achievement are the various methods that members use to produce and recognize courses of social activity and the circumstances in which they are embedded“ (Maynard/Clayman 2003, S. 174).

15 In dieser Arbeit vertrete ich keinen starken Normbegriff. Im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass das, was als Normen, Regeln etc. begriffen wird, nichts Festgeschriebenes ist, sondern etwas mitunter Verlässliches, das beständige Etablierungsarbeit erfordert.

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 77

Hierbei eröffnet Noise als Gegenstandsbereich im Übrigen besondere Potenziale für Überlegungen um Störung als Sichtbarmachen von sozialer Ordnung. So argumentieren etwa Breidenstein et al. (2013) für die Anerkennung von Krisen als glückliche Momente ethnografischer Forschung, „denn dann werden Erwartungen, Regeln und praktisches Wissen expliziert, die in der Routine des Vollzugs wie selbstverständlich vollzogen werden“ (S. 29). Noise, so lässt sich daran anschließen, sorgt mit seinem von Insidern wie Kritikern hervorgehobenem Hang zur Störung für ein nahezu permanentes, systematisches Sichtbarmachen – oder gar: Hörbarmachen – von Ordnungen, die gleichsam implizit referenziert werden und in charakteristischen Klangbildern eine flüchtig materialisierte Irritation erfahren. Meine Studie gewährt somit – in einer Anerkennung der paradoxen Kollektivität des Feldes – einen vertiefenden Einblick in die Verschränkung von Klang und sozialer Ordnung, die über den direkten Gegenstandsbereich hinaus Debatten um ein Spannungsfeld zwischen Irritation/Störung und der praktischen Etablierung von Ordnung entlang des Auditiven bereichern: Die ungeklärte Unsicherheit – Musik oder unartikuliertes Geräusch? – macht sich die Untersuchung zunutze, um das von Maeder formulierte Desiderat (siehe 1.2. Wissenschaftlicher Kontext und Desiderat der Studie) zur Auseinandersetzung mit Klang abseits einer a priori unterstellten Kommunikativität im Sinn einer Anlehnung an ein durchaus ethnomethodologisches Verständnis sozialer Praxis spannungsreich zu beleben und argumentativ zuzuspitzen.

4.3 G RENZFALL : Z WISCHEN M USIK

UND

G ERÄUSCH 16

Die Frage, ob Noise nun Musik ist oder nicht, zirkuliert innerhalb des Feldes auch unter Insidern – oft ironisiert. Der nachfolgende Fall zeigt gar eine humor volle Anerkennung einer Unsicherheit evozierenden Nähe der eigenen Klangproduktionen zum Alltagsgeräusch: Ein weiterer Cartoon, der innerhalb der Gegenstandskultur auf sozialen Medien wie Twitter kursiert, zeigt im ersten Bild zwei einander fixierende Figuren, von denen eine steht und die andere auf einer Art Schreibtischstuhl sitzt. Der sitzenden Figur steht eine euphorische Regung geradezu ins Gesicht geschrieben: Mit aufgerissenen Augen sitzt sie da, die Mundwinkel in schierer Überwältigung nach oben gezogen; ihr ganzer Körper scheint vor Begeisterung geschüttelt. Sie trägt ein Paar Kopfhörer auf ihrem Kopf und gibt ihrem Gegenüber in gedrängten, teils fett gedruckten Blockbuchstaben zu

16 Das Unterkapitel nimmt Material aus Ginkel (2015) und Ginkel (2017) auf.

78 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

verstehen: „Uh-huh! Right now I’m listening to Japanese Noise music that’s all just low humming with the occasional click and crackle. There are so many subtle polyrhythms going on at once, I can barely concentrate!!“ Im zweiten Bild jedoch folgt die Ernüchterung: Figur Nr. 2 klärt auf, mit sichtlich abgeklärter Mimik: „Pip. That’s the toaster“. Figur Nr. 1, soeben noch euphorisch und von Begeisterung scheinbar überwältigt, steht nun die Entzauberung ins Gesicht geschrieben: Ihre Augen sind zwar nach wie vor weit aufgerissen, scheinen nun aber ernüchtert ins Leere zu starren, während die übrige Mimik ein enttäuschtes, plötzliches Herausgerissenwerden aus einem elektrisierten Gemütszustand suggeriert. Damit die BetrachterInnen am Ausmaß der Enttäuschung in aller gebotenen Fülle partizipieren können, folgt noch ein drittes Bild, auf dem unser Protagonist schließlich klassisch „den Kopf hängen“ lässt, während Figur Nr. 2 die Szene verlässt. „Pip“ war – auf ein „pures“ Hören und nicht auf den übrigen so ziomateriellen Kontext konzentriert – einem Irrtum aufgesessen: Das war nicht Noise, das war nur Geräusch. All die schönen subtilen Polyrhythmen: nur ein Produkt der Fantasie? Noise ist ein von TeilnehmerInnen als solcher identifizierbarer – und somit potenziell „verhandelbarer“ – Grenzfall zwischen Musik und banalem, profanem Geräusch. Was aber ist es, das Geräusch und Musik klar erkennbar voneinander unterscheidet? Dass Musikalität Geräuschen keinesfalls „wesenhaft oder nicht wesenhaft“ ist, wurde im Vorangegangenen geklärt und soll nun für den Fall Noise spezifiziert und zugespitzt werden: Es drängt sich im Anschluss die Frage nach Techniken des Hörens und der Kontextualisierung auf. Es ist dabei Gebot der praxeologischen Perspektivierung, an jenem Punkt nicht in der Wahrnehmungsperspektive zu verweilen, sondern die charakteristische Rede von spezifischen Sinneseindrücken, Emotionen und Affekten vielmehr als Fährtenlegung im Sinn der Erschließung dessen zu begreifen, was von TeilnehmerInnen performativ geleistet wird. Selbst erlebte auch ich als „complete member“ in meiner Feldarbeit eine stutzig machende Situation um „Musik oder Geräusch?“ im Rahmen einer Konzertveranstaltung im Frankfurter Institut für Neue Medien. Die nachfolgende Episode, die einige Minuten der Unsicherheit vor – oder während? – einer Noise-Performance beschreibt, demonstriert in exemplarischer Weise, dass es bei mangelnder Kontextinformation offenbar schwer fällt, ein Urteil über „Musik oder Nichtmusik“17 zu fällen. Selbst ein insgesamt ausgewiesenes Konzertsetting ver-

17 Angelehnt ist „Musik oder Nichtmusik“ basal an „Kunst oder Nichtkunst“ (vgl. Zembylas 1997).

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 79

mag also im besonderen Fall nicht jene Zweifel zu klären, die sich einstellen, wenn Rauschen bar jeder Variation wiedergegeben wird: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Auffällig ist, dass aus den beiden Lautsprechern bereits in der Wartezeit vor dem ersten Konzert 18 ein musikalisch wirkendes Rauschen ertönt, und ich frage mich beim Hören dieses Rauschens, was genau es ei gentlich für mein Empfinden so musikalisch macht: Ich komme darauf, dass es nicht vollkommen beliebig wirkt, dass da etwas „Orgelhaftes“ in der Gleichförmigkeit mitschwingt, eben tatsächlich wie ein durchgedrückter, gehaltener Orgelton, wenngleich von starker Verzerrung, eben von einem dominanten Grundrauschen nicht begleitet, sondern vielmehr vollständig eingenommen, so dass man die musikalische Komponente erahnt wie einen „Hauch von nichts“, wie eine Ahnung von etwas, das mal dagewesen sein könnte. Ich bin hin- und hergerissen dazwischen, tatsächlich „etwas Musikalisches“ wahrzunehmen, und der Annahme, dass es sich bei dieser Wahrnehmung um ein Produkt der eigenen Einbildung handeln muss. Das Hören gestaltet sich, als würde man Figuren und Formen in einem dichten Nebel erkennen, ohne zu wissen, ob man nun „tatsächliche“ Formen erkennt, Umrisse von handfesten Gebilden oder Gegenständen, oder ob es sich vielmehr um die einzelnen Schichten des Nebels selbst handelt, die einen glauben machen, man würde „hinter dem Nebel“ etwas erkennen.

Das Hören und Erkennen von Noise erscheint vor dem Hintergrund dieser Notiz von einer rezeptiven Kreativität geprägt zu sein. Man mag sich daran erinnert fühlen, wie Ludwik Fleck – mit Bezug auf das Visuelle – „die Möglichkeit eines voraussetzungslosen Beobachtens“ bezweifelt und dem gegenüber ein „unklares anfängliches Schauen“ von einem „entwickelten Gestaltsehen“ unterscheidet (Schindler/Liegl 2013, S. 56). Gestalt freilich ist ein voraussetzungsreicher Begriff, der bis zu Hegels Phänomenologie des Geistes zurückreicht und später zunächst durch die Gestaltpsychologie, dann durch das Verfahren der Gestalttherapie geprägt wurde. Arnheim (1943) zufolge ist dem Gestaltbegriff eine grundlegende Kritik gegenüber einer sensorischen Partikularität immanent. Gestalttheorie wird begriffen als: „[…] an attitude which refuses to reserve the capacity of synthesis to the higher faculties of the human mind, but emphasizes the formative powers and, if I may say so, the ‚intelli gence‘ of the peripheral sensory process, vision, hearing, touch, etc., which had been re 18 Der Musiker hat die Bühne noch nicht betreten, das Licht im Saal wurde noch nicht gelöscht. Daher gehe ich davon aus, dass die „eigentliche“ Performance noch nicht begonnen hatte.

80 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

duced by traditional theory to the task of carrying the bricks of experience to the architect in the inner sanctuary of mind. From this attitude results a strong sympathy with, and an intimate understanding of, the artist. For through his eyes and ears, the artist directly grasps the full meaning of nature’s creations, and, by organizing sensory facts according to the law of ‚prägnanz‘, unity, segregation, and balance, he reveals harmony and order, or stigmatizes discord and disorder“ (S. 71).

Selbst spreche ich vom Gestalthören in einem begrifflich weniger starken, weniger gefestigten Sinn, der jedwede Lücke zwischen einem „tatsächlichen“ Erkennen von Gestalt und einer kreativen Imagination der sozialen Sinnstiftung überlässt – entlang von Raumkonstitutionen, körperlichen Aktivitäten, kursierenden Leidenschaften und Transformationsleistungen. Nimmt man die Möglichkeit einer Art „projektiven Imagination“ (vgl. etwa Huber 2008) für die Wahrnehmung des Auditiven in Hinblick auf Noise an, könnte man für den Gegenstand leicht den entscheidenden Schritt weiter gehen und die These in den Raum stellen, dass das entwickelte Gestalthören hier potenziell ad absurdum geführt wird: Derart notwendig muss es scheinen, die eigenen Hörfertigkeiten im zunehmend kompetenten Umgang mit Noise zu schulen, dass diese Fertigkeiten quasi über das Ziel hinausschießen können, vielleicht sogar müssen. Die nachfolgende Beschreibung zeigt, dass eine solche Auffassung im Feld jedenfalls zirkuliert: Auszug aus den Feldnotizen, Dezember 2014: Im Hintergrund läuft zur Überbrückung zwischen zwei Auftritten eine Art geräuschhafte Ambient-Schleife – leise und doch gut vernehmbar. Ein Veranstalter sagt den drei oder vier in der Pause Verbliebe nen, zu denen auch ich gehöre: „Frank [ein anderer Organisator] hat das angemacht, das ist so Entspannungsmusik!“ Es folgt allgemeines Gelächter. Wenig später: Ein Besucher klinkt sich ein in eine Unterhaltung zwischen mir und einem Nebenmann, die sich weiter um die Ambient-Beschallung in der Pause dreht, und er sagt uns, wenn man einen solchen Loop lange höre, suche man natürlich nach irgendwelchen Mustern oder Variationen beim Hören. Ich versichere ihm: Das ginge mir ähnlich, und ich fände das Hören dann besser erträglich.

Die Auffassung einer projektiven Imagination als ein vages Gestalthören streut als schlüssige Sinnstiftung des Feldes eine wichtige Fährte in ihrer Anregung zur Beschäftigung mit einer im Feld plausiblen Interpretationslogik, die Formen, Muster und Gestalt – in deren An- und Abwesenheit – thematisiert. Die episodische Anlehnung an eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Verkör-

4. N OISE ALS G EGENSTANDSBEREICH

| 81

perungen im Feld der Dancehall-Musik vermag nun diese Fährtenlegung mit einer Perspektive zu verschränken, die ein potenziell kreatives Gestalthören mit der Frage nach der Beteiligung des Körpers verbindet. Zu den „vibrations“ in der Dancehall-Musik bemerkt Henriques (2010): „[They] afford a re-turn to embodiment and the kind of meaning, understanding and ‚making sense‘ that can be ‚grasped‘ as a pattern or Gestalt. This is a shift away from accounts of meaning in terms of discourse or representation, as well as a reaction against the recent research emphasis on the uses of digital technologies“ (S. 59).

Das eindeutige Muster – etwa im Sinn eines regelmäßigen Metrums – ist in Bezug auf Noise freilich nicht als Bezugsgröße heranzuziehen. Vielmehr ist es angebracht, in Hinblick auf Bewegungen, Gesten und Mimiken die spezifischen Repertoires des Feldes zu berücksichtigen. Gefragt werden muss folglich danach, inwiefern eine Noise-typische Klangerfahrung auf mit den „vibrations“ vergleichbaren Formen der Verkörperung rekurriert: Ebenso, wie Henriques körperlicher Bewegung im Kontext jener „vibrations“ eine erhellende Rolle in der Erschließung affektiver Gesichtspunkte zuerkennt, so will ich diesen Ansatz auf vergleichbare Phänomene im Noise übertragen. Dieser Aspekt wird analytisch besonders im Kapitel Klang-Raum-Körper vertieft, das eine Schilderung performativer Repertoires und damit zusammenhängender Raumkonstitutionen inkludiert. Das nachfolgende Kapitel zu Hörkompetenz und Distinktion tritt diesbezüglich vorläufig einen Schritt zurück und nimmt sich der sozial distinguierenden Auffassung von besonders ausgeprägten, besonders „befähigenden“ Fertigkeiten an: In diesem Kontext frage ich mit einem externalistischen Bruch gegenüber der Wahrnehmungsperspektive, was durch TeilnehmerInnen basal in beobachtbaren Raum- und Körperordnungen geleistet wird, um eine Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“ plausibel zu machen. Perspektiven, die entlang einer Öffentlichkeit sozialer Praktiken (vgl. Lynch 1997) argumentieren, müssen schließlich über eine potenziell idiosynkratische Beschreibung augenscheinlich „innerer“ Wahrnehmungsphänomene hinausreichen und demgegenüber jene Wahrnehmung im Sinn geteilter Sinnwelten des Feldes fokussieren: „Beim Vollzug einer Praktik kommen implizite soziale Kriterien zum Einsatz, mit denen sich die Akteure in der jeweiligen Praktik eine entsprechende ‚Sinnwelt‘ schaffen, in de nen Gegenstände und Personen eine unbewusst gewusste Bedeutung besitzen, und mit denen sie umgehen, um routinemäßig angemessen zu handeln“ (Reckwitz 2003, S. 292).

82 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Sinnwelten also werden kollektiv geteilt, und die augenscheinlich sensorischkognitive Qualität von Klangerfahrung geht gleichsam in dieser Geteiltheit auf. Verortet werden muss somit die Teilnehmererfahrung inmitten jener „praktischsymbolische[n] Deutungs- und Beglaubigungsvorgänge“, durch die soziale Ordnungen vorwiegend zustande kommen (Schmidt 2012, S. 41). Wie sich solcherlei Vorgänge praktisch konkretisieren, will ich also nachfolgend illustrieren und analysieren. Schlussendlich will ich hierbei auch klären, inwiefern Noise – in der praktischen Verhandlung mit der Frage um „Musik oder Geräusch?“ – in eine Normativität sozialer Praktiken involviert ist, die bei aller feldinternen Rhetorik um die experimentelle Qualität der Klangproduktionen den Blick auf den Anschluss an Konventionen freigibt. Das Verhältnis zwischen Experiment und normativer Verlässlichkeit, zwischen Dynamik und Routine, wird somit erstmals angerissen und im Verlauf darauffolgender Kapitel weiter vertieft. Wie eine Distinktion zwischen Musik und Geräusch vom Feld in normativer Beiläufigkeit als Deutungsvorgang in actu geleistet wird, zeigt im folgenden Kapitel etwa der Unterabschnitt zum „concert for one person“.

5. Hörkompetenz und Distinktion

Unter TeilnehmerInnen zirkuliert die Vorstellung, dass es spezifisch ausgebildeter Hörfertigkeiten bedarf, um Noise als sinnvolles Klangereignis wahrzunehmen. In befremdender Absicht auch gegenüber meiner eigenen Teilnehmerperspektive wähle ich im vorliegenden Kapitel einen gezielt „gebrochenen“ Blick, der sich dem Hören als bloßem Wahrnehmungsphänomen gegenüber distanziert und mit einer leichten Spitze danach fragt: Wie lässt sich die kursierende Rede von besonderen Hörfertigkeiten mit typischen Konzertverläufen und den damit einhergehenden Raum- und Körperordnungen in Einklang bringen? Noise als Szene oder Subkultur kennt schließlich die Auffassung von einem verstehenden und somit fähigen „Innen“ seiner selbst sowie von einem „Außen“, das dezidiert nicht versteht, dem die Klangproduktionen folglich ein Rätsel bleiben müssen. Im Sinn des praxeologischen Perspektivwechsels soll nun geklärt werden, inwiefern eine solche Unterscheidung in Szenarien geleistet, symbolisiert oder plausibilisiert wird, die der ethnografischen Beobachtung offenstehen. Schützeichel (2010) begreift Kompetenz „als eine evaluativen Standards gehorchende Kategorie“, die „Personen dann zugesprochen wird, wenn diese in Bezug auf spezifische Aufforderungen oder Anforderungen in einem relevanten Kontext ein bestimmtes ‚Können‘ aufweisen“ (S. 181). Dieses basale Verständnis von Kompetenz, das also ein Zeigen und Erkennen voraussetzt, soll das vorliegende Kapitel theoretisch informieren.1 Noise gegenüber wird unter KennerInnen mitunter von einer regelrechten Hassliebe gesprochen, während zugleich die Auffassung von geradezu kathartischen Qualitäten der Klangerfahrung kursiert. In den extremen Spielarten des Genres – wie Harsh Noise Wall – verdichten sich diese Haltungen in der zu zitierenden Aussage, Noise sei nicht schwer zu machen, sondern lediglich schwer zu ertragen. Dieses Schwer-ertragen-Können, das also auch für KennerInnen mit1

Eine theoretisch umfassend aufgeladene Diskussion erhält die Auseinandersetzung mit Kompetenz und praktischen Wissensbeständen im achten Kapitel der Arbeit.

84 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

unter virulent wird, ist Dreh- und Angelpunkt der daran anschließenden Argumentation zum „Hören für Fortgeschrittene“. Zugleich nämlich kursiert innerhalb der Kernszene die scheinbar paradoxe Haltung, dass es als Erfolg gewertet werden kann, wenn BesucherInnen ein Noise-Konzert frühzeitig verlassen. Die Wertschätzung hat freilich eine normative Seite: Wenn es BesucherInnen gibt, die ein Konzert frühzeitig verlassen, während andere bleiben, lässt sich die Auffassung von besonderen Hörfertigkeiten unter KennerInnen stimmig plausibilisieren. Dass beide Seiten – „verlassende“ Zaungäste (zum Begriff mehr im achten Kapitel) wie bleibende KennerInnen – ein Klanggeschehen mitunter als schwer erträglich auffassen, tut der Distinktion zwischen Insidern und Outsidern keinen Abbruch, denn die Insider können sich hier auf die charakteristische Hassliebe oder die kathartische Wirkung berufen: Unter ihnen zirkuliert – in Anlehnung an Becker (1995) – gleichsam eine „willingness to be annoyed“. Thematisiert wird die situativ also mitunter ganz räumliche Trennung in KennerInnen und NichtkennerInnen als eine distinguierende Exklusion, die ich mit einem Verständnis der Logik von Feldern nach Pierre Bourdieu in Einklang bringen möchte: Argumentiert werden soll dabei, dass gegenüber den Frusterfahrungen des Feldes – man spielt vor wenig Publikum, und dieses bricht zuweilen den Konzertbesuch ab – die damit einhergehende soziale Exklusion zu einer stimmigen Auffassung bestimmter Fertigkeiten befähigt. Schlussendlich liefert der Fall einen Blick auf die Normativität des Feldes in Hinblick auf die Frage „Musik oder Geräusch?“ allgemein. Somit diskutiere ich im vorliegenden Kapitel Legitimierung und Kapitalerwerb vor dem Hintergrund augenscheinlich vollkommen prekärer Umstände.

5.1 F RAGEN DER B EWERTUNG F ÄHRTENLEGUNG

ALS ETHNOGRAFISCHE

Die Kontextabhängigkeit von Aussagen wird greifbar, „wenn Regeln gesucht werden, um die Bedeutung eines Satzes ohne die Interpretation eines kompetenten Sprechers zu identifizieren“ (Miebach 1991, S. 179). Eindeutige Bewertungen nach dem Muster „gut oder schlecht“ fallen oftmals selbst InsiderInnen schwer, wenn es um Noise geht. Deutlich wird dieser Umstand etwa, wenn darüber verhandelt wird, ob man ein Noise-Event als „nett“ bezeichnen kann, wie die folgende Feldnotiz zeigt, die eine Szene der abschließenden Moderation am Ende eines längeren Konzertabends beschreibt:

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 85

Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Nach dem Konzert knipst einer der Veranstalter im Raum das Licht an und sagt auf Englisch, dass das ein netter Abend gewesen sei und dass er sich bei den KünstlerInnen bedanken wolle. Einer von ihnen meldet sich zu Wort: „Nice? I think it is not the right word, ‚nice‘“. Er windet sich da bei auffällig hin und her, etwas Schweiß steht ihm auf der Stirn. Der Veranstalter gibt sich eloquent: Wir seien doch hier alle Freunde der experimentellen Musik, und für solche sei das eben schon „nice“ gewesen.

Einer Kollegin gegenüber, die Noise nur aus meinen Erzählungen kennt, schildere ich im April 2013 ein Konzert des Noise-Musikers Zbigniew Karkowski, das ich am Vortag besucht hatte, und begeistert sage ich ihr, der habe „den Club aufs Übelste in Schutt und Asche gelegt“. Sie sieht mich an, und ich erkenne, dass sie meine Begeisterung nicht recht mit dem Inhalt des Gesagten in Einklang bringen kann. Schließlich empfiehlt sie mir: das müsse ich in jedem Fall thematisieren, inwiefern das in meinem Feld etwas Positives sei, einen „Club in Schutt und Asche zu legen“. Der Umgang mit Klang und Klangerfahrung ist im Noise offenbar hochgradig indexikal (im Sinne Garfinkels, vgl. zum Begriff etwa Miebach 1991, S. 178f.): Die von mir geäußerte Formulierung bedeutet hier nicht Abneigung; „in Schutt und Asche legen“ impliziert vielmehr bildhaft eine erstrebenswerte Verwüstung durch bloßen Klang, eine ungebremste Durchschlagskraft der dargebotenen Soundkreationen. Die Äußerung ist ein Kompliment an Konsequenz und Drastik: Das können aus TeilnehmerInnensicht nur echte Meister ihres Fachs, und es ist im Übrigen reizvoll, Außenstehenden – mitunter erfolglos – erklären zu müssen, warum das etwas „Gutes“ ist. Im Folgenden will ich das weiter auffächern: Was „können“ Noise-KennerInnen eigentlich in Hinblick auf das Hören, das andere augenscheinlich „nicht können“? Oder vielmehr: Wie eigentlich wird diese Unterscheidbarkeit sozial – im Übrigen auch im Zusammenspiel verschiedener Teilgruppen – „geleistet“? Dem steht als Einschub eine kurze methodologische Überlegung voran. Die Feldimmersion im Sinn einer „opportunistic complete membership“ erfordert grundsätzlich eine gesteigerte Reflexivität sowie ein kritisches Infragestellen eigener TeilnehmerInnenkonstruktionen. Im Feld von Noise kursiert beispielsweise die Annahme von Fähigkeiten zum „geübten Hören“: Wenn man so will, handelt es sich dabei um Wahrnehmungskompetenzen, die HörerInnen innerhalb des Feldes mitunter für sich beanspruchen und die es ihnen, der kursierenden Auffassung gemäß, gestattet, dort Musik zu hören, wo „andere“, die über ein solch besonderes Hören nicht verfügen, nur beliebiges Geräusch identifizieren.

86 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Mit leicht ironischer Schlagseite trägt die Frankfurter Konzertreihe Phonophon auf Werbemedien wie Stickern z.B. den Untertitel: „Hören für Fortgeschrittene“. Die Stationen der praktischen Etablierung und Beglaubigung dieser Insiderperspektive lassen sich analytisch erst dann erschließen, wenn eine Distanzierung von jener Auffassung einer „Wahrnehmung“ erfolgt, die der Rede vom gekonnten, vom privilegierten Hören inhärent ist. Hier kann eine spezifische Auffassung von den Methoden ethnografischer Feldforschung für die notwendige Selbstirritation sorgen: Grundsätzlich müssen Interpretationen im Sinn einer Anerkennung der Tatsache erfolgen, dass in TeilnehmerInnen nicht „hineingeschaut“ werden kann. Bloße Annahmen im Sinn von TeilnehmerInnenkonstruktionen, und mögen sie aufgrund der eigenen Involviertheit und Habituierung innerhalb des Feldes noch so verlockend erscheinen, treten in diesem Sinn gegenüber jener Konkretheit zurück, die der Beobachtbarkeit in fassbaren Situation offensteht (vgl. Dellwing/Prus 2012, S. 26). Die Rede von einer besonderen Wahrnehmung, einer geübten Hörfertigkeit wird als wegweisendes Datum nicht verworfen. Vielmehr muss ihre Schlüssigkeit im Feld mit Blick auf die performative Arbeit von TeilnehmerInnen nachvollzogen werden. 5.1.1 Das „Innen“ und „Außen“ der Noise-Erfahrung 2 Noise wird also in TeilnehmerInnenkonstruktionen des Feldes – dabei auch kooperativ mit Außenstehenden – als ausgewiesen „schwer begreifbar“ hervorgebracht. Zur exemplarischen Darstellung will ich in Grundzügen auf das Gedächtnisprotokoll eines ethnografischen Interviews zwischen mir als Noise-Musiker und einer „Außenstehenden“, die selbst angibt, dass sie Noise „nicht versteht“, rekurrieren. Zwar leuchte ihr „intellektuell“ ein, was der Reiz am Geräusch womöglich ist. Demgegenüber argumentiert sie jedoch eine „emotionale“ Unzugänglichkeit. Es ist dieses Spannungsfeld, das in Gesprächen wie diesem nicht nur etabliert, sondern gekonnt performiert wird, gleichsam als ein doing taste. In der Anfangssequenz des Protokolls ist ersichtlich, wie aus Fan- und Musikerperspektive keine Dringlichkeit ausgedrückt wird, das bestehende Nichtbegreifen zu korrigieren: „Du musst es ja nicht verstehen“. Wenn jemand nicht versteht, ist das für das Feld mehr als akzeptabel. Das Unverständnis gegenüber Noise wiederum wird im Gespräch durch mein Gegenüber der „reinen“ Geräuschhaftigkeit der Klangproduktionen zugeschrieben. Der Musiker (ich) gibt sich hier wiederum als Kenner der Materie und betont ein Vorhandensein von musikalischen oder klanglichen Motiven, „die immer wiederkehren, die irgendwie verlässlich 2

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2017).

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 87

sind – zum Beispiel Klänge oder Dynamiken, die man als mitreißend erkennt“. Im Selbstverständnis bin ich hier als Kenner dazu imstande, diese Motive im Vollzug des Hörens zu identifizieren, während meinem Gegenüber dieses „Privileg“ aufgrund mangelnder Übung und Kennerschaft verwehrt zu bleiben scheint. Von beiden Seiten wird Noise hier also als ein Phänomen hergestellt, das die einen „verstehen können“ und das den anderen wiederum verschlossen bleibt. Der „nicht verstehenden“ Teilnehmerin erschließt sich das Klanggeschehen von Noise nicht als musikalisch: Sie hört, wie sie angibt, in den Produktionen lediglich „unangenehme Frequenzen“, „irgendwelche Klicks“ und „einfach Rauschen“. In jener Perspektive mangelt es Noise an etwas. Ich wiederum betone den Reiz von Noise schlussendlich in der Präsenz von „extremen Ideen“, und ich referenziere auf ein Verständnis von Noise als „Stressmusik“, als „Soundtrack zur inneren Unruhe“. Zu Teilen erkenne ich das flüchtige Gespräch einige Zeit später in Grundzügen in einem Online-Cartoon aus der anonym verbreiteten Reihe Harsh Noise Wally wieder, in der Strips aus dem populären Arbeitswelt-Comic Dilbert Noisespezifisch modifiziert werden: „Can you explain this Harsh Noise Wall thing to me?“, fragt hier eine interessierte Frau den Protagonisten. Dieser antwortet mit einem knappen „No“, um dann auszuführen: „Not only do I not want to, not only is it something that’s just not discussed, I don’t think you’re capable of comprehending the entirety of what it is“. Entwaffnend fragt die Frau daraufhin: „Is it because you don’t really understand it yourself?“ Harsh Noise Wally wendet sich ab: „This conversation is over“.3 Unverständnis wird hier als solches konserviert, und für das Verstehen von Harsh Noise wird demgegenüber explizit eine Kompetenz, ein „being able to comprehend“, benannt. Die obige Auffassung von „Stressmusik“ bei gleichzeitiger Irritation oder gar vollkommener Negation konventioneller Musikformen will ich im Folgenden weiter vertiefen. Das abstrakt räumliche „Innen“ der Kennerschaft und Gruppenzugehörigkeit scheint hier schließlich verbunden mit dem affektiv-emotionalen „Innen“ der betont „tiefen“ Empfindung. Dazu ein Beispiel: Im Rahmen der Netlabel-Compilation A Documentary of Women in Experimental Music (Various Artists 2012) versammelten sich in Eigenregie weibliche Noise-Musikerinnen als Vertreterinnen einer noch immer exotisierten Akteursgruppe, um u.a. im Rahmen bekenntnisartiger Spoken-Word-Stücke die angenommene Motivation für

3

Online:

http://harshnoisewally.tumblr.com/post/137572287816,

12.02.2016. Siehe Internetquellen: Harsh Noise Wally (2016).

zugegriffen

am

88 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

das eigene Schaffen offenzulegen. Unter dem Titel Why I Make Noise gibt die Musikerin Christina Amelia zu Protokoll: „I make noise because the world is so strange and beautiful. Everything that I experience [...] bounces around inside me and then it comes out [...]. And so, when I try to express that I try to share that with other people, like what it’s like to be me and the way that I ex perience the world. That’s what it is… it’s chaotic [...]. Some people really have a gift for taking their experience and express it in an orderly way – in poetry, or in traditional song structures [...], representational painting... and that’s awesome, I really like that stuff “ (ebd.).

Ihrem eigenen Empfinden entspreche nun mal aber vielmehr das Chaotische: „That’s what it is, how I experience the world and all the feelings that arise in me [...] and so I just feel like I’m about to explode or like I’d start screaming“ (ebd.). Noise ist also im Verständnis der Künstlerin äußerst individuell, spiegelt „Inneres“ wider – oder anders ausgedrückt: gewährt Einblick in ein reizvoll chaotisches Innenleben. Noise grenzt sich hier ab von der geordneten Struktur und von Traditionen; Noise betont intensive Empfindungen, und geradezu zwangsläufig, so scheint es, müssen derlei Empfindungen den künstlerischen Ausdruck innerhalb traditioneller Strukturen sprengen. Wie Hill (2002, S. 93) thematisiert, unterhält das Spannungsfeld zwischen Musik und Geräusch aussagekräftige Verbindungen zur Auffassung, zum Erleben von sozialer Ordnung, und Lärm nimmt dabei die Rolle einer Bedrohung dieser Ordnung ein. Es geht in den TeilnehmerInnenkonstruktionen also auch folgendermaßen um ein Innen und ein Außen: Das Außen ist die Tradition der konventionellen Musikformen sowie die Erfahrungen jener, die „nicht verstehen“. Das Innen wiederum bezieht sich auf exklusives Verständnis (im Sinn einer Avantgardekultur) sowie zugleich auf ein als intensiv, mitunter chaotisch aufgefasstes Innenleben. Der Fährte dieser Unterscheidung will ich im Folgenden sowie auch im siebten Kapitel weiter nachgehen, um einzuholen, was performativ von TeilnehmerInnen beider Seiten geleistet wird. 5.1.2 „Hassliebe“ und „Katharsis“ als legitime Erlebnismodi 4 Eine Randnotiz in meinen Feldnotizen verweist auf eine „Hassliebe“, die ich gegenüber Noise meinerseits identifiziere. Im nachfolgenden Zitat wird – einmal 4

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2016).

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 89

mehr – die Plausibilisierung einer Abgrenzung gegenüber anderen Musikformen nachvollziehbar. Noise wird hier von mir aus der Teilnehmerperspektive als besonders, dabei auch als besonders problematisch verstanden. Es wird eine grundlegende Empfindung von fortwährender, unaufgelöster Ambivalenz angedeutet. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Ich erinnere mich daran, wie ich einem Gastprofessor am Institut für Höhere Studien beim gemeinsamen Mittagessen von meiner „love-hate relationship“ mit Noise erzähle. Das Schlagwort an sich mag banal erscheinen, und doch trifft es für mein Empfinden den Kern der Sache – nicht nur in Hinblick auf die Kontexte der Aufführung, sondern, wie mir scheint, auch in Bezug auf die Musik „an sich“: Andere Musik mag ich einfach oder nicht. Bei Noise aber er scheint mir das alles grundlegend komplizierter, und für mich gehört zur Routine im Umgang mit dieser Musik, dass ich mich nicht selten hin- und hergerissen fühle, eben durchaus zwischen Faszination und einer gewissen Abscheu.

Hierzu will ich grundlegend zweierlei bemerken: Zum einen muss ein solcher Zwiespalt, der für Noise nicht untypisch ist, von TeilnehmerInnen praktisch hergestellt und aufrechterhalten werden, um dauerhaft Relevanz zu besitzen. Wie das bewerkstelligt wird, will ich exemplarisch im Nachfolgenden zeigen. In einem weiteren Schritt schließlich ist zu klären, wie sich der Zwiespalt, die etablierte „Hassliebe“ gegenüber performativer Raum- und Körperordnungen verhält. Etablieren lässt sich der Zwiespalt, wie ich darstellen will, etwa im Kursieren spezifischer Erzählungen, die (auch im Rahmen problematisierender Teildistanzierungen gegenüber künstlerischen Inhalten und Praktiken) diskursiv Bedrohlichkeit implizieren und somit letztendlich reproduzieren. Ein Blick in die Diskografie des umtriebigen und innerhalb der Szene sehr populären Noise-Musikers Dominick Fernow alias Prurient demonstriert eine entsprechende Schlagseite bereits in einer Aufzählung von Tonträgertiteln, die in konfrontativer Sachlichkeit die Themenbestände des Subgenres Power Electronics mit neuem Leben erfüllen: The History of AIDS heißt eine Produktion, Cocaine Death eine andere. Alben und Stücke dieser Art scheinen die affektive Erfahrbarkeit einer spezifischen „Echtheit“ in Aussicht zu stellen: erzeugt und vermittelt zwar durch zeitgemäße Modi von Tonaufnahme, Klangsynthese oder auch ganz grundlegend postmoderner Kunstperformance – und doch in der persuasiven Pose einer Auffassung von Authentizität im Sinn von Unzivilisiertheit (oder jedenfalls von authentischer Übertretung) verpflichtet; einem Erlebnismodus, in dem Sex, Gewalt und Tod nicht tabuisiert werden.

90 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Noise-typischen Klangerlebnis durch Torben Sangild (2002) demonstriert die Auffassung einer „kathartischen“ Wirkmächtigkeit: In einer geradezu lyrischen Darstellung verweist der Autor dabei auf apollonische wie dionysische Elemente, die die Erfahrung ausschlaggebend informieren. Dem dionysischen Aspekt, dem durch den Autor in Hinblick auf die barschesten Spielarten des Noise ein nahezu alleiniges Gewicht zugewiesen wird, komme dabei die Funktion zu, die HörerInnen zu befähigen, eine Konfrontation mit der „dreadfulness of existence“ zu wagen (Abs. 24). Weiter heißt es: „The complexity of noise (in the acoustic sense) overloads the ears and the nervous system and is perceived as an amorphous mass, incomprehensible yet stirring. The delight of the sublime is the satisfaction of confronting the unfathomable“ (Abs. 25). Die Konfrontation mit dem „Unfassbaren“, die hier unterstellt wird, findet im Feld z.B. durch den Hinweis auf Ambivalenzempfindungen einen diskursiven Katalysator. Zugleich wird Befriedigung („satisfaction“) behauptet und in Aussicht gestellt. Es erscheint nach dieser Darstellung schlüssig, Noise bei aller episodischen Abscheu eben doch in Faszination verbunden zu bleiben. Rekurrieren will ich zur Vertiefung des Aspekts der „Hassliebe“ nun auf Episode #35 der australischen Reihe The Antidote Podcast5, in der durch zwei Rezensenten das Album Estuary English der britischen Gruppe Consumer Electronics besprochen wird. Die einerseits geschätzten und die andererseits offen problematisierten Eigenschaften der Musik werden von den Hörern in der Darstellung gleichsam als zwei Seiten einer Medaille verstanden: Das rigorose Klanggeschehen geht Hand in Hand mit der Präsentation der Textinhalte. Von den Rezensenten wird in Hinblick auf den künstlerischen Output der betreffenden Band und ihres Vorgängers eine Konfrontation mit problematischen inneren Zuständen sowie den verborgenen Schrecken der Gesellschaft diskutiert – man erinnere sich an Sangilds Rede von „confronting the unfathomable“. Durch Noise, so die Auffassung, wird offenbar, was normalerweise unter Verschluss bleibt; den KünstlerInnen scheint ein genuiner Tabubruch zu gelingen. ZuhörerInnen werden im Fall von Consumer Electronics nach Beschreibung der Moderatoren angeschrien und beleidigt, und den Texten wird dabei ein genuiner „shock value“ zugesprochen. Man distanziert sich zudem von manchem Inhalt, der hier auch der ausgewiesenen Kennerperspektive entschieden zu weit geht („the unfathomable“ wird hier scheinbar gar zu plastisch). Und doch stellt 5

Online: https://theantidotepodcast.com/2015/03/12/episode-35-consumer-electronicskreng-and-kevin-drumm/, zugegriffen am 12.12.2015. Siehe Internetquellen: Antidote Podcast (2015a).

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 91

einer der Rezensenten klar: „But I just love the cathartic nature of [their vocalist] ranting“. Durch die beiden Teilnehmer wird der Musik insgesamt eine „kathartische“ Qualität unterstellt, die in der gemeinsamen Plausibilisierung eng mit der konfrontativen Performance des Sängers verbunden wird. Technisch korrespondieren diese beiden Seiten im Fall der angesprochenen Rezension eng miteinander durch den Aspekt der als reizvoll erlebten Geräuschhaftigkeit, die den Backing-Tracks offenbar immanent ist und zugleich durch die Verzerrung der Vocals in die Textpräsentation hineinwirkt („I really like the fact that [Russell] Haswell is producing this really quite extraordinary noise underneath the tracks and I just – and the way the vocals are also manipulated“). Als mindestens teilproblematisch empfundene Erlebnismodi sind für KennerInnen also in eine insgesamt reizvolle Noise-Erfahrung verlässlich und gekonnt integrierbar.

5.2 „B EING

WILLING TO BE ANNOYED “?

6

Spielarten wie Harsh Noise und Power Electronics scheinen den Eindruck von Nichtmusikalität und Unerträglichkeit, der Noise mitunter begleitet, zum ausgewiesenen Programm erhoben zu haben. Auf dem Online-Message-Board von noiseguide.com sinniert etwa ein User über ein zur Diskussion gestelltes Stück aus der Sparte Harsh Noise Wall: „In the case of [Harsh Noise Wall] – there is nothing more to be done or said, nothing possible to say, and so the performer/artist faces this complete incoherence and non-expressivity of anything particular. Their ‚ideas‘ become redundant, but also any emotion or feeling. Is the Wall, fun, nihilistic, depressive or what? It soon becomes (in fact it is from the outset by definition!) monotonous and so boring. But isn’t that a picture of what reality is in its infinite totality. […] Not difficult to make but difficult to endure – like the acci dent of existence itself then?“7

Ein solches Philosophieren (im alltagssprachlichen Sinn) gestattet es dem Verständnis, eine „lower musicalty“ (siehe unten, vgl. Hegarty 2012, S. 19) im Extremfall der Harsh Noise Wall nicht nur anzuerkennen, sondern als einen reizvol-

6

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2017).

7

Online: http://forum.noiseguide.com/viewtopic.php?p=188320&sid=26ab03aceef6f9f d52be24f4e12b29e5, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Noiseguide (2014).

92 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

len Kern der Darbietung zu begreifen. Bedeutungsschwanger wird schließlich der Substanz- und Strukturlosigkeit durch das quasi-existenzialistische Sinnieren eine legitime Bedeutung zugesprochen. Dieses Sinnieren ist analytisch allemal ernst zu nehmen – nicht insofern allerdings, als ihm in der analytischen Betrachtung blind zu folgen wäre, sondern dergestalt, dass Substanzlosigkeit und Unerträglichkeit etwa im Zusammenspiel mit der Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“ ein geradezu paradoxes Spannungsfeld evozieren, dem im Folgenden analytisch nachgegangen werden soll. Schafer (1994, S. 5) thematisiert die Welt schlechthin als eine makrokosmische musikalische Komposition. „We can isolate an acoustic environment as a field of study just as we can study the characteristics of a given landscape“ (ebd., S. 7). Zur Kunst oder zum legitimen Gegenstand werden die Geräusche des Noise, so mag man demzufolge meinen, durch das absichtsvolle Festhalten (Aufnehmen) und ihre absichtsvolle Rezeption bzw. Klassifikation. Becker (1995) schreibt zur Thematik der Rezeption im Allgemeinen: „It’s music if you listen to it in a way that makes it music, paying close attention, and in the mood Dr. Johnson called ‚being willing to be pleased‘“ (S. 302). Für Noise muss diese hilfreiche Betrachtung weiter ausdifferenziert werden. So muss hier in Anlehnung an ein „being willing to be pleased“ über ein „being willing to be annoyed“ nachgedacht werden. Hören entsteht in actu und ist für alle TeilnehmerInnen – ungeachtet ihrer spezifischen Urteile über das Gehörte – schließlich stets emotiv: Hörschmerz oder vergleichbares Ungemach gelten TeilnehmerInnen potenziell als ästhetische Erfahrungen, die Sinn ergeben oder jedenfalls in reizvolle Erfahrungen insgesamt integriert werden können – siehe oben8. Die nachfolgende Feldnotiz demonstriert, dass ein Noise-Event sehr wohl auch für KennerInnen mitunter ein schmerzhaftes, enervierendes Ereignis ist. Hier beschreibe ich, wie ich ein abendfüllendes Noise-Event zwischenzeitlich verlasse: Auszug aus den Feldnotizen, Dezember 2012: Gegen 20 Uhr habe ich kurzzeitig „die Schnauze voll“ und finde, dass ich fürs Erste genug beobachtet habe: Die lange Beschallung mit Noise weckt in mir zunehmend das Bedürfnis, konventionell schöne 8

Vergleichbar ist das im Übrigen mit dem Wiener Aktionismus, wo KünstlerInnen gezielt Konfrontationen mit Blut, Urin oder Kot arrangierten. Dass es ein Publikum gibt, das diese Kunst zu schätzen weiß, heißt nicht, dass es sich der Erfahrung von Ekel vollständig entziehen könnte: Solcherlei Reaktionen sind gewöhnlich zu unmittelbar und außerdem zu gründlich erlernt, um sich ihrer „einfach so“ entledigen zu können. FreundInnen des Wiener Aktionismus nehmen das Unangenehme vielmehr in Kauf, als einen vielleicht unangenehmen, zugleich aber essenziellen Teil der Kunst.

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 93

Musik zu hören: Mit einem Mal empfinde ich das, was ich höre, jedenfalls gar nicht mehr so recht als angenehm, und nach zwei Stunden im Inneren dieses Raumes erscheint mir die Veranstaltung insgesamt monoton und zunehmend witzlos. Ich verlas se den Ort zügig in eine Seitenstraße, in der ich in einem Lokal einkehre, das ich recht gerne besuche, wenn ich hier „in der Ecke“ bin. Die Freundlichkeit des Kellners kommt mir nach knapp zwei Stunden Dauerbeschallung mit Noise erfrischend, beina he rührend vor. Die ganze Situation hat etwas Unaufgeregtes, das ich als einen erleichternden Kontrast empfinde: Schon nach wenigen Minuten, in denen ich auf mein Essen warte, fühle ich mich, als ob mir eine Last von den Schultern genommen wäre. Es ist eine durchaus interessante Regung, dass ich – als Noise-Musiker und -Hörer – im Rahmen solcher Events irgendwann einen starken Bedarf nach harmonischen, ‚einfachen‘, ruhigen Dingen empfinde. Man erreicht eine Schmerzgrenze, und wenn man das Geschehen verlässt, spürt man mitunter einen angenehmen Kontrast.

Im obigen Zitat zu Harsh Noise Wall wird – mit meiner Feldnotiz vereinbar – das Aushalten als eine wichtige Kompetenz von HörerInnen identifiziert. Ein „geschultes“ Hören nun, das auch schwer Erträgliches integriert, basiert auf kumulativen Erfahrungen, und im Feld teilt man tendenziell verwandte Lerngeschichten. Man erkennt Verbindungen, weiß um einschlägige Repertoires in Hinsicht auf Klang, Performances, Visualisierungen usw. Man teilt gegebenenfalls Haltungen wie „Hassliebe“ oder „Katharsis“. Auch Gewohnheit im Kontext reziproker Aneignungsprozesse spielt letztendlich eine Rolle: Becker (1963) diskutiert in seinem interaktionistischen Klassiker Outsiders in Hinblick auf den Marihuanagebrauch etwa Einstellungs- und Erfahrungsänderungen als Voraussetzungen, um im Folgenden einen Genuss, ein Vergnügen zu erfahren. Interessant ist an dieser Perspektivierung allemal, dass beim Rauschmittelkonsum zunächst oft nicht die erwarteten Symptome vorhanden sind. Die Studie macht darauf aufmerksam, dass die Zugehörigkeit zu spezifischen Gruppen ausschlaggebend für folgende Ausprägungen von Erfahrung ist. Novizen etwa stehen hier in Kontakt mit erfahrenen UserInnen und erhalten von diesen Tipps und Hinweise, wie man sich fühlen soll bzw. welche Erfahrungsbestandteile „die richtigen“ sind. Geschmack wird in diesem Sinn niemals einfach erfahren, sondern sozial erworben und hierbei interaktiv hergestellt (vgl. zu alledem ebd., S. 41ff.). Im Noise-Kontext versichert mir ein Musiker, die barsche Qualität von Klang irritiere ihn auf Konzerten schon lange nicht mehr: Ihn störe nur noch, wenn die Lautstärke selbst extrem sei. Ihm ginge es nun, da er Noise an sich gewohnt ist, sehr „ums Hören“. In diesem Modus freilich werden innerhalb des Feldes Hörfertigkeiten geschult, die auf ästhetische Details abstellen. Die Fähig-

94 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

keit, sich mit anderen InsiderInnen über Feinheiten auszutauschen, plausibilisiert jedwede Rede von einem „Hören für Fortgeschrittene“ enorm. Umfassend gewährleistet wird die Auffassung besonders gekonnter Hörerfahrung aber eben nicht nur dadurch, sondern entscheidend auch durch die Haltung, dass es andere gibt, die das, was man kann, nicht können. Wie ein Teil solcher Distinktionen beobachtbar in situ geleistet wird, beschreibe ich im Folgenden. 9

5.3 D EN S AAL

LEEREN :

R AUM -

UND

K ÖRPERORDNUNG

Die folgenden Überlegungen beginnen mit einer Beobachtung aus der Bühnenperspektive. Beschrieben wird im folgenden Auszug eine Szene, in deren Verlauf ich selbst meine, durch mein Spiel eine Zuhörerin aus dem Konzertraum regelrecht zu vertreiben: Aus meiner Teilnehmerperspektive scheint vollkommen klar, dass sich die betroffene Frau von den Klangereignissen der Situation geradezu gequält fühlt, und als sie den Raum verlässt, stellt sich bei mir ein kurioses Erfolgsgefühl ein, das im Feld, wie ich später zeigen will, durchaus typisch ist. Ein solcher „Triumph“ bedarf freilich einer spezifischen analytischen Perspektivierung, die das Geschehen auf ein Verständnis von Performances und Ordnungsbildungen verdichtet, die hier von den Beteiligten augenscheinlich gegeneinander, schlussendlich jedoch miteinander geleistet werden. Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Schräg gegenüber im Raum sehe ich wäh rend meiner Bühnenperformance eine junge Frau, die vom Klang insgesamt nicht allzu begeistert scheint: Hin und wieder verzieht sie etwas schmerzhaft ihr Gesicht, und an einigen Punkten der Performance (die zu dem Zeitpunkt, als es mir auffällt, insgesamt seit etwa zehn Minuten läuft) hält sie sich gar die Ohren zu. Vollkommen selbstverständlich beziehe ich ihr Verhalten auf meine Soundperformance: Das deckt sich allgemein mit dem Selbstverständnis als Noise-Musiker, man rechnet damit, dass vielen Menschen das, was man spielt, etwas „zu krass“ ist, mitunter sogar, dass sie sich angegriffen fühlen. Diese Person also hält sich die Ohren zu, und das macht sie, während ich gerade ein paar recht hochfrequente Sounds in das Klanggeschehen einbringe. Im Englischen gibt es das Wort „relentless“, also unerbittlich, erbarmungslos, und dieses Wort fällt immer wieder in Texten über bestimmte Arten von Noise. So weiß die lexikalische Definition von Noise auf der Seite rateyourmusic.com beispielsweise: „sub-genres such as Power Electronics and harsh noise aspire to be as relent 9

Aneignungsprozesse selbst werden wiederum in Kapitel 8 auch in Bezug auf die Rolle des Körpers zugespitzt.

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 95

less and extreme as possible“10. Die hochfrequenten Klänge, die ich einbringe, stelle ich nun so ein, dass sie – für meine Begriffe – besonders durchdringend und monoton, dabei jedoch nicht vollständig variationslos klingen (Letzteres gewährleistet durch einen spezifischen Plugin in meiner Software). Klanglich wirkt das Geschehen auf mich selbst nun „festgefahren“ und angespannt. Nach etwa zwei Minuten steht die Zuschauerin nun auf und verlässt den Raum.

Die Rede von der „relentlessness“ ist eine schlüssige Feldperspektive: Man meint, ein Klanggeschehen besonders „durchdringend“ zu gestalten, und die auditive Brutalität wird mit einer bestimmten Art der Anspannung assoziiert. Ein weiterer Cartoon aus der Reihe Harsh Noise Wally zeigt, dass das aktive „Vertreiben“ von KonzertbesucherInnen durch eine bestimmte klangliche Drastik unter InsiderInnen oft positiv konnotiert ist. Im ersten Bild des Comic-Strips erklärt der Protagonist einem ihm gegenüber sitzenden Mann: „I invented this device for live shows that reflects my voice into an endless loop of Harsh Noise Wall “. Dabei trägt er eine sonderbare Apparatur mit Mikrofon auf dem Kopf. Im zweiten Bild sieht man das fragliche Gerät im Einsatz: Im Hintergrund ist graues Bildrauschen und eine mehrzeilige Reihe von Blockbuchstaben zu sehen: „AAAAA...“ Der Gesprächspartner von Harsh Noise Wally verzerrt geschmerzt sein Gesicht. Im letzten Bild, nach der akustischen Kostprobe, spricht er sichtbar enerviert: „That makes me want to leave the room!“ Die Hauptfigur wiederum entgegnet dem siegessicher: „My work here is done“.11 Persifliert wird in diesem Strip, wie ein Nerven, ein Verstören und sogar ein räumliches Vertreiben im Noise als ein Erfolg verbucht werden können. Wer nun an ein Quälen denkt, das Niederschlag in einer eindeutigen körperlichen Reaktion wie dem Verziehen des Gesichts findet, dem mag ein sadomasochistisches Verhältnis zwischen KünstlerInnen und HörerInnen in den Sinn kommen. Dieses Bild kursiert im Noise in der Tat als Sinn stützendes Motiv und findet beispielsweise Niederschlag in Tonträgertiteln wie Music for Bondage Performance von Merzbow. Eine Variante des hier geschilderten Phänomens wird meinerseits im Kapitel zur Kollektivität zwischen Dynamik und Routine angeboten: Darin geht es nicht um jene KonzertbesucherInnen, die ein Geschehen verlassen, sondern um solche, die sich in performativer und diskursiver Opposition an „Normalisie-

10 Online: https://rateyourmusic.com/genre/Noise/, zugegriffen am 03.12.2015. Siehe Internetquellen: Rateyourmusic. 11 Online: http://harshnoisewally.tumblr.com/post/127481688446, zugegriffen am 20.02. 2016. Siehe Internetquellen: Harsh Noise Wally (2015a).

96 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

rungen“ versuchen. Zunächst aber zurück zum angesprochenen Fall: InsiderInnen bedeutet das Quälen und Vertreiben in situ, wie gezeigt wurde, mitunter eine Bestätigung, dass Noise intensiv und besonders ist – zu intensiv und zu besonders scheinbar für die nicht verstehende Gegenseite: Es ist zu viel. Hegarty (2012) konturiert und kontextualisiert diese dem Feld offenbar typische Auffassung: „The idea of intensity is implied in all noise: noise is the too much, the unwanted, the ex cess – in terms of volume, performance practice, simple duration, difficulty. [...] [Intens ity] in noise consists of volume, duration, unpredictability, loss of reference points. Noise often claims to be intensity, an excess that is always more, and therefore capable of inducing an ecstatic reception of the sounds encountered that goes beyond listening. To get even more literal, noise music aspires to be a seemingly permanent condition, and needs time to be noise and music, rather than just a pile of noises; thus this results in long per formances and recordings, unrelenting sequences of moves that go against music (arguably in the name of a higher, but I would say lower, musicality)“ (S. 19).

In einem Twitter-Posting beschreibt der amerikanische Noise-Musiker Cinchel – nicht ohne ironische Spitze – ein Qualitätskriterium für ein gutes Konzert als regelrechtes Leeren des Saales oder Raumes: „When there are more [people] in the audience when you start than when you finish finished you know you played a good set“12. Mir selbst kommt im Feld Vergleichbares in den Sinn, als ich in einer Fortsetzung meiner Feldnotizen an die obige Konzertepisode mein eigenes Empfinden das Verlassen des Raumes durch die Konzertbesucherin als ausgewiesenen Erfolg meinerseits reflektiere: Im Nachhinein, bei der Formulierung meiner Feldnotizen, habe ich Schuldgefühle, weil ich den Eindruck habe, dass ich mich unter konventionellen Gesichtspunkten rechtfertigen sollte. Zugleich empfinde ich aus meiner Position als Teilnehmer des Feldes weiterhin den Eindruck als schlüssig: Das „Vertreiben“ war künstlerisch ein Erfolg! Analytisch ergibt das Sinn, denn dieses absurd wirkende „Leeren des Raumes“ ist ein Beispiel für die implizite Normativität sozialer Praktiken, die sich nicht vollständig in den artikulierten Intentionen von TeilnehmerInnen erschöpft. Wie ich zeigen will, schafft das Phänomen – gleichsam als Raum- und Körperordnung in actu – exemplarisch eine Distinktion zwischen Innen und Außen, die in ihrer Buchstäblichkeit eine Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“ nach innen plausibilisiert. 12 Online: https://twitter.com/cinchel/status/663371913201324033, zugegriffen am 10. 02.2016. Siehe Internetquellen: Cinchel (2015).

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 97

5.4 D ISTINGUIERENDE E XKLUSION Aufschluss über die praktische Schlüssigkeit hinter dem erwünschten Vertreiben von KonzertbesucherInnen gewährt ein soziologischer Allgemeinplatz, der im Feld von Noise in einer karikaturartigen Zuspitzung exerziert wird: Die Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“ evoziert das Bild einer elitären Gruppe, die über ein besonderes Können, über eine Ansammlung von besonderen, vielleicht gar mühsam erworbenen Fertigkeiten verfügt; adäquat erscheint es mir, die Auffassung von den besonderen Fertigkeiten einerseits und das Unverständnis gegenüber den Klangproduktionen andererseits gemäß der Logik von Feldern nach Bourdieu zu begreifen, die für jedweden Feldeintritt eine Legitimation „durch den Besitz einer besonderen Konfiguration von Eigenschaften“ fordert (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006, S. 139). Im Folgenden will ich auf den Verlauf des Konzerts von Zbigniew Karkowski im April 2013 im Wiener Club Fluc zurückkommen, das im vorliegenden Kapitel zu Beginn schon einmal tangiert wurde. Die Darstellung gewährt einen durchaus spannungsreichen Blick auf das Verhältnis zwischen dem „geübten Hören“ und der Rede von der schweren Erträglichkeit, denn obwohl mir – als Noise-„Kenner“, -Praktiker und -Fan – im Folgenden das klangliche Geschehen selbst schwer erträglich scheint, unterscheidet sich meine Reaktion eben in einem kleinen, aber gravierenden Detail von der jener jungen Frau, die während meiner eigenen Konzertdarbietung, wie oben beschrieben, den Raum verlässt. Das will ich im Anschluss an die Beschreibung explizieren. Auszug aus den Feldnotizen, Mai 2013: Im Club identifiziere ich Karkowski zunächst schon während des ersten Konzerts des Abends im Publikum, wo er in entspannter Haltung dasitzt und sprichwörtlich eine Zigarette nach der anderen raucht. Er scheint guter Dinge zu sein und prostet fröhlich einer kleinen Frauenclique zu, die sich ganz in seiner Nähe positioniert. Der Künstler selbst hockt dabei recht nah vor einem der Lautsprecher, scheint sich ungeachtet der enormen Lautstärke regelrecht beschallen zu lassen: „Ein Leben für den Noise“, kommt mir als ein passender Slogan für dieses Bild in den Sinn. Was das Ein-Mann-Projekt im Vorprogramm auf der Bühne soeben an Frequenzen auffährt, ist schmerzhaft, und der Genuss an diesem Klanggeschehen, den Karkowski durch seine Selbstdarstellung evoziert, hat eine gewisse Theatralik. […]

98 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Im Anschluss also das Konzert von Karkowski selbst: Sein Auftreten auf der Bühne erscheint mir sachlich und unprätentiös. Was er spielt, ist ohne Gehörschutz für mich nur zu ertragen, indem ich mir über weite Strecken die Ohren zuhalte. Die Haltung, die ich dadurch an den Tag lege, erscheint mir nun keinesfalls „cool“, durchaus aber notwendig, denn Frequenzbereiche plus Lautstärke verursachen einen Höreindruck, der in der Tat etwas Gefährliches hat: Mich befallen ernste Befürchtungen um mein Gehör. Einigen anderen BesucherInnen geht es offenbar ähnlich, und wenn man sich das Bild vor Augen führt, dass sich mehrere Gäste von der Musik, die gespielt wird, geradezu ängstlich abzuschotten versuchen, könnte man meinen, Karkowski spiele sein Konzert nicht für das Publikum, sondern gegen das Publikum (vgl. Ginkel 2015). Fertig ist der Künstler mit seinem Set nach schätzungsweise nur 20 Minuten, verlässt die Bühne wieder, raucht eine Zigarette und scheint fortan im Publikum regelrecht zu verschwinden.

Mit der jungen Frau, die ich in der vorangegangenen Episode aus den Feldnotizen aus dem Clubraum vertreibe, verbindet mich also mehr, als man meinen sollte: Auch ich halte mir schließlich die Ohren zu und demonstriere damit (zudem in einer daraus resultierenden Haltung, die mir nicht „cool“ erscheint), dass mir das Klanggeschehen nur schwer erträglich ist: „difficult to endure“. Die elitäre Auffassung von besonderen Hörfertigkeiten wird in der dargestellten Szene im Zuge eines geradezu banalen Details plausibilisierbar: Ich verlasse den Raum – im Unterschied zur jungen Frau aus der vorangegangenen Episode – nicht; ich bleibe. Werlen (2013) nimmt eine enge Verbindung zwischen räumlicher Präsenz und Wissensaneignung an. Relevant gemacht wird hierbei durch den Autor insbesondere die basale Frage nach körperlicher An- oder Abwesenheit: „Für die Konstitution des Wissensvorrates ist unter anderem die körperliche Relationierung in Form von An- und Abwesenheit bzw. zwischen mittelbarer und unmittelbarer Welterfahrung ausschlaggebend. Die Bedeutung der Kopräsenz, des Teilens der Körperlichkeit im Hier und Jetzt, liegt in der Sinnesgebundenheit, der Unmittelbarkeit der Erfahrung begründet, d.h. des mit ‚Eigenen-Augen-Gesehen-‘ oder des mit ‚Eigenen-OhrenGehört-Habens‘ und dem sich daraus ergebenden Vertrautheitswissen“ (S. 10).

In einer analytischen Zuspitzung erscheint der unterstellte Wissenserwerb in der von mir dargestellten Neuordnung der Körper zunächst basal als Bedingung der Rede von einer spezifischen (Hör-) Kompetenz. Das „Mit-eigenen-Ohren-gehört-Haben“ ist insofern eng verbunden mit der Auffassung eines „Mit-eigenenOhren-hören-Könnens“ im Sinn einer praktischen Kompetenz – gegenüber ande-

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 99

ren TeilnehmerInnen, die stets dezidiert „nicht können“. An- und Abwesenheit machen insofern einen vorausgegangenen Fertigkeits- oder auch Wissenserwerb argumentier- und plausibilisierbar: Die besonderen („geübten“) Hörfertigkeiten werden also, so lässt sich schließen, durch einen arbeitsteiligen, distinguierenden Prozess von TeilnehmerInnen im Vollzug räumlicher Körpertrennungen mithergestellt: Ein „Leeren des Raumes“ schließt nach Selbstauffassung des Feldes gleichsam diejenigen aus, die nicht über die besonderen Fähigkeiten verfügen. Ihre eigenen geübten Hörfertigkeiten wiederum beglaubigen die KennerInnen sichtbar durch ein Ausharren, das es in interaktiven sozialen Lernerfahrungen nach sich zieht, ein spezialistisches Gehör für Details zu entwickeln (siehe oben). In einer exkludierenden Neukonstitution der Raumordnung trennt sich also sprichwörtlich die Spreu vom Weizen, indem die einen TeilnehmerInnen dem Geschehen innerlich bleiben, während die anderen ihm äußerlich werden. Das „Leeren des Raumes“ mag also folgendermaßen als „Triumph“ fungieren: Via Klang werden die Laien vertrieben, und die „Fortgeschrittenen“ verbleiben. Im Extremfall ist dieser Fortgeschrittene eine einzelne Person und hält sich auf der Bühne auf. Kurzum: Der soziologische Begriff von Inklusion und Exklusion ist in solcherlei Settings in der Buchstäblichkeit eines räumlichen Innen und Außen einzuholen: Wer zur Avantgarde gehört und wer nicht, wird einander unmissverständlich angezeigt. Zugehörigkeit und Ausschluss werden dabei sichtbar als eine öffentliche Performance von theatralischer Zuspitzung. Die Popmusik kennt die „Hookline“ als das Element, das ein Lied besonders mitreißend und attraktiv macht. Im Noise, so muss es scheinen, wird eine vergleichbare Attraktivität durch eine „Hookline“ sozialer Art gestiftet, die potenziell z.B. ein „Leeren des Raumes“ ist. Die Theatralik der distinguierenden Aufführung wird diesbezüglich im folgenden Beispiel besonders plastisch: Auszug aus den Feldnotizen, Juli 2012: Mein Gesprächspartner, der Klangkünstler Andreas, betont mehrfach, dass Projekte für ihn immer diese bestimmte „Hook“ bräuchten, um ihm zu gefallen. Einfach nur Noise, das sei ihm zu wenig. Ich erzähle ihm von einem Konzert einer Künstlerin, das ich vor einigen Jahren in Frankfurt gese hen habe: Die sei nur mit einem kleinen Sinuswellengenerator dagesessen und habe damit ca. eine Stunde lang einen einzigen stechend hohen Ton hervorgebracht, den sie allenfalls leicht variiert habe. Der Clou an dem Konzert sei für mich gar nicht die klangliche Darbietung selbst gewesen, sondern das Publikum, das nach einer Weile zu großen Teilen sichtlich damit gekämpft habe, den Ort zu verlassen oder das Konzert doch „auszusitzen“. Andreas ist von dieser Vorstellung sehr amüsiert, erst recht, als ich anfüge, dass man einen Weg direkt vorne an der Bühne vorbei nehmen musste, um

100 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

den Raum zu verlassen – wer gehen wollte, stand damit also kurzzeitig im Scheinwerferlicht und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir müssen beide lachen.

Die Freude über die eigene Kennerschaft und das Verschwinden der anderen ist in der beschriebenen Szene groß. Eine praktische „Variation“ auf das Leeren des Raumes sind nun Konzerte jener Art, die von vornherein äußerst schlecht besucht sind: so schlecht sogar, dass die analytische Perspektivierung nach dem Unterschied zwischen solcherlei Konzerten und einer geschlossenen Probe oder einer privaten Jam-Session fragen muss.

5.5 N ORMATIVITÄT: „C ONCERT

FOR ONE PERSON “

Ein besonders spannungsreiches Verhältnis besteht zwischen schlecht bis gar nicht besuchten Konzerten im Noise und jenen Beglaubigungsvorgängen, die es bewerkstelligen, dass Klangproduktionen als Musik sowie Versammlungen, bei denen Geräusche gespielt werden, als Konzerte anerkannt werden können. Mehr noch: Das schlecht bis gar nicht besuchte Konzert ist im Zweifelsfall der Beglaubigungsvorgang in actu. Die nachfolgende Episode aus meinen Feldnotizen beschreibt eine Szene, in der ich mich mit den Jazz-Musikern Piotr Ł. und Piotr Z. auf ein für wenig später anberaumtes gemeinsames Konzert vorbereite. Die Gruppe sieht sich mit der Situation konfrontiert, dass kurz vor dem angekündigten Konzertbeginn noch kein Publikum im Club erschienen ist. Gemeinsam sucht man nach Erklärungen: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Piotr Ł. sagt zu mir, mit ironischem, aber irgendwie auch etwas bitterem Unterton: „We all don’t have any fans, we’re all fucking introvert musicians“. Dem folgt ein kurzes Lächeln meinerseits. Ich will das The ma gar nicht groß diskutieren, denn ich bin enttäuscht. Piotr Z. klinkt sich ein: „May be there’s a football game today, who knows...“ – „Oh yes, I think there is!“, kommt von mir die prompte Antwort. Ich sage zu einem anwesenden Freund meiner Mitmusiker, dass ich den Eindruck habe, dass sich die Leute in Wien oftmals damit begnügen, abends einfach fernzusehen 13. […] Er sieht die Lage für den heutigen Abend pessimistisch, deutet auf sich selbst und sagt: „Concert for one person“. Piotr Z. wiederum drängelt etwas, obwohl es noch nicht ganz neun Uhr ist: „Okay, let’s begin!“ Er 13 LeserInnen, die sich der österreichischen Hauptstadt verbunden fühlen, mögen mir diese Äußerung verzeihen: Sie ist Ergebnis einer verzweifelten Erklärungssuche, nicht Ausdruck einer genuinen Beobachtung.

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 101

scheint der ewigen Warterei müde zu sein und will das Ganze vielleicht einfach hinter sich bringen. Piotr Ł. und ich freilich ziehen nicht ohne Weiteres mit, sind noch mit dem „Finetuning“ einiger technischer Details beschäftigt. Wann das eigentliche Konzert beginnt, bleibt zunächst – ohne Publikum – noch vollkommen offen.

Einerseits erfährt das Konzert hier eine bemerkenswerte Entgrenzung, nachvollziehbar an der beobachtbaren Uneinigkeit der Teilnehmer darüber, wann das Event denn nun beginnen wird. Die ironische Bemerkung „concert for one person“ suggeriert zudem, dass wohl etwas schiefgelaufen ist. Im Noise-Kontext allerdings handelt es sich um ein durchaus verbreitetes, immer wieder referenziertes Phänomen: Das „concert for one person“ ist gängige Praxis. Wenn niemand erscheint oder niemand einen spezifischen Tonträger kauft, kann es vorkommen, dass der verbreitete Gestus des marginalisierten Künstlers aktiviert wird, gern ironisch gebrochen in episodischen Statements, wie sich durch das folgende Twitter-Posting, das sich einmal mehr unter dem Szene-„Hashtag“ #noiselife findet, illustrieren lässt: „#noiselife RT @sadneck last time I put on a gig here, apart from a tiny hand full of people, the only people who came were my mum & dad!“14 Potenziell wohnt dieser Haltung eine tatsächliche Tragik inne, die ich nicht der Lächerlichkeit preisgeben will. Es wird dann etwa ganz direkt auf ökonomische Notstände unter Noise-MusikerInnen verwiesen: „The one skill you’ve bothered to hone in your life is now completely worthless“, gibt der amerikanische Künstler Jason Crumer diesbezüglich bitter in einem Interview mit dem Medium Splice Today15 zu Protokoll. Handelt es sich also beim Phänomen der Konzerte, bei denen niemand oder allenfalls sehr wenige Gäste erscheinen, lediglich um eine besonders ausgeprägte Form einer irgendwie tragischen, Noisetypischen Vereinzelung? Nein: Das Phänomen vermag darüber hinaus im Feld normativ Sinn zu stiften. Noise als „Grenzfall“ zwischen Musik und Geräusch erhält schließlich dadurch, dass von Akteuren Konzerte gespielt und als solche ausgeschrieben, beworben werden, eine greifbare Möglichkeit zur Deklarierung der Feld-typischen Klangproduktionen als Musik, sofern man der inhärenten Logik folgt: Wer Konzerte spielt, der spielt Musik. Selbst wenn niemand zu einem

14 Online: https://twitter.com/astralsocialite/status/572410318149832704, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Campbell (2015). 15 Online:

http://splicetoday.com/baltimore/overthinking-noise-subleties-extremes-and-

complexities, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Cummings (2011a).

102 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Konzert erscheint, so wird es dennoch als solches angekündigt und beworben – und somit schließlich als solches deklariert und beiläufig kategorisiert. Das Geräusch „erobert“ somit die Sphäre der Musik, und für dieses Erobern lässt sich in den kursierenden Geschichten des Feldes gar eine historisierende Plausibilität finden, die in eine Ära vor dem „concert for one person“ hineinreicht und mit dem unangepassten und aufwieglerischen Selbstbild der „Szene“ in ihren Anfangstagen korrespondiert: Ein praktisches Kategorisieren wird teils auch im Zuge jener überspitzt wirkenden Legenden adressiert, die sich um die betont aufregende, betont konfrontative Frühzeit der Noise-Szene ranken. Solcherlei Erzählungen sind freilich mit ein wenig Vorsicht zu genießen. Ihre historische Genauigkeit ist für meine Zwecke jedoch irrelevant: Es geht um Historisierung im Sinn einer Plausibilisierung. Der britische Musiker David Tibet erzählt dem Magazin The Wire: „At the time [in the early 80s] it was really exciting going to see Whitehouse play for 15 minutes then seeing the police dragging the audience away. They did an amazing show at a place called the Roebuck. […] The landlord had booked the venue to Whitehouse on the basis that they were a folk group. The police all arrived and the landlord burst into the room and said ‚you fucking bastards I’m going to kill you‘“.16

Der Weg vom Geräusch zur Musik nimmt in der Erzählung einen Umweg über eine intentionale, provokative Fehlkategorisierung, die eine Ausprägung jener Art von performativer wie klanglich etablierter Irritation herstellt, wie sie im Noise einschlägig anzutreffen ist (hierzu mehr im siebten Kapitel) – und die im gleichen Atemzug in einer Frühphase der Szene offenbar Zugang zum Konzertbetrieb gewährleistete. So sehr man sich in der KünstlerInnenperspektive in der Irritation gefallen mag, so sehr lebt Noise hier auch vom Anschluss an die Konvention musikalischer, künstlerischer Aufführungspraxis, derer sich das Genre in der gängigen Auftrittsform des Konzertes bedient. Die Partizipation an dieser Konvention, ob mit Publikum oder ohne, ob „fehlkategorisiert“ oder nicht, ist in ihrer praktischen Bandbreite (von der Planung über die Werbung über die exemplarisch geschilderten Backstage-Szenarien bis hin zur Aufführung) Teil jener Beglaubigungsvorgänge, die in Hinblick auf die soziale Ordnung des Feldes von TeilnehmerInnen multisituiert geleistet werden. TeilnehmerInnen nehmen sich in einer bemerkenswerten Beiläufigkeit „klärend“ der Frage an: „Musik oder Geräusch?“ 16 Online: http://www.thewire.co.uk/in-writing/interviews/invisible-jukebox_current-93, zugegriffen am 20.02.2016. Siehe Internetquellen: Barnes.

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 103

Man kann auch sagen: In die Klärung der Frage wird praktisch-normativ eingegriffen. Man lädt eben in aller Regel nicht zum „Geräuschabend“, man lädt zum Konzert oder zum „Gig“. Nicht selten finden diese Veranstaltungen in musikaffinen Räumen (beispielsweise Clubs) statt, die ebenfalls die „Konzerthaftigkeit“ glaubhaft implizieren. Mag auch in der Tat niemand zum Konzert erscheinen: Wer ein solches spielt, gewährleistet implizit die mögliche Rede von Noise als Noise-Musik. Es ist in diesem Sinn auch kurzsichtig anzunehmen, Veröffentlichungen von Aufnahmen per Tonträger seien im Noise nicht weiter wichtig, nur weil innerhalb der Szene mitunter größerer Wert auf Live-Performances gelegt wird und den Aufnahmen somit, wie Klett und Gerber (2014, S. 283f.) nahelegen, eine periphere Rolle zukäme: Auch Klangaufnahmen auf Tonträger herauszugeben, ist für das Feld insgesamt ein Legitimationsakt. Niemand hört sich diese Aufnahmen an, und man erachtet sie als Beiprodukt? Geschenkt: Man trägt schließlich mit jedem einzelnen Tonträger dazu bei, dass Geräusch schlüssig als Musik verhandelt werden kann. Insgesamt ist die beschriebene Normativität vergleichbar mit Phänomenen aus der Bildenden Kunst: Die berühmte „Fettecke“ von Joseph Beuys ist per se, als bloßes Fett-Phänomen an der Wand, nicht für jedermann als große Kunst erkennbar. Dadurch, dass sie ein „museales Objekt“ (vgl. etwa Bräunlein 2011, S. 61) ist, ist es jedoch ein beträchtlicher Fauxpas, wenn ein Hausmeister sie in nicht erkennender, professionell wohlmeinender Ignoranz entfernt (so geschehen im Jahr 1986 in der Kunstakademie Düsseldorf 17). Für Marcel Duchamps Ready-mades und unzählige weitere Beispiele gilt dieselbe Logik. Es lässt sich also sagen: Noise ist eine auditive Fettecke; Konzert und Tonträger sind ihr ein Museum, die Schaubühne, die Beglaubigung stiftet. Wenn uns Noise in legitimierenden Aufführungen nur oft genug begegnet, werden zunehmend soziale Lernerfahrungen etabliert und geteilt. Dass Noise genuine Musik ist, mag uns daraufhin mehr und mehr „natürlich“ erscheinen, den Klangproduk tionen selbst sogar wesenhaft. Das ist die Haltung, mit der ich meinem Forschungsgegenstand als Ethnograf begegnete: geprägt von Jahren der beiläufigen Lernerfahrung in normativ operierenden Aufführungen. Dementsprechend war mir noch in den frühen Stadien meiner Forschungsarbeit schleierhaft, wie Außenstehende in Noise keine Musik hören konnten: Offensichtlich, so sagte ich mir, hatten sie einfach nicht gut ge-

17 Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Fettecke, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Wikipedia (a).

104 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

nug hingehört oder waren nicht offen genug für „etwas Neues“, das sie noch nicht kannten. Immer wieder reproduzierte ich somit das „Innen“ und das „Außen“ – zum damaligen Zeitpunkt noch unempfänglich für die Anerkennung der praktischen und teils materiell verdichteten Deutungsvorgänge, in die ich mich mit jeder Konzertbeobachtung und jedem Tonträgerkauf aufs Neue involvierte.

5.6 (S ELBST-) E RMÄCHTIGUNG

UND

K APITALERWERB ?

„Den Raum leeren“ und das „concert for one person“ machen gleichsam aus der Not eine Tugend und deuten in einem normativen Zeigen per Raum- und Kör perordnung, dass nur eine zahlenmäßig auffällig kleine Elite über jene geübten Hörfertigkeiten verfügt, die eine Wertschätzung von Noise gewährleisten. Für die KünstlerInnen ist also auch das Spielen im schlecht besuchten Club, der sich bei fortwährender Spieldauer sogar noch weiter leert, paradoxerweise ein normativer Akt der Legitimation. Durch das Bleiben erfolgt ein Distinktion gewährleistendes Zeigen: dass man versteht, dass man über ein „geübtes“ Hören verfügt. Das heißt bei aller mitunter auch von InsiderInnen empfundenen Unerträglichkeit: Man verfügt über die Fähigkeit zum wertschätzenden Hören, die einer sich herauskristallisierenden exklusiven Kleingruppe vorbehalten bleibt. Wer den Konzertbesuch wiederum abbricht, zeigt damit, dass er oder sie eben nicht versteht, eben nicht über die besonderen Fertigkeiten verfügt. So mag der Insider im Zuge seiner Darbietung fortwährend Outsider produzieren und sich bei erfolgreicher Leerung des Raumes in der Tat zufrieden sagen: „My work here is done“. Gegenüber dem üblichen Distinktionsgebaren in der Welt der Kunst leistet Noise hier eine situative Zuspitzung und gewährleistet in seinem exemplarischen Aufdie-Spitze-Treiben somit eine mögliche Rückbindung von Prozessen der Inklusion und Exklusion auf ganz direkte performative, körperliche Praktiken der Raumordnung. Dieses Übertreiben in der Etablierung von Distinktion konvergiert in Hinblick auf die Klangproduktionen des Noise mit deren zumeist verschwindend geringer monetärer Einträglichkeit. Auf einer Texttafel, die zu einer temporären Ausstellung im Foyer der Wiener Arbeiterkammer im Sommer 2015 gehört, wird anekdotisch das ökonomisch schwere Schicksal geschildert, das Noise-MusikerInnen mitunter droht: „Roy Mankwart, Berlin (Deutschland), arbeitslos. Studiert hat er Kunst, seine Leidenschaft gehörte der Noise Musik, sein Geld verdiente er mit Webdesign. 2005 erkennt

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 105

Mankwart, dass ihn das alles nicht weiterbringt. Er beschließt, gar nicht mehr zu arbeiten und das gerade eingeführte Arbeitslosengeld II in Anspruch zu nehmen. Als ihn aber die Gängelungen des Jobcenters nerven, will er sich ohne Unterstützung durchschlagen. Roy kann seine Wohnung nicht mehr bezahlen, er stellt seine Sachen in einem Atelierhaus befreundeter Künstler unter, wo ein winziger fensterloser Lagerraum frei wird. Bald merken die Freunde, dass Mankwart zwischen den gestapelten Möbeln wohnt. Auch wenn sie selbst nicht viel haben, füttern sie ihn durch, geben ihm vom Mittagessen ab, überlassen ihm das Pfandgut. Sei es Veranlagung, sei es der Lichtmangel, Mankwart wird allmählich depressiv. Ohne Krankenversicherung beginnt er, sich von seinem Besitz zu trennen, um die Medikamente zu bezahlen. Er wird Powerseller seiner Habseligkeiten und verkauft seine CDs, Möbel und Bücher im Netz. Sein Raum leert sich, doch immer seltener verlässt er das Kabuff, bis er die Türe gar nicht mehr öffnet. Keiner der Künstler traut sich, nach ihm zu sehen. Aber unter dem Türschlitz ist gelegentlich Licht zu erkennen“.

Als Kunstform ist Noise auch abseits derart drastischer Erzählungen einer geringen „merkantilen Verwertbarkeit“ unterworfen – ein Begriff, der auf Walter Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Benjamin 1980) zurückgeht und im Zuge der Beschreibung dadaistischer Kunst fällt, die den Praktiken des Noise verwandt erscheinen muss: „Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. Diese Unverwertbarkeit suchten sie nicht zum wenigsten durch eine grundsätzliche Entwürdigung ihres Materials zu erreichen. Ihre Gedichte sind ‚Wortsalat‘, sie enthalten obszöne Ausrufe und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache“ (ebd., S. 501).

Bourdieus Verständnis vom Bildungserwerb inkludiert insbesondere eine Arbeit von Akteuren an sich selbst, gewissermaßen ein „Sich-Bilden“ im sprichwörtlichen Sinn. Dem immanent ist eine Investition von Zeit sowie von „sozial konstituierter Libido“, „die alle möglichen Entbehrungen, Versagungen und Opfer mit sich bringen kann“ (Bourdieu 2008 [1992], S. 219). Der Erwerb eines „geübten Hörens“ im Noise-Kontext mag auch demgegenüber wie eine Zuspitzung erscheinen. Die Opfer, die von TeilnehmerInnen gebracht werden, zirkulieren zuweilen in einschlägigen Geschichten um ökonomische Unrentabilität und damit korrespondierende prekäre Lebensstile. Bourdieu nun plädiert allgemein für eine Auseinandersetzung mit der Distributionsstruktur der besonderen Kapitalsorten als Bedingung zum Verständnis der Differenzierung einzelner Felder (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006, S. 139). Nicht die vollkommen tragische Erzählung über

106 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Roy Mankwart, wohl aber die weiter oben dargestellte Auffassung um ökonomische Marginalisierung durch den Musiker Jason Crumer („The one skill you’ve bothered to hone in your life is now completely worthless“) harmoniert mit einer Vorstellung von kulturellem Kapital als jener Kapitalsorte, die zum ökonomischen Kapital eine besondere, teils missverständliche Verbindung unterhält: „Weil die sozialen Bedingungen der Weitergabe und des Erwerbs von kulturellem Kapital viel verborgener sind, als dies beim ökonomischen Kapital der Fall ist, wird es leicht als bloßes symbolisches Kapital aufgefaßt; d.h. seine wahre Natur als Kapital wird verkannt, und es wird stattdessen als legitime Fähigkeit oder Autorität anerkannt, die auf allen den Märkten (z.B. dem Heiratsmarkt) zum Tragen kommt, wo das ökonomische Kapital keine volle Anerkennung findet“ (Bourdieu 2008 [1992], S. 220).

In einer performativen Zuspitzung demonstriert die „Leidensgemeinschaft“ des Noise performativ, was sie für ein Mehr an Distinktion zu leisten – im Sinne von: zu ertragen und zu entbehren – bereit ist. Im Angesicht von Bourdieus Kapitalbegriff ist davor zu warnen, den Erwerb von Fertigkeiten, die die schlüssige Rede von einem „Hören für Fortgeschrittene“ bedingen, als einen Aneignungsprozess zu betrachten, der einer voraussetzungslosen Beliebigkeit unterliegt: Macht man das „geübte Hören“ in der externalistischen Beobachtung ausschließlich an exkludierenden (und somit privilegierenden) Vorgängen eines „Leerens des Raumes“ fest, mag es zunächst verlockend erscheinen, den praktischen Vollzugs als Hinweis für die schlüssige Annahme eines „Das kann doch jeder“ zu halten. Bourdieu aber erinnert daran, dass der Aneignungsprozess von Kulturkapital mitunter einer der sprichwörtlichen Inkorporierung ist, der Verinnerlichung also, die eben nicht – in klarer Unterscheidung zu Geld, Besitz- und Adelstiteln – kurzfristig weitergegeben werden kann (beispielsweise durch einfachen Kauf oder auch Verschenkung). Bei aller notwendigen praxissoziologischen Entzauberung einer Hörfertigkeit, die sich in einem sensorisch-rezeptiven oder sensorisch-kognitiven Prozess erschöpft, ist auch dieses inkorporierte Kulturkapital also an die Leiblichkeit seiner TrägerInnen gebunden: „[Das inkorporierte Kulturkapital] vergeht und stirbt, wie sein Träger stirbt und sein Gedächtnis, seine biologischen Fähigkeiten usw. verliert. D.h., das kulturelle Kapital ist auf vielfältige Weise mit der Person in ihrer biologischen Einzigartigkeit verbunden und wird auf dem Wege der sozialen Vererbung weitergegeben, was freilich immer im Verborgenen geschieht und häufig ganz unsichtbar bleibt“ (ebd., S. 220).

5. H ÖRKOMPETENZ

UND

D ISTINKTION

| 107

Mit Bourdieu gedacht, gehen die verschwindend geringen Möglichkeiten zum tatsächlichen Broterwerb, die in puncto Noise einigen wenigen Ikonen des Feldes vorbehalten bleiben, im Übrigen Hand in Hand mit einer um so größeren Aneignung von kulturellem Kapital.18 „Wer über eine bestimmte Kulturkompetenz verfügt, z.B. über die Fähigkeit des Lesens in einer Welt von Analphabeten, gewinnt aufgrund seiner Position in der Verteilungsstruktur des kulturellen Kapitals einen Seltenheitswert, aus dem sich Extraprofite ziehen lassen“ (Bourdieu 2008 [1992], S. 220f.).

Die Fähigkeit zum Lesen unter Analphabeten ist – bedacht mit einem gewissen ironischen Bruch – eine fabelhafte Analogie auf die Rede vom „Hören für Fortgeschrittene“, das für seine Kompetenzinhaber beansprucht, dass musikalischer Sinn dort wahrgenommen und gehört werden kann, wo andere, die nicht über die mühsam erworbene Kulturkompetenz verfügen, z.B. nur eine Collage von Störgeräuschen wahrzunehmen meinen. Den Extraprofiten, die den „fortgeschrittenen“ HörerInnen nun, folgt man Bourdieu, offenstehen, in allen Verästelungen potenzieller Rentabilität nachzuspüren, ist freilich im Rahmen der vorliegenden Studie nicht umfassend zu leisten. Gleichwohl kann die Thematik, die dem Aspekt des Kapitalerwerbs gegenüber durchaus von Relevanz ist, ausschnitthaft und anekdotisch angerissen werden, um eine grundlegende Perspektive auf kursierende Potenziale zum „Einlösen“ des Seltenheitswerts zu eröffnen. Manche KünstlerInnen finden beispielsweise mit den Jahren Anschluss an den legitimen Kulturbetrieb. Zuweilen erfährt hierbei das Schaffen vormals diskreditierter KünstlerInnen nach langen Jahren harter Konfrontationen schlussendlich eine kulturelle Neubewertung. Das bedeutet individuell beispielsweise eine lang ersehnte Aufnahme in die Zirkel der gehobenen Klangkunst oder vergleichbarer Bereiche. Grenzen zwischen Noise und institutionell getragener (beispielsweise öffentlich finanzierter oder an repräsentativen Orten ausgestellter) Klangkunst verschwimmen auch aus diesem Grund von Zeit zu Zeit, und manche KünstlerInnenbiographie erscheint im Rückblick wie das schlüssige Abbild einer beständigen (Selbst-)Bändigung. Ein besonders konkretes Beispiel des „Einlösens“ ist darüber hinaus die bemerkenswerte Karriere des Berliner Duos Heavy Listening, das zu Beginn seines Werdegangs Noise-Musik mit Eventcharakter in Form interaktiver Klangkunstprojekte produ-

18 Anschlussfähig erscheint dieser Umstand an rezente Debatten um die „Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen“ (vgl. Lorey 2007).

108 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

zierte. Die dadurch generierte Aufmerksamkeit, die sich auf die Ungewöhnlichkeit der mitunter provokativen Projekte bezog, deute ich als Sprungbrett für den folgenden Aufstieg der Formation in die künstlerischen Bereiche der Popmusik. Kurzum: Noise kennt zuweilen Erfolgsgeschichten. Mit ihnen einher geht nicht selten eine teilweise Abkehr von Noise bei gleichzeitiger Hinwendung zu anderen Musik- und Kunstbereichen, die nun versatzstückhaft von den erworbenen Kompetenzen zehren. Dieser Umstand deutet an, dass Noise zu Kunst- und Musikformen, die als „konventionell(er)“ konnotiert sind, in Fragen der Kompetenzen ein spezifisches, teils auffallend enges Verhältnis pflegt, das sich eben nicht in purer Opposition erschöpft. Zudem demonstriert das Phänomen, dass Noise beiläufig Kompetenzen lehrt, die in ökonomisch „verwertbareren“ Branchen unter glücklichen Bedingungen praktische Anwendung finden können.

6. Klang-Raum-Körper

Im Folgenden will ich der praktischen Verschränkung von Klang, Raum und Körper gesonderte Aufmerksamkeit schenken. Wie das vorangegangene Kapitel in seiner Darstellung von distinguierenden Raum- und Körperordnungen in einem ersten Schritt zeigt, sind spezifische Arrangements im Sinne solcher Verschränkungen ein maßgeblicher Aspekt des Noise-Phänomens. Ausführungen zum Klang-Raum-Material-Verhältnis demonstrieren in diesem Kontext im Folgenden, dass Klangerfahrung ohne Raum ohnehin nicht denkbar ist. Die Unterkapitel 6.1. und 6.2. adressieren jeweils Grundannahmen in Hinblick auf Klang und Körper sowie Klang und Raum. Argumentativ wird hiermit insofern eine Marschroute vorgegeben, als Körper- und Raumdimension im darauffolgenden Abschnitt 6.3. „Sich umspülen lassen“ konsequent zusammengedacht werden, was ihre Rolle in der praktischen Etablierung von Klangerfahrung betrifft. In jenem Unterkapitel bezieht sich die Argumentation auf vergleichsweise wenig „rabiate“ Hybridformen zwischen Noise und Ambient-Musik: Im vierten Kapitel (zum Gegenstandsbereich) wurde im Vorangegangenen dargestellt, dass ich Noise in Anlehnung an eine journalistische Teilnehmerkonstruktion aus dem Magazin The Wire weniger als ein festes Genre denn vielmehr als eine Tendenz, ein Programm begreife. Meine Argumentation im vorliegenden Kapitel macht sich diesen Umstand gleichsam methodisch im Zuge einer perspektivisch changierenden Auseinandersetzung zunutze. Der darauffolgende Abschnitt zu den performativen Repertoires des Feldes wagt sich wiederum auf genuines Noise-Terrain und identifiziert hier auf Basis einer kursierenden Liste von „Noise-Klischees“ Spezifika der Verkörperung: Sie gewähren einen Aufschluss über Affektivität und Ordnungsbildungen in Hinsicht auf Klangerfahrung. Auf Basis der Annahme eines wechselseitigen Durchdringungsverhältnisses von Körper und Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2006) folgt daraufhin die Frage nach körperlich-performativen Einstimmungen, die die Klangerfahrung bei diffuser Grenzziehung zwischen KünstlerInnen und Publikum in

110 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

actu informieren. Zur Erschließung wähle ich hier mehrere Vergleichsfälle, die meine eigene Feldperspektive gezielt befremden und die Einstimmungsszenarien zudem für den Umgang mit Musik im Sinn einer Relevanz über den unmittelbaren Gegenstandsbereich hinaus perspektivieren. Dabei zeigt sich im Übrigen, wie klare Grenzen zwischen KünstlerInnen und Publikum situativ diffus und uneindeutig erscheinen. Adressieren lässt sich im Anschluss daran jene „soziomaterielle Arbeitsteilung“, die die Rolle der technischen Artefakte im Zuge körperlicher Bühnenperformances in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Unterkapitel zu den soziomateriellen „companionships“ fragt vor diesem Hintergrund – im Anschluss an das performative Verschwimmen zwischen KünstlerInnen und ZuschauerInnen – nach jenen Diffusionen, die die Trennung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren betreffen. Die Analyse folgt dabei auf Grundlage entsprechender Beobachtungsdaten der Frage, welchen spezifischen Sinn das Phänomen innerhalb des Feldes erfüllt: Technische Artefakte im Noise – wie etwa Modularsysteme, sonstige Synthesizer, Notebooks und Effektgeräte – sind hierbei nicht schlicht „Instrument“, sondern sind ein Teil künstlerischer Praxis im Sinn der Verschränkung von menschlicher und nichtmenschlicher agency, wie sie Pickering (2001, S. 174) zufolge etwa in der Fabrik oder auf dem Schlachtfeld anzutreffen ist. Wie ich zeigen will, übernehmen Artefakte mitunter gar eine den Körper disziplinierende Rolle in Aufführungsszenarien. Ganz im Sinne der bereits diskutierten Einstimmung unternimmt das Kapitel daraufhin einen Exkurs mit Blick auf „entgrenzte“ Erlebnisräume: So tangiert die Frage nach Orten und Wegen als einstimmende „Besinnung“ den Faktor von Erwartungen und teleoaffektiven Strukturen in Hinblick auf die sich raumzeitlich in Konzertform verdichtenden Noise-Events. Schlussendlich kehrt die Argumentation zu den hybriden, weniger „rabiaten“ Ambient-Noise- oder Ambient-DroneFormen zurück und fragt nach der Fragilität stimmig etablierter Klang-RaumKörper-Arrangements. Wie sich Noise der zu beschreibenden Brüchigkeit im Rahmen extremerer Spielarten immunisierend widersetzt, ist Gegenstand einer abschließenden Diskussion, die ins Folgekapitel zur konflikthaften Kollektivität überleitet. Dem voran steht die Thematisierung jener „unexpected dynamics“, die Verkörperungen von Noise oft eigentümlich sind und auch in Kompositionsbzw. Improvisationsstrukturen Niederschlag finden. Diskutiert wird vor dem Hintergrund der unerwarteten Dynamiken ein dem Feld typischer Erfahrungsmodus, der zum einen auf die Irritation von Ordnung gründet, zum anderen in seiner Stiftung oder Anerkennung von Ungewissheit und Nervosität aber selbst als eine verlässliche Ordnungsbildung fungiert. Performativ greifbar wird dabei das

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 111

„Konventionelle im Unkonventionellen“. Schlussendlich wird in den „unexpected dynamics“ im Anschluss an das Verständnis von „vibrations“ bei Henriques (2010) ein typischer Modus der Klangerfahrung identifiziert, der z.B. in körperlichen Spannungszuständen aufgeführt wird, die per Einstimmung kollektiv evoziert werden.

6.1 N OISE

IN

B EWEGUNG

Im Rahmen subkultureller Ausdifferenzierung entstehen mitunter musikalische Genrebezeichnungen, die recht konkret Körperhaltungen und -bewegungen referenzieren. Ein plastisches Beispiel hierfür ist Shoegazing, ein Subgenre des Independent Rock der späten achtziger und frühen neunziger Jahre, das es TeilnehmerInnen offenbar auferlegte, eine auf den Boden blickende Haltung einzunehmen, die im Zusammenspiel mit spezifischen Bekleidungs- und Haarmoden der Zeit erkennbare Modi von Versunkenheit und Introvertiertheit evozierte. Unweigerlich zeigt das eine Verschränkung der Verkörperung mit den Klangeigenschaften des Genres, die sich durch exzessiven Einsatz von Hall, strukturelle Überlappung und körnige Verzerrung auszeichneten. Shoegezaing ist freilich etwas anderes als Noise, wenngleich zumindest punktuell stilistische Überschneidungen und auch wechselseitige Wertschätzung existierten. Worauf dieser Fall aber aufmerksam macht, ist die beschriebene Verschränkung von körperlicher Performance und Soundeigenschaften, die von TeilnehmerInnen als schlüssig und legitim, als naheliegend und natürlich erlebt wird. Eine solche Verschränkung existiert auch im Noise. Die Identifikation und Beschreibung von performativen Repertoires gestaltet sich allerdings ungleich mühevoller, wenn ein Genre für sich beansprucht, eigentlich gar keinen eigenen Tanz- oder Bewegungsstil zu haben. Das nämlich gilt für Noise: Die Auffassung einer experimentellen Regellosigkeit betrifft offenkundig auch einschlägige Bewegungsmodi: „There’s no dance for Harsh Noise Wall“, konstatiert ein Cartooncharakter in der Reihe Harsh Noise Wally in gewohnter Ablehnung musikalischer Konventionen. Zugleich wird seinerseits ein alternativer Bewegungsmodus vorgeschlagen, der suggeriert, dass selbst Noise nicht ohne Verkörperung auskommt: „...so maybe at shows I should form a wall with my body“.1

1

Online: http://harshnoisewally.tumblr.com/post/128198071806, zugegriffen am 09.02. 2016. Siehe Internetquellen: Harsh Noise Wally (2015b).

112 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

In der Tat ist nicht zu beobachten, dass man im Noise Formen der Bewegung pflegt, wie sie dem formellen Tanz unmittelbar verwandt sind. Gleichwohl existiert ein Spektrum an körperlichen Bewegungsstilen, das als schlüssig erfahren wird. Erkennbar ist das daran, dass die Frage der Verkörperung im Noise auch Kompetenzen um ein angemessenes Sich-Bewegen betrifft. Anekdotisch wird mir etwa von einer Kollegin berichtet, sie habe in Wien ein Noise-Konzert besucht, und ein befreundetes Paar von ihr habe während des Auftritts begonnen, vor der Bühne im konventionellen Sinn zu tanzen. Von den Künstlern seien diese zwei Personen daraufhin verwarnt und schließlich des Raumes verwiesen worden. Gewiss handelt es sich um ein extremes Beispiel, und als Insider halte ich es für allemal vorstellbar, dass Tanz im Rahmen anderer Noise-Konzerte mindestens geduldet (oder als ironische Einlage gar begrüßt) würde. Dennoch erinnert das Beispiel daran, dass das nach Selbstauffassung so experimentelle Feld sehr wohl impliziten Ordnungen unterliegt, die zuweilen gar mit bemerkenswerter Strenge etabliert werden: Wer sich etwa erkennbar unangemessen bewegt, so scheint es, muss Sanktionen befürchten. Wer sich aber einfach angemessen bewegt, dessen oder deren Verkörperung bedarf im Regelfall keiner expliziten Thematisierung. Sie fügt sich stumm und schlüssig in den routinierten Lauf der Dinge. Als Befremdung gegenüber den informellen, scheinbar regellosen Lern- und Einstimmungserfahrungen, die Noise-spezifische Verkörperungen ausbilden, ist der Tanz in seiner oft expliziten Regelhaftigkeit eine hilfreiche Kontrastierung: In Anlehnung an Schütz versteht Bassetti (2014) Tanz als einen „meaningful context“: „It is meaningful to the choreographer; it can be understood as such by the spectator, and it is the task of the performer(s) to bring about the correct (i.e., intended) meaning“ (S. 93). Der Prozess der Probe wird von der Autorin beschrieben als „collective and negotiating, daily and mundane, situated and emergent, progressive yet recursive“ (ebd., S. 97). Performances werden gelehrt, d.h. vorexerziert, erklärt und korrigiert; sie werden erlernt in einer kontinuierlich wiederholten und durch Korrektur geprägten Praxis; und sie wird geformt durch Anpassung, ästhetische Auswahl, Problemlösungen und kollektiv verhandelte Modifikationen (vgl. ebd.). Sucht man diese Stationen schlüssiger Anweisung und Verkörperung im dezidiert informellen und „experimentellen“ Noise, so findet man die Spuren ihrer Existenz in einer losen, multisituierten Streuung: in Sanktionen beispielsweise, die erteilt werden (siehe oben); das Vorexerzieren wiederum sieht man auf Konzerten und in Videos. Erklärungen finden sich in oftmals ironisierter Form in Online-Foren oder einschlägigen Cartoons (siehe

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 113

Harsh Noise Wally). Die kontinuierliche Wiederholung ist wiederum ein beiläufiger Effekt der dauerhaften Präsenz innerhalb der Kernszene. Im Folgenden argumentiere ich, dass Noise Handlungs- und Vertiefungsanweisungen impliziter wie expliziter Natur kennt, die TeilnehmerInnen zur Verkörperung und damit zur Anleitung einer schlüssigen Klangerfahrung verhelfen. Mehr noch: Das Genre kennt regelrechte Repertoires in Fragen der Verkörperung, die auf dem Message-Board Noiseguide in Form einer Sammlung von „Noise-Klischees“ von KennerInnen humorvoll benannt und reflektiert werden. Darüber hinaus relevant sind Szenarien der Einstimmung, die ich im Darauffolgenden analytisch beschreibe. Insbesondere hier zeigt sich, dass der Körper in Sachen Klangerfahrung nicht einfach aufnehmende, verarbeitende „Zielscheibe“ äußerer Reize ist, sondern dass er vielmehr Erfahrung gekonnt mitinszeniert und somit in kollektiver Weise mitherstellt. Im Folgenden will ich daran anschließend im Sinn der Gesamtargumentation darauf hinweisen, dass körperliche Performance immer auch an Raumaspekte gebunden ist.

6.2 „T HE FEEL AND THE SURROUNDINGS “: K ÖRPER IN R ÄUMEN Räume können oft vielfältig gedeutet werden. Diesen Deutungen wesentlich ist die Frage ihrer praktischen Nutzung und, wenn man so will, der „Vereinnahmung“. In meinen Feldnotizen ist nach einigen Monaten ein Muster erkennbar: Oftmals besuche ich Noise-Events in kleinen bis mittelgroßen Clubs; doch eine ebenfalls häufige Art von Venue, in der ich Noise und mitunter auch Klangkunst im Zuge meiner Feldarbeit erlebe, sind kirchliche Räume 2. In verschiedenen Situationen beobachte ich in Deutschland und Österreich etwa ein interaktives Noise-Event oder ein mehrtägiges Festival an solchen Orten. Die Verbindung zwischen Sound und kirchlichem Raum ist freilich kein neuartiges, sondern ein altbekanntes Phänomen. In Fragen des Zusammenspiels von Raum und Klang unterstellt etwa Schulze (2008) ein Praxiswissen, das unter spezifisch ausgebildeten AkteurInnen kursiert und von diesen im Rahmen von architektonischen Bauweisen und musikalischen Kompositionen umgesetzt wird:

2

Es handelte sich hierbei meines Wissens im Übrigen stets um Kirchen, die nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden.

114 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

„Dieser Raumbezug – der nie wirklich aus dem Gespür ausgezeichneter Instrumentalisten und Komponisten, Architekten und Baumeister verschwunden war – dieser Bezug zum umgebenden Klang feierte in der Musikpraxis seine deutlichste Hochzeit in den verschie denen Neuen Musiken des vergangenen Jahrhunderts: Der Ort und sein Widerhall wurde darin ausdrücklich in Kompositionen einbezogen und in Partituren reflektiert und niedergelegt“ (S. 16).

Das eröffnet ein gewisses Spannungsfeld in Hinblick auf explizite und auch implizite Fertigkeiten: Ausgezeichnete KomponistInnen und ArchitektInnen verfügen Schulze gemäß über die Kompetenzen, derer es bedarf, um eine Verbindung von Klang und Raum in absichtsvoller und wirkmächtiger Weise aktiv auszugestalten. Darüber hinaus will ich in diesem Kontext fragen, in welchen Ausgestaltungen ein Klang-Raum-Zusammenspiel auch über einseitig intentional hergestellte „Bestandteile“ hinaus gewährleistet wird: Nicht nur die KünstlerInnen und ArchitektInnen sind hierbei als Schöpferfiguren gelungener (oder auch weniger gelungener) Arrangements3 in den Blick zu nehmen. Vielmehr ist es sinnvoll, sich die Situationen räumlicher Aufführung als sites sozialer Praktiken vorzustellen, die einer kollektiv geteilten „Autorenschaft“ unterliegen: Nicht nur das gekonnte Expertenwissen von IngenieurInnen und KünstlerInnen bestimmt somit ein räumliches Geschehen, sondern zudem auch die situativ wie transsituativ anwesenden Körper und Artefakte, die das Geschehen im Sinn einer Gesamtkomposition etablieren. Ein Publikum beispielsweise mag durch Architektur, Lichtverhältnisse und Erwartungen gerade im Klangraum Kirche zu spezifischen körperlichen Bewegungs- und Ausdrucksformen neigen, z.B. zu einem würdevollen Schreiten oder zu einer Darstellung von Vertiefung. Zugleich können verbindlich geglaubte Nutzungsformen von Räumen praktisch modifiziert und in Frage gestellt werden. Die nachfolgende videografische Beschreibung eines Konzerts der Noiseaffinen Drone-Metal4-Band Sunn O))) thematisiert grundlegende Klang-Raum-

3

In praxistheoretischen Debatten hat das Arrangement als Begriff gegenüber dem alltagssprachlichen Gebrauch eine präzisierte Bedeutung und referenziert etwa bei Schatzki (2002) ein spezifisches Moment der Ordnungsbildung: „Ordering, furthermore, is the hanging together of things, the establishment of nexuses. Another way of capturing this is to equate orders with arrangements of things and ordering with arranging. An arrangement of things is a layout of them in which they relate and are positioned with respect to one another. To be ‚positioned‘ is to take up a place among other things, a place that reflects relations among the things involved“ (S. 18f.).

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 115

Konstitutionen in Konzertdarbietungen5. Dem Medium entsprechend ist die folgende Beschreibung deutlich durch Kamerafahrten- und Perspektiven strukturiert. Im Mittelpunkt meiner Darstellung steht die kollektiv geteilte Herstellung von Erfahrung in Klangräumen: Auszug aus den Feldnotizen, August 2015: Der Kamerablick schreitet durch einen weithin konturlos erscheinenden Raum, der in den dichten Nebel einer Nebelmaschine sowie in tiefblaues Licht getaucht ist. Man erkennt ein stehendes Publikum, mal in größeren, mal in kleineren Grüppchen, als Silhouetten, die nur bei unmittelbarer Annäherung durch die Person, die die Kamera führt, an Kontur und Details (wie beispielsweise Gesichtszügen) gewinnen. Der Kamerablick nimmt nach diesem einleitenden Rundgang die leerstehende Kanzel der Kirche in den Blick, die sich in schät zungsweise drei Metern Höhe über die Köpfe der ZuschauerInnen erhebt. Durch gehend hört man einen tief röhrenden, kaum variierten Klang einer verzerrten E-Gitarre, der den Raum in seiner brummenden Stärke geradezu zu erfüllen scheint. Die Kamera schwenkt durch den Raum, legt Fenster und Bögen offen, die die Innenarchitektur der Kirche gestalten. Blickperspektive, Nebel und Klang scheinen im Einklang mit den Lichtverhältnissen gemeinsam einen Eindruck von monumentaler Erhabenheit hervorzubringen: Insbesondere die Blickkorridore sind es, die hier Raum als etwas Großes, sich Wölbendes, als etwas Ehrfurcht Gebietendes generieren: Mir wird durch die Videoperspektive gleichsam ein schweifendes Sich-Umblicken aufgezwungen, das die Klangkulisse mehr als lediglich illustriert. Nach etwa 45 Sekunden reiht sich die Person mit der Kamera offensichtlich unter der relativ dicht stehenden Traube jener KonzertbesucherInnen ein, deren Blick frontal auf die Bühne gerichtet ist. Wir blicken nun also nicht mehr ringsum und nach oben durch den Raum, sondern sehen Oberkörper und Köpfe vor uns, in einer Distanz von ca. 15 Metern zudem das eigentliche Bühnengeschehen, das bei gleichbleibender Klangkulisse sprichwörtlich nebulös erscheint – von hinten und von oben ausgeleuchtet, so dass durch den Dunst der Nebelmaschinen eine gewisse Helligkeit bricht. Die BesucherInnen sehen inmitten der Büh ne aufgetürmte Amplifier und Lautsprecher, die dem röhrenden, körnigen Klang der monotonen E-Gitarren-Akkordwiedergabe eine visuelle Stütze sind: Schließlich wirkt

4

Drone Metal bezeichnet einen Stil zwischen barscheren Heavy-Metal-Spielarten sowie Ambient- und Noise-Musik: Instrumentierung und Outfits sind oftmals klar dem Spektrum der Metal-Kultur zuzurechnen, während sich die Struktur der Musikstücke an die Flächigkeit von Noise und Ambient anlehnt.

5

Online: https://www.youtube.com/watch?v=7a0Z2yndlOs, zugegriffen am 10.02. 2016. Siehe Internetquellen: Youtube (2009).

116 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

der Sound massiv – er lässt sich in diesem räumlichen Arrangement auch in der klanglich sicherlich abgeschwächten Videobetrachtung ganz mühelos als durchdringend und drückend imaginieren. Immer wieder nimmt der Kameraschwenk das stehende Publikum in den Blick. Es ist ein mehrheitlich weißes, mehrheitlich männliches Publikum zwischen schätzungsweise 20 und 40 Jahren, das die Gesichter und damit die Blicke nach vorne richtet und sich kaum zu bewegen scheint, wenngleich kleinere Bewegungen, die sich beobachten lassen, durchaus interessant erscheinen: So wiegen mehrere Personen den Kopf zuweilen langsam von einer Seite zur anderen, obgleich der hörbare Klang ein vollkommen flächiger ist, der nicht durch ein wahrnehmbares Metrum strukturiert ist.

Rhythmus wird hier gleichsam durch die Körperbewegungen der ZuschauerInnen selbst etabliert, die eine zurückhaltende, stark verlangsamte Variante des im Metal verbreiteten „Headbanging“ anzudeuten scheinen. In der Auslassung einer klaren Rhythmik auf Seite der Musiker bei gleichzeitiger, zunächst paradox erscheinender Etablierung einer vagen Rhythmik qua Körperbewegung zeigt sich, wie Musikalität nicht schlicht durch ein Publikum „nachvollzogen“ wird, sondern beispielsweise durch Bewegung überhaupt erst hervorgebracht, d.h. im vorliegenden Fall praktisch etabliert wird. Kurzum: Durch die rhythmische „Auslassung“ im Arrangement wird im Fall der Performance von Sunn O))) samt Publikum die Arbeitsteilung in der Etablierung von Musikalität gegenüber bloßer Geräuschhaftigkeit offenbar. Wo kein Rhythmus „ist“, muss er eben anderweitig hergestellt werden. Dabei wirkt der verhaltene, langsame Charakter der Bewegungen dem zähen, sich scheinbar ungebrochen dahingießenden Klanggeschehen gegenüber schlüssig. Ein explizierbarer Teil des Wissens der Künstler, das im Zustandekommen des beschriebenen Arrangements eine Rolle spielt, mag sich freilich in der Tat in Kompositionen einbeziehen und in Partituren (oder informelleren Arten von Kompositionsnotizen) reflektieren und niederlegen lassen (wie von Schulze angedeutet). Die zitierte Episode demonstriert darüber hinaus allerdings, dass eben nicht nur KünstlerInnen in ihrer Rolle als Autoren und Arrangeure in Erscheinung treten: Vielmehr ist die körperlich situierte Sinnstiftung abhängig von einer breiteren Streuung. Durch die beobachtbaren Performances schließlich wird dem Klanggeschehen ein musikalischer Sinn eingeschrieben, der in gekonnten Bewegungen zutage tritt, die ihrerseits wiederum eingebunden sind in ein von TeilnehmerInnen als schlüssig empfundenes Gesamtarrangement aus Raum- und Lichtverhältnissen (in actu womöglich sogar von Gerüchen und Temperaturverhältnissen getragen, die durch die videografische Beobachtung nicht einholbar sind).

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 117

Zusammenspiel ist als Stichwort demnach konsequent ernst zu nehmen, wenn ein kompetentes Publikum etwa Musikalität via Bewegung mitetabliert. Die raumsoziologische Perspektive weiß um die Schaffung spezifischer Räume in der Techno-Szene der 1990er Jahre, vom räumlich entgrenzten Tanz im Club bis zur Love Parade oder illegalen Treffpunkten wie Autobahnbrücken oder Tiefgaragen (vgl. Löw 2001, S. 101). Insbesondere der Verweis auf die illegalen Treffpunkte zeigt, inwiefern in Raumbildungen intendierte Effekte auch abseits „ursprünglicher“ Architekturen praktisch hergestellt, plausibilisiert und verstärkt werden können. Noise sucht z.B. in kirchlichen Räumen mitunter solche Lokalitäten auf, an denen die Klangproduktionen potenziell z.B. als dem Ort des Geschehens gegenüber fremdartig und konfligierend erfahren werden: Ort und Musikgenre begegnen einander hier in einem spannungsreichen Verhältnis. Ort und Musik erscheinen einander durchaus fremd, wie mir eine Konzertbesucherin bei einem flüchtigen Gespräch bei einem Noise-Kirchen-Event plausibel macht: Sie sagt, sie vermisse im Aufführungskontext kritische Positionen gegenüber der Institution Kirche. In einer Art Gedankenexperiment fügt sie an, dass es ihr daher selbst sicherlich schwer fallen würde, eine Veranstaltung wie diese zu kuratieren. Die Besucherin sieht einen geradezu unüberwindbaren Konflikt, den sie selbst in einer Rolle als Veranstalterin, wie sie meint, nicht ausgleichen, zufriedenstellend regulieren oder anderweitig bewältigen könnte. Zugleich gibt es unter BesucherInnen solcher Konzerte jedoch eine große Wertschätzung für kirchliche Räume als Orte des besonderen Klangerlebens. Es ist also im Sinn einer praktischen Umdeutung konsequent zu beachten, dass ein vielfach „aufgeladener“, dabei Handlungs- und Bewegungsimperative „tragender“ Raum nicht schlicht ein Raum ist in jenem Sinn, dass etwa Architektur, Lichtverhältnisse oder auch Gerüche und Klang den TeilnehmerInnen implizite Vorschriften machen, in deren nicht sprachlich explizierbarer Choreografie sie sich fortan wie ferngesteuert bewegen. Räume sind demgegenüber als „contested“ (vgl. etwa Kleinknecht 2005, S. 214) zu begreifen, als diversen, miteinander auch konfligierenden Zu- und Einschreibungen unterliegend. Davon weiß etwa die Raumethnografie der Sozialanthropologin Gisa Weszkalnys, die den Berliner Alexanderplatz in ihrer dichten Beschreibung thematisiert: als „vielfach überdeterminiertes Objekt expliziter und impliziter Strategien und Praktiken des place making vonseiten verschiedenster individueller und kollektiver Akteur_innen, die aus ihrer jeweiligen sozialen Realität bzw. deren Wahrnehmung heraus agieren“ (Siebeck 2011, Abs. 3). Der kirchliche Raum erfährt im Rahmen von Klangkunst- und Noise-Performances ganz basal schon dadurch eine praktische Umdeutung, dass ein Klangspektrum dargeboten wird, das anders ist als das der

118 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Gottesdienste; oder dadurch, dass der Ablauf von Konzerten und Installationen nicht der Liturgie christlicher Zeremonien und Riten folgt, gleichwohl aber selbst spezifischen, also keinesfalls beliebigen Ordnungsbildungen unterliegt. In einem Youtube-Kommentar zu dem oben beschriebenen Konzertvideo der Band Sunn O))) heißt es: „[They] are a very atmospheric based band. It’s all about the feel and the surroundings that generate the emotions through their music. So when played live the atmosphere is at it’s [sic!] most effective “ (Hervorhebung von mir). Relevant gemacht wird hier in der Teilnehmerperspektive ein entscheidender, weil affektiv wirkmächtiger Zusammenhang zwischen räumlichen Umgebungen und dem Etablieren von Atmosphären. Ein weiterer Kommentar eröffnet die Perspektive auf die praktische Umdeutung von Räumen: „This is what churches are good for“. Zur Sprache kommt außerdem ein kontemplativer Hörmodus, der dem audiovisuellen Geschehen gegenüber schlüssig erscheint: „Wow, it’s heavy meditation music then. I finally get it“. Sämtliche dieser Punkte, die mit Gewichtungen meiner Feldnotizen zum Thema der Klangräume auffallend stark konvergieren, sollen im vorliegenden Kapitel einer vertiefenden Analyse unterzogen werden. So, wie Weszkalnys in ihrer Studie mehrere „different Alexanderplatzes“ rekonstruiert, von denen einer auch jener ist, den ihre eigene Forscherinnenperspektive hervorbringt (vgl. Siebeck 2011, Abs. 3), wird in der Installations- und Aufführungspraxis ebenso der kirchliche Raum wieder und wieder, in unterschiedlichen Ausformungen, „hergestellt“: Der kirchliche Raum als Aufführungsraum, der „contested“ ist, in den TeilnehmerInnen Strategien und Praktiken mannigfaltiger Art einbringen, muss thematisiert werden als ein Raum, der eben vielfachen, dabei durchaus unabgeschlossenen Deutungen und Umdeutungen unterliegt6. 6

Die „contestedness“ von Räumen lässt sich gut an einem Alltagsbeispiel begreifen, das zugleich die tragende Rolle wirkmächtig involvierter Alltagsgegenstände vor Augen führt: Filialen einer großen Kaffeehauskette, die hier ungenannt bleiben soll, fungieren etwa Freiberuflern oder Studierenden auch als temporäre Arbeitszimmer. Das ist durchaus erwünscht, soll aber scheinbar nicht überhandnehmen: Über die Jahre hinweg konnte in diesem Zusammenhang immer wieder das vermutlich strategische Verschwinden vormals vorhandener Steckdosen beobachtet werden. Dadurch, dass nun keine Steckdose mehr für alle Notebook-ArbeiterInnen zur Verfügung steht, werden jene zum Ablauf der Akkuladungen ihrer Geräte dazu veranlasst, den Ort wieder zu räumen und für die erwünsche Publikumsfluktuation zu sorgen. Da neue Akkumodelle mittlerweile viele Stunden halten, sieht sich die Kaffeehauskette durchaus mit neuen Herausforderungen konfrontiert: Über verminderte Steckdosenstreuung lassen

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 119

Kirchen als Veranstaltungsorte machen im Noise darauf aufmerksam, inwiefern situierte Events gleichermaßen von Architektur und Geschichte der Orte, wie auch von deren Involviertheit in Prozesse der Umdeutung geprägt sind. Die Unabgeschlossenheit der Umdeutung, wie sie im erwähnten Gespräch mit der Konzertbesucherin zur Sprache kommt, ist im vorliegenden Fall ein Umstand, der zuweilen zur Empfindung von Fremdheit beitragen mag: Die Auffassung von einer präsenten Tradition trifft hier räumlich-situativ auf Vorstellungen von einer künstlerischen Avantgarde. Die sicht-, spür- und allgemein erfahrbare Tradition beflügelt und bestärkt das Neuartige durch ihre Präsenz und durch ihre „contestedness“. Noise als dezidiert ungewöhnliches, experimentelles Genre profitiert in diesem Sinn von räumlich plausibilisierten Kontrasterfahrungen.

6.3 „S ICH

UMSPÜLEN LASSEN “

7

Die Argumentation zur Verkörperung beschreibt nun zunächst Hörmodi an der Schnittstelle zwischen Noise und Ambient-Musik, die in Bewegungen, Haltungen und einem bestimmten Verhältnis zum Raum Hörerfahrung herstellen und sich insgesamt, wie ich später zeige, als fragil auszeichnen. Die nachfolgende Feldnotiz nimmt sich in einer ersten Annäherung dem Aspekt der körperlichen Involvierung sowie der Etablierung von Klangräumen in enger Verschränkung an und tangiert im Modus der Beschreibung zudem den vormals diskutierten Aspekt eines „Gestalthörens“ (siehe viertes Kapitel) insofern, als dem Klang in der Beschreibung assoziativ eine materielle Qualität zugesprochen wird, die schließlich – im Verständnis einer geteilten Sinnwelt – eine Fährte zur vertiefenden Auseinandersetzung legen soll. Die folgende Szene beschreibt Gestik, Mimik und Körperhaltung einer Konzertbesucherin in einem Wiener Club. Auszug aus den Feldnotizen, September 2014: Eine recht typische Haltung demonstriert eine junge Frau, ganz in existenzialistisches Schwarz gekleidet, in der zweiten oder dritten Reihe: Mit gebührendem Abstand zu ihren Vorder- und Nebenleuten steht sie da, eigentlich aufrecht, die Wirbelsäule aber ganz leicht nach vorne gebeugt, als ob sie auf Abruf sofort in sich zusammensacken könnte. Die Knie sind dementsprechend

sich die Aufenthalte der arbeitenden Gäste nicht mehr ohne Weiteres implizit budgetieren. Die praktische Aushandlung um „Arbeitsplatz oder Café“ wird kreativ fortgesetzt. 7

Das Unterkapitel greift Material aus Ginkel (2015) auf.

120 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

auch ein klein wenig angewinkelt. Ihre Augen hält die Person geschlossen, in einer sanften, nicht zusammengekniffenen Art, die wertschätzende, passiv aufnehmende Hingabe an das Klangerleben suggeriert. Krach ist offenbar ein schönes, intensives, irgendwie durchdringendes und beiläufig aufwühlendes Erlebnis, sobald man diese Haltung einnimmt. Dass sich die Frau nicht im Takt der monotonen Beats aus den Rhythmusmaschinen wiegt, zeigt womöglich die Präferenz für das vordergründig dominierende Rauschen, demonstriert die Erlebnishingabe nicht an die sequenzierende Struktur, sondern an den sich breit ergießenden Sound. […] Zugleich wird dem Klang – ebenfalls performativ – eine materielle Dimension zugewiesen, die in besonderen Mimiken, Gesten und Haltungen hervorgebracht wird. Diese Materialität kann man vielleicht wie eine Flüssigkeit begreifen, wie Wasser, durch das ein erfahrener Schwimmer zwar mit Anstrengung, aber auch mit einem passiven Genuss hindurchgleitet. Wie beim Wasser, so spürt man auch bei diesem Klangerleben ein diffuses Gewicht, das einen umspült, etwas, das nach ganz bestimmten Modi der Körperbe herrschung verlangt, damit man sich inmitten des Materials behaglich fühlen kann. Die Vertiefung, die der beschriebenen Person nicht nur ins Gesicht geschrieben steht, sondern ihren ganzen Körper zu erfassen scheint, erinnert an Meditation und Gebet.

Erfahren wird das Klanggeschehen offenbar auch hier als „heavy meditation music“ (siehe oben). Die Frage, die ich an diese Beschreibung anschließen will, ist eine, die die Herstellung der beobachteten Verkörperung im Detail adressiert: Wie genau wird ein Mitgerissenwerden, wie es in der zitierten Episode beschreibend nachvollzogen wird, in seinen konstituierenden Einzelheiten etabliert? Angedeutet wird schon in der kurzen Beschreibung eine geradezu symbiotische Verschränkung von Klang, Körper und Raum. Schlechthin sticht auch der Blick auf eine imaginierte oder jedenfalls assoziative Materialität von Klang hervor, der in der Feldnotiz eine liquide Qualität, vergleichbar jener von Wasser, zugesprochen wird – in Zusammenhang gebracht mit der Art, wie sich die Besucherin offenbar „zur Musik verhält“, während sie durch Haltung, Gestik und Mimik die schlüssige, scheinbar intensive Klangerfahrung als solche aktiv konstituiert. Es handelt sich, wie ich im Folgenden zeigen will, bei der Zuschreibung einer liquiden Materialität des Klangs keinesfalls um eine idiosynkratische Beobachterkonstruktion: Das Motiv, sich von Klang „umspülen“ zu lassen, lässt sich im Feld vielmehr explizit wiederfinden – insbesondere im Rahmen der hybriden Überschneidung von Noise und Ambient. Zudem adressiert das Sich-umspülenLassen ganz grundsätzlich notwendige Überlegungen zum Klang-Raum-Material-Verhältnis: Wenn innerhalb meines Forschungskontextes somit eine starke, geradezu greifbare Materialität von Klang zumindest assoziativ verhandelt wird,

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 121

sehe ich die analytische Perspektive in der Pflicht, sich der Assoziation konsequent anzunehmen. Das Nachspüren dieser Fährtenlegung entspricht der von Nicolini (2013, S. 231) angeregten Vorgehensweise eines shadowing sozialer Praktiken: „We can […] shadow the practice, extending our observation to the different places where it shows up. The basic move here is to follow its intermediaries (people, artefacts and inscriptions) wherever they go“. Zu fragen ist in Hinblick auf Klang als „umspülendes“ Material nach einem soziologischen Verständnis, welches das Schallsignal aufgrund seiner „Unsichtbarkeit“ nicht als abstrakt begreift, sondern in der Tat als Material, das mit anderem Material in Kontakt tritt und (in einer hier alltagsweltlichen Verwendung des Wortes) interagiert. Womöglich aufgrund seiner Flüchtigkeit unterliegt Klang etwa einer Vielzahl von praktischen, oft ganz alltäglichen Übersetzungs- und Transformationsleistungen: Klang wird in komplizierten Notationssystemen gebändigt, die ihrerseits mit dem Körperwissen ausgebildeter Instrumentalisten korrespondieren. Klang „entfaltet“ sich einerseits in großen Räumen wie Kathedralen oder Konzerthallen und wird andererseits gepresst durch kleine Handylautsprecher oder das alte Transistorradio. Klang scheint uns ganz unwillkürlich zu affizieren, wenn wir etwa einen plötzlichen Knall hören, und er wird von KünstlerInnen und DesignerInnen ganz absichtsvoll, ganz bewusst eingesetzt, um auf ein Publikum oder auch auf flüchtige Passanten in einer spezifischen, gezielten Weise zu wirken. Schulze (2008) schlägt ein Verständnis von klanglicher Raumwirkung vor, die ganz mühelos, in einem Modus der „Körpererinnerung“, eine Brücke schlägt zwischen Raum als gestaltetem Ort (etwa: Kirche, Konzertsaal, Club, Diskothek) und Körper als Medium der eigenleiblichen Erfahrung: „Jede Bewegung von Klängen ereignet sich, indem Moleküle in resonierenden Gasen, in der uns umgebenden Atmosphäre, in resonierenden Holzkästen, dünnen Darmsträngen, in Fellbespannungen, unseren Muskelfasern oder Knochenplatten, indem all diese Moleküle jeweils rhythmisch vibrieren, ihre kaum bewegte Ruhe durchrüttelt wird. Jede Aussendung von Klängen entspricht damit einer Bewegung dieser Vibration durch einen Raum hindurch – sei er aus festerer oder eher weniger fester Materie“ (S. 18).

Hilfreich ist diese Verbildlichung, um Klang als Bewegung zu begreifen, die direkt am und im Material wirkt und somit nicht lediglich auf die Ohrmuschel trifft, um fortan im Gehirn eine Interpretation zu erfahren. Klang durchdringt und etabliert Materialität(en), schwingt und vibriert durch mehrere Stationen solcher Materialität, ganz gleich, ob es sich dabei um menschliche oder nicht-

122 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

menschliche Teilnehmer sozialer Praktiken handelt. Die bewertende, interpretierende Klangerfahrung, gleichwohl sie hier nur eine Station unter vielen ist, muss dabei freilich ausreichend thematisiert werden, kann aber erschöpfend nicht in den Beschränkungen mentalistischer, textualistischer oder intersubjektivistischer Erklärungsmodelle (vgl. Reckwitz 2002, S. 202ff.) erschlossen werden. Vielmehr bedarf es einer Perspektivierung, die die Herstellung von Sinn und Bedeutung in einer umfassenden Anerkennung beteiligter Körper, Räume und Artefakte anerkennt. Klang, in seiner hybriden wie zugleich flüchtigen, weil in Bewegung und Verpuffung begriffenen Materialität, ist der ausgewiesene Fluchtpunkt einer solchen Auseinandersetzung. Henriques (2010) adressiert, dass „Vibrationen“ in der jamaikanischen Dancehall-Musik aufgrund der tiefen Bassfrequenzen von HörerInnen körperlich stark gespürt werden. Auf Basis seines empirischen Materials zieht der Autor in diesem Zusammenhang den Schluss, dass das affektive Erleben in einer Art klanglich konstituierten Materialerfahrung eng mit dem Klangerleben korrespondiert. Hierbei wird, wie schon im vierten Kapitel in Hinblick auf das doing sound angedeutet, die Rhythmizität in den Mittelpunkt gerückt, die als solche ohnehin den langen Schwingungen von Bassfrequenzen eigentümlich ist: „The energetic patterning of vibrating through the particles of a medium provides the basis of what can be called a dynamic or rhythmic materialism. This eschews the linear determination of a single cause and effect, or ‚determination in the last instance‘, in favour of patterning, cybernetic feedback systems and ‚control loops‘. It suggests that affect is ex pressed rhythmically – through relationships, reciprocations, resonances, syncopations and harmonies. Affect is transmitted in the way wave dynamics are propagated through a par ticular medium – which may be corporeal, or material, or sociocultural“ (S. 58).

Ein Sich-umspülen-Lassen kann vor diesem Hintergrund auch als spezifischer Modus von affektiver Klangerfahrung via Verkörperung innerhalb gewährleistender Raumkonstitutionen begriffen werden. Inwiefern die Betonung der Rhythmizität aber für Noise einen besonderen Zuschnitt erfahren sollte, diskutiere ich später. Das „Sich-umspülen-Lassen“ ist im Feld vorzufinden in der Broschüre des niederösterreichischen Festivals Kontraste, das im Herbst 2013 KünstlerInnen aus Ambient, Klangkunst und Noise im Inneren einer Kirche miteinander vereinte. Die so genannte Drone-Musik ist ein stilistisches Bindeglied zwischen den genannten Bereichen, das sich durch klangliche Monotonie (Drone meint in der wörtlichen Übersetzung: Orgelpunkt) und hierbei allenfalls subtile Variationen

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 123

auszeichnet8. – Im Folgenden beschreibe ich das Konzert der schwedisch-amerikanischen Komponistin Catherine Christer Hennix (kurz: CC Hennix) insbesondere in Hinblick auf seine materielle Konstituiertheit, die offenbar intentional eine spezifische Klangerfahrung etablieren soll – entlang der „Vertiefungsaufforderung“, sich „von subtilen Drones umspülen“ zu lassen. Die Notiz gibt in der Beschreibung einer fast sakralen Ausprägung der Raumorganisation exemplarisch Aufschluss über die arrangierende Feinarbeit in der Etablierung von Klangräumen, die mit dem Hören besonders „wirkungsintensiv“ interagieren. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Der Veranstaltungsort ist die Minoritenkirche in Krems, eine modern hergerichtete ehemalige Kirche, die, so vermutet man unweigerlich im Vorhinein, sicherlich einen idealen Klangkörper abgibt für „so ein Soundevent“. […] Im Faltblatt zur Veranstaltung werden wir als Publikum dazu aufgefordert, uns „von subtilen Drones umspülen“ zu lassen. Das Konzert findet nicht im eigentlichen Klangraum statt, sondern nebenan im gleichen Gebäude, in einem turnhallenartigen Raum, der früher vermutlich für Gemeindeveranstaltungen genutzt wurde. Zur Überraschung einiger KonzertbesucherInnen werden wir gebeten, vor Betreten des Konzertraumes unsere Schuhe auszuziehen. […] Hinter einem schwarzen Vorhang, wo das Konzertgeschehen stattfindet, hört man schon etwas nach draußen dröhnen, man kann aber noch nicht sagen, was das genau wohl ist. […] Der Raum ist an sämtlichen Seiten mit großen, schwer aussehenden schwarzen Tüchern bzw. Vorhängen behangen. […] Man hört eine sehr sauber, klar gespielte Drone, und zwar tatsächlich einen Orgelakkord. Weil ich kein absolutes Gehör habe, kann ich nicht sagen, um welchen Akkord es sich handelt, aber er tönt für mein Empfinden in seiner Klangfarbe sehr rein und angenehm, sauber und mächtig, würdevoll, scheint einem ehemals reli giösen Ort wie diesem adäquat: Er wirkt im vorgefundenen Kontext dementsprechend irgendwie bedächtig, salbungsvoll. Der Boden ist übersät mit angenehm großen, roten Sitzkissen, die wohl dazu einladen sollen, sich niederzulassen. An den rechten und linken Seiten des Raumes befinden sich der Länge nach zudem noch ein paar Sitzreihen. […] Mir fällt, als ich mich niedersetze, auf, dass ein eigenartiger Duft in der Luft liegt, und ich identifiziere dessen Quelle schnell links neben der Bühne, wo in einer Art Aufsteller mehrere Räucherstäbchen vor sich hin qualmen. […]

8

Die Grenzen zwischen den Genres Noise, Drone und Ambient sind im Allgemeinen ohnehin fließend, und es sind divergierende wie auch überschneidende Zuschreibungen möglich.

124 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Auf der rechten Seite der Bühne sitzen drei MusikerInnen, allesamt mit Blechblasin strumenten ausgestattet. Auf der linken Seite sitzt CC Hennix, nicht also im Zentrum der Bühne. […] Dort wiederum befindet sich nämlich ein Tisch, fast wie eine Art „moderner Altar“, auf dessen Frontseite sich zwei Projektionen wiederfinden, in technokratisch leuchtendes Blau getaucht, und sie erinnern trotz ihrer geschlossen kreisförmigen Form im inneren Aufbau dieser Form an die menschliche Wirbelsäule, scheinen sich des Weiteren leicht im Kreis zu bewegen, obgleich das vielleicht auch nur eine optische Täuschung ist. Das musikalische Geschehen bleibt zunächst überaus statisch. […] Mit der Zeit freilich kommt etwas Bewegung in das musikalische Geschehen, und CC Hennix beginnt schon nach relativ kurzer Zeit damit, ein paar Ragas zu singen, in einer Art, die etwas geradezu „Schamanisches“ an sich hat, etwas leicht „Abhebendes“, und dabei nebelt der Qualm der Räucherstäbchen bis in die hinteren Reihen.

Es kursiert hier eine klare Handlungs- bzw. Vertiefungsanweisung: „von subtilen Drones“ solle man sich „umspülen“ lassen, und in einer imperativen Einheit mit der Innenarchitektur sowie der Aufforderung, sich der Schuhe zu entledigen (eine Praktik, die bekannt ist vom Betreten sakraler Orte und privater Wohnräume und auch dadurch affektive Erwartungen und Stimmungen schürt), scheint diese Aufforderung für die KonzertbesucherInnen vorstellbar und praktikabel zu sein: Das Ausziehen der Schuhe, der Ritual suggerierende Qualm der Räucherstäbchen, die spezifischen Lichtverhältnisse sowie die durch räumliche Ordnung organisierten Sitzmöglichkeiten synthetisieren in einer praktischen Verzahnung mit dem Klanggeschehen einen spezifischen Raum, der Handlungs- und Verhaltensweisen nahelegt, die eng mit der expliziten Aufforderung, sich von den Klängen „umspülen“ zu lassen, korrespondiert. Löw (2001, S. 159) unterscheidet grundlegend zwischen zwei Prozessen der Raumkonstitution: Während spacing „das Errichten, Bauen oder Positionieren“ bezeichnet, ist des Weiteren eine Syntheseleistung zu thematisieren, „das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt“. Man kann sagen, dass im beschriebenen Fall eine regelrechte Vertiefungsanweisung nicht nur in der diskursiven Aufforderung, sondern in dem Arrangement insgesamt in sichtbarer, hörbarer und außerdem riechbarer Form kursiert. Die Beschreibung erinnert dementsprechend daran, dass in ethnografischen Beobachtungen „die Nutzung der kompletten Körpersensorik des Forschers“ gefragt ist, gleichsam „das Riechen, Sehen, Hören und Ertasten sozialer Praxis“ (Scheffer 2002, S. 353). Eine Ethnografie der Sinne, die sich primär mit auditiven Phänomenen auseinandersetzt, darf hier

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 125

nicht in einer insulären Konzentration auf den Hörsinn erstarren, sondern muss sich in einer grundlegenden Skepsis gegenüber einer Eigenmächtigkeit der klanglichen Dimension einer strukturell geradezu synästhetischen Erschließung zuwenden. Die strukturelle Analogie zur Synästhesie halte ich für angemessen, weil Sinneserfahrung hier in „verschmelzender“ Weise begriffen werden muss: In Erfahrungen diffundieren Eindrücke wirkmächtig ineinander, sie stehen nicht einfach nebeneinander. Nach dieser Einführung, die später noch in Hinblick auf klangräumliche Irritationen relevant werden soll, folgt nun eine Auseinandersetzung mit der impliziten Verlässlichkeit performativer Repertoires im Noise.

6.4 P ERFORMATIVE R EPERTOIRES 9 Verkörperungen kennen Routine. Das Message-Board von noiseguide.com beheimatet einen aufschlussreichen Diskussionsstrang 10, in dem AkteurInnen ein Sammelsurium von einschlägigen „Noise-Klischees“ zusammentragen, eine Kollektion von auffälligen Eigentümlichkeiten aus der Perspektive engagierter KünstlerInnen und Fans. Ausschnitthaft will ich nun einige besonders vielsagende „Klischees“ herausgreifen und anhand der verbal artikulierten, von praktischer Selbstverständlichkeit beseelten Benennungen relevanter Merkmale punktuelle Deutungen wagen. Ziel ist es, sich einem Selbstverständnis kursierender Erlebnismodi anzunähern und hierbei danach zu fragen, wie diese im Rahmen performativer Repertoires, die mit Klangerfahrungen verbunden sind, etabliert werden. In der Benennung und Aufzählung treten diese Repertoires ironisiert in Erscheinung. Solcherlei Zuspitzungen kommen einer ethnografisch informierten Analyse zupass, sind sie doch selbst Verdichtungen von Erfahrung, die mit der stummen Selbstverständlichkeit von sozialer Praxis brechen (erinnert sei an die Diskussion zur Soziologie des Humors im Methodenkapitel). Exemplarisch will ich aus dem Sammelsurium der benannten Klischees drei herausgreifen.11 9

Das Unterkapitel basiert zu Teilen auf Ginkel (2016) und Ginkel (2017).

10 Online: http://forum.noiseguide.com/viewtopic.php?t=11975, zugegriffen am 10.02. 2016. Siehe Internetquellen: Noiseguide (2012). 11 Die ausgewählten „Klischees“ betreffen im Übrigen zumindest tendenziell die Performance von KünstlerInnen, nicht die des Publikums (beide scheinen potenziell lediglich im Fall der „severe mental problems“ gemeint). Da die Grenzen zwischen diesen beiden Gruppen aber ohnehin diffus sind, wie ich später verdeutlichen will, soll dieser Umstand hier nur peripher interessieren.

126 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Zunächst will ich den Punkt „‚emotional‘ knob twisting/gear manipulation“ fokussieren: Er verweist auf spezifische Verkörperungen von Vertiefung, Engagement und Hingabe in der Bühnenperformance von Noise. Des Weiteren zeigt dieser Punkt eine symbiotisierende Theatralik hinsichtlich der Verbindung zwischen AkteurIn und Artefakt, eine enge Beziehung, die spezifische Modi von Affektivität begünstigt und mithervorbringt. An „‚emotional‘ knob twisting/gear manipulation“ gebunden sind z.B. verkrampft und entrückt wirkende Haltungen, die in theatralischer Manier das Erleben intensiver Spannungszustände suggerieren. Mit stoischem Halt am Drehknopf werden z.B. auch Häupter gesenkt, oder es wird das Gesicht zum ernst versonnenen bis latent grimmigen Pokerface modelliert. Die nachfolgende Feldnotiz von einem Noise-Konzert im Herbst 2013 beschreibt ein solches emotionales Knöpfchendrehen: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Der Künstler macht etwas, das mir während der Auftritte von Noise-KünstlerInnen immer wieder auffällt: Er dreht an Knöp fen, hält schon die Arme selbst in sichtbar unbequemen, leicht gebeugten, „lang gemachten“ Haltungen, und während er das tut, deutet er mit dem Oberkörper Zuckungen an, wirft den Kopf zuweilen andeutungsweise in den Nacken, scheint allge mein den Eindruck erwecken zu wollen, als würde ihm gerade ein dauerhafter elektri scher Schlag durch die Glieder fahren. Noise-MusikerInnen „machen das so“, und ich frage mich zuweilen, wer damit eigentlich ursprünglich begonnen hat, wie sich dieses Motiv entwickelt hat und inwiefern es zur Schlüssigkeit von Klangerfahrung einen performativen Beitrag leistet.

Die Beschreibung demonstriert, dass Gesten, Mimiken und deren implizite, kreativ offene Choreografien in beobachtbaren Kontexten in der Tat wiedererkannt werden können und regelrechte Repertoires körperlicher Aufführungspraxis bilden. Aus der Beobachtung spricht eine Sicherheit im Erkennen, die man als FeldteilnehmerIn erwirbt: Ich weiß, dass etwas „so“ gemacht wird. Schmidt und Volbers (2011) stellen fest, dass „[wahrnehmbare] Körperbewegungen und Objekte ein sinnhaftes Verhalten“ konstituieren, „das für die Teilnehmer von Praktiken unmittelbar verständlich ist“ (S. 25). Beziehungen zwischen Bewegungen und Objekten werden in einer untenstehenden Feldnotiz weiter in den Blick genommen und in den folgenden Unterkapiteln analytisch erschlossen. Die Nennung einer „tortured/angstsy stage presence“ als ein weiteres „NoiseKlischee“ erinnert an ein „Vorexerzieren“ von Regungen wie Qual und Angst, vielleicht im Sinn einer psychologisch konnotierten Empfindung, die so etwas

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 127

wie eine Lebensangst, eine allumfassende Verunsicherung darstellt. Emotionale Wirkungen der Klangdarbietungen werden von den KünstlerInnen insofern gekonnt evoziert und – abermals mit bemerkenswerter Theatralik – dem Publikum vorgelebt. Dessen Rolle ist es, Schlüssigkeit zwischen Klangerfahrung und Verkörperungen herzustellen, nicht zuletzt durch eigenen körperlichen Einsatz (wie ich im nachfolgenden Kapitel zu Modi der Einstimmung explizieren will). Das benannte Klischee der „severe mental problems“ nun ist ein allgemeinerer Hinweis, der gleichermaßen ironisch gebrochen scheint, wie er zweifellos ein naheliegendes Bild – ein wirksames „Image“ – referenziert: Es erinnert an das „chaotische“ Innenleben, das von der Musikerin Christina Amelia, zitiert im Kapitel zu Hörkompetenz und Distinktion, beschrieben wird. Um noch einmal zusammenzufassen: Betont und beschrieben werden hier intensive Empfindungen, und damit einher geht ein „Sprengen“ traditioneller Strukturen im künstlerischen Ausdruck. Das „‚emotional‘ knob twisting“, die „tortured/angstsy stage presence“ und die „chaotischen inneren Zustände“ sind in der folgenden Feldnotiz allesamt präsent: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2014: Der Künstler (etwa 30, schlank, T-Shirt und Jeanshose, mittellanges Haar, Brille) kommt auf die Bühne und hat eine Bild-Zeitung dabei. Die spannt er in eine alte Schreibmaschine ein, und er sagt dazu etwas Kantiges auf Deutsch, das er – so vermute ich jedenfalls – einer Überschrift aus eben jenem Zeitungsexemplar entnimmt. Der genaue Wortlaut verschwimmt im überzogenen Vortragsstil, aber ohnehin scheint es in erster Linie darauf anzukommen, wie die Wortfetzen zackig „herausgepresst“ werden, nämlich mit einer übertriebenen Penetranz, die an nervöses Zucken und affektives Überkochen erinnert. Die Performance wirkt im theatralischen Sinn gekünstelt. Ein lustiger Auftritt? Irgendwie schon und irgendwie nicht. Wie der Künstler die Sounds generiert, die nun erklingen, ist mir schleierhaft: An die Schreibmaschine sind allerlei Verkabelungen und analoge Apparaturen angeschlossen. Die hervorgebrachten Sounds tönen trocken, garstig, unmusikalisch, erinnern an pures Störgeräusch und „Glitches“, mit Leben erfüllt durch die Einbindung in die Performance. Im Folgenden schnallt sich der Künstler diverse Gerät schaften an den Leib und generiert nun Sounds, indem er sich „roboterhaft“ und krampfartig verrenkt, zum Teil ganz so, als ob er von unwillkürlichen Spasmen geschüttelt würde.

Es ist hier eine performative Theatralik offenkundig, die eine enge Verbindung zwischen Künstler und Artefakt andeutet. Dabei spielt die Aufführung von Span-

128 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

nungszuständen eine Rolle. Zutage tritt hier scheinbar eine Interaktion zwischen Mensch und Material als „Partnerschaft“ (vgl. Rammert 2007, S. 179): Eindrücke werden hervorgebracht, in denen die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt offenbar zurückgenommen werden (vgl. ebd., S. 70). Dieser Assoziation will ich mich später im Kontext der soziomateriellen „companionships“ annehmen. Analog der orchestrierten Verwendung von Glitches und Störgeräuschen als kunstvoll ausgestaltete Anspielungen auf das mindestens temporäre Versagen von Technik, wird in der beschriebenen Szene nun auch der Körper augenscheinlich regelrecht vereinnahmt: Der Künstler scheint in seiner Performance als ein bedingt oder kurzzeitig Besessener aufzutreten, scheint als ausgeliefertes performatives „Sprachrohr“ der Störung oder eben „chaotischer innerer Zustände“ zu fungieren. Die analytische Perspektive freilich sollte sich an diesem Punkt der performativen Etablierung dessen zuwenden, was situativ zunächst wie Folge und Ergebnis der klanglichen Darbietung erscheinen mag: Körper zeigen an, wozu die Musik augenscheinlich geradezu zwingt oder jedenfalls verleitet. De facto bedarf es Einstimmungen, die auch durch ein Publikum im Sinn einer „körper lich-taktilen Symmetrisierung“ (Meyer/von Wedelstaedt 2015, S. 109) mitgestiftet werden. Als „complete member“ war es im Forschungsprozess notwendig, an genau diesem Punkt für Befremdung durch Beobachtung einer Konzertszene zu sorgen, die Noise gegenüber als minimaler Vergleich fungierte. Ziel war es dabei, durch episodische Beobachtung eines mir tendenziell weniger nahestehenden Feldes (nämlich Death Metal) mein eigenes Noise-Erleben analytisch zu irritieren. Zugleich zeigt sich hier die analytische Reichweite der Beobachtungen: Was für Noise gilt, ist in Grundzügen auch für sonstiges Klang- und Musikerleben anzudenken. Die nachfolgende Darstellung ist insofern nicht nur als eine Kontrastfolie gegenüber der „Noise-Erfahrung“ zu begreifen, sondern vielmehr als eine komparativ operierende Vertiefung zentraler Aspekte der praktischen Hervorbringung von Hörerfahrungen: Geschärft werden soll durch sie der Blick auf kollektive Beteiligungen in der sozialen Herstellung von Erfahrung und Sinn über Ex-post-Diskursivierungen hinaus und in einer Fokussierung auf körperliches Zeigen und Sichtbarmachen in Hinblick auf Bewegung (und dabei potenziell auch Erstarrung), Gestik und Mimik.

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 129

6.5 K OLLEKTIV- KÖRPERLICHE E INSTIMMUNG Im Vorangegangenen wurden für die Geräuschmusik legitime Modi von Bewegung und Gestik beschrieben: etwa zunächst als ein hingebungsvolles Aufnehmen („sich umspülen lassen“) oder später als ein „Ausrasten“, das chaotische „innere Zustände“ suggeriert bzw. plausibel macht. Ausdrücklich betrachte ich sämtliche dieser Modi als gelungene Arten einer klanglich-körperlichen „Kooperation“, die in actu Klangerfahrungen etabliert, die als passend und stimmig erlebt werden. Gewählt wird nun zur Kontrastierung gegenüber Noise – und somit zur analytischen Sensibilisierung – eine Beschreibung aus dem Musikbereich Death Metal, in dem tendenziell stark kanonisierte Verkörperungen von Klang (man denke an das allseits bekannte „Headbanging“) zu den Kernpraktiken des Feldes gehören und in ihrer Sichtbarkeit somit für deren Identifikation in anderen Feldern vorbereiten können. Die nachfolgende Episode beschreibt ein Konzert der britischen Band Bolt Thrower in der Wiener Konzerthalle Arena, Fassungsvermögen circa 400 Personen. Die Beschreibung demonstriert kollektiv – d.h. unter aktiver Beteiligung des Publikums – ausgestaltete Bewegungen und Gesten im praktischen Zusammenspiel mit dem musikalischen Grundgeschehen und der Raumkonstitution. Erinnert sei hierbei an die geteilte Herstellung von Musikalität im obigen Beispiel der videografischen Beschreibung zur Band Sunn O))) (6.2. „The feel and the surroundings“: Körper in Räumen). Auszug aus den Feldnotizen, September 2014: Von weißem Licht wird die Band an gestrahlt, als würden sich ihre dunklen Silhouetten aus einem dichten Nebel schälen. Die Musik beginnt mit einem Anklingen eines markanten „Riffs“, das von zwei elektrischen Gitarren und einem E-Bass hervorgebracht, noch nicht aber vom Schlagzeug mitgetragen wird. Das Erwarten der ersten Schläge verleiht der Szene einen zeremonienhaften Charakter: Man weiß, dass gleich ein sehnsüchtig erwartetes akustisches Un heil über die Zuschauer hereinbrechen wird, und man wartet in antizipierender Anspannung. Als das Schlagzeug schließlich einsetzt, wird im zackig phrasierten Takt der noch vereinzelten, dafür umso bestimmteren Schläge das Publikum vom Bühnenlicht angestrahlt. Die Zuschauer wissen prompt, wie mit dieser Situation zu verfahren ist, und die Erwartungshaltung entlädt sich partiell und vorübergehend in einem rhythmischen Chor, der – immer im Takt – ein lautes „HEY!“ skandiert. Dazu werden Fäuste gereckt, die im richtigen Moment unisono „in die Luft schlagen“. Besonders stark konzentriert sich das Geschehen in den vorderen Reihen des Publikums, dahinter dünnt es ein wenig aus. Mir scheint, als würde das Zusammenspiel zwischen Band und Publikum eine besondere performative Verbindung schaffen und diese zugleich in

130 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

actu demonstrieren. Die MusikerInnen (vier Männer, eine Frau) sind allesamt in dunkle Kleidung gewandet. Sie stehen da in einer aufrechten, nicht übertriebenen Breitbeinigkeit, von der man glauben kann, dass ihr ein gewisser Stolz eingeschrieben ist. Die Schläge des Drummers werden nun in ihrer Rhythmik komplexer und ausgeschmückter, verlieren dadurch ihren „ankündigenden“ Charakter, der dem phrasierten Klopfen zuvor entsprach. Das scheint ein Signal zu sein, das recht unmissverständlich zeigt: Das „Intro“ ist vorbei, das eigentliche Stück beginnt und nimmt Fahrt auf. Entsprechend wird auch das Licht diffuser, wird in seiner Dynamik von dramatischen, kaum vorhersehbaren und doch als stimmig erlebbaren Wechseln dominiert. Die MusikerInnen, allesamt mit vollem, äußerst lang gewachsenem Haar gesegnet, gehen nun in kurzen, abgehackt wirkenden Episoden zum „Headbanging“ über, bei dem der Kopf im Takt der Musik zügig vor- und rückwärts, im hier beobachteten Fall auch im Kreis bewegt wird. In der Dramaturgie der Geschehnisse wirkt das, als ob die schein bar äußerst mitreißende, Bewegungsdrang initiierende Qualität der Musik durch ihre MacherInnen nur ertragen werden könne, indem ein solches ruckartiges „Ausagieren“ der scheinbar aufgestauten Anspannung stattfindet. Für das Publikum, so scheint es mir jedenfalls, hat dieses episodische „Headbanging“ Signalcharakter und regt dazu an, sich weiter „entladenden“ Gesten wie dem Schlagen mit der Faust in die Luft hinzugeben. In der ersten Reihe ist ein Mann um die 40 sichtbar, für den das Geschehen offenbar besonders mitreißend ist: Er versetzt der Luft über ihm regelmäßige Schläge. Das Schlagen scheint beseelt von einer nahezu ekstatischen Aggression, von einem verbissenen Krampf, der auszudrücken scheint: Was sich hier abspielt, ist kaum auszuhalten, und deshalb ist es gut.

Dem unbedarften Betrachter muss es erscheinen, als ob die Musik über die aufnehmenden Leiber eine unwiderstehlich erfassende, unsichtbare Energie niederregnete. Dabei wird, so muss man folgern, die mitreißende Qualität der Musik überhaupt erst durch das Zeigen von Anspannung und Ergriffenheit, durch das nur scheinbare „Ausagieren“ in den Gesten und Bewegungen der ZuschauerInnen kollektiv mithergestellt: Offenbar rekurriert man in der Konzertsituation auf ein Körperwissen, das ein flexibles wie zugleich auch bestimmtes Repertoire an Techniken und Bewegungen zur Verfügung stellt, die eine Hervorbringung der Musik als mitreißend, vereinnahmend und elektrisierend gewährleisten. Eine vermittelnde Rolle spielt dabei das leibliche Spüren der Bassfrequenzen. Viele Bewegungen dieser Art – ob es sich nun um das kurze, aber heftige „Headbanging“ oder um den zielgenauen Schlag ins Leere handelt – verbindet das Ruckartige, das stets die Abwesenheit bewusster Kontrolle und das Ausgeliefertsein suggeriert. In den ersten Augenblicken des Konzerts muss dabei von ei-

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 131

nem gemeinsamen Sich-Einstimmen ausgegangen werden. Meyer und von Wedelstaedt (2015) argumentieren in Hinblick auf strukturell anschlussfähige Beobachtungen aus dem Boxsport: „Sprachlich-kinästhetische Synchronisation und körperlich-taktile Symmetrisierung zwischen Boxer und Trainer finden in der Vorbereitungsphase ihren Höhepunkt im so genannten ‚Einschlagen‘ […], bei dem sich Boxer und Trainer komplementär positionieren. Dabei schlägt der Boxer in die ‚Pratzen‘ (offene Handschuhe, die eine Schlagfläche bieten) des Trainers. Der Trainer simuliert hierbei zum Teil den späteren Gegner, indem er etwa bestimmte Ausweichmanöver vollführt oder auch ‚zurückschlägt‘ (dann aber verhältnismäßig leicht), bis die Einnahme der Boxstellung provoziert ist. [...] Eine weitere Möglichkeit, die der Trainer hier anwendet, ist, den Boxer ‚ins Leere‘ schlagen zu lassen, wenn er einen Schlagrhythmus nicht wie gewünscht umsetzt […]“ (S. 109f.).

Die dargestellte Konzertbeobachtung folgt einer ganz ähnlichen Praxis der Einstimmung. Auffällig ist dabei der Schlag „ins Leere“, den die KonzertbesucherInnen ebenso exerzieren wie der Boxer, wenngleich in jeweils vollkommen unterschiedlichen Ausprägungen. Beiden Kontexten zentral ist also – Zufall oder nicht – die geballte Faust. Folgt man Geertz (1973b), ist Grundvoraussetzung für das Verständnis der performativen Spezifika, wie sie hier anzutreffen sind, der analytisch anleitende Grundgedanke: „[Art] forms generate and regenerate the very subjectivity they pretend only to display“ (S. 451).

Vor diesem Hintergrund ist unbedingt die einen krampfartigen Bewegungsdrang suggerierende Verkörperung von Klang sowohl auf Publikumsseite im Death Metal als auch auf Künstlerseite in der zuletzt zitierten Feldnotiz aus dem NoiseSpektrum zu betrachten: Der Eindruck, dass Klang TeilnehmerInnen in beiden Fällen geradezu „befällt“, ist der spezifischen Theatralik oder „Orchestriertheit“ der jeweiligen Performances zu schulden, die im Noise etwa der Erklärungslogik chaotischer „innerer Zustände“ folgen mag und dabei blind macht für die konstituierende Rolle dessen, was nicht bloßer Ausdruck eines Mitgerissenwerdens ist, sondern die mitreißende Erfahrung in enger Verschränkung mit der Klangdarbietung situativ mithervorbringt. In jener zuletzt beschriebenen Noise-Situation (Stichwort: Bild-Zeitung) wird weniger stark als bei Bolt Thrower mit einem offenkundigen Lichtspiel oder mit einem direkten Austausch, einem „Hin und Her“ zwischen Künstler und Publi-

132 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

kum, gearbeitet. Umso stärker mag hierdurch der Eindruck eines genuinen Erfasstwerdens „durch den Klang“ entstehen, ein regelrechtes Vereinnahmtwerden durch eine diffus erscheinende „Kraft“, die sich des Körpers des Künstlers in seiner „tortured stage presence“ regelrecht zu bemächtigen scheint. Thematisiert werden soll im Folgenden – daran anknüpfend – die Frage nach einer körperlich und – darüber hinaus – allgemein soziomateriell konstituierten Herstellung eines „Mitgerissenwerdens“ im Noise. Hierbei soll an Noise-spezifische Modi eines – gegenüber Death Metal – subtilen Austauschs zwischen Künstlern und Publikum (keine Schlagzeugschläge, die mit einem lauten „HEY!“ erwidert werden usw.) in einer weiteren Kontrastierung herangeführt werden, um schlussendlich eine dezidiert soziomaterielle Dimension praktisch-situativer „companionships“ zu argumentieren.

6.6 E XKURS : „R ÜCKFÜHRUNG “

UND

A USKLINGEN

Zuvor sei exkursartig darauf hingewiesen, dass ein Einstimmen, wie ich es meine, nicht zwangsläufig zu Beginn eines Konzerts stattfinden muss, sondern potenziell auch am Ende eines Auftritts – etwa mit interaktiver Herstellung und Plausibilisierung der Erfahrung im Zwiegespräch, wie die folgende Beschreibung demonstriert. Das Szenario ist eine kurze Pause nach dem gemeinsamen Konzert mit meinem Mitmusiker Stephan im März 2014. Ein Besucher spricht mich an – er ist etwa 45 Jahre alt, macht einen gebildeten, freundlichen Eindruck auf mich und stellt mir mehrere Fragen, währenddessen er mir Eindrücke schildert. Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Der Konzertbesucher kommt auf eine zurückhaltende Weise auf mich zu: „Darf ich Sie ansprechen? Do you speak English?“ Darf er natürlich: Ich wende mich ihm zu und bin gespannt. Er meint, das sei nun erst das zweite Konzert dieser Art, das er besuche – das sei alles immer noch ungewöhn lich für ihn, und er wolle mir seine Empfindungen während der Performance schildern. Sein ungefährer Wortlaut: „For the first couple of minutes I felt a strong headache coming up, I felt very tense. But after some time it changed and I was becoming more and more relaxed. I was closing my eyes and I could see colours and patterns, as if I was dreaming or even hallucinating“. Ein netter, freundlicher Moment – ich bedanke mich für die Schilderung. Es folgt ein weiterer Austausch. Der Konzertbesucher setzt an: „At the end there were outside sounds of animals and children...“ – „The field recording, yes.“ – „I wanted to ask, why did you end it this way, was there a spe-

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 133

cific idea behind that?“ – Kurz muss ich überlegen, sage dann: „I can only speak for myself, and for me personally, it is a way to get back on the ground after all these ab stract and artificial sounds that came before. It probably makes you calm down a little and enables you get back into the here and now“. Mein Gegenüber ist begeistert, das scheint mit seiner eigenen Erfahrung der Situation durchaus übereinzustimmen, denn er lächelt und sagt ganz unmittelbar zu mir: „Exactly!“

Auffällig ist an der Notiz, dass es dem Zuschauer möglich scheint, die Klangerfahrung nach und nach als eine positive, angenehme wahrzunehmen, nachdem er das Geschehen zuvor als schmerzhaft erlebt hatte. Diskursiv wird eine Außeralltäglichkeit der Klangerfahrung festgestellt. Die erlebbare Trennung zwischen Alltagsempfinden und der hier Noise-spezifischen Erfahrung wird im Gespräch dadurch (mit-) etabliert und bestärkt, dass man einander Einigkeit darüber versichert, dass ein Einblenden von field recordings, also weithin unbearbeiteten Außenaufnahmen, zum Ende der Performance einer Art „Rückführung“ in das alltägliche Hier und Jetzt begünstigt. Vergleichbare Modi der Ein- und Rückführung sind aus der Hypnose bekannt, und auch dort inkludiert das Spektrum körperliche Aktivitäten, die Vertiefung plausibilisieren, etwa durch das Schließen der Augen. Hypnotherapeutische Verfahren aus dem Umfeld des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) kennen beispielsweise den Countdown von zehn bis eins, der die ProbandInnen bei Veränderung der Stimmfrequenz – von tief und brummend zu einem helleren, alltagsnäheren Tonfall – wieder in das „Hier und Jetzt“ zurückholt und ihnen wirkungsvoll ein Aufwachen ankündigt, ganz gleich, ob zuvor eine „echte“ Trance stattgefunden hat oder nicht. Die zugrundeliegende Logik scheint: Wer aufwacht, der hat geschlafen – das Jetzt strukturiert das Davor. Im zitierten Beispiel betont die „Natürlichkeit“ der Feldaufnahmen im Übrigen kontrastierend die Artifizialität der vorherigen Noise-Klänge: Das Künstliche, das Nichtalltägliche der Erfahrung wird auch hier mithergestellt durch den Kontrast (siehe 6.2. „The feel and the surroundings“: Körper in Räumen). Das „Normale“, Gewöhnliche der weithin unbearbeiteten Umgebungsgeräuschkulisse plausibilisiert kontrastierend eine vorherige Erfahrung Trance-ähnlicher Zustände und dezidiert „ungewöhnlicher“, somit Außeralltäglichkeit implizierender Klänge. (Das Davor von Konzerten wird später im Exkurs zu den Orten und Wegen behandelt.)

134 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

6.7 S OZIOMATERIELLE „ COMPANIONSHIPS “ Zu lösen ist die Auseinandersetzung, wie schon die vorangegangenen Unterkapitel zeigen, von einer Betrachtung, die KünstlerInnen und Publikum als voneinander getrennte Entitäten begreift: Man steht oder sitzt einander zwar zumeist buchstäblich gegenüber, und diesem Aspekt ist analytisch unbedingt Aufmerksamkeit zu schenken (der Irritation des Bühnenterritoriums etwa widmet sich ein Teil des siebten Kapitels). Zugleich aber ist eben die Ansicht abzulehnen, die die eine Seite als tendenziell aktiv, die andere Seite als tendenziell passiv auffasst. Die folgende Beschreibung rekonstruiert in einer weiteren gezielten Befremdung gegenüber meiner ethnografischen Noise-Erfahrung die Beobachtung von Sieidi, einem „Konzert für Schlagzeug und Orchester“ des Komponisten Kalevi Aho, gemeinsam dargeboten von den Wiener Symphonikern mit dem Multiperkussionisten Martin Grubinger im Wiener Konzerthaus. Die Episode zeigt, wie implizite Imperative zur Körperbewegung auf der Bühne zwischen zwei Protagonisten – dem Dirigenten und dem Schlagzeuger – zirkulieren und dabei auch die Publikumsseite „befallen“. Der stehende Dirigent und der sitzende Schlagzeuger befinden sich im vorderen Zentrum der Bühne einander gegenüber. Der eine blickt zum anderen auf und wartet – sichtlich angespannt – auf den nahenden Einsatz inmitten einer musikalischen Dramaturgie, die durch den Einsatz des gesamten Orchesters bewerkstelligt wird, in den die Percussion-Einlagen wieder und wieder punktgenau „hereinzubrechen“ scheinen: Auszug aus den Feldnotizen, Juni 2015: Die Anspannung zwischen dem Dirigenten und dem Perkussionisten zeigt sich in einem intensiven Blickkontakt, der auf der Seite des Schlagzeugers an das absichtsvolle Lauern eines Raubtieres erinnert, das den Bruchteil eines Moments abpassen muss, in dem es ihm möglich ist, in einer Art zuzuschlagen, die der Beute nicht den Hauch einer Chance dazu lässt, zu flüchten oder gar zurückzuschlagen. Das ist viel mehr als ein bloßes Starren, eher eine fixierende Hingabe, eine gleichermaßen aktive wie auch eigenartig passive Verstrickung in die Orchestrierung einer antizipierenden Anspannung. Zugleich befindet sich der lauernde Perkussionist in diesem Konzertgeschehen durchaus in der Rolle des Befehlsempfängers. In ihrer gegenseitigen Fixiertheit konstituieren die beiden Männer eine zeitlich vage und doch von sichtbarer Strenge getragene Situation. Durch eine kleine Geste, die einem subtilen, ruckartigen Zucken von erhobener Hand und schräg nach unten gerichtetem Haupt entspricht, folgt die nicht weniger ruckartige musikalische „Entladung“ durch den Perkussionisten: Seine durchgedrückt flachen Hände hämmern und traktieren in offenbar gekonnter Phrasierung das Fell, das sich – in einer materiellen

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 135

Solidarität mit dem Musiker, wie man meinen könnte – ebenfalls in einem hörbar angespannten Zustand befindet. Das Spiel wirkt schnell und wild, zugleich jedoch bis aufs Äußerste kontrolliert und in der professionellen Akribie des ausgewiesenen „Könners“ einstudiert.12

Meyer und von Wedelstaedt (2015, S. 100) argumentieren in Anlehnung an Merleau-Ponty und Gilbert eine „primordiale menschliche Fähigkeit zur Konstitution von Wir-Subjekten“.13 Für die komplementäre Vergemeinschaftung im Boxen beschreiben die Autoren ein „Mitkämpfen“ des Trainers, der während des eigentlichen Kampfes außerhalb des Rings charakteristische Bewegungen wie das „Tauchen“ mimetisch mitexerziert (vgl. ebd., S. 110ff.). Im Mindesten kann man für das dargestellte Beobachtungsprotokoll eine vergleichbare Beziehung zwischen dem Dirigenten und dem Perkussionisten in Form des sichtbaren „Lauerns“ unterstellen, des Teilens einer antizipierenden Anspannung, die nicht nur den passgenauen zeitlichen Einsatz mitkonstituiert, sondern auch der Energiegeladenheit der herausbrechenden Lösung sicherlich zuträglich ist. Darüber hinaus zeigt das Protokoll, inwiefern zudem der Körper des Forschers keineswegs voll und ganz von beobachtender Passivität eingenommen ist, sondern vielmehr von den „Anspannungsimperativen“ in einem Ausmaß befallen wird, das die Gespanntheit selbst nach außen hin sichtbar macht. Die Episode gibt daher kleinteiligen Aufschluss über ein subtiles Kursieren von Bewegungs- und Anspannungsimpulsen zwischen Musikern und Publikum. Fortsetzung der oben zitierten Feldnotizen, Juni 2015: Die harten Schläge auf das Fell erscheinen wie die auditive Simultanübersetzung dieser spannungsreichen Entladung, die in Echtzeit zum einen etwas Rabiates, von Energie Durchdrungenes „verkörpert“, zum anderen aber auch etwas zutiefst Virtuoses, das viel zu schnellen, viel zu komplizierten Abfolgen gehorcht, um situativ das Resultat einer bewussten Reflexion zu sein: Vielmehr muss man eine tiefe, sich auf Abruf präzise verselbstständigende

12 Ohnehin wirkt die Performance des Perkussionisten vollkommen professionell in ihrer Theatralik. Das tut dem Wert der Beobachtung für meine Zwecke allerdings keinen Abbruch: Wenn etwas mit bewusster, gekonnter Übertreibung aufgeführt wird, verliert es durch diese Teilintentionalität nicht an performativer Schlüssigkeit. 13 Ob man nun die Auffassung teilt, dass eine bestimmte Fähigkeit „primordial“ ist oder nicht (persönlich bin ich skeptisch), ist an dieser Stelle für meine Argumentation nicht weiter wichtig: Entscheidend ist für meine Argumentation allein der Bezug auf die Konstituierung von „Wir-Subjekten“.

136 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Einschreibung in den Körper des Perkussionisten unterstellen. Als Beobachter befällt meinen eigenen Körper beim Zusehen wiederum ein Modus aufgerichteter Anspannung, ich fühle mich in einen regelrechten „Zustand“ versetzt, der an die halb genussvolle, halb quälende Erwartung der Schrecksekunde beim Action- oder Horrorfilm erinnert, die in ihrer sich sukzessiv verdichtenden Qualität ein aufgebäumtes Klammern an die Armlehnen des Kinosessels bewirkt, bis endlich der Schreck den befreienden Ruck evoziert. Die Darbietung wirkt kräftezehrend, der Musiker ist nach mehreren Einsätzen dieser Art getränkt im eigenen Schweiß. Bemerkenswert ist, dass jeder explosionsartige Einsatz seiner Trommelfertigkeiten ein sichtbares Nachwirken der Bewegungsintensität nach sich zieht, zu beobachten am fortgesetzten Bewegungsdrang, der sich nicht in ei nem laxen Ausschwingen der Arme äußert, sondern in einem erst allmählich abebben den „Ausagieren“ von Gesten, die sich noch sichtbar an das Schlagen und das kontrolliert krampfartige Funktionieren anlehnen, teils ruckartig ausgebremst, als würden sie noch immer auf ein Instrument einschlagen. Begleitet werden diese Bewegungen, die Arme und Brustmuskulatur vereinnahmen, zuweilen von einem Nicken, von dem qua Beobachtung nicht zu sagen ist, ob es sich um eine siegessichere Geste („Geschafft!“) oder um eine Ausweitung des Ausagierens handelt.

Unterstellt werden müssen auch für Noise vergleichbare „Anspannungsimperative“, die zwischen KünstlerInnen und Publikum in enger Verschränkung mit der auditiven Dimension zirkulieren und das Geräusch als aufregendes, mitreißendes Erlebnis mitgestalten. Einen Anhaltspunkt zu einer diesbezüglich erschöpfenden Analyse liefert die Rolle, die die Trommel als nichtmenschlicher Akteur im soeben geschilderten Geschehen als Dreh- und Angelpunkt der ruckartigen „Entladung“ von Anspannung auf der Künstlerseite einnimmt: Sie sensibilisiert für einen dezidiert soziomateriellen Blickwinkel, der gerade in Hinblick auf die Noise-Episode aus dem Abschnitt zu den performativen Repertoires angebracht scheint, in der es hieß: „Im Folgenden schnallt sich der Künstler diverse Gerätschaften an den Leib und generiert nun Sounds, indem er sich ‚roboterhaft‘ und geradezu krampfartig verrenkt, zum Teil ganz so, als ob er von unwillkürlichen Spasmen geschüttelt würde“. Wacquant (2005) äußert ein körpersoziologisch argumentiertes Primärinteresse an soziokulturellen Kompetenzen „residing in prediscursive capacities that [illuminate] the embodied foundations of all practice“ (S. 446). Habitus interessiert hier in Bezug auf seine sinnlichen, moralischen und ästhetischen Facetten (ebd.). Für das boxerische Trainingsprogramm, das nicht nur in körperlicher Kopräsenz stattfindet, sondern sogar beständigen Körperkontakt erfordert, argumen-

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 137

tiert Wacquant eine fleshly companionship, eine carnal connection, die zum Verständnis soziomaterieller Verschränkungen an dieser Stelle einen zuspitzenden Beitrag leisten soll: So erwähnt der Autor, dass schon Durkheim in den Elementaren Formen des religiösen Lebens ein „suffering in unison as the basis of membership“ beschreibe (ebd., S. 450). Anschlussfähig erscheint mir das Phänomen an die Kernkompetenz des Ertragens in Hinblick auf Noise: „being willing to be annoyed“. Zur Einführung in Noise als Gegenstandsbereich meiner Studie zeigte ich selbst auf Fachtagungen mehrfach den Ausschnitt eines Videos, in dem die amerikanische Noise-Musikerin Donna Parker sich bei ihrem geräuschintensiven Spiel einer jungen Frau im Publikum gegenüber sieht, die dem Geschehen aufmerksam zugewandt ist und sich trotzdem zugleich beide Ohren zuhält. Sobald dieser Umstand vom Fachpublikum erkannt wurde, sorgte diese Videosequenz stets für Heiterkeit, und in der Tat lässt sich für die ausschnitthaft dargebotene Szene ein gemeinsames, vielleicht gar gemeinschaftliches Erleiden – nämlich das schmerzhafter Frequenzen – argumentieren, das nicht etwa entzweit, sondern vielmehr verbindet. Offenbar wird dieses Verbinden in einem Ausbleiben von Abkehr: Die Szene schließlich sorgt für Heiterkeit, da sich die Besucherin nicht abwendet. (Erinnert sei in diesem Kontext ganz explizit an das Kapitel zu Hörkompetenz und Distinktion.) Daran anknüpfend lässt sich nun schlussfolgern: Noise hält TeilnehmerInnen mitunter an, Schmerz zu erdulden und stiftet im gemeinsamen, durchaus bereitwilligen Erleiden Verbindung. Die spezifische Form dieser darf sich nicht mit einer bloßen Konzentration auf die Beteiligung menschlicher AkteurInnen bescheiden: Zu leicht verleitet der Begriff der „WirSubjekte“ (siehe oben) oder Wacquants Begriffswahl „carnal“ zur Vernachlässigung der entscheidenden Beteiligung technischer Artefakte, die man nicht einfach „bedient“, sondern mit denen ebenfalls Konstellationen eingegangen werden, wie sich an der Beschreibung der oben erwähnten Videosequenz zeigen lässt: Auszug aus den Feldnotizen, August 2015: Der Equipmentturm, den die Künstlerin bedient, ist schätzungsweise 90 Zentimeter bis einen Meter groß – hoch genug jeden falls, dass sich die Künstlerin mit ihrem Oberkörper über diesen Turm lehnen kann. Das macht sie in einer Art, die in der Haltung eine geradezu passive, tendenziell vielleicht sogar leidvolle Hingabe suggeriert: Ihr Körper, so muss man mit einer gewissen Drastik sagen, scheint über dem technischen Gerät schlaff und in demonstrativer Auslieferung zu hängen. Ihr Haupt hat sie den Bedienelementen, die sich nun gleichsam „unter ihr“ befinden, zugewandt, so dass sie nicht in Richtung Publikum blickt, son-

138 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

dern durch diese Haltung eine konzentrierte Versenkung in das Artefakt demonstriert. Das hat etwas von einem Ausblenden der Außenwelt, von einer zumindest annäherungsweisen Verschmelzung mit dem „Ding“, dessen Eigenschaften und Spezifika nun, so muss es scheinen, im flächigen Körperkontakt besonders stark, besonders nah und somit womöglich besonders zuverlässig erspürt werden können. Von der Künstlerin gehen keine ruckartigen Bewegungen aus, wie sie im Kontext von Noise-Performances durchaus üblich und legitim sind. Vielmehr suggeriert ihr leibliches Liegen eine Hybridität generierende Verschränkung mit dem Instrument: Ihr etwa schulterlanges Haar hängt der Künstlerin vorn über ihr Gesicht, während die Frequenzen, die zu vernehmen sind, einen durchweg schneidenden, zuweilen flirrenden Charakter annehmen, der bei aller gegebenen Variation immer einem stechenden Grundzug verhaftet bleibt. Im Hintergrund sieht man eine Schwade aus Zigarettenrauch aufsteigen.

In einer Verbindung von Bühne und Publikum versammelt sich in der obigen Beschreibung eine „fortgeschrittene“ Leidensgemeinschaft, die gestisch und mimisch konzentrierte Aufmerksamkeit suggeriert und die, so scheint es, aufnimmt und über sich ergehen lässt. Die Darstellung weckt Assoziationen zu John Laws Auseinandersetzung mit den religiösen Praktiken der „Quäker“: „[The Quakers] govern themselves – or, more properly, they allow the Holy Spirit to govern them“ (Law 2004, S. 114). Wie Law argumentiert, ist für das angestrebte Präsenzerleben ein zumindest annäherungsweises Etablieren von Stille vonnöten, das jene tendenzielle Freiheit von Gedanken bewerkstelligt, die die Grundlage für eben jene meditative Vertiefung bildet, die im Sinn eines Über-sich-kommenLassens des Heiligen Geistes angestrebt wird (vgl. ebd., S. 114f.). Den Quäkern obliegt es also als Gruppe, für ein Arrangement zu sorgen, dessen Grundlage nicht zuletzt eine klangliche Ordnung des Geschehens ist. Auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums steht Noise, wo Erfahrungsqualitäten ebenfalls klang-raum-körperlich und soziomateriell geleistet werden. Im Vorangegangenen hatte ich im Kapitel zur Methode argumentiert, dass Noise keine ganz und gar expliziten Glaubensbekenntnisse kennt, wie sie beispielsweise in religiösen Feldern eingefordert werden. In den soziomateriellen „companionships“ begegnen wir in Hinblick auf Noise nicht dem expliziten Bekenntnis, sondern der performativen Darstellung eines „Glaubens“ an die effektive Kraft der Geräuschproduktionen. Die Verschränkung von Körper und Artefakt wird on site nicht diskursiv, sondern in der suggestiv wirkmächtigen Nichtsprachlichkeit des praktischen Vollzugs etabliert und in der konsequenten Fortdauer des Geschehens für ein Publikum performativ plausibilisiert. Wichtig erscheinen die technischen Geräte für

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 139

die theatralische Orchestrierung des performativen Repertoires, wo sie als Ursprung und Quelle von z.B. höchster Anspannung, von Bewegungsdrang (siehe die „Bild-Zeitungs-Feldnotiz“) oder auch hingebungsvoller Vertiefung oder konzentrierter Selbstkontrolle inszeniert werden: durchaus im Sinn der Verschränkung von menschlicher und nichtmenschlicher agency. Auffällig ist dabei die ganz buchstäbliche Nähe, die zwischen Artefakt und Körper mitunter hergestellt wird. Mit Hilfe gestischer und mimischer Repertoires wird diese mitunter entscheidend zugespitzt. So zeigt ein weiteres Beispiel, in welcher spezifischen Verschränkung die Beziehung zwischen Körper und Artefakt gerade auch mimisch mitunter als eine besonders enge und somit implikationsreiche Beziehung etabliert wird. Es zeigt sich hier ein „interobjektives“ (vgl. Latour 1996) Disziplinieren von Performance via Artefaktbeteiligung. Eine Anlehnung an Goffmans „mikroskopische“ Perspektiven vermag den ethnografischen Blick diesbezüglich für den Unterschied der Beobachtung eines Auftritts aus der Nähe und der Beobachtung aus der Ferne zu sensibilisieren: So schreibt Goffman (1967, S. 102) beispielsweise, dass es einem Individuum im Rahmen einer öffentlichen Rede gelingen könne, durch Kontrolle der Stimme Aufregung im Sinn von Schamgefühl zu verbergen. Jene, die in seiner unmittelbaren Nähe sitzen, könnten jedoch an zitternden Händen oder eben an verräterischen Signalen in seiner Mimik erkennen, dass etwas nicht stimmt. Am Notebook gemachter Noise ist im Live-Kontext eine Stilrichtung, die Gesichter nun in besonderer Weise sichtbar macht, wie die folgende Beschreibung zeigt, bei der ich als Zuschauer einem Musiker – mit ungewöhnlich wenig Abstand zwischen uns – ins Gesicht blicke. Auch dieser Fall zeigt, dass die Aufeinanderbezogenheit von Mensch und Artefakt performativ stark in das Zeigen – und somit auch in die schlüssige Herstellung – von Affekten eingebunden ist: Auszug aus den Feldnotizen, August 2015: Der Künstler ist schätzungsweise 30 Jahre alt, trägt sein schwarzes Haar kurz geschnitten und dazu einen kurzen Vollbart. Er trägt ein eng geschnittenes dunkelblaues T-Shirt, seine Oberarme sehen trainiert aus. Die Nähe, die zwischen mir und dem Musiker gewissermaßen zwangsweise herrscht (ich sitze ihm im Abstand von zwei Metern frontal gegenüber), macht mich empfänglich für eine bestimmte Beobachtung, sobald das Licht im Raum gelöscht wird und das Konzert beginnt: Notebook-Noise ist eine Kunstform der „angeleuchteten“ Gesichter. So sehr man durch die Verdecktheit der Bildschirme nicht sieht, was Künstle rInnen „da eigentlich genau machen“ (anders als z.B. bei GitarristInnen, deren Spiel direkt einsehbar ist), so sehr rückt der Kopf als Porträt und mit ihm das Gesicht und

140 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

dessen Mimik in den Mittelpunkt. Der Protagonist des heutigen Abends begegnet diesem Umstand mit einem Mienenspiel, das besonders aus nächster Nähe überaus kontrolliert und konzentriert auf mich wirkt. Dem eventuellen Auftauchen verräterischer kleiner Gesten oder minimaler Entgleisungen der Mimik schenke ich nun besondere Aufmerksamkeit. Aber: nichts. Der Künstler absolviert sein Programm in augenscheinlich vollkommen ungebrochener Konzentration. Seine stahlblauen Augen fixieren den Bildschirm in wachsamer Fokussierung. Nahezu ununterbrochen hätte jeder spontane Schnappschuss von seinem Gesicht Porträtqualität, so durchgehend unverändert ist die Mimik.

Lichtquelle Nummer eins also, das Notebook, strahlt den Künstler an und hebt sein Gesicht hervor, sprichwörtlich also „den Kopf“ hinter der Geräuschmusik. Lichtquelle Nummer zwei wiederum ist der Apfel seines Apple-Notebooks, ein in Noise-Kreisen häufig anzutreffendes Leuchtphänomen. Man kann dieser Zweiteilung durchaus einen performativen Informationsgehalt im Zusammenspiel zwischen Mensch und Artefakt zuschreiben: Gesicht und Gerät erstrahlen gemeinsam und besiegeln in dieser minimalistischen Lichtarchitektur ihre innige Aufeinanderbezogenheit. Der eine schließlich kann nicht ohne den jeweils anderen, und so inszeniert man einander in einer Zurschaustellung der performativen Symmetrie. Die Ungerührtheit und die gegenständliche Starre, die dem technischen Objekt eigen ist, scheint vom Künstler performativ geteilt zu werden, indem sein Gesicht – wie beschrieben – mimisch geradezu versteinert und seine Haltung allgemein eine regungsarme Fokussierung suggeriert. Das Aufeinandereinstimmen scheint sich in der hier beschriebenen Szene in einem gegenseitigen Anstarren zu konzentrieren. Die „kalte“ Technizität des Artefakts mit ihren gemeinhin zugeschriebenen Eigenschaften von Präzision und durchgehender Leistungsfähigkeit scheint sich in das angestrahlte Antlitz des Künstlers eingeschrieben zu haben. Schmidt (2012) beschreibt ein vergleichbares Verhältnis aus einem anderen Kontext: Als aktive Entitäten sind in jenem Beispiel „Büromensch und Bürostuhl – wie Reiter und Pferd –“ an der Produktion von Bürobequemlichkeit beteiligt (S. 138). Im Noise-Kontext trägt die Involvierung des Artefakts hier zur Erfahrung von Noise als technisch, rätselhaft, „unmenschlich“ und nicht auf „konventionelle“ Empfindungen abzielend bei.

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

6.8 E XKURS : O RTE B ESINNUNG

UND

W EGE

| 141

ALS TELEOAFFEKTIVE

Wie schon der Unterabschnitt zum „concert for one person“ im Kapitel zu Hörkompetenz und Distinktion andeutete, tut man gut daran, der Bühne als ausgewiesener Aufführungsstätte von Klangproduktion sowie den damit einhergehenden Performances ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit zu schenken. Der abschließende Exkurs im Unterkapitel zur Einstimmung zeigte wiederum, dass Konzerte auch ein analytisch zuweilen sehr aufschlussreiches Danach kennen. Das folgende Nachdenken über Orte und Wege wählt einen noch weiter entgrenzenden Blickwinkel. Diesem will ich mich zunächst in einem ganz schrittweisen Verlassen der Bühne annähern: Auch Modi der Inszenierung, der willkürlichen wie unwillkürlichen Körperperformance diffundieren über das „eigentliche“ Konzertgeschehen ins Publikum hinein und manifestieren sich dort in einer Art und Weise, die dem Alltagsblick mal konstitutiv (im konzentrierten Lauschen oder in der Bewegung zur Musik), mal beiläufig und geradezu banal erscheinen (die Gänge zur Bar oder zur Toilette, das Eintreffen, das Aufbrechen). In unterschiedlichen Graden leisten all diese Wege, Bewegungen, Gesten, Mimiken und auch die scheinbaren Passivitäten einen mehr oder minder entscheidenden Beitrag zum sozialen Geschehen insgesamt. Villa (2002) expliziert für den Tanz im Argentinischen Tango etwa eine exemplarisch anschlussfähige Anerkennung der unterschiedlichen Stationen und Kontexte von Raumnutzung über die eigentliche Tanzfläche, also den Ort des offensichtlichen Kerngeschehens, hinaus: „Neben der Tanzfläche gibt es Theken, Sitzgelegenheiten […], Toiletten und Garderobe, evtl. eine Terrasse oder einen fürs Essen bestimmten Raum(-bereich). Wenn man also nicht tanzt, sitzt man entlang der Tanzfläche und schaut anderen beim Tanzen zu, betreibt small talk, holt sich etwas zu trinken, checkt im Toilettenspiegel das Aussehen oder bewegt sich im Raum umher“ (S. 188).

Es war mir ein Anliegen beim Verfassen und der folgenden Analyse meiner Notizen, solcherlei beiläufigen Stationen im Feld meiner eigenen ethnografischen Auseinandersetzung mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu begegnen und sie gegenüber dem „eigentlichen“ Konzertgeschehen einer nach Möglichkeit nicht weniger dichten Beschreibung zu unterziehen. Erfahrungen am Rande von Veranstaltungen und insbesondere solche im Davor und Danach sensibilisieren da-

142 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

bei meiner Auffassung nach auch methodologisch für eine Auseinandersetzung mit der Entgrenzung von Raum als Anerkennung jener Wege, die zurückgelegt und teils „auf sich genommen“ werden, damit sich schließlich leibliche Kopräsenz von TeilnehmerInnen in ausgewiesenen Konzertsettings lokal und temporär begrenzt konzentriert. Die folgende Feldnotiz schildert den mühsamen Weg zu einem Kunstraum, für den ein gemeinsames Spielen mit zwei Mitmusikern anberaumt ist: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Wir verfahren uns mehrfach, bis wir schließlich am Ort des Geschehens eintreffen. Der erste Eindruck des Clubs ist etwas verwirrend: Ein Vordereingang ist nicht auszumachen, doch immerhin ist die Hausnummer provisorisch mit dunkler Kreide an die Wand geschrieben. Niemand sagt was, als wir aus dem Auto steigen, doch aus den halb verwunderten, halb ernüchterten Blicken spricht die bange Frage: „Und hier sind wir richtig?“ Der Raum scheint kein Klingelschild zu haben, also läuten wir einfach mal an jeder Klingel, die uns unterkommt – mit Erfolg, denn die etwas verschlissene Fronttür wird uns (von wem auch immer) per Buzzer geöffnet. Wir stapfen durch einen dunklen, kalten Innenhof, und wir probieren die Türen durch, die uns hier zum potenziellen Weiterkommen zur Verfügung stehen. Eine öffnet sich tatsächlich! Dort drinnen gibt es nun aber auch kein Licht, und durch Vorantasten stellt einer meiner Kollegen fest, dass sich in dieser Kammer lediglich ein paar Mülltonnen befinden. Ein anderer unterdessen entdeckt eine dunkle Tafel, auf der in dunkler Schrift tatsächlich der Name des Raums geschrieben steht – allgemeine Er heiterung. Wir verlassen den Innenhof intuitiv weiter nach innen, und hinter einer weiteren Tür, die offen steht, findet sich eine Art Atelier (irgendwie noch kälter und feuchter als der Innenhof), wo sich Bierkisten, Holz, allerlei Kunstutensilien, rostige Einkaufswagen und ein Wust aus sonstigen Materialien fast bis zur Decke stapeln. Wir scheinen nun den eigentlichen Eingang endlich gefunden zu haben, nach einer weiteren Tür eröffnet sich uns ein „art space“, in dem mehrere Leute (vom Alter her schätzungsweise zwischen 25 und 35) allerlei Kunstgegenstände bearbeiten. Der Raum hat was von einer geräumigen Garage, es ist hier unbeheizt und dementsprechend kalt, ein paar der versammelten Personen hier tragen wärmende Kopfbedeckungen.

Mit Mut zur Assoziation kann man meinen: Die Abgelegenheit des Ortes scheint uns einen Hinweis auf die nun buchstäbliche Abseitigkeit der Musik zu geben, die wir hier gemeinsam spielen sollen. Diesen Aspekt will ich weiter vertiefen und zuspitzen: Ist das Aufsuchen abgelegener Orte nicht ohnehin eine Art der

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 143

Einstimmung, die sich gut mit den Erfahrungsmodi von Noise verträgt, diese vielleicht sogar mitetabliert? Um dem Aspekt der Wege gerecht zu werden, bedarf es zunächst einer theoretischen Perspektivierung, die Bewegungen in Raumzeit mit dem Aspekt des Antizipierens verknüpft. Kurzum: Eine ethnografische Perspektive, die sich am Raum abarbeitet, muss auch spezifischen Modi der Temporalität sozialer Praktiken eine konstitutive Bedeutung beimessen. Grundlegend konstatiert Giddens (1995, S. 161f.) eine Situiertheit von Interaktion in Raum und Zeit: Mit Bezug auf den von Hägerstrand geprägten Begriff der „Zeitgeographie“ zeigt der Autor eine enge Verflechtung von Alltagsroutinen mit Aspekten des menschlichen Körpers, den gängigen Fortbewegungs- und Kommunikationsmitteln sowie dem Weg durch den so genannten „Lebenszyklus“. Bewegung im Raum wird demgemäß auch als Bewegung in Zeit aufgefasst. Diese Bewegung unterliegt dabei mehrfach Begrenztheiten und „Fähigkeitseinschränkungen“. Giddens expliziert in diesem Kontext ein Verständnis von „Prismen“ täglichen Verhaltens nicht schlicht als „geographisch oder physisch umgrenzte Bereiche“, sondern als solche Bereiche, die „Raum-Zeit-Wände an allen Seiten“ besitzen (vgl. ebd., S. 165). Die Rede von Koordinationszwängen und Zeitbudgets (ebd., S. 167) ist dabei anschlussfähig an die Bedingungen von Hörerfahrungen im Feld: Konzertveranstaltungen mögen uns etwa als raumzeitlich relativ streng budgetierte Situationen erscheinen. Dennoch erstrecken sie sich über ihre situativen Konzentrationspunkte hinaus, kennen ein zumindest grob eingegrenztes Davor und ein Danach, das der Konzerterfahrung gegenüber selbst nicht beliebig ist (siehe den obigen Exkurs zur „Einstimmung“ ex post). Dem ethnografischen Blick eröffnet sich in der Erfahrung von affektiven Empfindungen im Davor ein explizierbarer Eindruck teleoaffektiver Strukturen, wie sie von Schatzki (2002, S. 80) beschrieben werden: „A ‚teleoaffective structure‘ is a range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks, to varying degrees allied with normativized emotions and even moods. By ‚normativity‘, I mean, first, oughtness and, beyond this, acceptability. […] As indic ated, coordinated with this teleological structuring are emotions and moods that participants should or may enjoy. […] To say that doings and sayings are linked by a teleoaffective structure is to say that they pursue end-project combinations that are contained in the same teleoaffective structure“.

Das Aufsuchen eines Ortes, an dem sich ein raumzeitlich budgetiertes Geschehen verdichtet, ist oftmals ein Besinnungsereignis, das affektiv Erwartungen of-

144 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

fenlegt, Unlust und Vorfreude erleben lässt oder „Motivationen“ auf die Probe stellt. Wenn wir den relationalen Raumbegriff (vgl. Löw 2001) und mit ihm die Transsituativität sozialer Praktiken (vgl. Schmidt/Volbers 2011, S. 28) beim Wort nehmen und in gebotener Konsequenz nachvollziehen, bereichert das Nachvollziehen sich erstreckender Wege, die AkteurInnen auf „Einstimmungsreise“ nehmen, ein Verständnis von Stimmung und damit auch Einstimmung als situiert in räumlich-körperlichen Praktiken und deren Zeitgeographie. Soll heißen: Räume werden in einer Art fluiden Grenzhaftigkeit nicht erst dort etabliert, wo das „eigentliche“ Geschehen schlussendlich stattfindet, sondern Praktiken diffundieren in ihre Containerräume (Clubs, Konzerthallen, Fußballstadien etc.) gleichsam hinein, indem etwa Gruppenbildung stattfindet, indem Körper den Weg in zielgerichtete Richtungen antreten und währenddessen unter TeilnehmerInnen schon in diesen frühen Stadien beispielsweise eine „Stimmungsgemeinsamkeit“ (vgl. Simmel 2009 [1907], S. 123) geschaffen wird. Illustrieren will ich diesen Aspekt am kontrastierenden Beispiel des Besuchs eines Heimspiels des Fußballvereins Wiener Sportklub14: Auszug aus den Feldnotizen, Juli 2015: Es ist ein schwülwarmer Hochsommertag. Schon beim Warten auf meine Straßenbahn an der Haltestelle Schottentor fallen mir mehrere kleine Männergruppen auf: In Dreier- bis Sechserkonstellationen steht man beisammen und macht „kumpelhafte“ Gesten untereinander: Handschlag, Schulterklopfen, lautes Lachen. Mancher trägt ein Fußballutensil (Trikot oder Schal), insgesamt ist der informelle Dresscode schlicht, sportlich, leger; man sieht viele kurze Cargohosen, manche davon in Tarnfarbenoptik, dazu Polohemden und vereinzelte TShirts mit „lustigem“ Aufdruck (z.B.: „Ich bin 40, bitte helfen Sie mir über die Straße“). Nahezu jeder der beobachteten Männer trägt ein Dosenbier in der Hand. Die Stimmung ist ausgelassen, der Umgangston ist laut. In der Straßenbahn ist das Gedränge groß: An jeder Haltestelle zwängen sich weitere Grüppchen hinein, und allmählich liegt ein Geruch von abgestandenem Bier in der Luft. Einzelne Akteure wer den ausgelassener, zetteln z.B. kleinere Sprechchöre an oder philosophieren in fröhlicher Runde lauthals über vergangene Glanztaten, aber auch über Niederlagen ihres Vereins. Man schwitzt und betreibt einen gewissen Kraftaufwand, sich im Stehen während der Fahrt in den Kurven gut festzuhalten. An der Stadionhaltestelle steigt man aus und formiert sich außerhalb des Veranstaltungsortes zu etwas größeren Grup pen, trifft auf Freunde und Bekannte. Aus Rucksäcken wird weiteres Dosenbier her14 Die Feldnotiz streut im Übrigen z.B. in der Beschreibung „kumpelhafter Gesten“ und Begrüßungsaktivitäten auch hier Hinweise auf körperliche Praktiken der Einstimmung im Sinn einer Kollektivität.

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 145

vorgeholt. Man begrüßt einander mit Handschlag und Zuprosten und unterhält sich darüber, dass es heiß ist oder welcher Ausgang vom Spiel wohl zu erwarten ist.

Das Fußballspiel macht in seiner Plastizität exemplarisch deutlich, dass das Aufsuchen von Veranstaltungsorten als Einstimmung oder gar als eine Art weltliche Besinnung fungiert: Etabliert wird kollektiv ausgestaltet die Bereitschaft zu bewusster oder anderweitig „gegenstandsadäquater“ Erfahrung: In Anlehnung an Schatzki (2002) werden hier in der Tat „emotions and moods that participants should or may enjoy“ (S. 80) erlebt und in etablierender Gleichzeitigkeit unter TeilnehmerInnen einander angezeigt. Das Fußballspiel diffundiert in Form sich allmählich versammelnder Körper aus mehreren Richtungen stück- und teilweise in den „eigentlichen“ Veranstaltungsort, das Stadion, hinein, wo sich das Geschehen im Sinn einer episodisch tendenziell ungebrochenen Kopräsenz, einer kollektiv geteilten Aufmerksamkeit sowie einer tendenziellen Stimmungsgemeinsamkeit räumlich eingrenzt und verdichtet. Das inkludiert bereits das Warten auf den Spielbeginn im Inneren des Stadions, währenddessen sich eine allmähliche Blickrichtung auf den Rasen, den Ort des Geschehens, in erwartungsvollem Ausharren zeigt, begleitet von Vergemeinschaftungspraktiken wie dem Singen von Sprechchören oder weiterem Bier- und auch Wurstverzehr. Noise gibt zunächst ein scheinbar weniger greifbares Bild vergleichbarer kollektiver Besinnung ab: Sprechchöre wird man nicht antreffen, und oft ist die Annäherung an Konzerträume ein solitäres Unterfangen. Doch gerade in diesen Eigenschaften mag man Noise-typische Charakteristika mit Bezug auf teleoaffektive Besinnung begreifen. Noise ist unsicher, rätselhaft und beschwerlich? Mancher „Weg zum Noise“ ist das auch. Dem Genre wird zudem eine enge Ver wandtschaft mit der Industrial Music unterstellt (siehe viertes Kapitel), die sich im Folgenden im Sinn einer greifbaren Ortsbeschaffenheit auszudrücken scheint. Ich beschreibe sogleich den Fußweg zu einem Noise-affinen Club, der nämlich tief im Industriegebiet „zu Hause“ ist. Die Abgelegenheit des Veranstaltungsortes ist auch hier bemerkenswert und offenbart in den späten Abendstunden eine industrielle Ödnis, die ich als Konzertbesucher nicht schlicht „überwinde“, „in Kauf nehme“, ohne jede Konsequenz als bloße Wegstrecke durchquere. Vielmehr ist auch diesem Weg, der zum Konzert führen soll, ein konstituierender Wert in Hinblick auf Erfahrung und Erwartungen zuzuschreiben: Mir selbst präsentiert sich dieser Weg als eine Art stimmungsintensiver Hindernisparcours, der mit entscheidenden Qualitäten von Noise zu korrespondieren scheint. Das Industrieviertel ist stimmungsgebende Kulisse, sein Durchqueren ein schlüssiger Beitrag zur Gesamterfahrung eines Noise-Events.

146 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Von meiner Haltestelle ist es noch ein 15minütiger Fußweg zum eigentlichen Veranstaltungsort. […] Die Gegend, in der ich mich bewege, erscheint mir gegenwärtig finster. Es handelt sich um das Frankfurter Hafenviertel, das zu so später Stunde – es ist noch nicht einmal 20 Uhr – vollkommen menschenleer zu sein scheint. Ich komme an mehreren Industriegebäuden vorbei, vor deren Warenannahmepunkten sich kleinere bis größere Häufchen Müll mitsamt leeren Schnaps- und Bierflaschen finden. In einer der Straßen sehe ich einen Lkw-Fahrer in seiner Kabine sitzen – keine Ahnung, was er hier will, vielleicht Pause machen und schlafen. […] Um an mein Ziel zu gelangen, muss ich eine Stelle finden, an der ich den Main überqueren kann, doch überall am Ufer finde ich am Ende der Seitengassen nur „Keine Fußgänger“-Schilder und Schienen. Auch dort: alles menschenleer. Am Ende der Straße finde ich schließlich einen schmalen Trampelpfad, der mich an einem Vereinsheim vorbei über matschigen Grund und in Besorgnis erregender Dunkelheit ans andere Ufer führt. Dort angekommen, frage ich mich trotz erneut korrekter Straßennamen, ob ich hier wirklich richtig bin: Auf dieser Seite des Wassers wirkt schließlich alles noch viel leerer, ein paar Lkw stehen herum, und wer weiß, wie lange schon. Es ist dunkel, es ist kalt, und zwischen den Hafengebäuden bläst über das Wasser hinweg ein strenger Wind, der durch meinen Wintermantel zieht. Ich fühle mich nicht wohl und hoffe, dass mein Kollege Stephan, mit dem ich um 20 Uhr verab redet bin, per Auto tatsächlich den Weg hierher findet. Ich finde den Veranstaltungsort, einen riesigen, kastenförmigen Klotz aus Stahlbeton, dessen Vordereingang verschlossen ist, obwohl man von draußen erkennt, dass drinnen wohl Licht brennen muss. Interessant ist im Übrigen die auf den ersten Blick brutalistische Architektur, die mit dem klanglichen Hang von Noise zum Groben, zum Massiven, zur Ungeschliffenheit zu harmonieren scheint. Neben dem Klotz befindet sich ein geschlossener Imbiss, und daneben befindet sich ein Fahnenmast mit einer großen Eintracht-Frankfurt-Fahne, die sich in ca. vier Metern Höhe im Frühwinterwind immer mal wieder gegen ihr eigenes Gewicht aufrichtet.

Ganz und gar nicht will ich behaupten, dass Noise-Events zwingend vergleichbarer Kulissen bedürfen – wie ich im Vorangegangenen gezeigt habe, findet Noise ja zuweilen gar in Kirchen statt. Augenfällig ist jedoch, dass vorgefundene Wege im Noise-Kontext zuweilen auffällig „Sinn machen“ und sich in einer Art beschreiben lassen, die eine affektiv-ästhetische Kontinuität suggeriert. Diese Kontinuität macht darauf aufmerksam, dass relational-räumliche Arrangements keiner Beliebigkeit unterliegen, sondern in ihrer Beziehung zu situativen Erfahrungen einen entscheidenden Beitrag in der Etablierung und Aufrechterhaltung schlüssiger Sinnwelten leisten, der ebenfalls Analysegegenstand sein sollte. Die

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 147

Produktion und Performance von Noise scheint sich einem Aufgehen in der lebhaften Sozialität des urbanen Clublebens mitunter zu verschließen, und es wäre zu kurz gegriffen, diese geradezu abseitige Position lediglich einer mangelhaften ökonomischen Verwertbarkeit von Noise zuzuschreiben (obwohl der Punkt sicher eine Rolle spielt). Vielmehr ist grundlegend anzunehmen, dass die wahrgenommene räumliche Isolation von Noise als eine Möglichkeit zur sprichwörtlichen Positionierung mit der Sinnwelt des Noise eine keineswegs arbiträre, sondern vielmehr eine aufschlussreiche, vielsagende Verbindung unterhält. In Debatten und Rezensionen werden Noise und Unterspielarten wie Power Electronics mitunter explizit als „schwer zugänglich“ verhandelt. Wie die beiden beschriebenen Wege zeigen, ist Noise mitunter schwer zugänglich auch in einem ganz und gar buchstäblichen Verständnis, das sich auf die Position von Orten bezieht, an denen Noise stattfindet – oder, wie man mit ironischem Unterton sagen könnte: an denen sich Noise versteckt bzw. (im Fall der letzten Feldnotiz ebenfalls buchstäblich) einbunkert. Über diesen assoziativen Zusammenhang hinaus will ich erneut auf einen Akt der Selektion hinweisen, der in diesem Kontext wichtig erscheint: So, wie sich im „Leeren des Raumes“ (siehe fünftes Kapitel) die „Spreu vom Weizen trennt“, verrät auch die Abgeschiedenheit oder die schwere Zugänglichkeit von Orten etwas über eine Art Elitenbildung qua Anwesenheit. Die beschriebenen Wege verlangen von TeilnehmerInnen eine ausgeprägte Bereitschaft, den Ort des Geschehens aufzusuchen. Zum erlauchten Kreis gehört dazu, wer den anstrengenden Weg auf sich nimmt und dann bleibt – ein zweifach voraussetzungsvolles Unterfangen, wenn man so will. Das Ergebnis schlussendlich: Man ist unter sich. Die schwere Zugänglichkeit ist freilich nicht nur in Hinblick auf Orte und Wege interessant, und wie schon das Unterkapitel zum „concert for one person“ den Anschluss an den Tonträgerkontext suchte, soll das auch hier geschehen: So verdichtet sich das „schwer Zugängliche“ mitunter in Artefakten, eben beispielsweise in Tonträgern, deren Bezeichnung etwas in die Irre führt: Sie sind schließ lich nicht nur ganz technisch Träger von Klang, sondern auch von sozialer Distinktion. Das betrifft insbesondere das Medium Kassette, das im Noise (ebenso wie im Black Metal oder im Vaporwave) noch genutzt wird, während es in anderen Musiksparten zumeist allenfalls ein Schattendasein fristet. Nicht zwingend ist die Musik auf diesen Kassetten schwer zugänglich oder schwer hörbar im streng musikalischen Sinn, sondern in Hinblick auf jenes Medium, das potenziellen HörerInnen, die keine Möglichkeit zum Abspielen haben, den Zugang verweigert. Somit werden Außenstehende auch von Lernerfahrungen ausgeschlossen. Die KennerInnen wiederum bleiben auch in diesem Kontext tendenziell un-

148 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ter sich. Zum Vergleich über Noise hinaus: Im Black Metal ist es z.B. üblich, durch einen technisch „schlechten“, d.h. den Hörgewohnheiten in Rock und Metal widersprechenden Sound zu elitären Haltungen unter KennerInnen beizutragen.

6.9 „U NEXPECTED DYNAMICS “: D AS U NERWARTETE INTEGRIEREN 15 Eine Ethnografie, die davon ausgeht, dass sich in Situationen soziale Ordnung widerspiegelt, ist dazu angehalten, auch nach der Irritierbarkeit solcher Ordnung zu fragen; das heißt: Zu einem Verständnis dessen, wie Klangerfahrungen konstituiert werden, bietet sich eine Auseinandersetzung mit jenen Szenarien an, in denen eine vormals schlüssige Erfahrung innerhalb der Klang-Raum-KörperArrangements plötzlich brüchig wird. Das geschieht mitunter gar nicht durch einen absichtsvollen Eingriff, obwohl uns solche im siebten Kapitel (zur Kollektivität) unbedingt auch interessieren sollen. Vorläufig geht es aber um Störungen, die gewissermaßen als unintendierte Krisenexperimente (vgl. Garfinkel 1967; Miebach 1991, S. 163ff.) in Erscheinung treten und in ihrer Irritation beiläufig jene sozialen Ordnungsbildungen offenlegen, die von ihnen durchkreuzt werden. Um eine solche Irritation zu schildern, will ich zunächst auf das „Sichumspülen-Lassen“ (aus Abschnitt 6.3) rekurrieren: Ich beschreibe im Folgenden ein solches, das daraufhin durch ein vollkommen banales, aber klangräumlich wirkmächtiges Störphänomen krisenhaft aus dem Tritt gerät und scheitert. In der Beschreibung geht es zunächst also um ein vertieftes Hören, das im Übrigen von einem Teilnehmer exerziert wird, der „es können muss“, nämlich einem Künstler aus der Schnittmenge zwischen Noise, Drone und Ambient, dessen Auftritte und Kompositionen für ihre vereinnahmende klangliche Monotonie bekannt sind. Die Episode schärft in einem weiteren Detail den Blick für schlüssige performative Repertoires. Im vorliegenden Fall wird BeobachterInnen eine „funktionierende“, d.h. erfolgreiche Vertiefung erkennbar gemacht. Abermals handelt es sich um eine Beschreibung des Auftritts von CC Hennix auf dem Festival Kontraste. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: In der Sitzreihe zu meiner Linken hat es sich ein bekanntes Gesicht bequem gemacht: Phill Niblock, dessen Konzert für Tag drei als – natürlich – großes Finale auf dem Programm steht und der im Feld Legen 15 Das Unterkapitel basiert teilweise auf Material aus Ginkel (2016).

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 149

denstatus besitzt. Fast wirkt er, als würde er schlafen. Niblock ist gerade 80 geworden, ein stattliches Alter. Er scheint allgemein bei guter Laune zu sein, wirkt großvaterhaft (wie ein freundlicher Doppelgänger von Hermann Nitsch), und er scheint keinerlei Anstrengung dabei zu haben, sich der Stimmung der hier beschriebenen Veranstaltung hinzugeben. Zumindest scheint seine Körperhaltung zu verraten, dass er in den Klängen regelrecht versinkt: Die Hände sind gefaltet und ruhen auf seinem Schoß, die Beine sind nicht überkreuzt, und den Kopf hat er leicht auf die Brust gesenkt. Tatsächlich zu schlafen scheint er letztendlich nicht, er lässt das Konzert offenbar „über sich ergehen“, lässt die Drone-Klänge ganz zu sich vordringen, lässt sich in der Tat „umspülen“.

Wie Hirschauer (2004) feststellt, ist das, was wir in alltagsweltlicher Betrachtung mitunter als „Inaktivität“ bezeichnen, mitnichten in absoluter Konsequenz das, was der Begriff per se unterstellt (nämlich gleichsam ein „Abgeschaltetsein“): Für das Beispiel der Fahrstuhlfahrt beschreibt der Autor „Absentierungsanstrengungen“, in der die kontrollierbaren Äußerungen der Körper – darunter „Bewegungen, Gestik, Mimik, Geräusche“ – zurückgenommen werden. „Man kann diese habituelle Haltung als ‚Inaktivität‘ bezeichnen, denn diese innere Haltung besteht in einem laufenden Spannungsverhältnis zu möglichen Aktivitäten. Soziologische Handlungstheorien kennen dies von Unterlassungen […], einer Klasse von negativen Aktivitäten, deren Exemplare durch einen Kontrast zu Intentionen und Erwartungen bestimmbar werden“ (S. 82).

Der praktische Vollzug dieses „Unterlassens“ erfordere jedoch „weniger ein Spannungsverhältnis zu solchen mentalen Phänomenen, sondern zu einer in den kultivierten Körper eingelassenen Produktivität, Nervosität, Unruhe und Wachsamkeit“. Der Körper, so Hirschauer, ließe sich schließlich nicht einfach „abschalten“, verfalle vielmehr gleichsam in einen Stand-by-Modus, „der den Intentionen seines Bewohners zuwiderlaufen kann“. Von einem Eigenleben beispielsweise des „kommunikativ sozialisierten“ Auges ist dabei im Folgenden die Rede (vgl. ebd.). Bei der Irritation von Hörerfahrungen wird mitunter ein vergleichbares „Eigenleben“ virulent. Zunächst mag dies eine Beobachtung aus dem klassischen Konzertbetrieb – kurz vor Beginn einer musikalischen Darbietung – verdeutlichen: Auszug aus den Feldnotizen, Juni 2015: Im Publikum nimmt man Haltung an, sitzt da und weiß sich ganz selbstverständlich zu benehmen. Manches Bein ist über ein ande -

150 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

res geschlagen, denn Lockerheit scheint in Ordnung, solange sie eben Haltung demonstriert und nicht salopp oder gar vulgär erscheint. In der offenbar mühelosen Beherrschung scheint Präsenz und Aktivität von Körpern negiert zu werden: Körper? Hier doch nicht! Man erscheint vergeistigt: Blicke wirken mühelos konzentriert, fixieren nicht gebannt, sondern lassen die Umgebung auf sich wirken. Manche Hände sind leicht und locker gefaltet – zu wenig, um Gebet anzudeuten, immerhin aber beiläufige Vertiefung. Die Gesten und Mimiken wirken wohlwollend und vornehm. Um Regun gen zu zeigen, bedient man sich jener Instrumente, die mit dieser Haltung harmonieren: gesitteter (zuweilen gar gesittet aufbrausender) Applaus zwischen den einzelnen Stücken – und trockener Husten in längeren Pausen. Dieser Husten verbreitet sich im Saal zuweilen wie ein Lauffeuer, das TeilnehmerInnen vollkommen unwillkürlich zu vereinnahmen scheint. So befällt der Husten bar jeder Inkubationszeit Wirt um Wirt und konstituiert damit eine Stimmung der latenten, nicht überbordenden Spannung. Der Husten, so scheint es, ist der Preis, den die Körper für die beiläufige, selbstver ständliche Beherrschung ihrer selbst in Situationen wie dieser zahlen: Durch den Husten wird jene spannungsreiche Antizipation erkennbar, die von den TeilnehmerInnen andernfalls stets „abwesend gemacht“ wird – im Sinn einer Unterdrückung vielleicht, wie ja der latent berstende Charakter eines Hustens suggeriert. Den Reizhusten mag man gar als einen Grenzfall zwischen verbaler und nonverbaler Mitteilung kategorisieren: Es handelt sich um ein oberflächlich unartikuliertes Herausbrechen am äußeren Rand der verbalen Kommunikation. Unüberhörbar laut, mitunter irritierend – und trotzdem inhaltlich vollkommen unverfänglich.

Mit Geräusch muss sozial immer gerechnet und sodann auch umgegangen werden, ganz gleich ob im Noise-Kontext oder im klassischen Konzertbetrieb. Je nach Umgebungskultur werden unterschiedliche Modi gepflegt, mit Geräusch diszipliniert und somit ordnend zu verfahren. Dem klassischen Konzert wie auch der nicht besonders lauten Ambient-Musik ist gemeinsam: Auffälliges Geräusch im Publikum hat während dem Spiel der Musik nicht stattzufinden. Das „Eigenleben“ wird hier nach Möglichkeit in das Davor und das Danach der eigentlichen Darbietung verbannt – dazwischen werden Körper durch ihre Besitzer gekonnt beherrscht. Um einen in diesem Sinne fehlplatzierten Husten geht es also nun in der folgenden Beschreibung aus dem Kontext der Schnittstelle zwischen Ambient und Noise. Er findet nicht in der Pause statt, und nebenbei bemerkt: Er befällt im kommenden Beispiel nur eine einzelne Person, nicht gleich mehrere 16. Die an16 Die Ursache des Hustens ist mir freilich unbekannt, möglicherweise war er gar einer Erkrankung geschuldet, und ich will mich durch Beschreibung und Analyse der Szene

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 151

gestrebte Vertiefung wird durch seine dauerhafte Präsenz von außen gestört. Es handelt sich um ein unabsichtliches Krisenexperiment, das die Fragilität von Vertiefung und ihren körperlichen Aufführungen vor Augen führen soll: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Ab etwa der Hälfte des Konzerts beginnt ein bemerkenswertes Phänomen: Eine Person schräg hinter mir beginnt zu husten. Nicht einmal, sondern häufiger hintereinander – und dann hustet sie weiter. Und weiter. Der Husten will gar nicht mehr aufhören: Über einen längeren Zeitraum lässt der Husten nicht ab, und er greift ein in das klangliche Geschehen, denn die Orgel klänge sowie die vereinzelten Klangtupfer, die der Musik durch die Blechbläser hin und wieder hinzugefügt werden, sind zwar manchmal laut und durchdringend, können jedoch in puncto Frequenz das Husten definitiv nicht „maskieren“, wie es die Psychoakustiker ausdrücken würden. Dementsprechend wird die hustende Person immer häufiger von strengen Blicken aus dem übrigen Publikum getroffen, wie zu beobachten ist. Ich selbst drehe mich manchmal ganz unwillkürlich um, wenn sehr stark und lang gehustet wird, ich versuche mir aber einen allzu strengen Blick zu verknei fen. Später: Die Performance dauert nun schon über eine Stunde, und der Husten begleitet das Geschehen nach wie vor. Er irritiert das Geschehen, provoziert immer weiter ermahnende Blicke, die sich durch den Raum bohren. An Entspannung ist hierbei nicht zu denken, an Meditation erst recht nicht, der Husten entwickelt vielmehr ein klangliches Eigenleben parallel zur Musik und spannt nicht nur meine Aufmerksamkeit fast vollkommen ein, wie ich auch in flüchtigen Gesprächen mit anderen BesucherInnen später erfahre.

Eine Störung als regelrechte „Ruptur des Sozialen“ (Bergmann 2012, S. 3) liegt insofern vor, als die Voraussetzungen zur aufnehmenden Hingabe, wie sie im praktischen Zusammenspiel von Klang, Architektur, Lichtverhältnissen, Gerüchen und impliziten Anweisungen zur Körperhaltung gewährleistet werden, hier eine fortwährende Irritation erfahren. Offenbar wird an dieser Ruptur die Konstitution von „Stimmungsgemeinsamkeit“ in einem Zusammenwirken identifizierbarer Einzelteile, deren praktische Zusammensetzung keinesfalls der Beliebigkeit unterliegt. Ein vergleichbares „Eigenleben“ (zum Begriff siehe oben) wird im tatsächlichen Noise-Kontext zuweilen theatralisch in Aufführungen integriert und be-

sicherlich nicht lustig machen. Es geht mir lediglich deskriptiv um das situativ irritierende Moment in Hinblick auf Klang-Raum-Körper-Arrangements.

152 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

stärkt hier spezifische Modi der Verkörperung. Die folgende Episode demonstriert eine solche Integration. Beschrieben wird ein performativ aufbrausender Moment im Auftritt des litauischen Künstlers Bruzgynai im Frankfurter Institut für Neue Medien. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Mit einem Mal, sprichwörtlich aus heiterem Himmel, gewinnt das klangliche Geschehen an Intensität, und nahezu im gleichen Moment schnappt sich der Künstler das Mikrofon und schreit in markerschütternder Weise unverständliche Wortfetzen in einer Art in sein Mikrofon, die sich als veritables Ausrasten, als ein explosionsartiger Anfall beschreiben lässt. Sein Gesicht ist rot, und er scheint vor Energie fast zu platzen. In der allerersten Reihe sitzt ein dünner junger Mann mit Kapuzenpullover, Brille, Stoppelfrisur und Kinnbart, für den es nun kein Halten mehr gibt: Wie unter Krämpfen springt er zu der spontanen Einlage auf, reckt die Faust zu einer glorreichen Geste, während sein Oberkörper sich wilden Zuckungen hingibt – das wiederholt sich zwei- oder dreimal während der gesamten Zeitspanne, in der die Brüllattacke anhält: nicht mehr als zehn Sekunden, wie ich im Nachhinein schätze. Im Hintergrund ist als begleitendes Visual derweil das majestätische, ebenso aber auch unheimliche Antlitz eines Raubvogels zu sehen. Das Bild verweilt nahezu starr für mehrere Sekunden auf der Videoleinwand, und diese Mischung aus Ausbruch (Musik, Performance) und geradezu majestätischer Regungslosigkeit (Video) erzeugt für mein Empfinden eine Stimmung, der etwas wirklich Brutales innewohnt, getragen durch die Unvorhersehbarkeit der performativen Ereignisse wie durch das gleichsam synästhetische Verschmelzen des schroffen Geräusch- und Verzerrungsausbruchs mit den satten, erdigen Brauntönen des Filmes.

In dieser Situation verschmelzen mehrere Punkte, die im Vorangegangenen beschrieben wurden: Zum einen ist da ganz offenkundig das performative „Ausrasten“, hier als Integration eines „Eigenlebens“, das vertieften Hörleistungen spannungshaft verbunden ist. Es fungiert zugleich als eine interaktiv ausgestaltete Einstimmung mit und gegenüber dem Konzertbesucher: Noise-PraktikerInnen – ob auf KünstlerInnen- oder Publikumsseite – zeigen einander durch solcherlei Performances schlüssig die chaotischen „inneren Zustände“ an, wie sie im Zitat der Musikerin Christina Amelia im fünften Kapitel exemplarisch beschrieben wurden. Somit wird die Irritation von Ordnung – gemeint im argumentativen Anschluss an die obige unwillkürliche Irritation – durch Noise in körperlich-performativen Aufführungen mithergestellt und kann durch das Mitexerzieren (oder schlicht durch das Sehen und das Nachempfinden) als schlüssig, als überzeugend erfahren werden. Noise präsentiert sich hier – in Sachen Musik und Aufführung

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 153

– wie ein gewöhnliches Konzert, bei dem allerdings die Anteile von Geräusch und Störung die Oberhand gewonnen haben. Die vorangegangenen Ausführungen demonstrieren somit, dass das „Ausrasten“ auch eine integrierte Irritation von jenen Raumordnungen ist, die z.B. ein versunkenes Sich-umspülen-Lassen begünstigen. Noise kennt im Anschluss daran eine Wertschätzung von „unexpected dynamics“, wie der nachfolgende Auszug aus The Antidote Podcast untermauert, in dem sich die beiden Moderatoren (der Einfachheit halber mit „A“ und „B“ abgekürzt) über eine Album-Neuerscheinung unterhalten. Dabei wird eine evokative Bildersprache gewählt, die mir vielsagend und aufschlussreich erscheint: A: [It sounds like] later Prurient, yeah. Yeah, yeah. B: Not some of the brutal, ugly stuff but the – that sort of post-Industrial sound and it was just fantastic – I really enjoyed it and then the third track, there was – there was these um – I call them those Ben Frost dramatic moments, you know? When he suddenly puts in a depth charge or – A: (lacht) B: – or or what sounds like a howling wolf coming out of you know one of your earphones and – um – a wolf barking or something on those lines and there were those sorts of um unexpected dynamics that come out in the music and it’s almost like a Noise um – experimental music sample box, isn’t it?17

Die Bildersprache bedient sich einer bemerkenswerten Drastik: Gefunden werden Beschreibungen, die Gefährliches referenzieren, wie einen heulenden Wolf oder eine Unterwasserbombe. Ausgegangen werden muss dabei von der Konstellation, dass jene Diskursivierung nicht einer bloßen „Verbildlichung“ angenommener Klangqualitäten entspricht, sondern dass sie zugleich selbst aktiv Sinn stiftet, was ein schlüssiges Erleben auditiver Phänomene und Dynamiken im Noise betrifft. Mit den unerwarteten Dynamiken schließlich scheinen die gewählten Metaphern unmittelbar verzahnt zu sein, und gerade in diesem engen Zusammenspiel wird klar verständlich: Gefahr. DeNora (2000) beschreibt am Seilspringen unter Kindern, das von rhythmischen Reimen begleitet wird, allgemein ein routiniertes Zusammenwirken von Musik und Körper, das ich nachfolgend für Noise perspektivieren möchte:

17 Online:

https://theantidotepodcast.com/2015/04/08/episode-36-mike-shiflet-high-aur

ad-phirniskatarrhaktes-and-oren-ambarchi/, zugegriffen am 12.12.2015. Siehe Interternetquellen: Antidote Podcast (2015b).

154 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

„Without being able to locate some kind of rhythmic regularity [...], entrainment is im peded. Instead, one must react to each and every fall of the rope, instant upon instant; a ‚routinizable‘ relationship with the environment is not possible since at no level of awareness can one establish a sense of what will happen next“ (S. 83).

Dieser Feststellung kann ich mich – jedenfalls in Bezug auf meinen eigenen Forschungsgegenstand – nicht vollumfänglich anschließen, und doch wirkt sie belebend für die Analyse: Ist nicht die permanente Erwartung ruckartiger, dann wiederum ausbleibender, scheinbar arhythmischer Bewegungen selbst ein routinisiertes, wenngleich ein fraglos nervöses und dezidiert „unsicheres“ Unterfangen? Gewiss, beim Seilspringen wäre eine derartige Routine kaum praktikabel: Zu sehr würde sie die körperliche Unversehrtheit der springenden Person gefährden. Im Noise aber ist genau solch eine Erwartungshaltung angebracht, und sie wird in performativen Repertoires praktisch exerziert. In seiner Auseinandersetzung mit dem Sound-Design von Horror-Computerspielen argumentiert Roux-Girard (2011): „[…] it is mostly the work performed on the allure, grain, dynamic profile, and the mass profile of a sound that determines its repercussion on the gamer. During their gameplay activity, the gamer hears (entendre) the morphological qualities of the sounds which allow them to comprehend (comprendre) and experience them as frightening. […] it is not so much because the lamentation is generated by a zombie and comprises low-frequencies that it is frightening but, because, in its essence, it contains an energy reminiscent of a certain form of pain and agony. Ambiences can have a similar effect as they associate acoustic qualities with unpleasant situations and frightening locales“ (S. 203).

Der Autor stellt fest, dass hierdurch die „perceptual readiness“ der SpielerInnen gesteigert werde (vgl. ebd.). Erinnert sei – als Zitat aus einer obigen Feldnotiz zu den soziomateriellen „companionships“ – an die „halb quälende Erwartung der Schrecksekunde beim Action- oder Horrorfilm, die in ihrer sich sukzessiv verdichtenden Qualität ein aufgebäumtes Klammern an die Armlehnen des Kinosessels bewirkt, bis endlich der Schreck den befreienden Ruck evoziert“. Wer im Noise „versinkt“, sich von Noise „umspülen lässt“, muss mit der Erwartung jener Schrecksekunden rechnen. Das implizite Wissen um diese Erwartung gehört zu den Kompetenzen, die sich im performativen Spannungsfeld zwischen „Versinken“ und „Ausrasten“ in einer gewissen Theatralik erkennbar machen. Die Schrecksekunde ist Konzentrationspunkt der „perceptual readiness“, die (wie beim Computerspiel) audiovisuell und unter körperlich-räumlicher Beteiligung

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 155

geleistet wird – von KennerInnen gar gekonnt und durchaus beeindruckend, wie die obige Feldnotiz zum Konzert von Bruzgynai nahelegt. Die klaren Grenzen zwischen Publikum und KünstlerInnen verschwimmen dabei im Sinn eines umfassend gestifteten doing sound. Vereinfacht ausgedrückt: Das Heraufbeschwören der Schrecksekunde braucht zumindest punktuell ein Gegenüber, das sich erst einstimmen lässt und dann zuverlässig erschrickt, ausrastet oder sich schlicht „mitreißen lässt“. In einer gekonnt „überzogenen“ Aufführungspraxis macht man einander – ohne ein Wort zu wechseln – plausibel, dass Noise wild und aufregend ist, dass Noise bestehende Ordnung irritiert und jederzeit in unerwartete Zustände mitreißen kann, in denen es „kein Halten mehr gibt“, die sprichwörtlich chaotisch erscheinen. Dieses gekonnte Oszillieren zwischen verschiedenen „Zuständen“ und Performances ist den „vibrations“ der Dancehall-Musik, wie sie von Henriques (2010) beschrieben werden, verwandt: Sie sind ihr unregelmäßiges Gegenstück, das daran erinnert, dass verlässliche Einstimmung nicht zwingend im Sinn einer Rhythmisierung stattfinden muss, sondern auch diffuse Formen kennt. In praktischer Verschränkung, die wie ein nervöses Antizipieren funktioniert, werden Anspannung und Entladung performiert und können somit auch schlüssig empfunden werden. – Wie sich solche Spannungszustände in Einstimmungsszenarien von KünstlerInnen auf ZuschauerInnen „übertragen“ und somit kollektiv hergestellt werden, wurde bereits im Unterkapitel zu den soziomateriellen „companionships“ beschrieben. Erlebnismodi, die Noise-typische Affekte begründen, werden demnach von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren gemeinsam gestiftet. Im Fall von Bruzgynai ist ein nichtmenschlicher Akteur, der hier zum Geschehen beiträgt, die Videoprojektion auf der Leinwand direkt hinter dem Künstler. Auszugsweise will ich zur Verdeutlichung wiederholend zitieren: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Im Hintergrund ist als begleitendes Visual derweil das majestätische, ebenso aber auch unheimliche Antlitz eines Raubvogels zu sehen. Das Bild verweilt nahezu starr für mehrere Sekunden auf der Videoleinwand, und diese Mischung aus Ausbruch (Musik, Performance) und geradezu majestätischer Regungslosigkeit (Video) erzeugt für mein Empfinden eine Stimmung, der etwas wirklich Brutales innewohnt […].

Begleitende Videos stiften Plausibilität und sind an der Herstellung Noise-typischer Affekte in situ maßgeblich beteiligt. Gesorgt wird damit im beschriebenen Fall – einmal mehr – für eine schlüssige Kontrasterfahrung. Vergleichbares gilt für den Einsatz von Lichteffekten, die – anschlussfähig an die „unexpected dyna-

156 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

mics“ – etwa Zustände von Desorientierung veranlassen sollen. In einer Pause zwischen zwei Konzerten beobachte ich z.B. das Ausprobieren einer Stroboskopbeleuchtung. Stilistisch wird das folgende Konzert durch den Künstler als Harsh Noise angekündigt, eine betont extreme Spielart also, deren Drastik durch die Lichtverhältnisse mitetabliert wird. Löw (2001) stellt für den Gebrauch von Stroboskopbeleuchtungen im Kontext der Techno-Szene einen Modus der Raumkonstitution fest, der zum einen erwünschte Desorientierung unter den Tanzenden stiftet und zum anderen Raum in einer ephemeren, in Bewegung begriffenen Eingrenzung herstellt: „Orte werden genutzt, aber nicht festgehalten. Ihnen haftet etwas Flüchtiges an“ (S. 102). Im beobachteten Harsh-Noise-Szenario wird auffällig, dass auch vermeintliche „unexpected dynamics“ einer Grenzhaftigkeit unterliegen. Man schreckt in der Situation im Ausprobieren nämlich vor einer drastischen Desorientierung eher zurück: Eine besonders schnelle Stroboskopeinstellung wird von den Anwesenden als zu heftig eingeschätzt und bereitet die Sorge, man könne auch unter Nicht-EpileptikerInnen Anfälle oder zumindest Übelkeit evozieren. Natürlich soll gerade Harsh Noise „extrem“ sein, auch experimentell, und doch einigt man sich darauf: Die „Desorientierung“ stößt an eine Grenze, wenn sie droht, körperlich für ein genuines Unwohlsein zu sorgen. Ein tatsächliches „Geschütteltwerden“ in einem medizinisch relevanten Sinn mag man schließlich nicht riskieren. Hier zeigt sich: Die augenscheinliche Grobheit von Noise unterliegt mitunter einer sorgfältigen Inszenierung, die auch Grenzen kennt. Hier bestärkt sich die Rolle der unerwarteten Dynamiken als Modus verlässlicher Ordnungsbildung.

6.10 L AUTSTÄRKE

VERSUS

F RAGILITÄT

VON

K LANGRÄUMEN

Wie das beschriebene „Eigenleben“ im vorangegangenen Abschnitt zu den „unexpected dynamics“ zeigte, handelt es sich bei schlüssigen Klang-Raum-KörperArrangements um ein fragiles, irritierbares Unterfangen. Im vorliegenden Teil will ich auf das Phänomen weiter fokussieren und hierbei in Vorbereitung auf das folgende Kapitel danach fragen, ob und inwiefern sich Noise etwa durch die Raum schaffende Qualität von Klang gegen allfällige Irritationen gleichsam immunisiert. Die Szenerie der folgenden Beschreibung ist diese: Zwei Jazz- respektive „Improv“-Musiker an Saxofon und E-Bass spielen mit mir ein gemeinsames Konzert in einem Wiener Kunstraum. Die Aufbau- und Vorbereitungsphase konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, über die Einbindung meiner Teilnahme (die lediglich per Notebook und Synthesizersoftware stattfindet) in puncto Positionie-

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 157

rung auf der Bühne zu entscheiden – beziehungsweise neben der Bühne: Dort werde ich nämlich zunächst positioniert, in einer sprichwörtlichen Außenseiterposition, die Noise und „echte“ Musik räumlich als voneinander getrennte Welten etabliert, bis mir einer der Musiker zu verstehen gibt, dass man das so im Sinne der Interaktion unter den Beteiligten nicht machen könne: Was der Kollege mir im Folgenden vorschlägt, ist ein notwendiges Sich-Einfügen meinerseits in ein für ihn schlüssiges Gesamtarrangement. Mein buchstäbliches Außenseiterdasein in der Situation wird also jäh beendet, und das wiederum macht mich zu einem Mitmusiker, der sich den Anforderungen des Zusammenspiels zu fügen hat, die darauffolgend partiell explizit gemacht werden: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Einer meiner Mitmusiker hat meinen Soundcheck von draußen gehört, und er sagt mir, das müsse man unbedingt leiser mischen. Es wird sich nun darum bemüht, die Verkabelung so zu arrangieren, dass ich auf der Bühne spielen kann. Wir holen aus der großen Ausstellungshalle ein etwas mitgenommen aussehendes Schrankelement, das als Tisch fungieren soll, sowie einen Stuhl, auf dem ich sitzen werde. Ich nehme meine Position auf der Bühne ein und probiere noch ein paar vereinzelte Sounds aus. Ein anwesender Freund meiner Kollegen findet, dass ich zu leise klinge. „It’s a new genre, Soft Noise!“ Ich entgegne bestätigend: „Old people’s Noise...“ Spürbar unzufrieden bin ich damit, dass mein musikalischer Beitrag ein wenig seiner unmittelbaren Lautstärke beraubt wurde.

Es scheint aus meiner Teilnehmerperspektive, als ob die Regulation der Lautstärke als Teilniederlage verbucht und im Folgenden durch Einsatz eines alternativen Instrumentariums dynamischer Irritationen ausgeglichen werden müsste, damit trotzdem die angestrebte Durchschlagskraft gewährleistet werden kann. Mein kompromittierter Einsatz wird von einem anderen Teilnehmer belächelt und offenbart darin ein erneutes Explizitwerden zugrundeliegender Ordnung im Sinn einer enttäuschten Erwartung: Noise sollte in seiner Erwartungshaltung nicht „soft“ sein, Noise sollte nicht leise sein. „Soft Noise“ wird von ihm als innerer Widerspruch ins Feld geführt, der in der dargestellten Situation nicht etwa als interessant und originell verhandelt wird, sondern schlicht als unzureichend. Unter AkteurInnen des Feldes kursieren Plausibilisierungen dieses Phänomens, wie ein Auszug aus einem Interview zwischen zwei Szenegrößen exemplarisch darstellt („I“ = Interviewer, „DF“ = Dominick Fernow, „WB“ = William Bennett): I: Does your music have to be played loud? DF: Yes.

158 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

WB: I would agree about Dominick’s music. I think so. Because there’s a threshold, isn’t there, where the music changes. And not all music sounds good loud. That’s not to say that everything should be loud, but certain types of music depend on a certain… […] I: Why can’t I listen to your music softly? DF: You can, but live it has to be loud. And it’s not about volume in itself, it’s about the world. If there are these other elements that come in and start interfering with that world, you lose it. You lose it very quickly. WB: The emotional and physical response doesn’t kick in until a certain volume […]. […] I think all music has its sweet spot in terms of volume.18

Folgt man dieser auszugsweise präsentierten Perspektive, vermag Noise gleichsam von der Abschottung der Außenwelt zu leben (das erinnert prinzipiell an die teleoaffektive Besinnung, siehe oben) – oder um es anders auszudrücken: Noise interagiert mit der Welt mitunter durch eine Abschottung, die nicht durch stummen Rückzug, sondern durch hohe Lautstärke gewährleistet wird. Dieser Hang zum „Aufdrehen“ unterbindet ein potenzielles Eindringen äußerer Einflüsse in die Klang- und Herrschaftssphäre: Noise immunisiert sich so gesehen in seinen extremeren Spielarten gegen die Fragilität von klangräumlichen Arrangements, wie sie in Hinblick auf CC Hennix’ Performance exemplarisch geschildert wurde. „It’s not about volume in itself, it’s about the world“ (Hervorhebungen von mir), lässt uns das obige Interviewfragment wissen und verweist damit auf ein praktisches Wissen um die Raum konstituierenden Qualitäten von Klang. „If there are these other elements that come in and start interfering with that world, you lose it“, fürchtet der Künstler. Von solchen „anderen Elementen“ nun handelt das nachfolgende Kapitel: Es zeigt, dass Noise mit seinem unverhohlenen Modus der Immunisierung gegen Störungen „von außen“ mitunter Reaktionen heraufbeschwört, die – im direkten wie im übertragenen Sinn – in vergleichbarer Lautstärke und Heftigkeit exerziert werden. „Innen“ und „Außen“ sind hier, wie ich zeigen will, in einer wechselseitigen Verstrickung miteinander vereint, die an das Sprichwort erinnert: „Keep your friends close but your enemies closer“. Konflikte entbrennen entlang der klangräumlichen Konstitution, entlang einer Bildung schwer verletzbarer „Territorien“, die nur durch eine starke, besonders drastische Gegenirritation verletzbar werden: Durch die Interaktionsmodi zwischen KünstlerInnen „einerseits“ und 18 Online: http://daily.redbullmusicacademy.com/2015/05/dominick-fernow-and-william -bennett-a-conversation, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Burns (2015).

6. K LANG -R AUM -K ÖRPER

| 159

Publikum „andererseits“ wird die Trennung beider Parteien, die uns räumlich und hierarchisch doch so einleuchtend scheint, erneut in mehrerlei Hinsicht hinfällig. In einer naheliegenden Metapher könnte man sagen: Lärm produziert als Reaktion noch mehr Lärm – oder schlicht: Gegenlärm. Diese Verschränkung ist Beispiel für ein umfassendes, verschiedene Haltungen, Leidenschaften und Kontexte konflikthaft wie schlüssig vereinendes doing sound. „Menschen beanspruchen Territorien und schützen sie vor Verletzungen durch andere“, konstatiert Miebach (1991, S. 118) in Anlehnung an Goffman. 19 Das genuine „Noise-Territorium“ ist per se schwer verletzbar, und wer es irritieren will, muss mit harten Bandagen kämpfen, das heißt: sich mit der performativ-klanglichen Drastik des Auftritts messen, sich selbst performativ auf Noise als lautes, „störendes“, irritierendes Phänomen einlassen. Daraus wird im Übrigen partiell verständlich, wie es – über die Sinngebung via Konflikt und Distinktion – möglich ist, dass für Gegenirritationen unter „Insidern“ eine paradox erscheinende Wertschätzung existiert: Ästhetisch-performativ ist sie den eigenen Repertoires doch viel zu ähnlich, als dass sie auf vollkommene Ablehnung stoßen könnte.

19 Gemeint sind hier freilich Goffmans „Territorien des Selbst“, „zu denen z.B. der um den Körper angeordnete ‚persönliche Raum‘ gehört, in denen andere Personen nur unter besonderen Bedingungen eindringen dürfen, oder bestimmte räumliche Reservate, die sich ein Individuum ausschließlich zu seinem eigenen Gebrauch vorbehält“ (Miebach 1991, S. 106). Die Bedingungshaftigkeit, unter denen solcherlei Räume anderen zugänglich oder permeabel sind, zeigt deutlich, dass ein Eindringen einer Ver letzung, gleichsam einer Irritation also, gleichkommt.

160 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

7. Kollektivität zwischen Dynamik und Routine 1

Im vorangegangenen Kapitel wurden entscheidende Diffundierungen zwischen KünstlerInnen und Publikum geschildert (siehe etwa 6.9. „Unexpected dynamics“: Das Unerwartete integrieren), die im Folgenden in Hinblick auf die konfliktintensive Kollektivität des Feldes perspektiviert werden sollen. Dem voran steht eine einleitende Diskussion zu Kunst als Katalysator für soziale Interaktionen. Die Konflikthaftigkeit jener Interaktionen in Hinsicht auf Noise zeigt sich in der teils bemerkenswert konfrontativen Qualität von Kommentaren, die durch Außenstehende oder „Zaungäste“ beispielsweise in Online-Debatten eingebracht werden – erneut also werden „Innen“ und „Außen“ als feste Größen relevant, und doch verschwimmt gerade diese Trennung in den nachfolgenden Fällen auffällig. Das offene Opponieren gegen Noise kennt als Alternative zum Verlassen von Konzerten (siehe Unterabschnitt zum „concert for one person“ im fünften Kapitel) auch performative Zuspitzungen im Zuge fortgesetzter Anwesenheit. In diesem Zusammenhang erscheint es mir adäquat, analytisch den Aspekt des „Konventionellen im Unkonventionellen“ zu vertiefen: in einer Wendung, die insbesondere nach dem Spannungsfeld zwischen Dynamik – vertreten in Erfahrungen des Krisenhaften – und Routine – vertreten in der beständigen Reetablierung entsprechender Performances – fragt. Im Rahmen dieser Fragestellung wähle ich episodisch einen krisentheoretischen Blickwinkel, der eine konstituierende Rolle der Unabgeschlossenheit von krisenhaft-dynamischen Phänomenen im Noise betont. In diesem Sinn will ich ein Verständnis von Kollektivität offerieren, das sich kritisch gegenüber jener Auffassung der Partizipation an Szenen positioniert, die Zugehörigkeit „als Konsequenz aus einem rationalen Entscheidungs1

Das vorliegende Kapitel basiert – mit Ausnahme von 7.3 und 7.4 – zu beträchtlichen Teilen auf Ginkel (2016).

162 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

prozess“ (Hoffmann 2014, S. 257) thematisiert. In den Vordergrund stellen will ich demgegenüber, dass Zugehörigkeit – abseits einer ausdrücklich erwünschten, intentionalen Inklusion – als ein Verstrickungsverhältnis gedacht werden kann, das die konstituierenden Beiträge offen opponierender TeilnehmerInnen gebührend anerkennt und die Grenzen zwischen KünstlerInnen, Publikum und nun auch offensiv in Erscheinung tretenden Zaungästen im Sinn eines umfassenden, multikontextuell gestifteten doing sound verwischt. Bemerkenswert ist hier, dass jener oppositionelle „Protest“, den Noise hinnehmen muss, selbst den ästhetischen Charakteristika von Noise verwandt ist. Es handelt sich um ein schlüssiges Phänomen, führt man sich die im vorigen Kapitel geschilderte „Immunisierung“ gegenüber Irritationen vor Augen, die ein barsches und lautes Auftreten provoziert, will man im Noise-Kontext „gehört“ werden. Die Zuspitzung um die Frage nach Dynamik und Routine fragt im Zusammenhang der beständigen Reproduktion konstituierender Kunstkonflikte nach der Regelmäßigkeit des „Krisenhaften“ sowie nach der Routine dessen, was in TeilnehmerInnenkonstruktionen zum Experiment und zur beständigen Veränderung tendiert. Die beständige, verlässliche Etablierung von Konflikten gründet auch auf eine fortwährende Rekrutierung2 „Außenstehender“. Um dieser besonderen Form der Kollektivität gerecht zu werden, adressiert ein nachfolgender Exkurs, inwiefern die sozialwissenschaftliche Theoriebildung den hier vorzufindenden Formen der Kollektivität gerecht werden kann. Punktuelle Anlehnungen wage ich an dieser Stelle an das Konzept der communities of practice sowie das der imagined communities. Hierbei geht es keinesfalls darum, die bestehenden Theoriegebilde durch den Fall Noise zu bestätigen oder zu illustrieren. Vielmehr ist mir daran gelegen, aus diesen Konzepten, die ich nicht für vollumfänglich auf Noise übertragbar halte, solche Impulse für die Auseinandersetzung mit Kollektivität zu gewinnen, die der Szenebegriff alleine nicht zu leisten vermag. Auf Grundlage der Diskussion um Szene, community und Kollektivität wird zuletzt noch das Konzept der Subkultur angerissen. In einer opportunistischen Anlehnung will ich hierbei den Blick auf „Beschlagnahmungen“, Umdeutungen und Transformationsprozesse eröffnen, die in der „Kernszene“ des Noise eine Rolle spielen. Erneut entspinnt sich die Argumentation an der Frage „Musik oder Krach?“ Die vorläufige Argumentation kommt an dieser Stelle zu dem Schluss, dass Umdeutungen und Transformationen nicht vollkommen abstrakt gedacht 2

Den Begriff der Rekrutierung bitte ich hier nicht misszuverstehen: Es ist nicht eine Rekrutierung voll und ganz intentionaler Natur gemeint: Analytisch meint das Rekrutieren ein verlässliches Versammeln von TeilnehmerInnen auf Grundlage praktischer Verstrickungen.

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 163

werden dürfen: Vielmehr ist ihnen mitunter die Arbeit an handfesten Materialien eigen, die die Transformation, die Verzerrung, greifbar und in ihren Spezifika nachvollziehbar machen. Hierbei zeigt sich im darauffolgenden Kapitel ein enges Verhältnis zwischen dem Konventionellen und dem Unkonventionellen.

7.1 K UNST

ALS

K ATALYSATOR

VON

I NTERAKTIONEN 3

Eine Soundkultur, die sich selbst nicht nur als abseitig, sondern eben auch als verneinend und als provozierend stilisiert (siehe viertes Kapitel im Abschnitt zum Gegenstandsbereich), mag ZuhörerInnen vertreiben, kann auf ein Publikum insgesamt aber keinesfalls verzichten: Konflikte, die im Rahmen künstlerischer wie kunstbezogener Praktiken initiiert und ausgetragen werden, leben auch von ihrer Sichtbarkeit in performativen Zuspitzungen. Liegl (2010) bemerkt in seinen Ausführungen zur sociology of attachment nach Gomart und Hennion, dass „der genießende Körper und die Musik als Genussobjekt gleichzeitig als aufeinander bezogene Entitäten praktisch hervorgebracht werden“, und es wird betont, „dass selbst so etwas scheinbar Passives wie Musik zu genießen ein praktischer Vollzug ist“ (S. 160). Im Anschluss daran plädiere ich dafür, die zitierte These zu weiten und ihr ausdrücklich einen Explikationswert über ein Verständnis von Genuss hinaus zuzusprechen. So spielt Genuss im weitesten Sinn für Insider im Fall von Noise zwar eine bemerkenswerte Rolle; zugleich aber geht es doch in entscheidendem Maß auch um Ertragen („being willing to be annoyed“) sowie um Irritation: um sprichwörtliche Provokation – im Sinne zudem von Provokation zur Handlung, wie durch die Auffassung von Kunst als „Katalysator für soziale Interaktionen“ (Zembylas 2004a, S. 65) offenbar wird. Als Voraussetzungen für die Verknüpfung von Kunst und Konflikt ist auf zweierlei zu verweisen: „Erstens müssen Menschen den Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst als signifikant erachten und ästhetischen Urteilen einen besonderen Wert beimessen. Zweitens scheint das Vorhandensein eines klaren Ziels bzw. materieller, politischer oder immaterieller Interessen, die durchzusetzen sind, notwendig zu sein, denn sonst würde die Motivation fehlen, um über Kunstangelegenheiten zu streiten“ (ebd., S. 66).

Auffächern will ich den Aspekt der Konflikthaftigkeit im Folgenden zunächst anhand einer punktuell krisentheoretischen Debatte. Diese definiert das Feld, wie

3

Das Unterkapitel greift Material aus Ginkel (2017) auf.

164 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

ich zeigen will, indem sie dazu anhält, die eigentliche „Szene“ über ihre definitiven Kernmitglieder hinaus auch auf die wichtigen Beiträge jener „Außenstehenden“ zu weiten, ohne deren Beteiligung an diskursiven und performativen Praktiken Noise nicht das wäre, was es ist. Erste Hinweise darauf wurden im Kapitel zu Hörkompetenz und Distinktion gestreut, wo das Verlassen von Konzerträumen soziale Distinktionsprozesse zugunsten der Verbleibenden begünstigt. In den nachfolgenden Fällen aber wird die Rolle der „Außenstehenden“ noch sichtbarer, denn sie verlagert sich in das Zentrum von Räumen, anstatt ihnen per Neuordnung äußerlich zu werden. Es kursieren in meiner Gegenstandskultur Haltungen und Leidenschaften, die den irritierenden, störenden oder ver-störenden Charakter von Noise betonen: Bei unbedarften HörerInnen wird durchaus mit Irritationen gerechnet, und für diese Provokationen herrscht innerhalb der „Kernszene“ eine vielsagende Wertschätzung – vergleichbar mit den „unexpected dynamics“ aus dem vorangegangenen Kapitel, aber auch in Form einer Anerkennung künstlerischer Provokationen schlechthin: So erzählt mir (im Folgenden: „K“) der Klangkünstler und Noise-Musiker Andreas („A“) im Rahmen eines Gesprächs in einem Berliner Café von seinen Kriterien für gute Kunst auch über Noise und Klangkunst hinaus, von provokativen künstlerischen Vorgehensweisen, die er „einfach wahnsinnig gerne“ mag: Interviewauszug, Juni 2012: A: […] Was ich auch ganz toll fand, war das – ich weiß gar nicht, ob du’s mitbekommen hast, hat gar nichts mit Klangkunst zu tun, aber – das Lamm, das da geschlachtet werden sollte...? Zwei Studenten haben, äh, eine Online-Abstimmung, äh, eine OnlineAbstimmung durchgeführt. Die haben sich da eben ein Lamm gekauft – K: Mhm. A: ...und, ähm, und haben eine Online-Abstimmung durchgeführt, ob es auf die Guillotine soll oder nicht. Äh (lacht). Und je nach dem – also, es ist im Endeffekt dann nicht geschlachtet worden – K: Ja. A: Ich weiß auch nicht, ob sie’s wirklich getan hätten, keine Ahnung, aber es geht einfach um diesen – es geht einfach um die, um die – zumindest [um den] Spaß an der Idee, die haben’s damit bis in die Bild-Zeitung geschafft. Ne? Also, das ist – also, das sind so Ideen, die ich einfach so lustig finde, und die ich irgendwie spannend finde, weil: Die machen halt einfach wirklich was mit dem Publikum, ja? K: Ja! Ja.

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 165

A: Also, da passiert wirklich was. Nicht nur: „Aha, spannend, cool, hat er gut pro grammiert!“ oder „Ist ja interessant, da kann man A nach B umwandeln!“, sondern das ist halt wirklich – die Leute haben sich aufgeregt wie sonst was! K: Na ja, klar! A: Und in dem Moment – also, plötzlich merkste: Leute, Ihr denkt ja wirklich – also: a) find ich’s wirklich krass, wie viel Aggressionspotenzial offensichtlich so ’n Kunstwerk hervorrufen kann – irre! Also, hätt ich nicht gedacht, dass wirklich noch so viel – dass die Leute sich wirklich noch über Damien Hirst aufregen, aber egal – K: Hm! A: Wirklich old school irgendwie, ne? Aber egal. Also, wirklich spannend, wie viel Potenzial da drinsteckt, Leute auf die Palme zu bringen und gleichzeitig aber auch die Augen zu öffnen, weil es halt einfach – also, genau in diesem Fall war’s halt wirklich so: Leute, es gibt doch wirklich – da soll einfach nur ’n Schaf – einem Schaf ganz human – oder ’n Lamm? Nein, ich glaub, es muss ’n Lamm gewesen sein – K: Mhm! A: Sonst hätt das als Symbol nicht hingehauen. Aber da soll einfach nur ’nem Lamm blitzschnell mit der Guillotine der Kopf abgeschlagen werden. So! K: So, wie’s ja so ähnlich ständig gemacht wird...? A: So, wie es die ganze Zeit passiert, und Ihr esst das die ganze Zeit! K: Ja, ja! A: Was zur Hölle is euer Problem damit? Weißte? Ernsthaft: Nur weil es keinen Sinn hat – was ist los? Also, das einfach mal so komplett kommentarlos aufzudecken, und dann auch noch in Form einer Online-Abstimmung das Volk entscheiden zu lassen – (lacht) K: (lacht) A: Fand ich irgendwie sehr tight, ne? Und solche Sachen mag ich einfach wahnsinnig ger ne, so Dinge, wo, wo so ’n bisschen Konfliktpotenzial drinsteckt und wo man Leuten auf die Füße tritt. (Interviewzitat, Juni 2012.)

Die im Gespräch dargestellte Selbstauffassung sei in ihren relevanten Punkten kurz zusammengefasst. Kunst, wie sie mein Gegenüber seiner Auskunft zufolge favorisiert, hat folgende Eigenschaften: Sie verfügt über Konfliktpotenzial. Sie hat zuweilen womöglich „keinen Sinn“, und doch „deckt sie auf“ (vgl. 5.1.2. „Hassliebe“ und „Katharsis“ als legitime Erlebnismodi), und mehr noch, sie ruft bei ihrem Publikum gar ein „Aggressionspotenzial“ hervor. Dieser Modus der Irritation nun wird als eine geradezu traditionelle Vorgehensweise verhandelt („Wirklich old school irgendwie, ne?“), zugleich aber als weiterhin effektiv. Das Gespräch suggeriert überdies, dass irritative Interaktionen mit dem Publikum einen wünschenswerten Mehrwert der Kunst gegenüber einer beispielsweise

166 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

„bloßen“ klanglichen Darbietung schaffen, die lediglich eine Anerkennung basaler Handwerklichkeit nach sich zöge („Aha, spannend, cool, hat er gut programmiert!“). Insgesamt freilich wird eine Wertschätzung gegenüber Modi der Irritation ausgedrückt, die der Welt der Kunst in der Tat nicht vollkommen neu oder unbe kannt sind. Diese Vorgehensweisen erscheinen hier wie spezielle Kompetenzen, die es KünstlerInnen erlauben, starke Reaktionen zu etablieren. An diesem Punkt komme ich zurück auf die Auffassung einer mitunter sadomasochistischen Beziehung zwischen KünstlerInnen und Publikum (siehe ansatzweise: 5.3. Den Saal leeren: Raum- und Körperordnung): Auch in einer Selbstdarstellung des amerikanischen Noise-Performers Mike Dando alias Con-Dom – eine Abkürzung für die vielsagende Kombination „control-dominance“ – lässt sich dementsprechend nachvollziehen, dass die Rolle des Katalysators in der Szene erwünscht ist und mitunter gar von einem quasi-pädagogischen Gestus begleitet wird, der klare Rollenverteilungen kennt: „Confrontation is the chosen method of education. Con-Dom generates brutality, pain, fear, hate (the instruments of control), so that the existence of the forces of control may be acutely felt, experienced and recognised. The aim is to provoke resentment/confusion/ambivalence, to upset and challenge conditioned expectation, to shatter preconceptions. […] Con-Dom invariably provokes a positive (or positive negative) reaction. In both cases, misunderstanding or misinterpretation is often at the root“.4

Nicht nur der künstlerischen, sondern schlussendlich auch der sozialwissenschaftlichen Perspektive mögen dementsprechend hervorgebrachte Konfrontationen zu einem Glücksfall gereichen. Garfinkel (1963) argumentiert in Hinblick auf Normalisierungen: „On the occasions of discrepancies between expected and actual events, persons engage in assorted perceptual and judgmental work whereby such discrepancies are ‚normalized‘. By ‚normalized‘ I mean that perceivedly normal values of typicality, comparability, likeli hood, casual texture, instrumental efficacy, and moral requiredness are restored“ (S. 188).

Der Verweis auf die praktische Wiederherstellung eröffnet nun den Blick auf die Besonderheiten der konfliktintensiven Reibungen, die die Rezeption von Noise in tragender Weise begleiten. Relevant wird in diesem Zusammenhang oft die 4

Online: http://media.hyperreal.org/zines/est/intervs/con-dom.html, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Taylor ([1992]).

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 167

enttäuschte Kontexterwartung, wie das folgende Beispiel demonstriert: Der Noise-Musiker Masami Akita alias Merzbow spielt im Jahr 2014 ein Konzert in der Reihe Boiler Room, die üblicherweise elektronische Musik präsentiert, die sich zum Tanz eignet. Entsprechende DJ-Sets sind daher der Normalfall, das Format zeigt aber auch Offenheit für avantgardistische Strömungen der elektronischen Musik. Eine Aufzeichnung des Auftritts findet sich online bei Youtube, und ZuschauerInnen weisen energisch darauf hin, dass die Musik von Merzbow für ihre Begriffe eine Irritation darstellt:

 

„I find it hard to believe that this can be enjoyed unironically. What’s the appeal?“ „WTF?! Boiler Room, this is not music, this is not a live set, this is not to dance. This is only noise. Please, filter them... I [don’t] care if Merzbow is famous, he is not a musician“.



„What kind of drugs do you need to be on to enjoy this? Sounds like a sound track to murder, is this just a big troll?!“5

Insbesondere der Hinweis „this is not music, this is not a live set, this is not to dance“ verweist darauf, dass Merzbows Auftritt implizite Erwartungen irritiert, die in Form der kommentatorischen Beschwerde(n) gleichsam explizit werden. 7.1.1 „Fuck off, ‚artist‘“: Opponierendes Kommentieren 6 Die Irritation der Kontexterwartung unterstreicht die Schlüssigkeit des normativen Eingriffs, wie er im Unterabschnitt zum „concert for one person“ (fünftes Kapitel) exemplarisch geschildert wurde. Den Aspekt von Irritation und Gegenirritation will ich in Hinblick auf das opponierende Kommentieren nun weiter zuspitzen und mich daraufhin solcher „Normalisierungsversuche“ annehmen, die Noise-GegnerInnen performativ aktiv in Konzertsituationen involvieren. Die Seite der Noise-MusikerInnen zeigt sich mit ihrem Außen zuweilen geradezu symbiotisch vereint in einer Art verbissener Gegnerschaft: Mit TeilnehmerInnen, die Noise als sinnfreien Krach von Nichtskönnern diffamieren, scheint man sich im Feld geradezu virtuos den Ball hin und her zu spielen. Man schätzt und würdigt den empörten Input einer „Gegenseite“, deren Beitrag zu den Praktiken des

5

Online: https://www.youtube.com/watch?v=fR_8gpJCT4I, zugegriffen am 10.02. 2016. Siehe Internetquellen: Youtube (2014).

6

Das Unterkapitel nimmt Material aus Ginkel (2015) und Ginkel (2017) auf.

168 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Feldes es ist, augenscheinlich an einen vagen Wertekodex zu appellieren: etwa den einer „echten“, einer „guten“, einer positiv inhaltsreichen Musik. Die Noise-affinen Klangkünstler Heavy Listening bewerben ihre LP WOW, auf der sich nur ein einziger Sinusbasston befindet, etwa mit einem Plakat, das das aufgeregte Unverständnis verlockend ironisch zum Verkaufsargument macht: „Fuck off, ‚artist‘“, heißt es darauf, und hier zitiert man, so sagen die Künstler, aus einer erbosten E-Mail, die man erhalten habe. Die Nachfrage, ob man auf das Projekt negative Reaktionen erhalten habe, erfüllt einen der beteiligten Künstler im Gespräch mit sichtbarem Stolz. Er gibt zu Protokoll: in der Tat, und zwar viele. Eine Schallplatte, die nur einen einzigen Sinuston enthält, ist in ihrer Reduziertheit ein provokantes Unterfangen7, dessen praktische Sinnstiftung entscheidend mit Modi sozialer Reibung einhergeht. Ein vergleichbares Kuriosum ist das Booklet der CD-Neuauflage eines veritablen Noise-„Klassikers“, dem erstmals 1985 erschienenen Album Great White Death der Gruppe Whitehouse. In diesem finden sich neben den vorrangig pornografischen Songtexten auch Auszüge aus zeitgenössischen Rezensionen der Musik. Diese jedoch wird hier nicht in den höchsten Tönen gelobt, wie es in der Kultur von „reissues“ in Pop und Rock gang und gäbe ist: Die Macher von Whitehouse zogen es ganz im Gegenteil vor, eine knappe Auswahl nur solcher Texte abzudrucken, die eine ablehnende Haltung gegenüber der Gruppe zum Ausdruck bringen. Im Begleitheft der 1997 erstmals erschienenen „special edition“ heißt es, an dieser Stelle der Prägnanz wegen nur auszugsweise zitiert: „Most concerned liberal writers have given Whitehouse a wide berth, but I think it’s just about time we organised a lynch mob for these sickos. […] They produce albums, dozens of them, like this – 40 minutes of a baboon playing with an amplified generator accompanied by some twisted middle-class kiddie ranting on about slicing up women. […] One individual tainted by their ideas is one far too many“ (Whitehouse 1997 [1985]). 7

Ein direkt musikalischer Sinn der LP existiert und soll an dieser Stelle freilich nicht verschwiegen werden: WOW ist darauf ausgelegt, in variierenden Tempi wiedergegeben zu werden – bespielt etwa mit den Händen. Werden mehrere LPs zeitgleich abgespielt, kommt es zu erwünschten Überlappungseffekten. Medial unterscheidet sich WOW also ganz erheblich von der handelsüblichen LP, dem Longplayer, der ein Album voll fertig produzierter Musik oder Klangproduktionen enthält. Die Platte von Heavy Listening verlegt die Produktion in den Prozess des Abspielens und verstärkt damit die aktive Involviertheit von ZuhörerInnen. Diese Verschiebung im arbeitsteiligen Prozess zwischen KünstlerInnen und HörerInnen halte ich für einen wichtigen Teil der WOW immanenten Provokation. Vgl. Heavy Listening (2012).

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 169

Außerdem heißt es hier in einem zweiten Text: „They thought that by doing a totally white noise thing that they were challenging the limits of the tolerance of their audience, when in reality all they were doing was standing up there and flipping on white noise switches… so what? […] I think that creativity is a factor and by them taking a stance of no creativity, no melody, nothing to offer to their audience, obviously they aren’t offering anything so why should they be on a stage? The ultimate statement for a band like that is to stay at home“ (ebd.).8

Der soziologische Zugriff muss ästhetische wie moralische Urteile, wie sie hier zum Ausdruck kommen, freilich einer spezifischen Perspektivierung unterziehen. Zembylas (2004b) argumentiert, dass Statements über künstlerischen Wert nicht auf moralische oder künstlerische Kategorien der Sorte gut versus schlecht, schön versus hässlich oder innovativ versus traditionell reduziert werden können: „Art judgments are complex in terms of structure and content because they involve differ ent concepts of art, objectives, values and cultural practices. It would thus be naïve to believe that such conflicts are only based on particular differences in taste and appreciation. On the contrary, aesthetic conflicts that are fought out in public almost always touch on basic questions of society“ (S. 386f.).

Bemerkenswert ist in Hinblick auf Noise, dass negative Kommentare hier mitunter nicht nur gerne zitiert, sondern durch die Integration in Form von Paratexten wie Liner Notes oder Poster zum Bestandteil des Werks werden. Den Praktiken etwa, die im genannten Fall zur Erstellung der „special edition“ von Great White Death in Summe und Wechselspiel beigetragen haben, wohnt ein quasikollaborativer Charakter9 inne, aufgeladen und gewährleistet durch eine gewisse

8

Das erste Zitat entstammt einer Rezension der genannten LP, geschrieben von John Gill für ein Magazin namens Time Out. Das zweite Zitat wiederum bleibt in seiner Herkunft unspezifiziert; es handelt sich um einen Auszug aus einem Interview, offenbar mit einer kleinen Gruppe von KünstlerInnen, die lediglich bei ihren Vornamen Mark und Johanna genannt werden. Jeder weitere Kontext bleibt ungewiss.

9

Manche LeserInnen – ob KünstlerInnen oder SozialwissenschaftlerInnen – mögen dieser Analyse mit Skepsis begegnen: kollaborativ? Mir geht es dezidiert nicht um eine Argumentation, die sich den Intentionen und Selbstauffassungen des künstlerischen Feldes anschließt, und doch ist sie selbst diesem zuweilen nicht fremd. Aus dem

170 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Leidenschaft, die sämtliche beteiligten Kontexte trotz ihrer oberflächlichen Unterschiede und der Anfeindungen untereinander eng verbindet. Naheliegend erscheint freilich in Bezug auf die Erschließung künstlerischer Gesellungsformen und der Rezeption kreativer Produktion zunächst ein Blickwinkel, der an eine Typologie von Szenen anschließt, wie sie beispielsweise von Hitzler und Niederbacher (2010) vertreten wird. So birgt eine entsprechende Betrachtung Chancen zur Erschließung jener „kulturellen Rahmenbedingungen des Erlebens […], die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in Aussicht stellen: ritualisierte Erlebnisprogramme in bedeutungsträchtigen Erlebnisräumen zu sinngeladenen Erlebniszeiten für symbolische Erlebnisgemeinschaften“ (ebd., S. 4).

Die Konzeption vororganisierter Erfahrungsräume, wie sie von den Autoren dargelegt wird, thematisiert die strukturelle Dimension einer entsprechenden Gesellungsform, und auch die angenommene Strukturierung von Szenen rund um so genannte Organisationseliten (vgl. ebd., S. 21f.) birgt fruchtbare Implikationen, die die vorliegende Studie in Auswertung und Reflexion meines empirischen Materials konzeptionell bereicherten. In mehrerlei Hinsicht allerdings soll meine Auseinandersetzung mit Kollektivität – an der Grenze zu einem offenen Begriff von Gemeinschaftlichkeit – über eine Typologie im Sinne Hitzlers und Niederbachers hinausreichen. Kurzum, die Kollektivität des Feldes darf sich nicht in der Auffassung von einer – mehr oder minder – rigide eingegrenzten Szene erschöpfen, an der durch bewusste Wahl partizipiert wird: Der Auseinandersetzung mit Noise und somit der Auffassung eines doing sound würde ein beträchtliches Erkenntnispotenzial abhandenkommen.

weiteren Musikbereich gibt es etwa zuletzt ein Beispiel, in dem die Inkorporierung von – hier: positiven – Kommentaren in eigentliche Kunstwerke sogar mit Anerkennung einer juristischen Teilurheberschaft gewürdigt wurde. So zitierte der US-amerikanische Songwriter Mark Kozelek in seinen Texten auf dem Album Jesu/Sun Kil Moon aus zwei Fanbriefen und bedachte die jeweiligen Einsender mit einer Namensnennung unter den Autoren der Stücke: „Those fan letters moved me and the timing of them fit perfectly into the work in progress that is my creative life. And hey, those fans technically wrote a percentage of the lyrics, so Justin and I gave them a writer’s share. Victor and Tanya are going to cash in!“ Zitiert nach Sun Kil Moon (2015). Online: http://www.sunkilmoon.com/interview_rainnwilson_markkozelek.html, zugegriffen am 10.02.2016.

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 171

Schatzki (2014) verweist mit dem Begriff der „art bundles“ auf ein konzeptionelles Instrumentarium, das es gestattet, zu einer theoretisch fundierten Erschließung der künstlerischen Praktiken zu gelangen, die jenseits einer Fokussierung auf individuelle Autorenschaft Perspektiven für eine Ausweitung der Analyse ästhetischer Erfahrung und Produktion eröffnet: „Experiences occur within bundles: people not only have aesthetic experiences while they perform actions that compose particular bundles’ practices, but qualities of their experiences reflect the actions performed and the artworks encountered“ (S. 29). Den Begriff der „art worlds“ nach Becker (2008 [1982]) weiterführend, erlaubt Schatzkis Betrachtung eine Gewichtung, in deren Rahmen die Aktivitäten von Individuen schlicht als Komponenten von „practice-arrangement bundles“ aufgefasst werden (vgl. Schatzki 2014, S. 22). Diese Auffassung ist hier produktiv in Hinblick auf die fließenden, mindestens diffusen Trennlinien zwischen KünstlerInnen und Publikum; sie erinnert daran, dass künstlerische Praxis ein Arrangement ist und nicht einfach Ergebnis intentionaler Handlungen klar abgesteckter Akteursgruppen. Um das „Miteinander im Gegeneinander“ weiter aufzuschließen, folgen nun zunächst krisentheoretische Überlegungen, die ein Spannungsfeld zwischen Dynamik und Routine im Zuge der wechselseitigen Verzahnung aufzeigen. 7.1.2 Krisentheoretische Perspektivierung Exemplarisch erinnert Maeder (2014) daran, dass die Erfahrung von Klang und Musik abhängig davon ist, in welchen Kontexten sie stattfindet: „Sound can […] be deployed to produce fear and dread. The sonic dimensions of conflict are old, and the militarization of sound has a long history from antiquity up to the torture of prisoners in Guantanamo Bay by very loud rock music“ (S. 432). Der militärische Einsatz von Rockmusik zu Folterzwecken ist freilich ein besonders extremes, dabei jedoch aufschlussreiches Beispiel: Durch körperlich-räumliche Arrangements wird der oftmals geradezu feierlich-aufbrausende „Charakter“ von Rockmusik einer situationsgebundenen Umdeutung unterzogen. Die Musik entfaltet eine quälende, zermürbende Wirkmächtigkeit abseits ihrer üblichen Erfahrungskontexte. Dieses dramatische, politisch mehr als brisante Beispiel zeigt besonders plastisch, dass es tatsächlich nur in die Irre führen könnte, würde man Klangerfahrung nicht innerhalb ihrer praktischen und situativen Etablierung begreifen. Künstlerische Kontexte kennen einen spielerischen Umgang mit der Beziehung von Klang und Situation. Das nachfolgende Beispiel zeigt in Anschluss an die Kommentare zu Merzbows Performance im Boiler Room, dass Noise insbe-

172 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

sondere dann auf spannungsreiche, Konflikt evozierende Reaktionen stößt, wenn beispielsweise Aufführungskontexte gewählt werden, in denen Noise ungewohnt ist und den üblichen Raum- und Körperpraktiken zu widerstreben scheint. Im Unterkapitel zum „concert for one person“ wurde ein vergleichbarer Fall vorgestellt, um die Normativität beim Spielen von Konzerten zu illustrieren. Der nächste Fall zeigt nun gleichsam die andere Seite der Medaille: Hier wird der Einsatz von denjenigen relevant, die der Normativität nicht folgen und „Noise als Musik“ ganz explizit in Frage stellen. Es ist nun vorläufiges Ziel der Auseinandersetzung, zu einem Verständnis von programmatischer Irritation und, wie ich zeigen will, auch kollektiv inszenierter Krisenhaftigkeit zu gelangen, das analytisch im Anschluss an die Wertschätzung opponierender Kommentare innerhalb des Feldes auf folgende Fragestellung abzielt: Kann krisenhafte Dynamik schlechthin nicht nur als Quelle respektive Ausdruck von Ungewissheit, sondern im gleichen Atemzug auch als konstitutiv agierender Motor produktiver Praktiken begriffen werden? Hierbei ist in Teilschritten zu ermitteln: Wie gestaltet sich die zu Grunde liegende Aushandlung im praktischen Vollzug? Wie gestaltet sich das Spannungsfeld von Dynamik und Reproduktion in Hinblick auch auf Normalisierungsversuche (siehe oben), die ihrerseits die programmatischen Interaktionsmodi etablieren? Schließlich ist, wie angedeutet, nach den besonderen Partizipationsformen zu fragen, die soziale Praktiken in der darzustellenden Weise gewährleisten und einen entscheidenden Beitrag zum doing sound insgeamt leisten. Zu Ulrich Oevermanns Krisenverständnis (vgl. allgemein Oevermann 2008), das nun als Stichwortgeber fungieren soll, fasst Jäger-Erben (2010) zusammen: „Der fundamentale Unterschied zwischen Krise (kulturelle Dynamik) und Routine (kulturelle Reproduktion) liegt in der Bestimmbarkeit von Erfahrung: Während im Routinefall die aktuellen Erfahrungen mit bereits gemachten identisch sind und Kategorien für deren Bestimmung und Deutung sowie Reaktions- oder Handlungsanleitungen vorliegen, ist bei einer Krise das Gegenteil der Fall“ (S. 19).

Um Irritationen fortlaufend zu beleben, ist Noise auf die Flüchtigkeit der Teilnahme von jenem „Außen“ angewiesen, das „nicht versteht“ und „nicht begreift“ (siehe fünftes Kapitel). Für jene angenommene Gruppe von TeilnehmerInnen scheint also die Bestimmbarkeit von Erfahrung im Rahmen flüchtiger Episoden perpetuiert zu versagen: Reaktions- und Handlungsanleitungen, so scheint es, liegen nicht vor. Oevermann (1996) bemerkt zur Erfahrung von Kunst, dass „in einem gelungenen Kunstwerk eine Krise der Abweichung und des Ausgesetzt-

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 173

Seins enthalten ist, die zugleich in der Erfahrungsartikulation eine Lösung erfährt, so daß uns das Kunstwerk die Lösung für eine Krise bietet, die es selbst erst uns überhaupt zu Bewußtsein bringt“ (S. 39). Befasst sich Oevermann mit einem Verständnis von Krise hinsichtlich ihrer abschließenden Bewältigung, so will ich hier speziell jene Spannungsmomente ins Auge fassen, die einer möglichen Bewältigung – im Sinn einer ethnomethodologisch gedachten „Normalisierung“ – vorausgehen: Es sind diese oftmals unaufgelösten Momente, die im Feld konflikthafte Routinen etablieren, denen im Übrigen mitunter eine auffällige Flüchtigkeit eigen ist: Anomische Zustände z.B., die sich jedenfalls grundlegend in der Nähe krisenhafter Dynamik verorten lassen, werden von Garfinkel (1963, S. 189) als wesentlich temporär charakterisiert. Im Noise sind sie von recht kurzer Dauer, wenn z.B. im Rahmen einer Konzertperformance für Irritation gesorgt wird. Diese ist daher einer beständigen Reproduktion oder Reetablierung unterzogen. Durch Anlehnung an Garfinkel will ich im Folgenden also einen Erkenntnisgewinn in Hinblick auf Krisenhaftigkeit argumentieren: Die implizit referenzierten Ordnungen, die durch das Werfen entsprechender Schlaglichter offenbar werden, sind hierbei selbstredend keine starren, von übermächtigen TeilnehmerInnen festgeschriebenen. Gerade durch das Zirkulieren von Krisenhaftigkeit als Impulsgeber von Normalisierungs- und Bewältigungsversuchen wird vielmehr der Blick auf beständige Formen der performativen Konfrontation eröffnet. Die „Aushandlung“ ist unabgeschlossen, und um Noise als ein Phänomen (klanglicher und immer auch performativer Natur) zu konstituieren, das im Sinn einer kulturellen Dynamik fungiert, muss sie eben das auch bleiben: unabgeschlossen, offen, beständiger Prozesshaftigkeit unterworfen. Die Dauerhaftigkeit, die der Irritation oder Störung ihre krisenartige Qualität verleiht, liegt im Noise weniger in fortwährender „individueller“ Betroffenheit, sondern vielmehr in der kontinuierlichen praktischen Hervorbringung, im Zuge derer flüchtige TeilnehmerInnen als Träger10 sozialer Praktiken (vgl. Shove/Pantzar 2005, S. 61) episodisch die Bühne betreten – im übertragenen, aber auch in einem zuweilen ganz buchstäblichen Sinn, wie an einem nachfolgenden Beispiel deutlich wird. Eine offene Anlehnung an die Goffman’sche Vorstellung von „creating a scene“ (vgl. Goffman 1956) schließlich zeigt für die vorliegende Ar-

10 Reckwitz (2003, S. 298) adressiert freilich neben humanen Trägern sozialer Praktiken explizit auch nichthumane Träger. In meiner Argumentation geht es im Sinn der flüch tigen Teilnehmerschaft vorrangig um humane Trägerschaft.

174 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

gumentation ein Herbeiführen von Dissonanz in manchmal planvoller, zumindest aber einkalkulierter Weise. 7.1.3

Involvierung per Drehtürdynamik: Die „Szene“ im doppelten Wortsinn

Eine vorläufig richtungsweisende Analogie auf Arten von konflikthafter Interaktion liefert ein Text aus der Szene selbst: Der Künstler Merzbow beschreibt im Booklet des schon vormals erwähnten Albums Music for Bondage Performance seine sicherlich vielsagende Deutung der japanischen Bondage-Kultur, der man kontextuell eine Beziehung mit der von Akita verwendeten Klangpalette unterstellen mag. Akita schreibt: „Japanese bondage has succeeded the tradition of seme (sadism), and now creates a rather calm and passionate atmosphere of an aesthetic, supported by an unmistakable craft. […], in Japanese bondage, the exchange of passion between the active and passive subjects is an axis upon which the act revolves“ (Merzbow 1991).

In diesem knappen Zitat lässt sich eine Miniatur auf das „Funktionieren“ der interaktiven Praktiken des Noise vermuten: Der Austausch von Leidenschaft zwischen TeilnehmerInnen – die einen aktiv, die anderen passiv – sticht besonders hervor und wird im Fall des Begleittextes von einem Verweis auf eine diffuse Kunstfertigkeit gerahmt. Von dieser Kunstfertigkeit mag man nun in einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung den individuellen Akteur als alleinige Schöpferfigur entheben und stattdessen auf eine kollektiv ausgestaltete Praxis verweisen, in der der Akteur aufs Äußerste auf ein paradox „kooperatives“ Gegenüber angewiesen ist. Die Klärung der Frage nach Dominanz und Kontrolle bleibt also nicht vollumfänglich den Selbstauffassungen der KünstlerInnen überlassen. Noise schließlich lebt von der Gegenprovokation – nicht nur in Kommentaren (siehe oben), sondern auch performativ. Anekdotenhaft zirkulieren Narrationen über heftige Publikumsreaktionen: Es ranken sich Geschichten um Mitglieder namhafter Noise-Gruppen, die von der Bühne ins Publikum hinabsteigen, um dort „Ärger zu machen“ durch Provokationen, vom Anschreien bis zum körperlichen Übergriff. In umgekehrter Weise gibt es derartige Grenzüberschreitungen ebenfalls. Die Rolle des Publikums ist hier bemerkenswert und betrifft solche Situationen, in denen HörerInnen nicht entnervt den Ort des Geschehens verlassen, sondern empört in die Konzertsituation eingreifen. Gewiss: Solcherlei Begebenheiten werden nicht oft erlebt, sie sind vielmehr als performative Zuspitzungen

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 175

typischer Provokations- und damit Interaktionsmodi zu denken, die gerade aufgrund dieser „Theatralik“ das Zeug zur Legende haben, die fortan auf MessageBoards und dergleichen Medien fleißig tradiert werden. Im Folgenden will ich das Geschehen in einem Wiener Club beschreiben. Es handelt sich um ein Konzert, das im stilistischen Spannungsfeld zwischen Noise und vergleichsweise „konventionell“ ausgestalteten Formen von Rock-Improvisation mit experimentellem Touch stattfindet. Dementsprechend zieht die Veranstaltung womöglich ein partiell „unvorbereitetes“ Publikum an – wie oben angedeutet, ist das eine günstige Voraussetzung für Irritationen. Die Band setzt sich aus vier MusikerInnen zusammen: Sie hat drei männliche Mitglieder und ein weibliches. Ein Mann spielt die E-Gitarre, eine Frau und ein Mann bedienen diversen Synthesizer und Keyboards, und ein weiterer Mann schließlich agiert als Sänger. Es wird über einen Zeitraum von etwas über einer Stunde ein für mein Empfinden durchgehender und dabei regelrecht homogener Klangbrei gespielt: geräuschintensiv, verzerrt und trotz perkussiver Elemente viel eher klanglich enervierend als rhythmisch mitreißend. Auszug aus den Feldnotizen, April 2014: Am rechten Bühnenrand hat sich eine Gruppe junger Frauen versammelt, die das Geschehen auf der Bühne mit Argwohn wahrzunehmen scheinen. Eine von ihnen, mit mittellangen Haaren und einem dunkelblauen Wintermantel, konfrontiert die MusikerInnen lautstark: „Play some music!“ Eine weitere Frau mit auffälligem Punk-Outfit springt darauf an und scheint vom Bühnen rand aus den Sänger zu beschimpfen. Dieser reagiert nicht oder gibt jedenfalls mit durchaus sichtbarer Anstrengung vor, sie nicht wahrzunehmen – das stachelt die Stimmung erst recht weiter an, und die Frau stellt sich nun frontal vor die Bühne, schreit den Sänger förmlich an. Als weiterhin nicht die offenbar erhoffte Reaktion erfolgt, stellt sie ein Bein auf die Bühne und stemmt die Hände in die Hüften, legt den Kopf als provozierende Geste zur Seite. Sie ist nun sicht- und spürbar zum Mittelpunkt der Veranstaltung geworden. Das „Passiv-Aggressive“, das Musik und Performance der Band sehr zentral ist, scheint soeben einen spürbaren, direkten, unvermittelten Niederschlag zu finden: Die Anspannung entlädt sich. Die Frau vor der Bühne bedeutet nun dem Sänger mit einer „lockenden“ Fingergeste, dass er doch mal von der Bühne zu ihr runterkommen solle. Keyboarderin und Sänger reagieren mit einem modifizierten Text, den sie singen respektive vortragen – sie wirken nervös, und die Frau vor der Bühne erhält sukzessive mehr Aufmerksamkeit. Mit ihren Gesten hört sie nicht auf, hat es nun offenbar auf die Keyboarderin abgesehen, die sie fixiert und mit abschätzi gen Gesten überhäuft. Dann überschreitet sie eine Grenze und betritt mit einem beherzten Schritt die Bühne. Sie stellt sich vor die Keyboarderin und beschimpft diese

176 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

lautstark als „bitch“. Die Musikerin dreht ihr Mikrofon weg, so dass der Eingriff ins Bühnengeschehen nicht verstärkt wird – das gelingt jedoch nur mäßig. Die Stimmung ist aufgeheizt. Die Frau stellt sich nun frontal vor die Keyboarderin, greift von unten an ihr T-Shirt und zieht es mit einer beherzten Bewegung nach oben, so dass sie ihren freien Oberkörper vor der Musikerin entblößt. Aus dem Publikum vernimmt man daraufhin kurz ein lautes Johlen. Die Störende verlässt nun die Bühne wieder, begibt sich zurück zu ihrer Clique. Die Band indes spielt noch ein paar Minuten, doch dann ist der Auftritt im Großen und Ganzen vorüber. Als die letzten Töne der Performance verklingen und die Band offensichtlich das Konzert beendet, schreit eine Frau aus der besagten Clique erneut: „Play some music! Where’s the fucking music?“

Hier nun greift Goffmans Auffassung von „creating a scene“, also „jemandem eine Szene machen“. Die „Szene“ als soziales Ereignis schließlich wird durch den Autor vom schlichten Fauxpas unterschieden, der grundlegend stets dem versehentlichen „Schnitzer“, dem peinlichen Missgeschick nahesteht: Goffman versteht unter einer Szene jene Situationen, in denen der höfliche Anschein von Konsens entweder zerstört oder im Mindesten bedroht wird. Der Autor unterstellt dem jeweiligen Akteur dabei nicht zwangsläufig eine Absicht, die einzig auf eine solche Hervorbringung von Dissonanz abzielt. Sehr wohl aber wird ein Wissen um den Umstand vorausgesetzt, dass diese Form der Unstimmigkeit hervorgerufen werden könnte (vgl. Goffman 1956, S. 133ff.). „Creating a scene“ erscheint zudem gerade deshalb passend in der vorliegenden Beschäftigung, da das gezielt Absichtsvolle zum Möglichkeitsrahmen gehört, aber keine zwingende Voraussetzung ist: Die Dissonanz wird mindestens in Kauf genommen, vielleicht intendiert – und mit Gewissheit ist sie kein Missgeschick. Dieses (nicht-)intentionale Spannungsfeld erscheint angemessen gerade in Hinblick auf die verlässlich inszenierte Indeterminiertheit, die Noise von Klett und Gerber (2014) zugeschrieben wird. Das klangliche und performative Geschehen in der oben beschriebenen Feldepisode scheint in der Tat in seiner schieren Unbestimmtheit zu reizen: Wir sind auf einem Konzert, und doch wird von Akteurinnen im Publikum behauptet und beklagt, dass hier gar keine Musik, sondern irgendetwas anderes gespielt werde. Ein Normalisierungsversuch wird provokant nicht nur artikuliert, sondern zur Performance auf der buchstäblichen Bühne gebracht. Offenbar wird an diesem Punkt die praktische Verzahnung von Klangerfahrung und einer „Interaktionskrise“ zwischen den sich nun deutlich aufspaltenden Parteien, zwischen denen es zur offenen Konfrontation kommt (vgl. hierzu Goffman 1956, S. 134): Ebenso, wie die Musik Artikulationsformen abseits gefälliger, schmerzlos nachvollziehbarer Strukturen und Ästhetiken wählt, so verfällt auch der be-

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 177

gleitende interaktive Austausch in ein von Barschheit getragenes Gebaren. Man schreit einander an; man beleidigt bzw. muss Beleidigungen hinnehmen; man begegnet einander provokativ, zum einen durch die Klangdarbietung und zum anderen dadurch, dass das „Territorium“ der Bühne, auf das die Band den Anspruch erhebt, sich (allenfalls gemeinsam mit TechnikerInnen oder Roadies) allein darin aufhalten zu dürfen (vgl. Miebach 1991, S. 119), mutwillige Verletzung samt verbaler und performativer Beleidigung erfährt. Krisenhafte Dynamik wird hier erlebt und performiert, ihre „tatsächliche“ Bewältigung aber tritt zurück gegenüber einer vorrangigen Reproduktion von Krise, von der Sinngebungen des Feldes zehren. Das Eindringen in das Territorium der MusikerInnen ist performativer Ausdruck des Dauerkonflikts um die Frage „Musik oder Nichtmusik?“ Diese freilich bleibt im Angesicht verhärteter Fronten situativ ungeklärt. Das Krisenhafte ist präsent und zentral, erfährt aber keine hinreichende Klärung, keine Bewältigung im eigentlichen Sinn. Das Geschehen zehrt hier davon, dass es von beiden Teams gemeinsam als konfrontativ konstituiert und erfahren wird. Es entsteht also auch über das sprachlich-diskursive Kommentieren (siehe oben) hinaus in situ performativ eine paradoxe Form der Kollektivität, die vertiefter Aufmerksamkeit bedarf. Insbesondere ästhetisch demonstriert man zudem eine eigenartige Verwandtschaft: Ebenso, wie Noise selbst als laut, schroff und störend auftritt, sind es auch die hier beschriebenen Handlungen performativer Opposition. In seinem kunstsoziologischen Standardwerk Art Worlds verweist Becker (2008 [1982]) auf einen potenziell weit gefassten Kooperationsrahmen künstlerischer Praktiken: „The discussion of art as collective action reflects a general approach to the analysis of social organization. We can focus on any event […] and look for the network of people, however large or extended, whose collective activity made it possible for the event to occur as it did“ (S. 369f.).

Essenziell erscheint mir darüber hinaus, in Anlehnung an Schatzkis Begriff der „art bundles“ (siehe oben), spezifische Formen von Kollektivität zu thematisieren, die über Gesellungsformen hinausreichen, die sich im konventionellen Sinn als kooperativ charakterisieren lassen. Als erster Schritt in einer Argumentation, die dieser tendenziell paradoxen Note gerecht werden soll, mag in einem dezidiert offenen Herantasten also eine Anlehnung an den soziologischen Szenebegriff fungieren: Hitzler und Niederbacher (2010) schreiben von „Zaungästen“ oder sporadischen TeilnehmerInnen, die unterhalb jener Gruppe von Szenegän-

178 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

gern, die als „Elite“ benannt wird, eine marginale Integration in die Struktur der Szene aufweisen (vgl. S. 184). Beteiligung an den Aktivitäten der Szene findet unter jenen Partizipationstypen episodisch statt, ist im Folgenden aber ausbaufähig: „Je regelmäßiger und intensiver […] Teilnahmen stattfinden, desto näher rückt die jeweilige Person typischerweise an den Szenekern“ (S. 184f.). Plausibel erscheint dieses Heranrücken im Übrigen in Hinblick auf das „Hören für Fortgeschrittene“: Wer in Noise-Situationen zunehmend verbleibt und die Hörerfahrung als reizvoll deutet, kann für sich im Zuge sozialer Lernerfahrungen und Deutungsvorgänge nach und nach spezifisch ausgebildete Hörfertigkeiten beanspruchen, die gegenüber anderen TeilnehmerInnen distinguieren. Im Sinn einer von Hitzler und Niederbacher adressierten Labilität (vgl. ebd., S. 195) können Szenen grundlegend als permeabel für flüchtige Partizipationsformen begriffen werden. Im Noise bedienen sich sinnstiftende Praktiken einer unter bestimmten Bedingungen gewährleisteten Durchlässigkeit. In paradox anmutender Weise werden solche AkteurInnen kurzzeitig integriert, deren Teilnahme eine erboste Ablehnung der klanglichen Konfrontationen artikuliert – sei es diskursiv oder performativ. „Creating a scene“ nun ist schlussendlich – mit bewusst spielerischer Note, zugegeben – im doppelten Wortsinn zu begreifen und referenziert, auf Noise angewendet, die Bildung von konflikthaft interagierender Kollektivität. Shove und Pantzar (2005) weisen darauf hin, dass Praktiken – ob alt oder neu – kontinuierlicher Reproduktion bedürfen (S. 61): Noise ist oder bleibt in diesem Sinn nicht irritativ oder (ver-)störend „aus sich selbst heraus“. Vielmehr ist es notwendig, dass Ablehnung artikuliert oder anderweitig „gezeigt“ (vgl. Schmidt 2012, S. 58) wird – in einer Art, die zum Feld in schlüssiger Weise beiträgt. Die Praktiken rekrutieren Träger (Shove/Pantzar 2005, S. 61) in Form flüchtiger, dabei spezifischer Partizipation. Im Sinne Garfinkels leben Krisen ohnehin, wie angedeutet, von einer ihnen immanenten Flüchtigkeit: So sollte etwa im Krisenexperiment, nach Miebach (1991), „durch die Manipulation der Situation die Versuchsperson gezwungen werden, die natürlichen sozialen Tatsachen zu rekonstruieren bzw. normalisieren, andererseits sollte die verfügbare Zeit zu kurz sein, um die Normalisierung erfolgreich beenden zu können“ (S. 166). Mag das Feld freilich nicht den strengen Vorgaben der Versuchsanleitung gehorchen, so mag man in der Kombination aus Knappheit und Verwirrung als Grundvoraussetzung für ein Offenbarwerden von Sinn und Ordnung doch eine Parallele erkennen: Die produktive Krisenhaftigkeit von Noise scheint von einem Überraschungsmoment zu profitieren. Es geht dabei um Noise als fortwährende „nasty surprise“ (Garfinkel 1963, S. 188), also –

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 179

wie schon in Kapitel 6 angerissen – als „Ruptur des Sozialen“ (Bergmann 2012, S. 3). Die irritativen Praktiken zehren kurzum von einer Flüchtigkeit der Teilnahme: davon, dass TeilnehmerInnen das Feld in einer Art Drehtürdynamik betreten, rasch zu TrägerInnen sozialer Praktiken werden, indem sie ihrer ästhetischen Entrüstung Luft machen und daraufhin wieder aus dem Fokus verschwinden. In diesem Sinn ist nicht erheblich, ob bei einzelnen TeilnehmerInnen das Deutungsproblem von Bestand ist: Denkbar ist schließlich allemal, dass sie selbst mit der Zeit zu Insidern werden. Es ist zunächst vollkommen ausreichend, ja sogar günstig, wenn die Teilnahme einer eng budgetierten Temporalität unterliegt. Die praktische Rekrutierung erfolgt in bedingungsreicher Weise entlang teildurchlässiger Außengrenzen einer Gemeinschaft, die ästhetischen Wert und Geschlossenheit ihrer Produktionen aus einem hier nur vermeintlichen „Außen“ gewinnt. Die Rekrutierung in diesem Sinn braucht dabei die verletzte Kontexterwartung. Noise trifft in einer meiner Beobachtungen z.B. auf ein weithin unvorbereitetes Publikum, als sich ein Konzert unzusammenhängend an eine vorherige Buchpräsentation anschließt – ein Teil des Publikums war nicht wegen Noise gekommen. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist das oben erwähnte Konzert von Merzbow in der Tanzmusik-affinen Reihe Boiler Room. Das Aufeinandertreffen ist einerseits für Noise essenziell, und andererseits findet es situativ nicht so häufig statt, wie es sich einige TeilnehmerInnen vielleicht wünschen würden. Dieser Umstand hat einen aufschlussreichen Effekt: Zuweilen nimmt das Feld seinen routinierten Zyklus aus Provokation und Gegenirritation schlicht selbst in die Hand. Die folgenden Beispiele zeigen, dass sichtbare, effektiv funktionierende Provokationen im Noise so wichtig sind, dass sie von Insidern zuweilen kurzerhand im Alleingang inszeniert werden, inklusive einer hier fiktiven Gegenseite. „We are here to stop the menace known as Noise Music“: Das war z.B. das Motto des offenkundig von Insidern der Szene initiierten Twitter-Kontos Mothers Against Noise11. In gleichem Ausmaß spielt Facts About Noise mit einer ironischen Zuspitzung einer suggerierten „Gefährlichkeit“ von Noise: „[Noise music] will make your teen a drugged out, violent sexfiend“; „Is your teenager going to try ‚#noise music‘ this weekend? Have a talk before its [sic!] too late!“; „Why!? Why does #PresidentObama stay silent about the dangers of ‚#noise music‘?“12 Die TeilnehmerInnen des „Außen“ können im Bedarfsfall schlüssig imaginiert

11 Online:

https://web.archive.org/web/20131204111146/https://twitter.com/Mothers

Against1, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Mothers Against Noise (2014).

180 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

werden. So wichtig ist der Sinnstiftung von Noise die soziale Reibung. Hier zeigt sich zugespitzt, dass Kunst nicht „aus sich selbst heraus“ wirksam (also gefährlich, provokant usw.) ist: Ihre Wirksamkeit ist immer sozial – das weiß der Noise. Wenn es an „echter“ Sozialität mangelt, wird das Gegenüber kurzum artifiziell geschaffen.

7.2 D YNAMIK

VERSUS

R OUTINE

Im dargestellten Fall wirkt das Krisenhafte konstitutiv, und die zu Grunde liegenden Konflikte bleiben dabei weithin ungelöst, sorgen in Variationen für immer neue und dabei doch althergebrachte Konfrontationen. Noise ist hier in einer impliziten Sinngebung mit dem Imperativ betraut, durch die routiniert entflammenden Konflikte fortwährend Situationen zu reproduzieren, in denen Irritation im Sinn von Ungewissheit gestiftet wird. Garfinkel (1963) spricht von „[situations] in which [a person] is unable to ‚grasp‘ what is going on“ (S. 189) – im vorliegenden Fall: neuartig, fremdartig und somit in fortlaufender Bindung eng vereint mit implizit referenzierten Modi von Normalität und Ordnungen. Konstituierung von Krisenhaftigkeit findet so im Sinn einer künstlerisch und ästhetisch konstruktiven, in jedem Fall produktiven Programmatik statt – und damit unbedingt auch selbst im Sinn einer perpetuierten, wenngleich kreativen, konvergenten Ordnungsleistung. Eine Anerkennung praktischer Ordnungsleistungen kann die analytische Skepsis gegenüber Auffassungen nähren, die in Hinblick auf Noise genuin chaotische Zustände, Regellosigkeit oder vollkommene Unvorhersehbarkeit behaupten. So verlangt meine Auseinandersetzung eine kritisch fragende Positionierung gegenüber dem Begriff der „Indeterminiertheit“, wie er von Klett und Gerber (2014) umrissen wird: „Lacking a formal musical structure, indeterminacy is central to the construction of Noise. This refers to not just stochastic sonic forms, but also indeterminate interactivity in performance“ (S. 279). Demgegenüber ist, wie ich hier wiederholen will, nach Reckwitz (2003) dem Schaffen gemeinsamer Sinnwelten gebührende Aufmerksamkeit zu schenken: Zum Einsatz kommen dabei „implizite soziale Kriterien“, die angemessene Routinen begünstigen und in deren Kontext „Gegenstände und Personen eine unbewusst gewusste Bedeutung besitzen“ (S. 292). Der Begriff der Indeterminiertheit dehnt die Auffassung von Kriterien und Repertoires tendenziell im Sinn eines allzu buch12 Online: https://twitter.com/FactsAboutNoise, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Facts About Noise.

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 181

stäblichen „anything goes“, das einer vertiefenden Analyse nicht zuträglich scheint: Indeterminiertheit verweist begrifflich auf ein potenzielles Durchdringen oder Überschreiten schlüssig geschaffener Sinnwelten. Indeterminiertheit ist aus ethnographischer Perspektive daher keine abschließend „treffende“ Beschreibung des Sachverhalts. Sinnvollerweise geht es vielmehr darum, den im Feld schlüssigen Eindruck der Indeterminiertheit als Resultat einer komplexen und widersprüchlichen Arbeitsteilung zwischen unterschiedlich „positionierten“ TeilnehmerInnen zu rekonstruieren. In der Selbstauffassung der Szene erscheint der Begriff allgemein anschlussfähig an die Vorstellung des „Experimentellen“. Zugute halten muss man der Analyse von Klett und Gerber fraglos, dass sie jedenfalls zeigt, dass die Indeterminiertheit innerhalb des Feldes einer verlässlichen Reproduktion folgt (vgl. Klett/Gerber 2014, S. 287). Von TeilnehmerInnen kann das „Indeterminierte“ also zuverlässig erkannt und im Sinn der Provokation zielsicher inszeniert werden (in diesem Zusammenhang sei auch an die Ausführungen zu den „unexpected dynamics“ erinnert). Die Annahme einer Unbestimmtheit oder womöglich gar einer Regellosigkeit ist auch in anderen sozialen Gruppen anzutreffen und erfüllt dort einen besonderen Sinn, ist der alltäglichen Praxis der jeweiligen Gruppe nicht arbiträr gegenüber, wie exemplarisch Law und Mols bereits erwähnte Beobachtungen der Religionsgemeinschaft der Quäker zeigen, die im Unterkapitel 6.7. Soziomaterielle „companionships“ schon einmal erwähnt wurden: „So this is the theology: that there is no theology. The Quakers take it that a systematic theology of mysticism would be self-contradictory: the idea that one might tell of, delin eate, demarcate or measure a God whose peace passeth all understanding simply makes no sense“ (Law/Mol 2003, S. 25).

Es mache keinen Sinn für TeilnehmerInnen der Meeting for Worship genannten Zusammenkünfte, einem diesbezüglich expliziten Regelwerk zu folgen. Stattdessen findet, so die AutorInnen, durch AkteurInnen eine Beobachtung von Praktiken statt, etabliert sich das durchaus geordnete Geschehen nicht durch eine – im wörtlichen Sinn – festgeschriebene Liturgie, sondern in einem einerseits irgendwie vagen, dabei aber niemals beliebigen Gesamtarrangement: „There are definite arrangements of this and that: chairs, table, flowers, texts, advices, plans, clocks, times, queries. There are people whose job it is to close the meeting, hearing loops, space-heaters, telephones, meetings, diaries“ (ebd., S. 26) – und so weiter. Das Geschehen ist nur insofern frei von Bestimmtheit, als es einer impliziten Ordnung folgt, die in praktischer Routinisiertheit wieder und wieder eta-

182 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

bliert wird – und nicht der strengen Choreografie eines samt und sonders expliziten Regelwerkes. In einer Anerkennung jener impliziten Ordnungsbildungen kulminiert die vorliegende Studie in der Frage, was von Noise-KünstlerInnen praktisch gewusst und gekonnt wird und wie sich das Verhältnis zu Ordnung und konventioneller Form hier allgemein konstituiert. So, wie nämlich die irritierten „Zaungäste“ oder „Außenseiter“ sich performativ auf ein Noise-charakteristisches doing sound einlassen – drastisch, laut, konfrontativ –, so ist auch der Modus der Verzerrung bei aller ihm eigenen Irritation ein wechselseitiges und gekonntes Unterfangen. Einer Hinführung auf die Wissensthematik steht nun noch eine theoretische Vertiefung der Formen von Kollektivität voran.

7.3 E XKURS : Ü BER DAS M ITEINANDER IM G EGENEINANDER – EINE THEORETISCHE ANNÄHERUNG Ein gesonderter Fokus auf die Kollektivität sozialer Praktiken erscheint mir notwendig, will man in der Analyse der produktiven Komplexität jener Verstrickungen Rechnung tragen, die die Praktiken des Noise in Summe und Wechselspiel konstituieren. Die communities of practice nach Lave und Wenger zeigen als ein arbeitspädagogisches Konzept, dass sich die Beziehungen von TeilnehmerInnen im Rahmen eines gemeinsamen Erlernens und Erarbeitens potenziell nicht nur durch Harmonie und ein absichtsvolles partizipatives Zusammenwirken auszeichnen: Jene Beziehungen können darüber hinaus Eigenschaften wie Spannung oder Konflikt an den Tag legen (vgl. hierzu Holmes/Meyerhoff 1999, S. 176). Dieser Blickwinkel gestattet es, konflikthafte Kollektivität nicht lediglich als ein flüchtiges Aufeinanderprallen einander opponierender Lager zu begreifen. Vielmehr erlaubt es diese Perspektivierung, offen über einen geweiteten Begriff von Zugehörigkeit nachzudenken. Diese Zugehörigkeit mag nur episodisch beobachtbar sein und wechselnde TeilnehmerInnen im Sinn einer Drehtürdynamik rekrutieren; und doch ist sie – mit Betonung auf den Praktiken insgesamt gegenüber den im Einzelnen beteiligten Personen – weit mehr als eine flüchtige Begegnung. Entgrenzung im Sinn der Kollektivität muss hierbei freilich beiderseitig gedacht werden. Yanow und Tsoukas (2009) betonen: „Practitioners, like others, act in a world already interpreted and already constituted; they achieve understanding through being and acting in it, not through isolated cognition of it“ (S. 1349). In diesem Sinn ist es nur schlüssig, Kreativität, die ihrerseits in populären Diskursen oftmals ganz selbstverständlich den Akten individueller Inspiration,

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 183

gewissermaßen dem genialen Geistesblitz, zugeordnet wird, konzeptionell einer möglichst weit reichenden, möglichst konsequenten Öffnung zu unterziehen. Diesbezüglich sind Austausch, Verhandlung, performative Konfrontation, gemeinhin Kommunikation und leidenschaftliche Positionierungen hervorzuheben. Mögen KünstlerInnen – durch ihr eigenes Auftreten oder aber auch durch Berichterstattung und weitere Praktiken der Eigen- und Fremdinszenierung sowie des Erzählens – oftmals als individuelle Schöpferfiguren in Erscheinung treten, so erscheint es mir im Feld von Noise naheliegend, mit jener Auffassung zu brechen und vielmehr die Rolle des Sozialen, von Gemeinschaftlichkeit und von „Quasi-Kollaboration“ hervorzuheben. Man kann sagen, dass Becker (2008 [1982]) die Rolle von Kollektivität in künstlerischer Praxis schon früh gezeigt hat, dass dieses Phänomen im Noise jedoch eine analytisch interessante Ausprägung im Hinblick auf konflikthafte Kollaborationen erfährt. Noise wird also zu dem, was es ist, im Zuge einer Kollektivität, die vielleicht nicht genuines Miteinander, wohl aber Wechselspiel ist. Das „eigentliche“ Schaffen und die Reaktion sind eng miteinander verbunden und teilen sich in Kommentaren, die in Kunstwerke inkorporiert werden, oder in den dargestellten Störungen von Konzerten buchstäblich dieselbe Bühne. Mit Gobo (2008) lässt sich sagen: „[The] majority of social actions are preceded, accompanied or followed by comments. Indeed, comments are part of the action itself“ (S. 171). Dieses Amalgamieren von Kommentar und Handlung findet sich etwa im Plakat „Fuck off, ‚artist‘“ greifbar in Form eines Artefakts wieder. Das bedeutet: Der beiderseitig offene Kollektivitätsgedanke benötigt ein spezifisches Verständnis von Materialität – dieses will ich weiter unten explizieren. Insgesamt steht der Begriff der community in meiner betont geweiteten Auffassung also nicht zwangsläufig für ein intendiertes Miteinander im Sinn einer Szene, in deren Rahmen sich „Gleichgesinnte“, die möglicherweise über einen ähnlichen Geschmack, ähnliche Weltanschauungen und einen ähnlichen Kleidungsstil verfügen, zusammenfinden und absichtsvoll organisieren. Wenger betont in Hinblick auf ihren Begriff von communities of practice: „[The community] has an identity defined by a shared domain of interest“ (Wenger 2006, S. 2)13. Interesse bzw. Leidenschaft muss möglicherweise stark als verbindendes

13 Bewusst zitiere ich hier einen Text, der von Wenger als basale Einführung in das Konzept auf seiner Website vertrieben wird: Der dezidiert unkomplizierte Stil eignet sich gut zur Diskussion der Aspekte, die ich für meine Belange für fruchtbar halte. Als einschlägige Buchpublikation sei der Vollständigkeit halber auf Wenger (1998) verwiesen.

184 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Element betont werden, das sich jedoch – etwa in Fragen der Bewertung – in ganz verschiedenartigen Ausprägungen niederschlagen kann. Besonders interessant erscheint mir der viel sagende Zusatz: „You could belong to the same network as someone and never know it“ (ebd.). Wenger hält fest: „The impressionists, for instance, used to meet in cafes and studios to discuss the style of painting they were inventing together. These interactions were essential to making them a community of practice even though they often painted alone“ (ebd.). Bereits an dieser anekdotischen Darstellung wird offenbar, dass künstlerische, im weitesten Sinn „kreative“ Praktiken im Rahmen einer Betrachtungsweise analysiert werden können, in der Kollektivität nicht mit scharfen, sondern vielmehr mit teildurchlässigen Außengrenzen gedacht werden kann. Diese Durchlässigkeit ist in den von mir geschilderten Fällen niemals der Beliebigkeit unterworfen. Künstlerische, soziotechnische Praktiken sind als ein ausgesprochen weiträumiger sozialer Austausch anzunehmen. Wie aber ist in Fragen der community der offenkundigen Problematik zu begegnen, dass sowohl Online-Diskussionen als auch Konzertbegegnungen, wie dargestellt, ein flüchtiger Charakter, gar im Sinn einer Drehtürdynamik (siehe oben), innewohnt? Das Konzept der communities of practice jedenfalls betont die „sustained mutual relationships“ (Holmes/Meyerhoff 1999, S. 176) unter Mitgliedern. Auch im Noise freilich geht es um „sustained relationships“, aber nicht zwingend zwischen gleichbleibenden Personen, sondern vielmehr im Sinn einer Praxis der beständigen Involvierung unterschiedlicher TeilnehmerInnen, „Zaungäste“ etc. Eine Grenze, an die die vorgeschlagene Verwendung des Konzepts der communities of practice stößt, wird also durch den Aspekt der Mitgliedschaft hervorgebracht: Die theoretische Unterscheidung zwischen „core membership“ und „peripheral membership“ (Holmes/Meyerhoff 1999, S. 179) konfrontiert die vorangegangenen Überlegungen mit scharfen Trennungen im Sinn verschiedener Positionen oder Lernstufen. Solche Trennungen eignen sich für eine analytische Beschreibung von Noise nur bedingt. Schatzki (2003) betont in Bezug auf die grundlegende Beschaffenheit sozialer Praktiken im Verhältnis zu individuellen AkteurInnen: „The actions that compose a practice are to be sure, ones specific individuals perform. But the organization of a practice is not a set of properties of specific individuals“ (S. 192). In diesem Sinn könnte das Posten oder Versenden eines Kommentars, eine leidenschaftliche Äußerung also in einem öffentlichen und/oder virtuellen Raum, als Handlung begriffen werden, die einer bestimmten, klangbezogenen Pratik im Sinn des doing sound inhärent ist. In dieser Handlung, so zentral sie auch erscheinen mag, entspinnt sich daher noch nicht die volle Organisations- und Be-

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 185

deutungslogik der Praktik(en) per se. Man könnte nun aus einem alltagsweltlichen Verständnis heraus hypothetisieren, dass MusikerInnen, KünstlerInnen, ProgrammiererInnen, DistributorInnen etc. den „harten Kern“ des Noise an tatsächlichen „core members“ bilden, während diejenigen AkteurInnen, die flüchtig etwa einen Artikel kommentieren, eine Rezension schreiben oder ein Konzert gezielt stören, allenfalls zur Peripherie zu zählen sind – ganz im Sinn der „Zaungäste“ einer Szene (siehe oben). Intuitiv mag es sich hierbei um einen naheliegenden Schluss handeln, doch es erscheint mir fruchtbarer, eine Perspektive zu wählen, die es gestattet, auch die flüchtige, jedoch immanent wichtige, konstituierende Tätigkeit des leidenschaftlichen Kommentierens oder der performativen Gegenirritation zu den Kernpraktiken des Noise zu zählen. Mein Argument ist hier eines, das schlussendlich über den unmittelbaren Forschungsgegenstand hinausreicht: Es fordert dazu auf, die breite Fülle an Verkettungen empirisch ernst zu nehmen, die Felder der ForscherInnenperspektive anbieten. Multikontextuell ist ein solches Explorieren im Sinn des Begriffs der social sites nach Schatzki (2003) – „where social life exists and develops“ (S. 178) zu begreifen. Demgemäß kann am Ende selbst Autorenschaft – entgegen ihrer juristischen Auffassung – als eine relativ breit gestreute soziale Praktik gefasst werden. (Ohnehin bin ich der Auffassung, dass sich sozialwissenschaftliche Analysen von juristischen Wissensbeständen unterscheiden dürfen.) Gruzd et al. (2011) thematisieren in einer Auseinandersetzung mit Twitter als imagined community nach Benedict Anderson die Herausforderungen, die die Auffassung von Gemeinschaft im Zusammenhang mit den oftmals fluiden Praktiken der Netzkultur birgt. Das Konzept der imagined communities14 will ich nun im Sinn der Fluidität meiner beobachteten Partizipationsformen opportunistisch aufgreifen, denn nach meinem Dafürhalten betrifft etwa die in Booklets und Plakaten greifbare Materialität allemal „the social life of documents“, wie es durch Brown und Duguid (1996) – ebenfalls in Anlehnung an Anderson – dargestellt wird: Die Autoren stützen sich auf Andersons Konzept, um besondere Formen der Vergemeinschaftung qua Materialität in Hinsicht auf Dokumente nach-

14 Nebenbei bemerkt vermute ich, dass community hier von einem amerikanischen Verständnis geprägt ist, das nicht dem Begriff von Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum identisch ist: Community meint womöglich ganz direkt die Nachbarschaft oder die Kommune. Für meine Argumentation mache ich mir die beiden communityKonzepte jedoch in opportunistischer Weise zunutze, was bedeutet, dass diese vermu tete Gewichtung keine durchschlagende Relevanz hat, gleichwohl aber nicht verschwiegen werden sollte.

186 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

zuzeichnen: „An American will never meet, or even know the names of more than a handful of his… fellow-Americans. He has no idea of what they are up to at any one time“, heißt es in jenem Kontext (Abs. 4). Gleichwohl erhält eine spezifische Sorte der Vorstellung Einzug in die dargestellten Umstände: „The mirror of their culture is held up to them in their newspapers“ (ebd.). Community ist hier eine imaginierte kulturelle Rückspiegelung. Sie wird durch die praktische Rezeption und Deutung der relevanten Dokumente (wie einer Tageszeitung oder auch der Verfassung eines Staates) offensichtlich erst in ihrer Erfahrbarkeit sozial mithergestellt und plausibilisiert. Bevor ich eine Verbindung dieser Idee mit meinem Forschungsgegenstand versuche, muss mehrerlei klargestellt werden: Dokumente aus dem Noise-Kontext – wie Artikel, Booklets, Plakate und auch Klangaufnahmen selbst – sind nicht das gleiche wie die Verfassung eines Staates, auch nicht das gleiche wie eine Tageszeitung. Zudem ist es ebenfalls nicht an den Adressaten der „NoiseDokumente“, sich durch einen Bezug auf sie einer tatsächlichen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Um all das geht es nicht. Die Gewichtung ist andersartig: Mir geht es nicht um ein Zugehörigkeitsgefühl, sondern um ein analytisches Argument: Auch die Dokumente des Noise spiegeln mitunter wider und kreieren eine verstrickungsreiche Form der Kollektivität, oftmals getragen von leidenschaftlichen Positionierungen unterschiedlicher Art (die selbstverständlich stets eine körperlich-performative Seite kennen, die im Beispiel der „Dokumente“ etwas zu kurz kommt). Im Fall des Konzertplakats „Fuck off, ‚artist‘“ oder der Liner-Notes zu Great White Death wird durch Dokumente angezeigt, welche relevanten TeilnehmerInnen zur Stiftung von Sinn beitragen: nicht nur die jeweiligen Künstler selbst, sondern auch die paradox integrierte Gegenseite. Ein gemeinsames Sich-auf-etwas-Beziehen kann gedeutet werden als ein doing taste, das Gemeinsamkeiten im Anzeigen von Unterschieden offenbart. Es findet eine flüchtige Bindung statt: In relevanten Kontexten, von der OnlineDebatte bis zur Störung von Konzerten, werden sinnstiftende Unterschiede kooperativ verdichtet und performativ überhöht. Kurzum, es findet eine praktische Konturierungsarbeit statt, die für das Anzeigen von Unterschieden und Leidenschaften theatralische Schaubühnen schafft. Im Gespräch unter Gleichgesinnten und in anderen Kontexten, die weniger zur Zuspitzung neigen, fehlt das direkt involvierte Gegenüber, das die Konturierung aktiv verstärkt. Carl Andre, dem amerikanischen Bildhauer des Minimalismus, wird der viel zitierte Ausspruch zugeschrieben: „Kunst ist, was Künstler tun“ (vgl. Ammann 1999). Dieser Ausspruch, bezeichnenderweise selbst durch einen Künstler artikuliert, ist zweifellos scharfsinnig und vernachlässigt trotzdem die soeben skiz-

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 187

zierte Dimension der „Quasi-Kollaboration“, die auf ein mitunter schwieriges, konflikthaftes, letztendlich aber doch zentrales, vielleicht sogar notwendiges Miteinander im Gegeneinander verweist. Kunst erscheint als das, was durch Künstler – an vorläufigen Endpunkten sozialer Aushandlungsprozesse – inszeniert, gleichsam in Form gebracht wird, von der Präsenz weiterer, in diesem Sinne zentraler KontributorInnen aber abhängig ist – so abhängig, dass man aus rein soziologischer Perspektive das Verständnis von Autorenschaft für meine Begriffe mit Bedacht weiten sollte.

7.4 S UBKULTURELLE „B ESCHLAGNAHMUNG “

UND

U MDEUTUNG

Nachdem im Vorangegangenen der Szenebegriff sowie weitere Formen der Kollektivität diskutiert wurden, will ich nun noch ein letztes Konzept dieser Art ins Feld führen, das in Vorbereitung auf das Folgekapitel einen weiteren Erkenntnisgewinn mit sich bringt: die Subkultur. „Ein subkultureller Stil“, so Chaker (2014) in einer Zusammenfassung der Begriffe „youth culture“, Subkultur und Szene, „bildet sich, indem signifikante Objekte aus der ‚Matrix des Bestehenden‘ […] selektiert, transformiert und so umgruppiert werden, dass neue Bedeutungsmuster und Diskurse entstehen“ (S. 54). Wie die Autorin weiter ausführt, würden Objekte „gestohlen“ und für eigene Zwecke „beschlagnahmt“. Die Annahme kulminiert im Begriff der bricolage nach Claude Lévi-Strauss: Der Begriff meint Neuordnung und Rekontextualisierung von Objekten, um neue Bedeutungen zu kommunizieren (vgl. ebd.). Nun geht es mir nicht darum, das Konzept der bricolage vollumfänglich auf meinen Forschungsgegenstand anzuwenden: Es soll stattdessen opportunistisch behilflich sein, ein erstes Schlaglicht auf Prozesse von Rekontextualisierung zu werfen, die im Folgenden einer weiterführenden Analyse unterzogen werden. Die Umdeutung wird zunächst erneut in einer sehr basalen Normativität dargestellt, verwandt dem „concert for one person“. Daraufhin folgt eine Auseinandersetzung mit Modi der Verzerrung im Sinn einer Materialbearbeitung. Inwiefern Noise zentral Umdeutungen leistet, die in der Tat als ein „Stehlen“ und „Beschlagnahmen“ von Objekten für eigene Zwecke verstanden werden können, zeigt exemplarisch die im Frühjahr 2015 erschienene Zusammenstellung Swift Noise – A Tribute to 8 Seconds of Noise. Das Konzept hinter dieser Veröffentlichung demonstriert, wie Fehl- und Störgeräusch im Sinn von Noise in Musik übersetzt werden kann. Die Zusammenstellung, die über die Plattform Bandcamp gratis vertrieben wird, ist ein Album gewordener Deutungs- und Be-

188 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

glaubigungsvorgang. Zentrales Objekt, das der Beschlagnahmung unterliegt, ist das Stück Track 03 der amerikanischen Popsängerin Taylor Swift: ein Lied, das zunächst versehentlich in fehlerhafter Form, nämlich als acht Sekunden Störgeräusch, herausgegeben wurde und der Noise-Community sogleich ein „gefundenes Fressen“ wurde. Die Intention hinter Swift Noise will ich in den eigenen Worten des Initiators aus einer knappen Erläuterung zur Veröffentlichung zitieren: „In October 2014 a glitch somewhere deep in iTunes occured [sic!] resulting in the release of Track 03 by Taylor Swift. Over night enough of Swift’s obviously large fanbase had purchased the track to make it go to the #1 spot on the Canadian iTunes charts. So far so ordinary – except: Track 03 was nothing more than 8 seconds of white noise. Media picked up on the story, fans tweeted to Taylor Swift expressing their wonder about her cre ative decision on that track and [one] guy in London – me – hastily (make that: too hastily!) put out an open call for contributions to Swift Noise […]“.15

Das zusammengestellte Album Swift Noise – A Tribute to 8 Seconds of Noise enthält schlussendlich insgesamt 65 „Coverversionen“, also vermeintliche Neuinterpretationen von jenem technischen Missgeschick. Die „Übersetzung“ erfolgt freilich mit einer ironischen Grundhaltung, die auch eine gewisse Opposition gegenüber der Popmusik und ihren Formalismen ausdrückt. Die Stör- und Nebengeräusche, mit denen auch in der Produktion von Pop umgegangen werden muss (etwa disziplinierend, einschränkend oder verbannend, zuweilen auch partiell integrierend), haben hier vollends die Oberhand gewonnen. Der Prozess der Adaption und Reorganisation gilt also für die Beziehung zu Stör- und Alltagsgeräuschen allgemein: Wie schon die Beispiele zum doing sound aus dem vierten Kapitel zeigen, werden im Noise häufig Geräusche produziert und arrangiert, die man in ähnlicher Art aus dem Alltag kennt: Erinnert fühlen mag man sich an sirenenartige Klänge, an den Signalruf einer Alarmanlage, an das Geräusch des Zahnarztbohrers oder letztendlich schlicht an Audio-„Glitches“ im Allgemeinen. Glitches deuten auf ein mindestens temporäres Versagen von Technik hin und sind etwa bekannt aus der Internettelefonie oder aus dem Digitalfernsehen. Die Zusammenhänge, in denen Lärm als interessant, atmosphärisch, mitreißend und stimulierend wahrgenommen werden, unterscheiden sich per umdeutender, beschlagnahmender Übersetzung nicht unbedingt „wesenhaft“ und doch erheblich von der alltäglichen Begegnung mit Krach: Ein lärmintensives und lautes Noise-Konzert in einem verrauchten Club wird von „Insidern“ der Szene 15 Vgl. Various Artists (2015).

7. K OLLEKTIVITÄT

ZWISCHEN

D YNAMIK

UND

R OUTINE

| 189

als angenehm, als reizvolles Event empfunden, während die laute, staubende Großbaustelle in der eigenen Nachbarschaft als lästig wahrgenommen wird. Außenstehende sind mit dieser eigenartigen Differenzierung nicht selten überfordert, und gern entlädt sich die Verwunderung im Rahmen naheliegender Neckereien, die im Kern oft auf authentische Ratlosigkeit verweisen. Diese freilich ist für Noise-MusikerInnen schmeichelhaft. Vor dem Hintergrund der normativen Umdeutung ist ersichtlich, wie zwischen dem Lärm der Baustelle und einem ähnlich klingenden Noise-Stück schlüssig unterschieden werden kann – wie auch klar ist, dass der Alltagslärm jederzeit in den Noise-Kontext übersetzt werden könnte. Exemplarisch mag das der folgende Auszug aus einem Interview des Online-Magazins Splice Today („ST“) mit dem Noise-Musiker Jason Crumer („JC“) illustrieren: ST: „Days Inn“ starts with what sounds like an automotive engine turning over. Was that the real thing, or a simulation? JC: It’s a lawnmower being started; afterward is tons of overdubs of mowing the yard. ST: This may seem like an obvious question, but I’ve never posed it or seen it posted in an interview with a noise musician. Are you ever inspired or influenced by incidental sounds you encounter, like jackhammers, radio static, woodpeckers, or trains? JC: I’m real annoyed by loud sounds in general. I walk extra miles on the way home to avoid a construction site or loud bar. Inspired isn’t the right word. I do try to create sounds as they’re heard in the real world, for two ears, coming from „nature.“ Trains are such an obvious and cheesy sound source, with open easy and available poetic attachments; despite this, they remain the perfect ambient sound source. There’s a track in Greensboro that every local musician with a Walkman has put on a record and none of them sound the same. Almost endless variety of concrete sounds.16

Obgleich es um Klang und Ästhetik geht, darf man sich Prozesse der Beschlagnahmung und Umdeutung nicht vollkommen abstrakt vorstellen: Die hier virulente „contestedness“ von Klangbedeutung und ihren Artefakten wird praktisch und im Sinn von Arbeit an Material und auch Raumkonstitutionen hergestellt. Noise ist in solchen Fällen mehr als Beschlagnahmung und Umdeutung. Geweitet wird die theoretische Perspektive demgemäß im Folgenden durch das Konzept der „mediators“ nach Bruno Latour. Das achte Kapitel meiner Arbeit adressiert exemplarisch, inwiefern entsprechende Transformationsleistungen

16 Online:

http://splicetoday.com/baltimore/overthinking-noise-subleties-extremes-and-

complexities, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Cummings (2011b).

190 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

durchaus materieller Art sind, sich teils sogar als eine ganz konkrete Arbeit an „greifbaren“ Materialien nachverfolgen lassen. Dem voran steht eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Noise-spezifischen Wissens- und Könnensformen, die ihrerseits die Schlüssigkeit bestimmter Transformationen gewährleisten.

8. Praktisches Wissen und Transformationsleistungen 1

Eine Ethnografie, die sich multisituiert wie multisensorisch mit Klang als sozialem Phänomen befasst, vermag aus der Beschäftigung mit Noise ganz allgemein ein plastisches Beispiel zu schöpfen, um ein praktisches Etablieren von Wissen und Können in Hinblick auf auditive Phänomene anzuregen. Das Ende des vorangegangenen Kapitels adressiert Modi der Umdeutung, Beschlagnahmung und Transformation. Das abschließende Empiriekapitel der vorliegenden Studie wagt vor diesem Hintergrund nun eine Praxeologisierung jener Könnensformen und Kompetenzen, die den Transformationen und Verzerrungen eigentümlich sind. Dem voran steht im Folgenden dementsprechend zunächst eine Vertiefung der Auffassung von Wissen als ein „know how“ (im Unterschied zu einem „knowing that“), das niemals als „praxisenthoben“ aufzufassen ist. Betonen will ich daraufhin in einem ersten Schritt eine umfassende Kontextabhängigkeit von Kompetenzen, empirisch argumentiert entlang der Frage des Timings im kollaborativen Zusammenspiel: Innerhalb von Noise können merklich verzögerte oder auch besonders plötzliche Einsätze als ein reizvolles „Neben-der-Spur-Sein“ gedeutet werden, das durchaus an die unerwarteten Dynamiken in den Ausführungen um die performativen Repertoires im Kapitel Klang-Raum-Körper erinnert. Allerdings stößt der Modus in stilistisch geweiteten Kontexten an seine Grenzen und wird in einem zu zitierenden Beispiel nach einem gemeinsamen Konzert durch meine Mitmusiker offen hinterfragt. Um das Phänomen auf ein musikalisch brei1

Im vorliegenden Abschnitt changiert meine Argumentation zwischen den einander eng verwandten Begriffen des Wissens, des Könnens, der Fertigkeiten und der Kompetenz. Schlussendlich handelt es sich für mein Verständnis um teils verschiedene Ge wichtungen dessen, was ich meine, wenn von praktischen Wissensformen die Rede ist, die ein „know how“ gegenüber einem „knowing that“ bezeichnen (vgl. Reckwitz 2003). Teilweise nimmt das Kapitel Aspekte aus Ginkel (2017) auf.

192 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

tes Feld zu übertragen, könnte man sagen: Auch der gekonnte Anschlag einer Pianistin ist jederzeit ein kontextabhängiges Unterfangen, so sehr er im Alltagsblick auch als allgemeingültig gut und gekonnt erscheinen mag. Noise in seinen extremen Spielarten hat für den gekonnten Anschlag zum Beispiel vergleichsweise wenig Verwendung – das „‚emotional‘ knob twisting“, das ich im sechsten Kapitel als Teil der performativen Repertoires beschreibe, erscheint ihm aber jedenfalls verwandt. Das Unterkapitel 8.2. Zur Etablierung von Verzerrung und Fremdartigkeit fragt im Sinn der erwähnten Kompetenzen und Könnensformen danach, wie Transformationen innerhalb des Feldes praktisch gewährleistet und hergestellt werden. Exemplarisch kommt hier die Struktur nivellierende Qualität eines exzessiven Einsatzes von Hall- und Echoeffekten zur Sprache. Der Modus dieser gleichermaßen Form nehmenden wie Form gebenden Transformation fungiert als eine Etablierung physikalisch unmöglicher „Wahlräume“, die spezifische Formen der Klangerfahrung schaffen und plausibilisieren. Die Modi einer solchen Verzerrung kennen überdies, wie ich anhand eines Beispiels veranschaulichen möchte, die Visualisierung. Hierbei lässt sich zeigen, dass Noise-typische Transformationen ein durch und durch relationales Verhältnis gegenüber konventionellen Formen pflegen. Im abschließenden Argumentationsschritt wird diese Analyse exemplarisch auf verzerrende Materialbearbeitungen innerhalb des Feldes übertragen: Am Beispiel des Abschmirgelns von Schallplatten wird gezeigt, dass sich Noise mitunter mit einem „skilled touch“ an denjenigen Konventionen sicht-, hör- und spürbar „abarbeitet“, denen gegenüber sich das Feld nicht selten opponierend präsentiert. Dabei inkludiert Noise ein Wissen um den Umgang mit oder sogar das Hervorbringen von jenen Formen, die durch den transformierenden Akt der Irritation dem „unkonventionellen“ Noise gegenüber als „konventionell“ hergestellt werden. Ebenso, wie die opponierenden Noise-GegegnerInnen aus dem vorangegangenen Kapitel also Ärger und Protest im Zuge Noise-verwandter Ästhetiken performieren, ist demgegenüber auch die konventionelle Form ein vitaler Teil des praktischen Noise-Vokabulars. Hier schließt sich in Fragen von Kompetenzen und Konventionen der Kreis in puncto doing sound.

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 193

8.1 P RAKTISCHE F ERTIGKEITEN In Anlehnung an Reckwitz (2003) sind die sozialen Praktiken im Kontext von Wissen und Fertigkeiten selbst als „Ort“ des Sozialen zu begreifen, verstanden als „abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“ (S. 289).

Insbesondere die im vorangegangenen Kapitel behandelte Noise-typische Konflikthaftigkeit eröffnet günstige Voraussetzungen zur Beobachtung und Erschließung der praktischen Wissensdimension: Denn Auseinandersetzung im Sinn der Infragestellung des musikalischen Wesenszuges von Noise kann als ein Wegweiser tragender Relevanzen betrachtet werden und erfährt nicht umsonst innerhalb des Feldes eine bemerkenswerte, da unter gängigen Kriterien widersprüchliche Wertschätzung. Diese Wertschätzung entspricht einer Noise-spezifischen Schlüssigkeit, die Spannungs- und Verzerrungsverhältnisse zum „echten“ und „normalen“ Musizieren unterhält – und dieses somit als „echt“ und „normal“ auch mithervorbringt. Das Wissen kursiert hier gleichsam innerhalb der performativen und rezeptiven Praktiken als eine augenscheinlich vage, da durchaus wendige Kompetenz, ein „Know-how“: Allgemein betont der Begriff der Kompetenz (vgl. etwa Kurtz/Pfadenhauer 2010) eine Anerkennung der Rolle des impliziten Wissens gegenüber dem expliziten Handlungswissen (vgl. Schützeichel 2010, S. 176f.). Ebenso, wie sich Noise kanonischen Notationssystemen weitreichend entzieht, sind auch entscheidende Wissensformen, die bei Produktion, Performance und Rezeption der Klangerzeugnisse eine Rolle spielen, tendenziell nicht kodifiziert. Ein Begriff von Wissen als „Know-how“ (Reckwitz 2003, S. 289) erscheint für die Auseinandersetzung mit der Wissensdimension von Noise daher opportun: Reckwitz konstatiert, „[…] dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus Wissen und seine Formen nicht ‚praxisenthoben‘ als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren sind. Statt zu fragen, welches Wissen eine Gruppe von Personen, d.h. eine Addition von Indivi duen, ‚besitzt‘, lautet die Frage, welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum

194 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Einsatz kommt (und erst darauf aufbauend kann man auf die Personen als Träger der Praktiken rückschließen)“ (ebd., S. 292).

Dieser Wissensbegriff gemahnt an ein Verständnis der „kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges ‚knowing that‘ oder als rein kognitive Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen“. Vielmehr gehe es ausdrücklich um „ein Konglomerat von Alltagstechniken“ (ebd., S. 289). Im Folgenden will ich zeigen, was Noise-MusikerInnen können bzw. in einer mitunter positiven Wendung „nicht können“. Dass entsprechende Kompetenzen in der Tat nicht praxisenthoben auftreten, zeigt die ausgeprägte Kontextabhängigkeit zu ihrer Deutung und Anerkennung. So begreift Schützeichel (2010) Kompetenz, wie bereits erwähnt, ebenso wie die Expertise „als eine evaluativen Standards gehorchende Kategorie“, die „Personen dann zugesprochen wird, wenn diese in Bezug auf spezifische Aufforderungen oder Anforderungen in einem relevanten Kontext ein bestimmtes ‚Können‘ aufweisen“ (S. 181). Die Zuschreibung von Kompetenz ist also nicht zuletzt ein Akt der sozialen Beglaubigung. Für Noise bedeutet das: Abseits formaler Qualifizierungs- und Zertifizierungsnachweise (vgl. ebd., S. 182) muss das, was Noise-PraktikerInnen können, im Noise-Kontext anschlussfähig sein. Dass das Können darüber hinaus mitunter nicht anschlussfähig ist, unterstreicht im vorliegenden Fall in einem weiteren Schritt, wie ich zeigen werde, die spezifische Relationalität von Wissens- und Könnensformen. 8.1.1 Können oder Dilettantismus? Im Januar 2006, also mehrere Jahre vor meiner sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Noise, führte ich für das Musikmagazin Spex ein Interview mit der Gruppe Throbbing Gristle, einer stilbildenden Band der Industrial Music aus den 1970er Jahren, die sich zu diesem Zeitpunkt jüngst reformiert hatte (vgl. Ginkel 2006a und Ginkel 2006b). Bis heute gilt sie vielen Noise-PraktikerInnen als Inspiration. Throbbing Gristle bezogen zu ihrer ursprünglichen Hochzeit eine starke Gegenposition zur instrumentellen Virtuosität des Progressive Rock und waren bekannt für ihre Ablehnung konventioneller musikalischer Fertigkeiten. Vor diesem Hintergrund befragte ich die Band vor gut zehn Jahren, ob sich ihre „skills“ an den Instrumenten mit der Zeit verbessert hätten. Die Gruppe prahlte nun regelrecht mit dem eigenen Dilettantismus: Schlechter sei man mit den Jahren geworden, keinesfalls besser; nicht einmal ganz grundlegende Stücke für Anfänger (genannt wurde mir von der Band im Gespräch als Beispiel: Three Blind

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 195

Mice) könne man spielen. Eine Frage drängt sich nun aus sozialwissenschaftlicher Perspektive regelrecht auf: Wenn es nicht um ein Musizieren im klassischen Sinne geht, worum geht es dann? Einige Akteure, die mir im Feld bekannt sind, verstehen sich als regelrechte „Nicht-Musiker“. Einen Umgang mit Instrumenten aber pflegen sie dennoch, und ich behaupte, dass es sich im Regelfall gar um einen gekonnten Umgang handelt. Im Folgenden schildere ich einen durchaus typischen Geräteaufbau aus dem Feld: Auszug aus den Feldnotizen, Januar 2013: Das technische Setup ist ausladend: Zwei Handwerkstische und ein Schreibtisch beherbergen zahlreiche Gerätschaften, die mal lose, mal in verbindenden Konstruktionen angeordnet sind. Der Hardware-Synthesizer Blofeld von der Forma Waldorf ist das einzige dieser meist kastenförmigen Instrumente, das ich aus dem Stegreif identifizieren kann. Der Musiker zeigt mir ein DelayEffektgerät, im Grunde genommen scheinen sämtliche Objekte nach einem ähnlichen Prinzip zu funktionieren: Es gibt Kippschalter, Drehregler und Knöpfe – mit denen modifiziert man das, was die Geräte selbst entweder erzeugen oder was durch eine verbindende Verkabelung in sie eingespeist wird. Überhaupt: Verkabelungen – noch und nöcher! Der Künstler hat auch einen Mikrofonständer samt Mikrofon herumstehen, um Stimme oder „Gegenstände“ aufzunehmen, wie er sagt. Über diesem Ständer hängen zahllose einzelne Kabel, die im Moment keine Verwendung finden – für irgendwas sind sie aber sicherlich gut. Ich frage mein Gegenüber nämlich, ob er denn selbst noch einen Überblick über all diese einzelnen Kabel habe, und mit einem amüsierten, dabei fast stolzen Unterton verneint er: Er sagt, er habe immer mal wieder für das ein oder andere Kabel Verwendung, weil er die Geräte insgesamt ja nach einer Zeit wieder verkaufe und sich dann wiederum neue anschaffe. Dabei brauche jedes einzelne dieser Geräte eine gewisse Einarbeitungszeit.

Die Instrumente sind offensichtlich austauschbar, eine gewisse Fluktuation wird außerdem von meinem Gegenüber als wünschenswert dargestellt. Könnensformen konzentrieren sich also nicht auf einen Instrumententyp (wie das Klavier oder die Gitarre), sondern auf einen schlüssigen Fundus einander verwandter Gerätschaften sowie auf ein Feld von schlüssigen Techniken (im geschilderten Fall etwa: Stimmen oder „Gegenstände“ aufnehmen; auch: Verkabelungen arrangieren). Manche TeilnehmerInnen legen Wert darauf, dass den Könnensformen von Noise und experimenteller Musik lange Lernprozesse zugrunde liegen, wie beispielsweise der Musiker Keith Fullerton Whitman betont, der bekannt ist für seine Arbeit mit analogen Modularsystemen. In einem Interview mit dem Hersteller Ableton legt der Musiker eine auffällige Strenge an den Tag:

196 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

„Wenn ich unterwegs bin, kommen etliche Leute auf mich zu und stecken mir ihre Demos zu. Vieles davon klingt wie „Ich hatte halt grad einen Modular zur Hand“. Das ist schon ganz nett, aber ich habe mir fünfzehn Jahre lang den Hintern aufgerieben, bevor ich überhaupt daran gedacht habe, eine Platte aufzunehmen. Es ist schon verrückt, dass sich die Dinge dahingehend entwickelt haben, zu meinen, man könnte innerhalb einer Woche ein Instrument beherrschen und bereits etwas Substanzielles auf die Beine stellen. Es gibt mittlerweile so viele Sachen, die sind einfach nur noch Lärm in eine Richtung“. 2

Auch in einer Episode des Antidote Podcast3 werden zwei Künstler von den Moderatoren beispielsweise als „skilled manipulators of sound“ benannt, und um diesen artikulierten Eindruck zu plausibilisieren, untermauert man die Feststellung entlang einer vage biographisierenden Zeitdimension – „playing and releasing stuff for ten years or so“ –, die offenbar auf Erfahrung und damit Können verweist. Wie aber verträgt sich das mit der dilettantistischen Selbstauffassung? Als ein ästhetisches Gespür will ich diesbezüglich ein als reizvoll erlebtes „Neben-der-Spur-Sein“ beschreiben: Teilen mag man innerhalb des Feldes etwa die Lernerfahrung, dass ein bestimmtes „Nichtkönnen“ in der Rolle eines „Andersmachens“ angemessen ist und nicht als Unvermögen bewertet werden muss. Dem voran steht eine Diskussion um den Zusammenhang zwischen Können und buchstäblicher Haltung, die immer auch ein Zeigen ist, dass etwas gekonnt wird. 8.1.2 Können und Haltung In musikalischen Kontexten können Fertigkeiten als ein implizites Körperwissen begriffen werden, das nicht von Anwendung zu Anwendung neu durchdacht oder bewusst „abgerufen“ wird, sondern vielmehr einem Repertoire von „skills“ gleicht, für die mitunter zwar ein Vokabular zur Verfügung steht, die sich einer vollumfänglichen Beschreibung andererseits jedoch durchaus verschließen. Ein diesbezüglich plastisches Beispiel ist aus dem Klavierspiel als „Anschlag“ bekannt. Polanyi (1998) schreibt: „Musicians regard it as a glaringly obvious fact that the sounding of a note on the piano can be done in different ways, depending on the ‚touch‘ of the pianist. To acquire the right 2

Online: https://www.ableton.com/de/blog/keith-fullerton-whitman/, zugegriffen am 30.12.2015. Siehe Internetquellen: Ableton (2015).

3

Online:

https://theantidotepodcast.com/2015/04/08/episode-36-mike-shiflet-high-

aurad-phirniskatarrhaktes-and-oren-ambarchi/, zugegriffen am 12.12.2015. Siehe Internetquellen: Antidote Podcast (2015b).

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 197

touch is the endeavour of every learner, and the mature artist counts its possession among his chief accomplishments“ (S. 52).

Es ist anzunehmen, dass in Hinblick auf Noise vergleichbare Kriterien implizit kursieren und von TeilnehmerInnen interaktiv respektive mimetisch erlernt werden. Indiz der entsprechenden Lernprozesse, die sich einer bewussten Steuerung durchaus verschließen, kann es sein, sich selbst als Teilnehmer beispielsweise in typischen Posen wiederzufinden, gleichsam also eine Schlüssigkeit zwischen beobachteten performativen Repertoires und den eigenen Bewegungen, Gesten und Mimiken festzustellen. Hier zeigt sich, dass ein instrumentales Spiel auch gekonnte Verkörperung nach kontextueller Maßgabe ist. Die nachfolgende Beschreibung adressiert die beiläufige, selbstverständliche Einnahme einer spezifischen Körperhaltung, die ich als Noise-typisch kategorisiere: In dieser Haltung nun finde ich mich selbst im Rahmen meiner künstlerischen Praxis während einer Konzertperformance wieder – zur eigenen Überraschung. Exemplarisch wird anhand dieser Illustration eine Verzahnung zwischen performativer und musikalischer Schlüssigkeit offenbar, die von einem implizit kursierenden Repertoire, das einer stummen Weitergabe (Schmidt 2012, S. 204ff.) unterliegt, zu zehren scheint. Die zugrundeliegende Übermittlung „von Dispositionen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata und praktischem Wissen“ (ebd., S. 204) kann sich dabei als „quasi-automatischer Präge- und Kopierprozess […] einer körperlichen Logik bedienen“ (ebd., S. 207). Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Ich spiele den Sound per Mixer langsam ein, nachdem ich ihn per „Granulator“-Plugin 4 in meinem Sequenzerprogramm „gestartet“, „generiert“ habe. Endlich finde auch ich mich in der typischen Noise-Knöpfchendreherpose wieder, bei der man die Arme irgendwie seltsam lang macht und sich mit steifer Miene an den Knopf klammert, ihn entweder festhält oder aber um kleine Nuancen bewegt, nur nicht zu hektisch, wenn es sich um einen sauberen Fade-In handeln soll. […] Es ist fast ein Klammern, ein Festhalten, als ob er bei weniger Griff direkt in eine ungewollte Position verrutschen würde, was natürlich nicht der Fall ist – der Knopf ist ganz im Gegenteil eher etwas schwerfällig, was äußerst vorteilhaft für eine nahezu stufenlos klingende Bedienung ist. Eindeutig verfalle ich mehrmals während meines Auftritts in „typische Posen“, und sie haben für mich eine praktische Bewandt -

4

Hierbei handelt es sich um ein Werkzeug zur so genannten „Granularsynthese“, eine Methode, die beispielsweise einen durchgehenden Klang zu generieren vermag, der de facto aus zahllosen Einzelteilen besteht.

198 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

nis: Die Körperhaltung begleitet und formt die innere Haltung, eng miteinander verzahnt: Das eine kann gar nicht ohne das andere.

Schürkmann (2014) unterstellt für die Rolle der Materialität in künstlerischen Erzeugungsprozessen ein „[Zusammenspiel] von leiblich-ästhetischer Wahrnehmung und materialspezifischen qualitativen Wahrnehmbarkeiten“ (S. 10), das für die vorangegangene Episode anschlussfähig erscheint. Der Begriff von schlüssiger klanglicher Ordnungsbildung korrespondiert mit einer Feststellung, in eine typische Haltung aus dem performativen Repertoire meiner Gegenstandskultur „verfallen“ zu sein: Ich „finde mich wieder“, anstatt durchweg planvoll die Performances eindeutig benennbarer Vorbilder passgenau zu imitieren und in einem solchen vollkommen intentionalen Sinn eine spezifische Haltung einzunehmen. Von Wulf (2015) wird exemplarisch betont, dass sich mimetisches Lernen durch die Teilnahme „an den szenischen Aufführungen sozialer Handlungen“ vollzieht (S. 31). Meine Annahme einer Schlüssigkeit zwischen dem, was in körperlicher Performance geleistet und was hörbar in klanglicher Hinsicht unisono, untrennbar voneinander produziert wird, liefert einen Hinweis darauf, dass die Beherrschung von Fertigkeiten mitunter sprichwörtlich eine Frage der Haltung – im Sinn einer ganz konkreten Körperhaltung – ist. In der Auffassung der Hexis 5 konzentriert sich in der Bourdieu’schen Soziologie die Idee einer Somatisierung des Sozialen: „Die Hexis ist […] die ‚Schnittstelle‘ zwischen Habitus und Feld: durch wiederholtes mimetisches ‚Lesen‘ der Körper, Dinge, Räume wird die Motorik angesprochen, werden Haltungen und Bewegungen eingenommen und Handlungen automatisiert. Gefühle, Denkmuster, Einstellungen werden induziert, verstärkt oder gedämpft, werden zu permanenten Neigungen und Geneigtheiten“ (Fröhlich 1999, S. 102).

Dementsprechend ist davon auszugehen, dass Gefühle und Körperhaltungen einander durchaus entsprechen (vgl. ebd.): Haltungen evozieren im Zusammenspiel mit Klangerfahrung Schlüssigkeit, suggerieren einen geradezu untrennbaren Zusammenhang zwischen Sound und Gesten, Mimiken, Bewegungen. Die folgende Feldnotiz legt nahe, dass eine solche Schlüssigkeit in praktischen Kontexten 5

In Bourdieus eigenen Worten bezieht sich Hexis als Haltung auf eine „Dauerhaftigkeit des dauerhaft modifizierten, sich erzeugenden und sich perpetuierenden und sich dabei ständig (innerhalb bestimmter Grenzen) in einer doppelten, strukturierten und strukturierenden Beziehung zur Umgebung wandelnden Körpers“ (Bourdieu 1997, S. 184).

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 199

mindestens aus der Beobachterperspektive auch misslingen kann: Geschildert wird eine Konzertsituation, die bei meinem Gesprächspartner, wie er mir ver sichert, Peinlichkeit evoziert habe. Die Szene kann ein Beherrschen konventioneller Musikinstrumente im Rahmen von TeilnehmerInnenkonstruktionen getrost ablehnen oder lächerlich machen, muss dem im praktischen Vollzug aber ein Repertoire anderer „skills“, die ihrerseits für Ordnung und Sinn verantwortlich zeichnen, entgegensetzen. Diese Fertigkeiten sind für sich genommen vielleicht schwer explizierbar, sie werden aber dann jedenfalls ansatzweise zugänglich, wenn sie episodisch versagen: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Ich erinnere mich an eine Anekdote, die mir ein Musiker am Rande einer Unterhaltung erzählt: Er habe vor kurzem auch mal einen Noise-Auftritt gesehen, bei dem der Musiker den Überblick über sein Equipment verloren habe: Dieser sei dagestanden und habe offensichtlich angestrengt überlegt, was er denn nun als nächstes zu machen habe. Ich versuche etwas bemüht, die Erzählung positiv zu deuten: „Aber das kann ja auch Absicht gewesen sein, oder?“ Mein Gegenüber ist sich sicher: nein. Er fügt hinzu, das sei regelrecht peinlich gewesen, er habe kaum hinsehen können.

Basal gedacht sind dort, wo eine Performance misslingen kann, in irgendeiner Form stets Kriterien sozialer Ordnungsbildung auszumachen – nicht im Sinn eines starren Regelwerks, sondern im Sinn von Erfahrungswissen, konkretisiert in beispielsweise Haltungen, Bewegungen, Mimiken, die von Insidern als legitim oder normal erkannt werden. Als Erwartungshaltung kursiert also z.B. ein Wahren des Überblicks, und mein Gegenüber suggeriert mir im Austausch, dass er sich in der Lage sieht, den Unterschied zwischen einem absichtsvollen Überblicksverlust und einem genuinen Misslingen durch Beobachtung sehr wohl feststellen zu können. Der Dilettantismus ist somit im Noise-Kontext also zweischneidig: Je nach Zusammenhang ist er mal erwünscht, und es wird sogar mit ihm geprahlt, während er in anderer Hinsicht Erwartungen enttäuscht, unerwünscht ist und als ein performatives Misslingen verbucht werden muss. Folgt man diesem Gedanken, erscheint es wenig plausibel, in Hinblick auf performative Kompetenzen prioritär nach einem spezifischen „Beherrschen“ von Instrumenten und Artefakten zu suchen, das sich wie ein Schulwissen in eingeübten Fingerfertigkeiten wiederfindet. Vielmehr deutet die anekdotische Darstellung eines performativen Misslingens doch vorrangig an, dass TeilnehmerInnen Kompetenz und damit performatives Gelingen einander schlüssig und glaubhaft anzeigen können.

200 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Zu Kompetenz als Haltung im Sinn einer Überblick und Souveränität suggerierenden Aufführungspraxis beschreibe ich im Folgenden ein Konzert von Thomas Ankersmit auf dem Kremser Festival Kontraste. Sein Instrument ist ein modulares Synthesizersystem. Meine Beschreibung birgt dabei ein Kuriosum: Erst im nachfolgenden Codierprozess sollte mir bewusst werden, dass ich das eigentliche Klanggeschehen während des Auftritts des Künstlers mit keiner Silbe in meinen Notizen gewürdigt hatte. Keinesfalls handelte es sich dabei jedoch um ein absichtsvolles Ausklammern. Im Nachhinein erscheint es mir vielmehr ein Indiz dafür, nach Kompetenz nicht zwingend im klanglich-musikalischen Geschehen „per se“ zu suchen, sondern der Intuition meiner Feldnotizen zu vertrauen und Können unbedingt auch als eine Darstellungs- oder Aufführungskompetenz zu begreifen. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Was mir auffällt, ist, dass der Musiker vor nahezu jedem Handgriff, den er macht, seinen Zeigefinger „anleckt“, so wie es manche Leute machen, bevor sie eine Seite in einem Buch oder Magazin umblättern. Der Künstler also leckt sich flink den Zeigefinger, scheint dabei zuweilen zusätzlich noch eine Geste der Art „Aha!“ zu machen – angedeutet: ein Zeig mit dem Finger nach oben, vielleicht um zu demonstrieren, dass er eine Idee hat, dass er spontan und einfallsreich „reagiert“. Das performative Geschehen ist auffällig dynamisch: Der Künstler dreht und hält die Knöpfe, er stockt und handelt dann wieder, hält den Oberkörper leicht gebeugt nach vorne, macht die Arme lang, wenn gedreht wird, das allerdings etwas weniger ausgeprägt und auffällig als viele seiner Kollegen. Geradezu zwanghaft erscheint mir das vielfach wiederholte Befeuchten des Fingers nicht nur durch seine Frequenz, sondern auch dadurch, dass die Bewegungen sehr rasch, fast ruckartig vollzogen werden. Der Künstler hat einen starren, konzentrierten Blick aufgesetzt: ein wenig abwesend und dabei hochgradig konzentriert, also scheinbar einzig dem technisch-musikalischen Geschehen zugewandt: geradezu selbstverloren. Eine leicht sichtbare Anstrengung meine ich ihm anzumerken: sie äußert sich in der subtilen Andeutung eines Stirnrunzelns, begleitet von einer Körperhaltung – siehe oben –, die alles in allem entschlossen, firm und regelrecht vornehm auf mich wirkt.

Überblick wird hier performativ überzeugend demonstriert, d.h. den ZuschauerInnen schlüssig angezeigt. Nicht nur äußert er sich in Gesten, die den gekonnten Umgang mit den Gerätschaften suggerieren, sondern deutlich auch durch Mienenspiel und Körperhaltungen, die Konzentriertheit und Souveränität darstellen (ähnlich wie bei den soziomateriellen „companionships“). Mag es gemeinhin noch so unklar erscheinen, über welche spezifischen Fertigkeiten Noise-Musike-

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 201

rInnen handwerklich verfügen, vollkommen klar muss erscheinen, dass sie von diesem Künstler hier beherrscht werden. Die einzelnen performativen „Äußerungen“ sind dabei mal mehr (Stirnrunzeln, Haltung), mal weniger subtil (das „Anlecken“ des Zeigefingers) – in jedem Fall machen sie der ZuschauerInnenperspektive mühelos erkennbar: Hier ist offenbar ein Könner am Werk. 8.1.3 Das „Neben-der-Spur-Sein“ als Fertigkeit Was es bedeuten kann, in Hinblick auf konventionelle Musikalität auf reizvolle Art „neben der Spur“ zu sein, zeigt exemplarisch die nachfolgende Feldnotiz, in der ich beschreibe, wie mein Mitmusiker Stephan und ich bedeutende Lernerfahrungen auf unseren Habituierungswegen zur „Noise-Könnerschaft“ erinnern und reflektieren: Auszug aus den Feldnotizen, April 2015: Wir unterhalten uns über Dub-Musik6. Auf das Thema kommen wir zu sprechen, als wir uns darüber unterhalten, was wir beide abseits von Noise und experimenteller Musik eigentlich sonst noch für Musik machen. Wir stellen fest, dass wir in der Vergangenheit beide „Dub-artige“ Musik gemacht haben respektive immer noch machen: eine lustige Gemeinsamkeit. Ob die nun reiner Zufall ist? Meine eigene Begründung, warum ich „Dub-artige Musik“ mache, lautet im Gespräch folgendermaßen: Ich sage, dass ich das als „Fingerübung“ mache, und ich verweise diesbezüglich auf Dub-typische Modi von Performance und Improvisation: Ich adressiere das Ein- und Ausblenden von Spuren und Instrumenten, zudem die relativ spontane Arbeit mit einer spezifischen, dabei reizvoll eingeschränkten Effektpalette. Stephans Herleitung seiner Dub-Affinität ist wiederum historischer als meine und adressiert eine erlebte Kontinuität zwischen „vormaligem“ Musikmachen und dem heutigen Schaffen im experimentellen Kontext: Stephan erzählt, er habe vor ca. 15 Jahren seine ersten Aufnahmen gemacht, damals noch mit Tape und seiner Stereoanlage. Dazu standen ihm noch basale Werkzeuge der Sorte Drumcomputer zur Verfügung. Er habe „kein so richtig gutes Rhythmusgefühl“ gehabt, und daher sei die Musik rhythmisch zum Teil „neben der Spur“ gewesen. Ihn habe das seinerzeit aber gar nicht gestört, sagt Stephan – ganz im Gegenteil sogar: Ihm habe das ganz gut ge-

6

Dub bezeichnet eine musikalische Stilrichtung, in der MusikerInnen ursprünglich Roots-Reggae-Aufnahmen zur Grundlage nahmen und unter teils exzessiver Verwendung von Effekten wie Echo oder „Phaser“ neu abmischten. Längst wird die Musik auch ohne entsprechendes Basismaterial als eigener Stil produziert, der dem Reggae gegenüber klanglich wie rhythmisch stets eine gewisse Verwandtschaft bewahrte.

202 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

fallen. Er habe die Sache mit dem Musikmachen dann einige Jahre ruhen lassen, und dann sei er schon zu der Musik gekommen, die er heute macht.

Die Schilderung eröffnet den Blick auf einen wichtigen Aspekt: den des – vermeintlichen – Dilettantismus. Stephan bewertet das Erzeugte und dabei von ihm Gehörte nicht als schlecht, misslungen, als „komplett daneben“, sondern erkennt ihm einen Reiz bzw. eine Qualität zu. Dieser Modus der Bewertung ist Teil einer Kompetenz, die ein spannungsreiches Verhältnis zum Schulwissen eines konventionell kompetenten Musizierens pflegt. Diese Beziehung soll im Folgenden gesondert interessieren. Anhand nachfolgender Beispiele will ich zeigen, wie das „Neben-der-Spur-Sein“ innerhalb eines tendenziell konventionellen Zusammenspiels und dem gegenüber in einem ausgewiesenen Noise-Kontext verhandelt wird: einmal als Missgeschick oder technisches Unvermögen, das in einem anzuführenden Beispiel ein kritisches Gespräch mit meinen Mitmusikern evoziert; zum anderen als ein scheinbar absichtsvolles Spiel meinerseits, das im NoiseKontext lobend hervorgehoben wird und keinerlei Korrektur bedarf. Situationen verfügen über eine Partikularität. Routine beinhaltet hier auch eine spezifische Spontaneität. Intentionalität ist zugleich niemals vom Handeln in situ entkoppelbar. Vergleichbar ist das mit klassischen Kompositionen: Eine Komponistin mag entsprechend der Konventionen innerhalb ihres Feldes auf einem Notenblatt notiert haben, ob eine Passage piano oder pianissimo gespielt werden soll. Dabei handelt es sich um eine relativ grobe Anweisung, die in der Situation selbst – unter Beteiligung des Dirigenten und der MusikerInnen – ein Eigenleben entwickelt, das sich der vollumfänglichen Kontrolle durch die Anweisung der Komponistin entzieht. Entscheidungen werden vor Ort getroffen, ebenso wie Arrangements de facto vor Ort zustande kommen – beides geschieht nicht nach einem fixen Regelkatalog, obgleich wiederum ein Erfahrungswissen relevant ist. Um es mit Wittgenstein (1999 [1953]) zu sagen: „[We] make up the rules as we go along“ (Abs. 83). Der Autor gemahnt an den Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Regeln. Besondere Beachtung verdient die Feststellung: „Das Spiel, möchte man sagen, hat nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz“ (Abs. 564). Ähnlich, wie es beim humoristischen Witz der Fall ist, ist auch der Spielwitz besonders KennerInnen intelligibel: wenn Andersartigkeit z.B. etabliert und erkannt wird. Wie überaus bedingungsreich und somit eben kontextabhängig ein solches Erkennen allerdings ist, zeigt der folgende Abschnitt. In der Aussage „[We] make up the rules as we go along“ kann das „we“ im Sinn einer Kollektivität, die Kompetenz in situ erkennt (und folglich anerkennt) – oder auch nicht –, kaum stark genug betont werden.

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 203

8.1.4 Kompetenz oder Unvermögen: Der Kontext entscheidet Außer Frage steht, dass ein dezidiertes „Nichtkönnen“ mitunter etwas ist, das sich zur provokanten Positionierung innerhalb des Feldes des Musikmachens insgesamt eignet: Es lehnt wahrnehmbar ab, was in nahezu sämtlichen Musikbereichen Grundlage allen Musizierens ist. Noise mag sich damit nach außen als Sammelbecken „genialer Dilettanten“ inszenieren. Für den praktischen Vollzug stellt sich die Frage, wie sich dieser scheinbare Dilettantismus beschreibbar zu einem tendenziell konventionellen, d.h. auf klassische Könnerschaft gründenden Musizieren verhält. Im Frühjahr 2014 nehme ich als Noise-Musiker die Gelegenheit wahr, gemeinsam mit zwei Musikern aus dem Jazz- und Improv-Spektrum ohne vorheriges Proben ein gemeinsames Konzert mit anschließenden Aufnahmesessions am darauffolgenden Tag zu absolvieren – bereits erwähnt im Unterabschnitt 6.10. Unspezifisch bleibt im ersten Austausch mit den Musikern Piotr Ł. und Piotr Z. alles, was die praktische Umsetzung der Unternehmung in Hinblick auf die verschiedenen Formen des Musizierens betrifft: Anstatt sich etwa explizit auf Modi der Improvisation zu einigen, erfolgt zunächst nur eine Klärung der technischen Voraussetzungen, die das ungleiche Arrangement zwischen Blasinstrument, E-Bass und Laptop gewährleisten sollen. Hierbei kündige ich an, dass ich als einziges Instrument mein Notebook mitbringen werde. Im Austausch zwischen den Jazz-Musikern und mir wird meinem Hinweis, dass ich kein „richtiger“ Musiker sei, indes mit Gelassenheit begegnet: Ein Spiel in der gleichen Tonart etwa hat für sie keine ausgewiesene Relevanz, wie ich in einem späteren Gespräch mit Stephan rekapituliere: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Das Konzert an sich sei gut gelaufen, für mich sei es im Vorhinein durchaus eine Herausforderung gewesen, mich auf ein Zu sammenspiel mit solchen Musikern einzustellen: Ich betone, die hätten ja allesamt ihre Instrumente an Musikhochschulen studiert, und ich füge an, dass ich ihnen am Vorabend des gemeinsamen Spiels gesagt habe, dass ich selbst kein „richtiger“ Musiker bin, dass ich eben nicht hören könne, in welcher Tonart sie z.B. gerade spielen. Ich berichte, dass mir gesagt wurde, ich solle mir darum keine Sorgen machen, ich hätte ja Ohren und könne hören, und demnach könne ich darauf, was gespielt wird, reagieren.

Es wird sich also darauf verlassen, dass ich trotz meiner mangelnden musikalischen Ausbildung dazu in der Lage bin, mich adäquat auf das musikalische Geschehen insgesamt einzulassen und mich interaktiv entsprechend einzubringen. Dass es dabei um Tonarten gehen könnte, war eine Fehleinschätzung meiner-

204 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

seits. Die Kriterien wiederum, die im Zusammenspiel tatsächlich relevant sind, werden mir am Tag nach dem gemeinsamen Konzert offenbar, als ich durch Piotr Ł. und Piotr Z. mit konstruktiver Kritik in Hinsicht auf mein Spiel des vorangegangenen Abends konfrontiert werde. Schauplatz ist die kleine Wohnung im Herzen Wiens, in der die beiden Musiker während ihres Kurzaufenthalts in der Stadt untergebracht sind: Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Während Piotr Z. sich der morgendlichen Dusche widmet, nimmt mich sein Namensvetter Piotr Ł. ein wenig ins Gebet: Er habe über das gestrige Konzert nachgedacht, und er finde, da habe es ein paar kleinere Pro bleme gegeben. Er wolle sich nicht als Mentor aufspielen, er sei sich aber nicht so richtig sicher, ob es wirklich eine so gute Idee ist, meine Software ausschließlich per Touchpad zu bedienen, wie ich es in der Tat gemacht hatte: „There’s a certain latency with the touch pad, you know?“ Er meint, das sei einfach was anderes, wenn man einen Knopf drehen könne: Eine Bedienung über Knöpfe sei zu bevorzugen. Tatsäch lich verstehe ich auf Anhieb nicht vollständig, worauf er hinaus will, und so sage ich erst einmal: „You know, for some reason I’ve been never particularly comfortable with knobs. I also really like the touch pad, I’ve always felt pretty good about playing the sounds through the touch pad“.

Später, als sich auch Piotr Z. in das Gespräch einklinkt, wird mir erklärt, es sei grundlegend keine gute Idee, Spiel und Lautstärke zugleich mit eben nur diesem einen Touchpad zu manipulieren. Ich solle mir doch einfach einen ganz normalen Mixer ohne Preamp kaufen, die seien auch nicht besonders teuer. Hinterher geht mir durch den Kopf, dass ich den beiden gegenüber hätte vertreten sollen, dass ich es – gemäß meiner Noise-Habituierung – durchaus schätze, wenn es von technischer Seite ein paar umfassende Beschränkungen gibt, in die man das eigene Spiel, die eigene Performance stimmig einpassen muss. Zwar hat man mich also für das gemeinsame Konzert hinzugezogen, damit ich zum allgemeinen Geschehen einen Beitrag in puncto Noise, Krach, Geräuschmusik leiste. Doch es ist, wie es scheint, nicht opportun, dass diese Geräuschelemente – gewährleistet durch die einschränkende Verwendung des Touchpads – ganz plötzlich und unvermittelt über das sonstige musikalische Geschehen „hereinbrechen“, d.h. ohne Möglichkeit zur Feinabstimmung in Fragen von Lautstärke und Genauigkeit des Einsatzes. Die Grobheit, mit der Noise mitunter charakteristisch operiert, hat sich hier einer musikalischen Dynamik und Konvention zu fügen. Versuche, die rhythmische Latenz und Plötzlichkeit meiner Einsätze in der Unterhaltung als intentional zu kennzeichnen, wollen meinen

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 205

Mitmusikern nicht einleuchten, und so bleibe ich selbst der Belehrte, ziehe den Kürzeren im gemeinsamen Reflektieren. Im Folgenden schildere ich demgegenüber, wie ein ganz und gar vergleichbares Spiel in einem „reinen“ Noise-Kontext ganz anders verhandelt werden kann: Erneut geht es schließlich um die zeitliche Latenz meiner Einsätze. Schauplatz ist das gemeinsame Konzert mit meinem Mitmusiker Stephan, der selbst ein Synthesizer-Modularsystem bedient, während ich – wie üblich – per Notebook sowie in diesem Fall tatsächlich mit einem Mixer agiere, der es mir ermöglicht, meine Beiträge in puncto Lautstärke und Hall unabhängig von Software und Plugins zu regulieren und somit beispielsweise für „weiche“ Einblendungen zu sorgen – sofern ich das möchte: Viele meiner Einsätze aber sind auch in die sem Kontext plötzlicher, unvermittelter Natur, und erneut stellt sich auch eine Latenz meiner Einsätze ein, die offenbar nicht einer Unzulänglichkeit des technischen Equipments geschuldet ist – den Mixer verwende ich ja nun –, sondern eher auf mein Rhythmusgefühl zu gründen scheint, das – offenbar Noise-typisch – etwas „neben der Spur“ ist. Es gibt während unserer Performance einen für mein Empfinden sehr „inspirierten“ Moment, bei dem ich auf einen Gitarrenloop von Stephan mit einem tief grollenden, irgendwie „trompetenhaften“ Sound reagiere – und zwar in einer nicht streng, aber doch stark spürbar rhythmischen Weise. Hier läuft die Verständigung vollkommen ohne Blicke, wir scheinen uns trotzdem ganz selbstverständlich für eine Weile auf diese Call-and-Response-Interaktion zu einigen, bevor sich die Interaktion schlussendlich wieder verläuft. Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Einen Tag nach dem gemeinsamen Konzert mit Stephan spricht mich mein Studienfreund Christoph, der das Konzert besucht hatte, beim gemeinsamen Abendessen auf diese kleine Episode an, und er sagt mir, dass meine „Reaktion“ immer „einen kleinen Moment zu spät“ gekommen sei. Er finde das gut, wie ich „damit gespielt“ habe – man habe, so fügt er an, ja sehr gemerkt, dass das meine Absicht gewesen sei. Aus meiner Bühnenperspektive wiederum verhält es sich anders (was ich während unseres Gesprächs freilich nicht eingestehe): Die leichten Verzögerungen, die man in der Tat auch auf der Aufnahme der Konzertveranstaltung sehr deutlich hört, waren meinerseits nicht intentional und entspringen für mein Empfinden sicherlich eher einem „mangelhaften“ Rhythmusgefühl als dem Vorsatz, gängige Formen musikalischer Ordnung zu irritieren. Im Noise-Verständnis aber ist genau das als legitim verhandelbar: Durch eine positive Bewertung von meinem Studienfreund, der mit Noise vertraut ist, wird mein rhythmisch mangelhafter Einsatz als absichtsvoll und treffend interpretiert.

206 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Es liegt nicht in meiner Hand als Künstler, ob mein Spiel als gelungen und absichtsvoll oder andererseits als Ergebnis mangelnder Erfahrung beziehungsweise technischer Unzulänglichkeiten bewertet wird. Das Zeigen von Kompetenz unterliegt nicht vollumfänglich einem „tatsächlichen“ Können, sondern braucht ein Gegenüber, das Kompetenz erkennt bzw. beglaubigt. Das holistische Moment der Improvisation inkludiert eine durch und durch bedingungsreiche Kontextabhängigkeit.

8.2 Z UR E TABLIERUNG F REMDARTIGKEIT

VON

V ERZERRUNG

UND

Auf den kommenden Seiten will ich zeigen, wie Verzerrung innerhalb des Feldes sozial und damit auch materiell geleistet wird – in einer Weise, die dem rhythmischen „Neben-der-Spur-Sein“ durchaus verwandt ist. Hinzuweisen ist darauf, dass Verzerrung nicht als ein abstrakter Prozess verstanden werden darf, wenngleich die irritierende Fremdartigkeit entstehender Klänge in Alltagsperspektiven zu solch einer Auffassung verleiten mag. Verzerrung ist vielmehr ein praktischästhetischer Eingriff, der – wie der aus dem Tritt geratene Rhythmus gegenüber dem konventionellen Rhythmus – ein relationales Verhältnis zum Unverzerrten pflegt. Bedeutungen werden transformiert, übersetzt und modifiziert. Ein technisches Zurück gibt es dabei in spezifischen Fällen nicht, sehr wohl aber vereinzelte Hinweise auf das, was „mal dagewesen“ ist. Erneut kommt hier der Raum zum Zuge, als tatsächliche Größe sowie als Analogie: Im kommenden Beispiel des Klangkunst-Klassikers I Am Sitting in a Room, der vielen Noise-KünstlerInnen als Inspiration dient, überschneiden sich jene Effekte gar und legen den Blick erst recht frei auf die Materialität von Verzerrungsprozessen. Entfalten will ich die Argumentation anhand einer Konzertbeschreibung aus dem Herbst 2013. Die Noise- und Drone-Musikerin Daina Dieva spielt eine Performance mit Laptop und Mikrofon in einem Frankfurter Veranstaltungsraum: Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Im Hintergrund beginnt am Anfang der Performance auf der Leinwand die etwas unscharfe Videoprojektion zu laufen: Man sieht einen Schmetterling in Nahaufnahme, der sich gerade mühsam und mit sichtba rem Kraftaufwand aus seinem Kokon herausschält. Das dauert ein Weilchen, und währenddessen verformt die Künstlerin ein paar zu Beginn ihrer Performance aufge nommene Kastagnettenschläge offenbar per Software auf ihrem Notebook zu ineinandergreifenden Loops: zu verwaschenen Klangschleifen, die per Echo- und Halleffekt

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 207

übereinanderlappen, ohne hierbei vollständig ihre klanglichen Kerneigenschaften abzulegen. Es bleibt schließlich dieses „knarzig Schlagende“, das dem Klang der Kastagnette eigentümlich ist. Trotz allem Verschwimmen per Effekt bleibt also zunächst ein vager Eindruck des Perkussiven – ohne jedoch, dass ein distinguierter Rhythmus im Dickicht der Loops auszumachen wäre.

Loops greifen ineinander und erzeugen ein Klangbild, das nicht etwa als ein Arrangement komplex interagierender Rhythmen wahrgenommen wird, sondern demgegenüber von amorpher, kaum klar zu fassender Strukturqualität scheint. Das Soundmaterial „lappt übereinander“, die einzelnen Teile greifen ineinander. Klanglich arbeitet die Künstlerin hier mit Techniken, die ein Verschwimmen und ein Nivellieren harter Impulse oder klarer Konturen bewirken. Der Schlag der Kastagnette, der sich per se durch einen markanten, durchaus klaren, leicht identifizierbaren Klang auszeichnet, verliert an dieser Klarheit und scheint unter dem Druck der durchdringenden Verfremdung geradezu dahinzuschmelzen. Im Voranschreiten der Performance scheint das Klanggeschehen hörbar an Fülle zu gewinnen. Das adressiert hier in einem ersten Schritt Modi spezifischer Formgebung, die später in puncto Verzerrung analytisch noch an Bedeutung gewinnen sollen. Fortsetzung der Feldnotizen, Oktober 2013: Offenbar werden recht zügig noch weitere Klangelemente hinzugefügt, die nicht nur dem spontanen Kastagnetten-Sample entstammen – oder? Ich will das nicht felsenfest behaupten, denn was man alleine mit Reverb und einem Pitchshifter am Klangcharakter verändern kann, ist mitunter erstaunlich. Sagen wir also lieber allgemein: Das Klangbild klingt schon in den ersten Minuten der Performance ausgesprochen füllig, „angereichert“.

Die bloße Verfremdung und Bereicherung durch Verzerrungstechniken scheint emergente Klangqualitäten hervorzubringen. Bemerkenswert ist sicherlich, dass dieses Anreichern, dieses Erzeugen eines scheinbaren Mehr entscheidend durch die Schaffung künstlicher Räume über Hall- und Echo-Effekte (Reverb und Delay) bewerkstelligt werden kann. Ein artifizieller Raum wölbt sich einnehmend über das originäre Klanggeschehen und scheint scharfe Kanten, klare Strukturen geradezu unter sich zu begraben oder auch: in sich zu verschlingen. Alles, was nun noch hör- und spürbar ist, ist stumpf und ausgefranst, hat an Kontur verloren und geht gerade hierdurch in einer legitimen Noise-Ästhetik auf, in der Klang z.B. die Klarheit entzogen wird. Weiter in der Beschreibung:

208 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Fortsetzung der Feldnotizen, Oktober 2013: Der Musik werden nun durch vereinzelte Handgriffe immer wieder neue Komponenten hinzugefügt, die die Künstlerin wohl mit recht geringem Aufwand ihrem Software-Setup entlockt. Zwischenzeitlich nimmt sie auch immer mal wieder das Mikrofon und spricht – oder singt? – etwas hinein. Das ist ein eigenartiger Anblick: Da steht eine junge Frau mit ernster Miene auf der Bühne, spricht oder singt in ihr Mikrofon, und was sie da spricht oder singt, ist zu nächst einmal gar nicht zu hören, ist wohl zunächst nur eine Aufnahme, mit der sie sich dann im Nachfolgenden improvisatorisch auseinandersetzt. Nicht plötzlich, son dern erst nach und nach beginnen diese Aufnahmen in das klangliche Gesamtgeschehen einzufließen. Das, was die Künstlerin gesprochen hat, bleibt unverständlich, ein Soundbrei, der keinerlei klare Phrasen freilegt.

Der „ineinanderfasernde Soundbrei“ scheint den kommunikativen Gehalt von Sprache auszuhöhlen: Das Gesprochene (oder Gesungene?) wird in der beschriebenen Szene seiner artikulierten Inhalte „amorphisierend“ beraubt, und übrig bleibt die bloße Stimme als integrierbarer Teil eines ineinander verschwimmenden Klangarrangements. Die spezifische Art, in der die Stimmaufnahme hier gebogen, „geschmolzen“ und schlichtweg dem übrigen Klanggeschehen vernebelnd eingeebnet wird, lässt an Schürkmanns (2014) Auseinandersetzung mit Material in Erzeugungsprozessen der bildenden Künste denken. Hier wird Material in vergleichbarer Weise, die sich ebenfalls durch einen gewissen experimentellen Gestus auszeichnet, bearbeitet und modelliert: „Die Perlen hat [der Künstler] vor sich auf einem Tisch ausgebreitet und beginnt vorsichtig und minutenlang diese auf Backpapier anzurichten, bevor sie anschließend mit einem Industriebügeleisen unter von dem Künstler ausgeübten Druck zu Platten zusammengeschmolzen werden. Nach Erkalten der ersten Platte nimmt er die Kunststoffplatte in die Hand, biegt und wendet sie. Er betrachtet aus verschiedenen Perspektiven wie sich die Platte während des Biegens verhält – sie lässt sich stark krümmen. Nachdem er mehrere Platten geschmolzen hat, nimmt er eine der Platten noch einmal in die Hand und biegt sie; begeistert ruft er: ‚Wie stabil das is! Immer Wahnsinn!‘“ (S. 8).

Es darf unterstellt werden, dass unter Noise-MusikerInnen ein vergleichbares Wissen um grundlegende Materialeigenschaften existiert: wie man beispielsweise die klangliche Qualität einer Stimmaufnahme effektiv manipuliert, nicht jedoch über bestimmte Grade der Unkenntlichkeit hinaus. Denn wie die oben zitierte Szene zeigt, ist Stimme noch immer als Stimme, wenngleich nicht im Sinn des sprachlichen Ausdrucks zu erkennen. Jene Manipulationen, die ein Aufgehen in amorphen Qualitäten zur Folge haben, dürfen also nicht in Stumpf- oder

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 209

Grobheit operieren, sondern müssen auf praktische Fertigkeiten rekurrieren, die mit Fingerspitzengefühl entlang gewusster Materialeigenschaften operieren. Anzunehmen ist dabei eine gewisse Verlässlichkeit der entsprechenden Techniken. Becker (1995, S. 303f.) stellt grundlegend fest: „In conventional music-making, nothing goes away at the end of the day. We don’t invent a new scale every day. [...] Similarly, we don’t burn our instruments“. Selbst im Feld des Free Jazz, so der Autor, werde mit einer „small library of short phrases“ gearbeitet, die nahezu endlos variiert werden könne. Becker beruft sich begrifflich auf das „package“: „It’s the package that exerts the hegemony, that contains the inertial force, if I can attribute agency to such a conceptual creation“ (S. 304). Ausgegangen werden muss also von Einschreibungen und Vorstrukturierungen, die durch ein „Gesamtpaket“ aus technischen Artefakten, performativen Repertoires und beteiligten Wissensformen – impliziter wie expliziter Art – determiniert werden. Folgende Frage will ich im Anschluss analytisch erörtern: Über welche Kompetenzen verfügen Noise-MusikerInnen in Hinsicht auf Verzerrung im Sinn von Materialbearbeitungsprozessen, und inwiefern korrespondieren jene Kompetenzen mit einer spezifischen Ästhetik des Feldes? In diesem Kontext sollen die durch Schürkmanns Beschreibungen und Analysen angeregten Gedanken vertieft werden. Die Frage der Kompetenz in Verzerrungsangelegenheiten ist zudem eine, die erneut das Spannungsfeld zwischen Indeterminiertheit und Routine adressiert: Das Transformieren im Sinn der Materialbearbeitung ist mitunter ein Experimentieren par excellance, und doch impliziert das „package“ Verlässlichkeit: Der Prozess ist kein vollkommen offener. Er muss schließlich bei aller Verzerrung und bei allem destruktiven Gestus gegenüber den Leidenschaften, Affekten und Ästhetiken intelligibel bleiben, die in Hinblick auf Noise unter TeilnehmerInnen zirkulieren. Leicht ernüchtert mag man hier konstatieren: Das Experiment gelingt, wenn es „im Rahmen bleibt“. Sozialwissenschaftlich ist das schlüssig: Tarde (1969) eröffnet z.B. eine Perspektive auf Talent als Gewohnheit qua Wiederholung: „Sentiments are habits of judgment and desire which have become very alert and almost unconscious through repetition. Talents are habits of activity which have also gained a mechanical facility by repetition. Both sentiments and talents, then, are habits: the only difference between them is that the former are subjective, and the latter, objective facts“ (S. 187).

In diesem Sinn ist auch ein ausgewiesenes Experimentieren durchaus ein Imitieren, zeichnet sich eine dezidiert offene Praxis dadurch aus, dass sie von kompe-

210 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

tenten TeilnehmerInnen als offen erkannt und gewusst werden kann. Ein schlüssiges Experimentieren ist kein voraussetzungsloses „Anything goes“. 8.2.1 Verzerrung als Klang, Raum und Bild Ikoniadou (2014) verweist in einer Auseinandersetzung mit der affektiven Wahrnehmung von Sound Art im Allgemeinen auf den schier grenzenlosen Facettenreichtum in den Möglichkeiten zeitgenössischer Klanggenerierung: „Acoustic imagination knows no boundaries: you can hear a wall or a room; you can create spaces that do not exist; sound signals a breakdown, a welcomed turn away from the limitations of language“ (S. 141). An dieses Ausschöpfen der Imagination über die Begrenzungen der Sprache hinaus scheint Noise in oftmals barscher Weise anzuschließen. Die Autorin thematisiert im Kontext der Fremdartigkeit von Klang das Erzeugen von „spaces that do not exist“. Durch den Umgang mit Echo- und Halleffekten als Werkzeug der Nivellierung und Neuformung von Struktur – siehe hierzu die obigen Beschreibungen zum Konzert von Daina Dieva – vermag Noise in bemerkenswerter Weise Raumerfahrungen hervorzubringen, die der raumsoziologischen Vorstellung von simulierten und imaginären Räumen (vgl. Löw 2001, S. 93) entsprechen. Der tendenziell exzessive Einsatz solcher Effekte ermöglicht die Schaffung „physikalisch unmöglicher Wahlräume“ (vgl. ebd., S. 97). Eine vollumfängliche „Authentizität“ von Raumerfahrung wird hier hinfällig, und auch insofern wird im Noise jene klangliche „Fremdheit“ hervorgebracht, die dem Feld als ein zentrales Charakteristikum gilt (vgl. hierzu etwa Klett/Gerber 2014, S. 282f.). Freilich wird derart exzessiv „verhallte“ Musik schlussendlich in „greifbaren“ Räumen gespielt, die selbst über eine eigene Klangdynamik verfügen und diese den Soundsignalen regelrecht aufzwingen: Virtueller Raum und physikalisch restringierter, „gehemmter“ Containerraum begegnen hier einander permanent in einem Miteinander, das sich beeinflussen, aber nicht vollends auflösen lässt.7 Nicht umsonst genießt I am Sitting in a Room, ein Stück des amerikanischen Avantgarde-Komponisten Alvin Lucier, in der Noise-Szene mitunter den Status einer fortwährenden Inspirationsquelle für KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen. In der kursierenden Tonaufnahme von 1969 spricht der Komponist zunächst vollkommen unverzerrt den folgenden Text: 7

So bleibt der Containerraum stets eine akustische und anderweitig relevante Größe, mit der in situ zu rechnen ist: Feinabstimmungen im Klang können von MusikerInnen meinen Beobachtungen zufolge tatsächlich nur in einem gewissen Ausmaß im Vorhinein antizipiert und vorbereitet werden.

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 211

„I am sitting in a room different from the one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice and I am going to play it back into the room again and again until the resonant frequencies of the room reinforce themselves so that any semblance of my speech, with perhaps the exception of rhythm, is destroyed. What you will hear, then, are the natural resonant frequencies of the room articulated by speech. I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any ir regularities my speech might have“ (Lucier 1993 [1970]).

Die Aufnahme wird daraufhin erneut in jenem Raum, in dem sie gemacht wurde, abgespielt und in dieser Wiedergabe ein weiteres Mal aufgenommen. Dieser Prozess wird in mehreren aufeinanderfolgenden Episoden wiederholt: „Since all rooms have characteristic resonance or formant frequencies (e.g. different between a large hall and a small room), the effect is that certain frequencies are emphas ized as they resonate in the room, until eventually the words become unintelligible, replaced by the pure resonant harmonies and tones of the room itself“8.

Es wird also das Raum-Klang-Verhältnis als Effekt und Prozess in einer Art und Weise perpetuiert und übereinandergeschichtet, die keinem „natürlichen“ Halleffekt eines tatsächlich „möglichen“ Containerraumes mehr entspricht, sondern demgegenüber eine Irritation gegenüber jedwedem „absolutistischen Raumbegriff“ (vgl. Löw 2001, S. 100) etabliert. Irritiert wird in diesem Atemzug die Sicherheit der Existenz in drei Dimensionen (vgl. ebd., S. 101), wir begegnen hier vielmehr vielfältigen, uneinheitlichen, sich überlappenden Räumen (vgl. ebd.). Demers (2010) schreibt zu Luciers Komposition: „The piece is most impressive when heard live within the very room where the speaker’s voice is slowly being fossilized and rendered unintelligible. In short, I Am Sitting in a Room treats space but also the embodiment of listening, the fact that we not only listen as minds or ears but as entire bodies. The concept of space risks reifying electronic works as objects separate from their surroundings, whereas any practical treatment of space in mu sic always hinges on the listener’s relationship to sound“ (S. 113).

Nur in Fragen einer konventionellen Sprachlichkeit wird das Stück tatsächlich unintelligibel. Im gleichen Atemzug wird es einer räumlich mithergestellten

8

Online:

https://en.wikipedia.org/wiki/I_Am_Sitting_in_a_Room,

10.02.2016. Siehe Internetquellen: Wikipedia (b).

zugegriffen

am

212 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Klangästhetik begrifflich, die das Löschen und das Verschwimmenlassen als grundlegende Kriterien inkludiert, die von TeilnehmerInnen als reizvoll erkannt werden und von KünstlerInnen kompetent hergestellt werden. I Am Sitting in a Room evoziert unter KennerInnen schließlich nicht ein Gefühl von: „Moment mal, da fehlt doch etwas, das klingt jetzt verkehrt“. Vielmehr „wissen“ erfahrene HörerInnen: Das ist gelungene Kunst, weil etwas fehlt, weil das Gesagte nun unverständlich ist und weil eine Art Ästhetik verleihende, schlussendlich Form gebende „Löschung“ stattfindet (zum Aspekt der Formgebung in diesem Kontext später mehr): Ich behaupte, dass es mit einer Löschung nicht getan ist, sondern dass zugleich immer auch ein Mehr hergestellt wird, und es ist dieses Mehr, das die Ästhetik komplettiert. Diesem Aspekt will ich mich schließlich in puncto Materialbearbeitung eingehend annehmen. Zuvor will ich zur Heranführung an die Vertiefung der Materialität noch einen medialen Brückenschlag zu einer korrespondierenden Bildästhetik wagen, die ebenfalls spezifische Modi von Verzerrung kennt. I Am Sitting in a Room wurde von dem Künstler Pete Ashton in das Bildprojekt I Am Sitting in Stagram, ein Wortspiel in Bezug auf die Foto-Plattform Instagram, übersetzt. Der zugrundeliegende Prozess wird folgendermaßen beschrieben: „Since Instagram has no mechanic for reposting (unlike, say, Tumblr), users who want to ‚regram‘ an image take a screen capture and post it as a new image. Each reposting intro duces generational loss as the image is transcoded from PNG to JPG and optimised by In stagram. While initially irrelevant, the loss adds up and the image degrades. […] Decay through user attrition is a rare example of digital sharing having an effect on the file itself. A platform that requires tran- [sic!] and re-encoding of data introduces imperfections analogous to smudges, scratches and fingerprints on physical media. This work regrams the same image 90 times until it becomes noise. The 90 images are compiled into a video running at 6 frames per second, fitting the 15-second time limit of Instagram. Finally, the video is uploaded where it auto-plays in the Instagram stream, decaying in front of people’s eyes“.9

Das Projekt I Am Sitting in Stagram macht einen potenziellen Erzeugungsprozess von Verzerrung auf eine Art sichtbar, wie sie TeilnehmerInnen schlüssig ist („until it becomes noise“10). Betont wird der Verfall („loss“, „degrading“, „de9

Online: http://art.peteashton.com/art/i-am-sitting-in-stagram/, zugegriffen am 10.02. 2016. Siehe Internetquellen: Ashton (2015a).

10 Mit Noise ist hier freilich nicht explizit das Musikgenre gemeint, sondern grundlegend: noise, Rauschen.

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 213

cay“), und in diesem Kontext ist von „smudges, scratches and fingerprints“ die Rede. Dieser Verweis auf einen ganz spezifischen, destruktiv konnotierten Verfall soll uns später noch interessieren, wenn an Schallplatten, deren Oberfläche mit Schmirgelpapier zur Noise-Generierung bearbeitet wird, in der Tat mit handfesten, das Material verändernden Kratzern gearbeitet wird. Nachfolgend zitiere ich die ironisierte Adaption von Alvin Luciers Originalrede, die auch auf einen möglichen Restbestand von Information aufmerksam macht („any semblance of the photo, with perhaps the exception of pattern, is destroyed“). Diese Informationsüberbleibsel sollen uns im Folgenden noch weiter interessieren: Sie sind nach meiner Auffassung entscheidender Bestandteil einer in Verzerrungsprozessen mitunter exerzierten Verfallsästhetik: Der Hinweis darauf, „dass da mal etwas war“, macht die Verzerrung als eingreifenden, Struktur nivellierenden Prozess plausibel, „greifbar“ und gefühlt wirkmächtig. „I am logged into an Instagram account, identical to the one you are in now. I am posting a photograph and I am going to screen-shot and repost it again and again until the compression artefacts of the algorithm reinforce themselves so that any semblance of the photo, with perhaps the exception of pattern, is destroyed. What you will see, then, is the algorithm of Instagram articulated by photography. I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my photo might have“.11

Das Video beginnt mit einem unverzerrten Porträtfoto von Alvin Lucier, und mit zunehmender „Verzerrungsdauer“ wird dieses geradezu zersetzt und mündet in ein zunehmend diffuses, aber nie ganz formfreies Bildrauschen mit starkem Hervortreten von Schwarz-, Weiß- und Grautönen – als technischer Anachronismus bekannt aus dem „Schnee“ im analogen TV. Der digitale Zersetzung implizierende Titel des Videos lautet: Lucier Dissolves in 15 Minutes.12 Die Visualisierung demonstriert und plausibilisiert, was mit Form geschieht, wenn sie zu Rauschen prozessiert wird. Ästhetisch-assoziativ ist die Darstellung hochgradig anschlussfähig an den Umgang von Noise als Genre mit musikalischer Form. Die sound studies kennen vergleichbare Prozesse der Übersetzung als „Sonifikationen“ (vgl. allgemein Schoon/Volmar 2012): Hier wird z.B. Bild- in Klangmaterial „übersetzt“ – einem Teilnehmer aus dem Feld gemäß übrigens durchaus

11 Ebd. 12 Online: https://vimeo.com/124753864, abgerufen am 03.01.2016. Siehe Internetquellen: Ashton (2015b).

214 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

mit einer gewissen Kreativität, die der Klangästhetik gegenüber einer strengen Übersetzung mitunter Vorfahrt gewährt. Wie beispielsweise das Buch Chimerizations von Florian Hecker (2013) zeigt, werden Modi der Klangverzerrung in Hinblick auf Noise innerhalb des Feldes ohnehin in schlüssig erscheinende Visualisierungen übersetzt. Klang und Bilder scheinen in diesem Kontext einander gegenseitig zu informieren und zu plausibilisieren; soll heißen: Die Visualisierungen sind nicht bloße „Bildwerdungen“ von Sound. Vielmehr mag sich an ihnen umgekehrt auch die Klangbearbeitung orientieren. Immanent ist dem Phänomen also eine permanente Wechselseitigkeit, durch die sich Noise als Prozess insgesamt bestätigt und auch weiterentwickelt. Ton angebende KünstlerInnen drücken dem Feld also durch ihre Rolle als „Szenevorreiter“ ihren Stempel auf, zehren aber zugleich von zirkulierenden Verständnissen und müssen an diese Anschluss finden: So wird reziprok – wenngleich nicht hierarchiefrei! – die geteilte Sinnwelt gestaltet. Die Bildübersetzungen zeigen, dass Verzerrungen im Feld keiner ästhetischen Beliebigkeit unterliegen: Sie werden freilich mit einer gewissen Kreativität betrieben – beständige Wiederholung kann im Feld schließlich Irrelevanz bedeuten. Im Sinn einer kreativen Variation unterliegt der Verfremdungsprozess aber unbedingt einer im Feld zirkulierenden Normativität, die etwa durch Anerkennung und Zuspruch belohnt und somit ästhetisch bekräftigt werden kann. Übersetzungen zwischen Klang und Bild ist im Übrigen nicht selten ein forscherischer Impetus immanent, der zur Plausibilisierung der Visualisierungen beiträgt. Im Fall der Chimerizations ist das Bildgeschehen sichtlich „neben der Spur“, konventionelle Form aber bleibt rudimentär in erkennbaren Andeutungen präsent und wird demnach durch die Irritierenden selbst mithervorgebracht. So lebt ein Bild beispielsweise davon, dass ein Baum trotz massiver digitaler Verfremdung schlussendlich irgendwie doch noch als Baum erkannt werden kann. Ihm wurde als Fotografie der Prozess einer neuen, im Noise-Kontext schlüssigen Formgebung eingeschrieben. Dieses Verhältnis zwischen „löschender“ Verzerrung und einer andeutungsweisen Kenntlichkeit konventioneller Formen will ich im Abschnitt zur Verzerrung als Materialbearbeitung weiter ergründen. Fremdartigkeit wird in jedem der zu beschreibenden Fälle durch eine Modifikation im Sinn eines „Löschens“ oder einer Umdeutung hergestellt. Diese Modi sind ungeachtet ihrer verschiedenen Etablierungskontexte eng miteinander verwandt und haben in fragmentierter Form jene Konventionalität zum (jedenfalls partiellen) Inhalt, der sie sich entgegenzustellen scheinen. Um ein basales Verständnis für diese spezifische Ambivalenz zu schaffen, beginnt der folgende Unterabschnitt mit der Darstellung einer Ausführung, inwiefern im Feld mitunter eine Anerkennung für

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 215

konventionell-musikalische Inhalte zirkuliert, wenn Noise beispielsweise als „oddly musical“ erkannt wird. 8.2.2 „Oddly musical“: Musik als „das Andere“ im Noise 13 In australischen Programm The Antidote Podcast14 wird ein Noise-Album, das unter meiner Beteiligung entstand, von zwei Rezensenten (im zitierten Austausch erneut der Einfachheit halber „A“ und „B“ genannt) im Rahmen der Bewertung und damit einhergehenden Beschreibung als „oddly musical“ diskutiert: A: It – and it’s oddly musical too, for all of its – for all of the brutal moments and all of the white noise there are – there – sort of a – synths being used in unusual ways and stuff, which gives it a kind of musical edge. Did you – do you – did you see that in it? B: Ah yeah, yeah! Absolutely, I mean there’s one track that’s got all of these little chimes on it, these sorta gong noises […].

Die Anerkennung einer „musical edge“ mag die Frage aufwerfen: Geht es denn im Feld um eine vollkommene Ablehnung dessen, was von TeilnehmerInnen als Musikalität erkannt und etikettiert wird? Obgleich sich das Feld doch in einer Art oppositionellen Haltung gegenüber konventionellen Musikformen gefällt, lässt sich das für die vollständige Breite der Fans und KünstlerInnen offenbar nicht behaupten, und es kann vielmehr ein weit diffuseres Spannungsfeld zwischen Noise und Musik beobachtet werden, dessen Sinnhaftigkeit ich mich im vorliegenden Abschnitt annähern will. Im folgenden Szenario scheinen während einer Noise-Improvisations-Performance im Publikum gar jene Momente für ausgesprochene Begeisterung zu sorgen, in der ein tendenziell konventionelles Musizieren für TeilnehmerInnen erkennbar ist, und das, obgleich ich unterstelle, dass sich bei der Konzertreihe, in deren Rahmen der Auftritt stattfindet, ein Publikum einfindet, das mit dezidiert unkonventionellen Musikformen gründlich vertraut ist, die Nähe zu solchen aktiv sucht und in nicht wenigen Fällen gar zu einer regelrechten Szene von Kunstmusik- und Noise-affinen Personen zu zählen ist. Die nachfolgende Notiz de-

13 Die Überschrift dieses Unterkapitels ist eine verkehrende Variation auf den Buchtitel Geräusch – das Andere der Musik (Hongler et al. 2014). 14 Online:

https://theantidotepodcast.com/2015/04/08/episode-36-mike-shiflet-high-

aurad-phirniskatarrhaktes-and-oren-ambarchi/, zugegriffen am 12.12.2015. Siehe Internetquellen: Antidote Podcast (2015b).

216 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

monstriert, wie der Umgang mit konventionellen Musikformen sich über die bloße Arbeit an Klang und Struktur hinaus erstreckt und von MusikerInnen auch gestisch und mimisch angezeigt wird – intelligibel für ein entsprechend sensibilisiertes Publikum, das dem Anzeigen von Konventionalität im nachfolgenden Fall mit einem Repertoire von Gesten und Mimiken begegnet, deren Jubel und performative Euphorie dem „gewöhnlichen“ Rockkonzert verwandt scheinen. Das Zeigen ist also beiderseitig und interaktiv. Die Szenerie der nachfolgenden Beschreibung ist ein Duo-Konzert einer Schlagzeugerin und eines Multiinstrumentalisten im stilistischen Spannungsfeld zwischen Noise und freier Improvisationsmusik. Auszug aus den Feldnotizen, August 2015: Zuweilen spielt der Musiker auch auf einer elektrischen Gitarre und bedient sich dabei einer Batterie an Effektgeräten zur Bear beitung und Verfremdung. Gerade während des Gitarrenspiels gibt es Momente, in denen sich das improvisatorische Geschehen zwischen den beiden Protagonisten zu verdichten scheint: Sie finden offenbar „in eine gemeinsame Spur“, „treffen sich in der Mitte“, etablieren in ihrem scheinbaren Drauflosspielen mitreißende Spitzen, in denen das Gemeinsame des kollaborativen Spiels in einer spezifischen Harmoniertheit kul miniert. Bemerkenswert ist, dass diese Zuspitzungen – anders als das Klang- und Spielgeschehen „drumherum“ – starke Erinnerungen an konventionelle musikalische Formen evozieren: So gibt es während der Darbietung etwa einen solchen Höhepunkt, in dem das Zusammenspiel von E-Gitarre und Schlagzeug mit der Nähe zum Heavy Metal zu spielen scheint. Die Rhythmik, die Phrasierung, das „niedermalmende“ Gitarrenspiel, das sich situativ konzentriert in der Form des „Riffs“ materialisiert: All das erweckt diesen klaren stilistischen Eindruck, der performativ mithervorgebracht wird durch die stimmig ausholenden Armbewegungen des Musikers. Er schwingt, er hält inne, er deutet (ironisch?) das allseits bekannte „guitar face“ an, das lustvolle An strengung und zudem eine machtvolle Maskulinität suggeriert. Im Publikum sind es insbesondere diese Momente greifbarer Konventionalität, die für auffällige Begeisterungsstürme sorgen, die sich in aufbrausendem Applaus und – im Fall der Heavy-Metal-artigen Darbietung – in einem hineingerufenen „Super!“ entladen. Bei einem Zuschauer sorgen die Momente, in denen sich das Geschehen zu klar erkennbaren konventionellen Motiven verdichtet, für besondere Begeisterung: Während der Heavy-Metal-Episode scheint er mit seinen Fäusten einen unsichtbaren Boxsack vor sich mit ruckartigen Schlägen zu traktieren. Dabei steht ihm Begeisterung ins Gesicht geschrieben, seine Mimik scheint vereinnahmt von einer regelrechten Verzückung. Er hält sich im Folgenden die flachen Hände an die Seiten seines Kopfes,

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 217

und dabei steht ihm der Mund offen, ganz so, als ob er ausdrücken wolle: „Das gibt’s doch gar nicht! Das darf doch nicht wahr sein!“

Im unkonventionellen Kontext wird Konventionalität hier mit einer performativen Sicherheit einander angezeigt und hat einen sicheren Platz im Gesamtarrangement. Es ist „das Andere“, das verhalten aufblitzt oder einen Höhepunkt markiert. Es bestreitet freilich nicht das volle Programm, und es ist durch sein ledig lich episodisches Aufblitzen weiterhin als „das Andere“ erkennbar: Dafür sorgen KünstlerInnen und Publikum in performativer Zusammenarbeit. Im Feld ist Musikalität durchaus willkommen, wenn sie denn episodisch aufblitzt, wenn sie andernfalls gleichsam verschlungen und verzerrt wird. Ihr In-Erscheinung-Treten macht das künstlerische Repertoire von Noise als oppositionelle Verfremdungsleistung in einer ambivalent spannungsreichen Art erkennbar. Das Erkennen und Anerkennen einer „musical edge“ fungiert also nicht einfach als Anzeiger einer als genuin empfundenen musikalischen Kompetenz. Sie macht vielmehr auch aktiv präsent, was irritiert wird: Um die Auffassung von Fremdartigkeit schlüssig zu gewährleisten, muss schließlich mehr oder weniger klar sein, wem oder was gegenüber die Klangproduktionen des Feldes eigentlich so fremd und unkonventionell sind. Anstatt es bei diskursiven Verweisen und Anspielungen zu belassen, integriert das Feld also zuweilen jene Musikalität, der gegenüber man sich als „andersartig“ positioniert. Wie das vorangegangene Beispiel demonstriert, wird diese Integration nicht einfach klanglich-musikalisch, sondern in einer schlüssigen Spezifizität auch gestisch und mimisch geleistet – von KünstlerInnen und Publikum im vorliegenden Fall gleichermaßen, als ein performatives Zusammenspiel. Das dezidiert Unkonventionelle geht hier mit dem vermeintlich Konventionellen eine geradezu symbiotische Beziehung ein, die sich das „Normale“ zum Material nimmt, um unter seiner Beteiligung (deren Nachweis sich in hörbaren Spuren oder auch in Erzählungen wiederfindet) eine Konturierungsarbeit (quasi: „Das ist Noise, und Noise ist anders“) zu leisten, die etwa im Zuge der Herstellung verschwimmender, vernebelter oder episodisch aufblitzender musikalischer Formen geschieht. Wie bei vielen symbiotischen Beziehungen wird auch hier die Untrennbarkeit keinesfalls dadurch aufgehoben, dass das Verhältnis mitunter als ambivalent, in seiner Konstitution als schwer verständlich oder als konfliktreich aufgefasst werden kann. Das verdeutlicht die folgende Notiz, die ein flüchtiges Gespräch zwischen einem Noise-Musiker und mir beschreibt. Adressiert wird das Vernebelte, das „Aufblitzende“ als Modus der Musikalität im Sinn eines typischen Programms:

218 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Auszug aus den Feldnotizen, März 2014: Im Gespräch sind wir uns sehr schnell einig, dass Noise „ein sehr breites Spektrum“ umfasst. Ich erwähne hierzu auch, dass ich öf ter mal gefragt werde, wie sich denn mein Thema zu Noise-Rock verhält, den es ja auch gibt. Für mein Gegenüber ist das nachvollziehbar: „Ja, das frage ich mich auch immer, wie sich das eigentlich zueinander verhält“. Ich sage, mir fiele die Definition von Noise auch deshalb schwer, weil es sehr wohl eben rhythmischen, ebenso sehr wohl melodischen Noise gebe. Mein Gesprächspartner stimmt zu: Das Album von Christian Fennesz und Ryiuchi Sakamoto beispielsweise (gemeint ist Cendre von 2007), da würden ja richtige kleine Melodien gespielt. Ich ergänze, dass man zugleich aber beachten müsse, dass diese Melodien immer wieder nur angedeutet oder von Verzerrung umnebelt würden. Mein Gegenüber stimmt mir zu.

Das ungleiche Paar „Noise und Musik“ steht in einem beständig reproduzierten Spannungsverhältnis, das von TeilnehmerInnen als interessant, als rätselhaft und reizvoll begriffen werden kann. Das Andeuten, das Verzerren und das Vernebeln verweisen gleichsam auf ein vom Feld gekonntes und gewusstes technisches Repertoire, durch das „echte“ Musik als ein nachfolgend teilpräsentes Basismaterial bearbeitet wird. Wie eine solche Bearbeitung samt kompetenter Sinnstiftung vonstatten geht, will ich im Folgenden darstellen. Die Schilderungen zeigen dabei insbesondere eine überaus materielle Dimension jener Herstellungs- und Plausibilisierungsprozesse, die im Feld einschlägige Auffassungen von Unkonventionalität potenziell gewährleisten. Schlüssig einher geht mit jenen Haltungen zuweilen eine dem Prozess der Verzerrung gegenüber keinesfalls arbiträre Affektivität. Verzerrung mag man als eine Modifikation begreifen, die in ihrer Noise-typischen Ästhetik Modi der Destruktivität, aber auch der spezifischen Formgebung inkludiert. Der Auffassung einer „Indeterminiertheit“ steht in der nachfolgenden Argumentation eine ästhetische Schlüssigkeit gegenüber, die niemals vollkommen erratisch oder beliebig operiert, sondern deren experimenteller Gestus praktischen Ordnungsbildungen unterliegt. 8.2.3 Verzerrung als Materialbearbeitung Um Transformationen analytisch zu fassen, bedarf es einer theoretischen Perspektivierung. Diese führt mich zu Bruno Latour: Mit dem Konzept der zirkulierenden Referenz interessiert sich der Autor insbesondere dafür, wie reversible Transformationsketten etabliert werden, z.B. in der Transformation vom Untersuchungsobjekt zum wissenschaftlichen Paper, in der Verbindung also zwischen

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 219

Welt und Wort (vgl. Wieser 2012, S. 35). Der Aspekt der Reversibilität wird dabei besonders hervorgehoben: „Unterbricht man [die Kette] an irgendeinem Punkt, so ist auch der Transport, die Produktion, die Konstruktion, gewissermaßen die Leitfähigkeit des Wahren unterbrochen. […] Die Wahrheit zirkuliert in [der Kette] wie die Elektrizität entlang eines Drahtes, und zwar so lange, wie er nicht zerschnitten wird“ (Latour 2000, S. 85).

Wenn ich der Noise-Ästhetik folge, die drastische, stark verfremdende Modi der Verzerrung betont, erscheint es mir hier freilich interessant, gerade ein solches „Zerschneiden“ als eine mögliche Art der Transformation im Hinterkopf zu behalten. Im Folgenden beschreibe ich die Arbeit mit einem so genannten Bitcrusher am Rande einer gemeinsamen Improvisationssession mit dem Noise-Musiker Stephan in seinem Heimstudio: Auszug aus den Feldnotizen, November 2012: Stephan schaltet nun die Stromleiste an, und einige Lämpchen an Geräten flackern auf. Ganz naiv zeige ich auf ein recht handliches Objekt mit vielen (schätzungsweise acht) rechteckigen Knöpfen, die beim Einschalten der Reihe nach für einen kurzen Augenblick rot aufleuchten. „Das ist ja nett“, bemerke ich lapidar, und Stephan entgegnet mir: Ja, das sei ein Bitcrusher, den er einigen anderen Geräten (vermutlich per Verkabelung) zwischengeschaltet habe. Prompt wird mir die Funktionsweise des Bitcrushers vorgeführt, und ich werde Zeuge der starken Verfremdung eines Klangs, der von einem anderen Gerät hervorgebracht wird und in seiner Reinform relativ sauber tönt, bevor ihn der Bitcrusher mit nur einem einzigen Knopfdruck in etwas ganz Körniges, Ruppiges verwandelt. Offenbar kann man die einzelnen Knöpfe des Crushers auch kombinieren, und jeder Knopf für sich scheint dem Ausgangsklang einen ganz eigenen, vermutlich aber (für die einzelne feste Funktion) durchaus typischen Klangcharakter zu verleihen. Ich bin begeistert, denn mir gefällt dieses „Vernoisen“ oftmals ausgesprochen gut: diese raue Qualität, die ein Klang durch die Verfremdung dieser Art erhält. Schwer zu sagen, was genau daran so reizvoll ist: Im Grunde genommen, so sinniere ich vor mich hin, hat eine Veränderung von Klang per Bitcrusher immer etwas Zerstörerisches. Man hat den Eindruck, dass dem Ausgangsklang eher etwas entzogen als hinzugefügt wird. Dadurch allerdings erhält dieser Klang eben eine ganz bestimmte Qualität, die der grundlegenden Ästhetik des Noise meines Erachtens in ganz bedeutender Weise entspricht.

Deutlich also entsteht in der teilnehmenden Beobachterperspektive der Eindruck, dass etwas entzogen wird; es wird in der Subjektivität meiner Beschreibung ins-

220 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

besondere die destruktive Qualität hervorgehoben und der Noise-Ästhetik als charakteristisch zugewiesen. Der Prozess hinter einem Bitcrusher birgt demgegenüber in knappen, allgemeinverständlichen Beschreibungen technischer Natur, wie sie sich auf Wikipedia wiederfinden, nicht nur ein Abtragen von Information, sondern auch einen spezifischen Zugewinn: „Eine digitale Aufnahme hat eine Auflösung des Pegels von n Bit, d.h. es gibt 2 n (mit n ∈ ℕ) mögliche Zustände des Pegels. Reduziert man die Zahl n, vermindert sich dadurch die Anzahl der möglichen Zustände und damit die Auflösung. Standard bei CDs ist eine Auflösung von 16 Bit, also 216 mögliche Zustände. Bei ca. 8 Bit und weniger lassen sich Verzerrungen und dadurch eine Abnahme der Aufnahmequalität wahrnehmen. Diese Verzerrungen fügen dem Ausgangssignal Obertöne hinzu und zwar so, dass die Wellenform ‚eckiger‘ wird. Im Gegensatz dazu wird bei einem analogen Verzerrer, bei dem ebenfalls Obertöne generiert werden, die Wellenform aber eher abgerundet, was einen wärmeren Klangeindruck vermittelt“.15

Während einerseits also Information entzogen wird, entsteht darüber hinaus auch ein neuartiges, dem Prozess gegenüber spezifisches Mehr an Information: nämlich Obertöne, die im jeweiligen Ausgangsmaterial in dieser Form noch nicht zu hören sind. Dieses Zusammenspiel von destruktiven und produktiven Bestandteilen soll uns im Sinn einer Analogie auf den technischen Prozess nun noch weiter beschäftigen: Das „Vernoisen“ verlangt nach einer passenden konzeptionellen Einordnung, die neben einem „Zerschneiden“, neben einer destruktiven Qualität von Verzerrung auch Modi spezifischer Formgebung anerkennt. Passend erscheint ein Verständnis von mediators und intermediaries, wie es von Latour (2005, S. 37ff.) vorgeschlagen wird: Während ein intermediary Bedeutungen oder Kräfte ohne Transformationen transportiert (ein funktionierender Computer wird hierfür als plastisches Beispiel angeführt), werden Bedeutungen von Mediatoren grundlegend transformiert, übersetzt, verzerrt und modifiziert: „Their input is never a good predictor of their output; their specificity has to be taken into account every time“ (ebd., S. 39). Dem Konzept der Mediatoren wird zugesprochen, gegenüber bisherigen soziologischen Vorstellungen vom Konstruieren und Reproduzieren den entscheidenden Unterschied zu leisten und somit in der Tat statt bloßer Reproduktion (die dem Begriff der intermediaries verwandt ist) eine tatsächliche Transformation und eben durchaus auch eine Verzerrung argumentieren zu können; beteiligt sind an solcherlei Prozessen die Leidenschaf15 Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Bitcrusher, zugegriffen am 02.11.2015. Siehe Internetquellen: Wikipedia (c).

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 221

ten, Meinungen und Haltungen von TeilnehmerInnen (vgl. ebd.), im vorliegenden Fall beispielsweise: Vorstellungen von Destruktivität oder davon, dem ursprünglichen Klang etwas zu „entziehen“, ihn gemeinhin auch einfach zu „verzerren“. Im Folgenden will ich zeigen, wie die Rede vom „Entziehen“, von der reizvollen Destruktivität, mit ganz konkreten, „ganz analogen“ (s.u.) Techniken der künstlerischen Materialbearbeitung korrespondiert – und auch hier sind „Form nehmen“ und „Form geben“ im Sinn einer Übersetzung, Verzerrung und Modifikation aufzufassen. Ein Materialverständnis ist deshalb für die Erschließung der Verfremdung unerlässlich, weil er darauf aufmerksam macht, dass Bearbeitungen nicht vollumfänglich den gezielten Intentionen von KünstlerInnen unterliegen, sondern Prozesse der Modifikation zudem in entscheidendem Ausmaß von restringierenden Materialbeschaffenheiten geprägt sind. Schürkmann (2014, S. 10) argumentiert: „Material im Prozess des künstlerischen Arbeitens zeigt sich […] auch in situ als ein Ausgangsstoff des künstlerischen Arbeitens, der im praktischen Einsatz sowohl in ein routiniertes Vollziehen als auch in ein experimentelles Ausprobieren einleiten kann“. Erneut unterhalte ich mich mit Stephan: Auszug aus den Feldnotizen, November 2012: Wir plaudern ein wenig über verschiedene Arten der Klangerzeugung, und mit einiger Begeisterung erzählt mir Stephan davon, er habe zuletzt „ein paar Schallplatten abgeschmirgelt“ und diese dann abgespielt und aufgenommen. Unmittelbar frage ich nach, was er denn genau für Platten verwendet habe, und er antwortet mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit: „Flohmarkt“. Er habe „Weltmusik-Schallplatten“ verwendet, und er habe die anfangs einfach ganz ziellos abgeschmirgelt und sie dann aufgelegt und das Resultat mitgeschnit ten. Ihm sei dabei aber aufgefallen, dass die Prozedur sinnvollerweise etwas mehr Planung erfordere: Die LPs müsse man so abschmirgeln, dass die Nadel nicht nach wenigen Sekunden schon einmal über die ganze Platte gegangen ist. Er habe sich daher zuletzt ein wenig Mühe gegeben, die Tonträger in einer Art zu bearbeiten, die dazu führt, dass die Nadel irgendwann auch mal hängt und sich an einer Stelle für längere Zeit „aufhält“. Allgemein findet Stephan, dass es interessant sei, mit solchen Medien ganz analog Musik zu machen.

Der Prozess insgesamt ist nicht untypisch und findet sich vergleichbar wieder in Aufnahmen wie dem Genre-Klassiker Solo for Wounded CD von Yasunao Tone. Welche spezifischen Materialien nun im Prozess der künstlerischen Arbeit auf welche Weise eingesetzt werden, obliegt Schürkmann (2014) zufolge „einerseits den selektierenden Künstlerinnen und Künstlern“, andererseits aber „scheint

222 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

auch das Material in seinen Wirkungen, seinen Sichtbarkeiten und seinen Erfordernissen auf Selektivitäten Einfluss zu nehmen“. Diese Wechselwirkung, so die Autorin, zeige sich durchaus „innerhalb eines Zusammenspiels von leiblichästhetischer Wahrnehmung und materialspezifischen qualitativen Wahrnehmbarkeiten“ (S. 10). Im Folgenden wird von meinem Gegenüber eine für ihn schlüssige Verschränkung von Materialbearbeitung und biografischer Erzählung hergestellt: Auszug aus den Feldnotizen, Dezember 2015: Stephan berichtet mir, er habe bei seiner Bearbeitung von Schallplatten auch ein paar Hardcore-Punk-LPs aus seiner Jugend verwendet. Zuletzt fügt er an, ihm sei es durch dieses Abschmirgeln und Verarbeiten dieser Platten gelungen, seine Erinnerungen an diese „zu löschen“. Überhaupt berichtet er mir, er nenne die durch Abschmirgeln entstandenen Stücke Die Auslöschungen. Acht Aufnahmen dieser Art öffnet er für mich in einem Sequenzerpro gramm, und gemeinsam lauschen wir. Der Klang zeichnet sich durch ein warmes, hörbar „analoges“ Rauschen aus, dazwischen sind kleinste Überreste aus dem Basismate rial zu hören: Es sind hastig in Erscheinung tretende Schnipsel, die nur vage Assozia tionen, nicht aber vollständige Erinnerungen wecken. Stephan sagt mir, ich solle mal raten, was für Musik das mal gewesen ist. Ich rate (nicht ganz voraussetzungslos, siehe obige Feldnotiz): „World Music?“ Nein, entgegnet er, das sei eine Blues-Platte gewesen. Immer wieder müssen wir beim Hören lachen, und Stephan sagt hörbar erheitert: Er glaube, das sei jetzt echt keine Musik mehr, was er da gemacht habe, „mehr so Klangkunst“. Die musikalische Identität des Basismaterials scheint in der Tat „ausgelöscht“. Stephan meint, das könne man ja mit aller möglichen Musik machen, „mit Beatles-Platten zum Beispiel“. Ich äußere die These, dass sich in dem Fall vielleicht sogar noch das Basismaterial erkennen ließe, weil die Stimmen der Bandmitglieder doch recht markant seien und man mit ihrem Klang sehr vertraut sei. Bei aller Auslöschung scheint also vorstellbar, dass Einzelelemente musikalischer „Identität“ als solche erkennbar bleiben.

Stephans Darstellung verweist auf die Wertschätzung einer destruktiven, nivellierenden Kraft, die dem Noise-Prozess unterstellt wird und die positiv konnotiert ist. Die adressierten Identitätsreste des musikalischen Materials erinnern wiederum an I Am Sitting in Stagram und Florian Heckers Chimerizations – jene visuellen Verzerrungen (siehe oben), in denen Grundelemente von Form oder Gestalt dem Verzerrten zu verschiedenen Graden immanent bleiben. Materialbearbeitung, künstlerische Haltung und biografische Erzählung münden hier im Übrigen in eine spezifische Affektivität: Einmal mehr wird in einer Erzählung

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 223

von Künstlerseite also ein Zusammenhang zwischen „inneren Zuständen“ und der spezifischen Art Klanggenerierung – und somit Materialbearbeitung – hergestellt. Man hört hier als TeilnehmerIn schlussendlich nicht Musik „mit“ Verzerrung, sondern man hört in erster Linie diese Verfremdung selbst als Prozess, der etwas Musikalisches gleichsam traktiert, verschlingt und maskiert. Aufgrund dieser geradezu handwerklichen Prozesshaftigkeit ist es nur schlüssig, dass der Protagonist das entscheidende Instrument des Musikmachens im Fall des Abschmirgelns nicht aus dem Musikalienhandel, sondern aus dem Baumarkt bezieht. Noise, so scheint es, gewinnt an Kontur, sobald die musikalischen Konturen erodieren oder verschwimmen. Eine Affektivität, die hierbei zum Tragen kommen mag, adressiert im Kontext der Destruktivität eine als angenehm empfundene Ästhetik des Verfalls. Im Fall der Tonträgerserie The Disintegration Loops von William Basinski (ein hybrider Genreklassiker zwischen Ambient und Noise) tritt in Teilnehmerkonstruktionen etwa der Zahn der Zeit als Agens der Materialbearbeitung, als Prozess, der sich an musikalischem Ausgangsmaterial „zu schaffen macht“, in Erscheinung. Eine Rezension des Online-Musikmagazins Pitchfork Media beschreibt den zugrundeliegenden Prozess, der im Feld zur gern tradierten Narration geworden ist: „The Disintegration Loops arrived with a story that was beautiful and heartbreaking in its own right. It’s been repeated so many times that Basinski himself has grown weary of telling it: in the 1980s, he constructed a series of tape loops consisting of processed snat ches of music captured from an easy listening station. When going through his archives in 2001, he decided to digitize the decades-old loops to preserve them. He started a loop on his digital recorder and left it running, and when he returned a short while later, he noticed that the tape was gradually crumbling as it played. The fine coating of magnetized metal was slivering off, and the music was decaying slightly with each pass through the spindle. Astonished, Basinski repeated the process with other loops and obtained similar results“.16

Nicht explizit reflektiert wird im Gespräch mit Stephan im Übrigen die praktische Verwandtschaft zu einer anderweitigen Art der künstlerischen Prozessierung von Material, die der Noise-Praktiker ebenfalls betreibt, zudem im gleichen Raum seiner Wohnung, in dem er auch seine Klangproduktionen herstellt. Es handelt sich bei der verwandten Technik um die Radierung:

16 Online: http://pitchfork.com/reviews/albums/17064-the-disintegration-loops/, zugegriffen am 27.11.2015. Siehe Internetquellen: Richardson (2012).

224 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Auszug aus den Feldnotizen, November 2012: Wir finden uns während unseres Gesprächs in der Mitte des Raumes wieder, und für mich ergibt sich die Gelegenheit, Stephan nach der Druckerpresse zu fragen, die sich inmitten dieses Zimmers, zur Linken seiner Klang- und Musikutensilien wiederfindet. Das Objekt sieht aufgrund seiner schweren, groben Einzelelemente danach aus, als müsse man in den Umgang damit ordentlich Kraft und Arbeit investieren – das hat etwas sehr Handwerkliches. Stephan scheint auch diese Kunst auf einem gehobenen Niveau zu betreiben: Auf Nachfrage, was es denn mit diesem Gerät auf sich habe, erklärt er mir mit einem konzentrierten Unterton in der Stimme, dass er diese Druckerpresse beispielsweise für seine Radierungen nutze. Radierungen? Das klingt interessant: „Muss man dafür die Vorlagen nicht mit einer Säure ätzen?“ Mein Gegenüber bestätigt: Ja, das müsse man in der Tat, und das sei ein aufwändiger Prozess, den er bei einem Künstler gelernt habe, der sich das Handwerk in einer Ausbildung angeeignet hat.

Was die Radierung auszeichnet, ist das gezielte Erodieren von Oberflächenstrukturen im Zuge einer dezidiert sinnvollen Formgebung. Beide beschriebenen Verfahren – das Noisemachen per Bearbeitung von Schallplatten und die Radierung – verbindet diese Struktur verändernde, Struktur abtragende Qualität. Die Bearbeitung der Langspielplatten darf, folgt man dem praktischen Vergleich, in einer Teildistanzierung von der Teilnehmerkonstruktion also nicht als rein destruktiver Prozess begriffen werden, auch wenn die biografische Narration mit ihrer Betonung des Abschmirgelns und des „Löschens“ dergleichen suggeriert. Auszugehen ist vielmehr von einem Etablieren von Noise-schlüssiger Form durch eine spezifische Technik, die Struktur abträgt, nivelliert oder stark verändert: eben modifiziert. Die technischen Herausforderungen, die Stephan in diesem Zusammenhang adressiert, verweisen darauf, dass gesonderte Fertigkeiten dazu erforderlich sind. Während die Radiertechnik nun freilich bei einem Künstler erlernt wurde, basiert das Abschmirgeln der Schallplatten auf einem weit weniger explizit zirkulierenden Wissen, auf einem Set von Fertigkeiten, die offenbar im Sinn eines Trial-and-Error-Prinzips ausgebildet und eingeübt werden. Man mag hierbei nicht einem „echten Künstler“ als Lehrmeister gegenüberstehen; der dialogische Austausch zeigt aber, dass innerhalb der Szene trotzdem ein Gespür darüber zirkuliert, wann eine solche Materialbearbeitung tendenziell gelungen ist und wann eher nicht. Beispielsweise will Stephan erreichen, dass die Nadel auf ihrem Weg über das bearbeitete Material „auch mal hängenbleibt“ und an einzelnen Punkten eine Zeit lang verweilt. Um das zu erreichen, muss er seine Vorgehensweise handwerklich variieren und sich mit gekonnten Handgriffen jenem

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 225

Effekt annähern, der im sprichwörtlich greifbaren, plastischen Kontext der Materialbearbeitung von ihm antizipiert werden kann. Er muss die Materialbeschaffenheit anerkennen, um Intentionen und ästhetische Haltungen am Objekt umsetzen zu können. Das Beispiel deutet schlussendlich an, inwiefern die oftmals als nicht kodifiziert konnotierten Wissens- und Könnensformen des Noise sehr wohl mit handwerklichen Techniken korrespondieren, die formell erlernt werden können. Das Wissen um diese Technik zirkuliert also zwischen verschiedenen künstlerischen Teilfeldern. Denn damit die Nadel hängen bleibt, muss sich dem Abtragen vormals vorhandener Struktur – wie bei der Radierung – mit einem handwerklichen Geschick genähert werden. Auch das Schmirgeln rekurriert demnach auf einen „skilled touch“ (vgl. zum Begriff Panenka 2014, S. 135ff.). Für das Gelingen der Praktik muss ein „feeling“ bestehen: „Ein erfahrener Schreiner“ beispielsweise hat „ein feeling für das Material, das Werkzeug und das ihn umgebende Umfeld“ (ebd., S. 129). Im vorliegenden Fall verbindet dieses sprichwörtliche Gespür das Abschmirgeln als Materialbearbeitung mit antizipierbaren Effekten in Hinblick auf ein späteres Hören. Ein Unterschied zur Radierung ist wiederum bemerkenswert: Wird die Radierung in der Regel auf einer neutralen Fläche vorgenommen, die als unbearbeitetes Ausgangsmaterial fungiert, dem vor dem nachfolgenden künstlerisch-handwerklichen Prozess kaum eine Bedeutung darüber hinaus zugeschrieben wird, „ätzt“ die Veränderung der Oberflächenstruktur im Fall der Schallplatte eine neue Bedeutung in ein Material, das bis dorthin Träger vergleichsweise „konventioneller“ Musikformen ist – im vorliegenden Fall „Weltmusik“, Blues oder Hardcore-Punk. An diesem Unterschied zwischen den künstlerischen Prozessen wird eine Etablierung von Irritation konventioneller Musikformen in materieller Form offenbar, die den Diskursen und Leidenschaften gegenüber deutlich greifbar ist und sich in einem scheinbar destruktiven „Überschreiben“ oder einem verzerrenden „Umschreiben“ von Information manifestiert: Nivelliert bzw. bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wird durch die teilweise Zerstörung der Rillen die per Prägung fest eingeschriebene Sequenzstruktur der Musik, die per Nadel abgetastet, gelesen und wiedergegeben wird. Durchaus zerstörerisch wird demnach in Rhythmik, Melodik, Sequenz und Gesamtklang von Musik eingegriffen, die dem beschrieben Prozess gegenüber ausgeliefert ist und doch durch basale Materialbeschaffenheit restringierend in den Prozess eintritt. Hier entspinnt sich die Opposition zur konventionell konnotierten Musik in einer durch und durch materiellen Art und Weise. So sehr man Verzerrungsprozessen in den TeilnehmerInnenkonstruktionen und den damit korrespondieren-

226 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

den Leidenschaften, Meinungen und Haltungen einen „löschenden“ Charakter zusprechen mag, der im zitierten Beispiel nicht nur die Musik, sondern damit zusammenhängende „Erinnerungen“ betrifft, so sehr liegt eben – wie im technischen Prozess des Bitcrushers – auch Formgebung vor. In jenen Fertigkeiten, die das Erkennen ästhetischer Schlüssigkeit und die damit eng verwobene Materialbearbeitung betreffen, sind also diejenigen Praxisbestandteile implizit präsent, die eine schlüssige Verzerrung gewährleisten. Die folgende Feldnotiz von einem Konzert des Musikers Philip Jeck betont – durchaus vergleichbar mit dem oben zitierten Text zu The Disintegration Loops – eine Art verzerrende agency, die als „Zahn der Zeit“ in Erscheinung tritt: Dieser ist Motor eines in der Teilnehmerkonstruktion offensichtlich „hörbaren“, innerhalb des Feldes also affizierenden Verfalls. Einmal mehr erfolgt die Klangproduktion über eine Arbeit mit anderweitig bespielten Tonträgermaterialien. Auszug aus den Feldnotizen, Oktober 2013: Die Klangdarbietung beginnt mit einem kurzen, nicht identifizierbaren Musikfragment, das offenbar per Plattenspieler abgespielt, dann per Sampler festgehalten und samt Halleffekten schließlich zum Loop verarbeitet wird. Begleitet wird es durch ein dominantes, sehr vordergründiges Rau schen, Knacken und Knistern, das typisch ist für Philip Jecks „Plattentellermusik“: Diese lebt gewissermaßen von diesen Elementen, diesen vermeintlichen Störgeräuschen, denen im Fall der Verarbeitung durch Jeck immer etwas Emotionales, fast Rührendes anzuheften scheint, das möglicherweise an Vergänglichkeit, Vergangenes, an den „Zahn der Zeit“ erinnert, der an Jecks Ausgangsmaterialien (nämlich den Platten) unüberhörbar und in erwünschter Weise „genagt“ hat. […] Aus den ersten Fragmenten, die Jeck seinem Material kunstvoll entlockt, ergibt sich ein Strom aus sich über lappenden Geräuschen und Musikbestandteilen, die auf sonderbare, gar nicht auffällig dissonante Weise miteinander zu interagieren, in einigen Momenten sogar zu harmonieren scheinen. Was Jecks Musik von einem konventionellen Umgang mit Samples unterscheidet, ist, dass sich das grundlegende Klangmaterial sehr miteinander vermischt, vollkommen nahtlos sogar, so dass nicht mehrere Bestandteile auf wundersame Weise „ein Ganzes“ ergeben – sondern vielmehr besteht von Anfang an immer nur ein einziger „Soundbrei“, ein Kleister aus schroffen, angekratzten Klängen, hinter denen man immer wieder ein ursprünglich festgehaltenes Streichinstrument oder einen Blechbläser zu erkennen glaubt – wie in einem Nebel.

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 227

Das Umnebeln und Verschlingen17 korrespondiert mit der Vorstellung, dass musikalische Struktur den Noise-Produktionen nicht wesenstypisch ist, oder dass konventionelle musikalische Gestalt – in Form von Rhythmus oder Melodie – nur angedeutet oder „geschluckt“ wird. Überdies erinnert das Umnebeln freilich an jenen bildhaften Nebel, der in Hinblick auf das „Gestalthören“ und die projektive Imagination Konturen zu verschleiern scheint, von denen sich nicht genau sagen lässt, ob sie – hinter, unter oder zwischen dem Nebel – tatsächlich „da sind“ oder nicht (erinnert sei an die Ausführungen zum doing sound im vierten Kapitel).

8.3 K LANG

UND

S OZIALITÄT

Ob auf der Bühne oder bei der Verzerrung, für die das Abschmirgeln ein Beispiel ist: Noise schafft pseudo-anarchische Räume, in denen spezifische Irritationen und Transformationen den praktischen Ordnungsbildungen immanent sind. Im Schallplattenbeispiel zeigt sich die Universalität von Noise: Das Abtastgeräusch der Nadel ist schließlich bei jedem Abspielen einer Schallplatte präsent – nur tritt es in den zitierten Feldnotizen vollkommen im Vordergrund auf und stellt die Irritation von Struktur samt Noise-spezifischer Neuordnung in den Mittelpunkt einer technischen Transformationsleistung. Andere Genres kennen durchaus eine Wertschätzung von Abtastgeräuschen per se: Autechre, ein immerhin geräuschaffines Duo-Projekt aus der elektronischen Musik, schreibt beispielsweise in den Liner-Notes der Vinylfassung seines Albums Tri Repetae von 1995: „complete with surface noise“. Die CD-Edition wird demgegenüber als unvollständig aufgefasst und wurde mit dem Verweis versehen: „incomplete without surface noise“ (Autechre 1995). Noise folgt in der oben dargestellten Transformation durch Abschmirgeln einer Dramatisierung. Hier müsste der Slogan dementsprechend lauten: „entirely pointless without surface noise“ oder auch „only complete as surface noise“. Die

17 Immer wieder beschreibe ich dieses Umnebeln scheinbar konventioneller Musikbestandteile. Als Assoziation ist der Nebel freilich keine bloße Imagination des Feldes. Durch etliche meiner Feldnotizen zieht sich vielmehr zudem der Hinweis auf den Einsatz von Nebelmaschinen in Konzertsituationen. Das bedeutet: Der metaphorische Nebel geht nicht selten Hand in Hand mit einem sicht-, spür-, hör- und riechbaren Kunstnebel, der Raum- und Körperkonturen geradezu verschlingt, unter sich begräbt oder jedenfalls amorphisiert. Die klangliche Assoziation mag davon inspiriert sein.

228 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Verzerrung, die hier stattfindet, ist eine, die dem Umgang mit Gesichtszügen in der Karikatur verwandt ist: Dadurch, dass etwas im Sinn einer maßlosen Übertreibung verfremdet wird, werden Charakteristika paradoxerweise um so sichtbarer. Die karikatureske Spitze, die dem Abschmirgeln immanent ist, macht deutlich, inwiefern es sich bei Noise um ein graduelles Phänomen handelt. Sie macht darauf aufmerksam, dass mit Geräusch „zu rechnen ist“, wenn es um Klang geht. Geräusch wird integriert, wie im Fall Autechre. Geräusch wird gebändigt und orchestriert, wie im klassischen Konzert, wenn auf das Sich-Versammeln der trockene Husten und auf diesen die disziplinierte Stille folgt. Mit Geräusch muss sozial umgegangen werden, und dieser Umgang ist ein erlernter und ein kollektiver. Noise schafft in einer Anerkennung und Übertreibung dieser Modalität einen diszipliniert undisziplinierten Raum, in dem das Geräusch die Oberhand hat und dabei den Status der Hauptattraktion für sich gewinnt. Zum Beispiel in den Performances des japanischen Noise-Künstlers Masonna wird dieser Umstand plastisch: Masonna-Konzerte sind meist ausgesprochen kurz; der Künstler trägt langes Haar, übt sich in ekstatischen Posen (erneut virulent: das „Ausrasten“), er schreit Unverständliches ins Mikrofon, springt von Verstärkertürmen, während Feedback-artiges, lautes Geräusch ertönt. Was Masonna schlussendlich bietet, ist Rockmusik ohne Musik: Die Posen, Gesten und Nebengeräusche sind übriggeblieben. Jene Sinnstützen, die Rockmusik als Genre immer begleiten, werden hier in performativer Nacktheit exerziert, ohne den „Ballast“ einer konventionellen musikalischen Sinnbehauptung. Vor dem Hintergrund der Verzerrungsprozesse, wie sie im Vorangegangenen als Arbeit am Material geschildert wurden, erscheint es in der Tat plausibel, dass erfahrene Noise-KennerInnen auch bei Klängen, die wie ein durchgehendes Rauschen erscheinen, bildlich gesprochen den Eindruck haben, „hinter dem Nebel“ gegebenenfalls Formen oder zumindest Spuren vormals vorhandener Formen entdecken zu können. Das destruktive Transformieren und Umdeuten „konventioneller“ Form, bei dem mitunter vage Restinformation zurückbleiben, sorgt als legitimes Verzerrungsverfahren dafür, dass für Insider potenziell mit Fug und Recht ein Gestalthören stattfinden mag: Man könnte ja tatsächlich etwas entdecken. Man weiß ja, dass da gegebenenfalls mal etwas war, bevor „gelöscht“ wurde. Auf ein solches Explorieren scheint die Wahrnehmung von TeilnehmerInnen dementsprechend geschult, und das Erkennen geschieht potenziell freilich im Sinn einer kreativen Imagination, die auch dort mitunter Form und Gestalt vermutet, wo de facto tendenziell nichts dergleichen je vorhanden war. Das „Hören für Fortgeschrittene“ ist hier ein „Vermuten für Eingeweihte“. Der Umstand erinnert wiederum an einen der zentralen Grundsätze der vorliegenden Studie: dass

8. P RAKTISCHES W ISSEN

UND

T RANSFORMATIONSLEISTUNGEN

| 229

Hören mehr ist als die passive Aufnahme eines Reizes, dass Hören immer auch eine gekonnte Intelligibilität inkludiert, die nicht solitär, sondern in sozialer Aneignung erworben wird, die eine Vielzahl von Körpern, Artefakten, Räumen, Leidenschaften und Transformationen umfasst. Wenn Maeder (2014) also schreibt „Whenever society happens there is sound“ (S. 424), müssen wir jederzeit auch umgekehrt schließen: Whenever sound happens there is society.

230 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

9. Zu einer Soziologie des Auditiven

Eines der zentralen Ziele meiner Studie war es, zu konkreten Forschungsimplikationen für eine Erschließung von Klang als Gegenstand qualitativer Sozialforschung zu gelangen – auch im Sinn eines Beitrags zur Schließung einer Forschungslücke (vgl. Maeder 2014). Meine Arbeit nahm dabei Klang (oder Sound) als zentrale Ebene der Bildung von Ordnung in den Blick. Der praxeologische Begriff der Intelligibilität weist darauf hin, dass wir gemeinhin nicht „Dinge“, „Körper“ oder „Bewegungen“ erkennen, sondern vielmehr „Gebrauchsgegenstände“, „Personen“ und „Handlungen“ (Schmidt/Volbers 2011, S. 33). Im Sinn dieser theoretischen Grundannahme begreife ich die vorliegende Schrift eben nicht nur als einen musiksoziologischen Text, sondern vollumfänglich als eine klangsoziologische Studie. Eine Soziologie des Auditiven nimmt also nicht einfach den Klang „per se“ in den Blick, sondern dezidiert die sozialen Praktiken seiner Produktion, Interpretation und Verwendung (vgl. analog zum Visuellen: Burri 2008, S. 345). Im sozialen Alltag ist der Umgang mit Klang einer der unentwegten Deutung und Beglaubigung. Hier kommt Noise als Gegenstandsbereich meiner ethnografischen Untersuchung ins Spiel: Den einen TeilnehmerInnen gelten die Sounderzeugnisse des Noise z.B. als Musik, anderen TeilnehmerInnen wiederum nur als unartikuliertes Geräusch. In dieser doppelten Rolle liefert das Feld einen reichen Fundus an Anschauungsmaterial, das jene Feinarbeit offenlegt, die gekonnt und in sozialer Wechselseitigkeit geleistet wird, um Klang als Musik – oder demgegenüber auch: Klang als Krach – erkennbar zu machen. Der Regelfall macht uns tendenziell blind für jenen sozial bedingungsreichen Aufwand, den wir scheinbar mühelos erbringen, um im Alltag ganz „natürlich“, im Sinn einer praktischen Intelligibilität, zweifellos zu erkennen und zu wissen. Meine Studie gewährt schlussendlich einen detaillierten Einblick in jene praktischen Deutungen, die von TeilnehmerInnen in einer Art soziomateriellen Arbeitsteilung mit Artefakten und Raumkonstitutionen geleistet werden. Noise in-

232 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

kludiert mit Harsh Noise Wall sogar ein Subgenre, in dem bloßes Rauschen bar jeder nennenswerten Variation dargeboten wird. Diese Unterspielart kann man als eine Provokation gegenüber der konventionellen musikalischen Sinnbehauptung begreifen – und gerade dadurch ist sie ein Fingerzeig auf die (nicht immer intentional) arbeitsteiligen Prozesse, die die Herstellung von auditivem Sinn konstituieren: Das musikalische Substanzdefizit von Harsh Noise Wall zeigt in dramatisierter Brechung, dass Musik – entgegen der Kantianischen Perspektive – nur augenscheinlich „ewige Botschaften“ kennt. Im vorliegenden Abschlusskapitel will ich nun – auch ausblicksartig – zentrale Ergebnisse und Implikationen meiner Arbeit resümieren.

9.1 N ORMATIVITÄT

UND

D ISTINKTION

IN ACTU

In Kauf genommen wird im Noise zunächst zwangsweise, dass Konzerte vor sehr wenig Publikum stattfinden – in einer Ausprägung, die die Grenzen zwischen Konzert und Nichtkonzert situativ verschwimmen lässt. Zugleich leistet das Stattfinden von Konzerten – ganz gleich, wie viele oder wenige BesucherInnen erscheinen – vollkommen beiläufig normative Definitionsarbeit: Auf einem Konzert schließlich wird Musik gespielt. Den Noise-PraktikerInnen gelingt es an diesem Schauplatz – zumindest episodisch –, die Frage nach „Musik oder Geräusch“ kontextuell zu ihren Gunsten zu klären. Das pure Stattfinden also ist ein praktischer Legitimationsakt: Wer ein Konzert spielt – oder auch einen Tonträger veröffentlicht –, der kann für sich schlussendlich beanspruchen, Musik zu machen. Die inhärente Normativität der sozialen Praktiken verweist darauf, dass wir künstlerischen Selbstauffassungen analytisch nicht blindlings folgen dürfen: Wenn TeilnehmerInnen beispielsweise davon berichten, Veröffentlichungen via Tonträger hätten in der Szene keinen nennenswerten Stellenwert (vgl. Klett/Gerber 2014, S. 283f.), verkennen sie das normative Eigenleben solcher Veröffentlichungen für Noise als Phänomen insgesamt: Jeder Release, und sei es so, dass er im Einzelfall vielleicht kein einziges Mal gekauft oder gehört wird, trägt bei zum Korpus jener Artefakte, die einen Berg von Objekt gewordenen Deutungs- und Beglaubigungsvorgängen bilden, die uns wissen lassen: Noise ist Musik respektive Kunst, ist dezidiert „mehr“ als bloßes Alltags- oder Störgeräusch. Für einen Begriff von doing sound heißt das, dass die Bedeutung von Klang durch legitimierende Artefakte vermittelt, getragen und plausibilisiert wird. Das eigentliche Hören von Klang erscheint hier geradezu sekundär. Etwas boshaft könnte man sagen: Der Kunststoffmüllberg aus ungehörten Noise-Tonträgern ist die materiel-

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 233

le Verdichtung von Deutung in actu, und das Konzert, das keiner besucht, ist die konkret vielleicht tragische, im Gesamtbild aber dessen ebenso legitimierende Variante in situativ-performativer Hinsicht. Hier können im Übrigen Debatten um die Prekarität von Kunst- und Kulturproduktion anknüpfen: Parallel zu den durchaus bedenklichen Umständen, unter denen z.B. KünstlerInnen im Noise mitunter wirtschaftlich operieren, wird hier auch eine normative Legitimationsarbeit der PraktikerInnen sichtbar. Damit will ich ökonomische Notstände von AkteurInnen keinesfalls beschönigen, sondern vielmehr einen Hinweis auf spannungsreiche Paradoxien anbringen, die die Perspektive inhaltlich ausweiten. Sich anschließende Auseinandersetzungen seien dazu angehalten, in anderen Feldern vergleichbare implizite Normativität aufzuspüren. Im Fall von Noise korrespondiert der beiläufige normative Eingriff im Übrigen stark mit der Annahme distinguierender Kompetenzformen: So wird die Auffassung von besonders ausgeprägten Hörfertigkeiten freilich gut plausibilisierbar, wenn nur eine kleine Elite diese in performativer Stimmigkeit für sich veranschlagen kann. Aus den Beschreibungen, wie Distinktion in situ routiniert und dabei in stummer Beiläufigkeit geleistet wird, mögen also weitere soziologische Auseinandersetzungen mit Abgrenzung und Kompetenz zehren.

9.2 K LANG

IM

S PANNUNGSFELD

VON

K ÖRPER

UND

R AUM

Klang mag uns als schwer fassbar erscheinen – in seinem stets momentanen Erklingen fehlt ihm die Permanenz des Bildes oder der Skulptur. Er ist in dieser Flüchtigkeit aber niemals raum- und körperlos, sondern durchkreuzt und berührt als materielles Signal all jene Materialitäten, die wir selbst (als Körper) sind und die uns umgeben. Wenn wir also sagen, dass Musik uns „tief berührt“, geschieht das stets auch ganz buchstäblich. Situativ werden im Feld in einer Art kreativen Verlässlichkeit jene Klang-Raum-Körper-Arrangements geleistet, die Klang als etwas musikalisch Sinnvolles erkennbar machen. In ihrer gegenstandsspezifischen Zuspitzung befördern sie ein konkretes Verständnis darüber, wie Distinktionen zwischen Musik und Geräusch nicht einfach sensorisch-kognitiv geleistet werden: Es handelt sich hierbei um ein soziomateriell verstreutes Unterfangen, das den Hörsinn als lediglich eine von vielen, dabei den Deutungen gegenüber nie ganz arbiträren Komponenten involviert. Sieht man typische Noise-Performances, könnte man meinen, es seien hier mysteriöse Kräfte am Werk, die die unwillkürlich ausgelieferten Körper in einschlägige Modi zwischen Vertiefung und Ausrasten zwingen. Dabei gemah-

234 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

nen in puncto Noise Vergleiche mit dem praktischen Einstimmen in anderen Musikformen und der körperlichen Vergemeinschaftung im Boxsport daran, dass augenscheinlich passive Zustände, in denen involvierte Körper scheinbar nur „ausdrücken“, unbedingt einer körperlichen Etablierung bedürfen: „[Art] forms generate and regenerate the very subjectivity they pretend only to display“. Diese Perspektivierung nach Geertz (1973b, S. 451) ist einem analytischen Verständnis der Noise-Szenarien unbedingt wesentlich. Der Hinweis auf das Generieren und Re-Generieren zeigt, dass auch solche „Szenen“ oder „Subkulturen“, deren Selbstverständnis ein experimentelles oder gar anarchisches ist, im Rahmen schlüssiger und somit verlässlicher Ordnungsbildungen operieren. Geleistet werden Einstimmungen dabei nicht solitär, also gleichsam „im Alleingang“, sondern sie sind vielmehr ein kollektiv gestiftetes Unterfangen. Die performativen Repertoires von Noise spielen mit Verstörtheit oder mit dem Anzeigen starker Spannungszustände, die die Szenarien augenscheinlich „beherrschen“ und sich in einem Hin und Her aus fast regungsloser Vertiefung und ruckartigem „Ausrasten“ entladen. Das konvergiert sowohl mit der Rede von „inneren Zuständen“, die z.B. als „chaotisch“ beschrieben werden, als auch mit der Vorstellung eines experimentellen Gestus, der „unexpected dynamics“, böse Überraschungen und den Umgang mit sowie die Etablierung von „extremen“ und „ungewöhnlichen“ Empfindungen kennt. Meine Studie zeigt, wie Noise das „Unerwartete“ performativ erzeugt und integriert: Eine scheinbare Paradoxie zwischen Dynamik und Routine wird hier tendenziell aufgelöst. Die hier gewonnenen Einsichten können in anschließenden Studien anleitend auf jene Formen von Musik angewendet werden, deren Sinnhaftigkeit uns im Alltag derart unmissverständlich ist, dass wir für ihre praktische Bewerkstelligung längst blind – oder auch: taub – geworden sind: Was eigentlich leisten wir sozial, wenn wir die vertrauten Klänge von Beethovens Neunter hören, und auf welche Prozesse der Aneignung, derer wir uns nicht bewusst sind, rekurriert die ses Hören? Begreift man das praxeologische Argument in aller Konsequenz, ist schließlich auch hier nicht weniger als im Noise davon auszugehen, dass Sinn erst im Rahmen performativer Repertoires, Raumkonstitutionen, schlüssiger Materialbearbeitungen und sozialer Lernprozesse geleistet wird – in einer Feinarbeit, die uns zu einer beiläufigen, dabei verlässlichen Routine geworden ist.

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 235

9.3 D AS E RKENNTNISPOTENZIAL DER S TIMMUNGSVERSCHIEDENHEIT Es war eines der Ziele meiner Studie, die praxistheoretischen Debatten um Routinen und deren Modifikation (vgl. etwa Barnes 2001, S. 31) entlang einer im Feld als schlüssig erlebten Nichtroutinisiertheit zu schärfen und einer kritischen Diskussion zu öffnen. Gefragt wurde also nach der Routine und der Verlässlichkeit im „Experimentellen“ und in der vom Feld oft proklamierten beständigen Erneuerung. Ebenso aber, wie es falsch wäre, der Rede von der Regellosigkeit (z.B.: „What the fuck is #noise? Fuckin’ anything“, siehe viertes Kapitel) unreflektiert aufzusitzen, will ich vor Perspektivierungen warnen, die gegenüber dem „Experimentellen“ einen neuerungsarmen Modus der Routine betonen und es diesbezüglich bei einer gegenpolartigen Feststellung belassen. Selbstverständlich muss auch das ausgewiesen Ungewohnte verlässlich hervorgebracht und als solches erkennbar werden. Mit diesem Gedanken kann der Erkenntnisprozess überhaupt erst beginnen: Das „Wie“ dieser Etablierungsarbeit wird relevant, und in diesem Kontext muss der Blick auf soziale Verstrickungen gelenkt werden. Unabdingbar erscheint mir im analytischen Sinn ein weit gefasstes Verständnis von Kollektivität, das Formen flüchtiger und in dieser Flüchtigkeit routiniert hervorgebrachter Partizipation umfasst. Dabei geht es nicht lediglich um Anziehung und Abstoßung, sondern z.B. auch um ästhetisch-praktische Gemeinsamkeit in der Stimmungsverschiedenheit. Zur weiteren Explikation gehe ich zunächst einen Schritt zurück. Sozialwissenschaftliche und philosophische Theoriebildungen kennen einen reichen Fundus an akustischen Metaphern: Collins (2004, S. 66) etwa betont die verbindende Stärke körperlicher Involviertheit in tief synchronisierte soziale Interaktion, und zuletzt beschreibt beispielsweise Staack (2015) rhythmische Synchronisation in Bezug auf das Empfinden von Gruppenzugehörigkeit: „Gemeinsam synchronisierte Bewegungen untermauern das Gefühl des gemeinsamen Willens noch, indem sie der Gruppe plastisch die gemeinsame Tat vor Augen führen und in die Glieder fahren lassen, so dass die Addition eines gemeinsamen Trommelns, Klat schens, Brüllens/Singens und Stampfens […] wohl die ‚wirksamste‘ Anwendungs-Variante der [beat perception and synchronisation] ist“ (S. 205f.).

All jene Bilder betonen einen Fokus auf Harmonie, Rhythmisierung oder – um mit Simmel zu sprechen – „Stimmungsgemeinsamkeit“ (vgl. Simmel 2008

236 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

[1907], S. 123). Im kritischen Anschluss daran plädiere ich für eine Anerkennung der Erkenntnispotenziale, die uns die Dissonanz – im klanglichen und zugleich im metaphorischen Sinn – darüber hinaus eröffnet: Eine Soziologie, die die kultur- und medienwissenschaftlichen Debatten um einen sonic turn (vgl. Volmar/Schröter 2013, S. 9ff.) ernst nimmt, muss sich der Komplexität klanglich mitgestifteter Ordnungsbildungen von der Harmonie und der Rhythmisierung bis eben auch zur Störung und hierbei der gekonnten, routinierten und sinnstiftenden Störung annehmen. Es ist mir also ein Anliegen, mit der vorliegenden Studie zu zeigen, dass Ordnungsbildungen nicht zwingend als ein harmonisches oder stimmig rhythmisiertes Unterfangen aufzufassen sind. Sprachlich betrachtet birgt schon der Ausdruck „Noise“ diesbezüglich ein aufschlussreiches Spezifikum: Übertragen ins Deutsche, kann der Begriff schließlich explizit als „Störgeräusch“ übersetzt werden – und Störungen oder Krisen sind ethnografische Glücksfälle, die in einem tendenziell ethnomethodologischen Verständnis Prozesse der Ordnungsbildung einholbar machen (vgl. hierzu Breidenstein et al. 2013, S. 29). Es mag verschiedene Motive geben, unter deren Beteiligung AkteurInnen an den Praktiken des Noise partizipieren; schlussendlich bleibt ein kollektiv gestiftetes, mitunter konfliktintensiv ausgestaltetes doing sound. Ein Aufeinandereinstimmen lässt sich insofern selbst hier vorfinden, als TeilnehmerInnen sich in einander opponierenden Szenarien wiederfinden, in denen nichtsdestoweniger ein praktisches Sich-Einlassen auf ästhetische Charakteristika der vermeintlichen Gegenseite stattfindet: Auch Störungen – gleichwohl von welcher Seite – finden gekonnt statt und müssen den Eigenschaften des Feldes gegenüber stimmig und intelligibel in Erscheinung treten. Collins (2004, S. 66) geht in seiner Darstellung so weit, das Angenehme, Vergnügliche am gemeinsamen Lachen dem kollektiven „Überschäumen“ zuzurechnen. Der Autor streut damit bei aller Hinwendung auf Harmonisierung und die Gefühle der Solidarität eine Fährte hin zum nervösen „Oszillieren“ der Noise-Erfahrung, der etwa die Wertschätzung für „unexpected dynamics“ (siehe sechstes Kapitel) wesentlich ist. Noise ist „neben der Spur“: Gegenüber einem harmoniebetonten Aufeinandereinstimmen argumentiere ich vor diesem Hintergrund für die umfassende Anerkennung einer „Resonanz“, die – ganz dem Instrumentarium meines Gegenstandes gemäß – eher einer akustischen Rückkopplung zwischen Lautsprecher und Mikrofon entspricht: Dieser Form der buchstäblichen Resonanz ist eine Polarität immanent, die als ein lautes, mitunter aufbrausendes, oszillierendes Fiepen oder Kreischen, also als ein vermeintliches Störgeräusch zu Tage tritt. Polarität jedoch bedeutet auch Zusammenwirken: Mikrofon und Lautsprecher können das Feedback – als Analogie zum konflikthaft ausgestalteten doing sound –

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 237

jeweils nicht im Alleingang leisten: Sie brauchen einander zur Herstellung der Rückkopplung, auch wenn sie nicht im klassischen Sinn miteinander harmonieren. Solche Formen der Kollektivität funktionieren ein wenig im Sinn der Familienzugehörigkeit: Nicht alle TeilnehmerInnen haben sich bewusst für die Mitgliedschaft entschlossen, und auch wenn in manchen Konstellation vorrangig konflikthaft interagiert wird, ist auch dann ein Moment der Bindung zentral. Die beschriebenen Verhältnisse abseits der gängigen Harmonie erfordern soziologisch besondere Aufmerksamkeit und verweisen auf Erkenntnis anregende Spannungen zwischen subjektiver Intentionalität und externalistischen Beobachtungsmodi. Wie Noise nahelegt, werden Konflikte diskursiv, situativ und performativ immer wieder aufs Neue in einer paradoxen, weil konfliktintensiven Kollektivität hergestellt und leisten damit unabdingbare Beiträge im Sinn der Deutung und Beglaubigung. Soziologische Forschungszweige um Vergemeinschaftung und Kollektivität sollten demnach konfliktreich verbindenden Partizipationsformen ein Mehr an Beachtung schenken und die Produktivität ihrer inhärenten „Krisen haftigkeit“ weiter ergründen. In puncto Noise meint das ein konstitutives Zusammenspiel von Dynamik und Routine. Eine Weitung der Perspektive in konsequentem Ausmaß verdient vor diesem Hintergrund die soziologische Szeneforschung. Mit ihrer Neigung zur Typologie und zur Binnenperspektive vernachlässigt sie Formen individuell flüchtiger Involvierung und Partizipation. Die gezielte Auseinandersetzung mit diesen könnte sich jedoch als äußerst fruchtbar erweisen. Als problematisch perspektiviert Hoffmann (2014, S. 257) etwa jenes Szeneverständnis nach Hitzler und Niederbacher, „das die Zugehörigkeit zu einer Szene, ähnlich der Mitgliedschaft in einem Verein, als Konsequenz aus einem rationalen Entscheidungsprozess verortet“.1 Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, im Kontext der hier tangierten Szeneforschung den Begriff von „Zaungästen“ (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010, S. 184) auf Fragen implikationsreicher Involvierung von „Außenstehenden“ zu weiten. Die Herstellung von sozialer Distinktion gehört seit jeher zu den Kernthematiken sozialwissenschaftlicher Forschung. Im Kontext der Konflikte, die dem

1

Was meine Studie freilich nicht leistet und auch gar nicht leisten soll, ist, die gewonnenen Ergebnisse am vollen Fundus der soziologischen Szeneforschung zu kontrastieren. Meine Kritik betrifft einen spezifischen Punkt und ist keinesfalls als ein Angriff auf die Szeneforschung gemeint, sondern vielmehr als eine Einladung, Auffassungen von Verbindung und Kollektivität deutlich über das intentionale Moment hinaus zu weiten.

238 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

doing sound immanent sind, will ich gegenüber dem naheliegenden Fokus auf soziale Unterscheidung betonen, dass die verschiedenen Lager einander paradox verbunden sind: nicht nur dadurch, dass zu einem sozialen Konflikt immer mindestens zwei Parteien gehören. Vielmehr ist im Noise eine geradezu ästhetische Verzahnung zu beobachten, die sich in performativen und diskursiven Gemeinsamkeiten äußert: Da sich Noise in seinen extremen Spielarten durch Lautstärke sowie mitunter schroffes Gebaren gegen Störungen subtiler Natur klangräumlich und performativ gleichsam immunisiert, tragen die „Normalisierungsversuche“ einer flüchtig partizipierenden Gegenseite mitunter dem Noise auffällig verwandte Charakteristika. Auch die Gegenirritationen schließlich sind performativ oder diskursiv aufbrausend, grenzüberschreitend und schlussendlich zudem einfach: laut. Das doing sound ist demnach ein vielfach vereinnahmender Prozess, dem eine Normativität innewohnt, der sich TeilnehmerInnen nicht beliebig verschließen können, sofern ihnen eine gewisse Effektivität, d.h. Wahrnehmbarkeit ihrer Handlungen am Herzen liegt. Die situative Zuspitzung im siebten Kapitel zeigt: In einer relationalen Verstrickung wird der opponierende Eingriff durch ein erbostes Publikum den ästhetischen Eigenschaften von Noise-Performances durchaus gerecht. „Creating a scene“ im doppelten Wortsinn reicht über absichtsvolle Vergemeinschaftungsformen hinaus und versammelt seine TeilnehmerInnen trotzdem in praktischer Verlässlichkeit.

9.4 E XPERIMENTELLES EIN RELATIONALES

UND K ONVENTIONELLES : E NGEVERHÄLTNIS

Nicht nur die opponierende Gegenseite aber ist in Konventionen im Sinn einer konflikthaften Aneignung involviert. Noise selbst schließlich kann nicht ohne ein spezifisches Gegenüber, das heißt: nicht ohne eine konventionelle Musikalität, die aufs Neue immer wieder irritiert und durch Rauschen „vernebelt“ wird. Dieser Ordnungsstörung ist mitunter immanent, dass die konventionelle Musik als Basismaterial verwendet oder zum Zweck anschließender Verzerrung gar von KünstlerInnen selbst hergestellt oder mithergestellt wird. Musikalisches Grundlagenwissen, und sei es noch so rudimentärer Natur, muss von Noise-PraktikerInnen also durchaus beherrscht und „gekonnt“ werden, und jene KünstlerInnen, die summa summarum gegen konventionelle Formen rebellieren, sind – zu unterschiedlichen Graden – selbst zu Kennerschaft und Könnerschaft auf diesem feindlichen Terrain verpflichtet. Das heißt: Wenn Noise-PraktikerInnen mit provokativem Stolz betonen, musikalisch vollkommen inkompetent zu sein, ist

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 239

das sicherlich eine sinnvolle Selbstdarstellung innerhalb des Feldes, aber nicht zwingend eine korrekte Auskunft über ihr praxisrelevantes Können. Nach Reckwitz (2003) bewegt sich Praxis allgemein „zwischen einer relativen ‚Geschlossenheit‘ der Wiederholung und einer relativen ‚Offenheit‘ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs“ (S. 294). Der Autor sieht dabei ausdrücklich keinen wesenhaften Widerspruch zwischen den beiden Eigenschaften. Der Aspekt des Misslingens erscheint in Bezug auf Noise besonders kontextabhängig: Noise gelingt für die einen TeilnehmerInnen, wenn das Unternehmen Musik in der Perspektive einer anderen Seite scheitert. In Fragen von Rhythmus und Einsatz des Spiels „neben der Spur“ zu liegen, wird beispielsweise je nach Kontext mit Kompetenz oder Unzulänglichkeit verbunden. Oder: Die einen verlassen ein ihrer Ansicht nach misslungenes Konzert, während der Seite der Noise-KennerInnen gerade ein solches „Vertreiben“ von TeilnehmerInnen, die „nicht verstehen“, zum distinguierenden Anzeiger eines Erfolges gereicht. Das Heraufbeschwören ästhetischer Konflikthaftigkeit ist freilich ein routiniertes Unterfangen – allerdings eines, das keinem statischen Regelkatalog folgt. Hier wird das relationale und dynamische Engeverhältnis von Noise als Gegenkultur gegenüber der konventionellen Musik plastisch.

9.5 P RAKTISCHES W ISSEN

UND

K OMPETENZ

Wie musikalisches Ausgangsmaterial im Sinn einer Verzerrung oder Verfremdung schlüssig bearbeitet wird, ist Teil der Noise-spezifischen Kompetenzen und erfordert ein nicht kodifiziertes, nicht an Hochschulen gelehrtes Gespür und Wissen, das jedoch, weitet man den Blick, Wissensformen aus anderen künstlerischen Erzeugungsprozessen vergleichbar ist. Die skizzierten Transformationsprozesse geben etwas heraus, das im Fall der buchstäblichen Materialbearbeitung oft nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Zugleich unterliegt dieser scheinbar aggressive Akt – seinem destruktiven, „löschenden“ Gestus zum Trotz – keinesfalls einer rabiaten Beliebigkeit: Ästhetische Kriterien und ein spezifisches Materialgespür greifen hier ineinander und sind in jenen Situationen besonders schlüssig zu beobachten, in denen das Material in der Tat ein greifbares Objekt ist – wie zum Beispiel eine Schallplatte, die gekonnt zerkratzt und sodann abgespielt und aufgenommen wird. Artefakte und ihre Materialbeschaffenheiten tragen hier auf implizite Art zu Ordnungsbildungen bei, indem sie das Handeln und Hantieren einschränken, indem sie daran hindern, etwas zu tun,

240 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

oder indem sie eine Handlung merklich erschweren, wie das auch praxistheoretisch rezipierte Konzept der affordances nach Gibson verstehbar macht: „If a terrestrial surface is nearly horizontal (instead of slanted), nearly flat (instead of convex or concave), and sufficiently extended (relative to the size of the animal) and if its substance is rigid (relative to the weight of the animal), then the surface affords support. It is a surface of support, and we call it a substratum, ground, or floor. It is stand-on-able, permitting an upright posture for quadrupeds and bipeds. It is therefore walk-on-able and run-over-able. It is not sink-into-able like a surface of water or a swamp, that is, not for heavy terrestrial animals. Support for water bugs is different. […] As an affordance of support for a species of animal, however, they have to be measured relative to the animal. They are unique for that animal. They are not just abstract physical properties. They have unity relative to the posture and behavior of the animal being consi dered. So an affordance cannot be measured as we measure in physics“ (Gibson 2014 [1979], S. 119f.).

Hier zeigt sich der spezifische Witz an der relationalen Enge zwischen „Konventionellem“ und „Unkonventionellem“: Das Unkonventionelle arbeitet sich an der Oberflächenstruktur des Konventionellen ab. Um aus Musik Noise zu machen, kann mit einer Schallplatte nicht beliebig experimentell verfahren werden: Bricht man sie in viele kleine Stücke, ist es nicht nur mit der Musik, sondern auch mit dem Noise vorbei. Für ein „vernoistes“ Abspielen eignet sich der Tonträger nun nicht mehr. „Als Träger sozialer Regeln erschweren Artefakte unorthodoxe Gebrauchsweisen“ (Schmidt 2012, S. 64), und daran ist im Kontext von Noise er kennbar, dass auch vermeintlich regellose künstlerische Praktiken stets mit einer solchen Grenzhaftigkeit konfrontiert sind; sie können sich ihr nicht entziehen. Die KünstlerInnen mögen vom Zerstören und vom Auslöschen der Musik sprechen, die als Ausgangsmaterial fungiert. Doch das Resultat achtet zwangsweise noch immer die grundlegende Bespielbarkeit per Plattenspieler. In anderen technischen Prozessen des Noise findet Vergleichbares in abstrakterer Weise statt, entspricht in sämtlichen Fällen aber nicht nur einem Abtragen von Form (dem Löschen), sondern auch einer Formgebung. Schlussendlich obliegt es also den einander gegenüberstehenden Lagern – Noise-PraktikerInnen und Noise-GegnerInnen –, jeweils auch das mitherzustellen, wogegen sie sich jeweils aufzulehnen meinen. In diesem Sinn ist doing sound als ein multisituierter

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 241

Erzeugungsprozess zu begreifen. Bei diesem konfliktreichen Miteinander wäre die Rede von „sustained mutual relationships“ (Holmes/Meyerhoff 1999, S. 179) zweifellos nicht vollkommen treffend. Jedenfalls aber teilt man, ob es diskursiv anerkannt wird oder nicht, gewisse Kompetenzen und Lernerfahrungen, wenngleich den Lernerfahrungen eine gemeinsame intentionale Zielsetzung freilich fehlt. Ob Irritation oder Gegenirritation: Beides „ist“ Noise. Beides folgt in kreativer Reproduktion den impliziten Kriterien eines performativen Instrumentariums, das TeilnehmerInnen opponierender Lager beiläufig wie treffsicher beherrschen. Die Aussage „Fuck off, ‚artist‘“ spricht in bemerkenswerter Vertrautheit die Sprache des Noise (vgl. Abschnitt 4.1.2.) und mag sich auch deshalb so selbstverständlich auf einer Plakatwerbung der eigentlich doch attackierten Künstler wiederfinden. So, wie Polizei und Wiederholungstäter im Rahmen ihrer entgegengesetzten Positionen eine gemeinsame Lebenswelt teilen, um deren Eigenheiten auf beiden Seiten selbstverständliche Vertrautheit herrscht, so ist auch das Gegeneinander im Noise am Ende ein reibungsvolles Miteinander. Sozialwissenschaft darf insofern – siehe oben – nicht einfach zirkulierende Auffassungen reproduzieren, welcher Kultur sich einzelne Akteure zugehörig fühlen, sondern muss auch Bedingtheit von Teilnahmen sowie schlüssige Verstrickungen paradoxer Natur adressieren. Hier in Hinblick auf meinen Gegenstandsbereich schlussendlich die produktiven und konstituierenden Aspekte hervorzuheben, halte ich für notwendig, um einen Begriff davon zu erhalten, was „sonic performance“ oder doing sound umfassen kann. Im Übrigen soll der Aspekt materieller Verdichtungen von konfliktreichen Verbindungen zuletzt nicht unerwähnt bleiben: Die in der Studie exemplarisch beschriebenen Poster und Booklets sind Zeugnis und damit Wegweiser relationaler Verstrickungsverhältnisse über intendierte Zusammengehörigkeit oder allgemeine Selbstauffassungen hinaus. Anschließende Studien könnten vergleichbare Dokumente in anderen sozialen Feldern auf- und diesen sodann nachzuspüren. Lynch (1997, S. 337) betont: „Practices are associated with socially credited skills“. Für eine multisituierte Erschließung nicht kodifizierter Wissensbestände erwies sich Noise als Gegenstandsbereich besonders fruchtbar. Da Noise mit seinen Klangproduktionen effektiv affizieren möchte, unterhält das Feld als spezialistische „Subkultur“ aufschlussreiche Verwandtschaftsgrade zu Berufsbranchen, in denen ebenfalls ein starkes Affizieren per Klangeffekt und Sounddesign im Mittelpunkt steht: Zu denken ist z.B. an die Klangarbeit für Horror-Computerspiele, in der ein permanent praxiserprobtes Wissen darüber kursiert, wie Klang von UserInnen als Furcht einflößend verstanden und erlebt werden kann (vgl.

242 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Roux-Girard 2011). Meine Studie adressiert ein praktisches Wissen in seinem performativen Vollzug und trägt damit zur Explikation impliziter Wissensformen an der Schwelle zwischen professionalisierten Wissenskulturen (vgl. etwa KnorrCetina 2002) und „lay epistemic cultures“ bei. Wie Akrich (2010) mit Bezug auf Letztere nahelegt, ist hier die „production of common objects“ wesentlich: „[The] production of common objects is co-substantial to the list’s activity itself, insofar as the exchanges are done in a written, sustainable form and that the minimum ‚produc tion‘ unit is not the message, but the discussion which gives the message its meaning: from a certain point of view, one can even say that the ‚community‘ only exists through the production of a collective discursive object, with the exception of a small number of physical encounters that allow a subset of participants to meet“ (Abs. 3.6).

Dieses Sich-auf-etwas-Gemeinsames-Beziehen zeigt sich hochgradig anschlussfähig zu den vorangegangenen Ausführungen zur Kollektivität und birgt Implikationen auch in Hinblick auf Relationalität und Performativität von Wissensformen: Kontrastierende Feldepisoden demonstrieren im Vorangegangenen, dass z.B. das „Neben-der-Spur-Sein“ im Feld sowohl positiv als auch negativ interpretiert werden kann, je nach dem, ob durch TeilnehmerInnen mit verschiedenen Backgrounds ästhetische Absicht oder technische Unzulänglichkeit unterstellt wurden. Die jeweilige Deutung korrespondierte also in jedem der Fälle eng mit dem eingebrachten Hintergrundwissen der TeilnehmerInnen. Dass Wissen, wie Reckwitz (2003, S. 292) argumentiert, nicht praxisenthoben verstanden werden darf, erfährt vor diesem Hintergrund im Noise schlussendlich eine plastische Dramatisierung. Das Sensorium der TeilnehmerInnen präsentierte sich mir in diesem Kontext als spitzfindig, ganz gleich, ob die Inter pretationen zu Gunsten oder zu Ungunsten der musikalischen Darbietung ausfielen.2 Selbst Fertigkeitsmodi, die innerhalb von Feldern hoch legitim sind, verschließen sich also einer unerschütterlichen Gültigkeit: Diese Gültigkeit muss vielmehr kollektiv hergestellt, erkannt und somit auch kompetent gezeigt werden, muss schlüssig involviert werden in geteilte Sinnwelten, die TeilnehmerInnen in Aufführungskontexten performativ somit etwas anderes abverlangen als nur ein spezifisches „Handwerk“. Es ist nun an nachfolgenden Studien, die inhärente Relationalität solcher Gültigkeiten auf strukturell vergleichbare Felder – innerhalb und auch außerhalb der Kunst – zu übertragen.

2

Diese beiderseitige Schlüssigkeit ist nur dann nicht paradox, wenn wir die Kontextabhängigkeit von Interpretationen vollumfänglich anerkennen.

9. Z U

9.6 P ERSPEKTIVEN

UND

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 243

A NSCHLUSSFRAGESTELLUNGEN

Noise also gibt Auskunft darüber, wie die Beantwortung der Frage um störendes oder willkommenes Geräusch sozial in einem verstrickungsreichen doing sound geleistet wird. Praktisches Wissen und Kompetenz sind hier wechselseitig und dabei auch konflikthaft organisiert. Musikalischer Sinn wird in körperlichen Aufführungen etabliert und einander angezeigt. Dabei sind die „doings and sayings“ performativ als ein „doing with things“ (Reckwitz 2002, S. 212) zu begreifen: „[N]ot only human beings participate in practices, but also non-human artefacts form components of practices. The things handled in a social practice must be treated as necessary components for a practice to be ‚practiced‘“. Die Deutung von Klang wird zudem räumlich sowie in räumlichen Kontrasten mitgestiftet. Ich bin überzeugt, dass uns all das nicht nur etwas über Noise als Spezialfall, sondern vielmehr über die praktische Deutung von Klang in einer allgemeinen Breite sagen kann. Die weitere Erschließung und Vertiefung klangsoziologischer Perspektiven ist ein Desiderat der praxeologisch informierten Sozialwissenschaften. Die möglichen Felder einer Soziologie des Auditiven sind umfangreich: Wo und wie in urbanen Umgebungen erzeugt Lärm Gegenlärm? Wie wird Lärm in Umgebungen des Wohnens sowie auf Plätzen ausgeschlossen oder maskiert, und welche Beziehungen unterhalten die entsprechenden Strategien zur Stadtplanung? Wie zirkuliert das Auditive in diskursiven Praktiken, wie z.B. in den historischen Rekapitulationen von Kriegsszenarien? Was sind typische Klangqualitäten von Arbeit, und wie kann Arbeit im Sinn auditiver Ordnungsbildungen gedacht werden? Im letztgenannten Fall gilt es, nicht nur solche sites von Arbeit in den Blick zu nehmen, die als genuin geräuschintensiv bekannt sind, wie z.B. die Fabrikarbeit. Vielmehr will ich zur klangsoziologischen Beschäftigung mit jenen Formen von Arbeit ermutigen, die sich durch weniger offensichtliche Ordnungsbildungen auditiver Natur auszeichnen. Die klangliche Organisation von Büroarbeit beispielsweise zeichnet sich mitunter durch gezielte Maßnahmen aus, der Geräuschhaftigkeit „geistiger“ Arbeitsverrichtungen Herr zu werden. So ist das Sprechen in Großraumbüros ein heikles Unterfangen insofern, als es einer gesteigerten, da besonders breiten Hörbarkeit ausgesetzt ist. Dem entgegenwirken soll in entsprechenden Arbeitsumgebungen das Einspielen von ambient office noise, also von artifiziellen Geräuschkulissen, die das auditive Büroleben als ein durchgehendes, beiläufiges, sprachlich unverständliches da verwaschenes Hintergrundgeplapper imitieren. So ist im März 2015 etwa im Harvard Business Review zu lesen:

244 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

„By adding a continuous, low-level ambient sound to an environment (such as white noise, which sounds similar to the sound of airflow), sound masking can help make con versations for listeners that aren’t intended to hear them unintelligible, and therefore much easier to ignore“.3

Dieses Beispiel deutet darauf hin, dass ein gezieltes Ordnen und Organisieren von Arbeitsprozessen nicht zuletzt eine praktische Beschäftigung mit klanglichen Aspekten inkludieren sollte. Wesentlich hat sich die praxeologische Perspektive allgemein „auch über die Reflexion sportlicher Praktiken entwickelt“ (Schmidt 2014, S. 211). An diesen bewährten Zugang zur Etablierung und Weiterentwicklung empiriegeleiteter Praxisforschung kann eine Soziologie des Auditiven direkt anschließen: Wie etwa sind auditive Ordnungsbildungen in die Dynamik von Fußballspielen involviert? Jubel und Rivalität etablieren dort eine spezifische Geräuschkulisse, die dem Szenario bei Geisterspielen im Sinn einer Sanktionierung entzogen wird. Das Fehlen der Fangesänge und Anfeuerungen ist hier weit mehr als ein sportästhetischer Makel: Vielmehr werden ihm konkrete, meist ungünstige Auswirkungen auf das Spielgeschehen zugeschrieben. Das Geisterspiel wird gemeinhin als Demütigung aufgefasst. Das Fußballspiel lässt sich ausgehend von diesem Extremfall analytisch als Schauplatz einer Vielzahl von klanglichen Ordnungsbildungen analysieren. In besonderem Maße anschlussfähig an die Erkenntnisse aus der Erschließung der Noise-Kultur zeigt sich freilich die Thematik der urbanen Lärmbelastung. Die Frage nach erwünschtem und unerwünschtem Geräusch zeigt sich hier in einer ausgeprägten alltagsweltlichen und gesellschaftspolitischen Relevanz. Im unmittelbaren Anschluss an die klangsoziologische Beschäftigung mit Noise erscheint mir das Geschehen um den Stadtlärm als ein spannungsreicher Schauplatz der Produktion, Interpretation und Verwendung von Klang par excellance. Den Selbstdarstellungen mancher KünstlerInnen zufolge soll Noise dem Wohlbefinden gezielt abträglich sein, und Noise vereint PraktikerInnen situativ zu regelrechten Leidensgemeinschaften: Wie im fünften Kapitel betont, geht es nicht zuletzt um ein Aushalten, das seinerseits – vgl. sechstes Kapitel – auch in einer gewissen Theatralik von diesbezüglich kompetenten TeilnehmerInnen (in praktischer Kooperation mit Räumen und Artefakten) performiert wird. Auch im Feld der urbanen Lärmbelastung wird mit Klang einer lauten, aufdringlichen, mitunter störenden Art ein Umgang in Form praktischer Aushandlungen ge3

Online: https://hbr.org/2015/03/stop-noise-from-ruining-your-open-office, zugegriffen am 12.12.2016. Siehe Internetquellen: Calisi/Stout (2015).

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 245

pflegt. Von der Weltgesundheitsorganisation (2011) als zweitgrößter, die Krankheitslast vergrößernder Umweltfaktor nach der Luftverschmutzung benannt, gilt Lärm diskursiv als ein zu bekämpfendes Übel im Kontext städtischer Lebensräume. Medial wird das Thema mit einer bemerkenswerten Dramatik verhandelt, die einen dringenden Handlungsbedarf suggeriert. Lärmbelastung wird dabei in der Praxis nicht selten als „messbar“ verstanden. Fritz Schlüter (2014) macht demgegenüber darauf aufmerksam, dass Lärm genau dieser Art eben nicht Gegenstand „bloßer“ Messung sein kann, sondern praktischer Aushandlung bedarf. So eröffnet der Autor ein aufschlussreiches Spannungsfeld zwischen dem Messparadigma und einer Vorstellung von Lärm als Konstrukt: „‚Lärm‘ muss letztlich selbst als soziales Konstrukt begriffen werden […]. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass gesundheitliche Schäden infolge dauerhafter Lärmbelastung statistisch nachgewiesen sind […]“ (S. 66). Diese abwägende Feststellung demonstriert, dass Lärm – und ebenso sein idealtypisches Gegenüber, die Stille bzw. Ruhe – nicht lediglich Gegenstand „bloßer“ Messung sind, sondern praktischer Aushandlung bedürfen. 4 Punktuelle Vertiefungen in die Thematik zeigen in der Tat entscheidende Grenzen des Messparadigmas in Hinblick auf die Frage, was Lärm „ist“ und welche Folgen Lärm für z.B. das Wohlbefinden hat: So wird beispielsweise mit einiger Ratlosigkeit eruiert, ob das Kindergeschrei auf öffentlichen Spielplätzen in Wohngebieten in der Tat als Lärm verhandelt werden sollte oder nicht. Aus einem Bericht des Landes Oberösterreich geht exemplarisch zudem hervor: „Es gibt keine einheitlichen Grenzwerte, Betriebslärm ist völlig anders zu bewerten als Eisenbahnlärm, für Baustellenlärm gibt es bundesländerweit unterschiedliche Regelungen, Straßenlärm, obwohl Hauptverursacher für die Lärmproblematik, wird mit einem sehr starren Grenzwerteschema begegnet, etc.“ (Hervorhebungen von mir). 5

Hier werden für die Praxis hoch relevante Deutungsspielräume adressiert, die mögliche Zugänge für eine soziologische Auseinandersetzung aufzeigen. Lärm ist also ganz allgemein als Dreh- und Angelpunkt praktischer Aushandlungsprozesse um das Auditive aufzufassen. Als zentrale Fragestellung lässt sich formu-

4

Knorr-Cetina (2002) schildert in einem anderen Kontext die „Sinnlosigkeit“ reiner Messung (vgl. S. 81ff.).

5

Online: http://www.ooe-umweltanwaltschaft.at/xbcr/SID-E52541FF-E1283A58/Grenz werte.pdf, zugegriffen am 10.02.2016. Siehe Internetquellen: Oberösterreichische Umweltanwaltschaft.

246 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

lieren: Wie wird Klang als störendes oder nicht störendes Geräusch, als auditive Hintergrundkulisse oder krankmachende Belästigung berichtbar, „accountable“ (vgl. Garfinkel 1967, S. VII, 1, 9) gemacht? Denkbar ist, in diesem Kontext auch die Wissenschaftspraxis der Psychoakustik und angrenzender Disziplinen als Gegenstand einer ethnografischen Betrachtung in den Blick zu nehmen: ganz im Sinn der laboratory studies aus den Science and Technology Studies und der Beschäftigung mit Wissenskulturen im Anschluss an Karin Knorr Cetina (2002). Eine Soziologie des Auditiven ist nicht nur in diesem Sinn als Einladung zum interdisziplinären Dialog mit der Klangforschung, der Psychoakustik und der Musikwissenschaft zu begreifen.

9.7 M ETHODOLOGISCHE I MPLIKATIONEN Das in der Studie skizzierte Verständnis von Einstimmung sollte (entsprechend meiner ersten Annäherung im Abschnitt 6.8) transsituativ auf ein räumlich-relationales Verständnis ausgeweitet werden, das auch Orte, Erwartungen und Wege inkludiert: Über situative Verdichtungen hinaus diffundiert soziale Praxis entscheidend in ein Davor und ein Danach, das für Fragen ethnografischer Beobachtbarkeit eine Herausforderung darstellt. Das Beobachten beginnt und endet somit nicht mit dem Betreten und Verlassen von „Kernsituationen“, sondern muss explizit auch jene Nebenschauplätze inkludieren und adressieren, für die der Blick mitunter blind ist, weil sie der Forscherperspektive banal, irrelevant und nicht zentral erscheinen. Hierin sehe ich eine von mehreren methodologischen Implikationen meiner Studie. Die Synästhesie beansprucht für sich ein Erfahrungswissen um die multisensorischen Beteiligungen an tendenziell einseitig geglaubten Wahrnehmungsprozessen. Obschon nur wenige Menschen zur Erfahrung dieser sensorischen Überschneidungen befähigt scheinen, dient das Phänomen doch als wichtiger Hinweis darauf, dass wir mit dem Sehen nicht nur das Auge mit dem Hören nicht nur das Ohr meinen können. Einem praxeologischen Verständnis von schlüssigen Erfahrungsprozessen kommt eine solche Perspektivierung unbedingt zupass: Sie warnt in letzter Konsequenz vor jedwedem Reduktionismus. Die soziologische Annahme eines doing sound eröffnet neue, dezidiert kontraintuitive Betrachtungsweisen auf das Hören als eine kollektiv bedingte Erfahrung von Klang. Für rezente Debatten um die Ethnografie der Sinne (Arantes/Rieger 2014, Pink 2009) bedeutet das eine Bereicherung forschungspraktischer Implikationen im Sinn einer umfassenden Perspektivierung um „Wahrnehmung“ als Teil ethnografischer Vor-

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 247

gehensweisen. Jenseits eines „Okularzentrismus“ (Hegner 2013, Abs. 39) setzt sich die nun abgeschlossene Studie schließlich mit dem Hören auseinander, gleichwohl nicht als solitär sensorische Rezeptionsleistung des Ohres: Ein Hören schließlich ist beispielsweise auch ein Spüren – die Synästhetiker wissen davon, und manche wissenschaftliche Debatte, etwa um die „vibrations“ in der Dancehall-Musik (vgl. Henriques 2010), hat davon einen buchstäblich plastischen Begriff. Das Spüren insgesamt inkludiert neben – oder besser: mit – dem Hören selbst je nach Kontext das Fühlen, das Sehen, mitunter sogar das Riechen und das Schmecken. Forschungspraktische Debatten also werden insofern angeregt, als den auditiven Bestandteilen sozialer Praxis keine „insuläre“ Eigenmächtigkeit in Hinblick auf das doing sound insgesamt zugesprochen wird. Eine Ethnografie der Sinne muss vor diesem Hintergrund stets naheliegenden Fallstricken widerstehen und kann diesen im Zuge gezielter Befremdung von Teilnehmerkonstruktionen forschungsstrategisch entgegentreten. Für Klang als Gegenstand qualitativer Sozialforschung macht sich hier jener charakteristische Perspektivenwechsel praxeologischer Forschung bezahlt, der beispielsweise explizit nach Verkörperung, kontextabhängiger Deutung oder der Rolle von Artefakten, Raumkonstitutionen und Transformationen fragt. Fruchtbar erscheint mir, das im Folgenden auf vergleichbare Sinneserfahrungen anzuwenden: z.B. auf das Sehen in Film und Theater oder das Spüren in Tanz und Sport. Zuletzt will ich mich methodologisch der Frage widmen: Was genau meint eigentlich die Rede vom Bruch mit den Teilnehmerkonstruktionen, wenn doch im vorliegenden Fall im Sinn einer „opportunistic complete membership“ gerade die ganz unmittelbare Nähe zu den Praktiken des Feldes in der Mitte des Erkenntnisprozesses stand? Beschließen also möchte ich die vorliegende Studie mit einer Reflexion über die Vor- und Nachteile, die Chancen und Fallstricke einer „complete membership“ in der ethnografischen Sozialforschung. Ethnografie zielt auf Wissensinnovation und auf ein Entdecken (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 8). Dem Forschungsgegenstand freilich wird sich mitunter dennoch aus einer Perspektive der Vertrautheit genähert: „Eine intime Vertrautheit mit dem Feld (‚being there‘) wird […] in der Regel als Qualitätsmerkmal ethnographischer Untersuchungen angesehen“ (Thiele 2003, Abs. 14). Die unmittelbare Nähe zum Feld birgt forschungspraktische Vorteile: in Fragen des Zugangs beispielsweise. Das „being there“ ist durch eine „complete membership“ reibungslos machbar, und die zunächst gerade nicht distanzierte Teilnahme gestattet ein umfängliches „Durchleben“ der affektiven, der leiblichen und der sinnstiftenden Dimensionen sozialer Praxis. Ein anfängliches Beschreiben in möglichst umfassender Breite gestattet eine Inventarisierung des Feldes und ein Einholen von

248 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Teilnehmerperspektiven, z.B. im Sinn von Jargon oder einschlägigen Ansichten, Leidenschaften usw., die zu diesem Zeitpunkt mit den eigenen oft deckungsgleich sind. Dadurch, dass zu Beginn im Explorieren nicht der Blick durch theo retische Kategorien privilegiert wird, ist zugleich sichergestellt, dass Befremdung nicht in eine Verfremdung umschlägt, in der etablierte Wissensbestände der Soziologie durch eine Fallstudie lediglich neu illustriert werden. Diese Aufwertung und dieses erste Explorieren haben allerdings auch eine Kehrseite: So haben kritische Anregungen zur Vorgehensweise im Sinn einer „opportunistic complete membership“ meine Studie von Anfang an begleitet, denn besonders tiefe Modi der Feldteilnahme sind auch mit gewissen Erkenntnisrisiken verbunden. Die Teilnahme verlangt nach strengen Modi von Reflexivität und Befremdung, die auch eigene Haltungen, Leidenschaften etc. einer kritischen Perspektivierung unterzieht. Zu vermeiden ist eine bloße Reproduktion dessen, was die „natives“ in einem Gegenstandsbereich an expliziten Wissensbeständen über das Feld parat haben. Breidenstein et al. (2013) verweisen mit einiger Dringlichkeit auf die Notwendigkeit zur analytischen Durchdringung der Felderfahrung, gewährleistet durch einen Rückzug an den universitären Arbeitsplatz: Dem „going native“ sei unbedingt ein „coming home“ entgegenzusetzen. Andernfalls könnten EthnografInnen ihrer Fachdisziplin gleichsam „verloren gehen“ (vgl. S. 42ff.). Ist „going native“ also stets ein Scheitern der Forschung, da hier ein Verlust wissenschaftlicher Distanz etabliert wird? Dazu gibt es divergierende Auffassungen: „[Roland] Girtler hält dem entgegen, dass es sich bei der Frage des ‚going native‘ um ein Scheinproblem handelt, da es aus seiner Sicht gerade das Ziel der teilnehmenden Beobachtung ist, die Perspektive der Akteure zu verstehen und nachvollziehbar zu machen. Distanz bedeutet vielmehr, dass der Wissenschaftler in seinem Kategoriensystem bleibt und deren Prinzipien zum Maßstab der Interpretation macht“ (Wagner 2014, S. 347).

Dem will ich mich nicht anschließen. Im Zusammenspiel von empirischer Arbeit mit soziologischen Theoriebeständen geht es nicht um Bestätigung, sondern um Produktivität: Qualitative Forschung im Sinn einer „theoretischen Empirie“ (vgl. Kalthoff et al. 2008) arbeitet zum einen in der Tat „nicht mit der Annahme der Möglichkeit einer theoretischen Neutralität“; zugleich aber zielt sie darauf ab, „Kategorien aus dem Material zu entwickeln, die sensitiv sind und die Imagination und Wahrnehmung des Forschers schärfen“ (Kalthoff 2008, S. 20). Es geht also darum, „die Kluft zwischen theoretischer und empirischer Praxis zu überwinden und beide in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen“ (Antony 2014, Abs. 5). Die Qualität der generierten Beobachtungsdaten und Analysen

9. Z U

EINER

S OZIOLOGIE

DES

A UDITIVEN

| 249

kann sich nicht aus einer bloßen Dokumentation der im Feld vorgefundenen Teilnehmerkonstruktionen bemessen, sondern aus dem Potenzial, die Wissensbestände der Soziologie zu bereichern. Von Amann und Hirschauer (1997) wird „die verständnisvolle Vertrautheit“, die im Feld erreicht wird, als ein „immer wieder neu zu überwindender Durchgangspunkt“ (S. 29) thematisiert. Wie Thiele (2003, Abs. 12) festhält: „Weil wir uns in unserer eigenen Kultur auf eine selbstverständliche Art und Weise hei misch fühlen, ist das ‚Befremden‘ natürlich gerade für Erforschungen vermeintlich vertrauter Lebenswelten von besonderer Wichtigkeit (aber auch Schwierigkeit!)“.

Ebenso, wie sich die eigene Rolle im Feld während der Zeit der Teilnahme wan delt, halte ich auch verschiedene Stadien episodischer Befremdung für angebracht. Im Forschungsprogramm der Grounded Theory wird eine strenge Trennung zwischen den Phasen der Datengenerierung und der Analyse zurückgewiesen (vgl. Charmaz 2006, S. 6) – beides ist miteinander verzahnt und wird engmaschig abgewechselt, entgegen einer opportunistischen Bestätigung deduktiver Theorie durch empirische Forschungsunternehmungen (vgl. Glaser/Strauss 1967, S. 5). Analyseschritte in „complete memberships“ sind nach meinem Dafürhalten – im Anschluss an ein erstes Ausschweifen – möglichst arbeitsteilig zu organisieren: Nicht nur erfolgt hierdurch eine multiperspektivische theoretische Durchdringung des Materials. Zugleich machen divergierende Perspektiven und kritische Äußerungen darauf aufmerksam, welche zentralen Aspekte des Feldes durch bisherige Beobachtungen noch nicht abgedeckt wurden. Die Notwendigkeit der Befremdung will ich an einem knappen Beispiel illustrieren: Man stelle sich vor, man folgt der im Feld verbreiteten Auffassung eines „Hörens für Fortgeschrittene“ in soziologisch naiver Gutgläubigkeit. Führt man sich nun etwa Adornos Typologie von Hörertypen vor Augen (vgl. Paetzel 2001, S. 62), findet sich sogar ein ausgewiesen musiksoziologischer Nährboden, auf dem die Selbstinszenierung des Feldes hier gedeihen könnte: Dort fände man demnach die Noise-PraktikerInnen im Bereich der Experten, denen es wie keinen anderen gelingt, Sinnzusammenhänge zu sehen und zu deuten: „[Der Experte] zeichnet sich durch gänzlich adäquates, sozusagen strukturelles Hören aus“ (ebd.). Dass dieser besonders befähigte Hörertypus der Dissonanz etwas abgewinnen kann, verwundert nicht. Im Sinn der Typologie stünden die NoisePraktikerInnen denjenigen, die Musik als Unterhaltung hören, gegenüber, einem Typus, der unkritisch Massenmedien konsumiert und sich psychologisch durch „Ich-Schwäche“ auszeichnet (vgl. ebd., S. 63). Mit einer solchen Zuordnung

250 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

wäre dem Feld freilich geschmeichelt. Der analytische Erkenntnisgewinn ginge jedoch gegen Null. Mein Fazit lautet: Forschungsunternehmungen im Sinn der „complete membership“ bergen aufgrund besonders tiefer Feldimmersionen das Potenzial, soziologische Theoriebestände entscheidend zu bereichern und auch produktiv zu irritieren. Eingebunden in fundierte Forschungsdesigns und möglichst arbeitsteilige Analyseprozesse, können methodische Risiken wiederum wenn schon nicht vollends getilgt, so doch zumindest minimiert werden. Es ist meine Überzeugung, dass „complete memberships“ im Rahmen entsprechender Fallstudien der Soziologie dazu verhelfen können, ihr Innovationspotenzial entscheidend zu beleben. Denn darum schließlich muss es ethnografischen Perspektiven gehen.

Literatur

Adler, Patricia A. und Peter Adler. 1987. Membership Roles in Field Research. Qualitative Research Methods, Vol. 6. London: Sage Publications. Akrich, Madeleine. 2010. From Communities of Practice to Epistemic Communities: Health Mobilizations on the Internet. Sociological Research Online, http://www.socresonline.org.uk/15/2/10.html, zugegriffen am 12.01.2015. Alkemeyer, Thomas. 2007. Literatur als Ethnographie. Repräsentation und Präsenz der stummen Macht symbolischer Gewalt. Zeitschrift für Qualitative Forschung 8 (1): S. 11-31. Alvesson, Mats. 2009. At-Home Ethnography. Struggling with Closeness and Closure. In: Organizational Ethnography. Studying the Complexities of Everyday Life, hrsg. Ybema Sierk, Dvora Yanow, Harry Wels und Frans H. Kamsteeg, S. 156-175. London: SAGE Publications. Amann, Klaus und Stefan Hirschauer. 1997. Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, hrsg. Klaus Amann und Stefan Hirschauer, S. 7-41. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ammann, Jean-Christophe. 1999. Der 6. Kondratieff und die Kunst – oder einmal mehr der Versuch, über die Kunst öffentlich nachzudenken. In: Im Rausch der Geschwindigkeit, hrsg. Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur e.V., S. 1-10. Berlin/Heidelberg: Springer. Antony, Alexander. 2014. Kampf um implizites Wissen. Review-Essay zu Larissa Schindler. 2011. Kampffertigkeit. Eine Soziologie praktischen Wissens. Reihe: Qualitative Soziologie, Bd. 13. Forum Qualitative Sozialforschung 15 (3). Online: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/ article/view/2211/3708, zugegriffen am 01.11.2016. Arantes, Lydia Maria und Elisa Rieger (Hg.). 2014. Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. Bielefeld: transcript.

252 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Arnheim, Rudolf. 1943. Gestalt and Art. Journal of Aesthetics and Art Criticism 2 (8): S. 71-75. Barnes, Barry. 2001. Practice as Collective Action. In: The Practice Turn in Contemporary Theory, hrsg. Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny, S. 25-36. London/New York: Routledge. Bassetti, Chiara. 2014. The Knowing Body-in-Action in Performing Arts. Embodiment, Experiential Transformation, and Intersubjectivity. In: Artistic Practices. Social Interactions and Cultural Dynamics, hrsg. Tasos Zembylas, S. 91-111. London/New York: Routledge. Beck, Stefan, Jörg Niewöhner und Estrid Sörensen. 2012. Einleitung: Science and Technology Studies aus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive. In: Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, hrsg. Stefan Beck, Jörg Niewöhner und Estrid Sörensen, S. 9-48. Bielefeld: Transcript. Becker, Howard S. 1963. Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York: The Free Press. Becker, Howard S. 1995. The Power of Inertia. Qualitative Sociology 18 (3): S. 301-309. Becker, Howard S. 2008 [1982]. Art Worlds. Berkeley: University of California Press. Benjamin, Walter. 1980. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Teil 2, hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, S. 471-508. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bergmann, Jörg. 2012. Irritationen, Brüche, Katastrophen – Über soziale Praktiken des Umgangs mit „Störungen“ in der Interaktion, Abschiedsvorlesung am 25.01.2012. Online: https://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/bergmann/PDF/Bergmann_2012-Abschiedsvorlesung.pdf, zugegriffen am 10.02.2016. Bonz, Jochen. 2014. Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses. Zum Realismus der sensuellen Ethnographie. In: Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, hrsg. Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger, S. 233-250. Bielefeld: Transcript. Bourdieu, Pierre. 1997. Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre. 2008 [1992]. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In: Theorien der Sozialisation, hrsg. Franzjörg Baumgart, S. 217-231. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

L ITERATUR

| 253

Bourdieu, Pierre und Loic Wacquant. 2006. Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bräunlein, Peter J. 2011. Interpretation von Zeugnissen materialer Kultur. Ku, ein hawaiianischer Gott in Göttingen. In: Religionen erforschen: Kulturwissenschaftliche Methoden in der Religionswissenschaft, hrsg. Stefan Kurth und Karsten Lehmann, S. 43-70. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Breidenstein, Georg, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Boris Nieswand. 2013. Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UTB. Brown, John Seely und Paul Duguid. 1996. The Social Life of Documents. First Monday 1 (1). Online: http://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/466/387, zugegriffen am 01.09.2013. Bueger, Christian. 2014. Pathways to Practice: Praxiography and International Politics. European Political Science Review 6 (3): S. 383-406. Burri, Regula Valérie. 2008. Bilder als soziale Praxis: Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen. Zeitschrift für Soziologie 37: S. 342-358. Callon, Michel. 2006. Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität. In: ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hrsg. Andréa Belliger und David J. Krieger, S. 309-342. Bielefeld: Transcript Verlag. Chaker, Sarah. 2014. Schwarzmetall und Todesblei. Über den Umgang mit Musik in den Black- und Death-Metal-Szenen Deutschlands. Berlin: Archiv der Jugendkulturen. Charmaz, Kathy. 2006. Constructing Grounded Theory. A Practical Guide through Qualitative Analysis. London: SAGE Publications. Cohn, Carol. 2006. Motives and Methods: Using Multi-sited Ethnography to Study US National Security Discourses. In: Feminist Methodologies for International Relations, hrsg. Brooke Ackerly, Maria Stern und Jacquie True, S. 91-107. Cambridge, Cambridge University Press. Collins, Randall. 2004. Interaction Ritual Chains. Princeton/Oxford: Princeton University Press. Dellwing, Michael und Robert Prus. 2012. Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Demers, Joanna. 2010. Listening through the Noise. The Aesthetics of Experimental Electronic Music. Oxford: Oxford University Press.

254 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

DeNora, Tia. 2000. Music in Everyday Life. Cambridge: Cambridge University Press. Ellis, Carolyn und Tony E. Adams. 2014. The Purposes, Practices, and Principles of Autoethnographic Research. In: The Oxford Handbook of Qualitative Research, hrsg. Patricia Leavy, S. 254-276. Oxford: Oxford University Press. Fine, Gary Alan und Michaela de Soucey. 2005. Joking Cultures: Humor Themes as Social Regulation in Group Life. Humor 18 (1): S. 1-22. Flick, Uwe. 2011. Introducing Research Methodology: A Beginner’s Guide to Doing a Research Project. London: SAGE Publishing. Fröhlich, Gerhard. 1999. Habitus und Hexis. Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu. In: Grenzenlose Gesellschaft? Bd. II/2, hrsg. Hermann Schwengel und Britta Höpken, S. 100-102. Pfaffenweiler: Centaurus Verlag. Garfinkel, Harold. 1963. A Conception of, and Experiments with, „Trust“ as a Condition of Stable Concerted Actions. In: Motivation and Social Interaction: Cognitive Approaches, hrsg. O.J. Harvey, S. 187-238. New York: Ronald Press. Garfinkel, Harold. 1967. Studies of the Routine Grounds of Everyday Activity. In: Studies in Ethnomethodology, S. 35-75. London: Prentice-Hall. Geertz, Clifford. 1973a. Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, S. 3-30. New York: Basic Books. Geertz, Clifford. 1973b. Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight. In: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, S. 412-453. New York: Basic Books. Gibson, James J. 2014 [1979]. The Ecological Approach to Visual Perception. Classic edition. Hove: Psychology Press. Giddens, Anthony. 1995. Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M./New York: Campus. Ginkel, Kai. 2015. „May Cause Damage to Equipment and Eardrums“: Erkenntnisanregungen zur Klangforschung aus einer Ethnografie des Noise. Navigationen 15 (2), Sonderheft Von akustischen Medien zur auditiven Kultur, hrsg. Bettina Schlüter und Axel Volmar: S. 145-159. Ginkel, Kai. 2016. Zur programmatischen Qualität von klanglich vermittelter Krisenhaftigkeit in der Noise-Musik. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft Handlungs- und Interaktionskrisen, hrsg. Frank Adloff, Gerd Sebald und Alexander Antony: S. 153-173.

L ITERATUR

| 255

Ginkel, Kai. 2017 (im Erscheinen). Was weiß der Krach? Ethnografische Überlegungen zur praktischen Wissensdimension von Klang in der Noise-Musik. In: Auditive Wissenskulturen. Das Wissen klanglicher Praxis, hrsg. Bernd Brabec de Mori und Martin Winter. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Glaser, Barney G. und Anselm L. Strauss. 1967. The Discovery of Grounded Theory. Chicago: Aldine Publishing. Gobo, Giampietro. 2008. Doing Ethnography. London: SAGE Publications. Goffman, Erving. 1956. The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday. Goffman, Erving. 1967. Interaction Ritual. Chicago: Aldine Publishing. Gruzd, Anatoliy, Barry Wellman und Yuri Takhteyev. 2011. Imagining Twitter as an Imagined Community. American Behavioral Scientist 55 (10): S. 12941318. Gugutzer, Robert. 2006. Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung. In: Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Materialitäten Bd. 2, hrsg. Robert Gugutzer, S. 9-53. Bielefeld: Transcript. Hammersley, Martyn. 1990. The Dilemma of Qualitative Method: Herbert Blumer and the Chicago Tradition. London/New York: Routledge. Hegarty, Paul. 2012. A Chronic Condition: Noise and Time. In: Reverberations. The Philosophy, Aesthetics and Politics of Noise, hrsg. Michael Goddard, Benjamin Halligan und Paul Hegarty, S. 15-25. London/New York: Continuum. Hegner, Victoria. 2013. Vom Feld verführt. Methodische Gratwanderungen in der Ethnografie. Forum Qualitative Sozialforschung 14 (3). Online: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1957/3596, zugegriffen am 12.01.2016. Henriques, Julian. 2010. The Vibrations of Affect and Their Propagation on a Night Out on Kingston’s Dancehall Scene. Body & Society 16 (1): S. 57-89. Hill, Andrew. 2002. Acid House and Thatcherism: Noise, the Mob, and the English Countryside. British Journal of Sociology 53 (1): S. 89-105. Hillebrandt, Frank. 2014. Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hine, Christine. 2007. Multi-sited Ethnography as a Middle Range Methodology for Contemporary STS. Science, Technology, & Human Values 32 (6): S. 652-671.

256 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Hirschauer, Stefan. 1999. Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt. Soziale Welt 50 (3): S. 221-246. Hirschauer, Stefan. 2004. Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, hrsg. Karl H. Hörning und Julia Reuter, S. 73-91. Bielefeld: Transcript. Hirschauer, Stefan. 2008a. Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs. In: Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel, Bd. II, hrsg. Karl-Siegbert Rehberg, S. 974-984. Frankfurt a.M.: Campus. Hirschauer, Stefan. 2008b. Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, hrsg. Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann, S. 165-187. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hitzler, Roland und Arne Niederbacher. 2010. Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hoffmann, Nora Friederike. 2014. Praxeologische Szeneforschung. Eine neue Perspektive auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Jugend-Szenen. In: Jugend. Theoriediskurse und Forschungsfelder, hrsg. Sabine Sandring, Werner Helsper und Heinz-Hermann Krüger, S. 253-268. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hongler, Camille, Christoph Haffner und Silvan Moosmüller (Hg.). 2014. Geräusch – das Andere der Musik. Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen. Bielefeld: Transcript. Holmes, Janet und Miriam Meyerhoff. 1999. The Community of Practice: Theories and Methodologies in Language and Gender Research. Language in Society 28 (2): S. 173-183. Holmes, Thom. 2008. Electronic and Experimental Music. Technology, Music, and Culture. London/New York: Routledge. Huber, Hans Dieter. 2008. Phantasie als Schnittstelle zwischen Bild und Sprache. In: Ich seh dich so gern sprechen. Sprache im Bezugsfeld von Praxis und Dokumentation künstlerischer Therapien. Wissenschaftliche Grundlagen der Kunsttherapie, Bd. 2, hrsg. Michael Ganß, Peter Sinapius und Peer de Smit, S. 61-70. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. Ikoniadou, Eleni. 2014. Abstract Time and Affective Perception in the Sonic Work of Art. Body & Society 20 (3-4): S. 140-161.

L ITERATUR

| 257

Jäger-Erben, Melanie. 2010. Zwischen Routine, Reflektion und Transformation – die Veränderung von alltäglichem Konsum durch Lebensereignisse und die Rolle von Nachhaltigkeit. Eine empirische Untersuchung unter Berücksichtigung praxistheoretischer Konzepte. Dissertation, Technische Universität Berlin. Online: https://depositonce.tu-berlin.de/handle/11303/2897, zugegriffen am 27.02.2016. Jones, Kenneth. 1997. Are Rap Videos More Violent? Style Difference and the Prevalence of Sex and Violence in the Age of MTV. Howard Journal of Communications 8 (4): S. 343-356. Jungbauer-Gans, Monika, Roger Berger und Peter Kriwy. 2005. Machen Kleider Leute? Ergebnisse eines Feldexperiments zum Verkäuferverhalten. Zeitschrift für Soziologie 34 (4): S. 311-322. Kalthoff, Herbert. 2008. Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, hrsg. Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann, S. 8-32. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kalthoff, Herbert, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann (Hg.). 2008. Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Keller, Reiner. 2009. Das interpretative Paradigma. In: Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons: Eine Einführung, Ditmar Brock, Matthias Junge, Heike Diefenbach, Reiner Keller und Dirk Villanyi, S. 17-126. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kleinknecht, Steven. 2005. Ethnographic Insights into the Hacker Subculture. In: Doing Ethnography: Studying Everyday Life, hrsg. Charlene Elizabeth Miall, Dorothy Pawluch und William Shaffir, S. 212-225. Toronto: Canadian Scholars’ Press. Klett, Joseph und Alison Gerber. 2014. Zur Etablierung von Verzerrung und Fremdartigkeit. The Meaning of Indeterminacy: Noise Music as Performance. Cultural Sociology 8 (3): S. 275-290. Knorr-Cetina, Karin. 2002. Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kurtz, Thomas und Michaela Pfadenhauer (Hg.). 2010. Soziologie der Kompetenz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Latour, Bruno. 1996. On Interobjectivity. Mind, Culture, and Activity 3 (4): S. 228-245. Latour, Bruno. 2000. Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit von Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

258 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Latour, Bruno. 2005. Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford: Oxford University Press. Law, John. 2004. After Method. Mess in Social Science Research. London/New York: Routledge. Law, John und Annemarie Mol. 2003. On Metrics and Fluids. Notes on Otherness. In: Organized Worlds: Explorations in Technology and Organization with Robert Cooper, hrsg. Robert Chia, S. 18-35. London/New York: Routledge. Law, John und John Urry. 2004. Enacting the social. Economy and Society 33 (3): S. 390-410. Liegl, Michael. 2010. Digital Cornerville. Technologische Leidenschaft und musikalische Gemeinschaft in New York. Stuttgart: Lucius & Lucius. Lorey, Isabell. 2007. Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion. Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen. In: Kritik der Kreativität, hrsg. Gerald Raunig und Ulf Wuggenig, S. 121-136. Wien: Verlag Turia + Kant. Löw, Martina. 2001. Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lynch, Michael. 1997. Theorizing Practice. Human Studies 20 (3): S. 335-344. Maeder, Christoph. 2014. Analysing Sounds. In The SAGE Handbook of Qualitative Data Analysis, hrsg. Uwe Flick, S. 424-434. London: SAGE Publications. Marcus, George E. und Dick Cushman. 2011 [1988]. Fieldwork, Culture, and Ethnography Revisited. In: Tales of the Field. On Writing Ethnography, Second Edition, 2. Auflage, hrsg. John van Maanen, S. 125-144. Chicago/London: University of Chicago Press. Maynard, Douglas W. und Steven E. Clayman. 2003. Ethnomethodology and Conversation Analysis. In: Handbook of Symbolic Interactionism, hrsg. Reynolds, Larry T. und Nancy J. Herman-Kinney, S. 173-202. Oxford: AltaMira Press. Meyer, Christian und Ulrich von Wedelstaedt. 2015. Teamsubjekte: Rituelle Körpertechniken und Formen der Vergemeinschaftung im Spitzensport. In: Körper und Ritual: Sozialwissenschaftliche Zugänge und Analysen, hrsg. Robert Gugutzer und Michael Staack, S. 97-124. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Miebach, Bernhard. 1991. Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

L ITERATUR

| 259

Mizzi, Robert. 2010. Unraveling Researcher Subjectivity Through Multivocality in Autoethnography. Journal of Research Practice 6 (1). Online: http://jrp.icaap.org/index.php/jrp/article/view/201/185, zugegriffen am 12.02.2016. Musolf, Gil Richard. 2003. The Chicago School. In: Handbook of Symbolic Interactionism, hrsg. Reyonolds, Larry T. und Nancy J. Herman-Kinney, S. 91118. Oxford: AltaMira Press. Nicolini, Davide. 2013. Practice Theory, Work, and Organization: An Introduction. Oxford: Oxford University Press. Oevermann, Ulrich. 1996. Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19.06.1996. Online: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/4953/Krise-und-Musse1996.pdf, zugegriffen am 01.02.2016. Oevermann, Ulrich. 2008. „Krise und Routine“ als analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften. Abschiedsvorlesung am 28.04.2008. Online: http://www.ihsk.de/publikationen/UlrichOevermann_Abschiedsvorlesung_Universitaet-Frankfurt.pdf, zugegriffen am 01.03.2015. Zuletzt verfügbar unter: http://repo.agoh.de/Oevermann%20%202008%20%E2%80%9EKrise%20und%20Routine%E2%80%9C%20als %20analytisches%20Paradigma%20in%20den%20Sozialwissenschaften.pdf, zugegriffen am 20.02.2016. Orlikowski, Wanda J. 2007. Sociomaterial Practices: Exploring Technology at Work. Organization Studies 28 (9): S. 1435-1448. Pader, Ellen. 2006. Seeing with an Ethnographic Sensibility. Explorations Beneath the Surface of Public Policies. In: Interpretation and Method: Empirical Research Methods and the Interpretive Turn, hrsg. Dvora Yanow und Peregrine Schwartz-Shea, S. 161-175. New York: M.E. Sharpe. Panenka, Petra. 2014. Das ‚erlernte‘‘ Tasten der Lakandon Maya. Zur Erfassung der Tortillazubereitung durch das Konzept skilled touch. In: Ethnographien der Sinne, hrsg. Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger, S. 127-142. Bielefeld: Transcript. Paetzel, Ulrich. 2001. Kunst und Kulturindustrie bei Adorno und Habermas: Perspektiven kritischer Theorie. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Pickering, Andrew. 2001. Practice and Posthumanism: Social Theory and a History of Agency. In: The Practice Turn in Contemporary Theory, hrsg. Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny, S. 172-183. London/New York: Routledge. Pink, Sarah. 2009. Doing Sensory Ethnography. London: SAGE Publications.

260 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Polanyi, Michael. 1998. Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. London/New York: Routledge. Rammert, Werner. 2007. Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Reckwitz, Andreas. 2002. The Status of the „Material“ in Theories of Culture. Journal for the Theory of Social Behaviour 32 (2): 195-217. Reckwitz, Andreas. 2003. Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Zeitschrift für Soziologie 32 (4): S. 282-301. Reckwitz, Andreas. 2012. Affective Spaces. A Praxeological Outlook. Rethinking History 16: S. 241-258. Reimers, Inga. 2014. Ess-Settings als Versammlungen der Sinne. Zum Problem der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung. In: Ethnographien der Sinne, hrsg. Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger, S. 75-90. Bielefeld: Transcript. Roux-Girard, Guillaume. 2011. Listening to Fear: A Study of Sound in Horror Computer Games. In: Game Sound Technology and Player Interaction: Concepts and Developments, hrsg. Mark Grimshaw, S. 192-212. Hershey/New York: Information Science Reference. Russolo, Luigi. 2000 [1916]. Die Kunst der Geräusche. Mainz: Scott Verlag. Salzman, Philip Carl. 2002. On Reflexivity. American Anthropologist 104 (3): S. 805-813. Sangild, Torben. 2002. The Aesthetics of Noise. Online: http://www.ubu.com/papers/noise.html, zugegriffen am 02.01.2016. Schafer, R. Murray. 1969. The New Soundscape. A Handbook for the Modern Music Teacher. Scarborough: Berandol Music Limited. Schafer, R. Murray. 1994. The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester: Destiny Books. Schatzki, Theodore R. 2002. The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. University Park: The Pennsylvania State University Press. Schatzki, Theodore R. 2003. A New Societist Social Ontology. Philosophy of the Social Sciences 33 (2): S. 174-202. Schatzki, Theodore: 2014. Art Bundles. In: Artistic Practices. Social Interactions and Cultural Dynamics, hrsg. Tasos Zembylas, S. 17-31. London/New York: Routledge. Scheffer, Thomas. 2002. Das Beobachten als sozialwissenschaftliche Methode von den Grenzen der Beobachtbarkeit und ihrer methodischen Bearbeitung. In: Qualitative Gesundheits- und Pflegeforschung, hrsg. Doris Schaeffer und Gabriele Müller-Mundt, S. 351-374. Bern: Huber.

L ITERATUR

| 261

Schindler, Larissa und Michael Liegl. 2013. Praxisgeschulte Sehfertigkeit. Zur Fundierung audiovisueller Verfahren in der visuellen Soziologie. Soziale Welt 64 (1-2): S. 51-67. Schlüter, Fritz. 2014. „Sound Culture“, „Acoustemology“ oder „Klanganthropologie“? Sinnliche Ethnografie und Sound Studies. In: Ethnografien der Sinne, hrsg. Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger, S. 57-74. Bielefeld: Transcript. Schmidt, Robert. 2012. Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schmidt, Robert und Jörg Volbers. 2011. Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme. Zeitschrift für Soziologie 40 (1): S. 24-41. Schoon, Andi und Axel Volmar (Hg.). 2012. Das geschulte Ohr. Eine Kulturgeschichte der Sonifikation. Bielefeld: Transcript Verlag. Schulze, Holger. 2008. Klänge in Räumen. Zur Wiederentdeckung einer mutmaßlichen Selbstverständlichkeit. In: Popularmusik und Kirche. Geistreiche Klänge – Sinnliche Orte, hrsg. Wolfgang Kabus, S. 15-22. Frankfurt a.M.: Internationaler Verlag der Wissenschaften. Schürkmann, Christiane. 2014. Material in künstlerischen Erzeugungsprozessen: Überlegungen zur Materialität des Materials im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit. In Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012, hrsg. Martina Löw, S. 1-13. Frankfurt a.M.: Campus (CD-Rom). Schützeichel, Rainer. 2010. Wissen, Handeln, Können. Über Kompetenzen, Expertise und epistemische Regime. In: Soziologie der Kompetenz, hrsg. Thomas Kurtz und Michaela Pfadenhauer, S. 173-189. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Shove, Elizabeth und Mika Pantzar. 2005. Consumers, Producers and Practices. Understanding the Invention and Reinvention of Nordic Walking. Journal of Consumer Culture 5 (1): S. 43-64. Siebeck, Cornelia. 2011. Zur Relevanz des ethnografischen Blicks bei der sozialund kulturwissenschaftlichen Erforschung von Orten und Räumen. Review Essay. Forum Qualitative Sozialforschung 12 (3). Online: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1747/3251, zugegriffen am 06.01.2016.

262 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Simmel, Georg. 2009 [1907]. Soziologie der Sinne. In: Soziologische Ästhetik, hrsg. Klaus Lichtblau, S. 115-128. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Smith, Stacy L. 2005. From Dr. Dre to „Dismissed“: Assessing Violence, Sex, and Substance Use on MTV. Critical Studies in Media Communication 22 (1): S. 89-98. Staack, Michael. 2015. Körperliche Rhythmisierung und rituelle Interaktion. Zu einer Soziologie des Rhythmus im Anschluss an Randall Collins’ Theorie der „Interaction Ritual Chains“. In: Körper und Ritual: Sozialwissenschaftliche Zugänge und Analysen, hrsg. Robert Gugutzer und Michael Staack, S. 97124. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Strauss, Anselm und Juliet Corbin. 1996 [1990]. Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Strübing, Jörg. 2008. Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. 2, überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Tarde, Gabriel. 1969. The Laws of Imitation. In: On Communication and Social Influence. Selected Papers, hrsg. Terry N. Clark, S. 183-191. Chicago: University of Chicago Press. Thiele, Jörg. 2003. Ethnographische Perspektiven der Sportwissenschaft in Deutschland – Status Quo und Entwicklungschancen. Forum Qualitative Sozialforschung 4 (1). Online: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/756/1638, zugegriffen am 05.12.2016. Tomasi, Luigi. 1998. Introduction. In: The Tradition of the Chicago School of Sociology, hrsg. Luigi Tomasi, S. 1-9. Brookfield, IL: Ashgate. Villa, Paula-Irene. 2002. Exotic Gender (E)motion: Körper und Leib im argentinischen Tango. In: Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, hrsg. Kornelia Hahn und Michael Meuser, S. 179-203. Konstanz: UVK. Volmar, Axel und Jens Schröter (Hg.). 2013. Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung. Bielefeld: Transcript Verlag. Van der Waal, Kees. 2009. Getting Going. In: Organizational Ethnography. Studying the Complexities of Everyday Life, hrsg. Sierk Ybema, Dvora Yanow, Harry Wels, Frans H. Kamsteeg, S. 23-39. London: SAGE Publications.

L ITERATUR

| 263

Wacquant, Loic. 2004. Body and Soul. Notebooks of an Apprentice Boxer. Oxford: Oxford University Press. Wacquant, Loic. 2005. Carnal Connections: On Embodiment, Apprenticeship, and Membership. Qualitative Sociology 28 (4): S. 445-474. Wacquant, Loïc. 2011. Habitus as Topic and Tool: Reflections on Becoming a Prizefighter. Qualitative Research in Psychology 8 (1): S. 81-92. Wagner, Mathias. 2014. Die Schmugglergesellschaft: Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie. Bielefeld: Transcript. Weltgesundheitsorganisation. 2011. WHO präsentiert neue Erkenntnisse zu Gesundheitsfolgen von Verkehrslärm in Europa. Online: http://www.euro.who.int/de/media-centre/sections/press-releases/2011/03/new-evidencefrom-who-on-health-effects-of-traffic-related-noise-in-europe, zugegriffen am 10.02.2016. Wenger, Étienne. 1998. Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity. Cambridge: Cambridge University Press. Wenger, Étienne. 2006. Communities of Practice. A Brief Introduction. Online: http://wenger-trayner.com/wp-content/uploads/2015/04/07-Brief-introduction-to-communities-of-practice.pdf, zugegriffen am 29.02.2016. Werlen, Benno. 2013. Gesellschaft und Raum: Gesellschaftliche Raumverhältnisse. Grundlagen und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Geographie. Erwägen Wissen Ethik 24 (1): S. 3-16. West, Candace und Don Zimmerman. 1987. Doing Gender. Gender & Society 1 (2): S. 125-151. Wieser, Matthias. 2012. Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-NetzwerkTheorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie. Bielefeld: Transcript. Wittgenstein, Ludwig. 1999 [1953]. Philosophische Untersuchungen. Online: http://www.geocities.jp/mickindex/wittgenstein/witt_pu_gm.html, zugegriffen am 22.12.2015. Wulf, Christoph. 1997. Ohr. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg, Christoph Wulf, S. 459-464. Weinheim und Basel: Beltz. Wulf, Christoph. 2015. Rituale als performative Handlungen und die mimetische Erzeugung des Sozialen. In: Körper und Ritual. Sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge und Analysen, hrsg. Robert Gugutzer und Michael Staack, S. 23-40. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

264 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Yanow, Dvora. 2009. Organizational Ethnography and Methodological Angst: Myths and Challenges in the Field. Qualitative Research in Organizations and Management: An International Journey 4 (2): S. 186-199. Yanow, Dvora und Haridimos Tsoukas. 2009. What Is Reflection-in-Action? A Phenomenological Account. Journal of Management Studies 46 (8): S. 13391364. Zembylas, Tasos. 1997. Kunst oder Nichtkunst? Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung. Wien: WUV-Universitätsverlag. Zembylas, Tasos. 2004a. Das Legitime und das Deviante – eine kunstsoziologische Untersuchung. SWS-Rundschau 44 (1): S. 65-86. Zembylas, Tasos. 2004b. Controversial Works of Art. Some Notes on Public Conflicts. Journal of Language and Politics 3 (3): S 385–407. Zembylas, Tasos. 2014. The Concept of Practice and the Sociology of the Arts. In: Artistic Practices. Social Interactions and Cultural Dynamics, hrsg. Tasos Zembylas, S. 7-16. London/New York/Routledge.

Nichtwissenschaftliche Internetquellen

Anm.: Nach Möglichkeit sortiert nach AutorInnen, ansonsten nach Medien/Plattformen. Nicht immer konnten zu den Quellen übrigens passende Jahreszahlen ermittelt werden. Ableton. 2015. Keith Fullerton Whitman: Durchs modulare Labyrinth. Online: https://www.ableton.com/de/blog/keith-fullerton-whitman/, zugegriffen am 30.12.2015. Antidote Podcast, The. 2015a. Episode #35. Online: https://theantidotepodcast.com/2015/03/12/episode-35-consumer-electronics-kreng-and-kevin-drumm/, zugegriffen am 12.12.2015. Antidote Podcast, The. 2015b. Episode #36. Online: https://theantidotepodcast.com/2015/04/08/episode-36-mike-shiflet-high-aurad-phirniskatarrhaktesand-oren-ambarchi/, zugegriffen am 12.12.2015. Ashton, Pete. 2015a. Sitting in Stagram (2015). Online: http://art.peteashton.com /art/i-am-sitting-in-stagram/, zugegriffen am 10.02.2016. Ashton, Pete. 2015b. Lucier Dissolves in 15 Minutues. Online: https://vimeo. com/124753864, abgerufen am 03.01.2016. Barnes, Mike. Invisible Jukebox: Current 93. The Wire. Online: http://www. thewire.co.uk/in-writing/interviews/invisible-jukebox_current-93, zugegriffen am 20.02.2016. Burns, Todd L. 2015. Dominick Fernow and William Bennett: A Conversation. Red Bull Music Academy. Online: http://daily.redbullmusicacademy.com/ 2015/05/dominick-fernow-and-william-bennett-a-conversation, zugegriffen am 10.02.2016. Calisi, Christopher und Justin Stout. 2015. Stop Noise from Ruining Your Open Office. Harvard Business Review. Online: https://hbr.org/2015/03/stop-noisefrom-ruining-your-open-office, zugegriffen am 12.12.2016.

266 | N OISE – K LANG

ZWISCHEN

M USIK

UND

L ÄRM

Campbell, Neil. 2015. Twitter. Online: https://twitter.com/astralsocialite/status/ 572410318149832704, zugegriffen am 10.02.2016. Cinchel. 2015. Twitter. Online: https://twitter.com/cinchel/status/6633719132013 24033, zugegriffen am 10.02.2016. Cummings, Raymond. 2011a. Overthinking Noise: Subleties, Extremes and Complexities. Splice Today. Online: http://splicetoday.com/baltimore/overthinking-noise-subleties-extremes-and-complexities, zugegriffen am 10.02.2016. Cummings, Raymond. 2011b. Let There Be Crumer. Splice Today. Online: http://www.splicetoday.com/baltimore/let-there-be-crumer, zugegriffen am 10.02.2016. Facts About Noise. Twitter. Online: https://twitter.com/FactsAboutNoise, zugegriffen am 10.02.2016. Harsh Noise Wally. 2015a. Harsh Noise Wally, 24.08.2015. Online: http://harsh noisewally.tumblr.com/post/127481688446, zugegriffen am 20.02.2016. Harsh Noise Wally. 2015b. Harsh Noise Wally, 02.09.2015. Quelle: http://harshnoisewally.tumblr.com/post/128198071806, zugegriffen am 09.02.2016. Harsh Noise Wally. 2016. Harsh Noise Wally, 18.01.2016. Online: http://harshnoisewally.tumblr.com/post/137572287816, zugegriffen am 12.02.2016. Kulturterrorismus. 13 Questions to Venta Protesix. Online: http://kulturterrorismus.de/interviews/13-questions-to-venta-protesix.html, zugegriffen am 14.12.2014. Mothers Against Noise. 2014. Twitter. Online: https://web.archive.org/web/2013 1204111146/https://twitter.com/MothersAgainst1, zugegriffen am 10.02.2016. Noiseguide. 2012. Thread: noise cliches? Online: http://forum.noiseguide.com/ viewtopic.php?t=11975, zugegriffen am 10.02.2016. Noiseguide. 2014. Thread: Constructive criticism wanted! Online: http://forum.noiseguide.com/viewtopic.php?p=188320&sid=26ab03aceef6f9fd52be2 4f4e12b29e5, zugegriffen am 10.02.2016. Oberösterreichische Umweltanwaltschaft. Messung und Bewertung von Lärmstörungen im Nachbarschaftsbereich. Online: http://www.ooe-umweltanwaltschaft.at/xbcr/SID-E52541FF-E1283A58/Grenzwerte.pdf, zugegriffen am 10.02.2016. Preira, Matt. 2013. Wolf Eyes’ John Olson Says Noise Music is Over: “Completely, 100 Percent“. Miami New Times. Online: http://www.miaminewtimes.com/music/wolf-eyes-john-olson-says-noise-music-is-over-completely-100-percent-6483837, zugegriffen am 10.02.2016.

N ICHTWISSENSCHAFTLICHE I NTERNETQUELLEN

| 267

Rate Your Music. Noise. Online: https://rateyourmusic.com/genre/Noise/, zugegriffen am 10.02.2016. Rego, Blanca. 2016. Twitter. Online: https://twitter.com/null66913/status/809423 502344388608, zugegriffen am 28.12.2016. Richardson, Mark. 2012. Review: William Basinski The Disintegration Loops. Pitchfork Media. Online: http://pitchfork.com/reviews/albums/17064-the-disintegration-loops/, zugegriffen am 27.11.2015. Sheppard Oliver. 2012. A Brief History of Noise, Part I. Souciant. Online: http://souciant.com/2012/07/a-brief-history-of-noise-part-i/, zugegriffen am 20.02.2016. Sun Kil Moon. 2016. Rainn Wilson interview with Mark Kozelek. Online: http://www.sunkilmoon.com/interview_rainnwilson_markkozelek.html, zugegriffen am 10.02.2016. Taylor, Phil. [1992]. Con-Dom. ESTWeb Index. Online: http://media.hyperreal.org/zines/est/intervs/con-dom.html, zugegriffen am 10.02.2016. Wikipedia (a). Fettecke. Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Fettecke, zugegriffen am 10.02.2016. Wikipedia (b). I Am Sitting in a Room. Online: https://en.wikipedia.org/wiki/I_ Am_Sitting_in_a_Room, zugegriffen am 10.02.2016. Wikipedia (c). Bitcrusher. Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Bitcrusher, zugegriffen am 02.11.2015. Williams, Russell. 2014. Live Report: Harsh Noise Wall Festival III. The Quietus. Online: http://thequietus.com/articles/15315-live-report-hnw-fest-iii, zugegriffen am 10.02.2016. Youtube. 2009. Sunn 0))) playing in a church! A Big Church! Online: https:// www.youtube.com/watch?v=7a0Z2yndlOs, zugegriffen am 10.02.2016. Youtube. 2014. Merzbow Boiler Room Tokyo Live Set. Online: https://www.youtube.com/watch?v=fR_8gpJCT4I, zugegriffen am 10.02.2016.

Medienquellen (Tonträger, nichtwissenschaftliche Bücher und Artikel)

Autechre. 1995. Tri Repetae. CD/LP, Warp Records. Ginkel, Kai. 2006a. Throbbing Gristle: Partout. Spex XXV: 25 Jahre Jubiläumsheft: S. 104-105. Ginkel, Kai. 2006b. Throbbing Gristle: The Beautiful People. Spex #296: S. 2021. Heavy Listening. 2012. WOW. LP, Heavy Listening. Hecker, Florian. 2013. Chimerizations. Buch, Primary Information. Ikeda, Ryoji. 2008. Test Pattern. CD, Raster Noton. Keenan, David. 2004. The Primer: Noise. The Wire #246: S. 36-43. Lucier, Alvin. 1993 [1970]. I Am Sitting in a Room. CD, Lovely Music. Merzbow. 1991. Music for Bondage Performance. CD, Extreme Records. Various Artists. 2012. A Documentary of Women in Experimental Music. Webrelease, Mascara. Online: https://mascara.bandcamp.com/album/a-documentaryof-women-in-experimental-music, zugegriffen am 02.02.2016. Various Artists. 2015. Swift Noise. A Tribute to 8 Seconds of Noise. Webrelease. Online: https://swiftnoise.bandcamp.com/releases, zugegriffen am 02.02.2016. Whitehouse. 1997 [1985]. Great White Death. Special Edition. CD, Susan Lawly.

Kurzzusammenfassung

Gegenüber dem Visuellen und der Sprache ist der Klang bislang eine vernachlässigte Kategorie der Sozialwissenschaften – obgleich das Auditive ein essenzieller Bestandteil sozialer Ordnungsbildungen ist. In meiner „klangsoziologischen“ Studie untersuche ich das Hören nicht naturalistisch als kognitiv-sensorischen Aufnahmevorgang, der rein individuell geleistet wird. Demgegenüber vertrete ich folgendes Verständnis: Hörerfahrung wird sozial hergestellt und rekurriert dabei auf praktisches Wissen. Im Zentrum steht demnach die Fragestellung: Was wird sozial geleistet, um eine Erfahrung von Klang als sinnvoll oder nicht sinnvoll, als musikalisch oder nicht musikalisch herzustellen? Meine Studie basiert auf der Methode der teilnehmenden Beobachtung sowie auf Grundannahmen der soziologischen Praxistheorien. Forschungsgegenstand ist „Noise“, eine Art der meist elektronischen Klang- und Musikproduktion. Alle Spielarten verbindet die starke Verzerrung, Verfremdung, das Rauschen. PraktikerInnen positionieren sich in Opposition zur „normalen“ Musik und treten ihr gegenüber gezielt provokativ auf. Im Noise ist es legitime Praxis, dass selbst ein durchgehendes Rauschen ohne Variation als Musikstück verhandelt werden kann. Dass die Frage „Musik oder störender Lärm?“ für KünstlerInnen, Fans und Zaungäste praktisch relevant ist, prädestiniert Noise somit als Fallstudie für die Erforschung musikalischer Sinnstiftung. Meine Studie entschlüsselt die Praxis jener Sinnstiftung im Zuge detailreicher Beschreibungen und Analysen in Hinblick auf Verkörperung, Räumlichkeit, Technizität, Wissen und Kompetenz sowie mit einem durchgehenden Fokus auf die Rolle sozialer Deutungskonflikte. Auf dieser Grundlage birgt die Studie Implikationen für die soziologische Auseinandersetzung mit Klang in einer allgemeinen Breite.

Soziologie Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3056-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5

Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart., 11,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3040-4 E-Book: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4

Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hg.) Diskursforschung Ein interdisziplinäres Handbuch (2 Bde.) 2014, 1264 S., kart., 2 Bde. im Schuber, zahlr. Abb. 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2722-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2722-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat 2014, 528 S., kart., 24,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-2835-7 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2835-1

Carlo Bordoni Interregnum Beyond Liquid Modernity März 2016, 136 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3515-7 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos (Hg.)

movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Jg. 2, Heft 1/2016: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 272 S., kart. 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3570-6 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich: www.movements-journal.org

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de