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German Pages 546 Year 2018
Sonja Dinter Die Macht der historischen Handlung
Histoire | Band 135
Sonja Dinter (Dr.), geb. 1983, legte ihren Weg zur promovierten Historikerin an den Universitäten Gießen, Bordeaux III und Kassel zurück. Im Anschluss an Forschung und Lehre mit Schwerpunkten in den Bereichen Kolonialgeschichte und Historik ist sie im Wissenschaftsmanagement tätig.
Sonja Dinter
Die Macht der historischen Handlung Sklaverei und Emanzipation in der britischen und französischen Erinnerungskultur seit Ende der 1990er Jahre
Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften, Datum der Disputation: 28.3.2017. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Inhalt
I DIE MACHT DER HISTORISCHEN HANDLUNG Einleitung | 9
Einführung in das Thema | 9 Forschungsstand und Forschungsperspektiven | 15 Erinnerung in der postkolonialen Nation | 31 Agency im Schnittpunkt der Untersuchungsebenen | 45
II KONFLIKTERINNERUNG UND ERINNERUNGSKONFLIKT Die umstrittene Geschichte | 63
Der historische Konflikt: Die koloniale Sklaverei | 63 Die nationalen Geschichten des historischen Konflikts | 77 Die umstrittene Erinnerung | 99
Rassismus und Integration als Herausforderung der politischen Kultur | 99 Sklaverei und Kolonialismus als Herausforderung der historischen Kultur | 113
III DIE NATIONALEN ERINNERUNGSDEBATTEN Entwicklung der Erinnerung in Großbritannien | 143
International Slavery Museum, Liverpool | 143 So sorr… owful. Die Debatte um Entschuldigung und Entschädigung | 162 Schuld und Sünde. Die Rolle der Anglikanischen Kirche | 176 Das Jubiläum 2007: Der 200. Jahrestag des Slave Trade Abolition Act | 186 (K)ein »Wilberfest«? Das Jubiläum zwischen Feier und Gedenken | 186 Eklat beim Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey | 198 New Labour – neue Geschichte? | 203 Hintergrund: Die postkoloniale Nation im »Krieg gegen den Terror« | 211 Die Verstetigung der Erinnerung: Gedenktag(e) und Denkmal(e) | 238
Entwicklung der Erinnerung in Frankreich | 253
Das Jubiläum 1998: Der 150. Jahrestag des Emanzipationsdekrets | 253 Das Gesetz vom 21. Mai 2001 (Loi Taubira) | 265 Das Jahr 2005: Erinnerungskulturelle Unruhen | 275 Hintergrund: Die postkoloniale Nation im »Krieg der Erinnerungen« | 275 »L’affaire Dieudonné« | 296 »Napoleons Verbrechen« | 306 Der »Fall Pétré-Grenouilleau« | 313 Die Debatte um die Erinnerungsgesetze | 321 Der nationale Gedenktag (10. Mai) | 329 Mémorial de l’abolition de l’esclavage, Nantes | 352
IV VERGLEICHENDE INTERPRETATION Umstrittene historische Handlungen | 367
Die Geschichte der Erinnerung | 367 Der Konflikt um historische Handlungsmacht | 389 Die Aushandlung der Erinnerung | 418 Perspektiven der Erinnerung | 449 Fazit | 477
V QUELLEN UND LITERATUR Quellen | 501 Literatur | 515
I Die Macht der historischen Handlung
Einleitung
EINFÜHRUNG IN DAS THEMA Die Rolle der Geschichte als »Lehrmeisterin« mag heute mit größerer Skepsis betrachtet werden als noch zu Zeiten Ciceros; die ihr zugeschriebene Bedeutung für das Verständnis und die Gestaltung der Gegenwart ist deswegen nicht weniger aktuell. Im Gegenteil, gerade in jüngster Zeit sind historische Deutungskämpfe zu einem prägenden Element öffentlicher Debatten geworden. Dabei ist »Geschichte« ihrerseits das Produkt eines Gestaltungsprozesses, der aus der unbestimmten Masse vergangener Geschehnisse eine zusammenhängende Erzählung macht. Sie ist – mit Carlo Levi zugeschriebenen Worten gesprochen – das Muster, das man hinterher in das Chaos webt. Im Zuge dieses Prozesses wird die Vergangenheit stets auch zur Vor-Geschichte der gegenwärtigen Verhältnisse und zur Grundlage für die Ableitung von Zukunftsentwürfen. Damit wird Geschichte potentiell geschichtsmächtig: Als Stifterin von Orientierung und Legitimation kann sie menschliches Handeln und gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen. Eine Debatte um die Geschichte ist also nicht mit einer Debatte um die Vergangenheit zu verwechseln. Die Abhängigkeit von aktuellen Positionen macht sich insbesondere dann bemerkbar, wenn die Vergegenwärtigung des Vergangenen in einem politischen Rahmen erfolgt, der klare Botschaften für ein breites Publikum erfordert. Dabei bedeutet die Ordnung der Geschichte stets auch Unter- und Überordnung – von Aspekten der Vergangenheit, aber auch Perspektiven auf die Gegenwart. Widerspruch und Widersprüchlichkeit müssen begrenzt werden; die Geschichte kann nicht alle möglichen Wahrheiten aufnehmen. Denn die kollektiv gepflegte historische Erinnerung soll zum einen den Zusammenhalt unterschiedlicher sozialer und kultureller Gruppen in einem größeren Gemeinwesen befördern. »Darum neigt die Gesellschaft dazu, aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die einzelnen voneinander trennen könnte«, schrieb bereits Maurice Halbwachs, »und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen.«1 Zum anderen sollen politische Deutungsund Handlungsansätze durch das Beispiel der Geschichte legitimiert werden. Die Partizipation an einer gemeinsamen historischen Vorstellungswelt soll erwünschte Einstellungen und Handlungsideale vermitteln und damit kontrollierend und harmonisierend auf das gesellschaftliche Beziehungsgefüge zurückwirken. 1
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 [1925], S. 382.
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Ein besonders erfolgreiches Projekt war und ist die Geschichte, die in die Vergangenheit der Menschheit ein Muster hineingewoben hat, das von unterschiedlichen Nationen geprägt ist. Für das Projekt Nationsbildung ist die historische Einigung konstitutiv – die meisten Nationalstaaten hatten eine lange Geschichte, bevor sie auf eine lange Vergangenheit zurückschauen konnten. Der Aufstieg nationalstaatlicher Prinzipien ging Hand in Hand mit dem Bedeutungsgewinn von Geschichtsschreibung und der Akademisierung der entsprechenden Autorität. Die Verbreitung historischer Narrative, in denen besiedelte Gebiete zu Nationen zusammengefasst werden, deren Angehörige sich in gewisser Hinsicht als Gleiche verstehen, hängt mit der politisch nützlichen Ambition zusammen, soziale und kulturelle Verwerfungen in einem staatlich verfassten Raum symbolisch zu glätten. Besonders wirksam produziert und reproduziert sich die Einheit gegen die Kontrastfolie des »Anderen« und gegen das Negativbild von Feinden, die das »Eigene« bedrohen. Die nationale Geschichte ist somit eine exklusive Angelegenheit: Sie wirkt abgrenzend nach »außen« und homogenisierend nach »innen«; Ziel der Exklusion ist die Inklusion. Dies betrifft nicht nur die Bindung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger2 an »ihre« Nation. In den Konstruktionsprozess einzubinden sind auch die in der Gesellschaft aktuell aktiven Paradigmen des deutenden Wissens. Damit die Geschichte relevant bleibt, muss diese Verbindung kontinuierlich erneuert werden. In der Folge treten bisweilen neue Themen in den Fokus des öffentlichen Interesses, die ihrerseits eine Integrationsleistung erfordern. Denn der öffentliche Raum ist weder historisch, noch erinnerungskulturell oder politisch ein Vakuum, sondern auf sich überlagernden Zeitebenen spezifisch, und dabei oft nationalspezifisch, vorstrukturiert. In diesem Rahmen müssen narrative Verknüpfungen geschaffen werden, um die Verständlichkeit der Geschichte – die an dieser Stelle nicht mit historischem Verständnis verwechselt werden sollte – zu gewährleisten. Soziale und geschichtspolitische Integrationsprozesse bedingen sich also gegenseitig. Das Publikum öffentlicher Vergangenheitsdarstellungen hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, auch und gerade in Frankreich und Großbritannien. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen die Bevölkerungsbewegungen nach Westeuropa neue Richtungen und Formen an, die als postkolonial bezeichnet werden können: In beide Länder kamen in bislang nicht gekannter Zahl Menschen aus Weltregionen, die oft über einen langen Zeitraum hinweg der europäischen Kolonialmacht untergeordnet waren. Unter dem Einfluss der kolonialen Kontrolle war die Bewegung von Gütern, Ideen und Personen einem asymmetrischen und relativ eindimensionalen Muster unterworfen; im Zentrum stand die fremdbestimmte Produktion für einen eurozentrischen Konsumentenmarkt. Im Fall der vorwiegend karibischen Plantagenkolonien, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Basis von Sklavenarbeit bewirtschaftet wurden, hatte dieses Verhältnis die Beziehungen zwischen nationaler »Metro-
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Die vorliegende Arbeit verwendet eine nach bestem Wissen und Gewissen geschlechtersensible Sprache. Dies ist gerade in historischen Kontexten ein herausfordendes Unterfangen. In einigen Fällen wird daher ausschließlich die männliche Form verwendet – mit Blick auf das 18. Jahrhundert von Politikerinnen und Sklavenhändlerinnen zu schreiben, würde einen verzerrenden Eindruck von den zeitgenössischen Geschlechterverhältnissen hervorrufen. Dass Ausnahmen sprachlich ausgeklammert bleiben, wird zugunsten der Sichtbarkeit politisch-sozialstruktureller Regeln in Kauf genommen.
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pole« und kolonialer »Peripherie« über drei Jahrhunderte lang geprägt. Die betreffenden Überseegebiete Frankreichs erhielten 1946 den Status von Departements, während ehemalige britische Sklavenkolonien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ihre nationale Unabhängigkeit ausbauten. Die lange Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus überragt und überlagert diesen Sachverhalt jedoch. Mit einem Höhepunkt in den 1990er Jahren verzeichneten beide Länder zudem eine signifikante Zuwanderung aus südlich der Sahara gelegenen Staaten Afrikas. Die nationalen Bevölkerungen umfassen inzwischen folglich einen substantiellen Anteil von Menschen mit einer mehr oder weniger fern liegenden afrikanischen Abstammung. Die dauerhafte Niederlassung der postkolonialen Migrantinnen und Migranten hat eine irreversible demographische Veränderung mit sich gebracht, deren Konsequenzen erst in jüngerer Zeit zunehmend erfasst und verarbeitet werden. Die Heterogenität im Hinblick auf Herkunft, Lebensstil und Staatsbürgerschaft macht ein verallgemeinerndes Sprechen über diese Gruppe – oder überhaupt das Sprechen über eine »Gruppe« – schwierig. Die Suche nach geteilten Merkmalen sieht sich an einem bestimmten Punkt auf eine ebenso banale wie folgenreiche Gemeinsamkeit zurückgeworfen: das angeborene physische Erscheinungsbild. Dieses weicht in einigen Aspekten und namentlich der Hautfarbe von dem Phänotyp ab, der vor dem Hintergrund ältere demographischer Entwicklungen als charakteristisch für eine in Westeuropa »einheimische« Bevölkerung betrachtet wird. Durch vielfältige Akkulturationsprozesse und die zunehmende Zahl ethnisch diverser Familiengründungen ist diese scheinbar klare Grenze hoch instabil geworden. Als eher unflexibel hat sich bis in jüngste Zeit allerdings die Geschichte erwiesen, die im Zeitalter von Nationalismus und Kolonialismus aus der Verschränkung von Politik, Kultur und Ethnizität hervorgegangen war: Das Gesicht, dem der Blick in den Spiegel der französischen bzw. britischen Geschichte begegnet, ist »weiß«. Auch in anderen Hinsichten bleibt der Status von »visible minorities« in der Nation fragil bis prekär: Ihr Anteil an der politischen Repräsentation des Landes entspricht bei weitem nicht ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, dies gilt für alle Ebenen der demokratischen Selbstverwaltung. Obwohl ein Wandel allmählich erkennbar wird, geben die Medienlandschaft und wirtschaftliche Führungsetagen kein gänzlich anderes Bild ab. Die Erfolgsaussichten im sozialen Wettbewerb um symbolische und materielle Ressourcen sind für Angehörige des Bevölkerungsteils, der aus der postkolonialen Migration hervorgegangenen ist, unterdurchschnittlich. Dies betrifft schulische Erfolgsquoten und Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ebenso wie die Einkommens- und Wohnverhältnisse. Das Zusammenspiel von sozialen, ethnischen, kulturellen, generationellen und geschlechtsgebundenen Faktoren ist komplex, und von entsprechenden Ausgrenzungstendenzen ist keineswegs nur diese Gruppe betroffen, die zudem zahlreiche Angehörige der Mittel- und auch Oberschichten stellt. Festzuhalten ist allerdings, dass die sozialen Aufstiegschancen von Menschen, die sich durch eine sichtbar afrikanische Abstammung von der Bevölkerungsmehrheit in Großbritannien und Frankreich unterscheiden, im kollektiven Durchschnitt signifikant schlechter sind als die ihrer Landsleute. Rassistische Vorurteile haben an dieser Marginalisierung einen wesentlichen Anteil, der im Verhältnis zu anderen Faktoren freilich schwer präzise zu bemessen ist. Hinzu kommen persönliche Diskriminierungserfahrungen, auch im Kontakt mit öffentlichen Diensten und insbesondere der Polizei, die im Alltag prinzipiell jede als »schwarz« gelesene Person ohne Rücksicht auf Besitz, Bildung oder
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andere soziale Statusmerkmale betreffen können. Gleiches gilt für gewaltsame rassistische Übergriffe. Die Problematik ist nicht neu, sie kann jedoch auch nach mehreren politischen Mobilisierungswellen nicht als überwunden betrachtet werden. Dies erzeugte unter dem Vorzeichen nachlassender Bindungen an die Herkunftsregionen durch die Ablösung der Migrationsgeneration eine nationale Frustration, die im Zuge der 1990er Jahre anwuchs. Soziale Spannungen und urbane Unruhen, die beide Länder wiederholt erschüttert haben, trugen unter den gegebenen Umständen unweigerlich auch einen ethnischen Zug. Von Diskriminierung betroffen sind in diesem Fall Menschen, bei denen es sich um die Trägerinnen und Träger der Erinnerung an eine für das jeweilige Land spezifische (post-)koloniale Geschichte handelt. Rassismus war für diese Geschichte ein wesentliches Element, so dass sich Vergangenheit und Gegenwartserfahrung trotz klarer kontextueller Unterschiede überschneiden. Vor diesem Hintergrund hat die Geschichte der Sklaverei in Großbritannien und Frankreich im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte öffentliche Relevanz gewonnen. Eine Vielzahl erinnerungskultureller und geschichtspolitischer Initiativen wandte sich diesem Teil der Vergangenheit zu. Die Anstöße gingen dabei nicht nur von Politikerinnen und Experten, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern, Kunst- und Medienschaffenden aus, die sich als Individuen oder in organisierten Kollektiven auf diesem Feld engagierten. Ihren deutlichsten Ausdruck hat die Entwicklung in der Einrichtung von offiziellen Gedenktagen, von Museumsausstellungen und Denkmälern, in jährlichen Ritualen und groß inszenierten Jubiläen gefunden. Begleitet wurde sie von teils erbitterten Deutungskontroversen und einer entsprechend umfassenden Berichterstattung. Dies steht in einem markanten Kontrast zum bisherigen Umgang mit dem Thema Sklaverei, das für das historische Selbstverständnis beider Länder über lange Zeit eine allenfalls marginale Rolle spielte. Die Wende begann sich im Laufe der 1990er Jahre abzuzeichnen. Besonders im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende prallten in diesem Zusammenhang dann sehr unterschiedliche und häufig politisch aufgeladene Perspektiven aufeinander. In Frankreich regte 1998 zunächst das regierende Linksbündnis unter Premierminister Lionel Jospin eine nationale Gedenkfeier zum 150. Jubiläum der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien an. Es war das erste Mal, dass der Jahrestag die Aufmerksamkeit von Politik und Medien in diesem Maße auf sich zog. Schon zu diesem Zeitpunkt machte sich aber ein vergleichsweise gut organisierter Protest gegen die Stoßrichtung des offiziellen Gedenkens bemerkbar, der sich nicht die Feier der Emanzipation, sondern die Erinnerung an das Leid der Versklavten auf Banner und Transparente schrieb. Indem es den Rahmen für die erste offene Konfrontation der unterschiedlichen Geschichtsbilder lieferte, wirkte das Jubiläum nolens volens als Impulsgeber für die weitere Entwicklung. Von herausragender Bedeutung ist hierbei ein Gesetz aus dem Jahr 2001, mit dem die französische Nationalversammlung den transatlantischen Sklavenhandel und die Sklaverei in den kolonisierten Überseegebieten zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte (Loi Taubira). Die juristische Qualifikation ist potentiell bedeutsam für die umstrittene Frage materieller Reparationen. Das Hauptanliegen des einstimmig beschlossenen Gesetzes war jedoch ein anderes: Neben der demonstrativen Verurteilung der Sklaverei enthält der Text eine Reihe von Bestimmungen, die darauf abzielen, das Thema in der französischen Erinnerungskultur zu verankern. Exakt fünf Jahre nach der Verabschiedung, am 10. Mai 2006,
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wurde in Frankreich zum ersten Mal ein nationaler Gedenktag begangen, mit dem seither jährlich an die Geschichte des Sklavenhandels und der Sklaverei, zugleich aber auch an deren Abschaffung erinnert wird. Die Einrichtung des Datums ist eng mit der Arbeit eines die Regierung beratenden Expertenkomitees verknüpft, einem Vorgänger des bis heute aktiven Comité national pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage. Entscheidend war jedoch die Unterstützung durch den konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac, der sich persönlich für die Einführung des regelmäßigen Gedenktages eingesetzt hatte. Seine Ansprache bildete den Höhepunkt der ersten Zeremonie, die zu diesem Anlass im Jardin du Luxembourg abgehalten wurde. Auch in den folgenden Jahren war es in den meisten Fällen der Präsident selbst, der die zentrale Gedenkfeier in Paris leitete. Chiracs Parteikollege und Nachfolger Nicolas Sarkozy schloss sich der neu etablierten Tradition ebenso an wie François Hollande als Mitglied des ab 2012 regierenden Parti Socialiste (PS). Im Jahr 2007 umfasste das Ritual die Einweihung eines Nationaldenkmals im Jardin du Luxembourg, das vier Jahre später um eine großflächige Gedenktafel mit Inschrift ergänzt wurde. Ein explizit der Sklaverei oder der Kolonialgeschichte gewidmetes Museum gibt es in Frankreich dagegen nach wie vor nicht, auch wenn die Einrichtung einer solchen Institution seit Jahren diskutiert wird. Allerdings wurden mehrere Ausstellungen in den städtischen Museen ehemaliger Sklavenhandelshäfen erweitert und überarbeitet. Insbesondere die Stadt Nantes, die mit Abstand am stärksten in das französische Geschäft mit versklavten Menschen aus Afrika involviert war, hat diesen Teil ihrer Geschichte inzwischen zu einem integralen Bestandteil ihrer historischen Selbstdarstellung gemacht. Im Frühjahr 2012 wurde hier mit dem Mémorial de l’abolition de l’esclavage ein millionenschwerer begehbarer Gedenkort eingeweiht. Noch deutlich größer dimensioniert ist der im Juli 2015 offiziell eröffnete Mémorial ACTe in Point-à-Pitre (Guadeloupe). Die Einrichtung versteht sich als »Centre caribéen d’expressions et de mémoire de la Traite et de l’Esclavage«3 und liegt daher von der hier interessierenden Frage nach national orientierten Erinnerungsentwürfen im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne weiter entfernt. Erwähnt werden muss das regionale Zentrum dennoch: Seine spektakuläre Architektur, fast zweieinhalbtausend Quadratmeter Ausstellungsfläche, Recherche- und Veranstaltungsräume sowie ein Landschaftspark machen es zu einem der bislang ambitioniertesten Projekte zur Erinnerung an die Geschichte der Sklaverei. Der schrittweisen französischen Entwicklung steht in Großbritannien ein Prozess gegenüber, aus dem das Jahr 2007 als deutlicher Höhepunkt herausragt. In diesem Jahr feierte das Land den 200. Jahrestag des Gesetzes, das britischen Staatsbürgern den Transatlantikhandel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven verbot – wohlgemerkt drei Jahrzehnte vor der Abschaffung der Sklaverei in den Plantagenkolonien. Eingeläutet wurde das von der Labour-Regierung großzügig geförderte Gedenkjahr von einem vorab veröffentlichten Zeitungsartikel des Premierministers. In ihm drückte Tony Blair sein Gefühl des Bedauerns und der Betrübnis aus, das der Rückblick auf den Sklavenhandel als einem bedauernswerten Kapitel der britischen und europäischen Geschichte in ihm auslöse. Das Bicentenary selbst zeichnete sich durch eine Vielzahl von Veranstaltungen aus, die Woge der Erinnerung erfasste nicht nur London, sondern
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Vgl. Mémorial ACTe, www.http://memorial-acte.fr.
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auch viele Klein- und Mittelstädte. Nationale Höhepunkte waren ein Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey, an dem mehrere Kabinettsmitglieder, der Premierminister und die Königin teilnahmen, sowie die Eröffnung des International Slavery Museum (ISM) in Liverpool, das den Status eines britischen Nationalmuseums hat. Landesweit wurden zudem mehrere Ausstellungen überholt oder neu eingerichtet. Großen Erfolg hatte beispielsweise die Sonderausstellung »Breaking the chains« im regierungsunabhängigen British Empire and Commonwealth Museum (BECM) in Bristol. Zuvor hatte die Frage nach der Präsentation von Sklaverei bereits im Zentrum der Kontroversen um den Aufbau des Kolonialmuseums gestanden, das 2009 nach nur siebenjährigem Bestehen wieder geschlossen wurde. Seit 2008 verfügt auch die britische Hauptstadt London über ein Denkmal, das an den Sklavenhandel und seine Abschaffung erinnert, allerdings handelt es sich anders als in Frankreich nicht um ein Nationaldenkmal. In beiden Untersuchungsländern spielten die Kommunen eine Vorreiterrolle, deren Geschichte besonders eng mit dem transatlantischen Sklavenhandel verknüpft ist. Vor allem Liverpool, Bristol und London auf der einen, Nantes und Bordeaux auf der anderen Seite begannen sich diesem Teil ihrer Vergangenheit zu stellen. Aber auch im nordenglischen Lancaster wurde bereits 2005 ein Monument errichtet, das von überwiegend privatem, bürgerlichem Engagement getragen wurde. Weder im städtischen noch im nationalen Rahmen verlief der Prozess reibungslos. Neben den großen Diskussionsanlässen standen ungezählte kleinere Streits, in denen es beispielsweise um Straßennamen oder die öffentliche Verwendung bestimmter Bilder und Begriffe ging, die mit dem kolonialen Rassismus in Verbindung gebracht wurden. Dabei kam in der französischen Republik ebenso wie im Vereinigten Königreich ein gezielter geschichtspolitischer Aktivismus zum Tragen, der sich der Beeinflussung der offiziellen Gedenkkultur verschrieben hatte. Die Regierungen und im weiteren Sinne die politischen Eliten wurden aber gleichzeitig selbst aktiv. Denn der Umgang mit der kolonialen Geschichte wird inzwischen als eine zentrale Herausforderung für Gesellschaften erkannt, die als »multiethnisch« oder »multikulturell« bezeichnet werden und sich durch Prozesse der kreativen Annäherung ebenso auszeichnen wie durch teils aggressiv hierarchisierende Abgrenzungen zwischen Bevölkerungsgruppen. »Such a society requires an active engagement with the past, as people within it need to understand the historical forces that have brought them together. [...] The essentialist myths of stable and homogenous historical nationhood that may have been instrumental in shaping earlier phases of national development need to be recognized, but must also be transcended and arguably discarded.«4
Die Auflösung von in der Zeit des Kalten Krieges vordergründigen Deutungsdichotomien hat ihrerseits dazu beigetragen, dass soziale Ungleichheit, Partizipation und Integration verstärkt über konfligierende Visionen der Vergangenheit und deren Folgen
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Smith, Laurajane/Cubitt, Geoffrey/Wilson, Ross: »Introduction. Anxiety and Ambiguity in the Representation of Dissonant History«, in: Laurajane Smith u.a. (Hg.), Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon: Routledge 2011, S. 1-17, hier S. 3.
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verhandelt werden. Die Frage nach der Harmonisierung des nationalen Erinnerungsraumes stellt sich im postkolonialen Kontext daher auf historisch neue Weise.
FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Im Zeitalter globaler Vernetzungen und Konflikte kann die europäische Kolonialvergangenheit nicht als Randerscheinung der Geschichte abgetan werden. Zudem brachten die postkolonialen Migrantinnen und Migranten ihre persönlichen Bindungen, Ansichten und Erinnerungen aus den ehemals kolonisierten Gebieten mit in die früheren Kolonialmetropolen. Auch und gerade in erinnerungskultureller und geschichtspolitischer Hinsicht müssen Frankreich und Großbritannien somit als postkoloniale Nationen verstanden werden. In Anbetracht der geographischen und epochalen Tragweite des transatlantischen Sklavenhandels als Fundamentalstück kolonialer Geschichte stellt sich die Konstellation auf der einen Seite sehr spezifisch dar. Auf der anderen Seite ist die Untersuchung dieses Falls potentiell aufschlussreich im Hinblick auf eine zentrale Herausforderung der erinnerungskulturellen Entwicklung insgesamt: Die Ansiedlung von Menschen unterschiedlicher Herkunft hat in vielen Staaten Europas dazu geführt, dass sich Distanzen und Grenzen zwischen »hier« und »dort«, »uns« und »ihnen«, »außen« und »innen« aufgelöst haben bzw. räumlich und symbolisch völlig neu arrangiert werden müssen. Aus dem fortschreitenden Wandel der Rahmenbedingungen folgen neuartige Problemstellungen und mithin auch neue Herausforderungen für die Erforschung von kollektivem Gedächtnis, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik; das inzwischen fest etablierte Feld der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung bleibt also in Bewegung.5 Für die Entwicklung des Forschungsansatzes war es zunächst notwendig, die intellektuelle Auseinandersetzung mit Erinnerung und Gedächtnis von ihrer Begrenzung auf philosophische und individualpsychologische Zusammenhänge zu befreien. Dieser Schritt gilt als die entscheidende Leistung von Maurice Halbwachs, dem »Gründungsvater der sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung«6, der vor mittlerweile fast 100 Jahren seine Theorie von der gesellschaftlichen Rahmung der Erinnerung formulierte.7 In dieser Tradition steht folglich auch die vorliegende Studie. Diese will vor allem dazu beitragen, das Augenmerk für die Geschichte und die Historizität der Erinnerung zu schärfen. Die Intention erfordert eine konsequente Einbettung von geschichtspolitischen Handlungen und Perspektiven in ihre auf verschiedenen Zeitebenen vorgeprägten Bedingungen. Die zu diesem Zweck vorgenommene Quellenauswer-
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Einen knappen Überblick und ersten Zugriff vermitteln u.a. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2., akt. u. erw. Aufl., Stuttgart: J.B. Metzler 2011; Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2008; Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck Verlag 2006. Moller, Sabine: »Erinnerung und Gedächtnis (Version 1.0)«, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, 12.4.2010, http://dx.doi. org/10.14765/zzf.dok.2.323.v1. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire (1925).
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tung steckt zugleich die aussichtsreichen Ziele und die inhaltlichen Grenzen der geschichtswissenschaftlichen Arbeit ab. Auch wenn das Material im Regelfall nicht älter als 30 Jahre ist, folgte die kritische Interpretation im Wesentlichen den in der Disziplin üblichen Vorgehensweisen. Dies heißt mitunter auch, dass Themenaspekte, die ein soziologisches oder kulturwissenschaftliches Instrumentarium voraussetzen, nicht im Vordergrund stehen.8 Von individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis als auf dem Wege der Quellenrecherche schwer fassbaren Phänomenen wird im Folgenden wenig die Rede sein. Vorwiegend Anwendung finden werden die Begriffe Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Während Geschichtspolitik besonders im Hinblick auf den handelnden Personenkreis und die ihr zugrunde liegenden (Infra-)Strukturen ein relativ klar begrenztes Feld darstellt, werden unter Erinnerungskultur die im weiteren sozialen Umfeld wirkenden Vergangenheitsvorstellungen verstanden. Beide Bereiche überschneiden sich nicht nur, sie sind vor allem wechselseitig aufeinander bezogen und einer gemeinsamen, wenn auch häufig konfliktuell verlaufenden Entwicklung unterworfen. Interessant ist also vor allem die politische Dynamik, die diese Entwicklung antreibt. Aus diesem Grund spielen die häufig verwendeten psychologischen Termini ebenfalls keine entscheidende Rolle. Der Versuch, geschichtspolitische Konflikte als Ausdruck eines kollektiven »Traumas« zu analysieren, ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht problembehaftet. »Von einem […] rein metaphorischen Gebrauch des Begriffes, dessen analytische Kraft doch sehr begrenzt erscheint, lässt sich die gleichfalls verbreitete, sich an Freud anlehnende Ausdeutung absetzen, der zufolge der traumatische Wiederholungszwang nur durch Erinnerungsarbeit aufzulösen ist. Problematisch ist hier die – letztlich ja ebenfalls metaphorische – Übertragung
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Die Personenprofile geschichtspolitischer Vereinigungen etwa wären ein Forschungsfeld, dessen Erschließung mit den Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung spannende Ergebnisse zutage fördern dürfte, vgl. die Annäherung an französische Geschichtsverbände von Lopez, Yoann: Les questions noires en France. Revendications collectives contre perceptions individuelles (Diss., Univ. Bordeaux 2, 2010), http://www. theses.fr/2010BOR21732/document. Zur Ikonographie, aber auch zur filmischen, musikalischen und literarischen Verarbeitung von Sklaverei wurde eine Reihe von Studien bereits vorgelegt. Dies gilt insbesondere für den englischen Sprachraum, vgl. Korte, Barbara/Pirker, Eva Ulrike: Black History – White History. Britain’s Historical Programme between Windrush and Wilberforce, Bielefeld: Transcript Verlag 2011; Wood, Marcus: The Horrible Gift of Freedom. Atlantic Slavery and the Representation of Emancipation, Athens, GA: University of Georgia Press 2010; Kowaleski Wallace, Elizabeth: The British Slave Trade and Public Memory, New York, NY: Columbia University Press 2006; Rice, Alan: Radical Narratives of the Black Atlantic, London: Bloomsbury 2003; Wood, Marcus: Blind Memory. Visual Representations of Slavery in England and America 1780-1865, Manchester: Manchester University Press 2000; Gilroy, Paul: The Black Atlantic. Modernity and DoubleConsciousness, Nachdr., London: Verso 1999 [1993].
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von der Individual- auf die Sozialpsychologie, wie sie zuletzt noch einmal Paul Ricœur vorgenommen hat.«9
In diesem Zusammenhang wird das Erinnern selbst zum wesentlichen Schritt für die Auflösung eines Traumas. Die eigentliche Spezifik der geschichtspolitischen Dynamik wird folglich nur oberflächlich berührt, da der konkrete Konflikt zwischen Interessen, Akteuren und Darstellungsweisen des Geschehenen nicht zwingend in den Blick genommen wird. »Used loosely, such notions naturalise processes and leave exploration of what might actually be going on untouched.«10 Ein über lange Zeit maßgeblicher Impuls für die neuere historische Forschung ging von der Publikation des mehrbändigen Werkes zu den französischen »Erinnerungsorten« aus, das in den 1980er Jahren unter der Leitung von Pierre Nora entstanden ist.11 Als »lieux de mémoire« wurden in diesem Kontext bestimmte Orientierungspunkte in der Struktur der kollektiven Geschichtserinnerung begriffen, seien es Daten, prozesshafte Ereignisse, Personen, Objekte, Ideen oder tatsächliche Orte. Verbindende Gemeinsamkeit ist eine herausragende Rolle im Hinblick auf das in Frankreich vorherrschende historische Selbstverständnis. »Dabei ist das nationale Gedächtnis keine endgültige Errungenschaft, sondern [...] ein immer neu aufzubereitendes und zu bearbeitendes Kräftefeld«, bestimmte der Herausgeber den Grundgedanken des Monumentalwerks.12 »By focusing on themes instead of narrative patterns Nora created a conceptual apparatus that makes it possible to appreciate the fragmented – rather than continuous and uniform – character of collective memory.«13 Die Anerkennung des dynamischen Konstruktionscharakters von historischer Erinnerung traf den Nerv eines aktuellen geschichtskulturellen Wandels, der nicht nur von Nora konstatiert wurde, und das ursprünglich ganz und gar französische Konzept der Erinnerungsorte sollte sich als äußerst befruchtend für die internationale Forschungslandschaft erweisen. In eine ähnliche Richtung wies etwa zeitgleich die viel zitierte und inzwischen auch politisch ein-
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Lenger, Friedrich: »Erinnerung im Zeichen der Nation«, in: Günter Österle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 521-535, hier S. 531. Macdonald, Sharon: Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today, London: Routledge 2013, S. 11. Nora, Pierre u.a. (Hg.), Les lieux de mémoires, 7 Bde., Paris: Gallimard 1984-1992. Nora, Pierre: »Das Zeitalter des Gedenkens«, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, mit einem Vorwort von E. François, München: C.H. Beck Verlag 2005, S. 543-575, hier S. 574. Vgl. auch Rothberg, Michael: »Between Memory and Memory. From Lieux de mémoire to Nœuds de mémoire«, in: Yale French Studies 118/119 (2010): Nœuds de mémoire. Multidirectional Memory in Postwar French and Francophone Culture, S. 3-12. Geppert, Dominik/Müller, Frank Lorenz: »Beyond National Memory. Nora’s Lieux de Mémoire across an Imperial World«, in: Dies. (Hg.), Sites of Imperial Memory. Commemorating Colonial Rule in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Manchester: Manchester University Press 2015, S. 1-30, hier S. 7. Vgl. auch Assmann, Aleida: How History Takes Place, in: Indra Sengupta (Hg.), Memory, History and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts, London: German Historical Institute London 2009, S. 151-165.
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flussreiche Arbeit von Benedict Anderson. Dieser hat Nationen als »imaginierte Gemeinschaften« beschrieben und die Infrastruktur der Imagination in einem imperial und kapitalistisch geprägten Rahmen empirisch untersucht.14 In seiner Sicht sind Nationen weniger Produkte ihrer Geschichte als vielmehr von Vorstellungen von dieser Geschichte, die in der Bevölkerung geteilt werden und ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Anderson bereitete den Weg für eine akademische Forschung, die sich mit der Frage befasste »how creating shared memories might be part of creating social entities (e.g. the nation), rather than the other way round.«15 Pierre Nora setzte die »Erinnerung« in Anlehnung an Halbwachs in einen scharfen Kontrast zur »Geschichte«. Dieser ergibt sich für ihn vor allem aus der Beziehung eines Kollektivs zur vergegenwärtigten Vergangenheit. Das Verhältnis kann von einer organisch anmutenden Verbindung (»milieu«) oder aber von einer Entfremdung geprägt sein, die, so eine zentrale These, eine bewusste öffentliche Ritualisierung der historischen Erinnerung erst erfordere. »According to Nora, this opposition between memory and history went unremarked as long as history was predominantly national history; that is as long as the communities carrying memory and history coincided in ›the nation‹.«16 Eine solche Konstellation gerät nicht zuletzt durch die Zuwanderung von Erinnerungsträgern/-innen in Bewegung. Kritisiert wurde Pierre Nora für seine frappierende Vernachlässigung der Kolonialgeschichte als einer wichtigen Quelle historischer Erinnerung.17 In der Tat spiegelt sich in den »lieux de mémoire« eine exklusive Geschichte, welche die französische Nation nicht nur territorial eng begrenzt. Französinnen und Franzosen, deren historische Herkunft sich ohne Bezugnahme auf die asymmetrische Geschichte des Kolonialismus nicht bestimmen lässt, bleiben im Erinnerungsort »Nation« à la Nora weitgehend marginalisiert. In aktualisierter Form bleiben die »Erinnerungsorte« aber selbst in der Debatte um die koloniale Vergangenheit und ihre Erinnerung eine wichtige Referenz18, was als besonders eindrückliches 14 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. 15 S. Macdonald: Memorylands, S. 14. 16 Berger, Stefan/Lorenz Chris: »National History Writing in Europe in a Global Age«, in: Dies. (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 1-23 hier S. 14 f. 17 Vgl. Bancel, Nicolas/Blanchard, Pascal/Lemaire, Sandrine: »Introduction. La fracture coloniale: Une crise française«, in: Dies. (Hg.), La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris: La Découverte 2005, S. 9-30, hier S. 14 f. Die Bände der insgesamt über 4.700 Seiten umfassenden »Erinnerungsorte« enthalten mit dem Text von Charles-Robert Ageron zur Kolonialausstellung in Paris 1931 nur einen Aufsatz, der sich indirekt der kolonialen Geschichte Frankreichs zuwendet. 18 Vgl. Sengupta, Indra (Hg.): Memory, History and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts, London: German Historical Institute London 2009. »The central question […] is whether the concept of lieux de mémoire, developed by Pierre Nora to explore French national identity in the 1980s, can be employed in the very different terrain of imperial history. The answer is a resounding yes, though the term itself must be revised to fit the contours of colonial und postcolonial societies, which were and remain transnational in character.« – So die Position von Winter, Jay: »In Conclusion. Palimpsests«, in: Indra Sengupta (Hg.), Memory, History and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in
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Indiz für die Wirkmächtigkeit der vom »Erfolgskonzept« Erinnerungsorte aufgeworfenen Perspektiven gewertet werden kann.19 Bezeichnend ist allerdings auch, dass die 2015 in einem Band unter deutscher Herausgeberschaft aufgenommene Suche nach genuin imperialen Erinnerungsorten sich schwer tut, die »imperial sites of memory« in identifizierbaren »memory communities« zu verorten.20 In erster Linie erfolgte die Aneignung des Konzepts von Nora und seinen Mitstreitenden aber durch die Übertragung auf andere nationale Kontexte. Seit der Erstveröffentlichung haben die »Erinnerungsorte« Adaptionen in zahlreichen anderen Ländern erfahren.21 Die Analyse von historischer Erinnerung und Geschichtspolitik erfolgt generell häufig anhand von nationalen Fallbeispielen, gerade wenn sie von Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftlern betrieben wird, deren Disziplin aus der Kernfusion von nation building und Historiographie hervorgegangen ist. Eine entscheidende Erweiterung bei einer letztlich geringfügigen Modifikation der Grundidee erfuhr die Auseinandersetzung mit der Frage nach transnationalen Erinnerungsorten. Der Versuch, die nationalstaatliche Rahmung als solche zu überwinden, erfolgte nicht zuletzt im Zuge der Suche nach einer europäisch ausgerichteten Erinnerung.22
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Colonial and Postcolonial Contexts, London: German Historical Institute London 2009, S. 167-172, hier S. 167. Zur Rezeption der »Erinnerungsorte« vgl. Berger, Stefan/Seiffert, Joana (Hg.): Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, Essen: Klartext Verlag 2014; François, Etienne: »Erinnerungsorte zwischen Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Eine Forschungsinnovation und ihre Folgen«, in: Harald Schmid (Hg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen: V&R unipress 2009, S. 23-36; Majerus, Benoît u.a. (Hg.): Dépasser le cadre national des »Lieux de mémoire«. Innovations méthodologiques, approches comparatives, lectures transnationales / Nationale Erinnerungsorte hinterfragt. Methodologische Innovationen, vergleichende Annäherungen, transnationale Lektüren, Brüssel: Peter Lang Verlag 2009. Vgl. Geppert, Dominik/Müller, Frank Lorenz (Hg.): Sites of Imperial Memory. Commemorating Colonial Rule in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Manchester: Manchester University Press 2015. Gegenstand akademischer Studien wurden inzwischen u.a. Erinnerungsorte der Schweiz, der Türkei, Italiens, Österreichs, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande. Besonderen Erfolg hatte das Konzept aber in Deutschland, hier existieren Abhandlungen über die Bundesrepublik, ihre Bundesländer, über einzelne Regionen und Grenzregionen (deutsch-französische Erinnerungsorte, deutsch-polnische Erinnerungsorte), zur Kolonialerinnerung (deutsch-afrikanische Erinnerungsorte) sowie zur DDR. Dass das Konzept oft materiell-räumlicher ausgelegt wird, als es von Nora ursprünglich gedacht war, ist nicht zuletzt der Übersetzung geschuldet – die Übertragung ins Englische, »realms of memory« / »sites of memory«, erscheint in dieser Hinsicht angemessener. Untersucht wurden dennoch auch deutsche Erinnerungsorte im Nora’schen Sinne wie die »Völkerschlacht« oder »Bismarck«. Zudem nimmt die Shoah in dieser wie in anderen erinnerungskulturellen Teildiskussionen einen zentralen Platz ein. Vgl. zusammenfassend z.B. das Themenheft des Journal of Contemporary European Studies 23/3 (2015): Transnational Memory Politics in Europe. Interdisciplinary Approaches, hg. von Aline Sierp und Jenny Wüstenberg; Sierp, Aline: History, Memory, and Trans-European
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Die Einwände richteten sich mithin auch gegen die gängigen nationalistisch orientierten Formen der Geschichtskulturen selbst. Der Ansatz ist freilich ebenso wenig politisch neutral; vielmehr scheint an dieser Stelle oft die Intention auf, bestehendes Konfliktpotential zwischen Nationalstaaten im Allgemeinen abzubauen und das europäische Einigungsprojekt im Besonderen geschichtspolitisch zu stützen. Das normative, aber auch in der akademischen Diskussion anerkannte Ziel, den Zusammenhalt der Europäischen Union (EU) jenseits des Binnenmarktes zu stärken, macht die historische Erinnerung als kulturelle und politische Ressource interessant. Denn die Mitglieder der Union als Produkt einer nicht zuletzt von nationalistischen Konfrontationen durchzogenen Geschichte tun sich bislang schwer, in einer »société-mémoire« im Nora’schen Sinne zueinanderzufinden; vielmehr stellt sich die auszuhandelnde Erinnerung für Kommentatoren wie Claus Leggewie selbst als ein »Schlachtfeld« dar.23 Die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Wesentlichen als »Osterweiterung« vorangeschrittene Integration ist in dieser Hinsicht von zwei zentralen Entwicklungssträngen geprägt: Zum einen konnte nun die Shoah zu einer internationalen »Ikone« der Erinnerung aufsteigen.24. Zum anderen hat sich die Erinnerung an die osteuropäische Diktaturerfahrung und insbesondere die stalinistischen Staatsverbrechen im Gedächtnis eines mehr oder weniger geeinten Europas etabliert und versucht seitdem, ihre spezifische Relevanz neben dem Holocaust zu behaupten. Dieser gilt inzwischen als »negativer Gründungsmythos« nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs. »The prevention of another Holocaust became a civilizational foundation of a new official European memory«.25 Die von der nationalistischen Fortschrittsteleologie hinterlassene Lücke füllt nun also in erster Linie die Wachsamkeit in Bezug auf Tendenzen, in denen sich eine Wiederholung des die Erinnerung der Menschheitsgeschichte überschattenden »Zivilisationsbruchs« (D. Diner) andeuten könnte. Der europäische Kolonialismus hat in diesem Kontext bislang eine theoretisch anerkannte, faktisch aber äußerst prekäre Stellung inne. Dies gilt a fortiori für die trans-
Identity. Unifying Divisions, New York, NY: Routledge 2014; Lagrou, Pieter: »Europa als Ort gemeinsamer Erinnerungen. Opferstatus, Identität und Emanzipation von der Vergangenheit«, in: Etienne François u.a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 298-308; Macdonald, Sharon: Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today, Abingdon/New York, NY: Routledge 2013; Pakier, Malgorzata (Hg.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York, NY: Berghahn Books 2010; den Boer, Pim: Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München: De Gruyter 2011-2012; Rousso, Henry: »Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses«, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1/3 (2004). 23 Leggewie, Claus/Lang, Anne: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: C.H. Beck Verlag 2011. 24 Vgl. Assmann, Aleida: »The Holocaust – A Global Memory? Extentions and Limits of a New Memory Community«, in: Dies./Sebastian Conrad (Hg.), Memory in a Global. Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 92-117. 25 Levy, Daniel/Sznaider, Natan: »Memory Unbound. The Holocaust and the Formation of Cosmopolitan Memory«, in: European Journal of Social Theory 5/1 (2002), S. 87-106, hier S. 101.
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atlantische Geschichte des Sklavenhandels. Zur Überbrückung des Ost-West-Konflikts in der Erinnerung hat die koloniale Vergangenheit ebenso wenig beizutragen wie zur Einigung eines Europas der Nationen und ihrer Geschichte(n). So zählen etwa Małgorzata Pakier und Bo Stråth »four European ›dark pasts‹: the Second World War, the Holocaust, communism and colonialism«26, ein Blick auf die Gliederung ihres Bandes verdeutlicht jedoch, dass die Integration der Kolonialerinnerung eher als Herausforderung denn als Beschreibung des Status Quo zu begreifen ist.27 Der Blick auf die vier genannten Kernthemen wirft das Problem der räumlichen Verortung auf: Die Geschichte des Kolonialismus ist nicht nur a priori transnational. In ihrem physisch greifbaren Sinn spielte sie sich überwiegend außerhalb Europas ab, sie lässt sich sinnvoll weder als europäische noch als außereuropäische Geschichte fassen. Dies gilt in besonderem Maße für die mehrere Weltregionen verbindende Geschichte des Sklavenhandels. Auch für Leggewie gehört der Kolonialismus zu den »konzentrischen Kreisen« der europäischen Erinnerung, mit denen er das Konfliktfeld auffächert; die Konturen möglicher kolonialer Erinnerungsorte treten jedoch kaum hervor. Symptomatisch erscheint dagegen zweierlei: Zum einen steht die Verbindung Belgien – Kongo und damit eine vergleichsweise junge (post-)koloniale Beziehung im Mittelpunkt, zum anderen betrachtet der Autor die Konfrontation mit diesem Teil der Vergangenheit vor allem als notwendige Voraussetzung einer europäischen Außenpolitik. Andere Aspekte werden dem weniger klar postkolonial gerahmten Komplex der »Migration« zugeordnet. Die weiter zurückliegende Geschichte der kolonialen Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels findet in diesem Rahmen also keinen rechten Platz. Fest etabliert ist das Thema dagegen in einer internationalen Forschungsdebatte, in deren Zentrum jene Staaten stehen, die aus der Besiedlung außereuropäischer Territorien im Zuge einer britisch dominierten Imperialexpansion hervorgegangen sind.28 Dabei liegt ge-
26 Pakier, Małgorzata/Stråth, Bo: »A European Memory?«, in: Dies. (Hg.), A European Memory? Contested Histories and the Politics of Remembrance, New York, NY: Berghahn Books 2010, S. 1-20, hier S. 14. 27 Der entsprechende Teil des Bandes besteht aus lediglich zwei Aufsätzen. Einer wählt mit dem Thema Algerienkrieg einen relativ begrenzten Fokus, der andere befasst sich mit Finnisch sprechenden Minderheiten in Lappland. 28 Vgl. z.B. Berg, Manfred/Schaefer, Bernd (Hg.): Historical Justice in International Perspective. How Societies Are Trying to Right the Wrongs of the Past, Washington, DC: Publications of the German Historical Institute 2009; Bashir, Bashir/Kymlicka Will (Hg.): The Politics of Reconciliation in Multicultural Societies, Oxford: Oxford University Press 2008; Gibney, Mark u.a. (Hg.): The Age of Apology. Facing Up to the Past, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2008; Torpey, John C.: Making Whole What Has Been Smashed. On Reparations Politics, Cambridge, MA: Harvard University Press 2006; Ders. (Hg.): Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2003; Barkan, Elazar/Karn, Alexander: Taking Wrongs Seriously. Apologies and Reconciliation, Stanford, CA: Stanford University Press 2006; Barkan, Elazar: Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices, New York, NY: W.W. Norton & Company 2000; Brooks, Roy L.: When Sorry Isn’t Enough. The Controversy Over Apologies and Reparations for Human Injustice, New York, NY: New York University Press 1999.
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rade die Bestimmung des spezifischen Verhältnisses von Kolonialismus und Holocaust, von Nation und Rassismus in Europa seit Hannah Arendt wie ein großes Fragezeichen über der Debatte um eine zunehmend globale Erinnerung. Neue Impulse setzten in jüngerer Zeit unter anderem Dan Diner und Charles S. Maier. Diner plädierte für eine historische Lesart der Shoah im Kontext des Zweiten Weltkriegs und wandte sich dabei auch dem Problem der transkulturellen Verallgemeinerung ihrer Erinnerung als Chiffre universeller Bedeutung zu.29 Maier stellte dagegen mehrere miteinander verknüpfte Thesen zur Spezifik der Kolonialerinnerung auf, indem er diese in ein kontrastierendes Verhältnis zur Erinnerung an Holocaust sowie das System Gulag setzte. Erstere ordnet er – anders als Arendt – einem Erzählstrang des 20. Jahrhunderts zu, den er vom Kolonialismus als zweitem großen Narrativ unterscheidet. Im Rahmen eines post-territorialen Denkansatzes, vor dem Hintergrund eines »collapse of spatiality«, weist Maier auf die Besonderheit des imperialen Erzählstrangs hin, »which focuses […] on the continuing discrepancy of life chances and rewards. The global segmentation of the world economy finds itself replicated in the spatial segmentation and ethnically based class structure of the modern metropolis.«30 Etwa zeitgleich präsentierten Daniel Levy und Natan Sznaider ihre Ideen zur »kosmopolitischen« Erinnerung im globalen Zeitalter. In mehreren Arbeiten gaben sie oft kritisch kommentierten Entwicklungstendenzen der Holocaust-Erinnerung eine positive Wende. Losgelöst vom eigentlichen historischen Ereignis trage die hochmediatisierte »Shoah« zur Verbreitung einer radikal universellen Moral bei, welche die Grenzen von geographischen Räumen und sozialkulturellen Kollektiven gleichermaßen zu transzendieren vermöge. Diese büßen damit nicht zwangsläufig ihre Bedeutung ein, der Prozess vollzieht sich vielmehr als eine innere moralische Entgrenzung des von der Tragweite der Erinnerung ergriffenen, empathischen Individuums. So entstehe die Basis für eine kosmopolitische Solidarität, die im Stande sei, die gesamte Menschheit als solche einzubeziehen. »In a newly European ›cosmopolitan‹ memory, the Holocaust future (and not the past) is now considered in absolutely universal terms: it can happen to anyone, at anytime, and everyone is responsible«, schrieben die beiden Soziologen unter dem Eindruck des Kosovokonflikts.31 Das Transformationspotential der Erinnerung liegt dabei in ihrer Eigenschaft, als universal gültiger Maßstab zu fungieren: »It has emerged precisely because of its status as an unquestioned moral value on which all people can supposedly agree.«32 Mehr noch: »Die Dichotomie zwischen hilflosen Opfern, die grausamen Tätern gegenüberstehen, bietet moralischen Halt und Gewißheit, vielleicht die letzte Gewißheit in der neuen ungewissen Welt der Zweiten Moderne.«33 Auch Charles Maier akzeptiert den »context of universal agreement that
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Die Frage der materiellen und symbolischen Entschädigung nimmt hier einen zentralen Platz ein. Diner, Dan: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Maier, Charles S.: »Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era«, in: The American Historical Review 105/3 (2000), S. 807-831, hier S. 828. D. Levy/N. Sznaider: Memory Unbound, S. 101. Ebd., S. 97. Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 234.
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the events at their origin were a non plus ultra of brutality and evil.«34 Er bleibt aber skeptisch: »As a narrative of annihilation, the Holocaust is hard to apply to political challenges that seem to fall short of its horror.«35 Für den amerikanischen Historiker sind die Shoah und der Gulag als Erinnerungsorte mit einem »moralischen« Narrativ verknüpft, dessen Kraft, über das 20. Jahrhundert hinauszuwirken, sich erschöpfe; das imperiale Narrativ sei dagegen im Kern ein »strukturelles« und an der Wende zum dritten Jahrtausend von andauernder, tatsächlich zunehmender Aktualität. »[T]he non-celebrants have insisted on the continuing relevance of economic inequality, labor migration and exploitation, the power of Western capital, and the division of hegemonic and subaltern classes.«36 Bei dem Versuch, die Konsequenzen aus seinen Überlegungen zu ziehen, deutet Maier zwei Perspektiven an: Zum einen müsste ein Aktivismus, der die globalen Verhältnisse herausfordern wolle, künftig von einer post-territorialen Basis ausgehen oder zumindest unterschiedliche Ebenen der Territorialität in neuartiger Weise verknüpfen. Zum anderen hinterfragt er das Misstrauen gegenüber transformativen Politikansätzen, das sich aus dem dystopischen Narrativ von Holocaust und Gulag heraus begründet und das die moralische Bildung des Individuums, wie sie von den Verfechterinnen und Verfechtern dieser Erinnerung in den Mittelpunkt gerückt wird, in der Tat eminent wichtig macht. »They have drawn the lesson from ideological murder that all political projects are suspect and that modernity is best entrusted to the market or to institutions of civil society with a minimum state intervention the conclusion drawn by those who give priority to the imperialist or neocolonial narrative is precisely the opposite.«37
Hiermit öffnet Maier seine Gleichung für das ideologisch scheinbar amorphe Phänomen des Neoliberalismus / Neokonservatismus als Merkmal des beginnenden 21. Jahrhunderts. Und der Kreis zur Transformation des Nationalstaats schließt sich: »Stateinterventionist economic policies have been widely called into question, as expensive, counterproductive, and indeed no longer viable. This, more than any other single factor, has raised speculation about the long-term future of the nation-state form as the central focus of decision-making in the modern world«, schreiben Brian Jenkins und Sofos A. Spyros.38 Charles Maier gehört auch zu den Kritikern einer auf Opferidentitäten zentrierten Erinnerung, die er für den Ausdruck einer historisch-politischen Melancholie hält. Sie trage die Tendenz, zentrale Herausforderungen der Gegenwart mit letztlich sterilen Konflikten zu überdecken.39 Die Diagnose einer »Krise der Zukunft«, die sich in einem
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C.S. Maier: Consigning the Twentieth Century to History, S. 829. Ebd. Ebd. Ebd., S. 830. Jenkins, Brian/Spyros, Sofos A.: »Nation and Nationalism in Contemporary Europe. A Theoretical Perspective«, in: Dies. (Hg.), Nation and Identity in Contemporary Europe, London/New York, NY: Routledge 1996, S. 9-32, hier S. 27. 39 Maier, Charles S.: »A Surfeit of Memory? Reflections on History, Melancholy and Denial«, in: History and Memory 5/2 (1993), S. 136-152.
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Überborden der Gegenwart mit historischen Erinnerungen manifestiere, ist in der akademischen und intellektuellen Debatte verbreitet. Dies gilt in besonderem Maße für Frankreich, wo entsprechende Argumente an das Denken von so einflussreichen Autoren wie Paul Ricœur und François Hartog anknüpfen können und mit einer spezifischen Furcht vor »Erinnerungskriegen« und »Opferkonkurrenzen« als Gefahr für die Unteilbarkeit der Republik verbunden sind. So schreibt etwa Benjamin Stora: »Ce processus mémoriel mondialisé est à mettre en relation avec la crise des idéologies transnationales ou internationalistes. Le trop-plein mémoriel qui s’amplifie apparaît alors comme un symptôme: confronté à une panne de projet politique, on se tourne vers le passé de son propre groupe. Le voyage perpétuel vers un passé personnel signale une crise du futur.«40 Gleichzeitig erkennt er ein mögliches positives Transformationspotential: »Cependant, ces interpellations mémorielles font aussi avancer la cause de la justice, des droits de l’homme en reconnaissant les torts des États dans des crimes ou des exactions commis par ceux-ci«. 41 Die intellektuelle Reflexion der Entwicklung scheint also bislang in ihrem Urteil unabgeschlossen zu sein. Den Rahmen und das Metanarrativ für diese Debatten liefert die »Globalisierung« im weiteren Sinn, »a process of general dissemination (of merchandise, technologies, news, political influence, religious ideas) across political and cultural boundaries and of the ensuing integration of various, previously isolated zones into one system of interconnections and interdependencies.«42 Dies betrifft heute nicht zuletzt die Rolle des Nationalstaats und folglich auch die historische Erinnerung. »Space« als auszuhandelnder Beziehungsraum und »place« als physische Gegebenheit43, Erinnerungsort und der Ort, an dem erinnert wird, treten in ein komplexes Verhältnis zueinander. »[T]he globalization process has put a question mark over the nation state as the natural container of memory debates.«44 Die Antwort auf die Frage scheint bislang jedoch alles andere als ausgemacht; vielmehr zeichnen sich uneinheitliche und bisweilen widersprüchliche Tendenzen ab.
40 Stora, Benjamin: »Préface. La France et ›ses‹ guerres de mémoires«, in: Pascal Blanchard/ Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 7-13, hier S. 12. Einflussreich auch Todorov, Tzvetan: Les abus de la mémoire, Paris: Arléa 1995. Auf Deutsch sehr kritisch u.a. P. Lagrou: Europa als Ort gemeinsamer Erinnerung. Geprägt wurde der Begriff der »Opferkonkurrenz« durch Jean-Michel Chaumont, der 1997 einen Band zu den Anerkennungsforderungen von unerschiedlichen Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgung veröffentlicht hat, vgl. Chaumont, Jean-Michel: La concurrence des victimes. Génocide, identité, reconnaissance, Paris: Éditions La Découverte 1997. 41 B. Stora: Préface, S. 12. 42 Assmann, Jan: »Globalization, Universalism, and the Erosion of Cultural Memory«, in: Aleida Assmann/Sebastian Conrad (Hg.), Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 121-137, hier S. 121. 43 Vgl. A. Assmann: How History Takes Place, S. 154. 44 Assmann, Aleida/Conrad, Sebastian: »Introduction (Memory in a Global Age)«, in: Dies. (Hg.), Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 1-15, hier S. 6.
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»Contrary to what was predicted by many postmodernists and cosmopolitanists, the combined action of globalization, infra-national regionalization, and increasingly diversified immigration has not brought the end of nations, national imaginaries and identities. Far from that, a comeback can be observed in various parts of the world, including in Europe«.45
In der geschichtswissenschaftlichen Diskussion mag das Ende der historischen Meistererzählungen bereits in Aussicht gestellt worden sein46; der realen Leidenschaft im Kampf um das, was aus dieser Sicht als erinnerungskultureller Leichnam erscheint, tut dies bislang keinen Abbruch. Dies setzt auch der Forschung gewisse Grenzen, die oft weniger progressiv und postnational ist als ihr eigener Anspruch. »Vielmehr stehen die dort gesammelten Erinnerungen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch im Zeichen der Nation.«47 Auch vergleichende Untersuchungen haben bislang noch einen relativen Seltenheitswert. »So intensiv die Forschungsbemühungen zur deutschen Geschichtspolitik sowie zu einigen anderen nationalen Fällen in Europa auch sind, so unverkennbar defizitär ist die transnational vergleichende Beschäftigung mit Geschichtspolitik. […] Zwar gibt es zahlreiche Sammelbände und Themenhefte, die auf einen europaweiten Vergleich zielen, diesen indes primär durch die Gegenüberstellung nationaler Fälle leisten.«48
Dies dürfte auch mit der Komplexität eines solchen Unterfangens zusammenhängen: Gemeinsam analysiert werden müssen nicht nur die historische und die politische Dimension, sondern auch der größere erinnerungskulturelle Rahmen von möglicherweise auf allen drei Ebenen sehr unterschiedlich aufgestellten und kommunikativ kaum miteinander verbundenen Fallbeispielen. Die koloniale Sklaverei als ein klar umgrenztes Themenfeld, das neuerdings in mehreren Ländern eine starke geschichtspolitische Bewegung erzeugt hat, bietet sich für einen geschichtswissenschaftlichen Beitrag zur Erfüllung des Forschungsdesiderats an. Dabei macht die Betrachtung von zwei Diskussionsräumen die zu erwartende Erkenntnis nicht nur reicher, sondern durch die so gegebene Möglichkeit des Abgleichs auch schärfer. Erstens ist der Vergleich dazu geeignet, »eine kritische Distanz zu Sinnstiftungsprozessen aufrecht zu erhalten«49, die im untersuchten Zusammenhang virulent sind, und diese sowohl als solche als auch in ihrer Eigenart zu beschreiben. Zweitens wird über das Mittel ein Kontrast geschaffen, der spezifische Muster und Strukturen erst deutlich hervortreten lässt. Vor allem das 45 Bouchard, Gérard: »National Myths. An Overview«, in: Ders. (Hg.), National Myths. Constructed Pasts, Contested Presents, Abingdon/New York, NY: Routledge 2013, S. 276-297, hier S. 282. 46 Vgl. z.B. Jarausch, Konrad H.: »Die Krise der nationalen Meistererzählungen. Ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative«, in: Ders./Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 140-162. 47 F. Lenger: Erinnerung im Zeichen der Nation, S. 535. 48 Troebst, Stefan: »Geschichtspolitik (Version 1.0)«, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, 4.8.2014, http://dx.doi.org/10. 14765/zzf.dok.2.590.v1. 49 F. Lenger: Erinnerung im Zeichen der Nation, S. 537.
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komplexe Verhältnis zwischen vergangenem Geschehen, Historiographie, Erinnerung und Politik lässt sich auf diese Weise sehr viel klarer herausarbeiten. Schließlich wird der Zusammenhang von Nation und Geschichte in seiner erklärungsbedürftigen Spezifik erst dann erkennbar, wenn der Horizont nicht auf eine Nationalgeschichte beschränkt bleibt. Der Arbeit kommt hierbei zugute, dass sie an eine Reihe bereits vorgelegter Studien anknüpfen kann und sich die Aufarbeitung einiger spezieller, aber bedeutsamer Felder nicht zusätzlich aufbürden muss. Dies gilt in erster Linie für museologische Fragen nach der Gestaltung von Ausstellungspraxis; diese sind mit einem deutlichen britischen Übergewicht, das nicht allein auf den Aufbau des ISM zurückzuführen ist, bereits umfassend erforscht.50 Mit einem vorwiegend kultur- und medienwissenschaft-
50 Dies betrifft die Repräsentation von Sklaverei sowie in einem weiteren Sinne (post-) kolonialer Geschichte im Museum und gilt in theoretischer und empirischer ebenso wie in museumspraktischer Hinsicht. Die Beiträge bilden ein breites Spektrum ab, sie widmen sich der Rolle von Artefakten, Bildern, Emotionen oder Konsultationsprozessen. Im Hintergrund steht dabei auch die Kulturpolitik von New Labour, die den Museen im Rahmen des Gedenkjahres 2007 eine tragende Rolle zuwies, die von diesen mit großem Engagement wahrgenommen wurde. Stellvertretend für zahlreiche Einzelbeiträge sei hier auch auf einige Sammelpublikationen verwiesen: Frith, Nicola/Hodgson, Kate (Hg.): At the Limits of Memory. Legacies of Slavery in the Francophone World, Liverpool: Liverpool University Press 2014; Guillet, Bertrand: »Entre refoulement et reconnaissance, occultation et exposition, comment s’est constituée, durant le XXe siècle, la collection sur la traite des Noirs au musée de Nantes«, in: In Situ (online) 20 (2013), https://doi.org/10.4000/insitu.10137; Hourcade, Renaud: »Un musée d’histoire face à la question raciale. L’International Slavery Museum de Liverpool«, in: Genèses 92/3 (2013), S. 6-27; Araujo, Ana Lucia (Hg.): Politics of Memory. Making Slavery Visible in the Public Space, New York/Abingdon: Routledge 2012; Carvill, Jennifer A.: Uncomfortable Truths. British Museums and the Legacies of Slavery in the Bicentenary Year, 2007 (2010), Federation of International Human Rights Museums, http://www.fihrm.org/resources.html; Hamilton, Douglas: »Remembering Slavery in British Museums. The Challenge of 2007«, in: Cora Kaplan/John Oldfield (Hg.), Imagining Transatlantic Slavery, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 127-144; Rice, Alan: Creating Memorials, Building Identities. The Politics of Memory in the Black Atlantic, Liverpool: Liverpool University Press 2010; Thomas, Dominic (Hg.): Museums in Postcolonial Europe, London/New York, NY: Routledge 2010; Wood, Marcus: The Horrible Gift of Freedom. Atlantic Slavery and the Representation of Emancipation, Athens, GA: University of Georgia Press 2010; Smith, Laurajane u.a. (Hg.): Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon: Routledge 2011; Slavery & Abolition 30/2 (2009): Special Issue Remembering Slave Trade Abolitions. Reflections on 2007 in International Perspective; Tibbles, Anthony: »Facing Slavery’s Past: The Bicentenary of the Abolition of the British Slave Trade«, in: Slavery & Abolition 29/2 (2008), S. 293-303; History Workshop Journal 64/1 (2007): Remembering 1807. Histories of the Slave Trade, Slavery and Abolition; Tibbles, Anthony: »Against Human Dignity. The Development of the Transatlantic Slavery Gallery at Merseyside Maritime Museum«, in: Adrian Jarvis/Roger Knight/Michael Stammers (Hg.), Proceedings. IXth International Con-
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lichen Ansatz und einem Schwerpunkt im Bereich Rundfunk und audiovisuelle Medien haben Barbara Korte und Eva Ulrike Pirker das 200-jährige Jubiläum des Slave Trade Abolition Act gemeinsam mit dem Windrush-Gedenken einer aufschlussreichen und methodisch versierten Analyse unterzogen.51 Mit Blick auf den britischen Fall besonders hervorzuheben sind zudem die Veröffentlichungen von Alan Rice, Marcus Wood und Elizabeth Kowaleski Wallace (Anglistik/Amerikanistik), denen die vorliegende Arbeit gleichfalls viele wertvolle Anregungen verdankt.52 Besonders in Frankreich wurde eine Fülle von Einzelbeiträgen publiziert, die vor allem unmittelbar aktuelle Kontroversen ohne größeren Zeitabstand kritisch und oft engagiert kommentieren. Zu den lokalen Erinnerungsdynamiken in Liverpool und Bristol, Nantes und Bordeaux als ehemals führenden Sklavenhandelshäfen haben vor allem Éric Saugera, Emanuelle Chérel und Madge Dresser sowie – international vergleichend – die Anthropologin Christine Chivallon und der Politikwissenschaftler Renaud Hourcade wichtige Arbeiten publiziert.53 gress of Maritime Museums, Liverpool 1996, http://www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/resources/against_human_dignity.aspx. Rezensionen und Sammelrezensionen zu einschlägigen Ausstellungen: Gore, Rachael: »The International Slavery Museum, National Museums Liverpool, Review«, in: Journal of Museum Ethnography 22 (2009): Museum Ethnography at Home, S. 170-176; Kowaleski Wallace, Elizabeth: »Uncomfortable Commemorations«, in: History Workshop Journal 68/2 (2009), S. 223-233; Bernier, Celeste-Marie: »›Transatlantic Slavery: Against Human Dignity‹, ›A RespectableTrade? Bristol and Transatlantic Slavery‹; ›Pero and Pinney Exhibit‹«, in: Journal of American History 88/3 (2001), S. 10061012. Ausstellungsbände: Tibbles, Anthony (Hg.): Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press 22005 [1994]; Blyth, Robert J./Hamilton, Douglas (Hg.): Representing Slavery. Art, Artefacts and Archives in the Collections of the National Maritime Museum, Aldershot: Lund Humphries 2007; Farrell, Stephen/Unwin, Melanie/Walvin, James (Hg.): The British Slave Trade. Abolition, Parliament and People, Edinburgh: Edinburgh University Press 2007. Vgl. außerdem die Analysen und Ergebnisse des Forschungsprojekts »1807 Commemorated« des Institute for the Public Understanding of the Past, Universität York, http://www.history.ac.uk/1807commemorated/exhibitions, inkl. statistischen Erhebungen und Interviews mit Museumsbesucherinnen und Museumsbesuchern. 51 B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History; zu Museen vgl. hier S. 135 ff. 52 Kowaleski Wallace, Elizabeth: »Uncomfortable Commemorations«, in: History Workshop Journal 68/2 (2009), S. 223-233; Dies.: The British Slave Trade and Public Memory, New York, NY: Columbia University Press 2006; Rice, Alan: Creating Memorials, Building Identities. The Politics of Memory in the Black Atlantic, Liverpool: Liverpool University Press 2010; Ders.: Radical Narratives of the Black Atlantic, London: Bloomsbury 2003; Wood, Marcus: Blind Memory. Visual Representations of Slavery in England and America 17801865, Manchester: Routledge 2000; Ders.: »Significant Silence. Where was Slave Agency in the Popular Imagery of 2007?«, in: Cora Kaplan/John Oldfield (Hg.), Imagining Transatlantic Slavery, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 162-190. Ders.: The Horrible Gift of Freedom. Atlantic Slavery and the Re-Presentation of Emancipation, Athens, GA: University of Georgia Press 2010. 53 Zur Erinnerung im lokalen Kontext vgl. u.a. Donington, Katie/Hanley, Ryan/Moody, Jessica (Hg.): Britain’s History and Memory of Transatlantic Slavery. Local Nuances of a ›National
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Letztere beziehen das Zusammenwirken von nationalen und lokalen Horizonten im Hinblick auf spezifische Fragestellungen punktuell mit ein. Im Vordergrund stehen dabei die Auswirkungen der unterschiedlichen »Integrationsmodelle« für die direkten lokalen Aushandlungsprozesse. In seinem Kurzüberblick kommt Hourcade zu dem Schluss, dass die Entwicklung auf nationaler Ebene in beiden Ländern »des voies plutôt convergentes«54 genommen habe, namentlich einen Mittelweg des Gedenkens zwischen der Anerkennung einer ethnisch markierten und einer unitären, nationalistisch gefärbten Erinnerung. En passant wirft er dabei die offene Frage nach der Auswirkung der jeweiligen historischen Hintergründe auf.55 Die Hauptstädte bleiben aufgrund ihrer Verschmelzung mit Orten der nationalen Erinnerung aus seiner Untersuchung ausgeschlossen. Der von Chivallon vor über 15 Jahren konstatierte und auf die unterschiedlichen sozialpolitischen Zugangsweisen zurückgeführte Abstand zwischen dem gedenkpolitischen Engagement in Bristol auf der einen, in Bordeaux auf der anderen Seite hat sich inzwischen verringert; das Beispiel Nantes zeigt noch deutlicher, dass die Feststellung eines französischen Rückstands weder chronologisch noch geographisch ohne Weiteres übertragbar ist. Chivallon hat zudem eine enorm reichhaltige und umfangreiche Studie zur Erinnerung an die Sklaverei in der französischen Karibik vorgelegt. Die Sklaverei, so ihre These, sei dort niemals »vergessen«, sondern in unterschiedlichen Gedächtnisregistern stets äußerst präsent gewesen, deren Inhalte sich jedoch über einen langen Zeitraum hinweg nicht zu einem öffentlich kommunizierten
Sin‹, Liverpool: Liverpool University Press 2016; Hourcade, Renaud: Les ports négriers face à leur histoire. Politiques de la mémoire à Nantes, Bordeaux et Liverpool, Paris: Dalloz 2014; Ders.: »Commemorating a Guilty Past. The Politics of Memory in the French Former Slave Trade Cities«, in: Ana Lucia Araujo (Hg.), Politics of Memory. Making Slavery Visible in the Public Space, New York/Abingdon: Routledge 2012, S. 124-140; Chérel, Emmanuelle: Le Mémorial de l’abolition de l’esclavage de Nantes. Enjeux et controverses 1998-2012, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2012; Chivallon, Christine: »L’usage politique de la mémoire de l’esclavage dans les anciens ports négriers de Bordeaux et Bristol«, in: Patrick Weil/Stéphane Dufoix (Hg.), L’esclavage, la colonisation, et après... France, États-Unis, Grande-Bretagne, Paris: Presses Universitaires de France 2005, S. 559-584; Dies.: »Bristol et la mémoire de l’eclavage. Changer et confirmer le regard sur la ville«, in: Les Annales de la recherche urbaine 85/1 (1999), S. 100-110; Saugera, Éric: Bordeaux, port négrier. Chronologie, économie, idéologie XVIIe-XIXe siècles, durchges. u. erw. Neuaufl., Paris: Karthala 2002 [1995]; Ders.: »Question(s) de mémoire. Le souvenir négrier à Nantes et Bordeaux«, in: Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique 89 (2002), S. 61-68; Saunier, Eric: »Le Havre, port négrier. De la défense de l’esclavage à l’oubli«, in: Cahiers des Anneaux de la Mémoire 11 (2007), S. 23-41; Dresser, Madge: Slavery Obscured. The Social History of the Slave Trade in an English Provincial Port, London/New York: Bloomsbury 2001; Dies.: »Remembering Slavery and Abolition in Bristol«, in: Slavery and Abolition 30/2 (2009), S. 223-246. Zum Sklavenhandel in Nantes vgl. auch die Zeitschrift Cahiers des Anneaux de la mémoire 1999- fortlaufend. 54 R. Hourcade: Ports négriers, S. 105. 55 Ebd., S. 77 ff.
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»métarecit« mit historisch narrativer Struktur zusammenfanden.56 Für den interessierenden Zusammenhang hat die stark von lokalen Dynamiken geprägte Entwicklung in den überseeischen Teilen der französischen Republik keine eigenständige Relevanz; ausschlaggebend ist ihr Einfluss auf die geschichtspolitischen Aushandlungs- und Integrationsprozesse, die vor allem in und um Paris unter den hier gegebenen, völlig verschiedenen Ausgangsbedingungen stattfanden. Gerade die These von Christine Chivallon unterstützt jedoch den Ansatz der vorliegenden Studie, die historische Erinnerung als einen Prozess der Narrationsbildung begreift. Die konkrete Wirkmächtigkeit von Geschichtspolitik sollte weder pauschal übernoch unterschätzt werden. »Il s’agit davantage d’une réponse sur le plan symbolique: introduire plus fermement l’histoire tragique de l’esclavage dans le patrimoine de la nation, de manière à lutter contre le sentiment d’exclusion des populations qui en sont issues.«57 Dies kann das soziale Spannungsfeld beeinflussen, die zugrunde liegende sozioökonomische Problematik bleibt hiervon freilich unberührt – es sei denn, der
56 Chivallon, Christine: L’esclavage, du souvenir à la mémoire. Contribution à une anthropologie de la Caraïbe, Paris: Karthala 2012. Zur Erinnerung in der anglophonen Karibik vgl. z.B. Gregg, Veronica M.: »Commemorations in Jamaica. A Brief History of Conflicts«, in: Caribbean Quarterly 56/1-2 (2010): Slavery, Memory and Meanings. The Caribbean and the Bicentennial of the Passing of the British Abolition of the Trans-Atlantic Trade in Africans, S. 23-67; Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: Rites of August First. Emancipation Day in the Black Atlantic World, Baton Rouge, LA: Louisiana University Press 2007; Beckles, Hilary: Emancipation in the British Caribbean, in: Gert Oostindie (Hg.), Facing Up to the Past. Perspectives on the Commemoration of Slavery from Africa, the Americas and Europe, Kingston, Jamaica: Ian Randle 2001; Paul, Annie: »›Do You Remember the Days of Slav’ry?‹ Connecting the Present with the Past in Contemporary Jamaica«, in: Slavery & Abolition 30/2 (2009): Special Issue Remembering Slave Trade Abolitions. Reflections on 2007 in International Perspective, S. 169-178; Watson, Karl: »Barbados and the Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade«, in: Ebd., S. 179-195; zur französischen Karibik vgl. Ford, Caroline: »Museums after Empire in Metropolitan and Overseas France«, in: Journal of Modern History 82/3 (2010), S. 625-661; Higman, B.W.: »Remembering Slavery. The Rise, Decline and Revival of Emancipation Day in the English‐speaking Caribbean«, in Slavery & Abolition 19/1 (1998), S. 90-105. Zu den französischen Überseedepartements vgl. Reinhardt, Catherine: Claims to Memory. Beyond Slavery and Emancipation in the French Caribbean, New York, NY: Berghahn Books 2006; Chivallon, Christine: »Espace, mémoire et identité à la Martinique. La belle histoire de ›Providence‹«, in: Annales de Géographie 113/638 (2004), S. 400-424; Dies.: »Mémoires antillaises de l’esclavage«, in: Ethnologie française 32/4 (2002), S. 601-612; Jolivet, Marie-José: »La construction d’une mémoire historique à la Martinique. Du schœlchérisme au marronnisme (The Construction of an Historical Memory in Martinique)«, in: Cahiers d’Études Africaines 27/107-108 (1987): Mémoires, Histoires, Identités, S. 287-309. Zur politischen Rolle von Geschichte und Erinnerung in den DOM vgl. Laventure, Luc u.a.: La révolution antillaise. Quelle place pour l’Outre-mer dans la République?, Paris: Eyrolles 2009. 57 Hourcade, Renaud: »L’esclavage dans la mémoire nationale française. Cadres et enjeux d’une politique mémorielle en mutation«, in: Droit et cultures (Online) 66/2 (2013), http://droitcultures.revues.org/3151, 8.
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Komplex wird durch historisch begründete Reparationsforderungen erweitert. Szenarien der Umverteilung eines nach heutigen Maßstäben unrechtmäßig erwirtschafteten Reichtums kursieren auch in der französischen Republik und im Vereinigten Königreich. Angesichts des weltweiten Wohlstandsgefälles, der von ihm angetriebenen Migrationsbewegungen und den hieraus entstehenden transnationalen Solidaritätsnetzwerken verweist auch dieser Konflikt auf den Einzug des Globalen ins Nationale. Dieser Aspekt gehört zu den grundlegenden Strukturelementen geschichtspolitischer Auseinandersetzungen um die Geschichte der Sklaverei und inzwischen auch des Kolonialismus in Afrika. Gerade deswegen ist er unter allen möglichen Hinsichten bereits intensiv beforscht worden.58 Die Reparationsdiskussion wird themenspezifisch mittlerweile äußerst komplex geführt, wobei international ausgreifende Impulse aus Nordamerika, aber auch aus Afrika und der Karibik eine tragende Rolle spielen. Zur Beantwortung der hier interessierenden Frage nach der geschichtspolitischen Gestaltung der postkolonialen Nationen Frankreich und Großbritannien trägt sie in der Theorie allerdings nicht wesentlich bei. Ein breit angelegtes Reparationsprogramm, das den Schwerpunkt auf materielle Entschädigungsleistungen legt, könnte im Sinne von Maier auch als transformative Politik aufgefasst werden – und eine Realisierung scheint derzeit in beiden Ländern tatsächlich nicht absehbar.
58 Die Diskussion um Reparationen für Sklaverei und Sklavenhandel wird inzwischen besonders in den USA äußerst komplex geführt, sowohl in theoretischer und philosophischer Hinsicht als auch mit Blick auf die politische und juristische Praxis. Für die vorliegende Arbeit besonders einschlägig sind allerdings Texte, die einen stärker transnationalen Fokus wählen und (auch) die Rolle europäischer Staaten in den Blick nehmen. Vgl. z.B. De l’esclavage aux réparations, les textes clés d’hier et d’aujourd’hui, zusammengestellt und hg. von LouisGeorges Tin/Association Sortir du colonialisme, Paris: Les Petits Matins 2013; Brennan, Fernne/Packer, John: Colonialism, Slavery, Reparations and Trade. Remedying the ›Past‹?, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012 (mit einem Beitrag von Lord Anthony Gifford); Garapon, Antoine: Peut-on réparer l’histoire? Colonisation, esclavage, Shoah, Paris: Odile Jacob 2008; Howard-Hassmann, Rhoda E.: Reparations to Africa, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2008; Etemad, Bouda: Crimes et réparations. L’Occident face à son passé colonial, Brüssel: André Versaille éditeur 2008; Ajayi, J. F. Ade: »La politique de Réparation dans le contexte de la mondialisation«, in: Cahiers d’études africaines 174/1 (2004): Réparations, restitutions, réconciliations. Entre Afriques, Europe et Amériques, hg. von Bogumil Jewsewicki, S. 41-63. Zu Großbritannien vgl. v.a. Beckles, Hilary M.: Britain’s Black Debt. Reparations for Caribbean Slavery and Native Genocide, Kingston, Jamaica: University of the West Indies Press 2013. Zur Debatte in den USA sei hier nur exemplarisch verwiesen auf Berlin, Ira: »American Slavery in History and Memory and the Search for Social Justice«, in: Journal of American History 90/4 (2004), S. 1251-1268 sowie auf Deutsch Berg, Manfred: »Die Überzeugungsstratgien von Restitutionsbewegungen. Die Forderungen nach Reparationen für die Sklaverei in den USA«, in: Heidelberger Jahrbücher 52 (2008), S. 61-71. Die wesentlichen Argumente für und gegen ein finanzielles Entschädigungsprogramm wurden im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende in der Kontroverse um die Veröffentlichungen von Randall Robinson und Reparationskritiker David Horowitz ausgetauscht – falls in diesem Fall von einem Austausch gesprochen werden kann.
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ERINNERUNG IN DER POSTKOLONIALEN NATION Neben den beiden Untersuchungsländern haben sich inzwischen auch die Niederlande als weiterer historischer Akteur im transatlantischen Sklavenhandel diesem Teil ihrer nationalen Vergangenheit zugewandt. So wurde unter anderem im Jahr 2002 ein der Sklaverei gewidmetes Nationaldenkmal im Amsterdamer Oosterpark eingeweiht. 59 Dennoch wäre es voreilig, aus der erinnerungskulturellen Entwicklung in einigen Ländern auf einen einheitlichen Trend zu schließen. »The British, French and Dutch governments have engaged with the subject, expressing remorse and stimulating public commemorations. Portugal and Spain on the other hand have hardly addressed the subject.«60 Für Gert Oostindie erklärt sich diese Differenz aus den Migrationsgeschichten der betreffenden Länder. Zwar bezieht er auch die konfliktreiche Zeitgeschichte in seine Überlegungen mit ein, die eine erhebliche Belastung für die Erinnerungskultur in den iberischen Staaten darstellt. Er kommt aber zu dem Schluss: »What emerges as a crucial factor in a comparative perspective is the absence in the peninsula of a sizable community of postcolonial migrants descending from the enslaved Africans shipped across the Atlantic.«61 Erst im Zusammenhang von Postkolonialität und Migration, so lässt sich ableiten, ergeben sich die Entstehungsbedingungen für eine in erinnerungskultureller Hinsicht postkoloniale Nation. »Am deutlichsten manifestiert sich das Interesse an den Folgen der kolonialen Vergangenheit für die Gegenwart neben Frankreich wohl in Großbritannien«, schrieb Andreas Eckert in europäisch vergleichender Perspektive.62 Dies dürfte kein Zufall sein: Bei den beiden Staaten handelt es sich um Weltmächte des 19. und 20. Jahrhunderts, deren globaler Einfluss sich auf die systematisch ausgeübte Vorherrschaft über weite Teile der Erde stützte. Besonders in diesen beiden Fällen erscheint die Bezeichnung der Kolonialreiche als moderne Imperien angemessen. Der Eindruck eines entsprechenden propagandistisch forcierten Selbstverständnisses ist noch relativ frisch. Erst mit der Dekolonisation und dem Aufstieg der neuen Supermächte USA und Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergab sich die Notwendigkeit zu einer grundlegenden politischen Neudefinition der Nation und ihrer Rolle in der Welt. Die im Zuge des Auflösungs- und Ablösungsprozesses jeweils eingeschlagenen Wege waren, wie zuvor das Verhältnis von Kolonie und Nation, von Ambivalenz geprägt. Der demonstrativen, von einer grundsätzlichen Modernisierungsperspektive geleiteten Distanznahme standen Versuche gegenüber, einen Teil der bestehenden Struktur zu
59 Zu den Kontroversen um die Errichtung des Denkmals vgl. Oostindie, Gert: »Stony Regrets and Pledges for the Future«, in: Ders. (Hg.), Facing Up to the Past. Perspectives on the Commemoration of Slavery from Africa, the Americas and Europe, Kingston, Jamaica: Ian Randle 2001, S. 9-18. 60 Oostindie, Gert: »Public Memories of the Atlantic Slave Trade and Slavery in Contemporary Europe«, in: European Review 17/3-4 (2009), S. 611-626, hier S. 611. 61 Ebd., S. 613; ebenso Schmieder, Ulrike: »Orte des Erinnerns und Vergessens. Denkmäler, Museen und historische Schauplätze von Sklaverei und Sklavenhandel«, in: Comparativ 22/2 (2012): Erinnerungen an Sklaverei, S. 60-94, hier S. 93. 62 Eckert, Andreas: »Der Kolonialismus im europäischen Gedächtnis«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2 (2008): Europäische Nationalgeschichten, S. 31-37, hier S. 33.
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verstetigen, den internationalen Einfluss und das Image einer Weltmacht aufrechtzuerhalten. Wie weit der innere Distanzierungsprozess vom kolonialen Selbstverständnis tatsächlich vorangeschritten ist, wird daher kontrovers und verzweigt diskutiert.63 »By losing their empire […] the British were transformed from Romans into Italians in just a matter of years. How this transformation came to pass, however, and how it effected a lasting readjustment of the nation’s identity (if it did), has not yet been fully explored or integrated into national historiography.« 64 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit genügt ein pragmatischer Ansatz. »L’idée est simple et tombe sous le sens, pour peu qu’on fasse un effort de bon-sens: une grande puissance coloniale comme la France ne travaille pas son image impériale depuis parfois deux siècles ou plus sans que celle-ci n’ait laissé des traces.«65 Diese Feststellung gilt a fortiori für die ehemalige imperiale Weltmacht Großbritannien. »›Britannia, die die Meere beherrscht‹, war ein Bild, das nicht nur die Vorstellungen der britischen Elite prägte, sondern auch die Nation insgesamt beeindruckte. Die Reichsidee war ein wichtiger Bestandteil des nationalen Gedächtnisses. Sie wurde heraufbeschworen, wann immer die Nation sich in einer existenziellen Krise befand.«66 Beide Untersuchungsländer können auch in dieser Hinsicht 63 Zu Frankreich vgl. v.a die Arbeiten von der publikationsstarken und politisch engagierten Gruppe Association connaissance de l’histoire de l’Afrique contemporaine (ACHAC) um Nicolas Bancel, Pascal Blanchard und Sandrine Lemaire sowie von Robert Aldrich, Alec G. Hargreaves oder Dominic Thomas. Unter dem Vorzeichen der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Postcolonial Studies exisitiert in Großbritannien eine sehr komplexe akademische Diskussion mit starker historischer Rückbindung, die mit Namen wie John MacKenzie, Antoinette Burton, Linda Colley, Catherine Hall, Bernard Porter oder Andrew Thompson verbunden werden kann, vgl. zu dieser Debatte Price, Richard: »One Big Thing. Britain, Its Empire, and Their Imperial Culture«, in: Journal of British Studies 45 (2006), S. 602-627. Aus der Richtung der Soziologie steuerten u.a. Stuart Hall und Paul Gilroy wesentliche Ideen bei. Auf Deutsch vgl. Hüser, Dietmar (Hg.): Frankreichs Empire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert, in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher, Kassel: Kassel University Press 2010; Altmann, Gerhard: Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Großbritanniens 19451985, Göttingen: Wallstein Verlag 2005. Vgl. außerdem mit beide Untersuchungsländer erfassender transnationaler Perspektive Geschichte und Gesellschaft 37/2 (2011): Dekolonisierung in den Metropolen, v.a. den ausführlichen Beitrag von Kalter, Chistoph/Rempe, Martin: »La République décolonisée. Wie die Dekolonisierung Frankreich verändert hat«, S. 157-197; Weil, Patrick/Dufoix, Stéphane (Hg.), L’esclavage, la colonisation, et après... France, États-Unis, Grande-Bretagne, Paris: Presses Universitaires de France 2005 sowie zuletzt europäisch vergleichend Buettner, Elizabeth: Europe after Empire. Decolonization, Society, and Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2016. 64 D. Geppert/F.L. Müller: Sites of Imperial Memory, S. 2. 65 Coquery-Vidrovitch, Catherine: Esclavage, colonisation, racisme, »postcolonialité«. Nouveaux débats, nouveaux enjeux, Vortrag gehalten am 14.6.2007, Paris, http://cvuh.blog spot.de/2007/07/la-france-postcoloniale-en-question.html. Vgl. auch Coquery-Vidrovitch, Catherine: Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Mar-seille: Agone 2009. 66 Rothermund, Dietmar: »Einleitung. Erinnerung und Handlungskompetenz«, in: Ders. (Hg.), Erinnerungskulturen post-imperialer Nationen, Baden-Baden: Nomos Verlag 2015, S. 9-27, hier S. 19.
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als essentiell postkoloniale bzw. postimperiale Nationen betrachtet werden. »On more than one occasion, though, the imperial dimension has proved hard to accomodate within established national modes of interpreting and commemorating the past.«67 Dieser Problematik soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Dass offizielle Erinnerungskultur zumeist nationale Formen annimmt, spiegelt zunächst die Struktur des politischen und medialen Handlungsrahmens wider. So liegt es nahe, dass eine nationale Regierung in ihrem eigenen Interesse eine national ausgerichtete Geschichtspolitik betreibt und sich dabei an ein nationales Publikum richtet, während regionale oder supranationale Einrichtungen andere Schwerpunkte setzen. Die ebenfalls pragmatische Anerkennung dieses Umstands darf freilich nicht zur Unterschätzung des Ideologiepotentials führen. Die Durchsetzung von Geschichte als nationaler Erinnerung war offenkundig eine folgenreiche und dabei durchaus intentionale Entwicklung. »Nationalhistoriker«, schreibt Berger mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert, »waren mit dem Problem konfrontiert, wie sie ihre nationalen Narrative gegenüber anderen Meistererzählungen, vor allem denen der Ethnizität, Rasse, Religion und Klasse situierten. Vergleicht man ihre Strategien, so fällt auf, wie erfolgreich sich die nationalen Meistererzählungen ihre Rivalen einverleibten und unterordneten.«68 Gerade in postkolonialer Perspektive muss die »nationale Erinnerung« daher hinterfragt und in ihrem spezifischen Konstruktionscharakter sichtbar gemacht werden. Auch in ihrer neu entdeckten Eigenschaft als Ideenkonstrukt wird die »Nation« als solche nicht obsolet. Die De-Essentialisierung nimmt dem Nationalismus oder Patriotismus einen Teil seines vorbestimmten, quasi naturwüchsigen Charakters. Seiner Funktion als gesellschaftliches Bindemittel wird hierdurch die Grundlage aber nicht zwingend entzogen. Gerade im Hinblick auf Erinnerungskultur und Geschichtspolitik kann sich vielmehr der umgekehrte Schluss aufdrängen: »That this ›imagined community‹ was an historical invention makes its reinvention at a later moment in history a serious proposition.«69 Oder, anders ausgedrückt, »the more readily we accept the idea of the nation as a fiction, the easier it is to write new ones.«70 Die »Nation« wird bis zu einem gewissen Grad formbar, was neue Möglichkeiten für die Anwendung politischer Instrumente eröffnet. In einer Welt der komplexen trans- und supranationalen Zusammenhänge, die unilateral immer weniger beeinflussbar scheinen, kann dies auch eine positive Nachricht für nationale Regierungen sein, die Steuerungsmittel gegen die Auflösungstendenzen ihrer eigenen symbolischen und realen Machtbasis suchen. Die 67 D. Geppert/F.L. Müller: Sites of Imperial Memory, S. 2. 68 Berger, Stefan: »Narrating the Nation. Die Macht der Vergangenheit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2 (2008): Europäische Nationalgeschichten, S. 7-13, hier S. 10. Eine weitere, von Berger an dieser Stelle nicht genannte Kategorie mit weitreichendem Einfluss ist die der Geschlechtlichkeit, vgl. Berger, Stefan/Lorenz, Chris (Hg.): The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008. 69 McGuigan, Jim: »A Community of Communities«, in: Jo Littler/Roshi Naidoo (Hg.), The Politics of Heritage. The Legacies of ›Race‹, Abingdon/New York, NY: Routledge 2005, S. 183-195, hier S. 187. 70 Naidoo, Roshi: »Nevermind the Buzzwords. ›Race‹, Heritage and the Liberal Agenda«, in: Jo Littler/Roshi Naidoo (Hg.), The Politics of Heritage. The Legacies of ›Race‹, Abingdon/New York, NY: Routledge 2005, S. 36-48, hier S. 47.
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Geschichtsdebatten können damit als eine Art »nation re-building« unter fundamental gewandelten Bedingungen betrachtet werden. Die postkoloniale Nation ist mithin keine Voraussetzung, sondern ein laufender Aushandlungsprozess, sie präsentiert sich auch und gerade in der Ordnung ihrer historischen Vorstellungswelt. Dabei erhöht das Erbe der langen Geschichte eines zutiefst ambivalenten Verhältnisses von »Kolonie« und »Nation« die Komplexität der Aushandlungen beträchtlich.71 Der Umstand, dass das historische Denken weiterhin stark auf die Nation fixiert ist, schließt definitorische Verschiebungen in Bezug auf die zu ihrem Charakter vorherrschenden Ideen nicht aus. In der Betrachtung entsprechender Ideengebäude ist oft von nationaler »Identität« die Rede. Nicht immer ist dabei ersichtlich, wer oder was als Träger dieser Identität aufgefasst wird und wie sie überhaupt entsteht. Eine kritische Auseinandersetzung mit politisch motivierten Versuchen der Identitätskonstruktion kann nicht von bestehenden Nationalidentitäten ausgehen. Eine Nation hat keine Identität, weder als Abstraktum noch als heterogener Verband von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern. Letztere wiederum werden kraft ihrer juristischen und/oder empfundenen Zugehörigkeit nicht miteinander »identisch«. Einen Ausweg bietet ein historisch-narratives Verständnis von Identität, wie es unter anderem von Paul Ricœur oder auch Stuart Hall vertreten wurde. »Just as individuals and families construct their identities by ›storying‹ the various random incidents and contingent turning points of their lives into a single, coherent, narrative, so nations construct identities by selectively binding their chosen high points and memorable achievements into an unfolding ›national story‹.«72
In erinnerungskulturellen Debatten werden Geschichten verhandelt, in denen sich Menschen mit ihren Idealen wiederfinden wollen und/oder sollen, wobei die Sorge um den sozialen Zusammenhalt innerhalb nationaler Grenzen oft einen entscheidenden Antrieb darstellt. Der Grad der definitorischen Autorität, den eine solche Narrativierung der Nation beanspruchen will oder kann, ist eine ebenso grundlegende Frage wie die nach den Akteurinnen und Akteuren, welche die Nation in diesem Konstruktionsprozess vertreten und am Ende von ihr repräsentiert werden. Ganz abgesehen davon, dass die Wirkmächtigkeit einer Idee nicht von ihrem Wahrheitsgehalt abhängt, stellt die Nation aber stets mehr als ein bloßes Gedankenkonstrukt dar. Als Nationalstaat ist sie eine politische und territoriale Realität, auch wenn beide Ebenen zunehmend von globalen Verflechtungsprozessen aufgemischt werden. Dies gilt nicht zuletzt für den hier untersuchten Kontext, schließlich sind es staatliche Institutionen und ihre Vertreter/-innen, die als zentrale Akteure der öffentli-
71 Vgl. hierzu Berger, Stefan/Miller, Alexei: »Building Nations In and With Empires. A Reassessment«, in: Dies. (Hg.), Nationalizing Empires, Budapest/New York, NY: Central European University Press 2015, S. 1-30. 72 Hall, Stuart: »Whose Heritage? Un-settling ›the Heritage‹, Re-Imagining the Post-Nation«, in: Jo Littler/Roshi Naidoo (Hg.), The Politics of Heritage. The Legacies of ›Race‹, London/New York, NY: Routledge 2005, S. 23-35, hier S. 25. Für eine umfassende Kritik zum analytischen Potential des Begriffs Identität vgl. Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick: »Beyond ›Identity‹«, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47.
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chen Gedenkpolitik auftreten. Sie werden folgerichtig zu Hauptadressaten für entsprechende Forderungen und zur Zielscheibe von Kritik. Das untersuchte Feld der Öffentlichkeit, in dem die französischen und britischen Geschichtsdebatten stattfanden, konstituiert sich vornehmlich über mediale Publikationsorgane, die in Sprache, Verbreitung und Selbstverständnis auf das Staatsgebiet ausgerichtet sind, ein hier verortetes Publikum als aktive oder passive Diskussionsteilnehmer/-innen erreichen und somit in mehrfacher Hinsicht auch ein Stück Nation darstellen. Die Rolle des Zugangs zu führenden Medienorganen ist für die Geschichtsdebatten wesentlich.73 Es liegt also von vornherein ein Kommunikationskreis vor, der in erster Linie die Nation als politisch organisierten Raum umfasst – auch wenn dessen Ränder zunehmend virtuell ausfransen. Der Kampf um politische und mediale Repräsentation, der in den Geschichtsdebatten ausgetragen wird oder sich hinter ihnen verbirgt, ist somit auch ein Kampf um Teilhabe an der Nation und entsprechende Gestaltungsmacht, sowohl in symbolischer wie auch konkret materieller Form. Die Geschichte der Sklaverei und im weiteren Sinne des europäischen Kolonialismus stellt aufgrund der besonderen, in wesentlichen Hinsichten wiederum konstitutiven Bedeutung für Vorstellungen von Ethnizität eine spezifische Herausforderung für die nationale Erinnerung dar. »Nation und Ethnizität waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] nahezu austauschbare Begriffe, da letztere vor allem mit Kultur, und zwar mit Nationalkultur verbunden wurde.«74 Miteinander verschränkte Prozesse der Globalisierung und Intensivierung von Waren-, Kommunikations- und Migrationsströmen haben diese einfache Gleichung inzwischen erweitert, bislang allerdings ohne die ursprüngliche Verbindung bzw. Differenzierung dabei grundsätzlich auszuhebeln. Vorstellungen nationaler Überlegenheit wurden in Abgrenzung zu anderen Kulturen und Weltregionen aufgebaut. Das »schwarze« Afrika wurde dabei einer besonders weitreichenden Operation des hierarchisierenden »Othering« unterworfen, die an das Repertoire des im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels elaborierten Rassismus anknüpfen konnte. Dieser Prozess wies die Grenzen einzelner europäischer Staaten überschreitende, transnationale Züge auf. »Le mythe de l’universalisme et de la supériorité occidentale fonctionnait comme partie intégrante d’un projet impérial, une réalité qui accentue le besoin essentiel de reconsidérer la ›longue histoire‹ des contacts avec l’esclavage, le colonialisme, l’immigration et la multitude des réseaux et pratiques transnationaux.«75 Ebenso wenig wie der »Okzident« ist die »Nation« eine den Kolonialreichen vorgeordnete Entität; die jeweiligen Vorstellungswelten entwickelten 73 Vgl. hierzu Blanchard, Pacal/Veyrat-Masson, Isabelle: »Introduction. Les guerres de mémoires: un objet d’étude, au carrefour de l’histoire et des processus de médiatisation«, in: Dies. (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 15-49. Die Autorinnen und Autoren vertreten u.a. die These, dass die Parteien in den »Erinnerungskriegen« vielleicht weniger um einen Platz in nationaler Geschichte und Erinnerung streiten als um ihre eigene Sichtbarkeit in den Medien. Die Differenzen der historischen Erinnerung habe es immer gegeben, zu einem öffentlichen Politikum würden sie vor allem aufgrund ihrer Mediatisierung. 74 S. Berger: Narrating the Nation, S. 10. 75 Thomas, Dominic: »L’émergence d’une ›question noire‹ en France?«, in: Bancel, Nicolas u.a. (Hg), Ruptures postcoloniales. Les nouveaux visages de la société française, Paris: La Découverte 2010, S. 403-413, hier S. 413.
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sich im gegenseitigen Bezug.76 Klassische Konstruktionen von Nationalgeschichte bezogen sich nicht nur auf ein Territorium, von dem die Kolonien weitgehend isoliert blieben. Sie besiedelten diesen Raum auch mit einer Bevölkerung, deren nationaler Charakter weit in die vor-nationale Vergangenheit zurückprojiziert wurde. Das Resultat des narrativen Akts wird oft als »Gründungsmythos« bezeichnet, obwohl er eigentlich postuliert, dass die Nation bereits vor ihrer Gründung existierte, eine explizite Begründung also letztlich gar nicht benötigt; sie findet im Nationalstaat lediglich ihre bestätigende Manifestation. »Continuity and tradition, authenticity and origin are the keywords«.77 Die aus der Kolonialgeschichte hervorgegangene Hierarchisierung von Bevölkerungsgruppen und Weltregionen anhand rassistischer Kriterien, behindert die erinnerungskulturelle Auflösung des historischen Konflikts im Schoße der imaginierten Nation. Das nationale Narrativ lädt zur einfachen Identifikation mit einer langen und »stolzen« Geschichte ein – sofern Rassismus und Diskriminierung in Vergangenheit und Gegenwart dieser Identifikation nicht fundamental entgegenstehen. An dieser Stelle tut sich also eine zentrale Herausforderung für die historische Integration der postkolonialen Nation auf: Die Geschichten bzw. die historischen Mythen, aus denen sie sich begründet hat, schließen einen Teil der Vergangenheit und damit bestimmte Perspektiven auf die Gesamtgeschichte aus. Diese wurde ohne und in vielerlei Hinsicht gegen die historische Erfahrung derjenigen Menschen geschrieben, die den Interessen der Kolonialmacht untergeordnet wurden. »This inherent mechanism of inclusion or exclusion is one of the main reasons that foundation myths demand our attention, for this mechanism is used to transform national or ethnic ideologies in structures of political power.«78 Zur Debatte steht daher nicht zuletzt der Status, den die in unterschiedlicher Beziehung zum (Post-)Kolonialismus stehenden Bevölkerungsgruppen und ihre Vergangenheitsbilder im historischen Narrativ der Nation einnehmen können. Noch stärker als die Geschichte der Nation ist die Geschichte der Sklaverei einem ethnischen Bezugs- und Ordnungssystems verschmolzen, das in diesem Fall rigoros rassistische Formen annahm. Das hiervon geprägte Vokabular ist zum einen generell brisant, es unterscheidet sich zum anderen stark nach nationalen Kontexten. Die (Selbst-)Bezeichnung eines Menschen als »schwarz« ist generell weniger eindeutig, als der erste Anschein es suggeriert. Sie hat aber in der Großbritannien auch ein anderes Fundament und ein anderes Potential als in Frankreich, wo vor einem spezifisch republikanischen Hintergrund eine Reihe von belastenden Assoziationszusammenhängen aktiviert werden (können). Der Begriff »nègre« wird in Frankreich durchaus noch verwendet, nicht zuletzt in der Formulierung »traite négrière«. Deutsche und englische Entsprechungen sind dagegen diskreditiert. Der Rückgriff auf den Terminus »race« ist im Englischen weniger problematisch als im Französischen, im Deutschen verbietet
76 Vgl. Burton, Antoinette: »Who Needs the Nation? Interrogating ›British History‹, in: Hall, Catherine (Hg.), Cultures of Empire. Colonizers in Britain and the Empire in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Manchester: Manchester University Press 2000, S. 137-153. 77 Kaschuba, Wolfgang: »The Emergence and Transformation of Foundation Myths«, in: Bo Stråth (Hg.), Myth and Memory in the Construction of Community. Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel: Peter Lang Verlag 2000, S. 217-226, hier S. 224. 78 Ebd., S. 226.
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sich die Anwendung des Rasse-Begriffs auf Menschen letztlich völlig. Das Ausweichen auf »Ethnizität« löst das Problem nicht; im gegebenen Kontext entsteht sogar eine neue und gleichfalls folgenreiche perspektivische Verfehlung: Die Zugehörigkeit zu einer »ethnischen« Gruppe impliziert das Vorhandensein von geteilten und distinkten kulturellen Merkmalen. Dies ist bei dem pauschal als »schwarz« gelesenen Bevölkerungsteil, der in Frankreich und Großbritannien in einer besonderen Beziehung zur Geschichte der Sklaverei steht – sei diese nun genealogisch greifbar, imaginiert oder zugeschrieben – ganz eindeutig nicht der Fall. Somit erscheint der Bezug auf die Hautfarbe als einem wesentlichen Element der Differenzierung als immerhin weniger schlechte Lösung. Auf die etwas schwerfällige Distanzierung durch die Verwendung von Anführungszeichen soll dennoch nicht verzichtet werden. Denn wissenschaftlich betrachtet, handelt es sich bei »Ethnizität« und vor allem »Rasse« um soziale Konstruktionen, »free-floating signifiers«79, die über keinen objektiven oder auch nur feststehenden Bedeutungsgehalt verfügen. Dies tat der sozial determinierenden Wirkung, die das rassistische Denken im Rahmen der kolonialen Sklaverei entwickelte, keinen Abbruch. In kaum einem anderen Kontext wurde die kategorische Bedeutungskonstruktion so zielgerichtet und umfassend betrieben wie in diesem. Obwohl die Grenze zwischen »schwarzen« und »weißen« Menschen in den Plantagenkolonien sehr systematisch gezogen wurde, widersetzt sich allerdings auch die umstrittene Geschichte an vielen Stellen einer binären Deutung. Selbst eine afrozentrische Lesart kann die funktional unterschiedlichen Positionen, die Afrika und Amerika in diesem Kontext einnahmen, nicht völlig außer Acht lassen. Der transatlantische Sklavenhandel war ein Geschäft, das an der westafrikanischen Küste überwiegend zwischen einheimischen und westeuropäischen Händlern abgewickelt wurde. »The familial wealth of many elites in Benin, and other Western African nations, can be traced back to slave trading.«80 »Schwarze« Seeleute auf europäischen Sklavenhandelsschiffen, bei denen es sich in einigen Fällen selbst um ehemalige Sklaven handelte, waren historisch ebenfalls keine Seltenheit. Auf unteren Ebenen der Rangordnung waren sie oft drastischen Disziplinarmaßnahmen unterworfen, die auch für ihre »weißen« Kollegen galten, und zu denen die Körperstrafe mit der Peitsche gehörte.81 In den Plantagenkolonien lebten »free blacks«, von denen einige Sklavinnen und Sklaven besaßen. Dies gilt besonders für französische Gebiete, wo sich die soziale Gruppe der so genannten »gens de couleur« herausbildete, die viele Personen von teils afrikanischer,
79 Ursprünglich geht das Konzept auf die Arbeiten von Stuart Hall zurück. 80 Wilkins, David: Repairing the Legacies of Transatlantic Slavery (Diss., Univ. Hull, 2013), S. 108. 81 Vgl. hierzu mit überwiegend britischer Perspektive v.a. Christopher, Emma: Slave Ship Sailors and Their Captive Cargoes, 1730-1807, Cambridge: Cambridge University Press 2006. Das Buch umfasst ein eigenes Kapitel zu den »multiracial crews« sowie einen Anhang, der die Quellenbelege zu »schwarzen Seeleute« u.a. auf in Bristol und Liverpool registrierten Schiffen aufarbeitet. Kerr-Ritchie, Jeffrey R.: »Reflections on the Bicentennial of the Abolition of the British Slave Trade«, in: Journal of African American History 93/4 (2008): Ending the Transatlantic Slave Trade. Bicentennial Research, Reflections, and Commemorations, S. 532-542, hier S. 533. Kerr-Ritchie: Reflecting the Bicentennial, S. 536.
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teils europäischer Abstammung umfasste. Die Versklavten wiederum konnten in unterschiedlichen praktischen Beziehungen zu den herrschenden Verhältnissen des Plantagenregimes stehen.82 Das grundsätzliche Ungleichverhältnis der Macht wird durch diese Varianz natürlich nicht außer Kraft gesetzt. Nicht alle »schwarzen« Akteurinnen und Akteure gehörten zu den Versklavten, aber ab einem gewissen Punkt in der historischen Entwicklung waren praktisch alle Sklavinnen und Sklaven in den Plantagenkolonien von afrikanischer Herkunft oder Abstammung. Die berüchtigte transatlantische Mittelpassage war eine leidvolle und herabwürdigende Erfahrung, in die ausschließlich Afrikanerinnen und Afrikaner gezwungen wurden, und der Rassismus richtete sich auf spezielle Weise gegen Menschen mit einem in Europa als »afrikanisch« betrachteten Aussehen. Kurz: Die Opfergruppe in dieser Geschichte ist »schwarz«. »And one wonders what role African monarchs and merchants would have played in the transatlantic slave trade if British slave ships had never visited West Africa?«83 Allen anti-essentialistischen Dekonstruktionen zum Trotz lässt sich die Sklaverei nur als eine Geschichte von zwei durch eben diese Geschichte und ihre Folgen distinkten Gruppen denken. Diese Differenz, die migrationsbedingt inzwischen eine nationale Binnendifferenzierung des Erinnerungsraumes darstellt, ist der Geschichte angemessen und die zugrunde liegenden Standpunkte sind nachvollziehbar. Tritt man einen Schritt zurück, wird jedoch auch die Perpetuierung der historisch etablierten Kategorien sichtbar, deren hierarchisierendes Prinzip heute in der Regel abgelehnt wird. Gerade in der Perspektive des französischen Republikanismus stellt sich die Erinnerung an »Black History« problematisch dar; groß ist die Furcht vor den »effets pervers« jedes antirassistischen Denkens und Handelns, das sich die explizite Anerkennung von »Rasse« oder »Ethnizität« zur Grundlage macht.84 »The very notion of black and white history is, of course, both a theoretical nonsense and a practical necessity. There is no scientific or biological basis for race. It is a construct to explain the gruesome reality that racism built. So long as there is discrimination against races, we will also need to discriminate between them. Yet while blackness is relentlessly examined, whiteness is eternally presumed.«85
Es handelt sich hierbei um einen zentralen Aspekt der genuinen Postkolonialität der Geschichtsdebatten, die also nicht allein räumlicher Natur ist. Eine intellektuelle und
82 Walvin, James: Black Ivory. A History of British Slavery, London: HarperCollins 1992, Part III: Working Lives, S. 169 ff. 83 Kerr-Ritchie: Reflecting the Bicentennial, S. 536. 84 Vgl. z.B. Weil, Patrick/Dufoix, Stéphane: »Introduction. Les traces du passé esclavagiste et colonial«, in: Dies. (Hg.), L’esclavage, la colonisation, et après... France, États-Unis, Grande-Bretagne, Paris: Presses Universitaires de France 2005, S. 1-18, hier S. 10; Fassin, Éric/Fassin, Didier: »Conclusion. Éloge à la complexité«, in: Dies. (Hg.), De la question sociale à la question raciale? Représenter la société française, Paris: La Découverte 2009 [2006], S. 265. 85 Younge, Gary: »Churchill – the truth«, in: The Guardian vom 30.9.2002.
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politische Positionierung in diesem Spannungsfeld ist alles andere als eine triviale Angelegenheit, wie u.a. die Entwicklung der Argumente von Paul Gilroy belegen.86 Gerade diese Spannung macht die Sklaverei aber auch zu einem besonders interessanten Fall für die erinnerungskulturelle Forschung: Ein möglicher und tatsächlich nur schwer vermeidbarer Nebeneffekt der öffentlichen Auseinandersetzung ist die Bestätigung oder gar Bekräftigung der Differenz von demographischen Gruppen auch in der Gegenwart. Je nach eingenommener Position kann dies politisch unerwünscht oder gewollt sein. Sowohl Angehörige des historisch dominanten Bevölkerungsteils als auch Mitglieder der von ihr marginalisierten Gruppen können eigene Gründe haben, den Fortbestand bestimmter Partikularismen zu verteidigen. Relevant ist dabei nicht nur, wem ein bestimmter Teil der Geschichte zugesprochen wird, sondern auch, wie die Teilhabe an der historischen Nation aufgebaut ist. Es geht also darum, explizite und implizite Wir-Gruppen, die über Repräsentationen der Vergangenheit konstruiert werden, in ihrem relationalen Verhältnis zu betrachten. Wer spricht und wer agiert für die Nation oder zumindest für das positiv verstandene »Wir«, das dem politischen Gemeinwesen vermeintlich zugrunde liegt? Im Hinblick auf die aktuelle Geschichtspolitik stellt sich damit die Frage, welche historischen Personengruppen in das individuelle oder kollektive Selbstverständnis integriert werden, welche Erinnerungen als ein dialogisches Zugehen auf den »Anderen« stattfinden und welche Formen der Andersartigkeit keine Artikulation finden. »It would be more radical to imagine us all as ›multicultural‹ rather than bringing ›others‹ into the public sphere as an act of benevolence.«87 Und schließlich geht es nicht nur darum, wer oder was in eine Geschichte integriert wird, sondern auch wie, zu welchem Zweck und mit welcher praktischen Wirkung dies geschieht; Begriffe wie Enteignung und (Wieder-)Aneignung schweben über dem Feld. Roshi Naidoo schreibt mit Blick auf Großbritannien: »[W]e need to delve behind the frenetically repeated buzzwords of ›inclusion‹ and ›diversity‹ […] to examine whether there are significant changes in how Britain is imagined and represented or if ›minorities‹ are being recruited to uphold a vision of a more traditional nation.«88 Für wen ist also welche geschichtspolitische Botschaft bestimmt, von wem und wie wird sie vermittelt? Welche Solidaritätsbeziehungen scheinen hieraus hervor? »[C]ollectivities such as racialized or cultural groups, nations, societies, have not been consensual, monolithic, or unitary, but have been divided, sometimes bitterly, not only by class, but by age, gender, culture, skill, sexuality and so forth. We now ask, whose nation? whose culture? whose society? We now ask, whose history?«89 Und mit Stuart Hall wird ebenso gefragt: »Whose heritage?«90
86 Vgl. hierzu die neue Einleitung des Autors in der Neuauflage von Gilroy, Paul: There Ain’t No Black in the Union Jack. The Cultural Politics of Race and Nation, London: Routledge 2002. 87 R. Naidoo: Nevermind the Buzzwords, S. 45. 88 Ebd., S. 37. 89 Ebd., S. 125. 90 Titel eines Vortrags von Stuart Hall, gehalten bei der Arts Council Conference 1999, abgedruckt in: Jo Littler/Roshi Naidoo (Hg.), The Politics of Heritage. The Legacies of ›Race‹, Abingdon/New York, NY: Routledge 2005, S. 23-35.
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Eine nivellierende Verschmelzung der Perspektiven würde die Erinnerung an die rassistisch strukturierte Gewalt ihrer historischen Bedeutung berauben. In ähnlicher Form und aus prinzipiell gleichen Gründen gilt dies auch für die Erinnerung an die Shoah. Ein von Nachfahren jüdischer »Opfer« und deutscher »Täter/-innen« gemeinsam begangenes Gedenken basiert nicht auf einem von allen Beteiligten geteilten Bedeutungsrahmen. Dennoch hat der antisemitische Völkermord einen geschichtspolitischen Status erlangt, der ihn als allgemein und sogar zentral relevantes Kapitel der Menschheitsgeschichte ausweist – mit einem insgesamt begrenzten, aber dennoch klar erkennbaren Erfolg. Im Gegensatz dazu scheint die Wahrnehmung der Sklaverei weiterhin stark auf ein an definierte Personengruppen gebundenes Schema zurückzugreifen. »Slavery is kept within the racial borders of blackness (being ›Black‹ marks one as being directly interested in slavery). [...] [I]t is not that the cultural expressions of memory and the history of slavery are fully ignored, but rather that there is a refusal to acknowledge slavery as a common and worthy legacy. Slavery is not part of ›universal memory.‹«91 Mit welchen Menschen »wir« uns in Vergangenheit und Gegenwart aufgrund welcher bewusst wahrgenommenen Eigenschaften identifizieren oder nicht, hängt von zahlreichen, oft situativen, veränderlichen, beeinflussbaren und politisch beeinflussten Umständen ab. Die Definition der »eigenen« Geschichte ist also gleichfalls alles andere als banal. Die Spannung, die an dieser Stelle zwischen Gleichberechtigung und Solidarität, zwischen Anerkennung und Abgrenzung auftritt, speist auch die erinnerungskulturellen Konflikte. Diese Konflikte werden bisweilen zu regelrechten Kriegen ausgeweitet oder zumindest stilisiert. Der Dissens lässt sich nicht leugnen, dennoch fällt die Deutung der Lage durchaus nicht einheitlich aus. »Le terme ›tension‹ permet de se démarquer d’une tendance générale qui […] donne prioritairement à ces situations une lisibilité en termes de conflit, de compétition, de concurrence, voire de ›guerres‹. Ces expressions sont devenues de véritables lieux communs qui n’aident pas à penser ce qui a lieu et en limitent l’approche à une certaine actualité, celle des faits divers ou des débats d’opinion.«92 Dem »Krieg der Erinnerungen« hält Michael Rothberg sein dynamisches Konzept des »multidirektionalen Erinnerns« entgegen, das er in einer Weiterentwicklung auch mit dem Begriff der »Erinnerungsknoten« verbunden hat.93 »[T]he conceptual framework through which commentators and ordinary citizens have addressed the relationship between memory, identity, and violence is flawed.«94 Nicht gewillt, im 91 Vergès, Françoise: »Wandering Souls and Returning Ghosts. Writing the History of the Dispossessed«, in: Yale French Studies 118-119 (2010): Nœuds de mémoire. Multidirectional Memory in Postwar French and Francophone Culture, S. 136-154, hier S. 143, 147. 92 Mesnard, Philippe: »La tension des identités mémorielles«, in: Rue Descartes 66 (2009): Changer l’identité?, S. 93-99, hier S. 93. 93 Vgl. das Sonderheft von Yale French Studies 118-119 (2010): Nœuds de mémoire. Multidirectional Memory in Postwar French and Francophone Culture, hierin besonders die Einleitung, Rothberg: Between Memory and Memory. Bei der Jahreskonferenz der Modern Language Association mit dem Titel »Negotiating sites of memory« organisierte der Anglist Rothberg, Begründer der »Initiative in Holocaust, Genocide, and Memory Studies«, zudem gemeinsam mit Rosanne Kennedy eine Diskussionsrunde zum Thema »Transnational Memories: Sites, Knots, Methods«, Vancouver, 11.1.2015. 94 M. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 3.
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Boom der öffentlich ausgetragenen Geschichtsdebatten und Gedenkrituale nur einen Wettbewerb mit Gewinner/-innen und Verlierer/-innen zu sehen, sucht der amerikanische Literaturwissenschaftler nach kreativen, flexiblen und solidarischen Formen der Erinnerung an von Gewalt und Unterdrückung geprägte Vergangenheiten. »Against the framework that understands collective memory as competitive memory – as a zerosum struggle over scarce resources – I suggest that we consider memory as multidirectional: as subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive not privative.«95 Das Testfeld für die Thesen bildete nicht zufällig die Geschichte von rassistisch motivierter Gewalt in der neueren Kolonialgeschichte und im Zweiten Weltkrieg. Dabei bekennt Rothberg sich zum Glauben an die Möglichkeit und die Notwendigkeit der potentiell schrankenlosen Solidarität im Sinne einer universellen Gerechtigkeit. »Memories are not owned by groups – nor are groups ›owned‹ by memories.« 96 In den Schriften kolonialismuskritischer Intellektueller wie Hannah Arendt und W.E.B. DuBois, die unter dem relativ unmittelbaren Eindruck einer kulturell und politisch noch nicht fixierten Holocaust-Erinnerung standen, sucht und findet er Beispiele für die von ihm postulierten Querverbindungen und Wechselwirkungen.97 Gerade die koloniale Sklaverei lässt jedoch auch Grenzen im Hinblick auf die Universalisierbarkeit der Erinnerung vermuten. Denn diese Geschichte hat Menschen auf ausnehmend rigorose Weise in Gruppen unterteilt, deren Auflösung nicht nur schwierig, sondern angesichts fortbestehender Diskriminierung und sozioökonomischer Ungleichheit auch problematisch erscheint. Die Versklavung im kolonialen Kontext machte Menschen aus Afrika zu rechtlosen Arbeiterinnen und Arbeitern, die im Dienste des Profits schonungslos ausgebeutet werden konnten. Die Umsetzung der Intention war auf eine systematische Desolidarisierung durch eine rassistische Ideologie angewiesen. An diesem Punkt weisen die Shoah, die Sklaverei und andere Massenverbrechen ihre entscheidende Parallele auf: Die Gewalt stützte sich auf Stereotypisierungen, die dazu beitrugen, Menschen aus einem »universe of moral obligation« (H. Fein) auszuschließen, Verachtung und Indifferenz zu produzieren und das Gefühl zwischenmenschlicher Verantwortung zu zersetzen. Dem Holocaust als einem Kulminationspunkt solcher Prozesse wird daher die Eigenschaft zugeschrieben, zugleich partikular und universell sein zu können, »the paradigmatic collective trauma that can be embraced by other vicitim groups.«98 So werden Antisemitismus und Rassismus als Menschenwürde missachtende Ausgrenzungsdiskurse zwar zu Recht in einem Kontext diskutiert, sie lassen sich aber nicht ohne weiteres in einem Begriff verschmelzen. Ein Faktor ist die Sichtbarkeit postkolonialer Minderheiten, mit anderen Worten auch die Hautfarbe, ein zweiter Faktor ist 95 Ebd. 96 Ebd., S. 5. 97 Die Arbeit von Michael Rothberg knüpft dabei auch an Gedanken von Paul Gilroy an, der sein Konzept mobiler Identitäten in der jüdischen und afrikanischen Diaspora verankert hat, vgl. P. Gilroy: Black Atlantic. Vgl. auch Portulan 2 (1998): Mémoire juive, mémoire nègre, deux figures du destin. Littératures, sociétés, cultures des Caraïbes et des Amériques noires, hg. v. Roger Toumson Romain; Gemma: Connecting Histories. A Comparative Exploration of African-Caribbean and Jewish History and Memory in Modern Britain, London: Kegan Paul 2006. 98 A. Assmann: Holocaust – A Global Memory, S. 106.
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ihre nach wie vor unterprivilegierte Position in der Gesellschaft. Über das Problem eines »postkolonialen Rassismus«, der eine direkte Verbindung von kolonialer und nachkolonialer Zeit impliziert, wurde und wird viel diskutiert.99 Aus historischer Sicht zu beachten ist dabei vor allem: »Racism is not a static phenomenon. Rather it is a concept open to constant reformulation.«100 Daher warnen Geschichtswissenschaftler wie Martin Evans vor einer linearen Übertragung, die übersieht, dass Rassismus sich stets in die herrschenden Verhältnisse einordnet. Im Zuge von Dekolonisation und Globalisierung haben sich diese entscheidend gewandelt. Die Entwicklung führte nicht zuletzt zu einem Zusammenfallen von zuvor weitgehend getrennten Räumen; aktuelle Formen von Rassismus sind also ein Ergebnis des Aufbruchs von Hierarchien und Grenzen. Sie drücken sich daher inzwischen im Rahmen von neuen Debatten um »nationale Identität« aus. Evans kommt zu dem Schluss: »Racism in contemporary Europe must not be understood as a simple throwback to the nineteenth century. Contemporary racism is not the racism of the colonial period or the racism of Nazi Germany.« Er erkennt aber auch: »[W]hat is often striking about new structures of exclusion is the persistence of past stereotypes and prejudices.«101 Im Fall der kolonialen Sklaverei war der Antrieb der Geschichte ein wirtschaftliches Motiv. »Obviously, the slave trade was a business, and a very profitable business, based on the ›commodification‹ of human beings.«102 Der Imperativ des finanziellen Gewinns, dem das Leben der Versklavten unterworfen wurde, ließ sich durch rassistische Ausgrenzung langfristig absichern. Eine solche Zweckmäßigkeit lässt sich bei dem Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, der im zeitlich begrenzten Kontext des Zweiten Weltkriegs steht, nicht erkennen. Der Vergleich mit der jüdischen historischen Erfahrung, genauer gesagt mit der Shoah als einem Vernichtungsnarrativ, bietet mithin nur eine bedingt sinnvolle Orientierung. Hier scheint der von Maier aufgezeigte Konflikt zwischen den Bedeutungsgehalten des »moralischen« Narrativs der Shoah und des »strukturell« geprägten imperialen Narrativs in aller Deutlichkeit auf. An dieser Stelle ließe sich die Erinnerung an die Sklaverei für eine umfassendere Solidarisierung von potentiell flexibler Struktur öffnen. »La métaphore de l’esclavage [...] décrit tout à la fois la prostitution, la condition des femmes, le travail forcé, le travail des enfants, les conditions de travail dans les usines et les bureaux, etc. 99
Vgl. z.B. Bleich, Érik: »Des colonies à la métropole. Le poids de l’histoire sur l’intégration des immigrés en Grande-Bretagne et en France«, in: Patrick Weil/Stéphane Dufoix (Hg.), L’esclavage, la colonisation, et après... France, États-Unis, Grande-Bretagne, Paris: Presses Universitaires de France 2005, S. 437-466; Bouamama, Saïd/Tévanian, Pierre: »Peut-on parler d’un racisme post-colonial?«, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.), Culture post-coloniale 1961-2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Éditions Autrement 2006, S. 243-254 (engl. Übersetzung in: Blanchard, Pascal u.a. (Hg.), Colonial Culture in France since the Revolution, Bloomington, IN: Indiana University Press 2014). 100 Evans, Martin: »Languages of Racism Within Contemporary Europe«, in: Brian Jenkins/Sofos A. Spyros (Hg.), Nation and Identity in Contemporary Europe, London/New York, NY: Routledge 1996, S. 33-53, hier S. 42. 101 Ebd. 102 Bailyn, Bernard: »Considering the Slave Trade. History and Memory«, in: The William and Mary Quarterly, Third Series 58/1 (2001): New Perspectives on the Transatlantic Slave Trade, S. 245-252, hier S. 249.
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[…] La mémoire de l’esclavage dit en creux l’histoire d’une exploitation au cœur de systèmes économiques qui transforment l’être humain en corps jetable et corvéable.«103 Durch die Erinnerung des Holocausts als »Bruch« und Neuanfang wird das historische Ereignis aus dem chronologischen Verlauf der Geschichte herausgehoben. Für die Erinnerung an den Kolonialismus ist dagegen gerade die Frage nach Kontinuitäten entscheidend, und die Sklaverei kann in diesem Zusammenhang als Ursprung mächtiger Narrative positioniert werden, die bis heute fortwirken und faktisch ungleiche Chancen zur Verwirklichung bestimmter Lebenswege bedingen. Anders als die Erinnerung an die Shoah enthält die koloniale Erinnerung daher zugleich eine Anklage an diejenigen, die national und international überprivilegierte Positionen der Macht und des Wohlstands genießen, unter ihnen ausnehmend viele »weiße« Männer und auch Frauen. Hinter dem Konflikt der Täter und Opfer tritt die Figur des Profiteurs von den herrschenden Verhältnissen hervor. Jedoch erschöpft sich die historische Bedeutung, die der transatlantische Sklavenhandel vermittelt, nicht in einem von zahlreichen Narrativen wirtschaftlicher Ausbeutung, wie sie nicht zuletzt die spätere Kolonialgeschichte in großer Zahl bereithält. Sie sprengt diesen Rahmen durch das schiere destruktive Ausmaß, mit dem das Leben und die Menschenwürde der Versklavten dem Profitstreben von Geschäftsleuten und der Ausweitung einer Konsumkultur, die als historischer Luxus betrachtet werden muss, untergeordnet wurden. »One knows this to begin with […] a brutal, inhuman, devastating, tragic traffic that violates every shred of human sensibility.«104 Die Figur des »schwarzen« Sklaven changiert so zwischen einem ethisch-moralischen und einem im eigentlichen Sinne politischen Appell. Die zeitlichen und räumlichen Dimensionen sowie die kontinenteübergreifend nachwirkenden Folgen heben diesen organisierten Menschenhandel in seiner Konturen gleichfalls aus dem geschichtlichen Gesamtgeschehen hervor. »The enormity and the scope of transatlantic slavery and the level of human agony, as well as its impact and implication on the history of three continents, make it unique.«105 Dennoch erscheint die Einordnung des transatlantischen Sklavenhandels in ihren größeren kolonialen Kontext nicht nur im Sinne des historischen Verständnisses geboten. Auch der Blick auf die Strukturen der Erinnerung muss diesbezüglich wachsam sein, denn die Sklaverei kann in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition einnehmen. Dabei geht es nicht nur um die expliziten Verknüpfungen, die zu anderen Entwicklungen und Ereignissen der Kolonialvergangenheit hergestellt werden und der Nation in der Erinnerung einen mehr oder weniger ausgeprägt postkolonialen Zug verleihen – oder eben nicht. Der transatlantische Sklavenhandel gehört zu den gewaltreichsten Kapiteln der Kolonialgeschichte und wird heute uneingeschränkt verurteilt. 103 Vergès, Françoise: »Esclavage colonial. Quelles mémoires? Quels héritages?«, in: Pascal Blanchard/Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 155-164, hier S. 161. 104 B. Bailyn: Considering the Slave Trade, S. 249. 105 Modupe Kolawole, Mary E.: »An African View of Transatlantic Slavery and the Role of Oral Testimony in Creating a New Legacy«, in: Anthony Tibbles (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press 22005 [1994], S. 101106.
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Die Brutalität der Ausbeutung lässt sich nicht kaschieren oder rechtfertigen, auch nicht durch den – immer noch beliebten – Verweis auf koloniale Infrastrukturprojekte wie den Bau von Schulen oder Krankenhäusern. Welche Rolle der Sklaverei zugewiesen wird und wie diese Rolle mit anderen erinnerten Ereignissen interagiert, kann somit wiederum für die Positionierung der Nation in der postkolonialen Gegenwart insgesamt bedeutsam sein. Unter den gegebenen Umständen ist die »Sklaverei« also erinnerungskulturell noch nicht gefestigt, sondern Teil einer Grauzone, in der sich Formen und Inhalte überlagern. Sie lässt sich mit unterschiedlichen Implikationen in verschiedene Narrative einordnen, die jeweils bestimmte Teile der Vergangenheit ebenso wie der Gegenwart erhellen oder verdunkeln.
Agency im Schnittpunkt der Untersuchungsebenen
Die historische Erinnerung, um die es im Folgenden geht, tritt in vielgestaltigen Formen auf, die sich jedoch alle durch ihren kollektiv verhandelten, öffentlichen und im weitesten Sinne politischen Charakter auszeichnen. Für die intersubjektive Verständigung ist es unabdingbar, Perspektiven auf die Vergangenheit eine narrative Form zu geben. Erst narrative Verknüpfungen produzieren Sinn, an dem sich menschliches Denken und Handeln orientieren kann. Es geht weniger um Daten, Ereignisse oder Personen als um die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird, weniger um die Vergangenheit als um ihre Botschaft für die Gegenwart. »Ainsi, la mémoire collective ne semble pouvoir être dissociée de la présence d’un ›récit‹.«1 Erinnerungskultur ist damit immer auch Erzählkultur. »Erzählungen zeichnen sich erstens durch das ›Zusammensetzen der Geschehnisse‹, also durch spezifische Verknüpfungen, sowie zweitens durch eine genuin temporale Struktur aus.«2 Ebenso wesentlich sind die in dem auf diese Weise geschaffenen Kontext wirkenden Kräfte und Akteure. So wird ein Geschehen, das aus einer Vielzahl von in ihrem Verhältnis zunächst unbestimmten Elementen besteht, dem Prozess des »emplotment« unterworfen. Es wird, mit den Worten von Hayden White, zu einer Sequenz, »segmented into the semantic categories of beginning, middle, and end. Emplotment thus ›dramatises‹ complex processes of change by presenting them as conflicts between agents […]. It is in this sense that ›narrativisation‹ can be said to ›moralise‹ what would otherwise have to be construed as a casual conjuncture of forces merely physical in kind.«3 Stark vereinfacht ausgedrückt ließe sich sagen: Es geht um Geschichten, die Menschen glauben, und von denen sie daher möchten, dass sie öffentlich vermittelt werden. Und es geht um Geschichten, die Menschen öffentlich vertreten, weil sie den Glauben an bestimmte Vorstellungen von der Vergangenheit (und der Gegenwart) befördern
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C. Chivallon: Espace, mémoire et identité à la Martinique, S. 406. Saupe, Achim/Wiedemann, Felix: »Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft (Version 1.0)«, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, 28.1.2015, http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok. 2.580.v1. White, Hayden: »Catastrophe, Communal Memory and Mythic Discourse. The Uses of Myth in Society«, in: Bo Stråth (Hg.), Myth and Memory in the Construction of Community. Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel: Peter Lang Verlag 2000, S. 49-74, hier S. 52.
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wollen. In beiden Fällen geht es um die Rolle, welche die Geschichte für die gegenwärtige Gesellschaft spielen kann und soll, und in beiden Fällen können unterschiedliche Handlungsmotive den Ausschlag geben. Vorausgesetzt wird die Existenz eines Mainstream-Narrativs, das im öffentlichen Raum vorherrschend ist. Obwohl es vielen Menschen als von selbst verständlicher historischer common sense erscheinen mag, ist es vor allem ein Politikum. Denn verschiedene Gruppen und Personen sind für ein aktiv eingreifendes Handeln auf diesem Feld unterschiedlich stark aufgestellt. Gleichzeitig sind solche Narrative nicht bloß Ausdruck instrumenteller Machtausübung »von oben«. »[T]hey signify […] a version of the national past which is dominant and meaningful at a specific moment in time. Yet its dominance as a narrative can no longer be understood in terms of the social power of its supporting groups […], but rather in terms of the influence it has on other […] narratives.«4 Diese werden unter dem Einfluss zu »partial histories«, während das »Masternarrativ« als »source of meaning and discipline« die hierarchische Ordnung von Geschichten und Erinnerungen prägt.5 Entscheidend ist damit vor allem die terminologische Trias, die Harald Schmid der Analyse von Geschichtspolitik zugrunde legt: »Konstruktion«, »Bedeutung«, »Macht«.6 Konflikte zwischen den Agierenden spielen nicht nur für die narrative Handlung eine entscheidende Rolle. Die Frage, wer oder was historische Veränderung auslöst und vorantreibt, hat die Geschichtswissenschaft als Grundproblematik ihrer Erkenntnisgewinnung von Beginn an begleitet. Die nationale Erinnerung bevorzugt im Sinne ihrer narrativen Qualitäten Personen oder zumindest personifizierte Entitäten, nicht selten die »Nation« selbst, als Agenten der Geschichte; der Wandel von Makrostrukturen in der longue durée gibt in der Regel keinen guten Erzählstoff ab. In diesem Kontext muss vor allem zwischen positiv und negativ besetzter Akteursmacht unterschieden werden: Umkämpft ist der Anspruch der eigenen Wir-Gruppe, die Geschichte »zum Guten« beeinflusst zu haben. Als besonders »gut« stellt sich eine Handlung dar, die ein höheres Ziel als das materielle und politische Eigeninteresse verfolgt. Die Macht zu Ausübung von ungerechten, verbrecherischeren oder gewalttätigen Handlungen überlässt man gern den »anderen« und bevorzugt dem (geschichts-)politischen Gegner. Die koloniale Sklaverei als Thema der Erinnerung zeichnet sich in dieser Hinsicht durch ihre Janusköpfigkeit aus: Die Auseinandersetzung mit ihr erfolgt stets in Bezug auf das Spannungsfeld zwischen (fortdauerndem) Rassismus, Unterdrückung und Menschenhandel auf der einen, Abolitionismus und Emanzipation als historischem Fortschritt auf der anderen Seite.
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Thijs, Krijn: »The Metaphor of the Master. ›Narrative Hierarchy‹ in National Historical Cultures in Europe«, in: Stefan Berger/Chris Lorenz (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 60-74, hier S. 69. Ebd. Schmid, Harald: »Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik«, in: Michael Kohlstruck/Horst-Alfred Heinrich (Hg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart: Steiner 2008, S. 75-98. Vgl. auch Troebst, Stefan: »Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt«, in: Etienne François u.a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 15-34.
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Die genauen Formen, welche die Erinnerung annimmt, sind zudem als Folge sehr konkreter Auseinandersetzungen aufzufassen. »Collective memory is not a given, not a ›natural‹ result of historical experience. It is a product of a great deal of work by large numbers of people all securing (mostly) public articulation of the past. For this reason alone, we should not be surprised to see differences of perspective and opinion as well as sharp, principled disagreements.«7
Dietmar Rothermund schreibt hierzu: »Erinnerung beruht auf der Handlungskompetenz (agency) des Menschen. […] Die Betonung der individuellen Handlungskompetenz wirft die Frage auf, wie die selbstbestimmten Handlungen der Einzelnen aufeinander abgestimmt werden können, um Konflikte zu vermeiden. Als Antwort auf diese Frage wurde das Konzept des Aushandelns (negotiation) eingeführt. Dieses Aushandeln geschieht im Rahmen von Übereinkünften, die die Freiheit der Handlungskompetenz voraussetzen. Die kollektive Erinnerung ist eine solche Übereinkunft.«8
Im Hintergrund steht dabei stets die materielle und symbolische Verteilung von Gestaltungs- und Deutungsmacht im größeren Rahmen der vorherrschenden politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse. Dies gilt über mehrere Zeitschichten hinweg, deren Konflikte sich – vom historischen Ereignis über den Moment der Quellenproduktion und die historiographische Verarbeitung bis zur Enthüllung eines Denkmals – überlagern.9 Aktuelle Deutungskämpfe lassen sich nur in Auseinandersetzung mit der ursprünglichen Konfliktkonstellation, die sich durch die systematische Ausgrenzung der Versklavten als soziale und historische Subjekte auszeichnet, verständlich machen. Das Ringen um die Verteilung von Akteursmacht prägt somit alle materiellen und symbolischen Dimensionen der Erinnerungskonstruktion. Zur Strukturierung des komplexen Untersuchungsfelds bietet sich daher der sozial- und kulturwissenschaftlich geprägte Begriff der Agency an, der auch in deutschsprachigen Kontexten angewendet wird. Am häufigsten taucht das Wort in der Wendung »through/by the agency of« auf, mit der ein Geschehen als »because of the actions of someone« erklärt wird.10 Im weitesten Sinne geht es um das Verhältnis von Ursache und Wirkung sowie die entsprechende Zuschreibung von Subjekt- und Objektpositionen in einer zumeist relationalen Konstellation. Dabei kann Agency – wie im angeführten Zitat – intentional als personengebundene Handlungsmacht oder eher als faktische Wirkmächtigkeit ausgelegt werden. Im übertragenen Sinne kann auch ein Naturereignis oder eine abstrakte 7
Irwin-Zarecka, Iwona: Frames of Rememberance. The Dynamics of Collective Memory, New Brunswick, NJ: Transaction Publishers 1994, S. 67. 8 D. Rothermund: Erinnerung und Handlungskompetenz, S. 9. 9 Im Sinne von Jay Winter lässt sich Erinnerung daher auch als »Palimpsest« betrachten. Den Begriff versteht Winter metaphorisch als Überlagerung von Bedeutungen, deren Schichten einander nicht gänzlich überschreiben – »This house is a palimpsest of the taste of successive owners«, wie ein von ihm zitiertes Wörterbuch es umschreibt. J. Winter: In Conclusion. Palimpsests, S. 167. 10 Cambridge Dictionary English, http://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/agency [8.7.2018].
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Idee in einem bestimmten Kontext eine Art von Agency entwickeln, die dem Lauf der Dinge im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine bestimmte Richtung verleiht und/oder eine andere behindert. Für die meisten Menschen in einem Nationalstaat ist die Teilnahme an der Geschichtsproduktion eine weitgehend passive, sie sind Rezipientinnen und Rezipienten, in neuerer Zeit oft Konsumentinnen und Konsumenten von Bildern und Erzählungen, die ihnen ein mehr oder weniger sicheres Gefühl des temporalen Verortet-Seins, der historischen Heimat vermitteln. Teilnahme kann in diesem Zusammenhang aber auch im Sinne einer aktiven Teilhabe verstanden werden, bis hin zu einer privilegierten Partizipation an der Vergangenheitsdeutung, wie sie etwa von hohen politischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern beansprucht werden kann. Wulf Kansteiner unterscheidet zwischen »memory makers who selectively adopt and manipulate these traditions, and […] memory consumers who use, ignore, or transform such artifacts according to their own interests.«11 Die Möglichkeit zum geschichtspolitischen Engagement ist inzwischen nicht mehr ausschließlich einer kleinen Elite vorbehalten. Wie andere Formen des Sozialkapitals auch, sind geschichtspolitische Ressourcen allerdings sehr unterschiedlich verteilt. »The production of historical narratives involves the uneven contribution of competing groups and individuals who have unequal access to the means of such production.«12 Die offizielle Geschichtspolitik im engen Sinne des Wortes hat in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren den Vorteil, auf staatliche Strukturen zurückgreifen zu können, seien dies Ämter, Gelder, Verwaltungs- und Organisationsapparate oder Verfügungsgewalt über die Ausgestaltung des gemeineigenen Raumes. Sie kann zudem von einem privilegierten Zugang zu kulturellen und wissenschaftlichen Eliten profitieren, die nicht selten aktiv die Nähe zu politischen Entscheidungskreisen suchen. Gerade im Zeitalter der Massenmedien haben aber auch soziale Gruppen und Verbände oder sogar Einzelpersonen die Möglichkeit, auf dem geschichtspolitischen Feld zu agieren. Der Staat hat unter diesen Bedingungen oft weniger die Position des Lenkers als die eines Vermittlers, der die zahlreichen Initiativen in seinem Sinne zu kanalisieren sucht. Unter dem Einfluss medialer Entwicklungen ist das entsprechende Kräftefeld in seinem Umfang, seiner Vielfalt und seiner politischen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten deutlich angewachsen. In dieser Zeit hat eine Ausbreitung von historischer Erinnerung in der europäischen Öffentlichkeit stattgefunden, die als quantitativ und qualitativ neuartig gilt – und von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren durchaus kritisch gesehen wird. »[It] has variously been called ›memory fever‹, ›memory mania‹, an ›obsession with memory‹, ›the memory craze‹, a ›remembrance epidemic‹, ›commemorative fever‹, ›the memory crisis‹, ›the memory industry‹, ›the memory boom‹, and a time of ›archive fever‹ and ›commemorative excess‹. Aspects of it have also been characterised as a ›heritage industry‹, ›heritage craze‹ or ›heritage crusade‹. These terms have been coined to characterise an increase in public attention to the past, especially its commemoration and preservation. While prefigured earlier in various 11 Kansteiner, Wulf: »Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies«, in: History and Theory 41/2 (2002), S. 179-197, hier S. 180. 12 Trouillot, Michel-Rolph: Silencing the Past. Power and the Production of History, Boston, MA: Beacon Press 1995, S. xix.
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ways, this increase is usually dated as gathering pace from the 1970s and escalating further towards the end of the twentieth century and into the twenty-first.«13
Hierbei spielen Mechanismen von Angebot und Nachfrage in ihrer politischen, aber auch kommerziellen Variante eine Rolle. »›[P]lace marketing‹ and ›image-management‹ are certainly involved in producing historicised village-, town- and cityscapes across Europe.«14 Friedrich Lenger prognostizierte gar, dass »die Tourismusindustrie sehr wohl den größten Nutzen aus diesem Erinnerungsboom ziehen könnte.«15 Geschichtspolitik hat in den seltensten Fällen wahlentscheidende Bedeutung, je nach Stellenwert des Themas sind aber auch Formen der wählerbezogenen Klientelpolitik grundsätzlich denkbar. Unter diesen Umständen stellt Geschichte nicht mehr vorrangig den Aufgabenbereich von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dar, denen der Prozess eine Neuorientierung ihres Rollenverständnisses abverlangt, sondern wird zu einer politischen und gesellschaftlichen Angelegenheit. »Les mémoires [sont] portées par des agents spécifiques qui défendent dans l’espace public leur vision du passé et l’affrontent à d’autres. La lente inscription de la mémoire des groupes dans la mémoire collective est l’aboutissement de luttes entre des institutions et des acteurs antagonistes.«16
In Abhängigkeit von der konkreten Situation können Aktion und Reaktion zwischen den Handlungsebenen unterschiedlich verteilt sein – die im Übrigen personell nicht zwingend eindeutig voneinander getrennt sein müssen. Dennoch werden Geschichtspolitik und Erinnerungskultur oft wertend gegeneinander abgegrenzt. Erinnerungskultur wird dann als Bottom-Up-Prozess, als ein ideologisch unabhängiger, zivilgesellschaftlicher Umgang mit Geschichte verstanden. Im Gegensatz dazu wird Geschichtspolitik zu einer autoritär verordneten, bisweilen gewaltsam durchgesetzten Homogenisierung von Vergangenheitsbildern.17 In einem demokratischen Gemeinwesen existiert das historische Narrativ aber weder jenseits der Diskussion, noch ist es der alleinige Maßstab. Ganz abgesehen davon, dass auch Politikerinnen und Politiker als Per-
13 S. Macdonald: Memorylands, S. 3. 14 Ebd., S. 4. 15 F. Lenger: Erinnerung im Zeichen der Nation, S. 533. Die kommerzielle Seite des »history booms« betonen außerdem Barbara Korte und Eva Ulrike Pirker, vgl. B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History. Zum Zusammenhang von Sklaverei und Tourismus vgl. Dann, Graham M.S./Seaton, A.V. (Hg.): Slavery, Contested Heritage and Thanatourism, New York, NY/Abingdon: Routledge 2009 [2001] mit Fallbeispielen aus Westafrika, der Karibik, den USA und Europa; außerdem Tibbles, Anthony: Museums and the Representation of Slavery. Politics, Memorialisation and Cultural Tourism, Vortrag gehalten beim International Congress of Maritime Museums, Curaçao, Oktober 2001, http://www.liverpool museums.org.uk/ism/resources/representation_slavery_curacao.asp. 16 Dulucq, Sophie/Zytnicki, Colette: »Penser le passé colonial français. Entre perspectives historiographiques et résurgence des mémoires«, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 86/2 (2005), S. 59-69, hier S. 66. 17 Vgl. z.B. J. Assmann: Globalization, Universalism, and the Erosion of Cultural Memory.
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sonen in die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge eingebunden sind, kann Geschichtspolitik nicht nach einem Top-Down-Prinzip funktionieren, ohne soziale Erwartungen zu berücksichtigen. Beiden Ebenen gemeinsam ist der Umstand, dass entsprechendes Engagement oft mit dem Versuch einer gezielten Instrumentalisierung gleichgesetzt wird. In der Tat liegt öffentlichen Vergangenheitsdarstellungen in der Regel eine ausgeprägte Intentionalität zugrunde. Es muss deswegen aber nicht in jedem Fall von einem bewusst manipulativen Einsatz der Geschichte ausgegangen werden. Der Grad, in dem einzelne Akteurinnen und Akteure von einer vertretenen Geschichtsinterpretation persönlich überzeugt sind, variiert. Dies gilt für Parteipolitiker/ -innen ebenso wie für andere »agents of memory«18, die in der neueren Forschung oft als »memory entrepreneurs« bezeichnet werden.19 Die neue Aufmerksamkeit für die Geschichte der Sklaverei ist also kein Einzelfall, sondern ordnet sich in eine größere Entwicklung ein, die gewisse Grundsteine bereits neu gelegt hatte. Auch im hier interessierenden Fall ist der geschichtspolitische Aufwärtstrend mit der Aktivität entsprechender pressure groups verbunden. Doch das Interesse an einem geschichtspolitischen Wandel ist nicht nur bei Akteurinnen und Akteuren zu suchen, die offiziellen Handlungsdruck erzeugen wollen. Es geht immer auch um Eigeninteressen, welche die Regierenden und die politische und intellektuelle Elite mit dem Aufgreifen und der Ausgestaltung eines historischen Themas verbinden; diese Motivationsebene verstärkt oder begrenzt die Erfolgsaussichten zivilgesellschaftlicher Impulse. Und wie Renaud Hourcade in seiner Arbeit zu den ehemaligen Sklavenhandelshäfen Bordeaux, Nantes und Liverpool richtig feststellt20, bedeutet eine verstärkte öffentliche Präsenz des Themas Sklaverei nicht, dass die besagten Interessenverbände damit zugleich die von ihnen vertretenen Ansichten und Ziele durchgesetzt hätten. Vielmehr ist die öffentliche Präsentation der Vergangenheit unweigerlich durch einen inhaltlichen Filter geprägt, der bis zu einem gewissen Grad den politischen und sozialen Macht- und Mehrheitsverhältnissen entspricht. Die Öffnung eines historischen Narrativs für bislang marginalisierte Aspekte sowie Protagonistinnen und Protagonisten sollte daher nicht voreilig als Einlösung eines Emanzipationsversprechens gewertet werden. Bei näherer Betrachtung können sich entsprechende Anpassungen auch als oberflächliche Justierungen zur grundsätzlichen Absicherung politisch dominanter Perspektiven entpuppen. Prägend für die Kontroversen um die Konstruktion des historischen Narrativs ist aber nicht nur das Verhältnis der an der Aushandlung beteiligten geschichtspolitischen Kräfte. Diese Art der Agency findet in der neuesten Erforschung historischer Erinnerung zunehmend Beachtung.21 Eine wesentliche Rolle spielen auch die Ausgangssituation in Form der national gerahmten Geschichte, über deren Umgestaltung verhandelt 18 Borodziej, Wołdziemierz: »Geschichtspolitik und ›Konkurrenz der Opfer‹«, in: Etienne François u.a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 159-168, hier S. 159. 19 Vgl. Torpey, John C.: »Politics and the Past«, in: Ders. (Hg.), Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2003, S. 1-35. 20 R. Hourcade: Ports négriers. 21 Neben Rothermund vgl. z.B. Sierp, Aline/Wüstenberg, Jenny: »Linking the Local and the Transnational. Re-thinking Memory Politics in Europe«, in: Journal of Contemporary European Studies 23/3 (2015), S. 321-329.
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wird, sowie vorgeprägte Motive ihrer Vergegenwärtigung. Ohne Geschichte keine Erinnerung – dies gilt zuerst und zunächst im Hinblick auf die Vergangenheit als das in Form von Geschichte zu Erinnernde. »Die kollektive Erinnerung, die in verschiedener Intensität von allen handelnden Personen geteilt wird, ist stets von der Geschichte ›kontaminiert‹. Die informierte Rückschau beeinflusst die Erinnerung.«22 Relevant ist aber auch die zwischen Ereignis und Rückschau liegende Geschichte der historischen Erinnerung als solcher. »Wie jede soziale Praxis ist auch geschichtspolitische Agency nicht rein voluntaristischer Natur, sondern vollzieht sich innerhalb gesellschaftlicher Strukturrahmen, die gemeinhin als ›Erinnerungskulturen‹ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um gemeinsame historische Bezugssysteme wie Nationalstaaten, politisch-ideologische Gruppierungen oder Sprach- und Religionsgemeinschaften.«23
Auch diese sind Produkte einer historischen Entwicklung. Die zentralen Fragen beziehen sich mithin auf einen Bereich, in dem Politik und Geschichte sich mehrfach und mehrdimensional überschneiden und in wechselseitigem Bezug gestaltet werden. Der »Agent« Geschichte ist den eigentlich Agierenden dabei immer mindestens einen Schritt voraus: Er hat seine Wirkmächtigkeit bereits ausgeübt, bevor der Gedanke zum geschichtspolitischen Handeln überhaupt gefasst wurde, der sich unter den historisch und erinnerungskulturell vorgegebenen Bedingungen formiert. Nicht zuletzt an dieser Stelle kommt die nationale Spezifik zum Tragen. Die geschichtliche Bedeutung des rassistischen Systems der Kolonialsklaverei war in beiden Untersuchungsländern vergleichbar, wenn nicht gar in ihrem konfliktuellen Kern die gleiche. Dennoch vollzog sich die Konfrontation mit dem Thema in Politik und Öffentlichkeit unter jeweils eigenen Voraussetzungen – politischen und erinnerungskulturellen, aber eben auch historischen. Zwar stellt die Vergangenheit im geschichtspolitischen Kontext allenfalls eine Art Steinbruch dar, der das »Rohmaterial« für die eigentlich entscheidende Narrativierung liefert. Dabei werden die Elemente nach sich wandelnden Interessen zusammengefügt – sie lassen sich jedoch nicht beliebig erfinden. Welche Themen überhaupt prominent zur Sprache kommen, hängt immer auch vom Material ab, das die Geschichte – und das heißt bislang vor allem: die nationale Geschichte – zur Verfügung stellt. Auch wenn die Geschichte den aktuellen Bedürfnissen untergeordnet wird, bleibt die prinzipiell unabhängige Vergangenheit ihr vorgeordnet und macht spezifische Vorgaben, an denen die Narrationsbildung nicht einfach vorbeigeführt werden kannt. Das, was heute in Geschichtsdebatten diskutiert wird, ist das in der Regel unreflektierte Ergebnis einer Reihe von Vorbestimmtheiten; auf diese Weise erlangt Geschichte eine buchstäblich fundamentale Wirkmächtigkeit in der Erinnerung – die ausgerechnet im Hinblick auf ihre eigene Historizität ein eher kurzes Gedächtnis beweist. Die unvermeidliche Dialektik von Erinnern und Vergessen hat Aleida Assmann in Bezug auf die öffentliche (Re-)Präsentation von Geschichte über die Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis beschrieben. Das Funktionsgedächtnis umfasst dabei die Teile des potentiell verfügbaren historischen Wissensbestands, die sich
22 D. Rothermund: Erinnerung und Handlungskompetenz, S. 11, eigene Hervorhebung. 23 S. Troebst: Geschichtspolitik (Docupedia).
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in aktiver Verwendung befinden. Folgt man Assmanns Darstellung, so geht es in Bezug auf die Geschichte der Sklaverei in den britischen und französischen Kolonien um eine Phase des Übergangs zwischen zwei Gedächtnisebenen. Eine Veränderung in der Selektion der für die kollektive Sinnstiftung zu einem bestimmten Zeitpunkt in Frage kommenden Inhalte erfolgt, »wenn bestimmte Elemente der im Speichergedächtnis sedimentierten Überlieferungsbestände auf neue Weise vom Bewusstsein der Gegenwart angestrahlt werden, wobei sich umgekehrt die Gedanken der Gegenwart mithilfe bestimmter erhaltener Bestände formieren.«24 Dies wirft die Frage nach dem Grund für die Neuausrichtung des metaphorischen Suchscheinwerfers der Gegenwart auf, in dessen Radius sich Vergangenheit zu Geschichte formiert. Allerdings wirken sich auch die Struktur des Speichers und der bislang aus seinen Beständen zusammengesetzten Überlieferung aus. Die von der Vergangenheit verfügbaren Elemente lassen sich der angestrebten Narrativbildung mehr oder weniger leicht gefügig machen und legen im Zusammenspiel mit der allgemeinen historischen und politischen Kultur gewisse Deutungen und Verwendungsmöglichkeiten der Geschichte näher als andere. In der oft quasi intuitiv erfolgenden Orientierung an vertrauten Wegen durch die nationale Erinnerungslandschaft zeigt sich eine Art historische »Pfadabhängigkeit«. Bereits verbreitete Formen ihrer Tradierung können zudem einem bestimmten geschichtspolitischen Interesse zugänglicher sein als einem anderen. Ein besonderes Potential muss in einem synergetischen Zusammentreffen von aktuellen Zielsetzungen und bisher im nationalen Narrativ verarbeiteten Ereignissen, Akteuren und Sinnbotschaften vermutet werden. Eine solche Konvergenz verstärkt geschichtspolitische Gestaltungsmacht, die in anderen Fällen auf schwerer wiegende Widersprüche und Widerstände im konkreten wie im übertragenen Sinne stößt. Im späten 20. Jahrhundert wurde die Erinnerungskultur vieler Länder von einer beachtlichen Dynamik erfasst, der gemeinhin als Umbruch interpretiert wird. Der Hauptstrang der Entwicklung verläuft zum einen von einer elitären in Richtung einer stärker pluralistischen Geschichte. Erstere war (und ist bisweilen) auf vermeintlich »höhere«, das heißt über dem einzelnen Menschen angesiedelte Zwecke geeicht, die oftmals nationalistisch aufgeladen sind. In letzterer spielen die Welterfahrungen unterschiedlicher sozialer Gruppen zwar nicht die gleiche, aber der Tendenz nach eine gleichermaßen berechtigte Rolle. Zum anderen verschiebt sich im Zusammenhang hiermit der Fokus der Gedenkkultur von Heldenfiguren auf Opfergruppen. Das Rampenlicht der Erinnerung fällt nun auch auf diejenigen, die Leidtragende und Verlierer/ -innen der makrohistorischen Entwicklungen waren. »Nie zuvor […] nahmen Menschengruppen, die Unrecht erlitten haben, eine derart wichtige Stellung in der europäischen Gesellschaft ein wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.«25 Umgekehrt wird die Ausübung von physischer Gewalt zugunsten eines politischen Ziels, die innerhalb eines nationalistisch und militaristisch geprägten Rahmens glorifiziert wurde, zu einem Problem für die Erinnerung. Constantin Goschler hat einen »Verlust der Bereitschaft, Gewalt durch ›höhere Zwecke‹ zu rechtfertigen« diagnostiziert, die im Kalten Krieg diesseits wie jenseits der ideologischen Grenze Konjunktur hatte.26
24 A. Assmann: Schatten der Vergangenheit, S. 55. 25 W. Borodziej: Geschichtspolitik und Konkurrenz der Opfer, S. 159. 26 Ebd., S. 161.
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Martin Sabrow erkennt hier »eine tiefgreifende Verschiebung unseres Verständnisses von Vergangenheit, die weit mehr darstellt als ein modischer und womöglich bald vergänglicher memory boom.«27 Vielmehr sind »wir« Teil einer postheroischen Gedächtnisgesellschaft geworden, laut Herfried Münkler handelt es sich sogar um eine postheroische Gesellschaft tout court. »Der Eintritt in das postheroische Erinnerungszeitalter ist […] nicht zu trennen von der Ablösung exklusiver Kollektivsubjekte wie Reich, Volk, Klasse oder Nation durch inklusive Kollektivwerte wie Freiheit, Recht, Partizipation und Pluralität, deren Geltungskraft grundsätzlich universal angelegt ist.«28 Der Opferbegriff erfährt in diesem Zusammenhang einen Wandel seiner vornehmlichen Bedeutung: Essentiell gedenkwürdig ist nicht (mehr nur) die Tat, das Erbringen eines Opfers, sondern (insbesondere) das Erleiden einer gewalthaften Tat, der Mensch im Status des Opfers; »des morts pour la France aux morts à cause de la France«, wie der französische Historiker Serge Barcellini es formulierte.29 Damit treten auch die Kategorien von Täter und Trauma in den Diskurs ein. Als maßgeblicher Auslöser für den Wandel werden gemeinhin der Zweite Weltkrieg und vor allem der Holocaust betrachtet. Das massenhafte Töten wurde bereits von vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als auf so fundamentale Weise erschütternd wahrgenommen, dass der zuvor übliche Rahmen für den Umgang mit Schuld und Niederlage nicht mehr zu passen schien. Ausschlaggebend waren nicht nur das Ausmaß und die systematische Organisation des Völkermords, sondern auch seine rassistische Logik, die sich gegen den als »jüdisch« qualifizierten Menschen als solchen richtete. Vor allem das Verhältnis der Deutschen zu »ihrer« Geschichte wurde in den Jahrzehnten nach 1945 sukzessive neu geprägt. Die intellektuelle und politische Verarbeitung des Geschehenen führte mittelfristig aber zu einer weiter ausgreifenden Veränderung historischer Bewertungsmaßstäbe, die Aleida Assmann als »tiefgreifende moralische und kognitive Wende im Lichte dieses Ereignisses« bezeichnet, »das uns frühere Gewaltexzesse neu wahrzunehmen und vor allem auch solche Ereignisse zu beschreiben und zu beurteilen erlaubt, für die es bislang noch keine Sprache und öffentliche Aufmerksamkeit gab.«30 Zugleich brachte die Entwicklung eine Tendenz mit sich, die Beschreibung historischer Gewaltereignisse in die vom Holocaust-Gedenken geprägte Sprache zu übersetzen, um sie politisch artikulierbar zu machen. So wurde der Status des Opfers von Schamhaftigkeit befreit und unter bestimmten Umständen erstrebenswert. Tzvetan Todorov hat in seinem Buch »Les abus de la mémoire« Auswüchse des allgemeinen Trends kritisiert, vor allem eine aktive Konkurrenz um den 27 Sabrow, Martin: »Die postheroische Gedächtnisgesellschaft. Bauformen des historischen Erzählens in der Gegenwart«, in: Etienne François u.a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 311-322, hier S. 312. 28 Ebd., S. 317. 29 Barcellini, Serge: »L’État républicain, acteur de mémoire. Des morts pour la France aux morts à cause de la France«, in: Pascal Blanchard/Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 209-219. Exemplarisch ist der Fall der Krigesmeuterei von 1917; inzwischen werden die kriegsmüden Soldaten, die standrechtlich erschossen wurden, als Opfer der Republik und ihre Haltung als legitim gewürdigt. 30 A. Assmann: Schatten der Vergangenheit, S. 16.
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Status des ultimativen historischen Opfers, die durch den inhärenten Drang zur Überzeichnung historisch verzerrend, vor allem aber sozial spaltend wirken muss.31 Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend, die Auseinandersetzungen um den Sklavenhandel in die akademischen und politischen Debatten einzuordnen, die geprägt sind von den »new concepts such as ›trauma‹, ›victim‹, and survivor, which frame our constructions of memory within a new political and ethical discourse.«32 Tatsächlich wird die Debatte um die »Konkurrenz der Opfer« in diesem Zusammenhang bisweilen besonders heftig geführt.33 Jedoch lässt sich das Schema auf die Erinnerung an koloniale Geschichte nur bedingt sinnvoll anwenden. Gerade die Größe Agency hat für die Konstruktion der typischen Opferfigur kaum eine messbare Relevanz; die historische Handlungsmacht wird hier nahezu ganz auf der Täterseite verortet, im Zentrum der Erinnerung steht das menschliche Leiden und Sterben als solches. Mit einem solchen Denkansatz lassen sich die Konflikte um die Geschichte der Sklaverei in ihrer eigentlichen Spezifik nicht deuten. »In postcolonial discourse, we are dealing not with perpetrators and victims but with colonizers and colonized, the latter also qualifying as victims.«34 Freilich nimmt im kolonialen Kontext der »Sklave« eine Position ein, die dieser Qualifikation sehr nahe kommt.35 Dennoch war das System für die Versklavten eine Alltags- und permanente Extremsituation zugleich, der sie zum Teil ein Leben lang unterworfen waren und die entsprechende Arrangements mit dem Inakzeptablen ein- oder Widerstand herausforderte. Über einen derart langen Zeitraum ist die eindimensionale Deutung der komplexen historischen Erfahrung durch die Linse des passiven Opfer-Status schwer aufrechtzuerhalten. Anders als kriegerische Konflikte oder Massaker können Sklaverei und Sklavenhandel zudem nicht als Ereignisse betrachtet werden. Der transatlantische Sklavenhandel bildete über Jahrhunderte hinweg das Schlüsselelement in einem kolonial strukturierten Wirtschaftssystem, das drei Kontinente miteinander verband und einen Grundstein für die Beziehungen (West-)Europas zu Afrika, der Karibik und Amerika legte. Die Kontinuität erstreckt sich unter anderem über die Zeit des Umbruchs, die als epochale Zäsur zwischen früher und später Neuzeit definiert wurde. In ihrer voll ausgeprägten Form war die Sklaverei nicht nur in das ökonomische, sondern auch in das 31 T. Todorov: Les abus de la mémoire. 32 A. Assmann: How History Takes Place, S. 161. 33 Vgl. hierzu z.B. Larcher, Silyane: »Les errances de la mémoire de l’esclavage colonial et la démocratie française aujourd’hui«, in: Cités 25 (2006), S. 153-163 und die Gegenposition von Korzilius, Sven: »Erinnerungsforderungen von descendants d’esclaves. Berechtigtes Anliegen oder Missbrauch der Geschichte?«, in: Dietmar Hüser (Hg.), Frankreichs Empire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert, in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 217-250. 34 A. Assmann: How History Takes Place, S. 161. 35 Zudem muss an dieser Stelle aber auch hinzugefügt werden, dass das Abschlussdokument der Weltkonferenz der Vereinten Nationen zu Rassismus, Xenophobie und Intoleranz erklärt: »Africans and people of African descent, and people of Asian descent and indigenous peoples were victims of colonialism and continue to be victims of its consequences.« Vgl. hierzu auch das Kapitel Sklaverei und Kolonialismus als Herausforderung der historischen Kultur.
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juristische, religiöse und philosophische Denken des die »Moderne« begründenden 18. und 19. Jahrhunderts eingebettet – wenn auch nicht widerspruchsfrei.36 Ihre Etablierung und ihr Bestand wurden politisch, militärisch und ideologisch abgesichert. Der transatlantische Sklavenhandel liegt somit parallel oder quer zu vielen großen Entwicklungslinien, die man in der europäischen Geschichte zu erblicken gewohnt ist. Diese müsste einer mehr oder weniger tiefgreifenden Umformulierung unterzogen werden, um das Thema Sklaverei zu voller Geltung kommen zu lassen. In ihrer Funktion als Stifterin eines kollektiven Zusammenhalts ist Geschichte stets Mythos und nicht allein auf das angewiesen, was als historisch belegte Tatsache betrachtet werden kann. Dennoch ist diese Geschichte keine bloße Erfindung. »Most national myths in fact go well beyond this in appealing to some well known events and personalities for which there is reasonable historical evidence […]. National myths are, to that extent, historical.«37 Gerade die offizielle Geschichtspolitik in liberal-demokratisch verfassten Staaten steht dem Eigen- und Fremdanspruch nach in einer gewissen Verpflichtung. Eine kritische Öffentlichkeit und eine unabhängige historische Wissenschaft können hier als Korrektiv wirken. Zwar ist auch die Historiographie auf Prozesse der Plot-Bildung, auf narrative Strukturen angewiesen. »Myth and history cannot therefore be rigidly separated: the one fanciful, the other real. They are however different in what they do, what their aim or effect is.«38 Dies betrifft vor allem die Rolle, die eine empirisch-kritische Rekonstruktion der Vergangenheit spielt. »Entscheidend für eine mythisch erzählte Geschichte ist, dass sie nicht durch rationale oder empirische Beweise zu überzeugen sucht, sondern an die Emotionen der Menschen appelliert und unter ihnen den Glauben an die Wahrheit des Erzählten erwecken will.«39 Es wäre naiv, in politischen Reden oder Museumsvitrinen nach einem Abbild der historischen »Realität« zu suchen. Außer Frage steht allerdings ebenfalls, dass eine bestimmte öffentliche Darstellung von Geschichte selten »unschuldig« oder folgenlos ist. Erinnerung kann und sollte daher auf ihr Verhältnis zu wissenschaftlich etablierten Narrativen befragt werden – die freilich ihrerseits nicht über ihre Einbindung in den gesellschaftlichen Kontext erhaben sind. »Die Geschichte wird im Prozess ihrer Mythologisierung aus ihrem unmittelbaren zeitgebundenen Kontext herausgelöst und auf eine überzeitliche Ebene gehoben; ihre 36 Problematische Widersprüche traten insbesondere dann zutage, wenn die Rechte von Personen, auf die eine andere Person Besitzansprüche erhob, vor Gerichten in den Kolonialmetropolen verhandelt wurden und sich nationaler und kolonialer Rechtsraum überschnitten. Ein bekanntes Beispiel ist der »Somersett Case«, der zum »Mansfield Judgment« führte, welches die freie Verfügungsgewalt über die Versklavten auf dem Boden der britischen Metropole einschränkte; anschaulich beschrieben bei Hochschild, Adam: Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf für die Abschaffung der Sklaverei, Stuttgart: Klett-Cotta 2007, S. 66 ff. Vgl. auch die detaillierte Studie von Peabody, Sue: »There Are No Slaves in France«. The Political Culture of Race and Slavery in the Ancien Régime, Oxford: Oxford University Press 1996. 37 Kumar, Krishan: »1066 and All That. Myths of the English«, in: Gérard Bouchard (Hg.), National Myths. Constructed Pasts, Contested Presents, Abingdon/New York, NY: Routledge 2013, S. 94-109, hier S. 94. 38 Ebd., S. 95. 39 M. Waechter: Mythos.
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Protagonisten werden mit transzendentalen Attributen versehen. Charakteristisch für mythologisierte Geschichten ist, dass sie sich zumeist in zentrale, sinnlich erfahrbare Symbole und Rituale verdichten lassen, die den gesamten Komplex des durch den Mythos Auszudrückenden wachrufen.« 40 Die Auswahl von historischen Informationen und mehr noch ihre Einordnung in Sinnzusammenhänge richtet sich zwar nach den sich wandelnden Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart; die hohe Konzentration macht das Gefüge aber auch schwerfällig. So besteht stets eine Spannung zwischen einem inhärent konservativen Element und den auf Veränderung drängenden Kräften, und der Einfluss und die Beharrlichkeit einer einmal etablierten Erzähltradition sollten nicht unterschätzt werden. Die Aufnahme eines neuen Themas muss zudem nicht unbedingt eine radikale Revision des Bedeutungsgehaltes nach sich ziehen. Erinnerungskulturelle Konflikte entstehen nicht dadurch, dass eine »vergessene« Geschichte aufgedeckt und wieder erinnert wird, sondern dadurch, dass diese Erinnerung ihren Platz und ihre Orte in einem Raum finden muss, der bereits mit anderen Geschichten verbunden ist. Zu besonders scharfen Konflikten muss dabei die Kollision unterschiedlicher Bedeutungen und Narrative an einem Erinnerungsort führen. Dan Diner beschreibt diese Situation anhand des »8. Mai«, mit dem in Europa eine Geschichte der Befreiung von einer aggressiven Diktatur und einem kontinentalen Kriegszustand verbunden wird. Die öffentlichen Kundgebungen allerdings, zu denen sich Teile der muslimischen Bevölkerung im französischen Algerien an diesem Tag zusammenfanden, wurden von der Kolonialmacht an einigen Orten unter Blutvergießen zerschlagen. In der kolonialen Erinnerung steht der »8. Mai« daher vor allem für die Massaker von Sétif und Guelma. Das jeweils zentrale Motiv – »Freiheit« auf der einen, »Unterdrückung« auf der anderen Seite – weist dabei deutlich über den konkreten historischen Moment hinaus. Die Bedeutung des anderen »8. Mai« ist der vorherrschenden Geschichtsinterpretation diametral entgegengesetzt und fordert sie offen heraus. 41 Im postkolonialen Kontext kommt die unvollendete Emanzipation der Gegenwart von ihrer Vergangenheit erschwerend hinzu: Auch wenn sich die sozialen Bedingungen und Ausdrucksformen gewandelt haben, wirkt der Hautfarbenrassismus, der in den Plantagenkolonien zum Prinzip der sozioökonomischen Organisation erhoben wurde, bis heute nach. Es geht also nicht nur darum, die Geschichte der »anderen« zu erzählen, sondern auch darum, in der Konsequenz die »eigene« Geschichte und die Gegenwart anders zu schreiben und zu lesen. Die Diskussion um historische Handlungsmacht ist nicht zufällig ein zentrales Interesse in den Subaltern Studies und den Postcolonial Studies, deren Vertreter/-innen hegemoniale Narrative in Frage stellen und »from the bottom up« umschreiben wollen, indem sie den historischen Subjektstatus und die potentiell wirkmächtigen Handlungs-
40 Ebd. 41 D. Diner: Gegenläufige Gedächtnisse, S. 64 ff. Michel-Rolph Trouillot führt seinerseits das Beispiel des Palastes Sans-Souci auf Haiti an, an dem sich mehrere Schichten der haitianischen Vergangenheit bündeln, wobei das Freiheitsnarrativ ebenfalls eine Geschichte der Unterdrückung und ihre Akteurinnen und Akteure verdeckt. M.-R. Trouillot: Silencing the Past, S. 31 ff.
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möglichkeiten von Angehörigen sozial und politisch marginalisierter Gruppen herausarbeiten.42 Auch in der Sklaverei- und der historischen Afrika-Forschung spielt das Konzept in expliziter oder impliziter Form eine Schüsselrolle, auch hier ergab sich diese aus einer liberalen und emanzipatorisch gedachten Stoßrichtung. »As helplessness, simplicity and victimisation rank among the most pervasive of [racist] stereotypes [...] historians and others have understandably been drawn to emphasise how Africans act in the world in profound and varied ways, glossing those actions as ›agency‹. Thus, at a very fundamental level, abiding geopolitical and racial politics of representations have steered historians of Africa towards agency as an argument and encouraged them not to let go.«43
Nicht zuletzt der afrikanische Beitrag zu einer universell bedeutsamen Geschichte steht vor diesem Hintergrund zur Debatte. Die Lesart richtet sich also auch gegen die rassistischen Vorurteile, aus denen die gewaltsame Entrechtung einen Teil ihrer Legitimation bezog: Die afrikanischen Sklavinnen und Sklaven wurden aufgrund ihres vermeintlich verminderten menschlichen Potentials als Objekte wie Subjekte moralischer Agency marginalisiert; das System der Sklaverei negierte ihre Mit-Menschlichkeit. »The stress on Black agency balances necessary attention to racism and racists, in which people of color can all too often seem merely ›victims,‹ and objects, either of popular racism or of institutional processes such as slavery or state coercion.«44 Problematisiert wurde die Rolle der Frage nach Handlungsmacht in der SklavereiGeschichte von Walter Johnson. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die Tendenz, das selbstbewusste Mensch-Sein der Versklavten mit der liberalen Idee der persönlichen Wahlfreiheit und in einer verlängerten Perspektive mit einem sehr weiten Verständnis von Widerstand zu verbinden. »The point is not to question the importance of bottom-up histories but rather to suggest that students and scholars alike should refocus their attention on the material conditions and determinations of ›agency‹.«45 In seinen Augen ist die Definition des verwendeten Agency-Begriffs weder historisch angemessen noch im Sinne einer kritisch engagierten Geisteswissenschaft politisch zweckmäßig: »That definition is […] saturated with the categories of nineteenth-century liberalism, a set of terms which were themselves worked out in self-conscious philosophical opposition to the condition of slavery.«46 Johnson sieht in dem Begriff und seiner Anwendung also selbst das historische Produkt der positivistischen Idee des Liberalismus als Humanismus, die Deutungen von Geschichte und Gegenwart bis heute strukturiert – und dabei spezifische blinde Flecken verursacht. 42 Als eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser Strömung kann die aus Indien stammende Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak gelten. 43 Thomas, Lynn M.: »Historicising Agency«, in: Gender & History 28/2 (2016), S. 324-339, hier S. 328. 44 Tabili, Laura: »Race is a Relationship, and Not a Thing«, in: Journal of Social History 37/1 (2003), S. 125-130, hier S. 127. 45 Johnson, Walter: »Agency. A Ghost Story«, in: Ders./Eric Foner/Richard Follett, Slavery’s Ghost. The Problem of Freedom in the Age of Emancipation, Baltimore, MD: John Hopkins University Press 2011, S. 8-30, hier S. 8. 46 Johnson, Walter: »On Agency«, in: Journal of Social History 37/1 (2003), S. 113-124, hier S. 115.
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»[T]he term ›agency‹ smuggles a notion of the universality of a liberal notion of selfhood, with its emphasis on independence and choice, right into the middle of a conversation about slavery […]. [Historians] have […] ended up with what is more-or-less a rational choice model of human being, and shoved to the side in the process a consideration of human-ness lived outside the conventions of liberal agency, a consideration, that is, of the condition of enslaved humanity«.47
Eine Fachkollegin des amerikanischen Historikers nahm den Anstoß zur Diskussion auf und interpretierte den Beitrag folgendermaßen: »Johnson urges us to be cognizant that the word ›agency‹ […] makes it difficult to consider the extent of choicelessness, the nature of the constraints, faced by those who live outside of modern, liberal conventions and structures of power. […] [W]e need to be explicit about the theories of power relations that inform our analyses.«48
An dieser Stelle knüpft Cornelia Hughes Dayton an einen einflussreichen Aufsatz von Joan W. Scott an, die das Problem bereits 1991 auf die Frage zuspitzte: »How have categories of representation and analysis – such as class, race, gender, relations of production, biology, identity, subjectivity, agency, experience, even culture – achieved their foundational status? What have been the effects of their articulations? [...] What is the relationship between the salience of such categories in our own time and their existence in the past?«49
Andere scheinbar selbstverständliche Kategorien, etwa die der Nation oder der Freiheit, ließen sich hinzufügen. Auf den hier interessierenden Zusammenhang der Geschichtspolitik angewandt, tut sich damit ein weiteres interessantes Spannungsfeld auf. Gibt es Möglichkeiten, »Sklaverei« außerhalb der auf Akteursmacht ausgerichteten Binärschemata von Opfer und Täter, Freiheit und Unterdrückung zu erinnern? Mit anderen Worten, lässt sich die Masse der für die Nachwelt anonymen Sklavinnen und Sklaven, deren Leben und Arbeiten jenseits des für andere Menschen generierten Wohlstands kaum historische Spuren hinterlassen hat, in ein sinnstiftendes Narrativ einbinden – und wird dieser Versuch überhaupt unternommen? Der Umstand, dass der Agency-Begriff die Schnittflächen des historischen und des aktuellen Konfliktfelds gut begreif- und beschreibbar macht, sollte also nicht dazu führen, die in ihm angelegten Grenzen zu verkennen. Diese sind jedoch zugleich aufschlussreich im Hinblick auf die Voraus-Setzungen des aktuellen historischen Standpunkts, die den Horizont der Kontroversen um die Geschichte sowie um das politische und nationale Selbstverständnis begrenzen: Die Frage nach der Verteilung von Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit kommt nicht ohne eine Abgrenzung von Akteursgruppen aus. So reproduziert Auseinandersetzung mit und um »Black Agency« unweigerlich die zentrale Setzung, an der sich die Geschichtsdebatten orientierten, und die daher mit einer gewissen Notwendigkeit auch der Analyse zugrunde 47 Ebd. 48 Hughes Dayton, Cornelia: »Rethinking Agency, Recovering Voices (AHR Forum)«, in: American Historical Review 109/3 (2004), S. 827-843, hier S. 842 f. 49 Scott, Joan W.: »The Evidence of Experience«, in: Critical Enquiry 17/4 (1991), S. 773-797, hier S. 796.
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liegt: die der Rasse/Ethnizität. In der Folge präsentierten sich die erinnerungskulturellen Konflikte oft als Kampf um Handlungs- und Deutungsmacht zwischen »schwarzen« und »weißen« Akteuren sowie einer entsprechenden Ermächtigung in Geschichte und Gegenwart. Dies macht die Frage nach denkbaren Alternativen umso relevanter.
II Konflikterinnerung und Erinnerungskonflikt
Die umstrittene Geschichte
DER HISTORISCHE KONFLIKT: DIE KOLONIALE SKLAVEREI Formen der unfreien Arbeit, der ökonomischen Ausbeutung und der sozialen Diskriminierung existierten und existieren in großer Zahl und in sehr unterschiedlichen Kontexten. Sinnvoll lässt sich die Frage nach der erinnerungskulturellen Verarbeitung der kolonialen Sklaverei daher nur stellen, wenn zunächst die historischen Konturen des Erinnerungsgegenstands eine gewisse Klärung finden. Folgende Aspekte zeichnen die hier interessierende Form der Sklaverei im Kern aus: - Sklaverei und Sklavenhandel. Mit der kolonialen Sklaverei untrennbar verbunden ist der Sklavenhandel, der überwiegend auf dem Seeweg über den Atlantik betrieben wurde. In den meisten karibischen Plantagenkolonien forderten die Existenz- und Arbeitsbedingungen so viele Menschenleben und schränkten die Fertilität der ihnen unterworfenen Personen so stark ein, dass die Zahl der Sklavinnen und Sklaven sich nicht auf dem natürlichen Weg aufrechterhalten oder erhöhen ließ.1 Einer unmenschlichen, aber ökonomisch sinnvollen Logik folgend, suchten die Plantagenbesitzer die Lösung für dieses Problem im Import neuer Arbeitskraft aus Afrika. »The relative cheapness, with which new captives could be bought from the slave merchants and the great value of slave produce […] gave a terrible commercial logic of using up the lives of the slaves in a few years of intense labour.«2 Auf das nordamerikanische Festland traf dies in einem deutlich geringeren Maße zu. »The vast majority of the 10.5–12.5 million 1
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In der Karibik betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines versklavten Menschen nach der Landung lediglich sieben Jahre. Diese statistische Größe geht zum Teil auf die Arbeitsanstrengung und direkte Gewaltausübung zurück. Die Folgen des langen Transports und vor allem Krankheiten führten aber auch dazu, dass viele Afrikanerinnen und Afrikaner bereits die ersten Monate in der für sie neuen Welt nicht überlebten. Zudem war die Ernährungssituation der Sklavinnen und Sklaven problematisch, da ein Maximum der begrenzt verfügbaren Anbauflächen für die Exportproduktion genutzt wurde. Die allgemein schlechten Lebensumstände resultierten in geringer Fertilität in einer Bevölkerungsgruppe, die deutlich mehr Männer als Frauen umfasste. Der vom subtropischen Klima geprägte Bundesstaat South Carolina bildete dabei in verschiedenen Hinsichten eine Art Übergangszone zwischen der karibischen und der nordamerikanischen Sklaverei mit ihren unterschiedlichen Bedingungen. Blackburn, Robin: The Overthrow of Colonial Slavery, 1776-1848, Nachdr., London: Verso 2000 [1988].
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slaves brought to the Western hemisphere between c. 1500 and the late nineteenth century worked either in the cane fields themselves or in sugar producing areas«, etwa 40% in einer der karibischen Inselkolonien.3 Auch wenn afrikanische Sklavinnen und Sklaven in Großbritannien und Frankreich keine absoluten Ausnahmeerscheinungen waren, setzten die meisten von ihnen nie einen Fuß auf europäischen Boden. Der von den französischen und britischen Hafenstädten betriebene Sklavenhandel stellt somit nicht nur den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Plantagensystems dar, sondern auch die zentrale Verbindungachse zwischen den Untersuchungsländern und der kolonialen Sklaverei, die in den Metropolen nur über eine sehr beschränkte materielle Präsenz verfügte. Zwar wurde der Sklavenhandel auf der Basis von eigenständigen finanziellen Motiven betrieben. Vergessen werden darf jedoch nicht, dass er letztlich nur ein unterstützendes Element für die überseeische Plantagenproduktion darstellte. Die Begriffe Sklaverei und Sklavenhandel können daher prinzipiell als Synonyme für denselben Gesamtkomplex verwendet werden. - Sklaverei und Rassismus. Mindestens ebenso konstitutiv für die hier interessierende Form der Sklaverei ist die spezifische rassistische Hierarchie, auf der die von ihr geprägten Strukturen und die entsprechenden Legitimationsstrategien aufbauten. Für die Sklavinnen und Sklaven in den Kolonien verschmolzen zwei a priori unabhängige Bedingungen der sozialen Existenz zu einer determinierenden Einheit: In eher unzulänglichen und anachronistischen sowie zudem vorbelasteten Begriffen ausgedrückt, markierte hier die »Rasse« eine »Klasse« in einem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das sich durch den scharfen Gegensatz zwischen dem Großgrundbesitz einer Minderheit und einer Masse entrechteter, besitzloser Arbeiterinnen und Arbeiter auszeichnete. Der juristisch definierte Sklavenstatus war an ein »afrikanisches« Erscheinungsbild gebunden (bzw. bestimmte Aspekte desselben, in erster Linie die dunkle Farbe der Haut). »By 1770 all American slaves were black though not all blacks were slaves.« 4 Diese Konstellation hatte entscheidende Vorteile für die Stabilisierung der »slave society«5 als solcher: Zum einen reproduzierten sich mit der natürlichen Reproduktion der versklavten Menschen auch die Sklavinnen und Sklaven, da der Status in aller Regel von der Mutter an das Kind »vererbt« wurde. Zum anderen waren die Versklavten und ihnen gegenüber privilegierte Personen in den meisten Fällen auf den
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Coclanis, Peter: »The Economics of Slavery«, in: Mark Smith/Robert Paquette (Hg.), Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 489-512, hier S. 493 f. Weitere 38% der über den Atlantik transportierten Sklavinnen und Sklaven nahm Brasilien auf, wo Zuckeranbau und Bergbau wichtige Rollen spielten. R. Blackburn: The Overthrow of Colonial Slavery, S. 18. In der vergleichenden historischen Sklavereiforschung wird oft zwischen »societies with slaves« und »slave societies« unterschieden. Bei ersteren handelt es sich um Gesellschaften, in denen Sklaverei als ein Element der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung existiert. Der zweite Begriff bezeichnet Gesellschaften, in denen die Sklaverei selbst das strukturierende Element der Ordnung darstellt. Der Begriff wurde von dem amerikanischen Althistoriker Moses Finley geprägt, der »slave societies« als historische Seltenheit betrachtete und nur die antiken griechischen und römischen Gesellschaften sowie die neuzeitlichen Plantagenkolonien als solche definierte. Die »slave society« wäre demzufolge eine genuin »westliche« Struktur.
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ersten Blick voneinander unterscheidbar. Das soziale und das rassistische Stigma bestätigten und verstärkten sich somit permanent gegenseitig.6 - Sklaverei und koloniale Ökonomie. Die koloniale Sklaverei, der ihr stetig zuarbeitende Sklavenhandel und der sie stützende Rassismus waren also im Großen und Ganzen Mittel zum Zweck der Aufrechterhaltung einer bestimmten Wirtschaftsform: Die versklavten Afrikaner/-innen wurden auf ihre Rolle als Instrumente in der Produktion von Exportgütern reduziert, die in erster Linie für europäische Konsumentinnen und Konsumenten bestimmt waren. Insbesondere die Plantagenwirtschaft der Karibik war ganz auf die expandierende Massenproduktion und die Belieferung internationaler Märkte ausgerichtet. Die zentrale Säule stellte dabei der kapitalintensive, aber sehr profitable Anbau von Zuckerrohr dar, der die Konzentration von Grundbesitz und dessen monokulturelle Nutzung beförderte.7 Der Einsatz von nicht entlohnten afrikanischen Sklavinnen und Sklaven ermöglichte in Westeuropa die Popularisierung von Waren, die vormals als kostspielige Luxusgüter einer kleinen Elite vorbehalten gewesen waren. Dies traf in besonderem Maße, aber keineswegs ausschließlich auf die Staaten zu, die direkt in die Sklavenwirtschaft involviert waren.8 In seiner voll ausgeprägten Form gab das System ein ökonomisches Beziehungsmodell vor, das voneinander weit entfernte Weltregionen integrierend aufeinander bezog, sie dabei aber zugleich funktional und hierarchisch aufteilte. - Sklaverei und (Besitz-)Recht. Auch wenn sie nicht zu allen Zeiten und an allen Orten gleichermaßen konsequent reglementiert war, drückte sich die koloniale Sklaverei im Atlantikraum nicht zuletzt in einem spezifischen Rechtsstatus aus. Vor dem Gesetz der Kolonialmächte waren die Sklavinnen und Sklaven keine Personen, sondern wurden wie Handelswaren, Arbeitstiere, bewegliches Eigentum behandelt. Der Fokus auf juristische Abgrenzung und Sanktionierung erzeugt eine Eindeutigkeit, die wissenschaftlichen Definitionen und Analysen entgegenkommt, der Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Realität aber oft weniger gerecht wird. Denn auch dieser spezielle Begriff von Sklaverei umfasste ein breites Spektrum von menschlichen und strukturellen Bedingungen, das sich eindimensionalen Bestimmungen entzieht. Die sozialen Rollen und wirtschaftlichen Aufgaben, die den Versklavten in den europäischen 6
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Vgl. z.B. Lockley, Timothy: »Race and Slavery«, in: Mark Smith/Robert Paquette (Hg.), Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 336-355. Zum Zuckeranbau vgl. z.B. Davis, David Brion: Inhuman Bondage. The Rise and Fall of Slavery in the New World, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 103 ff.; Meissner, Jochen/Mücke, Ulrich/Weber, Klaus: Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei, Bonn: C.H. Beck Verlag 2008, S. 99 ff. Zum internationalen Handel mit von Sklavinnen und Sklaven produzierten Gütern vgl. ebd., S. 77 ff. Zum Zusammenhang von Sklaverei und westeuropäischer Konsumkultur vgl. v.a. die Arbeiten von James Walvin, z.B. Walvin, James: »Slavery, Mass Consumption and the Dynamics of the Atlantic World. An Overview«, in: Robert J. Blyth/Douglas Hamilton (Hg.), Representing Slavery. Art, Artefacts and Archives in the Collections of the National Maritime Museum, Aldershot: Lund Humphries 2007, S. 16-27. Daneben spielten Reis, Indigo und Baumwolle eine wichtige Rolle für die Sklavenwirtschaft im westatlantischen Raum. Auch die europäischen Bergbauaktivitäten basierten zu einem bedeutenden Teil auf Sklavenarbeit.
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Kolonien aufgezwungen wurden, waren klar begrenzt. Individuelle Erfahrungen wurden aber von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst, neben Ort und Zeit wirkten sich unter anderem Geschlecht, Alter, Aussehen, Ethnizität, Arbeitsumfeld sowie persönliche Fähigkeiten und Beziehungen prägend aus. Trotzdem war der juristische Status aller Versklavten derselbe. Er enthielt den betroffenen Männern, Frauen und Kindern grundlegende Rechte vor, die heute als universelle Menschenrechte betrachtet werden. Sie waren damit der Verfügungsgewalt eines »Besitzers« unterworfen, der den uneingeschränkten Anspruch auf ihre Arbeitsleistung käuflich erworben hatte – und der in seiner juristisch und vor allem faktisch schwach begrenzten Willkür oft weit darüber hinausgriff. Kulturelle und psychische Unterdrückung, die Trennung von Familien, extreme Körperstrafen, Vergewaltigung, Folter und Exekutionen waren kontinuierliche Begleiter der Institution der kolonialen Sklaverei. - Sklaverei und Emanzipation. In direktem Zusammenhang hiermit steht ein weiteres wesentliches Merkmal: Diese oder ähnliche Formen der Sklaverei existieren heute nicht mehr bzw. nur als offiziell illegaler Menschenhandel. Kritik an der Praxis hat es vom Zeitpunkt ihrer Etablierung an gegeben.9 Verstärktes Gewicht in nationalen und internationalen Debatten erreichten entsprechende Argumente aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich vor allem in Großbritannien vermehrt Stimmen gegen die Praxis in den Plantagenkolonien erhoben. Der transatlantische Sklavenhandel mit seinen besonders menschenverachtenden Bedingungen und die offizielle rechtliche Regelung der Sklaverei boten den Kritikerinnen und Kritikern dabei eine besonders offen liegende Angriffsfläche. Mit der Zeit gewann die Ansicht Oberhand, dass die Versklavung von Menschen, ungeachtet der ihnen zugeschriebenen »Rasse«, ein Unrecht darstelle, dass nicht länger akzeptiert und staatlich geschützt werden dürfe. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden der transatlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in den (ehemaligen) europäischen Kolonien des Atlantikraumes abgeschafft, zuletzt 1888 in Brasilien. Indes waren die Arbeiter/-innen damit weder aus ihrer deprivilegierten Position und noch von den Einschränkungen durch fortwirkende rassistische Diskriminierung befreit. »The master he says we are free, but it don’t mean we is white. And it don’t mean we is equal. Just equal for to work and earn our own living and not depend on him for no more meats and clothes«, soll ein ehemaliger Sklave aus Tulsa, Oklahoma die »Freiheit« kommentiert haben.10 Im Hinblick auf das Verhältnis von Großbritannien und Frankreich zu den Plantagenkolonien in Übersee kommt dabei eine weitere Einschränkung zum Tragen:
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Das bekannteste Bespiel eines frühen Kritikers ist der spanische Bischof Bartolomé de Las Casas, der sich bereits im 16. Jahrhundert gegen die Sklaverei als solche aussprach, nachdem er den Einsatz von afrikanischen Sklavinnen und Sklaven in seinen jüngeren Jahren zunächst noch befürwortet hatte, vgl. z.B. Blackburn, Robin: The American Crucible. Slavery, Emancipation and Human Rights, London: Verso 2011, S. 35 ff. 10 George G. King zit. n. Work Projects Administration, District of Columbia: Slave Narratives. A Folk History of Slavery in the United States from Interviews with Former Slaves, typewritten records prepared by the Federal Writers’ Project 1936-1938, assembled by the Library of Congress, Bd. 13: Oklahoma, S. 167, https://www.loc.gov/item/mesn130.
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»Rappelons-le: l’abolition de l’esclavage ne signifia pas la fin du statut colonial, les affranchis devinrent des citoyens colonisés […]. La société coloniale maintint discriminations et dépendance à l’égard de la métropole par de nouvelles politiques de discrimination dans le travail, la privation de l’exercice des droits de vote dans les faits et la perpétuation du racisme colonial. On ne peut donc être surpris que l’événement même de l’émancipation fasse encore débat«.11
»Es wäre falsch, den tiefen moralischen und politischen Bruch zu unterschätzen, den die Abschaffung der Sklaverei als anerkannter Rechtsform überall dort bedeutete, wo sie geschah.«12 Da die Emanzipation die sozialen Strukturen nur sehr unvollständig reformierte, kann es jedoch nicht verwundern, dass die meisten dieser Gesellschaften nicht zur Ruhe kamen; die Problematik zieht sich von der Morant Bay Rebellion 1865 in Jamaika13 bis zu den wiederholten schweren Arbeitskämpfen in den französischen DOM. »The troubles that occurred in Guadeloupe, Martinique, French Guiana, and La Réunion in early 2009 – strikes, street demonstrations against economic structures – have proved how the problems raised in 1848 were still alive to the surprise and perplexity of observers and politicians.«14 Insbesondere mit Blick auf Afrika bedarf die Entwicklung hin zur Emanzipation zudem einer globalgeschichtlichen Rahmung. Jürgen Osterhammel schreibt: »In den 1880er Jahren ist ein Zenith der Freiheit in der Geschichte des atlantischen Westens erreicht, den nur eine Betrachtung erfasst, die sich nicht mit europäischer Verfassungsgeschichte bescheidet. Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bedeuten einen kurzen Augenblick des Aufatmens, das Aufleuchten einer Utopie allgemeiner Bürgerrechte, einen Höhepunkt der Entspannung im Verhältnis der Rassen zueinander. Der Augenblick verflog, denn noch in demselben Jahrzehnt setzten sich Gegentendenzen durch. In jenen Jahren begann die koloniale Invasion
11 Vergès, Françoise: Abolir l’esclavage, une utopie coloniale. Les ambiguïtés d’une politique humanitaire, Paris: Albin Michel 2001, S. 14, Hervorhebungen im Original. Das Zitat bezieht sich auf die französische Kolonialpolitik, es lässt sich aber auch auf die britische anwenden. Zu beachten ist der Unterschied, dass das allgemeine Wahlrecht für Männer in den britischen Plantagenkolonien nicht mit der Emanzipationsgesetzgebung eingeführt wurde, sondern deutlich später. In Jamaika etwa hatte die politische Diskriminierung, nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich bis 1944 Bestand. Zur Debatte um die Folgen der Emanzipation vgl. z.B. das Sonderheft von Slavery & Abolition 21/2 (2000): After Slavery. Emancipation and its Discontents; Richardson, David (Hg.): Abolition and its Aftermath. The Historical Context, 1790-1916, London: Frank Cass 1985; Schmidt, Nelly: La France a-t-elle abolie l’esclavage. Martinique – Guadeloupe – Guyane, 1830-1935, Paris: Perrin 2009. Einige der einschlägigen Überblickswerke zur Geschichte der Sklaverei erstrecken sich auch auf den Zeitraum nach der rechtlichen Emanzipation. 12 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C.H. Beck Verlag 2009, S. 1208. 13 Vgl. z.B. J. Meissner/U. Mücke/K. Weber: Schwarzes Amerika, S. 248. 14 So Schmidt, Nelly: »Teaching and Commemorating Slavery and Abolition in France. From Organized Forgetfulness to Historical Debates«, in: Ana Lucia Araujo (Hg.), Politics of Memory. Making Slavery Visible in the Public Space, New York, NY/Abingdon: Routledge 2012, S. 106-123, hier S. 119.
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Afrikas, wenn nicht motiviert, so doch gerechtfertigt durch eine Ideologie der Selbstbeauftragung des weißen Mannes.«15
Auch der Kampf gegen Sklaverei und Menschenhandel wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Rechtfertigungsgrund für das machtpolitische und wirtschaftliche Vordringen der europäischen Kolonialmächte in Afrika, dies gilt in besonderem Maße für den britischen Fall. Viele Gegner/-innen von Sklavenhandel und Sklaverei waren daher Unterstützer/-innen des kolonialen Projekts. Gleichzeitig verselbständigte sich die unter den spezifischen Bedingungen der Plantagenkolonien geprägte Idee der Rassenhierarchie von ihrem Ursprungskontext und wurde zunehmend auch in expandierende Diskurse der Wissenschaft und der Verwaltung integriert. Das Ineinandergreifen der Logiken unter dem Vorzeichen nationaler Überlegenheitsvorstellungen produzierte im Zuge einer exportorientierten Ausbeutung von Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen, die auf dieser ideologischen Basis relativ uneingeschränkt vorangetrieben wurde, neue Formen der Unterdrückung und Menschenrechtsverbrechen. Das Verhältnis von Kolonialismus und Emanzipation war dabei weniger widersprüchlich als auf eine grundlegende Weise ambivalent, die sich ihrer selbst am wenigstens bewusst war. »Ce qui frappe quand on étudie l’abolitionnisme du XIXe siècle, c’est qu’on y trouve l’écho de bien des figures actuelles: l’Européen sauveur, l’Africain victime, le Mal et le Bien, le devoir d’intervention, le rôle de l’éducation dans la disparition des idées mauvaises. […] La complicité des abolitionnistes avec le colonialisme européen peut nous faire réfléchir sur les limites d’une politique qui s’appuie sur la pitié, qui prend comme principe l’assistance aux démunis.«16
Der zeitlich begrenzte Komplex von Sklaverei und Sklavenhandel wirkte sich somit in mehrfacher Hinsicht auf den weiteren Verlauf der Kolonialgeschichte aus. Hiervon lassen sich zwei ordnende Deutungen ableiten, die zu sehr unterschiedlichen historischen Gesamteindrücken führen: Die Sklaverei, die vor allem die frühneuzeitliche Phase der imperialen Expansionen geprägt hat, kann als eine Art Blaupause und Essenz der gesamten asymmetrischen Beziehung zwischen den europäischen Metropolen und den ihrem Einfluss unterworfenen Kolonien betrachtet werden. Rassismus und wirtschaftliche Ausbeutung werden dann zu konstitutiven Elementen einer Geschichte, die das Verhältnis von Frankreich und Großbritannien zu anderen Teilen der Erde langfristig geprägt hat – und die sich in zeitgemäß modifizierter Form möglicherweise bis heute fortsetzt. Die Beschäftigung mit dem frühen und besonders dunklen Teil kolonialer Geschichte kann deren jüngeren Verlauf aber auch tendenziell moralisch aufwerten. In diesem Fall dient die Sklaverei als Kontrastfolie, gegen die sich die »zweite« 15 Osterhammel, Jürgen: Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2000, S. 33 f. 16 F. Vergès: Abolir l’esclavage, S. 10. Zur Präzision sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass es sich hierbei nicht um eine an sich europäische Perspektive handelte, sondern um einen Ausdruck des in der zeitgenössischen bürgerlichen Mittelklasse vorherrschenden Wertehorizonts, vgl. hierzu v.a. Oldfield, John R.: Popular Politics and British Anti-Slavery. The Mobilisation of Public Opinion Against the Slave Trade, 1787-1807, Manchester: Manchester University Press 1995. Vgl. auch R. Blackburn: American Crucible, S. 386 ff. (Elite and Bourgeois Anti-Slavery: Liberal Abolitionism).
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Phase des Kolonialismus, die nicht zuletzt ein stärkeres Eingreifen in die Belange des afrikanischen Kontinents umfasste, zumindest vergleichsweise positiv abhebt. Das ältere Kapitel zeichnet sich dann vor allem durch seine Überwindung aus, an die sich ein weniger gewalthaftes, wenn nicht gar in Teilen emanzipatorisch angelegtes koloniales Projekt anschloss. Das Verbot des transatlantischen Sklavenhandels wird dabei oft als erster Schritt in Richtung einer stärker freiheitlich orientierten Entwicklung betrachtet. Im einen wie im anderen Fall prägt das Erbe der globalen Verflechtungsgeschichte die internationalen Beziehungen bis heute. Gerade die ehemals führenden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich können dann auch stellvertretend für ein wiederum größeres Projekt stehen. Denn ihre imperiale Expansion stützte sich auf einen mittlerweile brüchig gewordenen Glauben an die essentielle Überlegenheit des »westlichen« Fortschrittsmodells. Dieses Modell wurzelt in den Ideen der so genannten Aufklärung, die folglich als Geburtshelferin der europäisch geprägten Moderne gilt. Noch deutlicher als die deutsche Begrifflichkeit spiegeln die Epochenbezeichnungen »Lumières« und »Enlightenment« die grundlegend positive Wertung in der historischen Erinnerung, die bis heute klar überwiegt. Die argumentative Relevanz dieser Perspektive erneuerte sich in jüngerer Zeit im Rahmen von Deutungen, welche die aktuelle politische Weltlage in erster Linie auf einen Fundamentalkonflikt zwischen essentiell unterschiedlichen Kulturen zurückzuführen suchen (»clash of civilizations«). Die Tatsache, dass die Aufklärung ihre langfristige Wirkung zeitlich parallel zur Ausweitung des transatlantischen Sklavenhandels zu entfalten begann, wirft dann einen Widerspruch auf, mit dem auf die eine oder andere Weise umgegangen werden muss. Dort, wo der Zweite Weltkrieg und insbesondere der Holocaust die teleologische Idee des Fortschritts vom Ende her in Frage stellen, droht die Sklaverei sie an ihren Wurzeln zu beflecken. »Toute recherche des ›responsabilité collective‹ risque de se perdre dans une relecture globale de l’histoire humaine tout entière depuis au moins le XVe siècle.«17 Dieser von Regis Debray als Warnung formulierte Schluss verdeutlicht, was auf dem erinnerungskulturellen Spiel stehen könnte, das für viele Akteurinnen und Akteure mit hohen Einsätzen verbunden ist – und zwar auf beiden Seiten. Erschwerend hinzu kommen Ähnlichkeiten zwischen der Gegenwart und dem vermeintlich lange Vergangenen. »Even in its early stages, the Atlantic Slave System foreshadowed certain features of our modern global economy.«18 Der Handel mit und die Versklavung von Menschen sind heute in allen Staaten der Welt offiziell illegal und internationale Institutionen haben sich die Zerschlagung entsprechender Praktiken zur Aufgabe gemacht. Gleichzeitig lässt sich allerdings auch nicht ignorieren, dass Unterdrückung und Arbeitsausbeutung alles andere als aus der Welt geschafft sind. »The International Labour Organisation estimated the number of forced labourers at around 12 million, compared with 6 million slaves in the Americas in 1860.«19 Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben heute sogar über 20 Millionen Menschen unter den Umständen von Sklaverei und Zwangsarbeit. Der vermeintliche Widerspruch ist 17 Comité indépendant de réflexion et de propositions sur les relations Franco-Haïtiennes: Rapport au Ministre des affaires étrangères M. Dominique de Villepin, 28.1.2004, S. 87, http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/IMG/pdf/rapport_haiti.pdf. 18 D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 8. 19 R. Blackburn: American Crucible, S. 484.
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in erster Linie Folge einer Verschiebung der Definition von juristisch sanktionierten Zuständen hin zu den Bedingungen, unter denen Männer, vor allem aber Frauen und Kinder leben und arbeiten. Den missverständlich als »moderne« Sklaverei bezeichneten Formen der Ausbeutung liegt ein Begriff von Sklaverei zugrunde, der diese weniger als Rechtszustand denn als aus der Kraft des Faktischen heraus wirkende soziale Praxis fasst.20 Es handelt sich um die Anerkennung der Tatsache, dass Systeme der Ausbeutung sich auch und gerade außerhalb des sie umgebenden Rechtsrahmens verschiedentlich reproduzieren. Zudem bleibt die sozioökonomische Hierarchie in nationalen wie internationalen Kontexten von einem Gefälle geprägt, das insbesondere »schwarze« Menschen von der Teilhabe an politischer Gestaltung und den positiven Folgen des wirtschaftlichen Wachstums ausschließt. Die klare Kontur der Plantagenkolonie hat sich allerdings aufgelöst und das Feld liegt somit offen für kontroverse Deutungen. Die Konfrontation konkurrierender Ansätze und Ansichten prägt vor diesem Hintergrund auch das Feld der Wissenschaft. »The study of slavery is a vibrant historical field. [...] [P]roduction is on a strong upward curve. We know more now about slavery, as well as abolition and emancipation, than we have ever known before.«21 Dies gilt insbesondere für den amerikanischen, im weiteren Sinne angelsächsischen Raum, wohingegen die französische Forschung erst in jüngerer Zeit aufzuholen begann. Die monumentalen Überblickswerke zur Geschichte der transatlantischen Sklaverei, wie sie jüngst von langjährigen Experten wie Robin Blackburn, David Brion Davis, Seymour Drescher und – 900 Seiten allein zum Handel mit Sklavinnen und Sklaven – Hugh Thomas veröffentlicht wurden22, stehen zudem anschaulich für den Umfang und die Komplexität der Materie. Diese entzieht sich einfachen Interpretationen; trotz der beachtlichen Anzahl von Arbeiten haben sich zentrale Meinungsverschiedenheiten auf geschichtswissenschaftlichem Wege bislang nicht ausräumen lassen. Die potentiellen Implikationen für die Erinnerungskultur sind weitreichend: Dass bezüglich wichtiger Grundsatzfragen keine Einigung besteht, erhöht einerseits den inhaltlichen Spielraum der Geschichtspolitik. Es bleibt andererseits stets eine gewisse Unsicherheit, eine offene Flanke für Kritik, und es erscheint schwierig, die divergierenden Standpunkte zusammenzuführen. Genau dies wird jedoch oft als Ziel und Aufgabe von Geschichtspolitik verstanden, die homogenisierend oder harmonisierend auf die in einer Gesellschaft präsenten Vergangenheitsbilder einwirken soll. Die einschlägigen Deutungskontroversen betreffen neben den Folgen des Sklavenhandels die Ursachen und Antriebskräfte des Abolitionismus sowie die historische Rolle des von Afrikanerinnen und Afrikanern bzw. von Sklavinnen und Sklaven geleisteten Widerstands. Unterschiedliche Antworten auf die Frage nach Agency stehen
20 Vgl. Miers, Suzanne: Slavery in the Twentieth Century. The Evolution of a Global Problem, Walnut Creek, CA: AltaMira 2003; Bales, Kevin: Disposable People. New Slavery in the Global Economy, Berkeley, CA: University of California Press 1999. 21 Burnard, Trevor/Heuman, Gad: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), The Routledge History of Slavery, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012, S. 1-15, hier S. 13. 22 Drescher, Seymour: Abolition. A History of Slavery and Anti-Slavery, Cambridge: Cambridge University Press 2009; Thomas, Hugh: The Slave Trade. The History of the Atlantic Slave Trade, 1440-1870, Nachdr., London: Phoenix 2006 [1999].
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dabei oft im Mittelpunkt des Dissenses. Hiervon ausgehend lassen sich mehrere Konfliktfelder abstecken, welche die akademische ebenso wie die geschichtspolitische Debatte hintergründig strukturieren: - Geschichte des Sklavenhandels. In der Forschung hat die Beschäftigung mit dem Handel auf der Basis der entsprechenden Quellen zu einer ökonomisch orientierten Geschichte geführt, die stark von quantitativen und statistischen Daten geprägt ist. Zugleich lenkt die Makroperspektive auf das atlantische »Dreieck« den Blick auf transkontinentale Verbindungen und bietet damit Anknüpfungspunkte an die afrikanische und an die Globalgeschichte. Dies betrifft unter anderem die Versklavung von Menschen in Afrika und ihren Verkauf an europäische, aber auch arabische Sklavenhändler; die Ausführung dieser Handlungen lag in der Regel in den Händen von Afrikanern. Der Einbezug des Transsahara-Handels und afrikanischer Formen der Sklaverei deutet einerseits in Richtung einer Auflösung des speziellen Problems und damit ggf. auch der britischen oder französischen resp. europäischen Verantwortung in einem globalhistorischen Zusammenhang.23 Die Überquerung des Atlantiks als spezifisches Element des von Westeuropa aus organisierten Sklavenhandels entwirft dagegen ein anderes Bild der Geschichte: Die so genannte Mittelpassage war eine temporäre Extremsituation, in der – Fälle von Revolten ausgenommen – die gewaltsame Dominanz von Europäern und der Status von Afrikanerinnen und Afrikanern als weitgehend passive Gewaltopfer besonders deutlich ausgeprägt waren. - Geschichte der Sklavinnen und Sklaven. Angesichts der in den historischen Wissenschaften traditionell angewandten Methoden, fällt die Quellenüberlieferung zur kolonialen Sklaverei massiv zu Ungunsten derjenigen Menschen aus, die dem Rechtsund Arbeitsregime gewaltsam unterworfen waren. Diese erscheinen oft als anonyme Masse, Zeugnisse von den Versklavten selbst sind rar. Daher kann nicht jede Geschichte, die zu diesem Thema geschrieben oder erzählt wird, zugleich auch als ihre Geschichte betrachtet werden. Anstrengungen, einen Teil der historischen Erfahrung durch Oral-History-Projekte herauszuarbeiten und zu konservieren, wie sie in den 1930er Jahren im Rahmen des New Deal vom US-amerikanischen Federal Writers’ Project unternommen wurden, stellten die Ausnahme von der Regel der Marginalisierung dar.24 Die Perspektiven der Versklavten und mit ihnen die persönliche Dimension der Geschichte sind jenseits des Stereotyps oft schwer greifbar zu machen. Systematisch gegenläufige Versuche tendieren dagegen bisweilen dazu, die Konditionierung
23 So etwa bei Pétré-Grenouilleau, Olivier: Les traites négrières. Essai d’histoire globale, Paris: Gallimard 2004 oder – noch deutlich breiter ausgelegt – in der Cambridge History of World Slavery, Cambridge: Cambridge University Press, 2011-2017. 24 Work Projects Administration, District of Columbia: Slave Narratives. A Folk History of Slavery in the United States from Interviews with Former Slaves, typewritten records prepared by the Federal Writers’ Project 1936-1938, assembled by the Library of Congress, 17 Bände (Microfiche), online verfügbar unter https://www.loc.gov/collections/slave-narra tives-from-the-federal-writers-project-1936-to-1938. Vgl. hierzu auch Ebron, Paulla A.: »Slavery and Transnational Memory. The Making of New Publics«, in: Chiara De Cesari/Ann Rigney (Hg.), Transnational Memory. Circulation, Articulation, Scales, Berlin/Boston, MA: De Gruyter 2013, S. 147-168.
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des menschlichen (Er-)Lebens durch die Logik der makrohistorischen Ausbeutungsstruktur, die den individuellen Denk- und Handlungsraum fundamental begrenzte, zurücktreten zu lassen. - Geschichte des Widerstands. In gewissem Maße kann dieses Feld auch als ein Teil des vorangehend genannten betrachtet werden. Beide Teilbereiche sind jedoch in keinem Fall deckungsgleich. Denn die hier interessierenden Widerstandskämpfer und – in geringer Zahl – Widerstandskämpferinnen rekrutierten sich zwar aus den Rängen der Versklavten, von denen insgesamt aber nur eine Minderheit konspirativ oder militärisch aktiv wurde.25 Die Geschichte der Sklavinnen und Sklaven korrespondiert mit einer Art Alltagsgeschichte im Gegensatz zur männlich dominierten Geschichte organisierter und zumeist gewaltsamer Rebellion. Erstere enthält Formen der Widerständigkeit, letztere kann jedoch nicht als Durchschnittserfahrung betrachtet werden. 26 Über die genauen Hintergründe von Sklavenrevolten ist in vielen Fällen wenig bekannt. Nachforschungen haben ergeben, dass die gesteckten Ziele ebenso unterschiedlich sein konnten wie die angewandten Mittel und Strategien. Gemeinsam war den Aufstandsversuchen allerdings, dass diese Ziele nicht erreicht werden konnten. Eine weitere Konstante war das Handlungsmuster, mit dem die kolonialen Autoritäten auf die Auflehnung reagierten: Sie setzten in der Regel auf eine extreme und abschreckende Strafgewalt, deren Ausmaß die von den Versklavten eingesetzte Gewalt um ein Vielfaches übertraf. Einen Sonderfall stellt die Revolution in der französischen Kolonie Saint-Domingue dar, die 1804 in der Ausrufung der unabhängigen Republik Haiti mündete. Sie war das Produkt sehr spezifischer politischer und lokaler Umstände, weshalb sie sich kaum sinnvoll mit anderen Revolten und Widerstandsformen vergleichen lässt. - Geschichte des Abolitionismus. Der Begriff »Abolitionismus« bezeichnet eine politische Bewegung, die sich der Abschaffung von Sklavenhandel und/oder Sklaverei verschrieben hatte.27 Zu den eingesetzten Mitteln gehörten vor allem Vereinsgründungen, öffentliche Versammlungen, Text- und Bildpublikationen, Petitionen, Parlamentsdebatten sowie gezielte Warenboykotte. Abolitionismus nach der gängigen Definition ist damit notwendigerweise ein eurozentrischer und in seiner Tendenz politisch und gesellschaftlich elitärer Begriff, dessen Anwendung weitgehend auf das Gebiet 25 Ein Teil der aktuellen Forschung definiert Widerstand inzwischen sehr breit, vgl. z.B. Small, Stephen/Walvin, James: »African Resistance to Enslavement«, in: Anthony Tibbles (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press ²2005 [1994], S. 37-46. Die Tendenz, sehr verschiedene Formen der aktiven psychischen, physischen und kulturellen Resilienz als »Widerstand« gegen die Versklavung oder die Sklaverei zu verstehen, läuft schnell auf den Widerspruch hinaus, dass der notwendige Schutz der eigenen Vitalität keineswegs dem langfristigen Erhalt des Gesamtsystems zuwiderlief und auch Respektlosigkeit und kleinere Sabotageakte dieses nicht grundsätzlich erschüttern konnten. Tatsächlich boten manche Arten der kulturellen Widerständigkeit gegen die Machtansprüche der Besitzenden eher ein Ventil, das langfristig systemerhaltend wirken konnte. Mit einer solchen Definition kann daher hier nicht gearbeitet werden. 26 Sidbury, James: »Resistance to Slavery«, in: Gad Heuman/Trevor Burnard (Hg.), The Routledge History of Slavery, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012, S. 204-219. 27 Da für das entsprechende Engagement gegen die Sklaverei kein eigener etablierter Begriff existiert, wird auch dieses darunter gefasst.
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der kolonialen Metropolen beschränkt bleibt; die Sklavinnen und Sklaven in den Kolonien hatten die Wahl der genannten Mittel nicht. Dennoch handelt es sich hierbei nicht um eine ethnisch exklusive Geschichte, da auch Menschen afrikanischer Herkunft bzw. Abstammung in diesem Rahmen aktiv waren. Die Bedingungen wurden jedoch von den Perspektiven des adressierten Zielpublikums vorgegeben. Grundlage für ein erfolgreiches Agieren war mithin ein hohes Maß an sozialer und kultureller Anpassung. Dies gilt sowohl für die Methoden des Vorgehens als auch für die öffentlich auftretenden Personen selbst, die oft eine Rolle als Musterbeispiele für die »Zivilisationsfähigkeit« von Afrikanerinnen und Afrikanern spielten. Die genaue Beziehung zwischen Widerstand und Abolitionismus sowie die Wirkung von Sklavenrevolten auf den politischen Fortschritt in Richtung der Emanzipationsgesetzgebungen wird kontrovers diskutiert.28 Zwischen beiden Geschichten wird dabei oft eine Unterscheidung getroffen, die auf folgender These basiert: Während die Versklavten kämpften, um sich selbst aus dem Zustand der Unterdrückung zu befreien, richtete sich die Abolitionsbewegung gegen die Institution der Sklaverei als solche. Angesichts der Epochen und Kontinente übergreifenden Verbreitung von ausbeuterischen sozialen Zwangshierarchien scheint hier die Idee eines »westlichen« Sonderwegs auf. Dass tatsächliche und befürchtete Ausbrüche von gewaltsamen Unruhen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielten, wird generell nicht bezweifelt. Wissenschaftler wie João Pedro Marques weisen ihnen jedoch keine entscheidende Bedeutung, sondern vielmehr eine ergänzende Nebenrolle zu, die für den historischen Ablauf letztlich nicht ausschlaggebend war.29 Gegen solche Deutungen argumentieren neben anderen Stephen Small und Kwame Nimako: »[T]he prevailing interpretations of the cause and consequences of the legal abolition of the slave trade and slavery are deficient. [...] Overall, these representations marginalize the actions and agency of the enslaved in bringing about legal emancipation.« 30 Hierbei ist zu beachten, dass auch »slave resistance« historisiert werden muss. Frühe Aufstände zielten oft auf eine Ablösung der über die Plantagen herrschenden Gruppe durch eine andere und verliefen entsprechend gewaltsam. Im 19. Jahrhundert setzte der organisierte Widerstand zunehmend auf Formen, die aus heutiger Sicht als »politisch« verstanden werden, wie Arbeitsniederlegung und Verhandlungsführung, und eine Synergie mit der abolitionistischen Politik in der Metropole anzustreben schienen. Dies zeigte sich etwa bei den
28 Für einen umfassenden Überblick über die aktuelle Diskussion vgl. v.a. Drescher, Seymour/Emmer, Pieter C. (Hg.): Who Abolished Slavery? Slave Revolts and Abolitionism. A Debate with João Pedro Marques, New York, NY: Berghahn Books 2010. Das Buch behandelt nationale Fallbeispiele in kontroverser Debatte. 29 Marques, João Pedro: »Slave Revolts and the Abolition of Slavery. An Overinterpretation«, in: Ebd., S. 3-92. 30 Nimako, Kwame/Small, Stephen: »Collective Memory of Slavery in Great Britain and The Netherlands«, Paper presented at the American Sociological Association Annual Meeting, Atlanta, August 14, 2010, vgl. Dies.: Collective Memory of Slavery in Great Britain and The Netherlands auch in: Marten Schalkwijk/Stephen Small (Hg.), New Perspectives on Slavery and Colonialism in the Caribbean, Den Haag: Amrit Publishers 2012, S. 92-115.
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Revolten in Barbados (1816) und in Demerara (1823) sowie im so genannten »Baptist War« in Jamaika (1831), in dem der Prediger Sam Sharpe eine führende Rolle spielte.31 Diesen Ereignissen wird aber vergleichsweise wenig Beachtung zuteil, denn im Kern dreht sich dieser Teil der Diskussion um die haitianische Revolution, deren Verlauf vor allem von der Revolution in Frankreich, vom internationalen Kriegszustand und von der Rolle der »gens de couleur« beeinflusst wurde. Für Laurent Dubois war die Universalisierung des Menschenrechts auf Freiheit die Leistung der nicht-»weißen« Bevölkerung von Haiti; der Höhepunkt des »Zeitalters der Revolutionen« sei daher in der Karibik und nicht in Frankreich oder den USA zu verorten. 32 »In other words, Haiti’s revolutionaries were not primitive Africans who believed that they would awaken in Guinea if killed in combat; they were followers of Condorcet and Diderot who understood the principles of the Declaration of the Rights of Man better than many of its supporters.«33 So fasst Philippe R. Girard die These pointiert zusammen, die er selbst jedoch nur eingeschränkt teilt. »Dubois’s argument is convincing when it applies to white Jacobins and free mulattoes […]. Dubois’s assertion that the Haitian revolution was the daughter of the French one becomes weaker, however, when he moves on to the slave population. He is plagued by a problem familiar to all historians of marginal, oppressed groups: sources are so rare that describing what went through the slaves’ minds is, by necessity, conjectural.«34 Jedoch erschließen sich auch die Gedanken der europäischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht ohne Umstände, und so bezieht sich eine weitere Kernkontroverse der historischen Forschung auf die dem Abolitionismus zugrunde liegende Motivation. »The unweary, unostentatious, and inglorious crusade of England against slavery may probably be regarded as among the three or four perfectly virtuous pages comprised in the history of nations«, behauptete der englische Historiker William H. Lecky in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.35 Das naive nationalistische Pathos der gern zitierten Aussage hat seitdem viele skeptische und vielleicht ebenso viele spöttische Kommentare hervorgerufen. Allerdings stellen die Gründe, die Großbritannien zu seinem Wandel vom führenden nationalen Akteur im Sklavenhandel zum führenden Gegner desselben bewegten, den Fachleuten bis heute ein komplexes historisches Rätsel.
31 Vgl. Drescher, Seymour: »Civilizing Insurgency. Two Variants of Slave Revolts in the Age of Revolution«, in: Ders./Pieter C. Emmer (Hg.), Who Abolished Slavery? Slave Revolts and Abolitionism. A Debate with João Pedro Marques, New York, NY: Berghahn Books 2010, S. 120-132. Vgl. auch Matthews, Gelien: Caribbean Slave Revolts and the British Abolitionist Movement, Baton Rouge, LA: Louisiana State University Press 2006. 32 Dubois, Laurent: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge, MA: Harvard University Press 2004. 33 Girard, Philippe R.: »Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution (review)«, in: Latin American Politics & Society 47/1 (2005), S. 138-143, DOI: 10.1353/ lap.2005.0007. 34 Ebd., S. 139. 35 Lecky, William E.H.: History of European Morals from Augustus to Charlemagne, Bd. 1, London 1869.
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»The actual reasons for this volte-face by the leading slave-trading nation at the height of its power, when it controlled the largest number of slave-using colonies, have been subject of academic debate. It has been portrayed on the one hand as the triumph of humanitarianism over vested interests, and on the other as the result of changing economic interests unleashed by the industrial revolution. Clearly ideology, economics, and politics were intertwined, but scholars have reached no consensus as to how they interacted or why the movement gained such popular support.«36
Dabei deuten neueste Studien wieder verstärkt in Richtung der moralischen bzw. religiösen Überzeugung als einem ernst zu nehmendem historischen Einflussfaktor und hiermit auch in Richtung einer akteurszentrierten Deutung. Die bis heute maßgebliche Herausforderung der Geschichte einer Abolitionsbewegung, die von Tugend und (religiöser) Moral getragen wurde, ging bezeichnenderweise von Intellektuellen aus der Karibik aus: In seinem Buch zur haitianischen Revolution, das 1938 unter dem programmatischen Titel »The Black Jacobins« erschien, zeichnete der marxistische Autor Cyril L. R. James ein abweichendes Bild. Unter anderem formulierte er die These, dass die Wende in der britischen Politik mit der strategischen Absicht erfolgt sei, dem Konkurrenten Frankreich wirtschaftlichen Schaden zuzufügen.37 Diesem gedanklichen Pfad folgte auch sein Schüler Eric E. Williams, der nach seiner akademischen eine politische Laufbahn einschlug, die ihn in das Amt des ersten Präsidenten von Trinidad und Tobago führte. Er vertrat die Ansicht, dass sich die Plantagenproduktion auf der Basis von Sklavenarbeit unter den Bedingungen der herannahenden industriekapitalistischen Ära wirtschaftlich überlebt hatte. Hieran schließt die zweite, besonders viel diskutierte Dimension der so genannten Williams-These an. Der Autor verknüpfte die frühe und dynamische Entwicklung der britischen Industrie mit der herausragenden Rolle britischer Händler im transatlantischen Sklavenhandel, indem er die von ihnen erwirtschafteten Profite zur Basis der für die Industrialisierung ausschlaggebenden Kapitalakkumulation erklärte.38 Beide Aspekte des revisionistischen Angriffs auf das traditionell selbstgefällige Geschichtsbild des europäischen Fortschritts sind bis heute in der Diskussion, wenn auch inzwischen in weitaus elaborierterer Form.39 In seinem Buch »Econocide« (1977) legte Seymour Drescher dar, dass die Abschaffung des britischen Sklavenhandels sich keineswegs aus einer Krise der nach wie vor profitablen Plantagenwirtschaft begründen lasse; im Gegenteil. Der Slave Trade Abolition Act habe – daher der dramatisch gewählte Titel der Veröffentlichung – den wirtschaftlichen Interessen des Landes geschadet. Diese Deutung hat sich weitgehend durchgesetzt. »More recently, however, 36 S. Miers: Slavery in the Twentieth Century, S. 4. 37 James, Cyril L.R.: The Black Jacobins. Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution, Neuaufl. mit Einl. u. Anm. von James Walvin, London: Penguin Books 2001 [1938]. 38 Williams, Eric: Capitalism and Slavery, Nachdr., Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1998 [1944]. Vgl. auch Cateau, Heather/Carrington, Selwyn H.H. (Hg.): Capitalism and Slavery Fifty Years Later. Eric Eustace Williams – A Reassessment of the Man and his Work, New York, NY: Peter Lang Verlag 2000. 39 Vgl. hierzu den hervorragenden Überblick über die neuere Forschung zur karibischen Geschichte von Petley, Christer: »New Perspectives on Slavery and Emancipation in the British Caribbean«, in: The Historical Journal 54/3 (2011), S. 855-880.
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works by a wide variety of scholars labouring in different fields have begun to breathe new life into some of Williams’s arguments and methodological perspectives.«40 Zu ihnen gehören unter anderem Joseph Inikori und Kenneth Morgan, die den Beitrag von Sklaverei und Sklavenhandel zur britischen Wirtschaftsentwicklung hervorheben und damit Wissenschaftlern wie David Eltis und Stanley Engerman widersprechen.41 Vor diesem Hintergrund kam David Richardson, den der Wiederaufgriff der Williams-Thesen nicht überzeugt, zu dem Schluss: »[T]he debate between slavery and the British Industrial Revolution that Williams helped to ignite almost sixty years ago remains very much alive.« 42 Dabei scheint ein Zusammenhang zur internationalen Erinnerungskonjunktur zu bestehen. »Now […] this kind of discourse is more widely diffused among international institutions such as UNESCO and associations of slave descendants. As a result, it is increasingly permeating public discourse and opinion.«43 Der Versuch, die Profitabilität der Sklavenwirtschaft zu bestimmen, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund bestehender Reparationsforderungen politisch brisant. Entsprechende Kalkulationen lenken den Blick von Opfern auf Täter und Profiteure, von der zwischenmenschlichen Empathie auf die Frage nach einer un/ethischen Ökonomie. Zwei unterschiedliche Perspektiven treffen an dieser Stelle aufeinander: Die eine stellte das den Sklavinnen und Sklaven zugefügte Unrecht in den Mittelpunkt, die andere die auf dieser Basis erwirtschaftete Bereicherung. Beides schließt sich gegenseitig keineswegs aus, dennoch hat die Gewichtung umfassende Konsequenzen für die Moral der Gesamtgeschichte, gerade im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart. Dies betrifft auch die Suche nach den Triebkräften der Abolitionsbewegung. Sie ist vor dem Hintergrund der kolonialen Machtverhältnisse zu sehen, in deren Rahmen die rechtliche Emanzipation der Versklavten wie ein Akt der Wohltätigkeit präsentiert wurde. Das »Geschenk« der Freiheit verpflichtete zum einen zu dankbarem Gehorsam, zum anderen implizierte es eine Art Begleichung der Vorgeschichte. Finanziell entschädigt wurden dagegen die Plantagenbesitzer, die einen beträchtlichen Teil ihres »Eigentums« verloren – eine letzte offizielle Sanktion der von nun an abgeschafften Verhältnisse, die dazu beitrug, die herrschende Ungleichheit zu zementieren. Führt man wirtschaftliche bzw. wirtschaftspolitische Motive in die Gleichung ein, stellt sich das Ergebnis in einem anderen Licht dar. Die Abschaffung der Sklaverei kann dann nicht nur 40 Ebd., S. 859. 41 Vgl. Inikori, Joseph E.: Africans and the Industrial Revolution in England. A Study in International Trade and Development, Cambridge: Cambridge University Press 2002; Eltis, David/Engerman, Stanley L.: »The Importance of Slavery and the Slave Trade to Industrializing Britain«, in: Journal of Economic History 60/1 (2000), S. 123-144; Morgan, Kenneth: Slavery, Atlantic Trade and the British Economy, 1660-1800, Cambridge: Cambridge University Press 2000. 42 Richardson, David: »Rezension zu Kenneth Morgan, Slavery, Atlantic Trade and the British Economy, 1660-1800, Cambridge: Cambridge University Press 2000«, in: History in Focus, Institute of Historical Research, Universität London, https://www.history.ac.uk/ihr/Focus/ Slavery/reviews/richardsonDavid.html. 43 Pétré-Grenouilleau, Olivier: »Slave Resistance and Abolitionism. A Multifaceted Issue«, in: Seymour Drescher/Pieter C. Emmer (Hg.), Who Abolished Slavery? Slave Revolts and Abolitionism. A Debate with João Pedro Marques, New York, NY: Berghahn Books 2010, S. 155-162.
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als überfälliges Erfordernis einer übergeordneten Gerechtigkeit betrachtet werden, sondern auch als Handlung im Eigeninteresse der Kolonialnationen, die sich folglich keinen historischen Moralkredit erwarben. Im Gegenteil stellt sich die politisch zunächst unterdrückte und aus diesem Grunde bislang noch ungeklärte Schuld- und Reparationsfrage. Dabei verlieh vor allem der aus Guayana stammende Historiker Walter Rodney der Auseinandersetzung eine transkontinentale Dimension, indem er die Folgen von Sklavenhandel und Kolonialismus in Afrika in den Vordergrund rückte. Sein Buch zu dem Thema veröffentlichte er 1972 unter dem vielsagenden Titel »How Europe Underdeveloped Africa«.44 Historische Entschädigungsforderungen werden oft mit dem Verweis auf bestehende Kooperations- und Unterstützungsstrukturen abgewiesen, die das Wohlstandsgefälle zwischen ehemaligen Kolonialmetropolen und ehemaligen Kolonien beispielsweise in Form von freiwilligen Entwicklungshilfeleistungen zu mildern suchen. Man muss diese Frage nicht auf das Niveau der global agierenden Weltbank erheben, um die Problematik des hierin ebenfalls enthaltenen Machtgefälles in der auf diese Weise etablierten Beziehung zu erkennen, in der die Freiheit der Handlung und Aushandlung sehr ungleich verteilt ist. »We are not beggars! We are not subservient! We do not want Charity and handouts! We want Justice!«, erklärte Hilary Beckles im Namen der Reparationsinitiative der Staaten der Karibischen Gemeinschaft (Caribbean Community and Common Market, CARICOM).45 Auch die Diskussion um materielle Entschädigungen weist also die Linie eines Agency-Konflikts auf. Die vorherrschende Perspektive ist nicht allein die des geschädigten Opfers. Das trifft auch auf die – generalisierend gesprochen – afrikanische Position zu. »Walter Rodney was concerned about how Europe retarded Africa’s development. But is there not another big story – the story of how Africa accelerated Europe’s development?«, fragt etwa Ali Mazrui. »Rodney’s most popular book looked at how Europe underdeveloped Africa (the slave ship syndrome). The other side of the story is how Africa developed Europe (the space ship potential).«46
DIE NATIONALEN GESCHICHTEN DES HISTORISCHEN KONFLIKTS Für die Auseinandersetzung mit dem skizzierten erinnerungskulturellen Grundkonflikt befanden sich die französische Republik und das Vereinigte Königreich in unterschiedlichen Ausgangspositionen. Denn die jeweils als die »eigene« betrachtete Vergangenheit setzte sich aus Ereignissen, Personen und Entwicklungen zusammen, aus denen nationalspezifische Anforderungen an die geschichtspolitische Verarbeitung folgten.
44 Rodney, Walter: How Europe Underdeveloped Africa, London: Bogle-L’Ouverture Publications 1972. 45 Beckles, Hilary M.: Address on Reparations. Address delivered by Professor Sir Hilary Beckles, Chairman of the CARICOM Reparations Commission, House of Commons, 16.7.2014. 46 Mazrui, Ali: »From Slave Ship to Space Ship. Africa between Marginalization and Globalization«, in: African Studies Quarterly 2/4 (1999), S. 5-11.
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Als Ausgangspunkt kann ein Unterschied dienen, der an der erinnerungskulturellen Oberfläche ebenso sehr hervorsticht wie seine Gründe weit in die Geschichte hineinreichen: In Großbritannien wurde gleich ein ganzes Gedenkjahr rund um das Jubiläum des Slave Trade Abolition Act von 1807 inszeniert. Auch international wurde an den Jahrestag erinnert, wie unter anderem die entsprechenden Initiativen der UNESCO zeigen. In den französischen Geschichtsdebatten sucht man die Abschaffung des Sklavenhandels dagegen nahezu vergeblich; Ereignis und Datum spielen für Erinnerung und Geschichtspolitik schlichtweg keine Rolle. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die akademische Forschung. Der Umstand, dass sich die Verabschiedung des britischen Gesetzes gerade im Jahr 2007 zum 200. Mal jährte, wirkte sich ohne Zweifel aus: Hiermit fiel ein »runder« Jahrestag in einen Zeitraum, in der die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Sklaverei auf der öffentlichen Agenda ohnehin bereits nach oben gerückt war. Dennoch geht es um mehr als einen geschichtspolitisch genutzten chronologischen Zufall. Denn mehreren zentralen Aspekten, auf denen die britische Inszenierung aufbaute, fehlt in der französischen Vergangenheit das Äquivalent. Unterschiedliche Voraussetzungen ergaben sich schon allein aus den quantitativen Dimensionen, die das historische Phänomen des transatlantischen Sklavenhandels jeweils annahm.47 Die relativen Anteile europäischer Nationen und Hafenstädte unterlagen im Laufe der Jahrhunderte zwar deutlichen Fluktuationen, unter dem Strich geht das Vereinigte Königreich aus dem Vergleich jedoch mit einer besonders negativen Gesamtbilanz hervor. Etwa 3,3 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner wurden auf britischen Schiffen über den Atlantik transportiert, dies entspricht etwa einem Viertel der insgesamt angenommenen Anzahl.48 Das Volumen des französischen Sklavenhandels wird auf etwas über eine Million geschätzt.49 Die Rolle Großbritanniens erhält zusätzliches Gewicht, wenn die Bedeutung der Hauptstadt London als europäisches Handels- und Finanzzentrum im 18. Jahrhundert in die Betrachtung einbezogen wird.50 In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts holten die spät in das Geschäft eingestiegenen Franzosen allerdings deutlich auf, eine Schlüsselrolle spielte hierbei die boomende 47 Das derzeit umfassendste und aktuellste Recherchewerkzeug für quantitative Daten zum transatlantischen Sklavenhandel ist die unter der fachlichen Leitung von David Eltis, Stephen D. Behrendt, Manolo Florentino und David Richardson erstellte Trans-Atlantic Slave Trade Database, die in den Jahren 2008/2009 fertiggestellt wurde. Sie ist online zugänglich unter www.slavevoyages.org. Für alle im folgenden Abschnitt genannten Zahlen wurde auf die Datenbank zurückgegriffen. Diese stützt sich auf historisches Quellenmaterial aus den Jahren 1514 (erste dokumentierte Fahrt) bis 1866 (letzte dokumentierte Fahrten) zu insgesamt fast 35.000 Sklavenhandelsfahrten. Vgl. hierzu auch Eltis, David/Richardson, David (Hg.): Extending the Frontiers. Essays on the New Transatlantic Slave Trade Database, New Haven, CT: Yale University Press 2008. 48 Wie bereits erwähnt, sind die Zahlen zum transatlantischen Sklavenhandel umstritten. Die Datenbank gibt die Zahl der unter britischer Flagge verschifften Personen mit 3.259.440 an. 49 Die Datenbank beziffert die Zahl bis 1866 auf französischen Schiffen transportierten Sklavinnen und Sklaven aus Afrika auf 1.381.404. 50 Im Hinblick auf den Zuckerhandel übernahm London im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die zuvor dominante Rolle Amsterdams. Einen Überblick zu diesem Thema liefert eine Aufsatzsammlung von Rawley, James A.: London. Metropolis of the Slave Trade, Columbia, MO: University of Missouri Press 2003.
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Plantagenwirtschaft der Kolonie Saint-Domingue. »The biggest French slaving port, Nantes, which sent more than 1.400 slaving expeditions to Africa in the eighteenth century, […] was in the 1780s challenging Liverpool as the largest carrier of slaves«.51 Um 1800, in der Hochzeit der kolonialen Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels, arbeiteten mehr als 600.000 Sklavinnen und Sklaven in den französischen, über 700.000 in den britischen Plantagenkolonien (ohne Nordamerika).52 Der Unterschied zwischen den beiden Untersuchungsländern ist somit zwar letztlich nicht kategorial; vielmehr entspricht er den Positionen, die Frankreich respektive Großbritannien in der kolonial strukturierten Weltwirtschaft für sich behaupten konnte. Er ist dennoch ausgeprägt genug, um erinnerungskulturell folgenreich zu sein. Denn die historische Bedeutung des Landes für den Sklavenhandel impliziert eine ebenso große Bedeutung des Sklavenhandels für die Geschichte des Landes. »[T]he role played by the British in shaping the enslaved Atlantic was crucial. Of course they were not alone [...]. Yet at the height of the Atlantic slave system, the British shipped more Africans than any other nation [...] and Britain itself benefited from slavery to a degree which largely goes unrecognized.«53 Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass das Gedenken an die Abschaffung des britischen Sklavenhandels mit Unterstützung der UNESCO zugleich als ein internationales Ereignis begangen wurde – ein weiteres Indiz für die besondere geschichtspolitische Dynamik, die sich aus der zentralen historischen Positionierung Großbritanniens ergab. Sie macht auch die Eröffnung eines internationalen Sklavereimuseums, das zugleich den Status eines britischen Nationalmuseums hat, in der europäischen Hauptstadt des transatlantischen Sklavenhandels Liverpool verständlich.54 Für den Aufbau einer solchen Einrichtung hätte es in Frankreich ganz anderer und vor allem sehr viel expliziterer Argumentationsstrategien bedurft. Für die Erinnerung relevanter als statistische Zahlen waren jedoch die jeweiligen historischen Zusammenhänge, in denen Abolition und Emanzipation politische Form annahmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die soziale Bewegung zur Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei in den Plantagenkolonien, denn auch sie lässt die britische Entwicklung im Lichte nationaler Besonderheit erscheinen. »France never developed a strong abolitionist movement like that of England and, for this reason, its role as a major slave trading power remains, to this day, largely 51 H. Thomas: Slave Trade, S. 448. 52 Garrigus, John D.: »French Slavery«, in: Mark Smith/Robert Paquette (Hg.), Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 173-200, hier S. 173 f.; Burnard, Trevor: »British West Indies and Bermuda«, in: Mark Smith/Robert Paquette (Hg.), Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 135-153, hier S. 136. 53 Walvin, James: Making the Black Atlantic. Britain and the African Diaspora, London/New York, NY: Cassell 2000, S. x. 54 David Fleming, Direktor von National Museums Liverpool, hat die englische Hafenstadt in Anspielung auf ihre Bewerbung um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt als europäische Hauptstadt des transatlantischen Sklavenhandels bezeichnet. Fleming, David: Liverpool, European Capital of ... the Transatlantic Slave Trade. Vortrag bei der Jahreskonferenz der International Association of City Museums, Amsterdam, 3.11.2005, www.liver poolmuseums.org.uk/ism/resources/amsterdam_conference.aspx.
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unknown by the French public«, schrieb John Garrigus noch im Jahr 2010.55 Es kann vermutet werden, dass der Autor den Umfang der jüngeren erinnerungskulturellen Umwälzungen tendenziell unterschätzte, entscheidend ist aber der von ihm hervorgehobene historische Kontrast. In keinem anderen Land fand die Bewegung für die Abschaffung des Sklavenhandels eine so breite Unterstützung wie im Vereinigten Königreich: »In fact, ›abolition‹ was to emerge as one of the most popular reform movements of the eighteenth and nineteenth centuries.«56 Zudem war der 2007 groß gefeierte Parlamentsbeschluss von 1807 insofern wegweisend, als die Richtungsentscheidung in der Folgezeit in die offizielle britische Außenpolitik integriert wurde. Gestützt auf ihre See- und Imperialmacht, setzte sich die Regierung mit diplomatischen, rechtlichen und militärischen Mitteln für eine internationale Ächtung des Sklavenhandels ein. Gerade diese zunächst unilaterale Intervention in den internationalen Handel wurde früh zu einem Element der nationalen Selbstüberhöhung, die in diesem Kontext auch eine imperiale war: »The resulting campaign helped to define and underpin Victorian Britain’s sense of national and moral supremacy.«57 Es war nicht der Einfluss des politischen Aktivismus allein, der diese Entwicklung vorantrieb. Dennoch stellt sich die britische Abolitionsbewegung als historisch eindrucksvoll dar. Sie kann als eine frühe politische Massenbewegung betrachtet werden und wird im Sinne aktueller Deutungspräferenzen inzwischen gern als die erste moderne »Menschenrechtsbewegung« bezeichnet. 58 Aus der Mobilisierungskampagne ging eine Fülle von innovativem und anschaulichem Propagandamaterial hervor, das in seiner Gesamtheit eine sehr reichhaltige Quelle für die Geschichte des Abolitionismus darstellt und einen lang anhaltenden Einfluss auf die historische und politische Imagination ausgeübt hat. Besonders klar lässt sich das Ausmaß der Kampagne an der Zahl der Unterschriften ablesen, die für entsprechende Petitionen an das Parlament geleistet wurden: »At the height of public agitation for British abolition in 1791 and 1792, more than 500 petitions reached the House of Commons, bearing more than 400.000 signatures.«59 An einem Boykott von in der Karibik produziertem Zucker sollen sich in den 1790er Jahren ca. 300.000 Britinnen und Briten beteiligt haben.60 Auch 55 J.D. Garrigus: French Slavery, S. 181. 56 Oldfield, John R.: »Abolition and Emancipation«, in: Robert J. Blyth/Douglas Hamilton (Hg.), Representing Slavery. Art, Artefacts and Archives in the Collections of the National Maritime Museum, Aldershot: Lund Humphries 2007, S. 64-75, hier S. 64. 57 Blyth, Robert J.: »Britain, the Royal Navy and the Suppression of Slave Trades in the Nineteenth Century«, in: Ders./Douglas Hamilton (Hg.), Representing Slavery. Art, Artefacts and Archives in the Collections of the National Maritime Museum, Aldershot: Lund Humphries 2007, S. 76-91, hier S. 81. 58 Vgl. exemplarisch Hochschild, Adam: Bury the Chains. The British Struggle to Abolish Slavery, New York, NY/Abingdon: Palgrave Macmillan 2005. Die Tendenz beschränkt sich aber nicht auf populärwissenschaftliche Darstellungen. 59 Brown, Christopher Leslie: »Abolition of the Atlantic Slave Trade«, in: Gad Heuman/Trevor Burnard (Hg.), The Routledge History of Slavery, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012, S. 281-297, hier S. 285. 60 Zu den Details der einzelnen Petitionskampagnen vgl. v.a. J. Oldfield: Popular Politics and British Anti-slavery. Vgl. auch Drescher, Seymour: »Public Opinion and Parliament in the Abolition of British Slave Trade«, in: Stephen Farrell/Melanie Unwin/James Walvin (Hg.),
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wenn die Bewegung in der Folgezeit zunächst eine Flaute erlebte, wurde dieser erste Höhepunkt von der späteren Petitionswelle zugunsten der Emanzipation noch deutlich übertroffen. »The opinion-building activities of the anti-slavery society resulted in yet another petition campaign that dwarfed the early efforts […]. Between 1828 and 1833 […] Parliament was deluged by over 5.000 petitions against colonial slavery, signed by 1.5 million Britons.«61 Die Koordination der landesweiten Kampagnen lag in den Händen lokaler Aktionsausschüsse der Society for Effecting the Abolition of the Slave Trade (SEAST), wobei das London Committee eine Führungsrolle einnahm. Dieses wurde 1787 als erstes seiner Art gegründet und vor allem von Angehörigen der Society of Friends (Quäker) getragen. Historisch und erinnerungskulturell besonders einflussreich waren allerdings zwei Mitglieder mit anglikanischem Glaubensbekenntnis: William Wilberforce (17591833) und Thomas Clarkson (1760-1846). »While Wilberforce provided leadership in the House of Commons, Clarkson to all intents and purposes led the agitation ›out of doors‹. [He] was one of the earliest full-time professional reformers. And through his researches and his tours, his books and his pamphlets, he helped to push Britain into the abolitionist age.«62 Beide Männer befürworteten auch die rechtliche Emanzipation der Versklavten und gehörten daher zu den Gründungsmitgliedern der 1823 ins Leben gerufenen Anti-Slavery Society. Die Gesetzgebung von 1833 ist zwar in erster Linie auf die Aktivitäten einer jüngeren Generation von Politikern zurückzuführen, unter ihnen Thomas Fowell Buxton, dem seit 1865 ein »Gedenk-Brunnen« gewidmet ist, der heute im Victoria Tower Garden am Westminster-Palast besichtigt werden kann. Die Kontinuität des Engagements verleiht dem langen historischen Prozess aber gerade im Rahmen einer akteurszentrierten Betrachtung eine gewisse chronologische Kohärenz. Noch 1840 trat der alternde Thomas Clarkson als Hauptredner auf der ersten World Anti-Slavery Convention in London auf.63 Diese wurde von der British and Foreign Anti-Slavery Society organisiert, ein organisatorischen Nachfolger der Anti-Slavery Society und direkter Vorgänger der heute einflussreichsten NGO auf diesem Feld. »In organisational terms, there are obvious continuities between the eighteenth- and nineteenth-century British anti-slavery movements […]. In 1839 abolitionists organised the British and Foreign Anti-Slavery Society and with that the movement entered a new (international) phase that in many ways anticipated the work of Anti-Slavery International, which continues to the present day.«64
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The British Slave Trade. Abolition, Parliament and People, Edinburgh: Edinburgh University Press 2007, S. 42-65. J. Oldfield: Abolition and Emancipation, S. 70. Ders.: »Chords of Freedom«. Commemoration, Ritual and British Transatlantic Slavery, Manchester: Manchester University Press 2007, S. 33. Vgl. ebd., S. 8 ff. J. Oldfield: Abolition and emancipation, S. 73. ASI beruft sich in der öffentlichen Selbstdarstellung explizit auf die lange Tradition, die (mindestens) bis auf das besagte Jahr 1839 zurückgeführt wird. Vgl. z.B. den Abriss über die eigene Geschichte, den die Organisation auf ihrer offiziellen Internetseite präsentiert, Anti-Slavery International, Timeline. Over 175 years of fighting slavery, http://www.antislavery.org/english/who_we_are/our_history/de fault.aspx. Vgl. auch Quirk, Joel: »The Anti-Slavery Project. Linking the Contemporary and the Historical«, in: Human Rights Quarterly 28/3 (2006), S. 565-598.
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Durch die jüngeren Deutungskämpfe verschob bzw. erweiterte sich der Fokus der Erinnerung. Bei der Geschichtskonstruktion im nationalen Rahmen stehen sich der »britische« Anteil am Sklavenhandel und der »britische« Einsatz gegen den Sklavenhandel wie zwei narrative Pole gegenüber, die im Rahmen einer historischen Gesamtbilanz nicht ohne Weiteres miteinander in Einklang zu bringen sind. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die öffentliche Erklärung die Peter Hain, Minister für die Belange von Nordirland und Wales, im Rahmen des Bicentenary abgab. Hain entschuldigte sich für die Beteiligung von Menschen aus den besagten britischen Regionen am transatlantischen Sklavenhandel und sprach sich für eine Anerkennung der Folgen dieser Geschichte aus. Ihm wurde prompt entgegengehalten, das abolitionistische Engagement der Bürgerinnen und Bürger von Belfast auszublenden – gerade so, als würde der Aktivismus der einen das Handeln der anderen aufwiegen und historisch neutralisieren. Ihrerseits bezeichnend ist auch die Reaktion auf diese Kritik: »The Northern Ireland Office insisted however, that Mr Hain had praised Belfast’s stance against slavery in the speech he made in New York.«65 Zahlreiche Formulierungen in den Geschichtsdebatten deuten auf eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der historischen Mehrdimensionalität hin, die eine entkoppelte Betrachtung von Sklaverei und Abolitionismus zu verbieten schien. Der in großem Stil betriebene transatlantische Sklavenhandel verband Großbritannien besonders eng mit einem geradezu symbolhaft gewaltsamen Teil der Geschichte. In den Zuständen auf den Sklavenschiffen fand die dominante Strömung des Abolitionismus, die vor einem grundsätzlichen Angriff auf die Sklavenarbeit zunächst noch zurückschreckte, einen privilegierten Ansatzpunkt für ihre Kritik. Hierbei stellten explizit christliche Argumentationen den Handel mit versklavten Menschen als eine besondere Versündigung der britischen Nation dar, der es im Sinne des eigenen kollektiven Seelenheils dringend entgegenzuwirken galt. »After all, [Wilberforce] said, without abolition there could be no possibility of redemption either personal or national.«66 Seinen Standpunkt teilten auch andere führende Abolitionistinnen und Abolitionisten. »[They] embraced the view that the slave trade was a crying sin that would bring God’s judgment crashing down on Britain and her colonies.«67 Die führende Rolle im Sklavenhandel schien darüber hinaus dem Selbstbild der vermeintlich außerordentlich freiheitsliebenden Briten zu widersprechen. Vor dem Hintergrund des noch jungen Verlustes der 13 Kolonien in Nordamerika schwang dabei ein gutes Maß an nationaler Verunsicherung in den entsprechenden Debatten mit. Die moralische Er-
65 N.N.: »British minister’s slavery apology«, in: BBC Caribbean vom 15.2.2007, http://www. bbc.co.uk/caribbean/news/story/2007/02/070215_hainslaveryapology. 66 Jones, Sam: »Follow the money. Investigators trace forgotten story of Britain’s slave trade. We are proud of UK role in abolition, but what of the aftermath, ask researchers«, in: The Guardian vom 27.8.2013. 67 Coffey, John: »›Tremble, Britannia!‹. Fear, Providence and the Abolition of the Slave Trade, 1758-1807«, in: English Historical Review 127/527 (2012), S. 844-881, hier S. 853. Explizit spricht John Coffey an dieser Stelle von Granville Sharp, John Wesley und dem Amerikaner Benjamin Rush.
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neuerung, die religiöse Reinigung der Nation erschien dabei oft als die eigentliche Priorität, der Rückzug aus dem brutalen Menschenhandel als die notwendige Bedingung. »In the language of the day, abolition was to wash away the sins of the nation.«68 Hier zeichnet sich bereits ein narrativer Ausweg aus dem scheinbaren Widerspruch ab, dessen tiefe Verankerung in der christlichen Erzähltradition ihn besonders eindringlich macht: Die Umkehr des reuigen Sünders oder die vom Moment der Selbsterkenntnis angestoßene Transformation »vom Saulus zum Paulus«. Eine solche Narration mit dramatischem Wendepunkt wurde auch in den britischen Geschichtsdebatten transportiert: In ihnen nahm John Newton (1725-1807) eine relativ prominente Rolle ein. Die von ihm geschriebene christliche Hymne »Amazing Grace« ist bis heute weltberühmt, und denselben Titel trug auch eine gezielt auf das Jubiläum der Abolition ausgerichtete Filmproduktion über das Leben von William Wilberforce.69 Newton arbeitete viele Jahre auf See, zunächst für die Marine, später als Steuermann und schließlich als Kapitän auf Sklavenhandelsschiffen. Auf einer seiner frühen Fahrten geriet das Boot in einen heftigen Sturm und schien dem Untergang geweiht. Die Besatzung gab sich daher dem Gebet um die Rettung durch göttliche Gnade hin. Tatsächlich sank das Schiff trotz eines beginnenden Wassereinbruchs nicht, und die Erlösung aus der Todesangst wurde für John Newton zu einem religiösen Erweckungserlebnis.70 In seinen späteren Lebensjahren, die er geistlichen Tätigkeiten für die anglikanische Kirche widmete, entwickelte er sich zu einem offenen Gegner des Sklavenhandels. Beim Lesen journalistischer und geschichtspolitischer Quellen aus dem Jahr 2007 können die wiederholten Verweise auf die Person den Eindruck entstehen lassen, dass viele Britinnen und Briten diese Lebensgeschichte als seelenverwandt mit der historischen »Biographie« ihrer Nation empfanden. Newtons Tod im Jahr 1807, einige Monate nach der Verabschiedung des Slave Trade Abolition Act, dürfte die Tendenz zu Parallelisierung von individualbiographischer und politischer Entwicklung befördert haben. Auch die persönliche Lebensgeschichte, die bereits 1764 in Form einer viel rezipierten Autobiographie publik wurde, ist dramaturgisch freilich nicht so geradlinig, wie beiläufige Erwähnungen des »former slave ship captain turned minister«71 es unter Umständen nahe legen. Denn die spirituelle und die professionelle Bekehrung standen in keinem direkten Zusammenhang. Das Erlebnis der existenziellen Bedrohung während des Seesturms zog zwar eine tiefgreifende Veränderung in John Newtons Weltwahrnehmung
68 Hall, Catherine: »Britain’s debt to slavery. Today the records that detail how much the trade in humans benefited the UK will be made public«, in: The Guardian vom 27.2.2013. 69 Amerikanisch-britische Koproduktion unter der Regie von John Apted, vgl. hierzu neben den Besprechungen in den großen Tagezeitungen die Rezension auf der Webseite des Projektes »1807 Commemorated«, Institute for the Public Understanding of the Past, Universität York, http://www.history.ac.uk/1807commemorated/media/reviews/amazing.html. Kritisch äußerte sich später insbesondere die Historikerin Alex von Tunzelmann in ihrer Kolumne »Reel History«: »Is Amazing Grace’s take on the slave trade historically accurate?«, in: The Guardian vom 19.2.2015. 70 Zu John Newton vgl. z.B. A. Hochschild: Sprengt die Ketten, S. 22 ff. 71 Bates, Stephen: »Church apologises for benefiting from slave trade. Guilt must be admitted, archbishop tells synod. Pledge to fight against modern slavery«, in: The Guardian vom 9.2.2006.
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nach sich; seine berufliche Lebensführung als »reasonably kind slave captain« (so H. Thomas)72 behielt er in den darauffolgenden Jahren aber vorerst bei. Die britische Geschichte von Sklaverei und Emanzipation ist ihrerseits komplexer, als es die starke erinnerungskulturelle Betonung der Abolition als dramatischer Umkehr in einer liberalen Fortschrittsgeschichte vermittelt. Auch hier gilt es zunächst, die chronologische Dimension der Vergangenheit als solche ernst zu nehmen. Trotz gewisser Überlappungen lassen sich drei Zeitebenen unterscheiden: In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts formierte sich die soziale Bewegung für ein Verbot des Transatlantikhandels mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven, der in den Slave Trade Abolition Act von 1807 mündete. Es ist diese Phase, die mit Namen wie William Wilberforce, Thomas Clarkson, Granville Sharp verbunden wird. In der darauffolgenden Zeit wurde die Abschaffung des Sklavenhandels als offizielles Ziel der britischen Außenpolitik internationalisiert. Marksteine dieser Entwicklung sind der entsprechende Druck, den Großbritannien auf die Abschlusserklärung des Wiener Kongresses ausübte, und die Formierung des West Africa Squadron der königlichen Marine. »At the congress of Vienna in 1814 Britain sought an international accord that would not only make the Atlantic slave trade illegal for all European powers but also would establish a joint agreement to enforce it. British diplomats came away from that and subsequent meetings with little more than an acknowledgment that the trade was an ›odious commerce‹ that ought to be suppressed. As an alternative, thereafter, the British government worked to forge bilateral agreements on the slave trade with each of the individual nations.«73
Die nach Westafrika entsandte Einheit patrouillierte ab 1808 für sechs Jahrzehnte in variierender Stärke vor der dortigen Küste, um mit Sklavinnen und Sklaven beladene Schiffe bereits zu Beginn ihrer transatlantischen Reise abzufangen, auch wenn diese nicht unter britischer Flagge fuhren.74 Diese Phase ist also vom Regierungshandeln,
72 H. Thomas: Slave Trade, S. 14. 73 C.L. Brown: Abolition, S. 290. Für einen Überblick über die internationale Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. das entsprechende Kapitel in Schmidt, Nelly: L’abolition de l’esclavage. Cinq siècles de combats (XVIe-XXe siècle), Paris: Fayard 2005, S. 135 ff. 74 Vgl. R.J. Blyth: Britain, the Royal Navy and the Suppression of Slave Trades. Blyth stützt sich überwiegend auf die Arbeiten von Lloyd, Ward und Howell, die inzwischen bereits älteren Datums, aber mangels jüngerer Veröffentlichungen bis heute Standardreferenzen sind. Eine aktuelle Aufarbeitung bietet die unter der Betreuung von Douglas Hamilton und David Richardson am WISE-Institut der Universität Hull entstandene Doktorarbeit von Wills, Mary: The Royal Navy and the Suppression of the Atlantic Slave Trade, c. 1807-1867. Antislavery, Empire and Identity (2012). Aufgrund der interessanten makrohistorischen Interpretation der Kampagne bemerkenswert ist der neuere Beitrag von Van der Linden, Marcel: »Unanticipated Consequences of › Humanitarian Intervention‹. The British Campaign to Abolish the Slave Trade, 1807-1900«, in: Theory and Society 39/3-4 (2010), S. 281-298. Vgl. auch Coquery-Vidrovitch, Catherine: »Traite et esclavage en Afrique Occidentale au XIXe siècle. De l’effet pervers de l’›humanitarisme‹ occidental«, in: Cahiers des Anneaux de la Mémoire 4 (2002), S. 13-27.
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von der Kombination aus Diplomatie und dem Einsatz der Royal Navy sowie einer imperialen Ausrichtung geprägt. Die ursprüngliche Regung der nationalen Selbstkritik schlief derweil aber nicht völlig ein: Zeitgleich agierte im Vereinigten Königreich ein Fortläufer der Abolitionsbewegung, der wiederum die britische Kolonialpolitik, das heißt die Regierung und mächtige Interessen des eigenen Landes ins Visier nahm. In dieser Zeit entwickelte sich eine zweite Generation des politischen Aktivismus die, im Zusammenwirken mit der Parlamentsreform von 1832 (Great Reform Act), maßgeblich zur Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien beitrug. Die Erweiterung der Wählerschaft auf etwa 20% der erwachsenen männlichen Bevölkerung veränderte das Parlament nicht nur in seiner Zusammensetzung, sondern auch in seiner Sensibilität für populäre Belange.75 Auch wenn einige Aktivisten und Politiker die Abschaffung von Sklaverei und Sklavenhandel früh zusammen dachten, stand eine regelrechte Emanzipation der afrikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter lange nicht auf der offiziellen Agenda. Noch 1833 verabschiedete das britische Parlament ein Emanzipationsgesetz, das eine mit dem Begriff »apprenticeship« bezeichnete Übergangsphase vorsah, in der die ehemaligen Sklavinnen und Sklaven ohne Entlohnung in ihrer bisherigen Position weiterarbeiten sollten. »To placate those opposed to the abolition, the government used £20m of taxpayers’ money to compensate 47.000 slave owners for the loss of their ›property‹ and introduced a system of apprenticeships that saw supposedly free slaves doing four to six years’ unpaid labour for their former masters.«76
Die ausgezahlte Entschädigungssumme war beträchtlich und deutlich höher als 15 Jahre später mit dem französischen Emanzipationsdekret verbundenen Zahlungen.77 Gegen die temporär fortdauernde Bindung der »Befreiten« an die Plantagen erhob sich wiederum Protest, und im Sommer 1838 wurde auch sie formell aufgehoben. Obwohl die Sklaverei in den atlantischen Kolonien mit Wirkung zum 1. August 1834 offiziell abgeschafft wurde, kann von Emanzipation also frühestens ab 1838 gesprochen werden. Auch ein zweiter Blick auf die direkte Wirkung des Sklavenhandelsverbots von 1807 ist nicht unbedingt geeignet, die Geschichte von einem frühen Triumph der Menschenrechte zu stützen. »After all, the abolition act changed very little. The trade continued, albeit this time deemed illegal, intra-regional relocation/trading in peoples intensified and the Slave system remained firmly in place; not being abolished until over
75 Stauffer, John: »Abolition and Antislavery«, in: Mark Smith/Robert Paquette (Hg.), Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford: Oxford University Pres 2010, S. 556-577, hier S. 569. 76 Jones, Sam: »Follow the money. Investigators trace forgotten story of Britain’s slave trade.We are proud of UK role in abolition, but what of the aftermath, ask researchers«, in: The Guardian vom 27.8.2013. 77 Zu den Wegen in die britische Gesellschaft, die das Geld genommen hat, vgl. die Studie von Draper, Nicholas: The Price of Emancipation. Slave-Ownership, Compensation and British Society at the End of Slavery, Cambridge: Cambridge University Press 2010.
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30 years later.«78 Die Tatsache, dass im Verlauf des 19. Jahrhundert noch über zwei Millionen Sklavinnen und Sklaven von Afrika nach Amerika verschifft wurden, lässt die globalhistorische Relevanz des durch das nationale Verbot erzielten Einschnitts überschaubar erscheinen. »There was no significant decline in the slave trade in the Atlantic region after 1807-8, and that is putting it mildly. The volume of the trade was temporarily reduced because of the Saint Domingue revolt (1791-1804) and the Napoleonic wars (1803-15), but then it revived again.«79 Die entsprechenden Zahlen setzen auch die Kampagne der Royal Navy in ein eher ernüchterndes Licht. Diese war ein finanziell und personell durchaus aufwändiges, der proklamierten Zielsetzung aber dennoch nicht gewachsenes und daher faktisch wenig wirksames Unterfangen. Zweifel an der selbstlosen Rechtschaffenheit kann eine Passage des Abolitionsgesetzes aufkommen lassen, welche der Krone das Recht einer Zwangsrekrutierung von durch die Marine »befreiten« Afrikanern in das Militär zusprach; andere wurden als temporär unfreie Vertragsarbeiter (»identured labourers«) in die Kolonien transportiert. »Almost half of all Africans removed from slave vessels ended up in the British Caribbean under arrangements of apprenticeship, indenture or military service.«80 Zudem zeitigte die britische Politik einige unerwünschte Nebeneffekte. Hierzu gehörte nicht nur eine Verschärfung der Bedingungen auf vielen Sklavenschiffen, deren Konstruktion nun auf mehr Wendigkeit und Geschwindigkeit ausgelegt wurde, sondern auch das Ertränken der an Bord befindlichen Afrikanerinnen und bei Herannahen einer Patrouille.81 Ähnlich wie im Fall John Newton, kann die historische Realität mit der gutgläubig an sie herangetragenen Fortschrittsgeschichte also nicht ganz mithalten. Jüngere historische Arbeiten zur Geschichte der britischen Anti-Sklaverei-Bewegung weiten den traditionell engen Fokus auf den institutionalisierten Politikbetrieb in Westminster aus und räumen verschiedenen Akteuren neuen Raum ein.82 Auch die Rolle der widerständigen Sklavinnen und Sklaven wird mittlerweile aufmerksam untersucht. Die aktuellen Trends deuten also in Richtung einer ausgleichenden Neuverteilung von historischer Handlungsmacht. Autorinnen und Autoren wie Marika Sherwood und Michael Jordan konzipierten zudem ganze Bücher zur Dekonstruktion von Mythen der historischen Erinnerung, die sie zeitnah zum Bicentenary veröffentlichten und damit eine gewisse Nachfrage bedienten.83 Die Argumentation konzentriert sich auf zwei Hauptaspekte: Erstens werden die zahlreichen Wege herausgearbeitet, auf 78 Shepherd, Verene: »Slavery, Shame and Pride. Debates over the Marking of the Bicentennial of the Abolition of the British Trans-Atlantic Trade in Africans in 2007«, in: Caribbean Quarterly 56/1-2 (2010): Slavery, Memory and Meanings. The Caribbean and the Bicentennial of the Passing of the British Abolition of the Trans Atlantic Trade in Africans, S. 1-21, hier S. 8. 79 M. Van der Linden: Unanticipated Consequences, S. 284. 80 M. Wills: Royal Navy and the Suppression of the Atlantic Slave Trade, S. 193. 81 Die königliche Marine konnte zunächst effektiv nur dann gegen die Mannschaft eines Schiffes vorgehen, wenn sie dieser in crimine flagranti habhaft wurde, ein für den Sklavenhandel ausgerüstetes Schiff reichte nicht aus, vgl. M. Van der Linden: Unanticipated Consequences. 82 Vgl. z.B. S. Drescher: Abolition. 83 Jordan, Michael: The Great Abolition Sham. The True Story of the End of the British Slave Trade, Stroud: Sutton 2005; Sherwood, Marika: After Abolition. Britain and the Slave Trade since 1807, London: I.B. Tauris 2007.
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denen Großbritannien auch nach 1807 bzw. 1833/38 noch von Sklavenhandel und Sklaverei profitierte und aktiv an Strukturen beteiligt war, die dieses Geschäft in einer wirtschaftlich vernetzten Welt stützten. Dies betraf unter anderem zuliefernde Produktionszweige und die Londoner City als internationalen Knotenpunkt des frühen Finanzkapitalismus. Für die dynamische britische Wirtschaft wesentliche Bereiche basierten auf Handelsverbindungen zu Staaten, die für die Erzeugung ihrer Exporte weiterhin auf Sklavenarbeit setzten; beispielhaft genannt werden können der Einkauf von Zucker aus Kuba oder der umfangreiche Import von amerikanischer Baumwolle als Rohstoff für die weltmarktführende Textilindustrie. Zweitens zweifeln diese Geschichten des Abolitionismus an der Bedeutung von christlichen, in heutigem Sprachgebrauch »humanitären« Beweggründen für die formale Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei im Atlantikraum. Frankreich zeichnet sich historisch zunächst vor allem dadurch aus, dass es die Sklaverei in seinen Kolonien zweimal abgeschafft hat: 1794 und 1848, in beiden Fällen unter revolutionären Umständen. In der Zeit des ersten napoleonischen Kaiserreichs erfolgte eine äußerst blutige Wiedereinführung des Ancien Régime der Plantage, die jedoch in der Kolonie Saint-Domingue militärisch scheiterte.84 Ohne den Rekurs auf diese wesentlichen Etappen lässt sich die Geschichte nicht erzählen. Das machtpolitisch motivierte Vorgehen von Napoleon Bonaparte ist dabei in besonderem Maße irritierend für die geschichtspolitische Übersetzung der Vergangenheit in ein Narrativ, das sich in den Kategorien des moralischen Fortschritts präsentieren soll – nicht zuletzt im internationalen Vergleich. »Les Lumières, les controverses de la période révolutionnaire, les efforts des abolitionnistes anglais avaient déjà souligné l’immoralité de l’esclavage.« 85 Für die nationale Erinnerungsbildung ebenfalls erschwerend hinzu kommt neben der unklaren Chronologie die diffuse Geographie der französischen Geschichte von Sklaverei und Emanzipation.
84 Vgl. z.B. Dorigny, Marcel (Hg.): Les abolitions de lesclavage de L.F. Sonthonax à V. Schœlcher, 1793, 1794, 1848 (Actes du colloque international tenu à l’Université de Paris VIII les 3, 4 et 5 février 1994), Paris: Éditions UNESCO 1995. Zur Diskussion um die Wiedereinführung der Sklaverei unter Napoleon vgl. z.B. Benot, Yves/Dorigny, Marcel (Hg.): Rétablissement de l’esclavage dans les colonies françaises 1802. Ruptures et continuités de la politique coloniale française (1800-1830). Aux origines de Haïti (Actes du colloque international tenu à l’Université de Paris VIII les 20, 21 et 22 juin 2002), Paris: Maisonneuve et Larose 2003; Girard, Philippe R.: »Napoléon Bonaparte and the Emancipation Issue in SaintDomingue, 1799-1803«, in: French Historical Studies 32/4 (2009), S. 587-618; Dubois, Laurent: »La restauration de l’esclavage en Guadeloupe, 1802-1803«, in: Cahiers du Brésil contemporain 53-54 (2003), S. 149-161; Régent, Frédéric: »Le rétablissement de l’esclavage en Guadeloupe. Mémoire, histoire et ›révisionnisme‹ 1802-2002«, in: Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique (Online) 99 (2006), http://chrhc.revues.org/1251; Branda, Pierre/Lentz, Thierry: Napoléon, l’esclavage et les colonies, Paris: Fayard 2006; Benot, Yves: La démence coloniale sous Napoléon, Neuaufl. mit einem unveröffentlichten Vorwort von Marcel Dorigny, Paris: La Découverte 2006 [1992]. 85 Halpern, Jean Claude: »Rez. zu Pierre Branda/Thierry Lentz: Napoléon, l’esclavage et les colonies, Paris: Fayard 2006«, in: Annales historiques de la Révolution française 346 (2006), S. 162-164, hier S. 163.
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Der Beschluss des Nationalkonvents von 1794 war eine Reaktion auf die sich zuspitzende Lage in Saint-Domingue, wo sich unterschiedliche Parteien in wechselnden Allianzen gewaltsam bekämpften, unter ihnen Anhänger und Gegner der Revolution, nach formaler Gleichberechtigung strebende »gens de couleur« und aufständische Sklaven sowie die Armeen der verfeindeten Kolonialmächte Spanien und Großbritannien. Jochen Meissner, Ulrich Mücke und Klaus Weber haben die komplexe Situation, mit der die Pariser Regierung umgehen musste, folgendermaßen heruntergebrochen: »Als nach der Hinrichtung des Königs die französische Republik Kommissare schickte […], sahen diese sich englischen und spanischen Invasoren gegenüber. Sie konnten nun wählen, ob sie gemeinsam mit Engländern und Spaniern gegen die Sklaven oder aber mit diesen gegen die europäischen Feinde Front machen sollten. Sie entschieden sich für letzteres und schafften die Sklaverei ab.«86
Vor Ort hatte einer der entsandten Regierungskommissare, der Jakobiner Léger-Félicité Sonthonax, den Sklavinnen und Sklaven schon einige Monate vor dem offiziellen Dekret die persönliche Freiheit versprochen, um der Republik in dem komplexen Konflikt dringend nötige Unterstützung zu sichern. »Le 16 pluviôse an II (4 février 1794), la Convention abolit l’esclavage. Le décret non seulement ratifiait ce qui avait été fait à Saint-Domingue, mais l’étendait à tout l’empire colonial français.«87 Auch wenn die in der politisch radikalsten Phase der Revolution beschlossene Rechtsreform für alle Kolonien galt, handelte es sich also nicht um das Ergebnis einer klaren Politiklinie, sondern um die nachträgliche Anerkennung lokal bereits geschaffener Tatsachen. Die Geschichte Martiniques wurde von der ersten Emanzipation jedoch kaum berührt, da hier die Vertreter des Ancien Régime mit Unterstützung Großbritanniens die Oberhand behielten. Die französische Maßnahme hatte das Potential, das Fundament der in der ganzen Karibik vorherrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur zu erschüttern. Bevor sie in Martinique umgesetzt werden konnte, nahmen die Briten die Insel daher zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ein und hielten sie bis zur Rückgabe im Zuge des Friedens von Amiens besetzt. Die britische Invasion Guadeloupes konnte dagegen mithilfe von Truppen aus nunmehr ehemaligen Sklaven zurückgeschlagen werden. Auch in den französischen Maskarenen (La Réunion) fanden die Bestimmungen des Dekrets allerdings keine Anwendung, hier aufgrund der Verweigerungshaltung der lokalen französischen Autoritäten.88 Die Wirksamkeit des ersten Emanzipationsdekrets war also nicht nur zeitlich, sondern faktisch auch räumlich begrenzt. Unter Napoleon Bonaparte erfolgte die offizielle Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien nach einem Dekret aus dem Jahr 1802. Es betraf die Gebiete, die im Zuge des Friedensschlusses mit Großbritannien an Frankreich zurückgefallen waren: Hier sollten Sklaverei und Sklavenhandel von der 1794 geschaffenen Rechtslage weiterhin unberührt bleiben. Streng genommen führte dieses Dekret die
86 J. Meissner/U. Mücke/K. Weber: Schwarzes Amerika, S. 158. 87 L. Dubois: Restauration de l’esclavage en Guadeloupe, S. 150. 88 Vgl. Régent, Frédéric: La France et ses esclaves. De la colonisation aux abolitions (16201848), Paris: Grasset 2007, S. 249 ff.
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Sklaverei also nicht wieder ein. Mit der Unterzeichnung stand die aktive Wiederherstellung des Plantagenregimes in den anderen Kolonien der Region jedoch als naheliegende Option im kolonialpolitischen Raum. Schließlich wurden militärisch entsprechende Fakten geschaffen, wobei es zunächst darum ging, den napoleonischen Machtanspruch auch in Übersee durchzusetzen. »La Guadeloupe (mais aussi la Guyane française) ont connu, en 1802 et 1803, un processus unique et brutal: le rétablissement de l’esclavage.«89 Historisch ebenso einzigartig waren die Ereignisse, die sich zu dieser Zeit in Saint-Domingue abspielten. In einem überwiegend von früheren Sklaven getragenen Kampf widersetzte sich die Kolonie dem französischen Kaiserreich und seiner vom Gelbfieber gebeutelten Armee – mit Erfolg. Am 1. Januar 1804 rief JeanJacques Dessalines die Unabhängigkeit Haitis aus, wo er bis zu seiner Ermordung im Jahr 1806 als Kaiser Jacques I. regierte.90 »Ce fut non seulement la première défaite de Bonaparte, mais surtout une décolonisation unique en son genre, obtenue par d’anciens esclaves d’origine africaine, face à un régime issu de la Révolution française.«91 Sie fiel in eine Phase des Niedergangs französischer Weltmacht, die mit dem Rückzug aus Kanada bereits begonnen hatte, sich mit dem Verkauf von Louisiana fortsetzte und in Europa mit der Entscheidungsschlacht bei Leipzig 1813 vorerst besiegelt wurde. Unter britischem Druck wurde in der Zeit nach dem Wiener Kongress das Verbot des transatlantischen Sklavenhandels in Frankreich eher widerwillig und lückenhaft durchgesetzt. Die internationale Rivalität lieferte den Gegnerinnen und Gegnern der Abolition hierbei ein zusätzliches Argument. »Parce que cette interdiction avait été imposée à leur gouvernement par les Anglais, la braver, c’était faire acte de patriotisme, en même temps que redynamiser une économie coloniale asphyxiée par la guerre entre une France veuve de sa marine et une Royal Navy triomphante.«92 Die Ahndung entsprechender Vergehen wurde mit einer deutlichen Tendenz zum offiziell sanktionierten Laxismus gehandhabt. Zwar wiederholte eine Reihe von Regierungsverlautbarungen aus der Zeit der restaurierten Bourbonenmonarchie das Verbot des Sklavenhandels. Aber erst 1831 wurde ein Gesetz erlassen, das den Willen erkennen ließ, die Praxis effektiv zu unterbinden.93 Der lange Weg zu einer mit Sanktionen und Kontrollen verbundenen Umsetzung des Verbots macht den Einschnitt, der in Großbritannien mit dem Jahr 1807 zumindest symbolisch klar markiert wird, historisch und damit auch erinnerungskulturell schwer greifbar. Als eigenständiger Referenzpunkt in 89 L. Dubois: Restauration de l’esclavage en Guadeloupe, S. 149. 90 Zur haitianischen Revolution vgl. v.a. Geggus, David Patrick/Fiering, Norman (Hg.): The World of the Haitian Revolution, Bloomington, IN: Indiana University Press 2009; Nesbitt, Nick: Universal Emancipation. The Haitian Revolution and the Radical Enlightenment, Charlottesville, VA: University of Virginia Press 2008; Dubois, Laurent: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge, MA: Harvard University Press 2004. Außerdem enthalten alle neueren Überblickswerke zur Geschichte der Sklaverei Auseinandersetzungen mit diesem Teil der atlantischen Geschichte. 91 Halpern, Jean-Claude: »Rez. zu Pierre Branda/Thierry Lentz: Napoléon, l’esclavage et les colonies, Paris: Fayard 2006«, in: Annales historiques de la Révolution française 346 (2006), S. 162-164, hier S. 164. 92 E. Saugera: Question(s) de mémoire. 93 Daget, Serge: »L’abolition de la traite des Noirs en France de 1814 à 1831«, in: Cahiers d’études africaines 11/41 (971), S. 14-58, hier S. 56.
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der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ist die Abolition in Frankreich geschichtspolitisch kaum konstruktiv zu verwerten. Vielmehr stellen die Ereignisse, die sich um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in der französischen Karibik abspielten, die republikanische Erinnerungskultur – »la France, pays des droits de l’homme« – fundamental in Frage. Ein zusätzliches Hindernis für die erinnerungskulturelle Verarbeitung der Geschichte stellt ihre ausufernde Gewalthaftigkeit dar. »[L]e rétablissement de l’esclavage et de la traite […] mit la Guadeloupe et Saint-Domingue à feu et à sang […]. Si l’ordre fut rétabli dans la première des deux îles avec la plus grande brutalité, à Saint-Domingue, la cruauté sans mesure et les excès […] n’évitèrent pas la défaite des débris de l’armée française, et la proclamation de l’indépendance«.94
Sowohl die Wiedereinführung der Sklaverei als auch die Revolution in Haiti gingen mit einer systematischen Gewaltanwendung einher, die in letzter Konsequenz auf die physische Elimination ganzer Bevölkerungsgruppen ausgerichtet war. Versuchen, die »weiße« Herrschaft ein für allemal auszuradieren, stand das Ziel der napoleonischen Militärkampagne gegenüber, welche die kolonialen Unruheherde langfristig stabilisieren und für die französischen Machtansprüche sichern sollte. »Une fois la résistance en Guadeloupe éliminée grâce à des exécutions et des déportations massives, la voie est libre en mai 1802 pour le rétablissement de l’esclavage.«95 Nur in Saint-Domingue gelang es den französischen Truppen unter hohen Verlusten nicht, ihren Kommandeuren die Kontrolle über den Inselteil zu erkämpfen. Zwar war der Konflikt nur einer von vielen, die das revolutionäre Frankreich auszufechten hatte. Dennoch sollte ein Blick auf die historische Datenlage eigentlich keinen Zweifel an der Bedeutung des karibischen Kriegsschauplatzes aufkommen lassen: »In the 1780s, the French colony of Saint-Domingue the western third of Hispaniola (or Santo Domingo) was the centerpiece of the Atlantic Slave system. It produced over half the world’s coffee [...] and in 1787 Saint-Domingue exported almost as much sugar as Jamaica, Cuba, and Brazil combined.«96 Fast eine halbe Million Menschen mussten hierfür Sklavenarbeit auf den Plantagen leisten. Es kann nicht verwundern, dass die mit Abstand profitabelste französische Kolonie den Neid und die Begehrlichkeit anderer europäischer Mächte weckte und in den Jahren nach dem Beginn der Französischen Revolution intensiv um die Kontrolle über das Gebiet gekämpft wurde. »In 1793, fearful that [the] revolt would spread to the neighbouring British slave colony of Jamaica, and hoping to add the island to his own Caribbean possessions, King George III sent 27,000 troops to Haiti. The ensuing occupation turned out to be one of the greatest (if still least known) catastrophes of British imperial history. Tropical disease killed George III’s Redcoat soldiers in their thousands before finally they capitulated to [François-Dominique Toussaint]
94 Halpern, Jean-Claude: »Rez. zu Pierre Branda/Thierry Lentz: Napoléon, l’esclavage et les colonies, Paris: Fayard 2006«, in: Annales historiques de la Révolution française 346 (2006), S. 162-164, hier S. 163. 95 L. Dubois: Restauration de l’esclavage en Guadeloupe, S. 156. 96 D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 158.
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L’Ouverture. It was the first time in history that a European army had surrendered to a black general«.97
Welthistorisch betrachtet, ereignete sich einige Jahre später in Saint-Domingue nicht nur die einzige erfolgreiche Revolte gegen das Regime der Sklaverei, sondern auch der erste Unabhängigkeitskrieg in der Geschichte des europäischen Kolonialismus. »No slaves in history had ever expelled their former masters and established their own nation-state.«98 Die Bedeutung des Ereignisses reicht daher weit über den Rahmen der nationalen Geschichte hinaus, und dies nicht nur, weil sich die britischen und spanischen Truppen im Kampf um den Inselteil schließlich ebenfalls geschlagen geben mussten. Da es sich bei Saint-Domingue um eine französische Kolonie handelte, ist Frankreich allerdings auf besondere und geschichtspolitisch folgenreiche Weise mit der haitianischen Geschichte verbunden. Der Ausgang der haitianischen Revolution brachte dem Land nicht nur einen wirtschafts- und machtpolitisch empfindlichen Territorialverlust ein. Er war eine Niederlage vor den Augen der Welt, die – gemessen an den eigenen rassistischen und sozialpolitischen Ordnungshierarchien – eine unerhörte und international wahrgenommene Demütigung darstellte. Die Anerkennung als selbstständiger Staat wurde Haiti von den seinerzeit führenden Weltmächten lange verweigert, wobei die politische Geste mit einem folgenreichen ökonomischen Ostrazismus einherging. Erst 1825 war Frankreich bereit, sein Embargo aufzuheben und sich mit dem militärischen Ergebnis abzufinden – allerdings nur gegen die Zahlung einer hohen »Entschädigung«, welche die haitianische Wirtschaft über Jahrzehnte hinweg weiter auslaugen sollte.99
97 Thomson, Ian: »The black Spartacus«, in: The Guardian vom 31.1.2004. 98 D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 169. Die welthistorische Bedeutung der haitianischen Revolution als erstem Sieg der vom europäischen Kolonialismus Unterdrückten betont auch Nesbitt, Nick: »The Idea of 1804«, in: Yale French Studies 107 (2005): The Haiti Issue. 1804 and Nineteenth-Century French Studies (2005), S. 6-38. Dessalines wird der Satz »J’ai sauvé mon pays, j’ai vengé l’Amérique« zugeschrieben, aus dem dies globale Perspektive ebenfalls hervortritt (Deklaration von Jean-Jacques Dessalines, Liberté ou la mort. Aux habitants d’Haïti, 28.4.1804). Auf ihn geht der Buchtitel »Avengers of the New World« von Laurent Dubois zurück. 99 Vgl. insb. Blancpain, François: »L’ordonnance de 1825 et la question de l’indemnité«, in: Yves Benot/Marcel Dorigny (Hg.), Rétablissement de l’esclavage dans les colonies françaises 1802. Ruptures et continuités de la politique coloniale française (1800-1830). Aux origines de Haïti (Actes du colloque international tenu à l’Université de Paris VIII les 20, 21 et 22 juin 2002), Paris: Maisonneuve et Larose 2003, S. 221-230. Im Vorfeld des Jahrestags der haitianischen Unabhängigkeit meldete die französische Presse, dass das Regime von Bertrand Aristide eine Summe von 21 Milliarden Dollar zurückerstatten, eine offizielle Aufforderung an die französische Regierung hat es aber nicht gegeben, vgl. vgl. Armengaud, JeanHébert: »La France sommée de ›restituer‹. Haïti réclame 21 milliards de dollars, le ›prix‹ de l’indépendance en 1804, Libération, 31.12.2003; Caroit, Jean-Michel: »Haïti prépare le bicentenaire de son indépendance et réclame des réparations financières à Paris«, Le Monde, 7.10.2003. Vgl. auch Comité indépendant: Rapport (28.1.2004).
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Die entgrenzte Gewalt des karibischen Konflikts wurde bereits von zeitgenössischen Beobachterinnen und Beobachtern mit großer Erschütterung beschrieben. 100 »For numerous whites the Haitian Revolution reinforced the conviction that emancipation in any form would lead to economic ruin and to the indiscriminate massacre of white populations.«101 Auch andere Inseln der Region versanken im Zuge der von der ersten französischen Republik geführten Kriege in einen Zustand, den David Brion Davis als »racial warfare« bezeichnet hat.102 Insgesamt kamen in der Karibik mehr britische und französische Soldaten ums Leben als auf den großen Schlachtfeldern in Europa.103 Unter den zahlreichen Opfern der dort unter den Franzosen grassierenden Tropenkrankheiten befand sich auch der befehlshabende General Charles Victoire Emmanuel Leclerc, Napoleons Schwager. »Leclerc’s successor, General Rochambeau, then resorted to a policy of at least partial genocide. The French concluded that Saint-Domingue could be pacified only by exterminating most of the existing black and mulatto population, which could later be replaced by African slaves.«104
Auch andere Historiker verwenden den Begriff »Genozid« oder »genozidär«105; Nick Nesbitt hat die Auseinandersetzung als »first modern case of unlimited warfare through the means of mass terrorization« qualifiziert.106 Die Namen von Leclerc und Rochambeau sind am Arc de Triomphe in Paris verewigt, ebenso wie der von General Antoine de Richepance, der die Armee in Guadeloupe führte und dort dem Gelbfieber 100 101 102 103
Vgl. z.B. D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 160. Ebd., S. 158. Ebd., S. 196. Napoleon verlor im Kampf um Haiti nicht nur seinen Schwager, sondern insgesamt 19 Generäle und mehr Soldaten als später in der Schlacht bei Waterloo, Trouillot, Michel-Rolph: »Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der haitischen Revolution«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Campus Verlag 2002, S. 84115, hier S. 105. 104 D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 168. 105 So etwa P.R. Girard: Napoléon Bonaparte and the Emancipation Issue. Vgl. auch das Kapitel bei R. Blackburn: American Crucible, »A ›nearly genocidal‹ revolution«, S. 210 ff.; Dubois, Laurent: »Avenging America. The Politics of Violence in the Hatian Revolution«, in: David Geggus/Norman Fiering (Hg.), The World of the Haitian Revolution, Bloomington, IN: Indiana University Press 2009, S. 111-124. Eine andere Position beziehen Pierre Branda und Thierry Lentz vor dem Hintergrund der Debatte um »Napoleons Verbrechen« (vgl. hierzu das Kapitel Das Jahr 2005: Erinnerungskulturelle Unruhen): »On a même récemment pu entendre certains militants de cause – dont, nous l’avouons humblement – les contours et les objectifs nous échappent – soutenir que Napoléon aurait voulu organiser le ›génocide‹ des Noirs.« Von der hier als erinnerungskulturelle Militanz (ab-)qualifizierten These halten die Autoren nichts, vgl. P. Branda/T. Lentz: Napoléon, l’esclavage et les colonies, S. 9. 106 Nesbitt, Nick: »A Singular Revolution«, in: Alec G. Hargreaves (Hg.), Memory, Empire and Postcolonialism. Legacies of French Colonialism, Lanham: Lexington Books 2005, S. 37-50, hier S. 40.
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erlag. Der aktive Einsatz für die (versuchte) Wiedereinführung eines bereits in Teilen demontierten Systems, das nach heutigen Maßstäben einem Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit entspricht, befleckt den in den Revolutionskriegen erworbenen Militärruhm der republikanischen Generäle. Vor allem aber kratzt die Mission an der historischen Reputation ihres Oberbefehlshabers, dem selbsternannten französischen Kaiser Napoleon I., einer bis heute überragenden Figur der erinnerten Nationalgeschichte.107 Dies gilt umso mehr, als die haitianische Unabhängigkeit in jüngerer Zeit zu einem internationalen Erinnerungsort der atlantischen Geschichte aufgestiegen ist. Die tragende Rolle spielt hierbei François-Dominique Toussaint (genannt L’Ouverture, ca. 1743-1803), der bereits von seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als Ausnahmepersönlichkeit angesehen und oft als »schwarzer Napoleon« oder »schwarzer Spartakus« tituliert wurde.108 Der Sklaverei erst relativ spät in seinem Leben entkommen, führte sein Werdegang den politischen Autodidakten zunächst in eine Allianz mit den royalistischen Spaniern. Nach der französischen Emanzipationserklärung wechselte er auf die Seite der Republik und sein militärisches Geschick ließ ihn bis in den Rang eines Generals der Revolutionsarmee aufsteigen. 1797 erfolgte seine Ernennung zum Gouverneur der französischen Inselkolonie, und in der Folgezeit baute er seine Machtposition zur weitgehenden Herrschaftsautonomie aus. Von Napoleon Bonaparte zunächst noch anerkannt, agierte Toussaint-Louverture seit 1801 auf Basis einer selbsterlassenen Verfassung, in der unter anderem das Verbot der Sklaverei verankert war. Der von Paris entsandten Expedition unter Leclerc musste er sich aber schließlich geschlagen geben. Als Gefangener wurde er nach Frankreich gebracht, wo er wenig später den Folgen seiner schweren Haftbedingungen im Fort Joux (Jura) erlag. Von der Nachgeschichte der Revolution blieb seine Biographie also unberührt. In Toussaints wechselhaftem Verhältnis zu Frankreich spiegelt sich die ganze Komplexität und Kontingenz der französisch-karibischen Geschichte in der ereignisreichen Revolutionszeit, die sich schwer in eine einfache, akteurszentrierte Erinnerung fügen lässt. »In 1794, France’s formal abolition of slavery recognized the freedom de facto gained by the slaves in arms.«109 – Doch auch im Hinblick auf die endgültige Emanzipation stellt sich die offizielle Handlungsmacht des französischen Staates letzten Endes als brüchig dar, und der zeitliche Ablauf bleibt ebenfalls unübersichtlich. Die 107 Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass über die Motive von Napoleon Bonaparte intensiv diskutiert wurde und wird. Den Tendenzen zu einer ideologischen Entlastung des selbst ernannten Kaisers, der von seinem Umfeld beeinflusst worden sein soll, stehen hierbei Stimmen gegenüber, die eine sehr persönliche Verantwortung und gezielte Vorgehensweise vermuten. Vgl. z.B. P.R. Girard: Napoléon Bonaparte and the Emancipation Issue sowie D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 167. 108 Aufgrund des Konflikts mit der napoleonischen Armee und Toussaints Reputation als starke militärischer Führungspersönlichkeit ist die erste Bezeichnung naheliegend, die zweite geht nicht zuletzt auf das bekannte Werk der Aufklärung »Histoire des deux Indes« zurück, das in erster Linie Guillaume Raynal und Denis Diderot zugeschrieben wird. In der zweiten Auflage wird das historische Auftreten eines Mannes antizipiert, der als »schwarzer Spartakus« das an den versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern begangene Unrecht rächen würde. 109 M.-R. Trouillot: Silencing the Past, S. 37.
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zweite Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien wurde am 27. April 1848 von der revolutionären Übergangsregierung unter Alphonse de Lamartine dekretiert. Ausarbeitung und Beschluss des Vorhabens erfolgten dabei bewusst außerhalb der parlamentarischen Debatte.110 Zwischen der Unterzeichnung des Dekrets, das eine zweimonatige Übergangsfrist vorsah, und seiner Ankunft in den entfernten Kolonien verstrichen mehrere Wochen. In dieser Zwischenzeit wurde Martinique von einem Sklavenaufstand erschüttert. Er veranlasste die kolonialen Autoritäten, noch am Folgetag und vor dem eigentlichen Eintreffen des Beschlusses aus Paris die sofortige Abschaffung der Sklaverei zu verkünden. »[U]nofficial news of the decree reached Martinique ahead of metropolitan commissioners on May 22. Martiniquan slaves wasted no time in mobilizing by the thousands to claim their freedom. They burned buildings, killed whites, and pressured the provincial governor of the colony in the port of Saint-Pierre to proclaim emancipation publicly. The governor of Guadeloupe, also under duress, performed similarily.«111
Nur in Guayana verlief die Emanzipation weitgehend nach dem offiziell dekretierten Zeitplan, während die politische Elite der Insel La Réunion das Inkrafttreten noch bis zum Jahresende hinauszögerte. Die zeitlich zerklüftete Geschichte spiegelt sich heute in den regionalspezifischen Daten des Gedenkens an die Abschaffung der Sklaverei wider, die 1983 als offizielle Feiertage in den Überseedepartements eingerichtet wurden: 22. Mai (Martinique), 27. Mai (Guadeloupe), 10. Juni (Guayana), 20. Dezember (La Réunion).112 Auch in Frankreich war die Reform mit der Auszahlung von Kompensationen an Plantagenbesitzer verbunden. »French Emancipation was, like that in Britain, conditional: it compensated masters six million francs in cash and six million in credit for the 250.000 slaves in the French colonies […] and it encouraged freedpeople to work for wages rather than as subsistence farmers«.113 Die Initiative und die konkrete Formulierung des Dekrets gingen im Wesentlichen auf Victor Schœlcher zurück, der als Unterstaatssekretär für Marine- und Kolonialangelegenheiten die entsprechende Kommission leitete und im Verlauf seiner politischen Karriere auch als Parlamentsabgeordneter für Martinique bzw. Guadeloupe aktiv war. Seine Pläne für eine radikale Reform der Kolonien, die nicht zuletzt auch den Landbesitz betroffen hätte, wurden allerdings nicht umgesetzt. 114 In der französischen Erinnerung entspricht die Rolle Schœlchers der von William Wilberforce, allerdings erreichte die Reputation des bekennenden Atheisten nicht denselben ikonenhaften Rang und setzt nicht auf derselben
110 Vgl. F. Régent: La France et ses esclaves, S. 286. 111 J.D. Garrigus: French Slavery, S. 194. 112 Vgl. F. Régent: La France et ses esclaves, S. 287; Loi n° 83-550 du 30 juin 1983 relative à la commémoration de l’abolition de l’esclavage; Décret n°83-1003 du 23 novembre 1983 relatif à la commémoration de l’abolition de l’esclavage. 113 J. Stauffer: Abolition and Antislavery, S. 571. 114 Zu Victor Schœlcher vgl. z.B. Schmidt, Nelly: Victor Schœlcher et l’abolition de l’esclavage, Paris: Fayard 1994.
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systematischen Quellentradition und Mythenbildung auf. »[Schœlcher] ne fera néanmoins jamais l’objet d’un culte national semblable à celui qui s’établit, dès leurs morts, autour des abolitionnistes britanniques.«115 Dies kann schon deshalb nicht verwundern, weil die französische Bewegung zur Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei kaum als solche bezeichnet werden kann. Dies fällt für Historiker/-innen besonders im internationalen Vergleiche auf: »I am struck in the course of my own work thus far by the weakness in commitment, strategy, and organization of the first carriers of the abolitionist program in France«, schrieb Daniel Resnick bereits vor über 40 Jahren. »Those deficiencies have become most apparent in the comparative study of the contemporaneous English and French abolitionist societies.«116 Spätere Arbeiten haben dieses Urteil nicht grundsätzlich revidiert. Die insgesamt unruhigen politischen Rahmenbedingungen in Frankreich waren den Aktivitäten von sozialen Reformbewegungen äußerst abträglich. »Peut-on parler de mouvement abolitionniste en France?«, fragte daher auch Nelly Schmidt als ausgewiesene Expertin auf dem historischen Gebiet. »Le terme suppose une cohérence des engagements dans une assez longue durée. [...] Or l’engagement antiesclavagiste en France n’eut pas cette cohérence. […] Les engagements fut essentiellement individuels, et non collectifs.«117 Versuche, die verstreut bestehende Ablehnung von Sklavenhandel und Sklaverei politisch zu organisieren, blieben so stets eine elitäre und unsystematisch verfolgte Angelegenheit. Die politische Aktion gegen Sklaverei und Sklavenhandel ging zunächst vor allem von der Société des Amis des Noirs aus, der auch der bekannte Abbé Henri Grégoire angehörte. Ins Leben gerufen wurde die Vereinigung 1788, die Inspiration zu diesem Schritt hatte der spätere Girondisten-Führer Jacques-Pierre Brissot (1754-1793) in Nordamerika und in England erhalten, wo er an einem Treffen des London Committee der SEAST teilgenommen hatte. Überhaupt zeichnete sich der französische Abolitionismus durch seine Orientierung am, wenn nicht Abhängigkeit vom britischen Vorbild aus. »British abolitionists gave the Amis des Noirs money and literature, and the famous British abolitionist Thomas Clarkson became a key advisor.«118 Angesichts der innen- wie außenpolitisch äußerst turbulenten Geschichte Frankreichs in den Dekaden vor 1800 ist die direkte oder indirekte Wirkung der Amis de Noirs auf die offizielle Kolonialpolitik schwer zu bemessen. Als treibender Faktor der Entwicklung werden ihre Aktivitäten generell nicht betrachtet. »In 1794, when France emancipated its 700.000 colonial slavery and granted citizenship rights to all men regardless of race, the Amis des Noirs played no role in the decision. This first emancipation stemmed from military reasons rather than humanitarian impulse.«119 Tatsächlich verliert sich die historische Spur der Gesellschaft bereits in der ersten Hälfte der 1790er Jahre wieder. Es liegt somit ein weiter Bruch zwischen ihr und der 1834 ins Leben gerufenen Société pour l’abolition de l’esclavage. Auch in diesem Fall gingen die Briten voraus. 115 R. Hourcade: Ports négriers, S. 81. 116 Resnick, Daniel P.: »The Societé des Amis des Noirs and the Abolition of Slavery«, in: French Historical Studies 7/4 (1972), S. 558-569, hier S. 569. 117 N. Schmidt: Cinq siècles de combats, S. 152. 118 J. Stauffer: Abolition and Antislavery, S. 565. 119 Ebd., S. 566.
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»There was such a preponderant role played by British delegates and concepts in the first sessions of the French abolition society that there can be no doubt about the profound cross-Channel influence on the formation of the leading French anti-slavery organization.«120Anders als die Abolitionistinnen und Abolitionisten in Großbritannien fand die französische Vereinigung für ihre Ziele keinen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung. Allerdings gehörte das Vorantreiben der eigenen Anliegen durch die Mobilisierung einer populären Basis auch nicht zum strategischen Arsenal des überwiegend von adligen Intellektuellen getragenen Kreises. »Like its predecessors during the Revolutionary and Restoration periods, the Societé française was dominated by members of the elite who feared the masses and felt at ease propagating its message only through the printed media and parliamentary channels.«121 Entgegen anderslautender taktischer Empfehlungen aus Großbritannien arbeitete die Société des Amis des Noirs s von Beginn an für die Abschaffung nicht nur des Sklavenhandels, sondern auch der Sklaverei. Darüber hinaus verfolgte sie aber ein weiteres und ganz im Sinne einer bürgerlichen Revolution prioritär behandeltes Projekt: Die Ausweitung der politischen Rechte von freien »gens de couleur«, die in den französischen Kolonien einen Bevölkerungsanteil von bis zu 25% ausmachten.122 In der britischen Politik erlangte die Diskussion dieser Frage aus demographischen Gründen zu keinem Zeitpunkt Prominenz. Ihre angestrebte Lösung war nicht unbedingt mit einer Statusänderung der Versklavten verbunden und verleiht der scheinbar schwarz-weißen Konfliktkonstellation im französischen Kontext eine zusätzliche Komplexitätsebene, die erinnerungskulturell alles andere als einfach zu verarbeiten ist.123 Die umfassendste Forschungsarbeit legte im Jahr 2000 Lawrence Jennings vor, der den französischen Abolitionismus von 1802 bis 1848 in den Blick nimmt. Seine Bilanz fällt auch in Bezug auf die zweite Emanzipation wenig vorteilhaft für den kleinen Kreis der französischen Abolitionisten aus: »The Société française pour l’abolition de l’esclavage had been unable to bring about slave liberation in the French colonies. Under the July Monarchy anti-slavery had not been strong enough to overcome the opposition of the plantocracy and the procrastination of the government. To the very end it remained too removed from public opinion to win over the support necessary to counter the resistance of an effective colonial lobby combined with the determined immobility of the French authorities.« 124
120 Jennings, Lawrence C.: French Anti-Slavery. The Movement for the Abolition of Slavery in France 1802-1848, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 53. 121 Ebd., S. 285. 122 J.D. Garrigus: French Slavery, S. 187. 123 Zur Debatte um die gens de couleurs vgl z.B. F. Régent: La France et ses esclaves, S. 213 ff. 124 Jennings, Lawrence C.: French Anti-Slavery. The Movement for the Abolition of Slavery in France 1802-1848, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 285. Vgl. auch Barlier, Jean-Pierre: La Société des Amis des Noirs, 1788-1791. Aux origines de la première abolition de l’esclavage (4 février 1794), Paris: Éditions de l’Amandier 2010; Dorigny, Marcel/Gainot, Bernard: La Société des Amis des Noirs. 1788-1799. Contribution à l’histoire de l’abolition de l’esclavage, Paris: Éditions UNESCO/EDICEF 1998 (gesam-
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Der vorbildlichen britischen Abolitionsbewegung, deren Image durch Überlieferung und Historiographie früh zu einem quasi legendären Ausdruck des humanitären Fortschritts geronnen ist, hat die Geschichte Frankreichs insgesamt wenig entgegenzusetzen.
melte und kommentierte Quellen). An den unterschiedlichen Zeiträumen, welche die Veröffentlichungen abdecken, zeigt sich bereits das Problem der Erforschung einer zerrissenen Geschichte mit teils schwieriger Überlieferungslage, mit der sich Dorigny und Gainot in ihrer umfänglichen Quellenkommentierung auseinandersetzen.
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RASSISMUS UND INTEGRATION ALS HERAUSFORDERUNG DER POLITISCHEN KULTUR Die heutigen Staaten Frankreich und Großbritannien waren im Verlauf der Geschichte wiederholt Destinationen von Migrationsströmen, erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wiesen diese aber eine signifikante (post-)koloniale Komponente auf.1 Viele der aus (früheren) Kolonialgebieten eingewanderten Menschen haben sich schließlich dauerhaft niedergelassen. Sie nehmen heute auf allen Ebenen am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Alltag der Länder teil und erheben folgerichtig den legitimen Anspruch auf eine Berücksichtigung ihrer kulturellen und historischen Perspektiven. Familien leben zum Teil seit mehreren Generationen in Westeuropa, und insbesondere ihre jüngeren Angehörigen haben zumeist die entsprechende Staatsbürgerschaft inne. In Großbritannien wie Frankreich stellen Einwohner/-innen mit afrokaribischem Hintergrund eine bedeutsame Präsenz dar, die jedoch von anderen Gruppen aus der postkolonialen Migration zahlenmäßig übertroffen wird. So leben in der französischen deutlich mehr Menschen, die über eine Verbindung zum Maghreb, vor allem zu Algerien, verfügen. Im Vereinigten Königreich haben sich viele Menschen aus den heutigen Staaten Indien, Pakistan und Bangladesch angesiedelt. In diesen Fällen tritt neben der äußeren Erscheinung als Differenzierungsmerkmal oft die Religion hinzu.2
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Einen Überblick über die jüngere britische bzw. französische Immigrationsgeschichte bieten u.a. Hargreaves, Alec G.: Multi-Ethnic France. Immigration, Politics, Culture and Society, Abingdon/New York, NY: Routledge ²2007 [1995]; Panayi, Panikos: An Immigration History of Britain. Multicultural Racism since 1800, Abingdon/New York, NY: Routledge 2010. Vgl. außerdem das neu aufgelegte Standardwerk Fryer, Peter: Staying Power. The History of Black People in Britain, Neuaufl., London: Get Political 2010 [1984]. Bemerkenswert aufgrund der chronologischen Tiefendimension ist zudem Winder, Robert: Bloody Foreigners. The Story of Immigration to Britain, London: Abacus 2005. Hier setzt die Betrachtung bei den »Norman Invaders« ein und passt damit zu den Perspektiven, die auch die Bestrebungen von New Labour zur Aktualisierung des nationalen Geschichtsbildes prägten. Für einen Überblick über die demographischen und politischen Rahmenbedingungen sowie ihre Folgen für öffentliche Debatten vgl. Cohen, James: »Postcolonial Immigrants in France and Their Descendants. The Meanings of France’s ›Postcolonial Moment‹, in: Ulbe Bosma/Jan Lucassen/Gert Oostindie (Hg.), Postcolonial Migrants and Identity Politics. Europe, Russia, Japan and the United States in Comparison, New York, NY/Oxford: Berghahn
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Treibender Faktor für die Migration war die Nachfrage auf dem expandierenden europäischen Arbeitsmarkt, die mit mehr oder weniger starker Lenkung des Staates gedeckt wurde. »Caribbean migration to Britain was essentially powered by free market labour forces, but it had its origins in government sponsored war time recruitment.«3 Diese Einwanderung erreichte zu Beginn der 1960er Jahre ihren Höhepunkt, wobei sich die Ansiedlung in erster Linie auf London, in zweiter Linie auf industriell geprägte nordenglische Mittelstädte wie Birmingham, Bristol, Liverpool, Manchester, Leeds und Bradford konzentrierte. Die transatlantische Migration aus der französischen Karibik erfolgte nicht nur etwas zeitversetzt, sondern auch unter Bedingungen, die nicht zuletzt eine Folge der geteilten Nationalität waren. »The movement of French West Indians to France is quite remarkable in comparison with the British movement for the direct and comprehensive involvement of government agencies in recruitment, training and placement in France.«4 Der französische Staat deckte auf diesem Wege vor allem seinen Bedarf an Arbeitskraft auf unteren Ebenen des öffentlichen Dienstes. Aufgrund der starken räumlichen Konzentration der Niederlassungen wird die Region Île-de-France, die vor allem die Hauptstadt und ihr Umland umfasst, manchmal als »fünftes Überseedepartement« bezeichnet.5 Im Zuge der wirtschaftlichen Rezession schwenkten sowohl die britische als auch die französische Regierung in den 1970er Jahren auf einen politischen Kurs ein, der die radikale Beschränkung von außereuropäischer Immigration zum Ziel hatte. Dennoch ist im Verlauf der 1980er und besonders der 1990er Jahre in beiden Untersuchungsländern gerade der migratorische Zustrom von Menschen aus südlich der Sahara gelegenen Regionen Afrikas angewachsen. »While immigration [to France] in general has remained steady since the 1980s, there has been a 43% increase in immigration from Africa between 1989 and 1999, which figures reflect legal immigration only.«6 Die Flucht vor wirtschaftlichen und politischen Krisen spielte hierbei eine entscheidende Rolle; im Zuge dieser jüngeren Einwanderungsphase kam daher auch eine
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Books 2012, S. 23-70; Thandi, Shander S.: »Postcolonial Migrants in Britain. From Unwelcome Guests to Partial and Segmented Assimilation«, in: Ulbe Bosma/Jan Lucassen/Gert Oostindie (Hg.), Postcolonial Migrants and Identity Politics. Europe, Russia, Japan in Comparison, New York, NY/Oxford: Berghahn Books 2012, S. 61-94. Peach, Ceri: The Caribbean in Europe. Contrasting Patterns of Migration and Settlement in Britain, France and the Netherlands (Research Paper in Ethnic Relations No. 15), Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick, October 1991, 34 S., o. S., https://web. warwick.ac.uk/fac/soc/CRER_RC/publications/pdfs/Research%20Papers%20in%20Ethnic %20Relations/RP%20No.15.pdf. Ebd. Nach der nationalen Integration im Jahr 2011 ist inzwischen Mayotte das fünfte überseeische Departement der französischen Republik Guadeloupe, Guayana, La Réunion und Martinique, die populäre Bezeichnung müsste also eigentlich angepasst werden. Zur Struktur der besagten Bevölkerungsgruppe vgl. Valentin, Marie-Claude: »Le cinquième DOM. Mythes et réalités«, in: Pouvoirs 113/2 (2005), S. 155-159. Camus, Jean-Yves: »The Commemoration of Slavery in France and the Emergence of a Black Political Consciousness«, in: The European Legacy 11/6 (2006): Modern Perspectives on Slavery, S. 647-655, hier S. 648.
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Diskussion um die Gewährung von Asyl und den Status von Personen auf, deren dauerhafter Aufenthalt im Land nach geltendem Immigrationsrecht illegal war. Anders als unter den afrokaribischen Migrantinnen und Migranten befand sich auch unter den afrikanischen wiederum eine nicht unbeträchtliche Zahl von muslimischen Gläubigen. Laut britischer Bevölkerungszählung gehörten im Jahr 2001 1,9 Millionen Personen der Gruppe »Black / African / African-Caribbean / Black British« an, etwa die Hälfte von ihnen dürfte über einen karibischen Familienhintergrund verfügen. Zählt man Personen hinzu, die sich selbst als »mixed race« einordneten, ergibt sich ein Anteil an der Gesamtbevölkerung von knapp 3%, der räumlich freilich sehr unterschiedlich verteilt ist. Im folgenden Zeitraum bis zur nächsten Erhebung im Jahr 2011 wuchs die Zahl der »Black / Black British: African« von 1,1 auf 1,8% der Bevölkerung an, während die Zahl der »Black / Black British: Caribbean« bei 1,1% stabil blieb.7 Die für die französische Republik vorliegenden absoluten Zahlen erscheinen bei einer geringfügig größeren Gesamtbevölkerung in etwa vergleichbar. Allerdings ist hier sowohl der Mangel an offiziellen Statistiken als auch die ungleiche Verteilung dieser Bevölkerungsgruppe auf die überseeischen Departements und den kontinentaleuropäischen Teil des Landes zu beachten. Laut einer nicht-amtlichen statistischen Erhebung lebten im Jahr 2006 etwa 1,86 Millionen Personen über 18 Jahre im metropolitanen Frankreich, die als »Noirs« gelten können. Dreiviertel von ihnen haben die französische Staatsbürgerschaft inne, etwa die Hälfte dürfte einen afrokaribischen Familienhintergrund haben.8 Nach einigem noch immer nicht vollständig überwundenen Zögern haben Großbritannien und Frankreich (und andere europäische Staaten) inzwischen begonnen, sich als ethnisch und kulturell vielfältiger gewordene Einwanderungsländer zu verstehen und suchen nach Wegen, den Gesellschaftswandel politisch und symbolisch zu verarbeiten. In diesem Kontext stehen auch die neueren Debatten um die Geschichte der Sklaverei. »[T]o disseminate knowledge about the longstanding presence of black people in the national past and [to] anchor it in the national historical consciousness«, schreiben Barbara Korte und Eva Ulrike Pirker, »is seminal in a society which has begun to identify itself as multiethnic.«9 Die afrokaribischen Migrantinnen und Migranten verließen ihre Heimatregion, die von der kolonialen Sklaverei fundamental geprägt wurde und in der die Nachfahren der ausgebeuteten Männer und Frauen aus Afrika einen Großteil der Bevölkerung ausmachen. Sie zogen in Länder, wo die Folgen dieser Geschichte weniger offensichtlich und den Menschen daher sehr viel weniger 7
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Die Daten werden für England und Wales, Schottland sowie Nordirland getrennt aufbereitet; die in offiziellen Datenblättern nicht erhältliche Synthese wurde u.a. in der Online-Enzyklopädie Wikipedia veröffentlicht. Die Zahlen sind einer statistischen Studie entnommen, die der Conseil Représentatif des Associations Noires 2007 beim renommierten Institut TNS-Sofres in Auftrag gab (vgl. CRAN/TNS Sofres: Les discriminations à l’encontre des populations noires de France, 31.1.2007, http://www.tns-sofres.com/publications/les-discriminations-a-lencontre-des-po pulations-noires-de-france), sie sind aber keineswegs unumstritten. Verschiedene Schätzungen nennen deutlich höhere Zahlen von bis zu fünf Millionen Personen. Zu den Reaktionen auf die Umfrage vgl. Boltanski, Christophe: »La difficulté des enquêtes ›ethnoraciales‹«, in: Libération vom 1.2.2007. B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History, S. 13.
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bewusst sind. Auch afrikanische Einwanderer/-innen haben einen besonderen Bezug zu diesem Teil der kolonialen Vergangenheit, der für viele von ihnen gleichbedeutend ist mit dem Auftakt einer noch immer andauernden, asymmetrischen Ausbeutungsbeziehung zwischen den kontinentalen Nachbarn Europa und Afrika. Auf eine sehr konkrete Weise fand so eine Dimension der Vergangenheit Eingang in die Gesellschaften der Untersuchungsländer, die hier nie zuvor in diesem Umfang physisch präsent gewesen war. Im französischen Fall handelt es sich bei den Migrantinnen und Migranten aus den ehemaligen Sklavenkolonien nicht um ausländische Einwanderer. Die »alten Kolonien«, Martinique und Guadeloupe in der Karibik, Guayana in Südamerika und La Réunion im Indischen Ozean, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unabhängig, sondern in die französische Republik integriert. Seit 1946 sind die Überseedepartements (Départements d’Outre-Mer, DOM) politisch gleichberechtigte Teile der Nation. Trotz geographischer Entfernung sind die Belange der überseeischen Regionen Gegenstand der nationalen Innenpolitik, die DOM und ihre Einwohner/-innen sind als solche im Parlament repräsentiert. Darüber hinaus werden ihre Interessen auch in der Zusammensetzung der Regierung berücksichtigt, zu der ein entsprechendes Ministerium bzw. Staatssekretariat gehört. Bei den ehemaligen britischen Sklavenkolonien handelt es sich dagegen um heute selbstständige Staaten. Jamaika etwa erlangte 1962 die Unabhängigkeit, für die Entwicklung des Landes zeichnet seitdem nicht mehr die britische Regierung verantwortlich. Mit dem offiziellen Vollzug der Eigenstaatlichkeit konnte auch das Projekt einer unabhängigen Nationalgeschichte in Angriff genommen werden, die sich nicht an den für die ehemalige Metropole gültigen Parametern orientieren musste. Dies war in den DOM nur bedingt und unter anderen Umständen denkbar. Im Vereinigten Königreich steht die Frage nach dem öffentlichen Umgang mit der Geschichte des Sklavenhandels daher im Diskussionskontext der Integration von postkolonialen Immigrantinnen und Immigranten. In Frankreich stellt dieses spezielle Kapitel der Kolonialgeschichte einen spannenden Sonderfall, eine innernationale Integrationsdebatte unter ethnischem Vorzeichen dar. »As French citizens, Antilleans are cultural insiders, but as dark-skinned postcolonials, they are visibly marked as outsiders. […] Their activism requires building a creative relationship between the two poles of being black and being French.«10 Im Verlauf des untersuchten Zeitraums lenkten mehrere Ereignisse die Aufmerksamkeit auf ethnisch konnotierte Spaltungen in der französischen und britischen Gesellschaft. Nicht nur die Wahlerfolge der British National Party (BNP) und vor allem des Front National (FN) sorgten im Untersuchungszeitraum für Aufsehen, auch rassistisch motivierte Gewalttaten lösten Empörung und Entsetzen in der Öffentlichkeit aus. Beide Länder wurden zudem von urbanen Unruhen erschüttert, in denen sich nicht zuletzt eine Segregation von Wohnvierteln und -verhältnissen widerspiegelte, die neben sozialen auch ethnische Züge aufweist. Im Sommer 2001 kam es in mehreren nordenglischen Mittelstädten, unter ihnen Bradford und Leeds sowie Orte im Einzugsgebiet von Manchester, zu einem offenen Ausbruch bestehender Spannungen, der sich 10 Beriss, David: Black Skins, French Voices. Caribbean Ethnictiy and Activism in Urban France, Boulder, CO: Westview Press 2004, S. XVIII. Vgl. auch Giraud, Michel: »Les migrations guadeloupéenne et martiniquaise en France métropolitaine«, in: Review (Fernand Braudel Center) 22/4 (1999), S. 435-448.
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an Konflikten zwischen jungen Männern unterschiedlicher Herkunft entzündet hatte; auf der einen Seite standen in vielen Fällen politisch rechtsextrem gesinnte Briten, auf der anderen Einwohner aus südasiatisch-muslimisch geprägten Familien. Gut drei Jahre später wurde Birmingham zum Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen, die zwischen jungen Männern mit afrokaribischem bzw. pakistanischem Familienhintergrund ausgetragen wurden und zwei Todesopfer forderten.11 Im Sommer 2011 kam es noch einmal zu massiven städtischen Unruhen, die vor allem London, Birmingham, Bristol und Manchester erfassten. Auslöser war der Tod von Mark Duggan, der verdächtigt wurde, der Londoner Gang-Szene anzugehören und beim Versuch einer Festnahme von der Polizei in Tottenham erschossen wurde.12 Die öffentliche Diskussion um die Kleinkriminalität und Gewaltbereitschaft von »Gangs« erreichte 2007, im Jubiläumsjahr des Slave Trade Abolition Act, einen Höhepunkt, als in Südlondon innerhalb von elf Tagen drei Teenager durch den Einsatz von Handfeuerwaffen starben.13 Auf Täter- wie auf Opferseite traten dabei auch viele junge Männer mit afrokaribischem Familienhintergrund oder, verallgemeinernd gesprochen, die so genannte »Black youth« in Erscheinung. Eine fundamentale Rolle spielte der zeitlich weiter zurückliegende Mordfall Stephen Lawrence, »the case that changed British race relations.«14 Der 18-jährige Sohn jamaikanischer Eltern wurde 1993 an einer Londoner Bushaltestelle von einer Gruppe junger Männer rassistisch beleidigt und mit Messerstichen tödlich verletzt. Der Angriff erfolgte ohne vorherige Auseinandersetzung. Die sich anschließenden Gerichtsverfahren führten zunächst zu Freisprüchen für die Täter, was vor allem die Eltern des Opfers nicht hinzunehmen bereit waren. Ihr Anliegen fand Unterstützung in den nationalen Medien, und so gab die neue Labour-Regierung vier Jahre nach der Tat eine öffentliche Untersuchung in Auftrag, die von Richter William Macpherson geleitet wurde. Der 11 Für den mit Messerstichen begangenen Mord an dem 23-jährigen Isaiah Young-Sam wurden drei Männer pakistanischer Abstammung zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Der 18jährige Aaron James wurde von einem Freund, der eine geladene Pistole bei sich trug, versehentlich erschossen, als die beiden Jugendlichen im Zuge des Aufruhrs vor der Polizei zu flüchten versuchten. 12 Vgl. Lewis, Paul u.a. (Hg.): Reading the Riots. Investigating England’s Summer of Disorder, Veröffentlichung von The Guardian und London School of Economics and Political Science, London: Guardian Books 2011; Briggs, Daniel: »Frustrations, Urban Relations and Temptations. Contextualising the English Riots«, in: Ders. (Hg.), The English Riots. A Summer of Discontent, Hook: Waterside Press 2012; Bridges, Lee: »Four Days in August. The UK Riots 2011«, in: Race & Class 54/1 (2012), S. 1-12. Persönlicher und politischer Kommentar: Lammy, David: Out of the Ashes. Britain After the Riots, London: Guardian Books 2011. 13 Vgl. z.B. Gardham, Duncan/Iggulden, Amy: »Armed police patrols sent to prevent more teenage murders«, in: The Daily Telegraph vom 16.2.2007; Taylor, Matthew/Topping, Alexandra: »South London shootings. Gangs: ›This isn’t going to go by. It will be sorted. Them that did it will know this‹«, in: The Guardian vom 17.2.2007. Die mediale Aufregung – Daily Mail betitelte die Berichterstattung zum Thema im typischen Stil mit »War Zone UK« – führte schließlich dazu, dass sich der Premierminister persönlich mit beruhigenden Worten an die Öffentlichkeit wandte. 14 Brown, David/Hamilton, Fiona/Sanderson, David: »Justice at last for Stephen Lawrence«, in: The Times vom 5.1.2012.
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1999 publizierte Macpherson Report belegte das Ausmaß der rassistischen Voreingenommenheit, die den Ablauf der polizeilichen Ermittlungen beeinträchtigt hatte. Der Fall wurde daraufhin erneut aufgenommen, 2012 resultierte der Prozess in langjährigen Haftstrafen für zwei Männer.15 Der Untersuchungsbericht zwang die führenden Institutionen des Landes, Rassismus als ein auch die öffentlichen Dienste kompromittierendes strukturelles Problem anzuerkennen und sich entsprechenden Gegenmaßnahmen zu verschreiben. Im Jahr 2000 wurde die bestehende Gesetzgebung vor diesem Hintergrund durch den Race Relations (Amendment) Act novelliert. Die Reform betrifft vor allem dem Staat und der Öffentlichkeit dienende Institutionen, die zu einem aktiven Antirassismus verpflichtet wurden. »They must promote equality of opportunity and ›good relations‹ between people of different racial groups. The general duty to promote race equality is a ›positive one‹ requiring public authorities to be pro-active in seeking to avoid unlawful discrimination before it occurs.«16 Freilich wurde der Bericht nicht einhellig als potentieller Neubeginn begrüßt: »[T]he Macpherson report, which recognized the existence of institutionalized racism for the first time in Britain, was attacked by the media and certain academics. […] The Right had always criticized multiculturalism, and this criticism became particularly vociferous after the publication of the Macpherson report.«17
In Frankreich hatte vor allem der Gewaltausbruch, der eine Reihe der defavorisierten Vorstädte des Landes im Herbst 2005 erfasste, eine entscheidende Katalysatorenwirkung. In der berüchtigten »banlieue« entluden sich die Spannungen vor allem zwischen jungen Männern aus Familien mit einem postkolonialen Migrationshintergrund und den nationalen Sicherheits- und Ordnungskräften. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, vier kamen im Umfeld der Krawalle ums Leben. Vor allem in und um Paris, aber auch in Lyon, Straßburg und anderen Städten lieferten sich Jugendliche gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Tausende Autos und auch Busse gingen in Flammen auf, öffentliche Gebäude wie Schulen und Rathäuser wurden teils schwer beschädigt. Die Vorstadtunruhen im Oktober und November waren an sich kein neues Phänomen, aber in Dauer und Ausmaß »selbst für französische Verhältnisse ungewöhnlich bis einzigartig, weil Expansion und Eskalation sowie die Vektoren, die dafür verantwortlich zeichneten, erklärungsbedürftig waren. Dabei sind die Mechanismen von Banlieue-Krawallen bemerkenswert banal, und auch der Auslöser im Herbst 2005 konnte ›klassischer‹ kaum sein.« 18 Die Unruhen entzündeten sich einmal mehr am
15 Ebd. 16 Butler, Patrick: »Key points of the Race Relations Amendment Act implementation report«, in: The Guardian vom 22.2.2001; vgl. auch den Gesetzestext Race Relations (Amendment) Act, 30.11.2000, http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2000/34, Section 71 (b). 17 Curran-Vigier, Catherine: »From Multiculturalism to Global Values. How New Labour Set the Agenda«, in: Observatoire de la société britannique (online) 5/2008, https://doi.org/10. 4000/osb.624, hier 8 f. 18 Hüser, Dietmar: »Die sechs Banlieue-Revolten im Herbst 2005 – Oder: Überlegungen zur sozialen, politischen und kolonialen Frage in Frankreich«, in: Ders. (Hg.), Frankreichs Em-
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Verlauf einer Konfrontation zwischen jungen Männern und der Polizei: Auslöser war der Tod von zwei Jungen im Alter von 15 und 17 Jahren. Zyed Benna war mit seiner Familie aus Tunesien eingewandert, der jüngere Bouna Traoré war malischer Herkunft. Ein dritter Junge mit einem kurdischen Familienhintergrund wurde bei dem Vorfall schwer verletzt. Die Jugendlichen hatten versucht, sich einer der zahlreichen Kontrollen durch die Sicherheitskräfte in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois zu entziehen, die häufig »à faciès« erfolgen, also vor allem dunkelhäutige Personen ins Visier nehmen. Dabei waren sie in eine Transformatorenstation geflüchtet und dort zu Opfern eines Starkstromschlags geworden. Den Jugendlichen konnte zu keinem Zeitpunkt eine Straftat zur Last gelegt werden. Zwei Polizisten mussten sich in der Folge auch wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten, wurden von diesem Vorwurf aber freigesprochen.19 Sowohl in der französischen Republik als auch im Vereinigten Königreich reagierte die Exekutive mit umstrittener Härte auf die Ausschreitungen. Der ethnische Hintergrund der jungen Männer, die sich an den als »race riots« bezeichneten Kämpfen in Großbritannien beteiligt hatten, spielte eine zentrale Rolle bei der politischen Ursachenforschung. Den Horizont der in mehreren offiziellen Papieren dargelegten Problemanalyse zu den Unruhen im Sommer 2001 beschrieb Jonathan Burnett folgendermaßen: »Ultimately, the problem becomes not one of discriminatory political action, of historical exclusion in housing and employment. [...] [T]he uprisings were recognised as a cultural problem, to be dealt with by focusing on issues of citizenship, nationality and belonging.«20 Ähnliches lässt sich zu den Reaktionen auf die französischen Unruhen sagen, die von dem einflussreichen Philosophen Alain Finkielkraut, der mit seiner Interpretation durchaus nicht allein stand, als »révolte à caractère ethnico-réligieux« gedeutet wurden.21 Das in beiden Ländern bestehende Konfliktpotential erhöhte sich durch die seit dem Ende des Kalten Kriegs im Hintergrund wirkenden Ängste vor einem globalen »clash of civilizations«, einer neuen Bedrohung von welthistorischem Ausmaß für liberale, als britisch, französisch und/oder westlich betrachtete Werte.22 Tatsächlich wurde der stetige Aufstieg des gewaltbereiten politischen Is-
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pire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert, in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 15-54, hier S. 16. Vgl. auch Hüser, Dietmar: »Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik. Einwürfe und Auswüchse zwischen Vorstadt-Krawallen und Kolonialdebatten«, in: Frankreich Jahrbuch 2006, S. 9-30. Vgl. z.B. Le Monde/AFP: »Mort de Zyed et Bouna. Relaxe définitive des deux policiers«, in: Le Monde, 18.5.2015. Burnett, Jonathan: »Community, Cohesion and the State«, in: Race & Class 45/1 (2004), S. 1-18. Maßgeblichen Einfluss hatte in dieser Hinsicht der so genannte Cantle Report: Cantle, Ted/Home Office: Community Cohesion. A Report of the Independent Review Team, London 2001, http://tedcantle.co.uk/pdf/communitycohesion%20cantlereport.pdf. Vgl. Cypel, Sylvain: »La voix »très déviante« d’Alain Finkielkraut au quotidien ›Haaretz‹«, in: Le Monde vom 23.11.2005; Allouce, Jean-Luc: »Banlieues. Finkielkraut s’explique... et insiste«, in: Libération vom 26.11.2005. Huntington, Samuel P.: »The Clash of Civilizations?«, in: Foreign Affairs 72/3 (1993), S. 22-49 und Ders.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York,
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lamismus in den Jahren nach dem 11. September 2001 zu einer Gefahr für die zunehmend eng miteinander verknüpfte innere und äußere Sicherheit. Im Untersuchungszeitraum betraf dies vor allem Großbritannien als einen außenpolitischen Hauptpartner der USA. Die Bombenanschläge auf das Londoner Verkehrssystem im Juli 2005, bei denen über 50 Menschen getötet und hunderte verletzt wurden, verursachten einen massiven nationalen Schock. Von britischen Staatsbürgern ausgeübt, trugen sie sowohl den geopolitischen Konflikt als auch seine verbreitete Lesart ins Herz des Vereinigten Königreiches. Die sozialen Spannungen, die sich zeitgleich in Frankreich anhand der mehrdimensionalen Problematik der banlieue kristallisierten, lassen sich in ihrer vollen Tragweite aber ebenso wenig unabhängig von diesem Hintergrund begreifen. Auf die eine oder andere Weise kamen führende Politikerinnen und Politiker in beiden Untersuchungsländern zu dem Schluss, dass es einer anwachsenden kulturellen Entfremdung bestimmter Bevölkerungsteile von der Nation und ihren Institutionen zu begegnen gelte. Sie bezogen damit eine Position, wie sie auch von dem französischen Politologen Fred Constant vertreten wird: »[I]nclusion in the mainstream goes far beyond the equal access to rights, individual or not. It requires tackling issues related to the subjective feeling of full membership in society at large.«23 Sowohl britische als auch französische Akteurinnen und Akteure, unter ihnen nicht zuletzt Tony Blair und Nicolas Sarkozy, betonten in diesem Zusammenhang die Bedeutung der »Liebe« zur Nation und der Identifikation mit ihren historisch gewachsenen Werten. Kulminieren sollte dieser gefühlte moralische Patriotismus in einer Art Selbstintegration in das Staats- und Gesellschaftswesen mit seinen Rechten und Pflichten. Dies galt auch und gerade für diejenigen Personen, deren Einstellung und sozialer Status als in dieser Hinsicht problematisch eingestuft wurden. Dass die nationale Geschichte in diesem Rahmen eine tragende Rolle spielen sollte, kann allerdings auch kritisch betrachtet werden: »[T]he conception of homogenous nation has a bad ›integrative‹ historical record in Europe, to say the least. Therefore, from an historical point of view, the idea that more instruction in national history would stimulate ›integration‹ lacks a factual foundation.«24 Den Krisensymptomen standen kulturelle Demokratisierungs- und Verschmelzungsprozesse gegenüber, eine Art »convivial culture« im Sinne von Paul Gilroy.25 NY: Simon & Schuster 1996. Von diesen Beiträgen ausgehend verbreiteten sich Huntingtons äußerst kontrovers diskutierte Thesen in der medialen und akademischen Diskussion. Die Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichte die auf ihren Seiten weiter geführte Debatte zwischen Huntington und seinen Kritikerinnen und Kritikern in zwei Auflagen, hg. von Gideon Rose. Vgl. auch Glover, Robert W.: »Art. Clash of Civilizations«, in: Michael T. Gibbons u.a. (Hg.), The Encyclopedia of Political Thought, Chichester: Wiley-Blackwell 2015, S. 550-553. 23 Constant, Fred: »Talking Race in Color-Blind France. Equality Denied, ›Blackness‹ Reclaimed«, in: Darlene Clark Hine/Tricia Danielle Keaton/Stephen Small (Hg.), Black Europe and the African Diaspora, Urbana, IL: University of Illinois Press 2009, S. 145-161, hier S. 152. 24 Berger, Stefan/Lorenz, Chris: »Conclusion. Picking up the Threads«, in: Dies. (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 531-552, hier S. 550. 25 Gilroy, Paul: After Empire. Melancholia or Convivial Culture?, Abingdon: Routledge 2004.
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Der Sieg der französischen Nationalmannschaft in der 1998 im eigenen Land ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft wurde von dem Slogan »black, blanc, beur« begleitet, der auf die multiethnische Zusammensetzung der »équipe tricolore« anspielt. Die landesweite Begeisterung gilt als ein erster Höhepunkt der positiven Anerkennung postkolonialer »Diversität« in Frankreich.26 In dem Jahr, in dem Französinnen und Franzosen ihre erfolgreichen Sportler bejubelten, feierte die britische Öffentlichkeit den 50. Jahrestag der Ankunft des Schiffes Empire Windrush in London. Mit ihm war seinerzeit eine große Zahl jamaikanischer Arbeitsmigranten ins Land gekommen; das Ereignis steht symbolisch für den Auftakt der Einwanderungsgeschichte, welche die britische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu prägen begann. Das Jubiläum stieß auf eine für diesen Zusammenhang beispiellose Aufmerksamkeit, deren stark inszenierter Charakter die Bedeutsamkeit der insgesamt sehr positiven Reaktionen nur bedingt schmälern kann. Gerade in stark urbanisierten Räumen gehören die von Menschen aus aller Welt getragenen Kultureinflüsse zum Alltagsleben, und die hieraus resultierende Vielseitigkeit stellt für viele Städterinnen und Städter eine willkommene Bereicherung einer als globalisiert erlebten Gegenwart dar. Auch im vorherrschenden politischen Diskurs wird diese Entwicklung inzwischen begrüßt: Vielfalt (»diversity«, »diversité«) ist parteiübergreifend zu einem zentralen Schlagwort avanciert. Während die politischen und zivilgesellschaftlichen Kampagnen der 1980er und 1990er Jahre (Anti-)Rassismus und Diskriminierung auf der öffentlichen Agenda etabliert hatten, trat nun in beiden Untersuchungsländern eine andere Herangehensweise in den Vordergrund: Die bewusst gelebte Diversität sollte die Schatten der Vergangenheit im Zuge einer politisch explizit gewürdigten und aktiv geförderten Positiventwicklung ablösen.27 Einwanderung und ethnisch-kulturelle Heterogenität wurden und werden also einerseits stark problematisiert, andererseits zum Gegenstand einer nicht bloß diskursiven Harmonisierung. Die Aufarbeitung der Geschichte, aus der die bestehenden Verhältnisse mittel- und langfristig hervorgegangen sind, ordnet sich als Gegenstand und Instrument der politischen Beeinflussung in diesen Kontext ein. Eine entscheidende und ungelöste Frage war und ist der Raum, den eine Vergangenheit, die in erster Linie als die einer bestimmten Minderheit der Bevölkerung betrachtet wird, in der französischen bzw. britischen Nationalgeschichte einnehmen kann oder soll – zumal die Kon-
26 Vgl. z.B. Lebovics, Herman: Bringing the Empire Back Home. France in the Global Age, Durham, NC: Duke University Press 2004, S. 115 ff. 27 Gerade französische Kritiker/-innen bemängeln hierbei, dass der Einsatz für ein positives, tolerantes Klima bspw. in Unternehmen nicht zwingend mit einer aktiv antidiskriminatorischen Politik einhergeht, die auch strukturelle Rahmenbedingungen ins Visier nimmt, vgl. Doytcheva, Milena: »Réinterprétations et usages sélectifs de la diversité«, in: Raisons politiques 35/3 (2009), S. 107-123; Dies./Helly, Denise: »La Discrimination et la Pluralité Culturelle. Des objets de rhétorique des années 2000 en France«, in: International Migration & Integration 12/4 (2011), S. 391-409; Noël, Olivier: »Politique de diversité ou politique de diversion? Du paradigme public de lutte contre les discriminations à sa déqualification juridique«, in: Revue Asylon(s), 4 (2008): Institutionnalisation de la xénophobie en France, http://www.reseau-terra.eu/article764.html.
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struktion eines historisch basierten Wir-Gefühls bislang oft auf in der Kolonialzeit geprägte Narrative gesetzt hatte, die auf der systematischen Abgrenzung und Marginalisierung bestimmter Perspektiven und (Leidens-)Erfahrungen basierte. Dabei gingen sowohl die Politik als auch die weitere öffentliche Auseinandersetzung mit postkolonialem Rassismus, mit Exklusion und Vielfalt in den Untersuchungsländern von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen aus.28 Tatsächlich werden die national jeweils vorherrschenden Herangehensweisen einander häufig kontrastierend gegenübergestellt. »In France, the dominant policy framework addresses the country’s ethnic dilemmas in the republican ideas of citoyenneté and intégration. Britain, meanwhile, addresses similar problems in terms of the management of race relations and multiculturalism.«29
In Großbritannien stellen »race relations« insgesamt ein etabliertes, von kontinuierlich verfeinerten Statistiken und Berichten unterfüttertes Politikfeld dar.30 Mit den Race Relations Acts verabschiedete das britische Parlament bereits 1965 und 1968 Gesetze gegen Diskriminierung auf der Basis von »colour, race or ethnic or national origin«. Kollektivkategorien wie »Black British« oder »Asian British« sind im politischen Sprachgebrauch grundsätzlich gängig. Die Perspektive schlägt sich auch im Umgang mit der Geschichte nieder: Jedes Jahr im Oktober wird in Großbritannien ein »Black History Month« organisiert, der 1987 nach US-amerikanischem Vorbild eingeführt wurde.31 Auch der oft ethnische Bedeutung tragende Begriff »community« ist im Vereinigten Königreich im Regelfall positiv konnotiert, dies gilt nicht zuletzt für die politische Hochzeit von New Labour. Die Propagierung von Großbritannien als »community of communities« erinnerte dabei unweigerlich an die Idee der »Nation der Nationen«, bestehend aus den Landesteilen England, Schottland, Wales und Nordirland. Die Autorität der französischen Republik erkennt dagegen im öffentlichen Raum lediglich politische Subjekte, in ihrem Status gleichberechtigte und aus staatlicher Perspektive letztlich gleichartige Individuen an. Die Artikulation spezifischer Attribute und namentlich die Zuordnung zu religiösen oder ethnischen Gruppen werden in die private, von der öffentlichen idealtypisch getrennte Sphäre verwiesen. »Dans le champ
28 Vgl. auch R. Hourcade: Ports négriers, S. 57 ff. 29 Favell, Adrian: Philosophies of Integration. Immigration and the Idea of Citizenship in France and Britain, Basingstoke: Palgrave Macmillan ²2001 [1998], S. 2. 30 In neueren Auftragsstudien macht sich dabei auch eine Art Renaissance von Engländerinnen und Engländern oder Irinnen und Iren als ethnische Gruppen bemerkbar, die nun im Zeichen einer Verfeinerung des Wissens über Diskriminierungsformen und die ihnen zugrunde liegenden Dominanzstrukturen stand, vgl. Parekh, Bhikhu/Runnymede Trust. Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain: The Future of Multi-Ethnic Britain, London: Profile Books Ltd. 2002. Auch die Kategorien der im Vereinigten Königreich durchgeführten Volkszählungen werden seit 1991 zu stetig feineren Abstufungen weiterentwickelt. 31 Vgl. Black History Month UK, http://www.blackhistorymonth.org.uk. Zur Entwicklung von Black History im Vereinigten Königreich vgl. Myers, Kevin: Struggles for a Past. Irish and Afro-Caribbean Histories in England 1951-2000, Manchester: Manchester University Press 2015; E. Kowaleski Wallace: British Slave Trade and Public Memory, S. 5 ff.
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politique, la reconnaissance des discriminations raciales et de la nécessité de les combattre a été plus lente en France que dans d’autres pays ayant une immigration ou des anciennes colonies parce qu’on pensait que la doxa républicaine pourrait incorporer les différences.«32 Zwar stellte ein Gesetz vom 1. Juli 1972 die rassistische Darstellung von Personen(-gruppen) in Wort und Bild sowie die Ungleichbehandlung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Ethnie«, »Nation«, »Rasse« oder »Religion« unter Strafe, wobei die Befürchtung eines Wiedererstarkens des französischen Antisemitismus eine Haupttriebkraft darstellte.33 Für Yoann Lopez hat dieser Schritt aber bestenfalls eine symbolische Bedeutung: »Il faut attendre les années 1990 pour assister à un investissement réel de la part des pouvoirs publics dans la reconnaissance des discriminations raciales. En effet, si les discriminations dans les actes existent bien avant cette date, ce n’est qu’en 1998 qu’on ose faire usage du terme pour dénoncer tout traitement inégal envers des personnes ayant une origine ethnique réelle ou supposée, et tenter de comprendre les processus sociaux qui les produisent.«34
Der zumindest sprachlich entspannte und politisch explizite Umgang mit ethnisch-kulturellen »communities« und »hyphenated identities«, wie er im Vereinigten Königreich gepflegt wurde, verbot sich in einem Land, dessen klar ausbuchstabiertes Gleichheitsideal sich an der abstrakten Idee des citoyen orientiert. Vielmehr resultiert aus der republikanischen Doktrin eine erhöhte Empfindlichkeit für den Ausdruck von Partikularismen im öffentlichen Raum, die nicht a priori Teil und Gegenstand des geregelten Verhältnisses sind, das Staat und Bürger/-innen durch gegenseitige Rechte und Pflichten aneinander bindet. Die Vorbehalte spiegeln sich vor allem in der verbreiteten Ablehnung des »communautarisme« wider. Zwar existiert auch in anderen europäischen Ländern die Furcht vor der Ausbildung von »Parallelgesellschaften«, die zentrale Rolle, die das »Schreckgespenst« in der französischen Diskussion einnimmt, stellt jedoch eine nationale Eigenart dar.35 Tatsächlich findet der Begriff communautarisme in seiner gängigen Verwendung und Bedeutung weder im Englischen noch im Deutschen ein Äquivalent. Die mit ihm verbundene, essentiell negative Radikalvorstellung beschrieb der Europaparlamentarier Benoît Hamon folgendermaßen: »[L]e communautarisme commence par distinguer des communautés avant de les hiérarchiser, chacun défendant la primauté ou la supériorité de la sienne. Ces hiérarchies implicites deviennent ainsi un substitut de citoyenneté et le règlement des conflits sociaux se 32 Rodríguez, Gabriela/Morales, Pamela Verónica: Diversité et politique. Un défi à la ›doxa républicaine‹. Le cas des présidences rhétoriques de Néstor Kirchner (2003-2007) et Nicolas Sarkozy (2007-2011), Vortrag gehalten beim 22. Weltkongress der International Political Science Association, 8.-12. Juli 2012, Madrid, http://paperroom.ipsa.org/papers/view/8128. 33 Dies galt vor allem für den Mouvement contre le Racisme et pour l’Amitié entre les Peuples (MRAP), der das Gesetz maßgeblich voranbrachte. Vgl. R. Hourcade: Ports négriers, S. 71. 34 Y. Lopez: Questions noires, S. 141. 35 Da die Furcht vor der sozialen Spaltung oft wie ein Schatten mit amerikanischen Konturen über den öffentlichen Debatten in Frankreich liegt, wird der communautarisme bisweilen als »spectre« bezeichnet, vgl. z.B. Barclay, Fiona: »Introduction. The Postcolonial Nation«, in: Dies. (Hg.), France’s Colonial Legacies. Memory, Identity and Narrative, Cardiff: University of Wales Press 2013, S. 1-26, hier S. 3.
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privatise: le résultat de cette stratégie, c’est l’abandon de la République, communauté de droit et de valeurs«.36 Auch die teils massiv ablehnenden Reaktionen auf die Konstitution des Conseil Représentatif des Associations Noires de France (CRAN) im Jahr 2005, dessen Mitglieder die Selbstbezeichnung »Noir(e)s« für sich reklamieren, haben für den Untersuchungszeitraum verdeutlicht, wie stark sich das klassische republikanische Paradigma weiterhin auswirkt. Der Glaube an die antirassistische Wirkung des Republikanismus verlor jedoch an Überzeugungskraft. »Manifestement, il n’a pas suffi de ne pas parler de races pour en finir avec le racisme. Le choix républicain de collectivement ›s’aveugler à la race‹ (color blind) a au contraire coïncidé avec la montée du vote Front national.«37 Einen für viele Französinnen und Franzosen schockierenden Höhepunkt erlebte der Auftrieb der rechtsextremen Partei im Jahr 2002, als ihr Vorsitzender Jean-Marie Le Pen im zweiten Wahlgang mit dem Amtsinhaber Jacques Chirac um die Staatspräsidentschaft der französischen Republik konkurrierte. »Whether or not one agrees with the effectiveness of such mechanisms as affirmative action in the United States or the Race Relations Act in the United Kingdom, these devices represent at the very least recognition that race constitutes a category of discrimination.«38 Die parteipolitischen Machtverhältnisse lassen zunächst eine zusätzliche Akzentuierung der im idealtypischen Kontrast skizzierten Eigenheiten der politischen Kulturen in den Untersuchungsländern annehmen. Entscheidende Momente der geschichtspolitischen Entwicklung vollzogen sich in Frankreich in einer Zeit, in der die UMP unter den Staatspräsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy die nationale Politik dominierte. Im Vereinigten Königreich kam dagegen New Labour mit den führenden Köpfen Tony Blair und Gordon Brown eine maßgebliche Bedeutung zu. Während ihre Partei die Regierung von 1997 bis 2010 innehatte, wurde Frankreich von wechselnden Kabinetten regiert, die jedoch von 1995 bis 2012 kontinuierlich unter einem konservativen Staatspräsidenten amtierten. Die Zeit ab 2002, in der sich die Erinnerung an die koloniale Sklaverei besonders dynamisch weiterentwickelte, war eine Phase, in der konservative Kräfte die parlamentspolitische Mehrheit auf nationaler Ebene stellten. Allerdings sollte die praktische Bedeutung der doppelten Differenz nicht von Vornherein überschätzt werden. Allgemein war die inhaltliche Annäherung von sozialistischen bzw. sozialdemokratischen und rechtskonservativen Parteien in der politischen Mitte seit den 1990er Jahren ein dominanter Trend der Entwicklung in Westeuropa. Ausgeprägt ist die zunehmende Konvergenz nicht zuletzt im wirtschaftspolitischen Bereich, und über die neoliberalen Tendenzen von New Labour ist manche Diskussion geführt worden. Im Hinblick auf das hier interessierende Thema sind andere 36 Hamon, Benoît: »Le communautarisme a bon dos«, in: Libération vom 7.11.2005. 37 So der Soziologe Éric Fassin im Interview mit Van Eeckhout, Laetitia: »Pourquoi et comment notre vision du monde se ›racialise‹, in: Le Monde vom 17.4.2007. 38 Thomas, Dominic: »Immigration and National Identity in France«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham/London: Duke University Press 2012, S. 110-122, hier S. 110. Vgl. auch Blakeley, Allison: »Coda. Black Identity in France in a European Perspective«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. 287-306.
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Aspekte von vordergründig größerer Bedeutung: Zum einen ist der Diversitätsbegriff wie erwähnt parteiübergreifenden in das politische Denken und Vokabular eingegangen, zum anderen stellte auch die Debatte um die »nationale Identität« in beiden Ländern keineswegs ein Feld dar, das allein durch Vertreterinnen und Vertreter des konservativen Lagers bestellt wurde. Bereits im Wahlkampf 1997 hatte die reformierte Labour-Partei deutlich gemacht, dass ein positiv verstandener Nationalismus in der Zeit nach der allgemeinen Abkehr von der Idee des internationalen Klassenkampfes nicht dem politischen Gegner vorbehalten bleiben sollte. So erklärte etwa der Spitzenkandidat Tony Blair ganz plakativ: »I am a British patriot and I am proud to be a British patriot. I love my country. I will always put the interests of my country first. The Britain in my vision [...] is a Britain confident of its place in the world, sure of itself, able to negotiate with the world and provide leadership in the world.«39 Pläne zur Einrichtung eines Ministeriums, dessen offizieller Verantwortungsbereich auch Fragen der »nationalen Identität« umfasst hätte, wie sie in Frankreich unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy trotz hitziger Debatten von 2007 bis 2010 temporär umgesetzt wurden40, gab es im Vereinigten Königreich zwar nicht. Die unter dem Schlagwort »Britishness« geführte Debatte stand in der Regierungszeit von New Labour aber weit oben auf der Agenda. Gerade das Kabinett unter Gordon Brown brachte eine ganze Reihe von Ideen zur Förderung des Nationalgefühls hervor. Insgesamt waren diese den Inhalten von Vorschlägen ähnlich, wie sie in Frankreich in der Amtszeit von Premierminister François Fillon unter konservativem Vorzeichen formuliert wurden. 41 Viele dieser Vorschläge erschöpften sich in mehr oder weniger reiner Symbolpolitik, und die meisten scheiterten an der ausgeprägten Skepsis der intellektuellen Öffentlichkeit – auch dies eine Parallele der britischen und französischen Entwicklung. In Frankreich war es dagegen ausgerechnet der als rechter »Hardliner« geltende Nicolas Sarkozy, der als Staatspräsident für eine sichtbare Integration der »Vielfalt« in die Regierungsränge sorgte und sogar mit dem Gedanken spielte, den Begriff der »diversité« in der Verfassung zu verankern.42 Den Präsidentschaftswahlkampf im Jahr
39 Tony Blair in einer Wahlkampfansprache in Manchester, 21.4.1997, hier zit. n. Kampfner, John: Blair’s Wars, London: Free Press 2004, S. 3. Die ursprünglich ebenfalls vorgesehenen Worte »I am proud of the British Empire« sollen kurzfristig aus dem von Jonathan Powell verfassten Text gestrichen worden sein. 40 Eingerichtet wurde ein Ministère de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du Développement solidaire. 41 Vgl. z.B. den Leitartikel »Identité-Sécurité«, in: Le Monde vom 10.2.2010 oder das Interview mit Minister Éric Besson geführt von Rovan, Anne: »Éric Besson assure que le débat sur l’identité nationale ›se poursuivra‹«, in: Le Figaro vom 10.2.2010. 42 Vgl. Simon, Patrick: »La stratégie de la discrimination positive. Sarkozy et le débat français sur l’égalité«, in: Modern & Contemporary France 17/4 (2009), S. 435-450. Vgl. auch den offiziellen Bericht des von Simone Veil präsidierten Komitees zur Reflexion über eine Reform der Präambel der französischen Verfassung. Veil, Simone u.a.: Redécouvrir le Préambule de la Constitution. Rapport du comité présidé par Simone Veil, Dezember 2008, http:// www.ladocumentationfrancaise.fr/rapports-publics/084000758-redecouvrir-le-preambulede-la-constitution-rapport-du-comite-preside-par-simone.
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2007 begleitete eine kontrovers geführte Debatte um gezielte Maßnahmen der »positiven Diskriminierung« (»discrimination positive« bzw. »action affirmative« als französisches Pendant zur US-amerikanischen »affirmative action«). Auch wenn sich seine generell befürwortende Haltung schließlich nicht in konkreten Politiklinien manifestieren sollte, entfernte Sarkozy sich mit dieser Position klar von den Dogmen des klassischen Republikanismus. Aus den konservativen Wahlerfolgen ging schließlich die Regierung Fillon mit den Mitgliedern Rama Yade, Fadela Amara, Rachida Dati und später Yazid Sabeg hervor. Der Einzug von Politiker/-innen »issu(e)s de la diversité« in Spitzenämter der französischen Staates wurde nicht zuletzt vom neuen Staatspräsidenten explizit befördert – und in seiner symbolischen Bedeutung weithin zur Kenntnis genommen.43 Der Schock, den die Terroranschläge von London auslösten, ließ zudem in Großbritannien die bereits vorhandene Skepsis gegenüber dem »Multikulturalismus« deutlich anwachsen und veranlasste nicht zuletzt Regierungsmitglieder, aber auch den damaligen Vorsitzenden der Commission for Racial Equality (CRE) zu einer klaren rhetorischen Distanzierung. Trevor Phillips äußerte sich in einer im Hinblick auf das Spannungsfeld vielsagenden Weise zu von ihm diagnostizierten Schwächen im britischen System: »Too many institutions have seized one half of the integration equation – recognition of difference – while ignoring the other half: equality.«44 Bezeichnend für die in Unsicherheit wurzelnde neue Offenheit der Situation auf beiden Seiten ist auch der respektvolle Austausch, den die französische Regierung nach den Vorstadtunruhen des Jahres 2005 mit Phillips pflegte, der inzwischen Träger des Kreuzes der französischen Ehrenlegion ist.45 Hiermit zollte die französische Republik auch den britischen Integrationsprinzipien einen gewissen Tribut. »Deux rapports ont été mis au gouvernement [français] en 2008 sur l’utilisation du mot ›diversité‹: d’une part, celui de Simone Veil, chargée du Comité de réflexion sur le préambule de la Constitution, d’autre part, celui sous la responsabilité de Michel Wieviorka.«46 Während letzterer eine eher konservative Position bezog, plädierte Veil für Veränderung, auch wenn sie
43 Vgl. Armstrong, Robert John: La politique de la diversité. La nomination aux postes de gouvernement des personnes de couleur sous la présidence de Jacques Chirac et de Nicolas Sarkozy (MA-Thesis, Univ. Adelaide, 2011), https://digital.library.adelaide.edu.au/dspace/han dle/2440/68831. 44 Phillips, Trevor: »Multiculturalism’s legacy is ›have a nice day‹ racism. The mere celebration of diversity does nothing to redress inequality«, in: The Guardian vom 28.5.2004. 45 Vgl. Muir, Hugh: »Diary«, in: The Guardian vom 17.8.2007. Die Entscheidung soll direkt auf Nicolas Sarkozy zurückgehen. 46 Veil, Simone u.a.: Redécouvrir le Préambule de la Constitution. Rapport du comité présidé par Simone Veil, Dezember 2008, http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapports-pu blics/084000758-redecouvrir-le-preambule-de-la-constitution-rapport-du-comite-preside-p ar-simone. Der Bericht von Wieviorka war Reformperspektiven im höheren Bildungswesen gewidmet und befasste sich mit der »oppostion entre deux pôles philosophiques principaux, l’un républicain, l’autre multiculturaliste – une opposition toujours susceptible, losqu’elle se radicalise, d’exercer des effets de crispation et de paralysie néfastes à l’action publique.« Wieviorka, Michel: La diversité. Rapport à la Ministre de l’Enseignement supérieure et de la Recherche, Paris 2008, Lettre de mission, S. 9.
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die vom Präsidenten angeregte Aufnahme der »Diversität« in die Präambel der Verfassung für nicht empfehlenswert hielt. »L’influence anglo-saxonne est d’autant plus frappante que le rapport Veil s’est inspiré de quelques phrases du grand discours du candidat Barack Obama.«47 Die Annäherungstendenzen überlagerten also die jeweilige politische Tradition, ohne sie freilich zu neutralisieren; gerade die historisch gefestigte republikanische Doktrin bleibt weiterhin einflussreich und legt insbesondere in der Strömung des »Neo-Republikanismus« eine offensive Wehrhaftigkeit an den Tag, die auch in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung wiederholt Zündstoff lieferte. Die mittlerweile auch in Frankreich ansatzweise diskutierte Einführung eines Black History Month nach angelsächsischem Vorbild stünde also trotz allem unter einem fundamental anderen Vorzeichen.48
SKLAVEREI UND KOLONIALISMUS ALS HERAUSFORDERUNG DER HISTORISCHEN KULTUR Dass ein so gewaltvolles und folgenreiches historisches Kapitel wie das der kolonialen Sklaverei in beiden Untersuchungsländern eine Herausforderung für die nationale Erinnerungskultur darstellte, liegt auf der Hand. Zwei kleine Beispiele können dies illustrieren. Im Sommer 2008 hielt das britische Oberhaus eine Debatte ab, die der Frage der »nationalen Identität« gewidmet und von entsprechenden historischen Reflexionen gesäumt war. Eine der Rednerinnen war die aus Pakistan stammende Baroness Flather, die in diesem Zusammenhang an die von afrokaribischen Akteuren dominierten Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton 1981 erinnerte. Nach der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung hatte Innenminister William Whitelaw eine Untersuchung angeordnet, um den Ursachen der sozialen Spannungen auf den Grund zu gehen. Der so genannte Scarman Report empfahl der Regierung unter anderem einen politisch konsequent geführten Kampf gegen rassistische Diskriminierung. Flather lobte den Ansatz ausdrücklich: »It was the first time that such an inquiry had been set up and [Whitelaw] firmly believed in what, to me, is the most important value of the British: fairness. You treat people fairly; you do not treat some this way and others another way.«49 In der einfachen Aussage spiegelt sich eine erinnerungskulturell fest etablierte Idee der britischen Nation. Sie basiert auf einem vermeintlich besonders ausgeprägten Sinn der Bri-
47 D. Thomas: Émergence d’une »question noire«?, S. 411. 48 »Des associations ont proposé de consacrer le mois de mai aux contributions des descendants d’esclaves à la culture et l’histoire, sur le modèle du ›Black History Month‹, issu d’une initiative lancée par Carter G. Woodson en 1925 [USA]. […] Le CPME n’est pas opposé à une réflexion sur ce point, mais il juge prioritaire la création d’un Centre national de mémoire et d’histoire (ressources, documentation et recherche) dévolu à une expérience partagée«, Vergès, Françoise: Lettre au premier ministre, Januar 2008, http://www.cnmhe.fr/spip.php?ar ticle525. »Depuis le mois de mai de l’année 2013, l’association Black History Month propose les ›journées Africana‹ qui ont lieu autour de la date du 10 mai en honneur de la loi Taubira-Delannon (2001).« 49 Baroness Flather, House of Lords, 19.6.2008, C. 1161.
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tinnen und Briten für Freiheit, Gerechtigkeit und »fair play«. Ihren historischen Ausdruck finden die nationalen Überzeugungen nicht zuletzt in der Entwicklung von »rule of law«. Als Belege werden zum Beispiel die Magna Carta, die Bill of Rights, die Verbreitung von Parlamenten nach britischem Vorbild in ehemaligen Kolonialgebieten, aber auch das Einstehen für Freihandel und vor allem der Kampf gegen deutsche Machtbestrebungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg herangezogen. Die Sklaverei in den Plantagenkolonien erscheint dagegen wie eine Antithese zu diesem Mythos des ausgleichenden Liberalismus. In Frankreich lieferte der Comité pour la mémoire de l’esclavage im Jahr 2006 seinen ersten Bericht an die Regierung ab. Die erinnerungskulturelle Lage vor der erstmaligen Begehung des nationalen Gedenktags an Sklaverei und Emanzipation beschrieb der Text wie folgt: »La mémoire de l’esclavage et celle de l’abolition n’entretiennent pas entre elles une relation harmonieuse, pas plus qu’avec la mémoire nationale française. La question de la traite et de l’esclavage continue de susciter une réticence, une gêne. [...] À l’histoire d’un peuple qui s’est présenté au monde, depuis 1789, comme celui qui a proclamé l’inviolabilité des Droits de l’homme, il n’est pas facile d’associer l’histoire d’une servitude organisée.«50
Die universelle Devise von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« als Legitimationsbasis des französischen Republikanismus steht in einem gleichfalls frappierenden Widerspruch zur lange währenden Praxis der kolonialen Sklaverei. Vom (Selbst-)Bild der Nation nicht zu trennen ist der Anspruch auf die welthistorische Vertretung der universellen Menschenrechte, der sich im Angesicht der systematisch diskriminierenden Entmenschlichung von afrikanischen Plantagenarbeiterinnen und -arbeitern nur schwer aufrechterhalten lässt. Im französischen wie im britischen Fall ist neben der integrierenden Kraft nach innen auch die gewünschte Außenwirkung des historischen Images politisch relevant. Dies gilt in besonderem Maße für die Geschichte des Kolonialismus, unter dessen Vorzeichen die außereuropäischen Beziehungen beider Länder über viele Jahrzehnte hinweg gestaltet wurden. Die Vorstellung einer nationalen »Sonderrolle« in Vergangenheit und Gegenwart wird in vielen Ländern erinnerungskulturell gepflegt; Großbritannien und Frankreich stellen in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der Regel dar. Dass die Hintergründe und zentralen Aufbauelemente dieser Vorstellung sich unterscheiden, kann allerdings ebenso wenig überraschen, machen sie doch den harten Kern der Nationalgeschichte als national differenzierender Geschichte aus. »In France […] the concept of ›nation‹ has always been highly politicised, closely related to the issue of state legitimacy, and therefore often deeply divisive.«51 Dies entspricht der revolutionären Entstehungsgeschichte des Nationalismus in Frankreich. In einem Land, das sich nach 1789 über viele Jahrzehnte im Zustand eines ideologischen Bürgerkriegs befand, kam der historischen Erinnerung eine besondere Relevanz für die (Re-)Stabilisierung des Staates zu.
50 CPME: Rapport au Monsieur le Premier Ministre, Première Partie, 12.4.2007, http://www. cnmhe.fr/spip.php?rubrique8. 51 Jenkins, Brian/Spyros, Sofos A.: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Nation and Identity in Contemporary Europe, London/New York, NY: Routledge 1996, S. 1-5, hier S. 3.
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»In the case of the United Kingdom, ›Britishness‹ remains an elusive and fuzzy concept whose symbolism is largely depoliticised and centres on the myth of a time-honoured, pragmatic ›British way‹.« 52 Zusammengehalten wird dieses Ideenkonstrukt von »Meta-Mythen« wie dem Narrativ der liberalen britischen Verfassungsentwicklung. Auch diese Konstellation hat im Ursprung historische Gründe. »The antiquity of the English state – though not the United Kingdom – was such that the crystallisation of a ›master narrative‹ was not a necessary accompaniment of either state or nationality formation. […] A kingdom that was united, by definition, incorporated multiple histories.«53 In den 1980er Jahren wurden dann beide Untersuchungsländer vom international ausgreifenden und bis heute anhaltenden »memory boom« erfasst, durch den die Geschichte eine neue Bedeutung als nationales Politikum erhalten hat. Im Vereinigten Königreich wurde vor allem das »national heritage« als potentiell vielgestaltiges und eklektisches Kulturerbe zum Gegenstand bewahrender wie auch erneuernder erinnerungskultureller Tendenzen. Die französischen Debatten kristallisierten sich dagegen um den verhältnismäßig geschlossenen und hochpolitischen Begriff der »mémoire nationale«. Stärker narrativ gedacht, soll die Erinnerung nicht zuletzt der Legitimation von Republik und Republikanismus verpflichtet sein. Diese besondere Beziehung der Republik zu ihrer Geschichte macht sich bis heute bemerkbar. »Depuis quelques années, l’histoire est devenue un formidable espace de jeux politiques.«54 Hierbei zeichnen sich die langfristigen Folgen der Idee vom »roman national« à la Ernest Lavisse ab, wie er in den Schulen der III. Republik bewusst als politisches Instrument eingesetzt wurde. »History stands at the centre of a redefinition of French national identity.« 55 Hinzu kommt eine vergleichsweise elaborierte akademische Debatte, deren Auseinandersetzung mit der gemeinschaftsstiftenden Bedeutung historischer Erinnerung vor dem besagten Hintergrund früh einsetzte und die mit international einflussreichen Namen wie Renan, Halbwachs, Ricœur und Nora verbunden werden kann. »Whereas in contemporary Britain there has been only a very limited discussion of what might constitute a ›national narrative‹, the last thirty years have seen France’s intellectual and political classes grapple, quite openly, with the contemporary definition of the nation.«56 Die französische Entwicklung ist zudem enger in (kontinental-)europäische Kontexte eingebunden, zu denen Großbritannien – wie politisch erst zuletzt äußerst eindrücklich bewiesen – ein eher distanziertes Verhältnis pflegt, das immer wieder auch auf eine historisch kontrastierende Differenzierung setzt. Im Vereinigten Königreich hat das Zusammenspiel von Geographie und Geschichte zu einer inneren Abgrenzung 52 Ebd., S. 2. 53 Robbins, Keith: »Ethnicity, Class, Religion and Gender in the Island Story/ies. Great Britain and Ireland«, in: Stefan Berger/Chris Lorenz (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 231255, hier S. 231, 239. 54 B. Stora: Préface, S. 7. 55 Aldrich, Robert: Vestiges of the Colonial Empire in France. Monuments, Museums and Colonial Memories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2005, S. 331. 56 Chabal, Emile: »Writing the French National Narrative in the Twenty-First Century«, in: The Historical Journal 53/2 (2010), S. 495-516.
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nicht nur zur Europäischen Union, sondern zu großen Teilen der historischen und politischen Entwicklung Kontinentaleuropas geführt. Von großer Bedeutung für die jüngere Vergangenheit europäischer Festlandstaaten waren gewaltsame Umbrüche, die Etablierung faschistischer und kommunistischer Regimes sowie Kriegserfahrungen, die mit der großflächigen und teilweise langfristigen Verwandlung von Landschaften in Schlachtfelder und/oder mit der Unterwerfung unter die Besatzungsmacht des Kriegsgegners einhergingen. Diese einschneidenden Ereignisse bilden heute auch die Basis für eine zum Teil national, zum Teil gemeinsam gepflegte Erinnerungskultur und die sie umgebenden Debatten. Da die britischen Inseln von dieser Geschichte nicht in derselben Weise betroffen waren, nehmen sie, ganz im Gegensatz zu Frankreich, in diesem Zusammenhang eine eher randständige Position ein. Im Mittelpunkt der politischen und akademischen Aufarbeitungslinien steht die Geschichte der Shoah. Zu ihr stehen die beiden Untersuchungsländer in einem sehr unterschiedlichen historischen Verhältnis. Die Erfahrung der Okkupation durch NaziDeutschland, die Frankreich als Teil des europäischen Festlandes durchlebt hat, blieb Großbritannien erspart. Die französische Erfahrung war geprägt von dem Spannungsfeld zwischen demütigender Niederlage und erfolgreicher Befreiung, aktiver Kollaboration und aktivem Widerstand. Neben die Erinnerung an die Résistance ist in den letzten Jahrzehnten die Erinnerung an die offizielle Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht getreten, auch und gerade im Hinblick auf die Judenverfolgung. Etwa 76.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder sollen in Frankreich verhaftet und in nationalsozialistische Vernichtungslager transportiert worden sein.57 Großbritannien versteht sich dagegen ohne jede Zweideutigkeit als Siegermacht der Weltkriege58; vom Holocaust bleibt die Nation im physischen wie im übertragenen Sinne unberührt. Die Einführung eines Holocaust-Gedenktages (27. Januar) im Jahr 2001 folgte eher einer internationalen Gedächtnisdynamik als der Logik eines selbstreflexiven Prozesses.59 Da weder die Regierung noch das Territorium oder die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs direkt involviert waren, stellt die Shoah hier eine Art »comfortable horrible memory« dar.60 Ihr wird mit Betroffenheit im Angesicht des beispiellosen Völkermordes, aber letztlich mit einem guten nationalen Gewissen gedacht.
57 Anzahl der Namen, die in die Mauer des Shoah-Mahnmals in Paris eingraviert wurden, vgl. Lévy-Willard, Annette: »76 000 noms gravés au Mémorial de la Shoah«, in: Libération vom 25.1.2005. 58 Diese Erinnerung hat sich fest in der Populärkultur verankert, wie nicht zuletzt das berühmtberüchtigte Fußballlied »Two world wars and world cup« belegt, mit dem britische Fans ihre Nationalmannschaft feiern. Vgl. hierzu kritisch P. Gilroy: After Empire, S. 116 ff. 59 Vgl. Sharples, Caroline/Jensen, Olaf (Hg.): Britain and the Holocaust. Remembering and Representing War and Genocide, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013; Pearce, Andy: Holocaust Consciousness in Contemporary Britain, Abingdon/New York, NY: Routledge 2014. Zum Gedenktag im Detail vgl. auch Macdonald, Sharon: »Commemorating the Holocaust. Reconfiguring National Identity in the Twenty-First Century«, in: Jo Littler/Roshi Naidoo (Hg.), The Politics of Heritage. The Legacies of ›Race‹, London: Routledge 2005, S. 49-68 sowie das Kapitel »The UK’s first Holocaust Memorial Day«, in: S. Macdonald: Memorylands, S. 203 ff. 60 So Edward T. Linenthal über die USA, zit. n. M. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 9.
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Wenn, mit Levy und Sznaider gesprochen, der Holocaust durch die Internationalisierung seiner Erinnerung zu einem »Maßstab der Unterscheidung zwischen Gut und Böse« geworden ist, dann finden sich Britinnen und Briten im offiziell propagierten Narrativ auch weiterhin auf der Seite der »Guten« wieder. Diese erinnerungskulturelle Position steht in einem deutlichen Gegensatz zur schwierigen, langwierigen und oft widersprüchlichen Integration der Vichy-Regierung in die historische Erinnerung der französischen Republik. Nachdem die »dunklen Jahre« lange Zeit von der Nation als solcher isoliert worden waren, erfolgt das Gedenken an die Zeit des Zweiten Weltkriegs inzwischen in einer Art Spagat zwischen Widerstandsmythos und nationalem Schuldbekenntnis. Erinnerungskulturell vergleichbar problematische Reflexionen brachte die Einführung des britischen Holocaust Memorial Day nicht mit sich – im Gegenteil. »The nation was also strengthened by being cast as a hero; through modes such as reports from refugees in Britain, references to Britain’s military role in trying to resolve ongoing conflicts and analogies implied with Britain’s military role in World War II.« 61 Mit anderen Worten: Das Gedenken stand im Zeichen eines nationalen Exzeptionalismus mit internationaler Mission. »World War II and the Holocaust can be deployed in public commemoration in the UK in support of a ›Britain alone myth‹, in a way that would not be possible in other European countries.«62 Der britische Sonderweg in Geschichte und Erinnerung begann allerdings nicht erst im 20. Jahrhundert. Schon die konfessionelle Entwicklung des Landes spiegelt eine gewisse Herauslösung aus den Konflikten des frühneuzeitlichen Europas. Auch die revolutionären Umwälzungen der späteren Neuzeit beeinflussten die Entwicklung im Vereinigten Königreich weniger direkt, als es in benachbarten Staaten und insbesondere Frankreich der Fall war. »All electoral reform from 1832 onwards came about through pressure from below, and the reluctant surrender of power by governing elites acting in self-preservation. [Britain] ha[s] never had a great republican upheaval like France.«63 Als »Glorious Revolution« wird dagegen ausgerechnet die relativ rasch und unblutig abgelaufene Ereigniskette bezeichnet, die 1688 zur dauerhaften Einschränkung monarchischer Prärogativen durch die Bill of Rights führte, welche die Machtstellung des britischen Parlamentes zementierte. Dies belegt die erinnerungskulturelle Nachwirkung der tiefgreifenden Erschütterung, die das Land zuvor im Zuge des Bürgerkriegs und der Exekution von König Charles I. – einem in Europa zu dieser Zeit noch unerhörten Akt – erfasst hatte. Zum historischen und politischen Selbstverständnis vieler Britinnen und Briten gehört heute eine Wertschätzung der Reformtradition des eigenen Landes, das auf eine Geschichte mit relativ langen politischen Kontinuitätslinien zurückblicken kann. Auf besonders eindrucksvolle Weise manifestiert sich diese Stabilität im Gebäude des Westminister-Palasts, der trotz baulicher Umgestaltungen seit über 700 Jahren als Versammlungsort der britischen Parlamente dient. Die oft selbstreferentielle Evolution von Monarchie und Parlamentarismus mündete in Großbritannien in einem politischen System, das ohne ein einheitliches schriftliches Verfassungsdokument auskommt, das in vielen anderen Ländern einen zentralen Grundstein der Nationalstaatlichkeit darstellt. 61 Macdonald: Memorylands, S. 204. 62 Ebd., S. 217. 63 Fleming, David: The Democratic Museum, Keynote Speech, Museums Association Conference, 6.10.2008, Liverpool, http://www.museumsassociation.org/download?id=17446.
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Die sehr eigene Entwicklung wird dabei oft in den narrativen Strukturen einer liberalen »Whig History« erinnert. Der Begriff geht ursprünglich auf eine 1931 publizierte Arbeit des Historikers Herbert Butterfield zurück.64 »[I]t refers to an interpretation of British history, prevalent in whig political and intellectual circles in the midnineteenth century, which stressed the growth of liberty, parliamentary rule and religious toleration since the constitutional struggles of the seventeenth century.«65 Die Grundlinien dieses nach dem englischen Bürgerkrieg einsetzenden Metanarrativs sind in der Lage, eine Brücke zwischen unterschiedlichen (geschichts-)politischen Lagern zu schlagen. In diesem Punkt nimmt die »Whig History« eine Rolle ein, die dem französischen Bekenntnis zum Republikanismus als Herzstück der nationalgeschichtlichen Entwicklung nahe kommt. »Still more generally, the past is often seen historiographically as the origin or precursor or anticipation of the present, in such a way as to celebrate and legitimize that present, and history writing of this kind seems to have something important in common with ›whig history‹.«66 Es kann daher nicht verwundern, dass sich die Spur einer solchen geschichtsdeutenden Tradition bis in das aktuelle Zentrum der britischen Erinnerungskultur nachverfolgen lässt. Die Siege in den beiden Weltkriegen bringen das Selbstbild einer welthistorisch exklusiven Verbindung zur Verbreitung und Verteidigung von politischer und persönlicher Freiheit auf den geschichtspolitischen Punkt. Die auf militärischen Erfolgen basierende nationale Erinnerungstradition blieb bis in die 1990er Jahre äußerst einflussreich. In der Ära der Premierministerin, die als »Iron Lady« in die populäre Geschichtsschreibung eingehen sollte und deren eigene »finest hour« nicht selten ins Jahr des Falklandkriegs (1982) datiert wird, war sie politisch durchaus zeitgemäß. »Margaret Thatcher, who had no great interest in history per se, encouraged the heritage mania of the 1980s by making frequent remarks to ›Victorian Values‹ and empire.«67 Besonderen Wert legte Thatcher auf die Vermittlung einer traditionsbewussten Nationalgeschichte patriotischer Prägung. Diese Position vertrat sie nicht zuletzt im so genannten »History War« um die Anpassung der britischen Lehrpläne, die nach Ansicht vieler Fachleute in den 1990er Jahren mehr Raum für die Ansätze einer multikulturellen Globalgeschichte bieten sollten. 68 Der konservative Diskurs war aber nicht nur vom Festhalten an letztlich imperialen Vorstellungen nationaler Größe geprägt, sondern auch von einer ebenso anachronistischen, dabei eher eskapistischen Nostalgie, die sich in der Idealisierung der britischen bzw. 64 Für eine neuere Auseinandersetzung mit dem Konzept vgl. Wilson, Adrian/Ashplant, Timothy G.: »Whig History and Present-Centred History«, in: The Historical Journal 31/1 (1988), S. 1-16. 65 Ebd., S. 2. 66 Ebd., S. 3. 67 Berger, Stefan: »The Return of National History«, in: Pedro Ramos Pinto/Bertrand Taithe (Hg.), The Impact of History? Histories at the Beginning of the Twenty-First Century, Abingdon/New York, NY: Routledge 2015, S. 82-94, hier S. 87. Vgl. auch das Kapitel »Mrs. Thatcher and Victorian Values« in: Samuel, Raphael: Island Stories. Unravelling Britain. Theatres of Memory Bd. 2, hg. von Alison Light, London/New York, NY: Verso 1998, S. 331 ff. 68 Vgl. Dunn, Ross E.: »The Making of a National Curriculum. The British Case«, in: The History Teacher 33/3 (2000), S. 395-398.
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englischen »countryside« manifestierte. »[T]his entailed financial and other forms of support, for the maintenance of cathedrals, castles and country houses, gardens, thatched cottages and statues of the famous. Elite culture was to be celebrated and consumed as though it were a common tradition.«69 Viele der ländlichen Herrenhäuser werden heute von Denkmalpflegeorganisationen wie English Heritage oder dem einflussreichen National Trust verwaltet. Diese bemühen sich seit einigen Jahren gezielt um eine thematische wie personelle Öffnung für die historische und gegenwärtige »Vielfalt« des Landes, ein Engagement, das nicht zuletzt vor dem Hintergrund sinkender Mitglieder- und Beitragszahlen zu sehen ist.70 Tatsächlich hatte die konservative Geschichtserinnerung gerade für Zugewanderte wenige überzeugende Anknüpfungspunkte der historischen Selbstverortung im Land und in der Nation zu bieten. Nicht zuletzt deshalb entfaltete sich in den 1980er Jahren auch eine zunächst vor allem lokalpolitisch beförderte Entwicklung, die andere Akzente setzte. Maßgeblich unterstützt wurde sie unter anderem von Ken Livingstone (Labour) als Vorsitzendem des Greater London Council.71 »[T]he emergence of municipal multiculturalism edged the national imaginary towards a version of pluralism in which ethnicity became a key source of difference.«72 Etwa zeitgleich bearbeitete zudem eine gerade im Vergleich zu Frankreich radikale und basisdemokratische Bewegung das geschichtskulturelle Feld, die unter anderem in »history workshops« der Bevölkerung den Zugang zu Geschichte in größerer Breite eröffnen wollte.73 Nicht nur die sozialistische Färbung dieser »neuen Geschichte« führte im Vereinigten Königreich zur Herausbildung einer deutlichen Kluft zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von nationaler Geschichte und Erinnerung. Mit den Ausläufern dieser Spannung musste sich die Labour-Regierung gut 20 Jahre später auseinandersetzen. Im Wahlkampf und zu Beginn seiner ersten Amtszeit als britischer Premierminister inszenierte Tony Blair sich und sein Land dabei zunächst als betont jugendlich und zukunftsgewandt; »Cool Britannia!« lautete der postimperiale Slogan, unter dem das
69 K. Myers: Struggles for a Past, S. 158. 70 Vgl. z.B. Furness, Hannah: »Don’t panic, young people will grow into National Trust, chairman says«, in: The Daily Telegraph vom 22.5.2015; Legg, Rodney: »Breach of trust. It is Europe’s biggest environment charity. But the National Trust must modernise or die«, in: The Guardian vom 14.9.2005; Proby, William: »Response: Out of the country house, and into the back-to-back. The National Trust’s approach to conservation is no longer out of date«, in: The Guardian vom 15.9.2005. 71 K. Myers: Struggles for a Past, S. 162. 72 Ebd., S. 186. 73 »History Workshop functioned in Britain as an effective alternative historical apparatus. It countered the intellectual and political conservatism of the dominant historical profession, setting up an alternative means for producing historical knowledge which had roots deep in the subordinate groups of British society. It intervened vigorously and incessantly wherever in the national culture the meaning of history was in debate.« So das Urteil über die eigenen Anstrengungen von Schwarz, Bill: »History on the Move. Reflections on the History Workshop«, in: Radical History Review 57 (1993), S. 203-220, hier S. 203. Vgl. auch Samuel, Raphael: »History Workshop 1966-1980«, in: Ders. (Hg.), People’s History and Socialist Theory, London: Routledge & Kegan Paul 1981, S. 410-417.
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neue Image auch international vermarktet wurde.74 Ganz so leicht ließ sich das koloniale Erinnerungserbe freilich nicht abschütteln – zumal die Geschichte mit einigen der brisantesten Krisenherde der aktuellen internationalen Politik in Verbindung stand. »Jack Straw cringed at the memory of empire […] complaining that he spent his days in the Foreign Office sweeping up the mess of our colonial past. Demos, the New Labour think tank, has suggested the Queen embark on a Commonwealth tour to apologise to her subjects for any inconvenience that British rule might have caused them.«75 Zu einer solchen Tournee sollte es nicht kommen, dennoch geriet die Erinnerung an die imperiale Vergangenheit in der Zeit der Labour-Regierung spürbar in Bewegung. »When in office, Blair apologised for the 19th century Irish potato famine and for Britain’s involvement in the slave trade, while Gordon Brown, his successor, apologised for the fact that British children were shipped to Australia and other Commonwealth countries between the 1920s and 1960s.«76 Die Verbreitung des Begriffes »Entschuldigung« und die mit ihm verknüpften Kontroversen standen dabei nicht immer in einem angemessenen Verhältnis zur wörtlich nachvollziehbaren Botschaft der entsprechenden Aussagen. »The Queen is said to have apologised to the Maori of New Zealand, to the Indians over the massacre at Amritsar in 1919, and even to the Acadians of Canada (for their deportation in the 18th century), but on closer inspection these were apologies by implication, symbolic rather than direct.«77 Der neuseeländische Waikato Raupatu Claims Settlement Act von 199578 und die feierliche Inszenierung seiner Unterzeichnung durch Königin Elisabeth II. ging in dieser Hinsicht deutlich weiter als andere Initiativen: In ihm erkennt die Krone vertragswidriges und »ungerechtes Han-
74 Vgl. v.a. Leonard, Mark: BritainTM. Renewing our identity, London 1997, http://www.demos .co.uk/files/britaintm.pdf. 75 Robinson, Stephen: »Lightening the burden (Rezension zu Ferguson, Niall: Empire, London 2003)«, in: The Daily Telegraph vom 11.1.2013. 76 Osborn, Andrew: »British PM regrets ›deeply shameful‹ colonial Indian massacre«, Reuters World News, 20.2.2016, https://www.reuters.com/article/us-britain-india-amritsar/britishpm-regrets-deeply-shameful-colonial-indian-masscreidUSBRE91J0AA20130220?feedTyp e=RSS&feedName=worldNews&utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_cam paign=Feed%3A+Reuters%2FworldNews+%28Reuters+World+News%29. 77 »British and Indian officials have agreed a formula to enable the Queen to visit Amritsar without having to make an apology for the 1919 ›Jallianwala Bagh massacre,‹ in which 379 unarmed Indian demonstrators were killed by British troops.« Lees, Caroline: »Queen insists she will visit Amritsar«, in: The Daily Telegraph vom 24.8.1997. 78 »The Crown acknowledges that its representatives and advisers acted unjustly and in breach of the Treaty of Waitangi [...]. The Crown expresses its profound regret and apologises unreservedly for the loss of lives because of the hostilities arising from its invasion, and at the devastation of property and social life which resulted.« Waikato Raupatu Claims Settlement Act 1995, 3.11.1995, Part One (Text in English), http://www.legislation.govt.nz/act/public/ 1995/0058/latest/whole.html. Vgl. auch Gibbs, Meredith: »Apology and Reconciliation in New Zealand’s Treaty of Waitangi Settlement Process«, in: Mark Gibney u.a. (Hg.), The Age of Apology. Facing up to the Past, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2008, S. 154-167.
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deln« an und entschuldigt sich »ohne Einschränkungen« für die Folgen der gewaltsamen Einnahme von Maori-Land. Allerdings handelte es sich hierbei um ein Ergebnis neuseeländischer Geschichtspolitik. Die Liste der Beispiele zeigt dennoch, dass die internationale Tendenz in Richtung einer Erinnerung, die neben historischen Siegen auch den von ihnen produzierten Schattenseiten Rechnung trägt, nicht am Vereinigten Königreich vorbeiging. Hervorgetan hat sich in dieser Hinsicht nicht zuletzt die Church of England als Organ der geistlichen Repräsentation des Landes mit einer »series of apologies by Church leaders for events ranging from the crusades to the export of hymns to Africa.«79 Auch die Entwicklung des Gedenkens an den Holocaust befindet sich weiter in Bewegung. Bislang verfügen in der britischen Hauptstadt das jüdische Museum und das Imperial War Museum über Dauerausstellungen zur Geschichte der Shoah, das einzige dem Thema eigens gewidmete Museum ist das Beth Shalom genannte National Holocaust Centre and Museum in dem kaum 500 Einwohner/-innen zählenden Dorf Laxton nördlich von Nottingham. Die Planungen für die Errichtung eines National Holocaust Memorial in London laufen jedoch. Im Oktober 2017 setzten sich Sir David Adjaye und Ron Arad mit ihrem Entwurf im Wettbewerb durch. Mit veranschlagten Kosten von 50 Millionen Pfund ist das Monument in unmittelbarer Nähe zum Parlamentsgebäude ein erinnerungskulturelles Großprojekt. In Frankreich ist die Entwicklung eines »régime victimo-mémoriel« (Johann Michel)80 weiter vorangeschritten. Wie im Nachbarland nördlich des Ärmelkanals spielen die beiden Weltkriege für die Geschichtspolitik und die Erinnerungskultur in der französischen Republik eine zentrale Rolle. Während die hohe Gefallenenzahl des Ersten Weltkriegs vor allem zur Etablierung der Veteranen als geschichtspolitische Akteursgruppe führte, zog die rasche und insgesamt ruhmlose Niederlage gegen die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg eine gewisse Entmilitarisierung des Gedenkens nach sich. »La démilitarisation de la mémoire a dès lors contribué à politiser les termes du débat mémoriel. Portant des visions divergentes, associations, partis, institutions… s’affrontent, tant pour conquérir des droits que pour imposer, à la société française, leur vision.«81 Der besonders in der Ära de Gaulle politisch intensiv gepflegte Résistance-Mythos bildete zunächst noch ein gewisses Gegengewicht zu diesen Tendenzen. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung ist der Bruch mit den älteren Ordnungen der Erinnerung in Frankreich inzwischen aber umso deutlicher spürbar. »Vichy’s Jewish victims, in life a negligible quantity for Pierre Laval and Philippe Petain, have suddenly become, in death, an unanswerable reproach for the conscience of a great nation.«82 Das auf die Würdigung historischer 79 Petre, Jonathan: »Church told to apologise for its part in slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 17.1.2006. 80 Michel, Johann: »L’institutionnalisation du crime contre l’humanité et l’avènement du régime victimo-mémoriel en France«, in: Canadian Journal of Political Science / Revue canadienne de science politique 44/3 (2011), S. 663-684. 81 Wieviorka, Olivier: Mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres, de la Libération à nos jours, Paris: Le Seuil 2010, S. 285 f. 82 So Patrice Higonnet 1993 in der New York Times, hier zit. n. Gordon, Bertram M.: »The ›Vichy Syndrome‹ Problem in History«, in: French Historical Studies 19/2 (1995), S. 495518, hier S. 504.
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Opfergruppen ausgerichtete Konzept des »devoir de mémoire« hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine sukzessive Ausweitung erfahren, die bisweilen als Entgrenzung interpretiert wird: »La notion de ›devoir de mémoire‹ est aujourd’hui en France un lieu commun, un poncif de l’évocation du passé dans l’espace public. […] Quantitative, cette explosion est aussi qualitative. Produit d’un contexte spécifique – la commémoration du génocide des juifs d’Europe –, la notion s’est pour partie détachée de cette référence originelle.«83 Vorangetrieben wurde die Entwicklung vor allem von den unter großer öffentlicher Anteilnahme geführten Gerichtsprozessen gegen Klaus Barbie (1987), Paul Touvier (1994) und schließlich Maurice Papon (1998). »Le procès Barbie […] révèle au grand public la notion de ›devoir de mémoire‹, c’est-à-dire la légitimité, plusieurs années après les faits invoqués, d’en demander réparation et d’en tirer des leçons. La fonction du procès Barbie s’apparente de ce point de vue à celui du procès Eichmann en Israël.«84 Die Verfahren setzten auf den juristischen Begriff des 1964 auch in Frankreich für unverjährbar erklärten Verbrechens gegen die Menschlichkeit, um die drei an der Deportation von Jüdinnen und Juden mitschuldigen Männer zu verurteilen. Für die Strafverfolgung eingesetzt hatte sich nicht zuletzt der 1979 gegründete Verein Fils et filles de déportés juifs de France (FFDJF) um den als »Nazijäger« bekannten Historiker Serge Klarsfeld und seine deutsche Ehefrau Beate, deren gemeinsamer Sohn Arno für die FFDJF als Ankläger am Prozess gegen Papon beteiligt war. Als Mitglied des einflussreichen Dachverbands Conseil Représentatif des Institutions juives de France (CRIF) ist der Verein Teil eines gut organisierten Netzwerks, in dem das systematische erinnerungskulturelle Engagement fest verankert ist.85 Da Verfolgte aus den Kreisen des aktiven Widerstands aus formalen Gründen keine Rolle für die Prozesse spielten, präsentierten sich diese ganz überwiegend als opferzentrierte Aufarbeitung der Holocaust-Geschichte. Als über jüdische Kreise hinaus bedeutsame Erinnerungsorte dieser Geschichte in Frankreich kristallisierten sich die »Maison d’Izieu« und vor allem der »Rafle du Vélodrome d’Hiver« heraus.86 Weder die Gerichtsverhandlungen noch die 83 Gensburger, Sarah/Lavabre, Marie-Claire: »Entre ›devoir de mémoire‹ et ›abus de mémoire‹. La sociologie de la mémoire comme tierce position«, in: Bertrand Müller (Hg.), Histoire, mémoire et épistémologie. A propos de Paul Ricœur, Lausanne: Payot 2005, S. 76-95, hier S. 76. 84 Lalieu, Olivier: »L’invention du ›devoir de mémoire‹«, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 691/1 (2001), S. 83-94, hier S. 93. 85 Zur Entwicklung des Holocaust-Gedenkens in Frankreich vgl. Schneider, Floriane: Shoah. Dans l’atelier de la mémoire. France, 1987 à aujourd’hui, Lormont: Le Bord de l’eau 2013. 86 Aus dem Waisenhaus von Izieu bei Lyon wurden 44 jüdische Kinder und ihre Betreuerinnen auf Anweisung des deutschen Gestapo-Führers Klaus Barbie nach Auschwitz deportiert. Verrufen war der so genannte »Schlächter von Lyon« außerdem als Folterer von Jean Moulin, der Ikone des französischen Widerstands. Mit dem Begriff des »Rafle du Vel’ d’Hiv’« wird eine von deutschen und französischen Kräften gemeinsam geplante und im Juli 1942 durchgeführte Großrazzia im Raum Paris bezeichnet. Sie resultierte in der Internierung von fast 13.000 Jüdinnen und Juden, von denen ein Drittel dem Kindesalter noch nicht entwachsen war. Die Radsporthalle, der vélodrome d’hiver, diente als erster Sammelplatz. Von hier aus wurden die Festgenommenen über mehrere Stationen Richtung Osten transportiert, die meisten von ihnen in das Todeslager Auschwitz-Birkenau.
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Orte und Ereignisse, welche die Umwälzungen in der französischen Erinnerungslandschaft anregten, verfügen über Entsprechungen in der Vergangenheit und Gedenkkultur Großbritanniens. Auf höchster politischer Ebene wurden die Impulse zunächst nur zögerlich aufgenommen. Diese Feststellung ist nicht zuletzt auf Staatspräsident François Mitterrand zu beziehen, der einer politischen Generation angehörte, die selbst noch in die Zusammenhänge des Vichy-Regimes involviert gewesen war. »Sitôt élu, Jacques Chirac s’employa à lever l’hypothèque vichyste. Le 16 juillet 1995, le Président prononça les mots que beaucoup attendaient, en rappelant l’aide qu’avait apportée Vichy à la déportation des juifs de France.«87 Der Bruch mit den gewohnten Strukturen der historischen Erinnerung geht aus den für die Rede gewählten Worten klar hervor: »Il est, dans la vie d’une nation, des moments qui blessent la mémoire, et l’idée que l’on se fait de son pays. [...] La France, patrie des Lumières et des Droits de l’Homme, terre d’accueil et d’asile, la France, ce jour-là, accomplissait l’irréparable. Manquant à sa parole, elle livrait ses protégés à leurs bourreaux.«88 Der vom neuen Staatspräsident vollzogene Schritt öffnete den Weg für eine Reihe von geschichtspolitischen Maßnahmen, mit der die Republik sich der nunmehr anerkannten historischen und erinnerungskulturellen Verantwortung stellte. Die Umgestaltung des 1993 eingeführten Gedenktages mit dem bezeichnenden Titel »Journée nationale des persécutions racistes et antisémites commise sous l’autorité de fait dite ›gouvernement de l’État français‹ 1940-1944« zur »Journée nationale à la mémoire des victimes des crimes racistes et antisémites de l’État français et d’hommage aux ›Justes de France‹« (2000) schrieb die eingeschlagene Richtung fort; sie zeugt aber zugleich davon, dass die französische Geschichtspolitik den Imperativen und Prämissen des »régime victimo-mémoriel« keinesfalls gänzlich untergeordnet werden sollte.89 Vor dem Hintergrund einer von Serge Klarsfeld initiierten und von der französischen Medienöffentlichkeit unterstützten Kampagne kündigte Premierminister Alain Juppé 1997 beim traditionellen Jahresdinner des CRIF die Einrichtung einer »Mission d’étude sur la spoliation des Juifs de France« an (»Mission Mattéoli«, 1997-2000). Zwar ergaben die Nachforschungen zur Frage der Enteignung jüdischen Eigentums und Vermögens, dass ein Großteil dieses Unrechts in den Jahren nach Kriegsende tatsächlich adäquat entschädigt worden war. Dennoch empfahl das Gremium unter anderem die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung als Akt der Reparation; neben der (symbolischen) Begleichung der materiellen Restschuld spielten in diesem Zusammenhang vor allem moralische Aspekte eine Rolle. Das Stiftungskapital stellten der
87 O. Wieviorka: Mémoire désunie, S. 237 f. 88 Volltext und Video verfügbar auf den Seiten »Le scan politique« von Figaro.fr, Le discours de Jacques Chirac au Vel d’hiv en 1995, http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2014/ 03/27/25001-20140327ARTFIG00092-le-discours-de-jacques-chirac-au-vel-d-hiv-en-1995 .php. 89 Vgl. Michel, Johann: Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris: Presses Universitaires de France 2010, S. 43 ff. Zur Figur des »Gerechten« hat Sarah Gensburger eine Reihe von Texten veröffentlicht, vgl. z.B. Gensburger, Sarah: »Les figures du ›Juste‹ et du Résistant et l’évolution de la mémoire française de l’Occupation«, in: Revue française de science politique 52/2 (2002), S. 291-322.
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französische Staat und eine Reihe von in die unrühmliche Geschichte involvierten Finanzinstituten.90 Das Geld fließt unter anderem dem Mémorial de la Shoah zu, der anlässlich des 60. Jahrestags des Weltkriegsendes und der Auflösung der nationalsozialistischen Konzentrationslager im vierten Arrondissement der Hauptstadt eröffnet wurde. Neben einem Museum und einem Dokumentationszentrum umfasst der Komplex mehrere Orte der erinnernden Einkehr. Hierzu gehören die »Mauer der Namen«, die Krypta mit dem Grab des »unbekannten jüdischen Märtyrers«, ein Gedenkort für die dem Völkermord zum Opfer gefallenen Kinder sowie ein weiterer, der den »Gerechten« gewidmet ist, die den Verfolgten Unterstützung und Hilfe leisteten. Es handelt sich um den Ausbau einer deutlich älteren Einrichtung mit direkten Wurzeln in der Geschichte der Judenverfolgung in Frankreich.91 Im Jahr 2012 wurde die Struktur um eine Außenstelle in Drancy erweitert, wo sich auf dem Weg der Deportationen Richtung Osten ein zentrales Übergangslager befand. Die Erinnerung an die Shoah hat sich also auch in die physische Erinnerungslandschaft der französischen Republik eingeschrieben. In diesem Kontext steht nun die sich abzeichnende Umstrukturierung der (geschichts-)politischen Prämissen im Zuge von Dekolonisation, Migration und Globalisierung. »Diese Transformation ist nicht auf Frankreich beschränkt […]. Dennoch scheinen die […] Entwicklungen gerade im Fall der französischen Republik besonders tief greifend und von besonderer Bedeutung für die Krisenwahrnehmung, die gesellschaftliche Transformation – und vielleicht auch für die Intensität, mit der nach neuen Begründungsmöglichkeiten sozialer Ordnung gesucht wird.«92
Die französische Besonderheit ergibt sich dabei weniger aus der grundsätzlichen Form und inhaltlichen Stoßrichtung der Konflikte als aus der markanten Ausprägung und Tragweite derselben. Reizworte wie »Erinnerungskrieg« und »Opferkonkurrenz«, die in einer engen Resonanzbeziehung zur verbreiteten Furcht vor dem communautarisme stehen, prägen die Debatte um die Debatten. Während sich in der Sache durchaus ähnliche Tendenzen erkennen lassen, sind die kursierenden Konzepte in Großbritannien nicht im selben Maße determiniert – und damit zugleich weniger determinierend. Weder der »devoir de mémoire« noch die ebenso bedeutungsschwangere »guerre de mémoires« finden im Vergleichsland eine eindeutige Entsprechung. In Frankreich dagegen sind diese Begriffe eingebettet in das personell, sprachlich und inhaltlich dichte Netz eines privilegierten Feldes intellektueller und politischer Aktivität. Die öffentlich sichtbaren und oft konfliktuellen Formen der historischen Erinnerung ordnen sich dabei in die Wahrnehmung einer umfassenderen Gesellschaftskrise ein und erscheinen als Ursache, Aspekt oder Folge, als Symptom oder Heilmittel derselben.
90 F. Schneider: Atelier de la mémoire, S. 131 ff. 91 Perego, Simon: »Les commémorations de la destruction des Juifs d’Europe au Mémorial du martyr juif inconnu du milieu des années 1950 à la fin des années 1960«, in: Revue d’histoire de la Shoah 193 (2010), S. 471-507. 92 Geifes, Stephan/Seidendorf, Stefan: »Einleitung. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit«, in: Frankreich-Jahrbuch 2010, S. 11-22, hier S. 21.
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Auch dies kann als Konsequenz der besonderen Bahnen betrachtet werden, welche die erinnerungskulturelle Verarbeitung der »dunklen Jahren« des Vichy-Regimes genommen hat. Fragen der Erinnerung nahmen in diesem Zusammenhang bald einen ebenso wichtigen Platz ein wie das historische Geschehen selbst, dies gilt auch für die sozialwissenschaftliche Forschung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand oft das so genannte »Vichy-Syndrom« (H. Rousso). »As used by its protagonists, the Vichy syndrome is a synecdoche for arguments that depict an agonized postwar France somehow attempting to reconcile itself to its history.«93 Der Topos der kollektiven Geschichtsverdrängung weitete sich im Folgenden vor allem auf die Erinnerung an den Algerienkrieg aus. In diesem Fall war es Benjamin Stora, der mit »La gangrène et l’oubli« (1991) eine einflussreiche Studie vorlegte, die sich wiederum Anleihen bei der Psychoanalyse nahm. Tatsächlich stellte sich der offizielle Umgang mit den »Ereignissen« vor dem Hintergrund der Ideologie der »Algérie Française« problematisch dar. Erst 1999 wurde der Dekolonisationskonflikt von der französischen Republik qua Gesetz als Krieg anerkannt. Wenig später entfaltete sich eine öffentliche Debatte um die von der französischen Armee im Zuge des Konflikts systematisch eingesetzte Folter, die vor allem auf den Seiten von Le Monde ausgetragen wurde, und die etablierten Kategorien von Trauma, Verdrängung und Verarbeitung einmal mehr bestätigte. In ihrer ideologischen und politischen Struktur ist die französische Republik nach wie vor recht zentralistisch und unitaristisch ausgerichtet. »Accusé tantôt d’occulter une histoire, tantôt de surinvestir sur une autre, l’État est au centre de toutes les attentions.«94 Mehrere Parlamentsbeschlüsse belegen den Anspruch auf staatliche Regulierung der grassierenden Deutungskämpfe sowie das Streben nach einer Einigung auf dem Wege formalisierter demokratischer Aushandlungsprozesse oder jedenfalls durch einen Eingriff von »oben«. Das ausgerechnet zu Frankreich ein Buch mit dem Titel »Gouverner les mémoires« erscheint, ist bezeichnend; auf die Verhältnisse in Großbritannien ließe sich dieser Ansatz nicht im selben Maße anwenden.95 Gerade der Staatspräsident tritt in Frankreich traditionell als scheinbar überparteilicher Sachwalter des 93 B.M. Gordon: »Vichy Syndrome« Problem, S. 495. Die Formulierung geht auf das 1987 von Henry Rousso veröffentlichte Buch »Le syndrome de Vichy« zurück. Der Historiker befasste sich in seiner Studie mit den unterschiedlichen Stadien, welche die Beschäftigung mit der Okkupationszeit durchlaufen habe, vom Trauma über eine Phase der Trauer und Verdrängung bis hin zum obsessiven Erinnern. Das Modell ist empirisch schwach unterfüttert und hält der Überprüfung am zeithistorischen Material nicht unbedingt stand. So kam etwa Bertram M. Gordon auf der Basis seiner eigenen Nachforschungen Mitte 1998 zu dem Schluss: »[T]he argument that there has been some sort of special retrospective collective neurosis, malaise, trauma, obsession, or syndrome regarding the wartime years in France is not supported by the evidence.« B.M. Gordon: »Vichy Syndrome« Problem, S. 517. Dennoch etablierten sich hiermit wichtige Diskurselemente, die später auch in anderen erinnerungskulturellen Zusammenhängen eine Rolle spielen sollten. Vgl. auch Conan, Éric/Rousso, Henry: Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris: Fayard 1994. 94 Lefebvre, Barbara/Trigano, Shmuel: »Introduction. Mémoire et état, état des lieux et perspectives, Dossier: La politique des mémoires en France«, in: Controverses. Revue d’idées 2 (2006), S. 12-14, hier S. 13. 95 Michel, Johann: Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris: Presses Universitaires de France 2010.
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nationalen Gedächtnisses auf. In diese Logik schreiben sich die zahlreichen Pariser Museumsgründungen ein, die als stark persönlich geprägte Projekte französischer Präsidenten ihren Anfang nahmen. In ihnen drückt sich zugleich die politische Zentralität des Amtes und der Landeshauptstadt aus. »Il est de tradition que le chef de l’Etat, en France, s’autorise à parler d’histoire. […] Cette propension qu’a le chef de l’Etat à se faire le locuteur du passé national s’est renforcée sous la Ve République, ce qui n’a rien d’étonnant compte tenu des pouvoirs inédits que lui confère la Constitution. […] On peut donc soutenir que le fait de ›dire l’histoire‹ fait partie, sous la Ve République, du ›domaine réservé‹ du président de la République.«96
Besonders hervorgetan haben sich dabei sowohl Jacques Chirac als auch sein Parteirivale und Nachfolger Nicolas Sarkozy. »Fondamentalement […] le projet de Chirac a été de promouvoir sinon une mémoire plurielle de la nation du moins une ›mémoire partagée‹ par la reconnaissance des souffrances endurées. Une mémoire dont on attend qu’elle intègre les individus et les groupes marginalisés ou exclus du ›roman national‹ classique.« 97 Im Rückblick stellt sich der trotz allem umstrittene Einsatz von geschichtspolitischer Handlungsmacht in den Händen von Chirac als ein mindestens relativer Erfolg dar. »It is highly significant that […] the only begrudging praise offered by Le Monde (as would doubtless be the case for a large number of French citizens if such a question were put to them) congratulated Chirac for refusing to back war in Iraq and for being ›the duty to remember president‹.«98 Es handelte sich durchaus nicht um eine klare Abkehr von der Tradition der nationalen Erinnerungskultur. »De tous les présidents, c’est toutefois Jacques Chirac qui a sans doute pris les positions les plus iconoclastes, par rapport à la fois à ses prédécesseurs et à sa famille politique.«99 Am Ende vielsagend war die groß angelegte Inszenierung, mit welcher der Präsident wenige Monate vor der Amtsübergabe an Nicolas Sarkozy sein Wirken vollendete: Im
96 So der auf die Republik und ihre Institutionen spezialisierte Historiker Patrick Garcia in einem Interview mit Le Monde Magazine. Um den Autoritätszuwachs des Präsidenten in diesem Bereich zu illustrieren, führt Garica als in der Tat exemplarischen Aspekt die Gestaltung des Pariser Pantheon an: »De ce point de vue, l’exemple des translations au Panthéon est emblématique. Sous les IIIe et IVe Républiques, les panthéonisations étaient proposées par les députés. Depuis 1958, c’est le président qui en décide seul…«, Interview mit Patrick Garcia geführt von Wieder, Thomas: »Les présidents face à l’histoire«, in: Le Monde Magazine vom 22.3.2009. Gern wird in dieser Hinsicht auch von einer »chasse gardée« des Staatsoberhauptes gesprochen. Vgl. zu diesem Thema v.a. die nicht formell publizierte Habilschrift von Garcia, Patrick: Grammaires de l’incarnation. Les présidents de la Vème République et l’histoire (1958-2007), Université Panthéon-Sorbonne (Paris) und den aus dieser Arbeit hervorgegangenen Aufsatz »› Il y avait une fois la France‹. Le Président et l’histoire en France (1958-2007)«, in: Christian Delacroix/François Dosse/Patrick Garcia (Hg.), Historicités, Paris: La Découverte 2009, S. 183-202. 97 Patrick Garcia im Interview mit Wieder, Thomas: »Les présidents face à l’histoire«, in: Le Monde vom 22.3.2009. 98 Ebd. 99 Ebd.
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Januar 2007 ließ Chirac die »Justes de France« durch Aufnahme in den Pariser Pantheon ehren.100 »En cette fin de quinquennat […] il ne situe pas son message dans la repentance. Il veut exalter la fierté d’une histoire commune, dont les Justes, notamment, ont montré le chemin«.101 Eine Journalistin von Le Monde schloss ihren Bericht zu diesem Ereignis mit den Worten: »Le travail de mémoire sur la colonisation, reste, lui, à achever.«102 Dennoch sticht die französische Kolonialvergangenheit als ein Feld besonderer geschichtspolitischer Aktivität in der Ära Chirac hervor. Mit der Person des Präsidenten besonders eng verbunden ist die Eröffnung eines Museums für außereuropäische Kunst am Quai Branly, das zahlreiche Artefakte kolonialer Provenienz beherbergt, die historische Kontextualisierung aber gerade nicht in den Vordergrund stellt. 103 Genannt werden müssen neben Maßnahmen zur Geschichte des Sklavenhandels darüber hinaus vor allem Initiativen und Stellungnahmen, die sich auf die gewaltreiche Spätphase des französischen Kolonialreiches beziehen: Gegenüber Hilfstruppen der französischen Armee im Algerienkrieg (harkis) erkannte Jacques Chirac eine »dette d’honneur« des französischen Staates an und ließ ihnen zu Ehren einen nationalen Gedenktag einführen.104 Nachdem das Parlament die Sprachbarriere der Erinnerung abgesenkt hatte, konnte zudem die Einrichtung eines offiziellen Mémorial national de la guerre d’Algérie et des combats du Maroc et de la Tunisie erfolgen, den der Präsident am 5. Dezember 2002 am Quai Branly einweihte. Ein Jahr später wurde das Datum zum nationalen Gedenktag an die Toten und Gefallenen der besagten Konflikte erhoben – nicht zuletzt deshalb, weil die Geschichte selbst zu umstritten war, um ein konsensfähiges Datum mit einem konkreten historischen Bezug zu stellen. Die Weiterentwicklung der Erinnerung an die mit den algerischen Städten Sétif und Guelma verbundenen Massaker (1945) oder an die Niederschlagung der Unruhen in Madagaskar (1947) ordnet sich 100 Bei der Zeremonie anwesend war neben der Ehrenpräsidentin der französischen Stiftung zum Andenken an die Shoah, Simone Veil, auch der inzwischen verstorbene Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. 101 Guerrey, Béatrice: »Jacques Chirac fait entrer les Justes au Panthéon et invite la France à regarder son histoire ›en face‹«, in: Le Monde vom 28.1.2005. »Vous incarnez aussi la France dans ce qu’elle a de plus universel, dans la fidélité aux principes qui la constituent. Grâce à vous, grâce à d’autres héros à travers les siècles, nous pouvons regarder la France au fond des yeux, et notre histoire en face«, so Chirac. 102 Ebd. Einen großen Schritt, den Jacques Chirac seinen Nachfolgern überließ, war die offizielle Anerkennung des Pariser Polizeimassakers vom 17. Oktober 1961 mit seinen zahlreichen, überwiegend algerischen Todesopfern. Diesem »devoir de mémoire« widmete sich 2011 François Hollande. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer »blutigen Repression« und »Tragödie«, AFP: »Hollande reconnaît la répression du 17 octobre 1961, critiques à droite«, in: Le Monde vom 17.10.2012. 103 Zu den Debatten um das Museum vgl. v.a. Coquery-Vidrovitch, Catherine: »Le musée du quai Branly ou l’histoire oubliée«, in: Konaré, Adame Ba (Hg.), Petit précis de remise à niveau sur l’histoire africaine à l’usage du président Sarkozy, Paris: La Découverte 2008, S. 125-137; Dupaigne, Bernard: Le scandale des arts premiers. La véritable histoire du Musée du Quai Branly, Paris: Fayard 2006. 104 Vgl. z.B. Merchet, Jean-Dominique: »Harkis. Chirac reconnaît une ›dette d’honneur‹«, in: Libération vom 26.9.2001.
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ebenfalls in diesen Kontext ein. Geschichtspolitisch ruhiger verlief die öffentlich weniger wahrgenommene Einrichtung eines entsprechenden Gedenktages an den Dekolonisationskrieg in Indochina.105 »Face à cela, Nicolas Sarkozy est dans une position ambivalente. D’un côté, c’est très net, il veut ›réenchanter‹ la nation, lui redonner en tant que valeur la place centrale qu’elle avait perdue. De l’autre, il est obligé de composer avec l’héritage que lui a légué Jacques Chirac«.106 Der neue Präsident setzte dabei auf die nationalkonservative Pose eines Vertreters der »anti-repentance«, die im Übrigen vor allem von Autoren wie Pascal Bruckner, Alain Finkielkraut, Max Gallo, Daniel Lefeuvre, Jean-Pierre Rioux und Alain-Gérard Slama vertreten wurde.107 »While a number of these writings brought their authors’ names to a wide public, their success might have been less considerable and the matter remained something of an academic spat, had it not been for the pronouncements of the new French president«.108 Dieser nutzte das Feld der Geschichtspolitik gezielt, um sich von seinem Vorgänger im Amt abzugrenzen. »Sarkozy’s specific emphasis announced a clear departure from the practices of his predecessor Jacques Chirac, whose public gestures of historical penitence had become a trademark of his presidency.«109 Insgesamt bewies er hierbei jedoch wenig Gespür. Trotz des hohen Stellenwerts, den die historische Erinnerung im politischen Portfolio einnahm, wirkte das konkrete Vorgehen oft spaltend, auch deshalb, weil die Offensiven soziale Stakeholder wie Lehrer/-innen und Wissenschaftler/-innen wiederholt vor den Kopf stießen. Gleich mehrere prominent platzierte Initiativen verliefen im Sand oder in einer von erbitterten Kontroversen gesäumten Sackgasse, nicht zuletzt das als nationales Prestigeprojekt geplante »Haus der Geschichte Frankreichs«.110 Im Gegensatz zu den französischen Kolonialkriegen gilt die Dekolonisierung des britischen Empire im europäischen Vergleich als relativ friedlich, wenn nicht gar vorbildlich. Die Institution des Commonwealth of Nations blieb zwar hinter den ursprünglich an sie geknüpften Erwartungen zurück. Allerdings verlief die Entwicklung immerhin erfolgreich genug, um bis heute ein gewisses symbolisches Prestige der postkolonialen Gemeinschaft zu begründen. Dies tritt wiederum umso deutlicher im Vergleich
105 Vgl. u.a. Middell, Matthias: »Frankreichs Erinnerungslandschaft und die koloniale Vergangenheit«, in: Etienne François u.a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 323-355. 106 Patrick Garcia im Interview mit Wieder, Thomas: »Les présidents face à l’histoire«, in: Le Monde vom 22.3.2009. 107 Einschlägig v.a. Bruckner, Pascal: La tyrannie de la pénitence. Essai sur le masochisme en Occident, Paris: Grasset 2006; Lefeuvre, Daniel: Pour en finir avec la repentance coloniale, Paris: Flammarion 2008; Rioux, Jean-Pierre: La France perd la mémoire, Paris: Perrin 2006. 108 F. Barclay: Postcolonial Nation, S. 4. 109 Bracher, Nathan: »Bruckner and the Politics of Memory. Repentance and Resistance in Contemporary France«, in: South Central Review 24/2 (2004), S. 54-70, hier S. 58. 110 Vgl. hierzu u.a. die scharfe Kritik von Bancel, Nicolas/Lebovics, Herman: »Building the History Museum to Stop History. Nicolas Sarkozy’s New Presidential Museum of French History«, in: French Cultural Studies 22/4 (2011), S. 271-288.
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zu den französischen Versuchen hervor, die eigenen nunmehr internationalen Beziehungen im Rahmen der Union Française zu festigen. »Auch das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Afrika und Asien wurde lange Zeit zum Ausdruck einer liberalen Denkungsart erklärt, gar zu einer Erfolgsgeschichte aus dem Geist angelsächsischer Freiheitsliebe stilisiert.«111 Neuerdings hat die britische Dekolonisation in der Erinnerung jedoch an Glanz verloren: »Dieses Bild hat nicht zuletzt infolge der jüngsten Debatten über das Vorgehen der britischen Armee während des Mau-Mau-Krieges im Kenia der 1950er Jahre nachhaltig Risse bekommen.«112 Im Untersuchungszeitraum blieb die Revision bislang gültiger Perspektiven zwar oft dezidiert linkspolitisch orientierten Kommentatoren wie Seumas Milne überlassen, der 2010 im Guardian schrieb: »[F]ar from decolonising peacefully, as empire apologists like to claim, Britain left its colonial possessions in a trail of blood, from Kenya to Malaya, India to Palestine, Aden to Iraq. To this day, Kenyan victims of the 1950s campaign of torture, killing and mass internment are still trying […] to win British compensation during a ›counter-insurgency‹ war that, by some estimates, left 100,000 dead.«113
Im Juni 2013 entschied dann allerdings die konservativ geführte britische Regierung, 20 Millionen Pfund für Kompensationszahlungen an kenianische Misshandlungsopfer bereitzustellen.114 Doch auch die Hartnäckigkeit der kolonial geprägten Perspektiven stellte sich im untersuchten Zeitraum unter Beweis, dies gilt nicht zuletzt für das Jahr des LabourWahlsiegs. Hintergrund war der Machtwechsel in Hongkong, der 1997 endgültig vollzogen wurde. Mit der planvollen Abgabe der Souveränität an die Volksrepublik China zog sich Großbritannien aus seinem letzten wichtigen, in formaler und faktischer Abhängigkeit stehenden Überseegebiet zurück. Die britische Presseberichterstattung war durchzogen von einer imperialen Nostalgie, die in der oft verwendeten Metapher des Sonnenuntergangs das Echo von der Idee des »Empire on which the sun never sets« trug. Im Angesicht der Reputation der autokratischen Volksrepublik konnte sich die britische Vormacht auf internationaler Bühne als Garant von Freiheit und »good governance« präsentieren. Auch der Abzug der britischen Militär- und Verwaltungskräfte
111 A. Eckert: Kolonialismus im europäischen Gedächtnis, S. 35 f. 112 Ebd., S. 36. 113 Kommentar von Milne, Seumas: »This attempt to rehabilitate empire is a recipe for conflict. Prepare for an outbreak of culture wars if Michael Gove’s appeal to colonial apologists to rewrite school history is taken up«, in: The Guardian vom 10.6.2010. 114 Press Association: »Mau Mau torture victims to receive £19.9m compensation from Britain. Foreign Secretary William Hague has announced a £19.9 million compensation settlement for Kenyans tortured during the Mau Mau uprising in the 1950s. He said the »›British Government recognises that Kenyans were subject to torture‹ and ›sincerely regrets that these abuses took place‹«, Telegraph.co.uk, 6.6.2013.
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aus der letzten strategisch relevanten »Kolonie« stand somit im Zeichen der Vorstellung vom britischen Imperialismus als der zumindest besseren Alternative.115 Im selben Jahr feierten Indien und Pakistan den 50. Jahrestag ihrer nationalen Unabhängigkeit. Die kolonialhistorische Bilanz, die Journalistinnen und Journalisten vor dem Hintergrund der beiden Ereignisse zogen, war durchwachsen. Die Folgen der blutigen Spaltung des indischen Subkontinents wogen nach wie vor schwer; als besonders unrühmliche Episode lastete zudem das Jallianwala-Bagh-Massaker in Amritsar 1919 auf den indisch-britischen Beziehungen. Gern hervorgehoben wurde aber auch der Umstand, dass es sich bei dem wirtschaftlich aufstrebenden Indien heute um den bevölkerungsreichsten demokratischen Staat der Erde handele. Dieses Motiv, das wahlweise auch auf die USA, Neuseeland, Australien, Kanada oder Singapur bezogen wird, kam in den Kommentaren zur Machtübergabe in Hong Kong ebenso zum Tragen. In den Jahren um die Jahrtausendwende bündelten sich Anlässe, die dazu angetan waren, Erinnerungen an das britische Kolonialreich wachzurufen. Neben dem Rückzug aus Hong Kong und dem Jubiläum der indischen Unabhängigkeit trugen auch der 500. Jahrestag der Seefahrt, die John Cabot 1497 nach Nordamerika führte, und der 100. Jahrestag des Diamond Jubilee von Königin Victoria, das 1897 als bombastische imperiale Inszenierung begangen worden war, hierzu bei. »Another link with [the] imperial past was severed with the death […] of the Queen Mother, consort of the last Emperor of India«116, die im März 2002 mit 101 Jahren aus einem langen Leben schied. In diese Zeit fiel auch die Eröffnung des British Empire and Commonwealth Museum (BECM), das bereits sechs Jahre später wieder geschlossen wurde. »The museum opened in 2002 in Isambard Kingdom Brunel’s original Temple Meads station and won a string of awards. Bristol was chosen because of its historic connection with empire through voyages of exploration, trade – including slavery – piracy, shipbuilding and the railways. However, it struggled to attract enough visitors to make it financially viable and a plan was hatched to move the museum to London. The plan fell through after the financial crash.«117
Es kann allerdings vermutet werden, dass die Finanzprobleme für die Schließung des BECM nicht allein ausschlaggebend waren. »Always plagued by patchy funding and internal dissent […] [i]ts failure to thrive surely reflects not just managerial mishaps but a deeper national ambivalence about imperial history.«118 Fast wäre die Umsetzung des umstrittenen Projekts von vornherein gescheitert. »Trapped between the competing demands of jingoism and the political correctness of modern multi-cultural Britain, the British Empire and Commonwealth Museum was turned down for lottery funding 115 »At times, and in certain places, the British empire was constructive, while at other points it could be brutal. It also tended to be superior to the rival imperialisms – French, Belgian, Japanese – likely to take its place«, so French, Patrick: »Nothing political about it, I had to turn down an OBE«, in: The Sunday Times vom 21.12.2003. 116 Hellen, Nicholas: »Sons of empire to build Pounds 8m museum«, in: The Sunday Times vom 16.6.2002. 117 Morris, Steven: »Museum in talks with owners after sale of borrowed artefacts. Up to 150 items missing from Bristol collection«, in: The Guardian vom 10.12.2012. 118 Tonkin, Boyd: »Yes, we remember. But we also choose to forget«, in: The Independent vom 8.11.2014.
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and has been refused public money.«119 Besonders erfolgreich, nicht zuletzt in der Kooperation mit Schulklassen, war schließlich die Ausstellung »Breaking the chains – The fight to end slavery«, die anlässlich des 200. Jahrestags des Slave Trade Abolition Act, die mit substantieller Unterstützung durch den nationalen Heritage Lottery Fund eingerichtet wurde.120 Dass die Sklaverei im Kontext der Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit einen jedenfalls bedeutsamen Platz einnahm, kann darüber hinaus das Beispiel der 1999 im National Maritime Museum eröffneten Dauerausstellung zur britischen Kolonialgeschichte anschaulich illustrieren. »Greenwich has been accused of mounting a politically correct travesty of the empire that will mislead thousands of millennium tourists next year. Critics see the display as aimed ›at depriving the British people of any aspect of their history in which they can take justifiable pride‹.«121 Unmut erzeugte unter anderem ein Exponat, dass die Verbindungen andeutete, die zwischen dem transatlantischen Sklavenhandel und der Familie von Jane Austen bestanden, deren in Großbritannien hoch angesehenes literarisches Werk in den 1990er Jahren durch mehrere erfolgreiche Verfilmungen ein neues Popularitätshoch erlebte. Die Reaktion auf die Thematisierung der kolonialen Sklaverei war bezeichnend: »Critics have alleged that the gallery omits the major roles of Britain and its navy in helping to abolish slavery and drive it off the seas.«122 In beiden Untersuchungsländern lassen sich also mehrschichtige, bisweilen widersprüchliche Entwicklungen der nationalen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik ausmachen, in deren Kontext die Sklaverei und Sklavenhandel ihren Platz finden musste. Zudem lässt sich ein Phänomen, das mehrere Jahrhunderte und Erdteile umfasste, aber auch nicht ohne Weiteres in die Form einer nationalen Geschichtspolitik pressen. Die in Großbritannien und Frankreich geführten Debatten können mithin nicht ganz ohne Verweis auf den internationalen Kontext betrachtet werden, der sie umgab und bisweilen beeinflusste. Tatsächlich verlaufen die entsprechenden Kommunikationsstränge in verschiedene Richtungen, wobei Aktivitäten im Rahmen der Vereinten Nationen und insbesondere der UNESCO seit einiger Zeit einen wichtigen Knotenpunkt darstellen. Hier treffen afrikanische, amerikanische, karibische und europäische
119 Reynolds, Nigel: »Spirit of the British Empire wins through. New museum opens its doors after long battle against public opinion and lack of financial aid«, in: The Daily Telegraph vom 28.9.2002. 120 B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History, S. 123. Vgl. auch Bernier, CelesteMarie/Newman, Judie: »Public Arts, Artefacts and Atlantic Slavery. Introduction«, in: Dies. (Hg), Public Art, Memorials and Atlantic Slavery, Abingdon/New York, NY: Routledge 2009, S. 1-17; Beech, John: A Step Forwards or a Step Sideways? Some Personal Reflections of How the Presentation of Slavery Has (and Hasn’t) Changed in the Last Few Years, 1807 Commemorated. The Abolition of the Slave Trade, Universität York https://www.history.ac.uk/1807commemorated/exhibitions/museums/step.html. Die Ausstellung blieb nach der Schließung des Museums eine zeitlang für Schulklassen geöffnet, die Homepage war noch länger verfügbar, kann inzwischen aber nicht mehr aufgerufen werden. 121 Ezard, John: »Empire show arouses pride and prejudice«, in: The Guardian vom 23.8.1999. 122 Ebd.
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Perspektiven aufeinander, wobei unterschiedliche Positionen und Konzepte zur Frage materieller Reparationen einen zentralen Reibungspunkt darstellen. Die erinnerungskulturelle Entwicklung in den USA verfügt dabei über ein besonderes Potential zur Ausstrahlung über die nationalen Grenzen hinaus. Die Geschichte von Sklaverei und Rassismus in Nordamerika ist aber auch eine sehr spezifische. Sie war zu Beginn und zunächst eine britische; die 1776 formal vollzogene Trennung hat allerdings dazu geführt, dass die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich sich heute primär mit ihrer jeweils »eigenen« Geschichte auseinandersetzen. Auch wenn diese streckenweise aus derselben Vergangenheit besteht, überschneiden sich die Diskussionen daher nur bedingt. Der Blick darf sich für etwaige Impulse aus den USA dennoch nicht verschließen. Im September 2016 hat das nationale Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur als Teil der Smithsonian Institution in Washington eröffnet. Die Forderung eines prestigeträchtigen nationalen Gedenkortes bzw. Museums, das sich explizit der Sklaverei widmet und oft in Analogie zum United States Holocaust Memorial Museum (1993) gedacht wurde, wird dagegen bislang ohne Erfolg erhoben. Allerdings haben die beiden Häuser des US-Kongresses 2008 bzw. 2009 Resolutionen mit offiziellen Entschuldigungen verabschiedet, die sich sowohl auf die Sklaverei als auch auf die ihr nachfolgende Zeit der rassistischen Segregation beziehen.123 Die Debatte um materielle Entschädigungen hat in den USA einen ausnehmend hohen Stellenwert und enthält ein starkes juristisches Element. Eine positive politische Entscheidung der Regierung ist in dieser Frage derzeit nicht zu erwarten; »[v]erschiedene Stadträte haben aber anders entschieden. Städte wie Tulsa (Oklahoma) und Elaine (Arkansas) haben Reparationen an die Opfer von rassistischer Gewalt gezahlt.« 124 Dem Kampf für eine materielle Entschädigung des historischen Unrechts hat sich unter anderem die 1987 gegründete National Coalition of Blacks for Reparations in America (N’COBRA) verschrieben, die auch transatlantische Kontakte zu anderen auf diesem Feld aktiven Verbänden unterhält.125 Mit einem gewissen Erfolg um die transnationale Ausdehnung ihres Einflusses bemüht ist außerdem die radikale Nation of Islam (NOI) um Louis Farrakhan. Im Rahmen einer religiös bis esoterisch ausgerichteten Ideologie vertritt die Organisation einen rassistischen Separatismus zum Zweck der materiellen und moralischen Regeneration der eigenen Bevölkerungsgruppe, und sie ist nicht zuletzt für die antisemitischen Auswüchse der hieraus resultierenden Rhetorik bekannt. In Großbritannien wie in Frankreich ist die »Farrakhanisierung« inter-ethnischer Beziehungen im Land ein hintergründiges Angstthema; die Einreise ins Vereinigte Königreich ist dem Führer der NOI bereits seit 1986 offiziell verwehrt.126
123 Vgl. z.B. Thompson, Krissah: »Senate Unanimously Approves Resolution Apologizing for Slavery«, in: The Washington Post vom 19.6.2009. 124 Schmieder, Ulrike/Zeuske, Michael: »Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik im Hinblick auf transatlantischen Sklavenhandel und die Sklaverei«, in: Comparativ 22/2 (2012): Erinnerungen an Sklaverei, S. 7-32, hier S. 14. 125 Vgl. R.E. Howard-Hassmann: Reparations to Africa, S. 29. 126 Rose, David: »Anti-semitic American black leader cannot come to Britain. Home Secretary to refuse entry to Louis Farrakhan«, in: The Guardian vom 17.1.1986.
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In Afrika hat die Reparationsdiskussion im Laufe der 1990er Jahre merklich an Auftrieb gewonnen, geriet aber relativ rasch wieder ins Stocken.127 Auch in diesem Zusammenhang wurde unter anderem ein Erlass von Staatsschulden als Ausgleich für in der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels wurzelnde Verluste gefordert. Wichtige Stimmen in diesem Zusammenhang sind neben anderen die von Ali Mazrui und J.F. Ade Ajayi. Einige der von afrikanischen Akteuren entworfenen Entschädigungskonzepte beziehen neben dem jahrhundertelangen Sklavenhandel auch die jüngere Kolonialvergangenheit des Kontinents mit ein. Auffällig ist weiterhin die massive Kritik an heutigen, als neokolonial gedeuteten Verhältnissen und nicht zuletzt an der Organisation der internationalen Beziehungen im Zeichen der Bretton-Woods-Ordnung unter der Ägide von Institutionen wie der Weltbank und des Weltwährungsfonds.128 Ein Meilenstein dieses Prozesses war neben der Einsetzung einer Group of Eminent Persons (GEP) zur Untersuchung der Frage die Pan-African Conference on Reparations, die mit maßgeblicher Unterstützung der Organisation of African Unity im April 1993 in der nigerianischen Hauptstadt Abuja abgehalten wurde. Die ausgehend von einem mehrere Jahrhunderte umfassenden Räsonnement geforderten Summen sind folgerichtig immens. Um die Jahrtausendwende kursierten Zahlen wie 100.000 Milliarden und 777.000 Milliarden US-Dollar in der Debatte, die freilich mit der Diskussion um einen Schuldenerlass für afrikanische Staaten verbunden war.129 Die Abuja-Proklamation enthielt keine konkreten Summen, forderte aber sowohl »Kapitaltransfer« als auch »Schuldenerlass« sowie einen afrikanischen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat.130 Auch die 15 Staaten der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) fassten vor wenigen Jahren den Entschluss, Reparationen für die Sklaverei und die weitgehende Zerstörung ihrer präkolonialen Bevölkerung anzustreben.131 Im Visier stehen dabei die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande. Details sind im entsprechenden »Zehn-Punkte-Plan für entschädigende Gerechtigkeit« niedergelegt, den die 2013 begründete CARICOM Reparations Commission unter dem Vorsitz des barbadischen Historikers Sir Hilary Beckles132 formuliert hat. Gefordert werden unter anderem ein Schuldenerlass, erweiterter Technologietransfer und Bildungsprogramme, 127 Vgl. R.E. Howard-Hassmann: Reparations to Africa, S. 26 ff.; B. Etemad: Crimes et réparations, S. 167 ff. 128 Vgl. hierzu beispielhaft J.F.A. Ajayi: Politique de réparation dans le contexte de la mondialisation. 129 B. Etemad: Crimes et réparations, S. 170; R.E. Howard-Hassmann: Reparations to Africa, S. 28. 130 Ebd., S. 27. Der Text der Proklamation ist online verfügbar, u.a. unter http://www.ncobra online.org/wp-content/uploads/2016/02/TheAbujaProclamation.pdf. 131 Weaver, Matthew: »British slavery reparations Q&A. As the debate over the UK’s role in the slave trade dominates the British PM’s visit to Jamaica, here is a guide to the controversial issue«, in: The Guardian vom 30.9.2015. 132 Zur einschlägigen Arbeit von Hilary Beckles vgl. v.a. H.M. Beckles: Britain’s Black Debt. Vgl. auch Beckles, Hilary M.: Trading Souls. Europe’s Transatlantic Trade in Africans. A Bicentennial Caribbean Reflection, Kingston, Jamaica: Ian Randle 2007 und Beckles, Hilary M./Shepherd, Verene A.: Saving Souls. The Struggle to End the Transatlantic Trade in Africans. A Bicentennial Caribbean reflection, Kingston, Jamaica: Ian Randle 2007.
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aber auch die Anerkennung eines »Rückkehrrechts« nach Afrika, explizit zur Geschichte der Sklaverei in Bezug gesetzte Rehabilitationsmaßnahmen psychologischer Art sowie eine konsequente erinnerungskulturelle Entwicklung und »[a] full formal apology, as opposed to ›statements of regrets‹ that some nations have issued.«133 Die karibische Initiative strebt ebenfalls intensiv nach internationaler Vernetzung.134 Am hieraus hervorgegangenen Kommunikationsnetzwerk beteiligten sich auch Delegierte aus Martinique und Guadeloupe, die als französische Überseedepartements in offizieller politischer Distanz zur Karibischen Gemeinschaft stehen. Historiker/-innen und Politiker/-innen aus Westeuropa wollen sich auf die Diskussion um Entschuldigung und Entschädigung in aller Regel nicht einlassen. Zur offenen Konfrontation der geschichtspolitischen Lager kam es bei der ersten UN-Weltkonferenz zum Thema Rassismus und Xenophobie, die 2001 im südafrikanischen Durban stattfand.135 Der Weg in Richtung einer Anerkennung der Geschichte als Schuldbekenntnis wurde von den Vertretungen der in historischer Verantwortung stehenden Staaten und nicht zuletzt der britischen Delegation blockiert.136 Allerdings qualifiziert die Abschlusserklärung zur Versammlung den transatlantischen Sklavenhandel und die koloniale Sklaverei unmissverständlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie wurden außerdem zu »major sources and manifestations of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance« erklärt.137 Die UN-Konferenz kann somit 133 CARICOM, Reparations for Native Genocide and Slavery, 13.10.2015, http://www.cari com.org/reparations-for-native-genocide-and-slavery. 134 Vgl. ebd. »Among the outcomes of an International Summit on Reparations which was held in April 2015 in the US was the establishment of a Global Reparations Committee. This Committee will utilize the same model being used by the Caribbean Reparations Committee. […] The Conference also agreed that two global reparations summits be held, first in 2016 in the Caribbean, and the second in 2017 in Europe.« 135 Zu den Hintergründen und zu den Perspektiven der CARICOM vgl. H.M. Beckles: Britain’s Black Debt. 136 Vgl. die Berichterstattung der britischen Medien Anfang September 2001, z.B. Gove, Michael: »The white man’s new burden«, in: The Times vom 3.9.2001; zur britischen Haltung besonders McGreal, Chris: »Britain blocks EU apology for slave trade«, in: The Guardian vom 3.9.2001; Butcher, Tim/Sparrow, Andrew: »British defy demand for apology on slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 4.9.2001; McGreal, Chris: »Africans back down at the UN race talks«, in: The Observer vom 9.9.2001. Vgl. auch H.M. Beckles: Britain’s Black Debt, S. 172 ff., passim; A. Garapon: Peut on réparer l’histoire, S. 237 ff. 137 »13. We acknowledge that slavery and the slave trade, including the transatlantic slave trade, were appalling tragedies in the history of humanity not only because of their abhorrent barbarism but also in terms of their magnitude, organized nature and especially their negation of the essence of the victims, and further acknowledge that slavery and the slave trade are a crime against humanity and should always have been so, especially the transatlantic slave trade and are among the major sources and manifestations of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance, and that Africans and people of African descent, Asians and people of Asian descent and indigenous peoples were victims of these acts and continue to be victims of their consequences.« World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance Declaration, Durban, 8.9.2001, http://www.un.org/WCAR/durban.pdf.
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als ein entscheidender Kulminationspunkt für die transkontinentale Reparationsdiskussion gelten, sie war zudem ein »Meilenstein in der Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und afrikanischen, afrikanisch-amerikanischen, afrikanisch-britischen und afrikanisch-karibischen NGOs.«138 Zwar wird die Frage materieller Reparationen in den Debatten des geschichtspolitischen Mainstreams in Frankreich und Großbritannien mehr oder weniger systematisch marginalisiert. Dennoch lässt sich immerhin konstatieren, dass sich, »seitdem sich die UN der Agenda angenommen haben und die Reparationsbewegung zu einer bedeutenden internationalen sozialen Bewegung aufgestiegen ist«139, an dieser Stelle ein gewisser Druck aufbauen konnte, der zumindest im Hintergrund stets präsent ist. Deutlicher erkennbar sind Fortschritte auf anderen Ebenen. Auf Afrikareisen wandten sich unter anderem Papst Johannes Paul II. und US-Präsident Bill Clinton dem Thema Sklavenhandel in einer Weise zu, die oft als Entschuldigung interpretiert wurde.140 Zu einem zentralen Gedenkort ist in diesem Zusammenhang die der senegalesischen Hauptstadt Dakar vorgelagerte Insel Gorée mit ihrem Museum, dem »Haus der Sklaven« (Maison des Esclaves) avanciert.141 Gorée zieht nicht zuletzt zahlreiche afroamerikanische Touristinnen und Touristen an, denen die Möglichkeit eines emotional bewegenden Ausblicks auf den atlantischen Ozean durch die »Door of no return« geboten wird; genau hier sollen ihre in die Sklaverei deportierten Vorfahren Afrika verlassen haben. Auch Barack Obama, dessen teilweise kenianische Abstammung die persönliche Teilhabe an der transatlantischen Genealogie des größten Teils der afroamerikanischen Bevölkerung freilich unwahrscheinlich macht, hat den Ort bereits besucht.142 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist dieser dabei hoch umstritten; dass Gorée ein zentraler Umschlagplatz für den Sklavenhandel war, erscheint aus verschiedenen Gründen fragwürdig. Möglicherweise hat nie ein Sklave, der zur Zwangsarbeit
138 Grillitsch, Johanna: »Gedenkjahr 2007. Der Reparationsdiskurs in England«, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 13 (2007), S. 137-161, hier S. 143. 139 Ebd., S. 137. 140 Für unterschiedliche Standpunkte zur Stellungnahme von Bill Clinton vgl. z.B. Casey, John/Howe, Darcus: »It’s hard to say sorry. President Clinton has decided to apologise for slavery. Quite right, says commentator Darcus Howe. Contemptible, says historian John Casey«, in: The Guardian vom 21.6.1997. Papst Johannes Paul II. äußerte sich mehrfach zum Thema Sklavenhandel, so etwa in Kamerun im August 1985 und auf Gorée im Februar 1992. 141 Vgl. Araujo, Ana Lucia: Public Memory of Slavery. Victims and Perpetrators in the South Atlantic, Amherst, NY: Cambria Press 2010; zur Debatte um Gorée als Erinnerungsort v.a. das zweite Kapitel »Plural Memories of the Slavery and the Atlantic Slave Trade«. Vgl. auch Bocoum, Hamady/Toulier, Bernard: »La fabrication du Patrimoine. L’exemple de Gorée (Sénégal)«, in: In Situ (online) 20 (2013): Les patrimoines de la traite négrière et de l’esclavage, https://doi.org/10.4000/insitu.10303. 142 Pflanz, Mike: »Obama confronts US history at the House of Slaves«, in: The Daily Telegraph vom 28.6.2013; vgl. auch Freeman, Colin: »Slave door or rubbish chute?«, in: The Daily Telegraph vom 29.6.2013.
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in eine Plantage auf der anderen Seite des Atlantiks transportiert werden sollte, die westafrikanische Region durch die »Tür ohne Wiederkehr« verlassen.143 Winfried Speitkamp unterscheidet Gedenkstätten und Erinnerungsstätten. Eine Gedenkstätte befindet sich – anders als das »Haus der Sklaven« – zwar an einem »authentischen« Ort, einem realen Schauplatz des historischen Geschehens. Dies sagt aber in der Regel wenig über die »Authentizität« der Gedenkstätte aus, da deren Bedeutung von einer Erinnerung überformt wird, die das Ergebnis einer intensiven kollektiven Bearbeitung ist. Der materielle Ort bindet folglich Gedächtnisinhalte, die nicht mehr oder weniger authentisch sind als andere, denn »[j]ede Erinnerung ist […] im Grunde neuerliche Wahrnehmung, und es ist streng genommen nicht sinnvoll, zwischen ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Erinnerungen zu unterscheiden oder vermeintlich verfälschende individuelle oder politisch kontaminierte obrigkeitliche Gedenkformen und -inhalte einerseits mit vermeintlich wahren wissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits zu kontrastieren.«144 Dabei sind Erinnerungen und Gefühle eng miteinander verbunden. Wenn sich also mit Jesse Jackson und Bernie Grant ein afroamerikanischer Geistlicher und ein britischer Parlamentarier afrokaribischer Herkunft in den Keller eines westafrikanischen Sklavenforts einschließen lassen, um dort gemeinsam zu weinen145, wird es dem Verständnis im Zweifelsfall nützlicher sein, nicht (nur) nach dem Ablauf der Geschichte, sondern (auch) nach den Wurzeln der Erinnerung zu fragen. Museum und Denkmal auf der Insel Gorée sind Teil einer sehr viel größeren erinnerungskulturellen Struktur unter der Leitung der Vereinten Nationen. Bei dem Projekt »Slave Route« handelt es sich um den wohl ambitioniertesten Versuch, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschichte des Sklavenhandels zusammenzuführen. Seit 1994, dem Jubiläumsjahr der ersten französischen Emanzipation, das in Frankreich nicht groß gefeiert wurde, befasst sich eine internationale und pluridisziplinäre Arbeitsgruppe der UNESCO intensiv mit der Thematik. Dabei geht es zum einen um eine Art historische Gesamtbilanz, zum anderen um eine aktive Arbeit für die historische Erinnerung sowie die Erschließung und Bewahrung des entsprechenden Kulturerbes. Der mit diesem anspruchsvollen Ansinnen betraute Personenkreis brachte vor allem Wissenschaftler/-innen aus Afrika, Europa, Amerika und der Karibik zusammen. Besonders aktiv wurden Vertreter/-innen aus Staaten der CARICOM und der Afrikanischen Union (AU). Entsprechend stark ist Gewicht von (pan-)afrikanischen und afrozentrischen Perspektiven, die in herkömmlichen akademischen Diskussionszusammenhängen häufig randständig bleiben.146 Der finanzielle und inhaltliche Einfluss des Projekts macht sich international auf verschiedenen Ebenen bemerkbar, die Ausrichtung wissenschaftlicher Konferenzen wird ebenso unterstützt wie die Pflege und der 143 Vgl. de Roux, Emmanuel: »Le mythe de la Maison des esclaves qui résiste à la réalité«, in: Le Monde vom 27.12.1998; H. Bocoum/B. Toulier: La fabrication du patrimoine. 144 Speitkamp, Winfried: »Kommunikations- und Erinnerungsräume in Afrika. Ein Problemaufriss«, in: Ders. (Hg.), Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 7-33, hier S. 14. 145 A. Rice: Radical Narratives of the Black Atlantic, S. 201 f. 146 Eine von Doudou Diène, einem der Hauptverantwortlichen für das Projekt, herausgegebene Sammelbandpublikation, die koloniale Kontinuitäten betont, trägt den programmatischen Titel »From Chains To Bonds«. Vgl. Diène, Doudou/UNESCO (Hg.): From Chains to Bonds. The Slave Trade Revisited, New York, NY: Berghahn Books 2001.
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Ausbau materieller Erinnerungsorte. Dies gilt nicht zuletzt für die an der westafrikanischen Küste erhaltenen Sklavenforts. Einige von ihnen wurden ebenfalls zu Tourismusdestinationen weiterentwickelt, wie Cape Coast Castle und Elmina in Ghana. »À Ouidah, où la traite ne s’est pas accompagnée de l’impressionnante monumentalité visible sur l’ancienne Côte de l’or, le programme de la Route de l’esclave de l’UNESCO a érigé un monument sous la forme d’un énorme portail face à la mer pour donner un support matériel au symbolisme du ›voyage sans retour‹. Il est clair que Gorée a influencé les autres sites qui ont entrepris un travail de remémoration«.147
Bis heute wurden mehr als 30 historische Stätten in die Weltkulturerbe-Liste aufgenommen, die sich durch eine explizite Verbindung zur Geschichte des Sklavenhandels auszeichnen.148 Einige wenige von ihnen, darunter das Monument in Stone Town auf der ostafrikanischen Insel Sansibar (Tansania), befinden sich in der Region des Indischen Ozeans. Sie öffnen die erinnerungskulturelle Perspektive für den historischen Menschenhandel, der vornehmlich von arabischen Geschäftsleuten betrieben wurde und Teile des Nahen und Mittleren Ostens mit vorwiegend weiblichen Sklaven aus Afrika versorgte. Die Erweiterung des geschichtspolitischen Fokus im Hinblick auf die östlichen Sklavendestinationen ist nicht zuletzt auf Druck aus den Staaten zurückzuführen, die seinerzeit am Transatlantikhandel beteiligt waren. Diesem gilt allerdings weiterhin das explizite Hauptinteresse der UNESCO-Initiativen. Der relativierenden Einordnung der Kolonialsklaverei in einen epochal und geographisch übergreifenden weltgeschichtlichen Rahmen hält die Organisation dabei drei zentrale Aspekte historischer Einzigartigkeit entgegen: Ausmaß und Dauer des transatlantischen Sklavenhandels – »approximately four centuries« –, die spezifische Kontur der Opfergruppe – »black African men, women and children« – sowie die rassistische Rechtfertigung des Systems – »the development of an anti-black ideology and its legal organization, the notorious Code Noir.«149 In den Argumenten spiegelt sich die häufig brisante Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus, welche die geschichtspolitischen Ausdeutungen prägt. Im Jahr 1997 führte die UNESCO einen internationalen Gedenktag an die Geschichte des Sklavenhandels und seiner Abschaffung ein, der seitdem jährlich am 23. August begangen wird, dem Datum des Aufstandsbeginns im heutigen Haiti. Auch das der Abschaffung der Sklaverei gewidmete internationale Gedenkjahr 2004 fiel nicht zufällig mit dem 200. Jubiläum der haitianischen Unabhängigkeit zusammen. »[W]hat happened in Haiti […] contradicted most of what the West has told both itself and others about itself.«150 Vor diesem Hintergrund wurde die Geburt des Staates zum Ausgangspunkt für radikale Gegengeschichten, die versuchen, den eurozentrischen Mythos der Emanzipation als humanitärem Akt aus einer im weitesten Sinne »afrikanischen« Perspektive zu widerlegen und die Bedeutung »schwarzer« Akteurinnen und 147 H. Bocoum/B. Toulier: La fabrication du patrimoine, S. 8. 148 UNESCO: The Slave Route 1994-2014. The road travelled, Paris 2014, S. 9, http://www. unesco.org/culture/pdf/slave/the-slave-route-the-road-travelled-1994-2014-en.pdf. 149 UNESCO: Transatlantic Slave Trade, http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/dia logue/the-slave-route/transatlantic-slave-trade. 150 M.-R. Trouillot: Silencing the Past, S. 107.
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Akteuren betonen. Ebenfalls von der UN unterstützt wurde das im Jahr 2007 begangene Jubiläum des britischen Slave Trade Abolition Act. In einem geradezu demonstrativ anmutenden Vorstoß gegen eine eurozentrische Ausrichtung auf den historischen Triumph der Abolitionsbewegung entschieden die Vereinten Nationen in diesem Zusammenhang die Einrichtung eines internationalen Gedenktags für die Opfer des (transatlantischen) Sklavenhandels. Als Datum wählten sie ausgerechnet den 25. März, den Tag, an dem das Gesetz verabschiedet wurde, das den britischen Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven illegal machte. »[T]he International Day of Remembrance for the Victims of Slavery and the Transatlantic Slave Trade offers the opportunity to honour and remember those who suffered and died at the hands of the brutal slavery system. The International Day also aims to raise awareness about the dangers of racism and prejudice today.« Ein Grund zum Feiern ist dieser Tag aus Sicht seiner Initiatorinnen und Initiatoren also ausdrücklich nicht. »In order to more permanently honour the victims, a memorial has been erected at United Nations Headquarters in New York.«151 Das Monument mit dem bezeichnenden Namen »Ark of Return« basiert auf einem Entwurf des amerikanischen Architekten Rodney Leon, dessen Eltern aus Haiti stammen. »The unveiling took place on 25 March 2015.«152 In gewisser Hinsicht und nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage der Verteilung von historischer Handlungsmacht wurde der 25. März somit geschichtspolitisch okkupiert. Der Dialog zwischen den ehemaligen Sklavenhandelsnationen in Westeuropa und der UNESCO gestaltete sich vor dem skizzierten Hintergrund oft schwierig. »[T]he Slave Route Project, like many ambitious and large-scale projects, has struggled to achieve its aims. It has failed to convince any of the former slave trading nations to support it financially. Ironically, the only significant contribution has come from the Norwegian Development Agency – one of the countries least involved in the slave trade!«153
Auch die öffentliche Wahrnehmung des hauptsächlich geförderten Gedenktages am 23. August entsprach nicht den ursprünglich mit ihm verbundenen Erwartungen. »La première journée de commémoration [...] n’a pas eu le retentissement souhaité ni en France, ni dans d’autres pays européens au moins aussi largement concernés, tels que l’Angleterre ou l’Espagne.«154 Dennoch kann das Projekt angesichts seines internationalen Gewichts nicht ignoriert werden, was vielleicht in besonderem Maße für die französische Politik gilt, deren Zentrum sich in derselben Stadt befindet wie der Hauptsitz der UNESCO. »D’abord discrète, l’entreprise, baptisée ›La route de l’esclave‹ a
151 Permanent Memorial to Honour the Victims of Slavery and the Transatlantic Slave Trade at the United Nations, http://www.un.org/en/events/slaveryremembranceday/memorial. shtml. 152 Ebd. 153 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 154 Rapport fait au nom de la commission des lois constitutionnelles, de la législation et de l’administration générale de la République sur les propositions des lois n° 1297, n° 792, n° 1050, n° 1302, par Taubira-Delannon, Christiane, http://www.assemblee-nationale.fr/11/ rapports/r1378.asp.
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reçu [...] le soutien de Jacques Chirac à l’occasion de la célébration du 150e anniversaire de l’abolition de la traite par la France.«155 Die ersten Schritte der EU im Rahmen dieses internationalen Spannungsfeldes fielen den erschwerten Umständen entsprechend eher zögerlich aus. Die der Sklaverei gewidmete Geschichtspolitik steckt bislang noch in den Kinderschuhen, und sie entwickelte sich vor allem im Windschatten der UN-Aktivitäten. So folgte die offizielle europäische Deklaration zum Gedenken im Jahr 2007 zunächst ebenfalls einer opferzentrierten Argumentationslinie. Die Erklärung der Ratspräsidentschaft betonte das Leid von Millionen Männern, Frauen und Kindern und drückte im Namen der EU aufrichtiges Bedauern aus. Auch die Qualifizierung der Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde aufgegriffen, wenn auch auf gedanklichem Umweg über Südafrika: »The barbarism of the transatlantic slave trade stands out in the history of humanity in terms of its magnitude, organised nature and especially its negation of the human dignity of the victims. While Europe was pioneering the Age of Reason and Enlightenment, European merchants took off to enslave the African continent. It therefore was most appropriate and timely that the international community acknowledged at the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance in Durban in 2001 that slavery and the slave trade are a crime against humanity and should always have been so.«156
Zudem hebt der Text die historische Omnipräsenz von Versklavung und Zwangsarbeit hervor, um sich im Folgenden in größerer Ausführlichkeit den Versuchen zu widmen, aktuelle Formen der Sklaverei weltweit zu unterbinden. Eine Thematisierung der Reparationsfrage oder des afrikanischen Widerstands wurde dagegen vermieden. Einen Vorstoß in diese Richtung unternahm eine Gruppe von Abgeordneten des Europa-Parlaments, unter ihnen viele Mitglieder grüner Parteien, im Frühjahr 2013 unter der Führung des französischen Abgeordneten Jean-Jacob Bicep aus Guadeloupe. Mit ihrer schriftlichen Erklärung verfolgten sie das Ziel, einen Gedenktag für die Opfer des europäischen Kolonialismus und des europäischen Sklavenhandels einzurichten. Da das geschichtspolitische Projekt nicht die notwendige Unterstützung von weiteren Delegierten erhielt, geriet der Prozess ins Stocken. Auch wenn die EU sich dem internationalen erinnerungskulturellen Trend nicht entziehen kann, scheint eine breite Verankerung des Themas Sklaverei also vorerst nicht in Sicht.
155 Leauthier, Alain: »Jusqu’en 2004, une équipe de scientifiques étudiera les effets économiques, culturels, historiques... de quatre siècles de traite des Noirs«, in: Libération vom 29.12.1998. 156 Council of the European Union, Declaration by the Presidency on behalf of the EU on the commemoration of the 200th anniversary of the abolition of the transatlantic slave trade, Brüssel, 26.3.2007, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ cfsp/93285.pdf.
III Die nationalen Erinnerungsdebatten
Entwicklung der Erinnerung in Großbritannien
INTERNATIONAL SLAVERY MUSEUM, LIVERPOOL Die Einrichtung eines nationalen Sklaverei-Museums stellt in Großbritannien einen wesentlichen geschichtspolitischen Schritt dar, dessen Umsetzung im Vergleichsland Frankreich trotz anhaltender Diskussionen weiterhin entfernt scheint. Das International Slavery Museum (ISM) wurde 2007, dem Jubiläumsjahr des Slave Trade Abolition Act, im nordenglischen Liverpool eröffnet. Es ist das Resultat einer längeren und in vielerlei Hinsicht von lokalen Bedingungen geprägten Entwicklung. In seiner heutigen Form gehört das ISM zu den National Museums Liverpool (NML, bis 2003 National Museums and Galleries on the Merseyside, NMGM), einem staatlich geförderten Komplex, der seit 1986 die wichtigsten Museen der Stadt zusammenfasst.1 Obwohl es sich um eine eigenständige Institution handelt, nehmen die Ausstellungsräume den dritten Stock eines Gebäudes am historischen Albert Dock ein, in dem sich auch das deutlich ältere Merseyside Maritime Museum (MMM) befindet. Als Teil der ehemaligen Hafenanlage am Ufer des Mersey liegt das ISM damit im Herzen der historischen »Liverpool Maritime Mercantile City«, die 2004 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommenen wurde. Mit seinen zahlreichen Kultureinrichtungen ist der Gebäudekomplex am Dock eine wichtige Touristenattraktion in Großbritannien. Der Kern des ISM umfasst drei thematisch ausgerichtete Ausstellungsräume, die den Besucherinnen und Besuchern das »Leben in Westafrika«, die Geschichte von »Versklavung und Mittelpassage« und schließlich das »Erbe« des Sklavenhandels präsentieren.2 Angegliedert sind Bereiche für Wechselausstellungen, ein kleines pädagogisches Zentrum sowie eine »Campaign Zone« mit »Community Space«, die ausdrücklich aktuellen Themen gewidmet ist. Es handelt sich im Wesentlichen um die Realisierung der ersten Phase eines dreistufigen Entwicklungsplans, dessen Umsetzung ursprünglich für das Jahr 2010 vorgesehen war.3 Er beinhaltete die Ausweitung des Museums in das angrenzende Gebäude des früheren Dock Traffic Office, das sich 1
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Zu diesem Komplex gehören neben dem International Slavery Museum und dem Merseyside Maritime Museum das Museum of Liverpool, das World Museum, das viktorianische Sudley House und die beiden Kunstgalerien Walker Art Gallery und Lady Lever Art Gallery, vgl. www.liverpoolmuseums.org. Übersichtsplan des Museums verfügbar unter www.liverpoolmuseums.org.uk/maritime/col lections/slavery. Vgl. auch das Interview mit dem Direktor des ISM Richard Benjamin geführt von Adams, Maia: »Going, going... Gone: Where I’d rather be«, in: The Guardian vom 4.8.2007.
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nun Martin Luther King Jr. Building nennt; der Zeitpunkt der Vollendung ist angesichts der Abhängigkeit von weiteren Finanzmitteln jedoch ungewiss.4 Teil des Plans ist ein »Research and Resource Centre«, das die Verbindungen zur schulischen und universitären Lehre sowie zum akademischen Forschungsbetrieb verstärken und auch räumlich institutionalisieren soll. Außerdem sollen die zusätzlichen Räume für die Ausrichtung von Kulturveranstaltungen genutzt werden und so vor allem zur Einbindung der Stadtbevölkerung (community/communities) in die Aktivitäten des Museums beitragen. Durch den Einzug in das Nachbargebäude, das nach derzeitiger Planung durch eine Überführung direkt mit der Ausstellung unter dem Dach des MMM verbunden werden soll, würde das ISM einen eigenen, repräsentativ gestalteten Eingangsbereich bekommen.5 Die museale Präsentation der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel wird sich aber auch weiterhin ein Gebäude mit anderen Aspekten der Geschichte Liverpools als Seehandels- und Hafenstadt teilen. Diese Raumsituation erklärt sich aus der relativ langen Entwicklungsgeschichte. Während das bislang nicht realisierte Projekt eines Centre national pour la mémoire des esclavages et de leurs abolitions in Frankreich von Beginn an in einem hoch politisierten Rahmen und in engem Bezug zur französischen Regierung und Hauptstadt diskutiert wurde, kann das ISM als national erweiterte Fortsetzung einer kommunalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betrachtet werden. Das gerade im Hinblick auf die museale Darstellung problematische Thema Sklavenhandel fand also schrittweise Eingang in die lokale und weitere Öffentlichkeit, wobei NMGM bzw. NML Wert auf Dialogbereitschaft und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erwartungen seitens der Fachwelt und des künftigen Publikums legte.6 In seinem Ursprung geht das heutige Museum auf eine im Jahr 1994 im MMM eingerichtete Dauerausstellung zurück, die den programmatischen Titel »Transatlantic Slavery. Against Human Dignity« trug. Mit ihr steht das ISM nicht nur in formaler, sondern auch inhaltlich und 4
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Warren-Porter, Luke: »Museum wins bid to grow. Albert Dock venue to press ahead with revamp«, in: Liverpool Echo vom 14.5.2010. Zwar bekam das Museum Anfang 2012 noch eine Fördersumme von 80.000 Pfund aus Geldern des Kultusministeriums und der Wolfson Foundation zugesprochen (N.N.: »City slavery museum set to expand«, in: Liverpool Echo vom 24.1.2012); angesichts des sehr ambitionierten Erweiterungsprogramms, dessen Kosten mit 6 Millionen veranschlagt werden, und der aktuell kritischen finanziellen Lage von NML erscheint der genaue Verlauf der künftigen Entwicklung aber nicht gesichert, vgl. Jones, Catherine: »One in 4 museum jobs facing the axe. NML must find pounds 3m savings over two years«, in: Liverpool Echo vom 13.3.2012. Zum geplanten Entwicklungsablauf des ISM vgl. Fleming, David: Transatlantic Slave Trade. Exploring the Legacy, Vortrag bei der AFRICOM-Konferenz, Kapstadt, 5.10.2006, www. liverpoolmuseums.org.uk/ism/resources/africom.aspx. Zum aktuellen Stand der Entwicklung vgl. www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/about/future-plans.aspx. Zum Konsultationsprozess vgl. auch das Kapitel Die Aushandlung der Erinnerung. In seiner Funktion als Direktor des MMM war Anthony Tibbles einer der führend Verantwortlichen für die Entwicklung der ursprünglichen Dauerausstellung und ihre Überführung in das ISM. Vgl. daher auch Smith, Laurajane/Cubitt, Geoffrey/Weinstein, Helen: Interview with Tony Tibbles, Liverpool, 30.5.2007, www.history.ac.uk/1807commemorated/interviews/tibbles. html, geführt im Rahmen des Projektes »1807 Commemorated«, Institute for the Public Understanding of the Past, Universität York; A. Tibbles: Against Human Dignity.
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personell enger Verbindung. Die Vorgängerausstellung ermöglichte somit auch eine Art institutionellen Lernprozesses.7 Vor diesem Hintergrund konnte David Fleming als Leiter der städtischen Museen den beginnenden Entwicklungsprozess des ISM im Jahr 2001 mit folgenden Worten kommentieren: »We have learned from the issues which arose when the existing gallery was created and we shall endeavour not to repeat mistakes, though we believe that the credibility of our museum service has already been greatly enhanced through our consultative approach in this difficult area of activity.«8 Obwohl es den Verantwortlichen nicht gelang, alle Ansprüche zufriedenzustellen, sprechen nicht zuletzt die Besucherzahlen sowohl der Ausstellung »Against Human Dignity« als auch des ISM für den (Publikums-)Erfolg der Auseinandersetzung mit dem »true heart of darkness«9 der Liverpooler Stadtgeschichte.10 Diese Geschichte ist auf eine besondere Weise mit dem britischen Kolonialismus und vor allem dem transatlantischen Sklavenhandel verbunden11, die auch die Einrichtung eines Sklavereimuseums mit nationalem und internationalem Anspruch am Mersey nachvollziehbar macht. Erst der Handel mit den Kolonien in Amerika und der Karibik ließ den kleinen Ort im Nordwesten Englands zu einer blühenden Handelsmetropole und schließlich zur »second city« des größten Empire der Welt heranwachsen.12 Nachdem zunächst die Häfen von London und Bristol den Sklavenhandel zwischen Westafrika und Amerika dominiert hatten, expandierte die Liverpooler Beteiligung im Laufe des 18. Jahrhunderts rapide.13 In dieser Zeit sollen über 4.000 Schiffe den Hafen 7 8 9 10
Vgl. v.a. A. Tibbles: Interview. Fleming, David: Liverpool, European Capital of ... the Transatlantic Slave Trade. D. Fleming: Exploring the Legacy. »Against Human Dignity« wurde zum populärsten Bereich des MMM, und die Eröffnung der Ausstellung führte in den ersten Wochen zu einer Verdopplung der Besuchszahlen, die ein Jahr lang überdurchschnittlich blieben. In einer Umfrage zeigten sich die Besucherinnen und Besucher zudem insgesamt sehr zufrieden mit der Art der Präsentation, vgl. A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. Das ISM zählte nach weniger als drei Jahren bereits eine Million Besucher, Warren-Porter, Luke: »Museum wins bid to grow. Albert Dock venue to press ahead with revamp«, in: Liverpool Echo vom 14.5.2010. 11 Vgl. v.a. Haggerty, Sheryllynne/Webster, Anthony/White, Nicholas J. (Hg.): The Empire in One City? Liverpool’s Inconvenient Imperial Past, Manchester: Manchester University Press 2008; Richardson, David/Schwarz, Suzanne/Tibbles, Anthony (Hg.): Liverpool and Transatlantic Slavery, Liverpool: Liverpool University Press 2007; A. Tibbles (Hg.): Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press ²2005 [1994]. 12 D. Fleming: Exploring the Legacy. 13 Für einen Überblick zur Rolle Liverpools für den transatlantischen Sklavenhandel vgl. Richardson, David: »Liverpool and the English Slave Trade«, in: Anthony Tibbles (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity. Liverpool: Liverpool University Press 2005, S. 6772; ausführlicher auf der Basis von Daten der Trans-Atlantic Slave Trade Data Base befasst sich Kenneth Morgan mit dem Aufstieg Liverpools zum Sklavenhandelshafen, vgl. Morgan, Kenneth: »Liverpool’s Dominance in the British Slave Trade, 1740-1807«, in: David Richardson/Suzanne Schwarz/Anthony Tibbles (Hg.), Liverpool and Transatlantic Slavery, Liverpool: Liverpool University Press 2007, S. 14-42. Auch andere Beiträge dieses Bandes befassen sich mit den möglichen Gründen für den Erfolg der Händler aus Liverpool im internationalen Handel mit Menschen aus Afrika.
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für den Transport von afrikanischen Sklavinnen und Sklaven verlassen haben.14 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts betrug der Anteil der Stadt am englischen Sklavenhandel ca. 80%, was etwa 40% des gesamten europäischen Sklavenhandels gleichkommt. »Thus Liverpool was not only the largest single English slaving port in the eighteenth century, but after 1780, it was also the undisputed slaving capital of England and by far the largest slave port in the Atlantic world«15 – oder, in den Worten von ISMDirektor Richard Benjamin gesprochen: »The stark fact is that Liverpool was quite simply, at the epicenter of the transatlantic slave trade.«16 Zahlen wie diese lassen wenig Interpretationsspielraum hinsichtlich der Rolle Liverpools für die Versorgung der westatlantischen Kolonien mit erzwungener Arbeitskraft zu; die genaue Bedeutung des Sklavenhandels für die Stadtentwicklung wird dagegen seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Eric Williams’ These, dass dieses Geschäft den Händlern in Liverpool geradezu enorme Gewinne beschert hätte, blieb seinerzeit noch weitgehend unbelegt.17 Jüngere Nachforschungen haben vor allem verdeutlicht, dass sich die Auswirkungen auf die Kommune und die Region aufgrund der komplexen wirtschaftlichen Strukturen kaum präzise nachvollziehen lassen. »The full economic impact of the slave trade on eighteenth-century Liverpool will never be entirely disaggregated from other economic indices.« 18 Eine Aufstellung von Profiten, Verlusten und Reinvestitionen ist aufgrund der breiten Streuung der risikoreichen und im Ertrag stark schwankenden finanziellen Beteiligungen problematisch; explizit auf den Menschenhandel spezialisierte Geschäftsleute gab es in Liverpool wie anderswo kaum.19 Dass die städtische Wirtschaft sich gerade im 18. Jahrhundert durch einen hohen Grad an Diversifikation und ein relativ starkes produzierendes Gewerbe auszeichnete, spricht nicht gegen die Rolle des Sklavenhandels, sondern nach einer Analyse
14 Longman, Jane: »›Cemented by the Blood of a Negro‹? The Impact of the Slave Trade on Eighteenth-Century Liverpool«, in: David Richardson/Suzanne Schwarz/Anthony Tibbles (Hg.), Liverpool and Transatlantic Slavery, Liverpool: Liverpool University Press 2007, S. 227-246, hier S. 231. 15 D. Richardson: Liverpool and the English Slave Trade, S. 67. 16 Benjamin, Richard: Museums of the People, by the People, for the People, veröffentlicht auf der Internetseite des Think Tanks Museum ID, http://www.museum-id.com/idea-detail. asp?id=472. Vgl. auch Benjamin, Richard/Carl-Lokko, Stephen: International Slavery Museum. Museums and Senisitive History, in: Africultures 91 (2013), S. 70-77, https://doi. org/10.3917/afcul.091.0070. 17 Vgl. E. Williams: Capitalism and Slavery, z.B. S. 100. 18 J. Longman: »Blood of a Negro«, S. 245 f. Longman betont v.a. die Auswirkungen für das wirtschaftliche Wachstum insgesamt und die Rolle, die der Sklavenhandel und die vielen mit ihm in Verbindung stehenden Aktivitäten für den Arbeitsmarkt spielten. 19 Vgl. v.a. Pope, David: »The Wealth and Social Aspirations of Liverpool’s Slave Merchants in the Second Half of the Eighteenth Century«, in: David Richardson/Suzanne Schwarz/Anthony Tibbles (Hg.), Liverpool and Transatlantic Slavery, Liverpool: Liverpool University Press 2007, S. 164-226. Die These einer auffällig verstärkten, kompensatorischen Investition von aus dem Sklavenhandel gewonnenen Geldern in kulturelle und wohltätige Einrichtungen scheint heute jedenfalls nicht mehr haltbar.
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von Jane Longman vielmehr für die vielfältigen Impulse, die der Handel mit Westafrika ausübte.20 Dennoch stieß die Abolition in Liverpool zwar auf entschiedene Gegner21, brachte für die Stadt aber keinen ausgeprägten wirtschaftlichen Einbruch mit sich.22 Tatsächlich behielten viele Kaufleute ihre transatlantischen Handelsbeziehungen bei und verlagerten die Aktivität lediglich auf afrikanische Produkte wie Palmöl oder mit Sklavenarbeit produzierte amerikanische Baumwolle.23 Die Verflechtungen zwischen kommunaler Politik und kolonialem Handel waren in Liverpool sehr eng, und sie lassen sich bis heute im Stadtraum nachvollziehen. »The frieze of the town hall, with its exotic, ›African‹ iconography of elephants, lions and slaves, embodied the city’s official sanction of slavery«. 24 Auch an vielen anderen Orten hat die Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen: »Still, today, famous Liverpool street names honour people heavily implicated in slavery, including Tarleton, Rodney, Cunliffe and Earle. The most famous street of all, Penny Lane, was probably named after James Penny, a slave-ship captain who was outspoken in his support for slavery.«25 Der Beitrag des Sklavenhandels zur Reichtumsentwicklung der Handelselite in der von starken sozialen Gegensätzen geprägten Stadt ist somit zwar nicht sicher quantifizierbar. Alles in allem ist aber der knappen Zusammenfassung einer Mitarbeiterin der dem Stadtrat unterstellten Liverpool Culture Company zuzustimmen: »Without the wealth of the slave trade, Liverpool wouldn’t be what it is now.«26 20 Vgl. J. Longman: »Blood of a Negro«. Interessant im Hinblick auf die Diskussion der wirtschaftlichen Auswirkungen des Sklavenhandels auf die Stadtenwicklung ist auch Longmans Vermutung, dass sich aufgrund einer zu engen Anbindung des produzierenden Gewerbes an den Handel mit Westafrika nach der Abolition schwerwiegende negative Langzeitfolgen für Liverpool ergeben haben könnten. 21 Liverpool war eine der wenigen größeren britischen Städte, aus der keine Petition für die Abschaffung des Sklavenhandels beim Parlament eingereicht wurde; Petitionen gegen die Abolition wurden dagegen mehrfach formuliert, vgl. ebd., S. 243. Zur Rolle des Abolitionismus in Liverpool vgl. v.a. Howman, Brian: »Abolitionism in Liverpool«, in: David Richardson/Suzanne Schwarz/Anthony Tibbles (Hg.), Liverpool and Transatlantic Slavery, Liverpool: Liverpool University Press 2007, S. 277-296. 22 Vgl. Tibbles, Anthony: »Oil not Slaves. Liverpool and West Africa after 1807«, in: Ders. (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press 2005, S. 73-77. 23 Vgl. ebd.; J. Longman: »Blood of a Negro«, S. 246. 24 Hunt, Tristram: »A bold step away from the dead end of guilt and apology«, in: The Guardian vom 23.8.2007. Tatsächlich waren auch sehr viele Bürgermeister der Stadt an dem Geschäft beteiligt, vgl. Tibbles, Anthony: Ports of the Transatlantic Slave Trade, Vortrag bei der TextPorts Conference, Liverpool, 18.-20.4.2000,www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/resources/ slave_trade_ports.aspx. 25 Richardson, Nigel: »From big dig to big gig in Liverpool«, in: The Daily Telegraph vom 8.3.2008. 26 Kim Johnson zit. n. Jones, Catherine: »City spotlight on slavery«, in: Liverpool Echo vom 25.1.2007. Jane Longman zieht in ihrer wissenschaftlichen Untersuchung den allgemeinen Schluss: »[I]t is undeniable that the slave trade was an important part of the economic life of the late eighteenth-century port«,. Sie vermerkt allerdings auch: »[T]he tangled mercantile interests of late eighteenth-century Liverpool make it almost impossible to trace the lines of
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Das gegenwärtige Erbe der Vergangenheit prägte auch den Entwicklungsprozess des ISM. Obwohl in Liverpool selbst kaum Sklaven ge- oder verkauft wurden, gibt es dort einen alteingesessenen »schwarzen« Bevölkerungsanteil, dessen Wurzeln teilweise bis in die Zeit der kolonialen Sklaverei zurückreichen. »[T]he city’s black population dates back more generations than its Irish, yet remains less advantaged.«27 Vor diesem Hintergrund trugen die Kenntnisse – oder Legenden – von der Geschichte nicht zur Entspannung der gesellschaftlichen Atmosphäre in der Stadt bei.28 Liverpool »has a singular and troubled history of race relations, from its historic role in the slave trade to today, where most black Liverpudlians live in Toxteth, a district described by some as a ghetto.«29 Tatsächlich ist das Viertel »ein multiethnischer Flickenteppich, gemeinsames Merkmal ist die Armut.«30 Hier kam es im englandweit unruhigen Jahr 1981 zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Anwohnern, die auch als »race riots« interpretiert wurden. Sie erschütterten die ohnehin vom industriewirtschaftlichen Niedergang schwer getroffene Kommune nachhaltig. Die umfassende Krise gab den Anstoß für eine programmatische Politik des urbanen Neuanfangs, mit der auch der Ausbau des Kulturkomplexes am Albert Dock in Verbindung steht. In diesem Zusammenhang spielten die Lebensbedingungen der »schwarzen« Einwohnerinnen und Einwohner eine explizite Rolle. »In 1988 Liverpool City Council set up a committee named the Gifford Inquiry to look into policies and community relations in Liverpool. It was chaired by Lord [Anthony] Gifford QC«.31
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the investment of the profits from specific trades.«, J. Longman, »Blood of a Negro«, S. 231. David Richardson formuliert: »The contribution of the slave trade to the prosperity of eighteenth-century Liverpool cannot be measured precisely. Almost certainly, however, it was substantial.«, D. Richardson: Liverpool and the English Slave Trade, S. 70. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Haggerty, Sheryllynne: »Liverpool, the Slave Trade and British-Atlantic Empire«, in: Dies./Anthony Webster/Nicholas J. White (Hg.), The Empire in One City? Liverpool’s Inconvenient Imperial Past, Manchester: Manchester University Press 2008, S. 1734, v.a. S. 27 ff. Reynolds, Gillan: »Slavery. A topic that makes everyone angry«, in: The Daily Telegraph vom 27.3.2007. Historisch nicht belegbare Vorstellungen zur Lokalgeschichte des Sklavenhandels sind dabei keine Besonderheit von Liverpool: »Many of the ports have stories about the slave trade passed on by word of mouth and in popular histories. Liverpudlians are very familiar with the stories of tunnels under the city for transporting slaves between the docks and the town and the cellars where they are said to have been kept and shackled. But one can find similar tales of tunnels and cellars in Bristol«, A. Tibbles: Ports of the transatlantic slave trade. Jeffries, Stuart: »Why Britain is becoming less black and white«, in: The Guardian vom 2.8.2005. So ein Journalist der FAZ in einem Bericht zu den Unruhen im Sommer 2011, Theurer, Marcus: »Lebenszeichen eines sterbenden Viertels«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.2011. Benjamin, Richard: »Museums and Sensitive Histories. The International Slavery Museum«, in: Ana Lucia Araujo (Hg.), Politics of Memory. Making Slavery Visible in the Public Space, New York, NY/Abingdon: Routledge 2012, S. 178-197, hier S. 182.
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Der vom Stadtrat in Auftrag gegebene Bericht zu den sozialen und ethnischen Beziehungen in Liverpool32 konstatierte nicht nur einen weit verbreiteten und stark ausgeprägten Rassismus, sondern kritisierte auch die beiläufige Thematisierung des Sklavenhandels im MMM, »which could easily have been interpreted as a denial of Liverpool’s role in the slave trade, rather than as a fitting acknowledgement«, wie auch David Fleming später einräumte.33 Der Kontext sozialer Spannungen wirkte sich später auch auf die Konzeption der Ausstellungen aus. Der offizielle politische Impetus verband sich dabei mit den Forderungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Impulsen aus der akademischen Welt.34 Von entscheidender und zugleich problematischer Bedeutung war die Antwort auf die Frage nach der Finanzierung für die Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel in einem Museum der Stadt: »The proposal for the gallery – and pounds 500,000 in funding – came from Littlewoods pools heir Peter Moores through the charitable foundation he established in 1964.«35 Die ursprüngliche Dauerausstellung im MMM wurde also im Wesentlichen aus privaten Geldern finanziert. Der inzwischen verstorbene Multimillionär Moores, der in den 1980er Jahren eine leitende Position als governor bei der BBC innehatte und sich nicht zuletzt für die Förderung der Opernkunst engagierte, kann als ein führender Vertreter des etablierten Kulturbetriebs in Großbritannien betrachtet werden. Diese Konstellation brachte für das MMM zwar den finanziellen Segen, aber auch Schwierigkeiten mit sich, zumal der Geschäftsmann aus Liverpool persönlich am Entwicklungsprozess des neuen inhaltlichen Schwerpunktes teilnahm. Hierbei sah er sich mit einem großen Misstrauen gegenüber seinen Intentionen konfrontiert. »Moores understands why ›some blacks find it impossible to trust a rich white man‹ who comes bearing gifts that might look like blood money. He knows that 32 Lord Gifford QC und Brown, Wally/Bundey, Ruth: Loosen the Shackles. First Report of the Liverpool 8 Inquiry into Race Relations in Liverpool, London 1989. Vgl. auch A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. 33 D. Fleming: Liverpool, European Capital of ... the Transatlantic Slave Trade. Fleming erläuterte weiter: »Until 1994 there was barely any acknowledgement in the city of Liverpool’s role in the slave trade. The Merseyside Maritime Museum, opened in 1987, had covered the history of the port, but had merely placed the slave trade in the context of trading in general. Moreover, this display, in the words of its curators, had been put together hurriedly and inadequately.« Vgl. auch A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. 34 Tibbles beschreibt die Anfänge der systematischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor Ort folgendermaßen: »On the academic front we began by hosting a two day seminar at the museum in January 1992. We invited scholars who had researched and written about the transatlantic slave trade, about slavery and about related issues, including people working in this country, and from abroad, particularly the United States and Canada. We examined the themes we thought we ought to cover in a series of sessions and asked for advice.«, A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. 35 Ward, David: »The story of 133 murders in museum of slavery«, in: The Guardian vom 20.10.1994. Vgl. auch A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. Die Peter-Moores-Stiftung widmet sich neben der Förderung von Kunst und Kultur verschiedenen Bildungs- und Wohltätigkeitszwecken. Bekannt ist die Stiftung v.a. durch ihr Engagement für die Opernkunst und ihre erfolgreiche Kooperation mit der Walker Art Gallery in Liverpool.
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he represents a merchant class that was slavery’s driving force.«36 Dass mit Dame Jocelyn Barrow, die Moores während der gemeinsamen Zeit beim Aufsichtsrat der BBC zu seinem Engagement inspiriert haben soll, eine »schwarze« Frau und Ikone des Kampfs gegen den Rassismus in Großbritannien ebenfalls führend an der Initiative beteiligt war, wirkte keineswegs allgemein beschwichtigend.37 Zusätzlich trug die reservierte Haltung der Peter Moores Foundation in Bezug auf die öffentliche Kommunikation der laufenden Planungen zur Verschärfung der Spannungen bei, die schließlich in Boykottdrohungen mündeten.38 Gerade in der Zeit unmittelbar nach der öffentlichen Ankündigung des Projekts im Jahr 1991 erwies sich der Planungsprozess der Ausstellung für die Verantwortlichen von MMM bzw. NMGM vor diesem Hintergrund als »very difficult, very challenging, quite stressful experience«.39 Auch jenseits tagespolitischer Fragen erweist sich die museale Präsentation der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel häufig als »task bedevilled by sensitivities«40, denn sie konfrontiert Kuratoren/-innen und Museumspädagogen/-innen mit mehreren schwer auszutarierenden Spannungsfeldern. Diese werden entsprechend auch in der Forschung viel diskutiert, ohne dass bisher eindeutige Antworten auf zentrale Fragen gefunden wurden. Es geht hierbei um so komplexe Probleme wie die Rolle von sozialpolitischen und antirassistischen Zielen; das Verhältnis von wissenschaftlicher Distanz und Bildungsauftrag zu Emotion, Sensation und kommerziellen Interessen; die angemessene Präsentation von Gewalt und die Pietät gegenüber ihren Opfern; die Integration verschiedener Perspektiven auf eine von extremen Dichotomien geprägte Geschichte.41 Auch das MMM musste sich diesen Herausforderungen stellen und setzte bei der Bearbeitung der potentiellen Konfliktfelder auf breite Konsultationen: »[T]o deal with slavery, it has had to steer a course between detached museum keeping, engaged polemics, and entertainment. Just how delicate a task like this is can be deduced from the long list of names brought in to ensure that every point of view is represented.«42 In einer für die Institution neuartigen Organisationskampagne wurde versucht, dem Konfliktpotential auf mehreren Ebenen zu begegnen. »The museum recruited 11 guest curators, seven of them black, from Britain, Nigeria, Barbados, Canada and the United States. The project was guided by a 17-member advisory committee of academics and representatives of black organisations.«43 Den Vorsitz des Beratungsgremiums hatte Lord David Pitt, der 1975 als einer der ersten »schwarzen« Politiker einen Sitz im Oberhaus des britischen Parlamentes einnahm.44 Stifter Peter Moores ernannte »two 36 Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994. 37 Ebd. Vielmehr wurde Barrows gerade in ihrer Eigenschaft als afrokaribische Frau sehr harsch und persönlich für ihre Involvierung attackiert. 38 Vgl. A. Tibbles: Interview. 39 Anthony Tibbles zit. n. ebd. 40 G. Cubitt/L. Smith/R. Wilson: Anxiety and Ambiguity, S. 6. 41 Zur entsprechenden Literatur siehe oben, Kapitel Forschungsstand und Forschungssperspektiven. 42 Sudjic, Deyan: »Shackled to the shrine of good causes«, in: The Guardian vom 29.11.1994. 43 Ward, David: »The story of 133 murders in museum of slavery«, in: The Guardian vom 20.10.1994. 44 A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery.
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›minders‹ to the advisory committee, one his white cousin and the other an eminent, titled black physician, Sir Kenneth Stuart. Each was sternly instructed to ensure that ›neither side runs away with this project‹.« 45 Über die Einsetzung so genannter outreach workers und einer speziell beauftragten Projektkuratorin wurde gezielt die Nähe zur Stadtbevölkerung und vor allem zu den kritischen »schwarzen« Liverpudlians gesucht.46 Derart breit angelegt, waren die Planungen und Beratungen ein komplizierter Prozess, bei dem selbst basale Vorannahmen kontrovers diskutiert wurden.47 Auch der Titel der Ausstellung, die ursprünglich schlicht »Alantic Slave Trade Gallery« hatte heißen sollen, war das Ergebnis von zahlreichen Überarbeitungen. Der Name »Transatlantic Slavery. Against Human Dignity« sollte einer bewussten Schwerpunktsetzung Ausdruck verleihen, die später auch das ISM übernahm und jüngere Forschungstendenzen widerspiegelt. Dass die Geschichte eines Geschäfts, in dem es um Menschen und nicht um Güter geht, sich nicht in Handelsdaten erschöpft, wurde durch die Vermeidung des Begriffs »Sklave« betont. Dieser reduziert Personen auf den Status ihrer Rechtlosigkeit und den Wert ihrer Arbeitskraft. Viele Britinnen und Briten, die sich heute über ihre Hautfarbe mit dem Stigma der rassistischen Sklaverei verbunden und davon beeinträchtigt fühlen, bevorzugen die Formulierung »enslaved Africans«.48 Sie soll nicht nur auf die geographische, sondern auch auf die soziale Herkunft der Menschen hinweisen, die vor ihrer Versklavung vielfältige Rollen in Familie, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft einnahmen. Zum anderen hebt diese Wortwahl auch das Moment der aktiven Unterwerfung durch andere Menschen hervor. In den Texten sowohl des ISM als auch seiner Vorgängerausstellung wird bzw. wurde sie daher insbesondere dann verwendet, wenn die Ausführungen sich auf die Zeit vor der Ankunft in Amerika beziehen. Durch die Thematisierung des aktiven Widerstands gegen die Sklaverei, die versklavte Afrikaner/-innen als Akteure/-innen ihrer eigenen Geschichte sichtbar machte, wurde die Integration bislang marginalisierter Aspekte und Perspektiven weiter verstärkt. Die Eröffnung der Ausstellung im MMM im Oktober 1994 durch die US-amerikanische Professorin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou gilt als entscheidender geschichtspolitischer Durchbruch. Die Offenheit des Liverpooler Museumspersonals für kontroverse und jenseits des akademischen Mainstreams liegende Positionen ging einigen Kommentatoren/-innen allerdings zu weit. Dies betraf etwa die Art und Weise, wie das MMM die Frage der Anzahl der über den Atlantik transportierten Afrikane-
45 Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994. 46 A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. 47 Vgl. ebd. Der schließlich für die Ausstellung verwendete Text war bei einer Länge von 4.500 Wörtern »the result of about 17 separate stages or drafts.« 48 Zur Diskussion um die Formulierung der Ausstellungstexte und zur sensiblen Bedeutung von Sprache vgl. A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery, bes. Abschnitt »The importance of the text in the gallery«; E. Kowaleski Wallace: British Slave Trade and Public Memory, S. 34 f.; Agbetu, Toyin: »Restoring the Pan-African Perspective. Reversing the Institutionalization of Maafa Denial (Interview)«, in: Laurajane Smith u.a. (Hg.), Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon: Routledge 2011, S. 61-74, hier S. 67.
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rinnen und Afrikaner behandelte. Der Ausstellungstext vermerkte hierzu, dass Historiker/-innen sich über die Zahlen nicht einig seien, stellte den weithin anerkannten Wert von ca. zwölf Millionen aber mehr oder weniger gleichrangig neben Schätzungen, die bis in eine dreistellige Millionenhöhe reichten.49 Diese Herangehensweise verurteilte ein Journalist des Guardian als »triumph of inconclusiveness« und »curatorship reduced to a multiple choice test«.50 Er erkannte hierin aber auch das Ergebnis der schwierigen Aushandlungsprozesse: »From the wording, it is clear what has been going on: enough leeway to prevent either the donors from pulling out, but at the same time to keep the Afrocentrics from denouncing the whole thing as a sell-out.«51 In der Presseberichterstattung wurde wiederholt hervorgehoben, dass es sich um die erste dem Thema gewidmete Dauerausstellung im Vereinigten Königreich handele.52 Auf den Leserbriefseiten des Guardian rief dies umgehend Proteste aus Hull hervor – ohne dass dies an der Darstellung in der Zeitung im Folgenden etwas änderte.53 Auch die Stadt Kingston upon Hull hat als Geburtsort von William Wilberforce eine besondere Beziehung zur Geschichte des Sklavenhandels und seiner Abschaffung. Das Haus, in dem der berühmte Parlamentarier 1759 zur Welt kam, wurde bereits 1906 in ein Museum umgewandelt, dessen Fokus zwar auf der Abolitionskampagne liegt, das seit 1983 aber auch zum Thema Sklavenhandel selbst ausstellt.54 Anthony Tibbles, der als Direktor des MMM maßgeblich an der Einrichtung der Ausstellung »Against Human Dignity« beteiligt war, schätzte die Bedeutung seines Projekts dennoch folgendermaßen ein: »I think principally it put the subject of the transatlantic slave trade on the museum map«, und begründete dies mit der großen Aufmerksamkeit, die es im Gegensatz zu der kleinen Ausstellung in Hull von Beginn an erregt habe.55 David Fleming bekundete noch über zehn Jahre später seinen Stolz auf die Pionierleistung der Ausstellung, »still the world’s only permanent museum gallery devoted to the transatlantic slave trade.«56 49 »Historians do not agree on the number of Africans who were transported across the Atlantic. Some accept 12 million . . . others put the figure at 20 million . . . Scholars of an Afrocentric perspective believe that the total number could reach between 50 million and 100 million.«, zit. n. ebd. Die Zahl 12.521.336 wurde auf der Basis der Trans-Atlantic Slave Trade Database ermittelt, sie ist weithin anerkannt, aber nicht unumstritten, vgl. Burnard, Trevor: »The Atlantic Slave Trade«, in: Gad Heuman/Trevor Burnard (Hg.), The Routledge History of Slavery, Abingdon/New York, NY 2012, S. 80-97, hier S. 91. 50 Sudjic, Deyan: »Shackled to the shrine of good causes«, in: The Guardian vom 29.11.1994. 51 Ebd. 52 Harker, Joseph: »Slavery. The immoral trade in humans«, in: The Guardian vom 25.10.1994; Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994; Ward, David: »The story of 133 murders in museum of slavery«, in: The Guardian vom 20.10.1994. 53 Salton, Jenny: »Slaves to the ways of the museum trade«, in: The Guardian vom 22.10.1994. Salton arbeitete zu dieser Zeit als Kuratorin in Wilberforce House. 54 Zur Entwicklung und älteren Ausstellungen des Wilberforce House vgl. M. Wood: Blind Memory, S. 293 ff. und J. Oldfield: »Chords of Freedom«, S. 70 ff., 118 ff. Im Jahr 2007 wurde die Ausstellung des Museums mit einer finanziellen Unterstützung der britischen Regierung im Umfang von 1,6 Millionen Pfund komplett erneuert. 55 A. Tibbles: Interview. 56 D. Fleming: Exploring the Legacy.
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Mit »Against Human Dignity« bereitete NMGM/NML die Einrichtung des nationalen Museums für die internationale Geschichte der Sklaverei nicht nur vor; die Organisation verstand sich in der Folgezeit explizit als Wegbereiter für weitere Initiativen zur öffentlichen Thematisierung der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels. In Liverpool selbst wurde die Slavery Remembrance Initiative ins Leben gerufen, »a partnership between the museum service and local Black individuals and organisations.«57 Schon im Jahr der Ausstellungseröffnung war das MMM an der Etablierung eines entsprechenden historischen Stadtrundgangs im unmittelbaren Umfeld der Docks und an einem Trainingsprogramm für aus der Stadtbevölkerung rekrutierte Führer/-innen beteiligt.58 Dieses Angebot wurde 1997/98 im Rahmen des so genannten »Transatlantic Slavery Gallery and Community Development Project« mit Geldern aus dem Europäischen Regionalentwicklungsfonds ausgebaut. 59 Außerdem setzte sich NMGM/NML für den Black History Month ein60, der sich ab 1987 schrittweise in Großbritannien etablierte und dessen Veranstaltungen inzwischen jedes Jahr im Oktober einen festen Platz in Kultur- und Bildungsprogrammen hat. Federführend beteiligt war das MMM zudem an der Understanding Slavery Initiative, aus der eine multimediale Online-Plattform hervorging, die sich vor allem an Lehrer/-innen und Schüler/ -innen wendet. Sie wurde ab 2004 als Kooperation von sechs britischen Museen und den Stadträten von Bristol und Hull mit finanzieller Unterstützung des Kultusministeriums betrieben.61 Bereits 1999 schloss sich NMGM der ein Jahr zuvor von der UNESCO gestarteten Initiative des jährlichen International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition (23. August) an. Der umgangssprachlich meist als Slavery Remembrance Day bezeichnete Tag wird in Liverpool mit Unterstützung des Kommunalrats begangen.62 Die Stadt war damit die erste in Großbritannien, die den Gedenktag aktiv in ihre Geschichtspolitik integrierte, der seit 2007 auch von der britischen Regierung unterstützt wird.63 Dem ersten Slavery Remembrance Day in Liverpool kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Zum einen lud NMGM den inzwischen verstorbenen Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden des African Reparations Movement UK, Bernie Grant ein, der die Einweihung einer Gedenktafel zur Geschichte des Sklavenhandels am Hafen leitete. Auch aufgrund des zu dieser Zeit noch vorherrschenden Mangels an alternativen räumlichen Orientierungspunkten für die Erinnerung wurde dieser Platz in den nächsten Jahren zum Zentrum der Rituale am 23. August.64 Eine hierüber hin-
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Ebd. Jones, Catherine: »City spotlight on slavery«, in: Liverpool Echo vom 25.1.2007. A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. Ebd. Internetseite der Initiative unter www.understandingslavery.com nicht mehr verfügbar. Hinsichtlich der Feierlichkeiten in der Zeit vor 2007 vgl. z.B. Jones, Catherine: »Day of tributes for thousands of slaves«, in: Liverpool Echo vom 23.8.2006; Calverley, Tom: »City tries to cleanse its past of slavery«, in: Liverpool Daily Post vom 24.8.2006. 63 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. Vgl. auch D. Fleming: Exploring the Legacy. 64 Vgl. A. Rice: Radical Narratives of the Black Atlantic, S. 201 ff. Vgl. auch den Leserbrief von Richard Foster zum Thema Unesco slavery day, in: The Times vom 14.3.2000.
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ausgreifende symbolische Handlung war die Aussprache einer offiziellen Entschuldigung seitens des Stadtrates für die Rolle Liverpools im transatlantischen Sklavenhandel, die zugleich auch auf die Nachwirkungen der Geschichte insbesondere für die »schwarzen« Stadtbewohner/-innen Bezug nahm.65 Das ISM führte all diese Aktivitäten nicht nur fort, sondern baute die Querverbindungen weiter aus, wobei die Perspektive des internationalen Austauschs prominent gemacht wurde.66 Neben der umfangreichen Vorarbeit wirkte sich für den Aufbau des ISM die Unterstützung auf höchster personeller Ebene günstig aus. In der Zeit der Entwicklung von »Against Human Dignity« hatte das MMM mit Anthony Tibbles einen Direktor, der sehr viel persönliches und fachliches Engagement mit dem Thema Sklavenhandel verband. Anknüpfend an die Arbeit der UNESCO pflegte er diesbezüglich auch internationale Verbindungen. 67 Nach der Gründung im Jahr 1986 lag die Leitung von NMGM in den Händen von Sir Richard Foster, der die Qualifikationen eines studierten Wirtschaftswissenschaftlers mit denen eines erfahrenen und passionierten Museumsmanagers verband.68 Er genoss nicht nur bei seinen Fachkolleginnen und Fachkollegen hohes Ansehen, was unter anderem auf den Erfolg seiner explizit publikumsnahen Ansätze zurückzuführen ist. Sein Name ist untrennbar mit dem Ausbau der Anlagen am Liverpooler Albert Dock verbunden. Aber auch im Hinblick auf die Integration der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel in die Museumslandschaft sollte sein persönlicher Einfluss nicht unterschätzt werden. Foster war gewähltes Mitglied im wissenschaftlichen Ausschuss der UNESCO zum Thema und engagierte sich außerdem für das zweite große Thema postkolonialer Museen, die Überführung menschlicher Überreste aus europäischen Sammlungen in ihre Herkunftsregionen.69 Als Foster 2001 verstarb, kam mit David Fleming ein Nachfolger nach Liverpool, der den Ausbau der bestehenden Dauerausstellung zur Geschichte des Sklavenhandels früh zu einem Mittelpunkt seiner Arbeit machte. Es war Fleming, der als neuer Leiter von NMGM die Idee einbrachte, ein eigenes nationales Museum zur Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel einzurichten. Die Eröffnung kommentierte er mit den Worten: »I have been involved in the transformation or creation of more than a dozen museums. They all seem insignificant compared with the International Slavery Museum. I believe the 65 Vgl. R. Hourcade: Ports négriers, S. 324 ff., Text der Entschuldigungserklärung S. 328. Auf die Erklärung folgte später auch die Inszenierung einer offiziellen Versöhnungszeremonie vgl. N.N.: »City sorry for role in slave trade. Liverpool to be forgiven in tribal ceremony«, in: Liverpool Echo vom 24.8.2001. 66 Williams, Liza: »Our slave history goes out to world. Museum staff forge international links and freedom icons visit Liverpool«, in: Liverpool Daily Post vom 21.8.2007. In einer noch in der Enstehungsphase im Jahr 2006 eingegangenen Partnerschaft mit der Universität Liverpool ist das Museum so auch ein Träger des Centre for the Study of International Slavery (CSIS), das unter anderem ein Master-Studienprogramm anbietet. Vgl. die Internetseite des Instituts unter www.liv.ac.uk/csis. Der Direktor des ISM Richard Benjamin ist zugleich einer der Leiter des universitären Studien- und Forschungszentrums. Vgl. auch D. Fleming: Exploring the Legacy. 67 Vgl. A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 68 Zu Richard Foster vgl. die Nachrufe in der britischen Presse am 12.3.2001, außerdem Serota, Nicholas: »Appreciation. Sir Richard Foster«, in: The Guardian vom 13.3.2011. 69 Ebd.
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International Slavery Museum is the most important new British museum for 100 years.«70 Mit seiner Idee wandte David Fleming sich sowohl an die Kuratorinnen und Kuratoren seiner Organisation als auch an die amtierende Regierung und erhielt von beiden Seiten Unterstützung.71 Insgesamt 10 Millionen Pfund konnten für den Museumsaufbau eingeworben werden, der größte Teil des Geldes stammte aus dem staatlichen National Lottery Fund (NLF).72 Die Entscheidung, dass Liverpool 2008, im 800. Jahr seines Bestehens, Kulturhauptstadt Europas werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen; ebenso stand die Vorbereitung der Feierlichkeiten zum Bicentenary der Abolition auf der offiziellen Agenda. Knapp die Hälfte der angesammelten Summe floss direkt in die Aufbauphase des ISM und damit in die eigentliche Ausstellung, die nun vom Keller des MMM in den dritten Stock verlegt wurde. Die Entscheidung für den 23. August als Eröffnungsdatum, die der im Gesamtkonzept verankerten Hervorhebung von »Black Agency« bestens entspricht, kommentierte Richard Benjamin mit großer Zufriedenheit: »A strong reminder that enslaved Africans were the main agents of their own liberation.«73 John Prescott fuhr an diesem Tag auf einer Nachbildung des nicht zuletzt durch den Film von Steven Spielberg berühmten Sklavenschiffes Amistad ein, das als Symbol vor allem für den US-amerikanischen Abolitionismus steht und damit ebenfalls an einen wichtigen Schwerpunkt der Ausstellungsinhalte anknüpfte.74 Einen anderen Ton als die Eröffnungsfeier schlugen die jährlichen Rituale des Slavery Remembrance Day an, die spirituelle Komponenten sowohl europäisch-christlicher als auch afrikanischer Prägung aufnahmen und seit der Einführung des Gedenktags in der Stadt bereits eine gewisse Tradition entwickelt hatten.75 Der Widerstand der Sklavinnen und Sklaven gegen die ihnen aufgezwungenen Bedingungen spielt für die Darstellung der Geschichte im ISM eine wichtige Rolle. »One of the museum’s slogans is: ›Remember not that we were freed but that we fought.‹«76 70 Fleming, David: Rede zur Eröffnung des ISM, gehalten beim zu diesem Anlass veranstalteten Gala-Dinner, Liverpool, 22.8.2007, http://www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/resour ces/opening_speech.aspx. 71 Ebd. 72 Hinzu kamen andere Geldgeber, die im Verhältnis kleinere Summen beisteuerten wie Christian Aid, National Museums Liverpool, Liverpool Slavery Remembrance Initiative, Molly Tomlinson (Nachlass), North West Regional Development Agency. Vgl. ebd. und York, Melissa: »International Slavery Museum Opening Liverpool«, in: The Guardian vom 18.8.2007. 73 R. Benjamin: Museums of the People, by the People, for the People. 74 Vgl. Jones, Catherine: »Prezza sails in to remember slaves«, in: Liverpool Echo vom 18.8.2007; N.N.: »A rough day at sea for old sea dog John«, in: Liverpool Echo vom 20.8.2007. 75 Vgl. z.B. N.N.: »River ceremony for Slavery Remembrance Day«, in: Liverpool Echo vom 24.8.2007; Calverley, Tom: »City tries to cleanse its past of slavery«, in: Liverpool Daily Post vom 24.8.2006; Freeman, Sophie: »Cleansing ritual over slave past«, in: Liverpool Daily Post vom 24.8.2005; N.N.: »Pier head libation marks slavery day«, in: Liverpool Echo vom 22.8.2005. 76 Richardson, Nigel: »From big dig to big gig in Liverpool«, in: The Daily Telegraph vom 8.3.2008.
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Die Einrichtung bezieht damit explizit Stellung im Konflikt um die Verteilung historischer Handlungsmacht. Diese Grundbotschaft kann auch als ein direktes Statement zum Jubiläumsjahr 2007 betrachtet werden, in dem das Museum eröffnet wurde. »For once the focus is not on abolition – which tends to be white people congratulating themselves on ending slavery while forgetting who started it – but on the African experience.«77 Zu diesem gewählten Fokus gehört auch die relative Aufgeschlossenheit des ISM gegenüber der Reparationsdebatte. Sie stellt eine klare Weiterentwicklung im Vergleich zur Ausstellung »Against Human Dignity« dar, die dieses Reizthema noch ausgeklammert hatte.78 An der Vorgängerausstellung waren unter anderem ihre räumliche Begrenztheit und ein Mangel an historischen Artefakten kritisiert worden79; nach zehnjährigem Bestehen musste sie, gerade was den Medieneinsatz betrifft, auch schlicht als »out of date«80 betrachtet werden. Entsprechend präsentiert sich das dreimal größere ISM in diesem Punkt betont fortschrittlich: »[T]he greatest effect in the International Slavery Museum comes from the agit-prop interactives.«81 Die offizielle Begründung für die Einrichtung eines eigenen nationalen Museums für die Geschichte der Sklaverei folgte aber auch einer dezidiert politischen Argumentationslinie: »We want to replace that gallery with something bigger which addresses issues of racism.«82 Das ISM erweitert damit den explizit engagierten Ansatz der ursprünglichen Dauerausstellung, deren Entwicklung seinerzeit von einem sehr deutlich formulierten mission statement begleitet worden war: »The aim of the gallery is to increase public understanding of the experience of Black People in Britain and the modern world through the examination of the Atlantic slave trade and the African diaspora.«83 Diese Herangehensweise wurde vom ISM verstärkt, das nicht nur ein historisches Museum sein will, sondern sich als »museum with a mission«84 versteht. Seine Aufgabe betrachtet es explizit als gegenwarts- und zukunftsorientiert, mit dem Ziel »to go beyond the history […], to consider the many modern legacies of the slave trade: diversity, brotherhood, creativity, vitality, endurance, new international demographics,
77 Ebd. 78 Vgl. A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 79 Vgl. Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994; Sudjic, Deyan: »Shackled to the shrine of good causes«, in: The Guardian vom 29.11.1994. 80 Arendt, Paul: »Slave trade museum planned for Liverpool. A proper museum is needed to examine the trade and its repercussions in the modern world«, in: The Guardian vom 11.11.2004. 81 Bayley, Stephen: »Barbarity began at home. Liverpool’s newest museum does an admirable job of coming to terms with the city’s role in the horrors of the slave trade«, in: The Observer vom 2.9.2007. Vgl. auch Gore, Rachael: »The International Slavery Museum, National Museums Liverpool, Review«, in: Journal of Museum Ethnography 22 (2009): Museum Ethnography at Home, S. 170-176. 82 David Fleming zit. n. Arendt, Paul: »Slave trade museum planned for Liverpool. A proper museum is needed to examine the trade and its repercussions in the modern world«, in: The Guardian vom 11.11.2004. 83 A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. 84 D. Fleming: Speech (22.8.2007).
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as well as racism, hostility, discrimination and human rights, and the economic condition of Africa, and of the Caribbean.«85 Das anspruchsvolle Selbstverständnis wurde in den Eröffnungsreden mit dem Anlass entsprechendem Pathos verkündet: »This is not a museum that could be described as a ›neutral space‹ – it is a place of commitment, controversy, honesty, and campaigning.«86 Aber damit nicht genug: Die Führungspersonen des ISM wollten die Einrichtung explizit als Agenten eines sozialen Wandels positionieren und es zugleich öffnen für die Mitwirkung von Personenkreisen, die in diesem Kontext von der Ausübung von Gestaltungsmacht in der Regel ausgeschlossen sind: »The International Slavery Museum, a museum that recognises the fundamental need for social issues to be challenged and addressed can indeed lead on the discussion and become a place where Black Minority Ethnic communities for instance can use the museum as a resource and tool to highlight their own, rather than their perceived, societal priorities.«87 Die formulierten Ziele erschöpfen sich also nicht in einem auf die Geschichte des britischen Sklavenhandels bezogenen Bildungsauftrag; letztlich sollte es um nicht weniger gehen als um die Förderung von »new feelings of tolerance, of respect, and perhaps of healing and reconciliation.«88 Dass hierfür jedenfalls eine generelle Notwendigkeit bestand, war in der Planungsphase des ISM erneut deutlich geworden. Die Ermordung des dunkelhäutigen Teenagers Anthony Walker rückte im Sommer 2005 das Thema Rassismus mit äußerster Brutalität einmal mehr in den Vordergrund politischer Debatten auf lokaler wie nationaler Ebene. Die Tat stellte sich wie eine Mahnung an die britische Gesellschaft dar, dass die nach dem Mordfall Lawrence (1993) aufgedeckten und im Parekh Report analysierten Probleme offenkundig nicht überwunden waren: Der 18-jährige Walker wurde in Liverpool mit einem Eispickel erschlagen, wobei der Angriff abgesehen von seinem rassistischen Hintergrund keine klaren Motive erkennen ließ. Die Tatsache, dass sich dieses Verbrechen ausgerechnet in dem ehemaligen Sklavenhandelshafen ereignete, wo zu dieser Zeit das ISM aufgebaut wurde, legte Verknüpfungen nahe. Gerade das führende Personal des Sklavereimuseums betonte eine direkte Verbindung zwischen historischen und aktuellen Formen des Rassismus mit Nachdruck und didaktischer Absicht. »The subsequent trial has left no one in any doubt that this was a racially inspired attack. Thus has one of the legacies of transatlantic slavery again forced itself into our everyday lives«, zog Anthony Tibbles die für ihn entscheidende Schlussfolgerung aus dem Liverpooler Mordfall. »Yet how many people make this connection? And how many want to forget it?«89 Vor diesem Hintergrund wurde das
85 Das Museum widmet sich explizit »issues of freedom, identity, human rights, racial discrimination and cultural change«, York, Melissa: »International Slavery Museum Opening Liverpool«, in: The Guardian vom 18.8.2007. Vgl. auch D. Fleming: Exploring the Legacy. 86 D. Fleming: Speech (22.8.2007). Diesen Aspekt betonte auch Stephen Carl-Lokko, collections development officer des ISM, in seiner Konferenzkommunikation beim »Colloque international: Exposer l’esclavage. Méthodologies et pratiques« am 11.5.2011 in Paris. 87 R. Benjamin: Museums of the People, by the People, for the People. 88 D. Fleming: Exploring the Legacy. 89 A. Tibbles: Facing Slavery’s Past, S. 295.
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Bildungszentrum des ISM nach Anthony Walker benannt.90 Die kontroversen und teils vehementen Reaktionen auf die geschichtspolitisch forcierte Auseinandersetzung mit der kolonialen Sklaverei waren für Tibbles das Symptom einer postkolonialen Gesellschaftsproblematik, die viele sensible Politikbereiche berührte. »Slavery continues to act as a fault line in British society [...]. The issue of race is generally just beneath the surface. [...] [T]here are other issues of legacy and a whole raft of social issues, from educational achievement to the response to migrant workers, that have a significant and defining racial element.«91 Zahlreiche Medienkommentare pflichteten dieser Darstellung bei und setzten die rassistische Gewalt in einen expliziten Bezug zur Stadtgeschichte von Liverpool als Sklavenhandelshafen.92 In seiner Eröffnungsrede nahm David Fleming ebenfalls Bezug auf den Mord. Er drückte sein Bedauern aus, dass die Zeit, in der eine solche Gewalttat als undenkbar gelten würde, in Großbritannien offenkundig noch nicht gekommen war: »And it is because that day has not yet come that the International Slavery Museum is needed.«93 Die sozialpolitische Agenda wirkte sich sowohl in der ursprünglichen als auch in der 2007 neu eröffneten Ausstellung merklich auf den Zugang zur Geschichte aus. »La stratégie d’exposition du nouveau musée s’inscrit dans la continuité, en faisant reposer sur l’empathie la force de son discours. Il s’agit de promouvoir la tolérance et la ›compréhension mutuelle‹ en amenant le visiteur à s’identifier au sort des esclaves et de leurs descendants au moyen de dispositifs émotionnels.«94 Den Anforderungen eines historisch-kritischen Ansatzes, der die Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit im Auge behält, wird diese Zielrichtung nicht unbedingt gerecht. Eine weitere Folge des von der Institution gewählten Engagements war die Erweiterung des Blicks
90 Vgl. Carter, Helen: »Slain teenager and black heroes honoured in slavery museum«, in: The Guardian vom 21.8.2007; N.N.: »Museum honours Anthony Walker«, in: Liverpool Daily Post vom 17.8.2007. 91 Ebd. 92 Hinsliff, Gaby: »Bishops call for Blair slavery apology. Expressing Britains ›profound regret‹ is not enough, Archbishop of the West Indies says«, in: The Observer vom 25.3.2007; Drayton, Richard: »The wealth of the west was built on Africa’s exploitation. Britain has never faced up to the dark side of its imperial history (Leitartikel)«, in: The Guardian vom 20.8.2005; Townsend, Mark: »Focus Hate Crime: ›Racism? It’s endemic here‹. On the streets of Huyton, scene of Anthony Walker’s shocking murder, Mark Townsend discovers a lingering subculture of venom and violence«, in: The Observer vom 4.12.2005. Besonders deutlich formulierte es zudem der Bischof von Liverpool Rt Rev James Jones in seinem Wilberforce-Vortrag, gehalten am 20.3.2007 in London: »Anthony Walker was murdered with an axe in a hideously brutal racist attack. The taunting and bullying of a person because of the colour of his skin has its antecedents in the dehumanising treatment of black people who were traded in their millions from Africa to America in the vilest of barbaric conditions and in ships that sailed out of London, Bristol and Liverpool.«, http://www.liverpool.angli can.org/userfiles/files/Bishops/formerbishop/Lectures%20%26%20Essays/SS%20%26%20 A%20-%20Other%20-%20Wilberforce%20Lecture%20-%20Slavery%20%26%20Racism %20-%202007%20-%20March%2021.pdf. 93 D. Fleming: Speech (22.8.2007). 94 R. Hourcade: Musée d’histoire face à la question raciale, S. 21.
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für die Problematik der »modernen Sklaverei«. »Une nouvelle salle d’exposition temporaire, ouverte en 2011, accueille des expositions sur le travail des enfants ou la prostitution. Bien qu’elle soit critiquée par les militants noirs – qui y voient une dilution du message du musée – et que les conservateurs peinent à mettre en lumière les continuités d’un esclavage à l’autre, la stratégie est fermement fixée.«95 Sie ist tatsächlich ein integraler Bestandteil des kuratorischen Selbstverständnisses, wie Richard Benjamin erläutert: »One of the most challenging ways that ISM is currently looking to be a democratic museum is in the development of its contemporary slavery collection and accompanying Campaign Zone, a newly developed exhibition and community space which will highlight current human rights campaigns with accompanying community and education programmes.«96 Diese Position muss vor dem Hintergrund des generellen Credos von NML betrachtet werden, das Museen als »powerful engines of social change«97 auffasst. Im Fall des ISM erschöpft sich dieser Ansatz jedoch nicht in der Förderung von »good and active citizenship«98 vor Ort in Großbritannien. »It is the only museum of its kind to look at aspects of historical and contemporary slavery as well as being an international hub for resources on human rights issues.«99 Hierzu passen die Inhalte der Sonderausstellungen ebenso wie die führende Rolle, die das ISM für die Gründung der Federation of International Human Rights Museums einnahm, einer Vereinigung von Museen, die sich als aktive politische Akteure begreifen.100 Insgesamt greift das ISM noch stärker in die Gegenwart hinein als die Ausstellung »Against Human Dignity«, die zwar das nachwirkende Erbe der Sklaverei thematisiert, deren Kern sich aber auf die Geschichte des britischen Sklavenhandels konzentriert hatte. Eine Erweiterung lässt sich auch im Hinblick auf den geographischen Fokus konstatieren, der sich von einer der transatlantischen Geschichte inhärenten globalen Perspektive zu einer explizit internationalen Ausrichtung weitete. Angesichts der beschriebenen Sonderstellung für die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels erscheint es historisch nicht unangemessen, dass sich das britische nationale Museum zur Geschichte der Sklaverei im der Hauptstadt relativ fernen Liverpool befindet – obwohl die Rolle Londons und nicht zuletzt der Londoner City für den Sklavenhandel nicht unterschätzt werden darf. 101 Gleichzeitig begünstigt die besondere historische Position der Stadt verschiedentlich Überschneidungen der lokalen, nationalen und globalen Perspektive. So wird etwa das Schiff Brookes thematisiert, das zwar aus Liverpool stammte, dessen Darstellung im Zuge der abolitionistischen Propagandakampagne aber zum ikonographischen Inbegriff des Sklavenhandels überhaupt wurde. Ähnliches gilt für das beinahe ebenso berüchtigte Sklavenschiff Zong, das seinerseits 95 96 97
Ebd., S. 23. R. Benjamin: Museums of the People, by the People, for the People. Ebd. Zu Flemings Vorstellung von der Rolle von Museen in der urbanen Entwicklung vgl. auch Fleming, David: »The Role of Museums in Urban Regeneration«, in: Hartmut John (Hg.), Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld: Trancript Verlag 2008, S. 257-267. 98 Ebd. 99 Aus der Selbstbeschreibung des Museums, www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/about. 100 Vgl. hierzu International Slavery Museum, About, Federation of Human Rights Museums, http://www.liverpoolmuseums.org.uk/ism/about/fihrm.aspx. 101 Vgl. v.a. J.A. Rawley: London. Metropolis of the Slave Trade.
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einer am Mersey angesiedelten Handelsfirma gehörte und dessen Kapitän während einer Überfahrt im Jahr 1781 die Ertränkung von 132 Menschen anordnete. Die Präsentation dieses Falls, der oft stellvertretend für die vielfältigen grausamen Folgen der im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels praktizierten Degradierung von Menschen angeführt wird, nahm schon in der ursprünglichen Dauerausstellung einen prominenten Platz ein. Neu ist dagegen der relativ breite Raum, welcher der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eingeräumt wird. Ob die Museumsbesichtigung an ein primär städtisches, nationales oder kosmopolitisches Selbstverständnis anknüpft, bleibt also im Einzelfall der persönlichen Perspektive überlassen. Insgesamt wird sowohl die nationale Konnotation als auch eine Fokussierung auf die historische Verantwortung britischer Händler und Financiers durch die internationale und an aktuellen Themen orientierte Ausrichtung eingehegt und gedämpft. Vielmehr erhalten sowohl die allgemeine britische Geschichte als auch die internationale Geschichte des Sklavenhandels im Rahmen des ISM Verlängerungen in den jeweils anderen Kontext hinein. So griffen die Kuratorinnen und Kuratoren etwa die Einwanderung aus der Karibik nach Großbritannien über eine Sonderausstellung zur Ankunft des Schiffes SS Empire Windrush 1948 auf. Eine andere Sonderausstellung war der Geschichte Haitis gewidmet.102 Der Unabhängigkeitskampf der französischen Kolonie, der wie die Brookes als ein Erinnerungsort der atlantischen Geschichte betrachtet werden kann, bleibt ein wichtiges Thema im ISM, zu dessen besonders beachteten Ausstellungselementen aber auch die Kutte eines Mitglieds des amerikanischen KuKlux-Klan gehört. Eine so genannte Black Achievers Wall stellt besonders erfolgreiche Persönlichkeiten dunkler Hautfarbe von Olaudah Equiano bis Barack Obama vor103, »which is getting near protesting too much«104, wie selbst ein wohlgesonnener Kritiker attestierte. Für ein internationales Sklavereimuseum setzt das ISM dagegen einen recht einseitigen Schwerpunkt auf die Geschichte des anglophonen Atlantik; die iberischen Sklavenhandelsnationen und ihre ehemaligen Kolonien wie Brasilien und Kuba spielen praktisch keine Rolle.105 Auch hieran lässt sich erkennen, dass sich die Ausstellung sehr gezielt an ein bestimmtes Publikum richtet.
102 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 103 Für eine Liste mit den Namen der aktuell präsentierten Persönlichkeiten vgl. www.liver poolmuseums.org.uk/ism/collections/legacies/blackachieverswall/names.aspx. 104 Bayley, Stephen: »Barbarity began at home. Liverpool’s newest museum does an admirable job of coming to terms with the city’s role in the horrors of the slave trade«, in: The Observer vom 2.9.2007. An dieser Stelle machte sich allerdings auch der Einfluss von Ray Costello und damit ein im Ursprung explizit lokaler Impuls bemerkbar. Ray Costello arbeitete als Adviser for Race Equality für die Local Education Authority und als historischer Berater für das ISM. Er verfolgt insgesamt einen pädagogischen und bildungsnahen Ansatz, wie auch an einer seiner Veröffentlichung zu erkennen ist. Sie präsentiert die Leistungen von Liverpudlians mit (teilweise) afrikanischer Abstammung im Hinblick auf ihren Vorbildcharakter, vgl. Costello, Ray: Liverpool Black Pioneers, Liverpool: The Bluecoat Press 2007. 105 Diese Kritik formulieren sowohl Ulrike Schmieder: Orte des Erinnerns und Vergessen, S. 72 als auch David Wilkins vom WISE in Hull, D. Wilkins: Repairing the Legacies of Transatlantic Slavery, S. 148.
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Die beschriebene Multivalenz findet ihre Entsprechung im formalen Status des ursprünglich als National Museum and Centre for the Understanding of Transatlantic Slavery106 geplanten internationalen Sklavereimuseums als Teil der britischen Nationalmuseen. Obwohl das ISM von Beginn an als ein Prestigeprojekt mit landesweiter, wenn nicht internationaler Bedeutung angelegt war, verlief der Entwicklungsprozess auf den vorbereiteten Bahnen weniger kontrovers, als dies noch bei der kleineren Vorgängerausstellung der Fall gewesen war.107 Hierzu trugen nicht zuletzt die in diesem Zusammenhang mühsam etablierten Kommunikations- und Vermittlungsstrukturen bei. »Although a museum international in scope it is first and foremost one which aims to be embraced by the local community.« 108 Rückblickend konstatierte Anthony Tibbles in Bezug auf das frühe Engagement von NML für die öffentliche Thematisierung des Sklavenhandels: »At the time it was a groundbreaking initiative but we, and the world, have moved on since then.«109 Dass sich die allgemeine Situation zwischen der Einrichtung von »Against Human Dignity« und der Eröffnung des neuen Museums im August 2007 merklich veränderte, registrierten nicht nur die an den Ausstellungskonzepten aktiv Beteiligten. So schrieb etwa 2001 ein Journalist des Guardian über die Dauerausstellung im MMM, das diese zwar zunächst »bitterly contentious« gewesen sei, inzwischen allerdings allenfalls als »politically correct enough to be boringly worthy« betrachtet werden könne.110 Die medial vermittelte Strahlkraft der Initiativen, die in Liverpool aus der Schnittmenge von kommunalpolitischem, professionellem und bürgerlichem Engagement hervorgingen, reichte über die Stadtgrenzen hinaus. Sie trug insbesondere zu dem Druck bei, unter dem sich auch Bristol seiner eng mit der Geschichte des Sklavenhandels verbundenen Vergangenheit zuwandte.111 Hinter Liverpool und London hatte die Stadt den drittgrößten Anteil an der Versorgung der amerikanischen Kolonien mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven. »[I]n 1996 its Festival Of The Sea failed to make any mention of slavery. Two years later, however, the Pero’s Bridge, named after a slave, was built in the city«.112 Im gleichen Jahr wurde in einer Zusammenarbeit von Museumsmitarbeiter/-innen und Teilen der »schwarzen« Einwohnerschaft ein Slave
106 N.N.: »Slave trade museum planned for Liverpool«, in: The Guardian vom 11.11.2004. 107 Anthony Tibbles kommentierte folgendermaßen: »[T]he genesis of the gallery was one that was quite controversial, much more controversial than the International Slavery Museum has been.« A. Tibbles: Interview. 108 R. Benjamin: Museums of the People, by the People, for the People. 109 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. Vgl. auch A. Tibbles: Interview: »It’s partly because society has moved on in the last 10 or 15 years. Things which could be difficult for us to discuss in 1994 are probably much easier to talk about in 2007.« 110 Nachruf auf Sir Richard Foster von Kennedy, Maev: »Curator renowned as Merseyside’s first director of national museums«, in: The Guardian vom 12.3.2001. 111 Ebd. Zur Entwicklung der Erinnerung in Bristol vgl. E. Kowaleski Wallace: British Slave Trade and Public Memory sowie die einschlägigen Arbeiten von Madge Dresser und Christine Chivallon. 112 Hill, Amelia: »City agonises over slavery apology. Passions are running high in Bristol over whether it should say sorry for its past«, in: The Observer vom 7.5.2006.
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Trade Trail erarbeitet.113 »In 1999 a major exhibition examining Bristol’s role in the transatlantic slave trade was held at the City Museum & Art Gallery. A Respectable Trade? Bristol & Transatlantic Slavery proved to be of one of the most visited exhibits in the history of the museum as it provided the first chance to find out about the slave trade through a major exhibition.«114 Dass die öffentliche Kontroverse größer ausfiel als seinerzeit in Liverpool, kann zum einen auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass viele ehemals in den Sklavenhandel involvierte Familien weiterhin vor Ort ansässig sind.115 Zum anderen wirkte sich hier die Verbindung zur gleichnamigen, auf einem Roman von Phillippa Gregory basierenden Fernsehreihe aus, die im Jahr vor der Eröffnung von der BBC ausgestrahlt wurde.116 Sie war ein weiterer wichtiger Faktor, die eine – wenn auch im Vergleich zu Liverpool verspätete – Auseinandersetzung mit dem Thema der Stadtgeschichte förderte. Die Entscheidung der Labour-Regierung unter Tony Blair, dem 200. Jahrestag des Gesetzes zur Abschaffung des britischen transatlantischen Sklavenhandels ein national zelebriertes Jubiläumsjahr zu widmen, führte somit zur entscheidenden Verstärkung einer bereits angestoßenen Entwicklung, die sich nun gesamtnational entfaltete und überregionale Medienaufmerksamkeit fand. Die Bewegung kulminierte nicht zuletzt in einer großen Zahl von Museumsausstellungen im ganzen Land.117 Der vom MMM erprobte Ansatz, der auf intensive Beratungen und Publikumsnähe setzt, wurde dabei zu einem integralen Bestandteil auch des Vorgehens anderer Einrichtungen.118
SO SORR… OWFUL. DIE DEBATTE UM ENTSCHULDIGUNG UND ENTSCHÄDIGUNG Den offiziellen öffentlichen Auftakt für das Jubiläum des Slave Trade Abolition Act 2007 gab Tony Blair: Im November des Vorjahres ließ er einen viel beachteten Artikel unter der Überschrift »The shame of slavery« in der Zeitung New Nation veröffentlichen.119 Die schriftliche Stellungnahme ist strikt persönlich gehalten; an keiner Stelle
113 Vgl. Gibbs, Geoffrey: »Slavery tars city’s ›wise son‹. Bristol is being reminded of its role in an evil trade«, in: The Guardian vom 7.2.1998. 114 Vgl. auch Bristol and Transatlantic Slavery http://www.discoveringbristol.org.uk/slavery. Die Internetseite versteht sich als eine digitale Weiterentwicklung der besagten Sonderausstellung und macht zentrale Inhalte weiterhin zugänglich. 115 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 116 Vgl. Christy, Desmond: »A dead silence«, in: The Guardian vom 20.4.1998. 117 Für einen Überblick aus Sicht der Presse vgl. Pitman, Joanna: »It’s still a buyer’s market«, in: The Times vom 21.2.1007. Vgl. außerdem die umfassende Analyse durch die Beiträge in L. Smith u.a. (Hg.): Representing Enslavement. 118 Vgl. hierzu ebd., Part II: Representing the Bicentenary. Communities, Consultants and Curators. 119 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. Der Artikel wurde – mit einem typischen Schwerpunkt – auch in Frankreich wahrgenommen, vgl. Langellier, Jean-Pierre: »Tony Blair qualifie l’esclavage de ›crime contre l’humanité‹«, in: Le Monde vom 29.11.2006.
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erhob der britische Premierminister den Anspruch, für seine Regierung oder gar die Nation zu sprechen. Vielmehr rief er eine nicht genauer definierte Wir-Gruppe dazu auf, den Sklavenhandel als »profoundly shameful« anzuerkennen, Gefühle von »deep sorrow« auszudrücken120 und sich damit dem anzuschließen, was auf diesem Weg eher indirekt als seine eigene Haltung herausgestellt wurde. Über die Möglichkeit eines »statement of regret« anlässlich des Bicentenary war im Vorfeld bereits öffentlich spekuliert worden.121 Tatsächlich standen die Frage einer Entschuldigung für den transatlantischen Sklavenhandel und das hiermit eng verknüpfte Thema materieller Reparationen bereits seit längerem auf der politischen Agenda, wenn auch weitgehend unbemerkt vom Großteil der britischen Öffentlichkeit. Die Wurzeln dieser gerade zu Beginn stark von amerikanischen und afrikanischen Impulsen beeinflussten Entwicklung reichen bis in die erste Hälfte der 1990er Jahre zurück. Lange vor 2007 hatte sich also Schritt für Schritt ein (geschichts-)politisches Thema etabliert, das zwar keine explizite Breitenwirkung entfaltete, dem sich die britische Regierung angesichts des bevorstehenden Gedenkjahres aber kaum völlig entziehen konnte. Kontroversen waren dabei zu erwarten, denn, wie auch das Kulturministerium (Department for Culture, Media and Sport, DCMS) erkannte, in Großbritannien existierten »different and very strongly held views as to the historical facts of slavery, the moral and legal responsibilities of those involved, and the lasting effects of slavery in this country and abroad.«122 Die Labour-Regierung sah sich daher unter einem gewissen Zugzwang, ihren Aktionsrahmen und die Richtung der Debatte durch proaktives Handelns zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst zu bestimmen. Es ist davon auszugehen, dass sich Tony Blair der Bedeutung von Entschuldigungs- und Entschädigungsforderungen bewusst war, zumal er in den ersten Jahren seiner Amtszeit im Unterhaus vom Labour-Abgeordneten Bernie Grant mit den entsprechenden Argumenten konfrontiert worden war. Dennoch waren es insbesondere seine »schwarzen« Kabinettsmitglieder, die in dieser Angelegenheit eine wichtige beratende Rolle spielten und dabei nicht zuletzt auf den internationalen Kontext verwiesen. Die Veröffentlichung des Artikels erfolgte zu einer Zeit, in der das Image des Regierungschefs durch die Aufdeckung der Manipulationen rund um den Kriegseintritt gegen den Irak nicht nur innenpolitisch schweren Schaden erlitten hatte. Diese Diskussion warf einen auch in den Debatten um den Sklavenhandel greifbaren Schatten über Blairs letzte Monate an der Kabinettsspitze. Bei der UN-Konferenz, die 2001 in Durban zur Problematik rassistischer Diskriminierung abgehalten worden war, hatten zwar auch andere europäische Staaten die Forderungen zurückgewiesen, die vor allem von afrikanischen Vertreterinnen und Vertretern vorgebracht worden waren. Der diploma-
120 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. 121 Vgl. Johnston, Philip: »Britain may apologize over slavery«, in: The Daily Telegraph vom 22.9.2006; Webster, Philip: »Britain may voice regret on slave trade«, in: The Times vom 22.9.2006. 122 Department for Culture, Media and Sport: Reflecting on the Past and Looking to the Future. The 2007 Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade in the British Empire, London 2006, S. 7, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20121204113822/http://www.cultu re.gov.uk/global/publications/archive_2006/reflecting_on_the_past.htm.
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tische Druck, den Großbritannien in diesem Zusammenhang ausübte, führte bei Kritikerinnen und Kritikern allerdings zu der Bilanz: »Blair almost ruined an international conference with his refusal to commit the British government to apologising for slavery.«123 Fünf Jahre später erschien es der Regierung dagegen opportun, eine UN-Resolution für die internationale Implementierung des Gedenkens an den 200. Jahrestag des britischen Slave Trade Abolition Act zu unterstützen, die auf die Initiative karibischer Staaten zurückging.124 Vor diesem Hintergrund befürwortete insbesondere Entwicklungsministerin Valerie Amos auch ein geschichtspolitisches Statement des Premierministers. Baroness Amos, die später als Nothilfekoordinatorin für die Vereinten Nationen tätig war und inzwischen die renommierte School of Oriental and African Studies der University of London leitet, wurde im zu dieser Zeit noch britisch kolonisierten Guayana geboren. Ab 2003 war sie als erste »schwarze« Frau Mitglied einer britischen Regierung und übte zudem die angesehenen Ämter des Leader of the House of Lords und Lord President of the Council aus. Sie vertrat die Meinung: »[T]he apology would be ›internationally recognised‹ and ›status enhancing‹.«125 Ob Blairs Zeitungsartikel dazu verhalf, verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, kann angesichts der breiten Kritik am Inhalt der Stellungnahme aber bezweifelt werden. Wenig hilfreich war diesbezüglich zudem die Aufdeckung von taktischen Hinweisen, die hinter den Kulissen von Amos kommuniziert worden waren. »[P]rivate notes were revealed in the national media [...] apparently indicating that Blair should get his expression of sorrow out of the way in order to contribute to his legacy as Prime Minister«.126 Dies warf ein ungünstiges Licht auf die Beweggründe und beschädigte den angestrebten Eindruck moralischer und emotionaler Aufrichtigkeit. Marcus Wood sieht in dem Beitrag sogar in erster Linie ein Manöver mit dem Ziel, eine echte Debatte um Entschuldigung und Wiedergutmachung im Rahmen des Bicentenary von vornherein zu vermeiden.127 Tatsächlich wurde Tony Blair dennoch im Verlauf des Jubiläumsjahres wiederholt mit entsprechenden Forderungen konfrontiert. Dass er selbst das Thema nach seinem Kommentar in der
123 Berlins, Marcel: »Can a city really say sorry – especially for something that happened two centuries ago?«, in: The Guardian vom 10.5.2006. 124 UN-Generalversammlung, 61. Session, Agenda item 155: Commemoration of the twohundredth anniversary of the abolition of the trans-Atlantic slave trade, zunächst A/61/L.28 (20.11.2006), mit Ergänzungen verabschiedet in der 59. Plenarsitzung als Resolution A/RES/61/19 am 29.1.2007, vgl. hierzu www.un.org/en/ga/62/plenary/slavetrade/bkg. shtml. 125 Persönliche Notizen von Valerie Amos zit. n. Wintour, Patrick: »Blair fights shy of full apology for slave trade«, in: The Guardian vom 27.11.2006. 126 Ligali Organisation: No apology. Wintour, Patrick: »Blair fights shy of full apology for slave trade«, in: The Guardian vom 27.11.2006, »The notes contained the phrases ›window closing, political pressure mounts, get it out of way‹ and ›do it before end of year‹.« Vgl. auch Smith, David: »Historic statement condemns crime against humanity. Critics say Prime Minister has fallen short of full apology«, in: The Observer vom 26.11.2006. 127 M. Wood: Horrible Gift, S. 314.
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New Nation eigentlich als erledigt betrachten wollte, geht aus einem Statement – »unspun by No 10 and almost entirely unnoticed by the media«128 – hervor, das er im März 2007 im Rahmen einer Westafrikareise gab. Als ihm bei einer gemeinsam mit dem Präsidenten von Ghana abgehaltenen Pressekonferenz die Frage gestellt wurde, warum es so schwer sei, eine Entschuldigung auszusprechen, entgegnete Blair in Anspielung auf seinen Artikel: »Well actually I have said it [...]. We are sorry, and I say it again now.«129 Im Text des Artikels sucht man Worte wie »sorry« oder »apology« allerdings vergebens. Der primär diskutierte und im Folgenden vom Premierminister mehrfach in ähnlicher Form wiederholte Abschnitt des Textes lautet: »It is hard to believe what would now be a crime against humanity was legal at the time. I believe the bicentenary offers us not only a chance to say how profoundly shameful the slave trade was – how we condemn its existence utterly and praise those who fought for its abolition – but also to express our deep sorrow that it could ever have happened and rejoice at the better times we live in.«130
Diese Worte waren sehr bewusst und von Tony Blair persönlich gewählt: »The statement was the culmination of a process involving three government departments, advisers and the close personal attention of Mr Blair. He wrote the final version himself, having first compared the words he intended to use with apologies issued by other countries.«131 Bei der zu diesem Zweck ausgewählten Zeitung handelte es sich um ein Publikationsorgan, das sich explizit als Forum und Sprachrohr einer Leserschaft verstand, deren politischer und kultureller Standpunkt vor allem von ihrer dunklen Hautfarbe und im weitesten Sinne afrikanischer Abstammung bestimmt wird – der Premierminister wandte sich an die »community«.132 Bereits vorab prophezeite ein Kommentator der Times: »[H]is carefully worded comments will fall short of the full apology demanded by campaigners«133– und sollte recht behalten. Die Unklarheit darüber, was im gegebenen Fall überhaupt als Entschuldigung hätte gelten können, und die entsprechend uneinheitliche Bewertung sind allerdings typisch für derartige Stellungnahmen zur Geschichte, zumindest in ihrer bislang üblichen Form.
128 Addley, Esther/Muir, Hugh: »Marching to London to hear a single word ... sorry: PM has used the S-word but clamour grows for a formal apology over British role in the slave trade«, in: The Guardian vom 24.3.2007. 129 Tony Blair zit. n. ebd. 130 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. 131 Addley, Esther/Muir, Hugh: »Marching to London to hear a single word ... sorry: PM has used the S-word but clamour grows for a formal apology over British role in the slave trade«, in: The Guardian vom 24.3.2007. 132 Das Unternehmen, das hinter der Herausgabe von New Nation stand, nannte sich selbst bezeichnend Ethnic Media Group. Für die Zeitungen New Nation und Eastern Eye meldete die Gruppe 2009 Insolvenz an. 133 Cracknell, David: »Blair to make a limited apology for slavery«, in: The Sunday Times vom 26.11.2006.
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Am Beispiel der australischen Geschichtspolitik hat Janna Thompson den Versuch unternommen, Kriterien für eine »genuine political apology« aufzustellen. Ihrer Ansicht nach gehören hierzu ein feierlicher und repräsentativer Rahmen, die Sicherstellung einer möglichst breiten Unterstützung durch die nationale Bevölkerung und die Integration der Leidenserfahrung in die öffentlich vermittelte Geschichte der Nation. »The government should demonstrate its commitment to ensuring that the nation will not commit similar wrongs to the victims or their descendants in the future. Embedding an account of the injustice in the nation’s official history contributes to this goal.«134 In mehrfacher Hinsicht entspricht die Loi Taubira diesen Anforderungen eher als der von Tony Blair veröffentlichte Zeitungsartikel, auch wenn das Gesetz keine Worte der Entschuldigung enthält und die von Thompson ergänzend erwähnten Kompensationen ebenfalls keinen Eingang in den Text gefunden haben. Dies könnte ein Grund sein, warum die Frage der Entschuldigung und Entschädigung in Frankreich eine im Vergleich zu Großbritannien weniger prominente Rolle spielte. Eine weitere Überlegung hierzu bietet Renaud Hourcade an: »By all evidence, another important factor has to be taken into account to understand the rejection of symbolic compensation processes. French social and political conceptions traditionally consider the expression of racial identities as illegitimate. […] Expressing regret to a community would thus have the unacceptable effect, in the French traditional view, to encourage the racial division of the society.«135
Aus diesem Grunde könnte die Entschuldigung, die der Stadtrat von Liverpool 1999 zur Sklavenhandelsvergangenheit formulierte, auch keine Nachahmung in Nantes oder Bordeaux finden: »[I]t identifies a community of perpetrators and an opposite community to which the perpetrators express sorrow.«136 Für seinen öffentlichen Ausdruck des Bedauerns schlug dem britischen Regierungschef Kritik aus sehr unterschiedlichen Richtungen entgegen. Weder Lob noch Missbilligung waren dabei davon abhängig, ob seine Worte als Entschuldigung für die britische Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel gedeutet wurden oder vielmehr als der Versuch, eine solche zu umgehen. So urteilte etwa Emma Pierre im Namen der panafrikanisch ausgerichteten Ligali Organisation: »Significantly, this politically motivated announcement reveals Tony Blair’s intention not to apologise on behalf of the British government for Britain’s leading role«.137 Die auch im Hinblick
134 Thompson, Janna: »Apology, Justice, and Respect. A Critical Defense of Political Apology«, in: Gibney, Mark u.a. (Hg.), The Age of Apology. Facing Up to the Past, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2008, S. 31-44, hier S. 41 f. 135 R. Hourcade: Commemorating a Guilty Past, S. 135. 136 Ebd. 137 So stammt das Zitat von Pierre aus einer schriftlichen Bitte um Stellungnahme, die Ligali an aus Sicht der Organisation afrikanische Politikerinnen und Politiker in Großbritannien verschickte, unter ihnen auch David Lammy, vgl. Ligali Organisation: No apology, für den Wortlaut der Briefe vgl. z.B. www.ligali.org/pdf/expression_of_sorrow_david_ lammy_ 27_11_06.pdf. Eine ausweichende Antwort per E-Mail schickte lediglich Diane Abbott, www.ligali.org/pdf/diane_abbott_response_27_11_06.pdf.
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auf das Bicentenary sehr aktive Gruppe nahm dies als Anlass zu einer Protestkampagne, mit der sie sich in erster Linie an »schwarze« Parlamentsabgeordnete richtete, aber wenig greifbare Resonanz erzeugte. »Rendezvous of Victory, a group which seeks to combat the legacy of slavery, said it would call on the Queen to issue an apology. Its joint co-ordinator, Kofi Mawuli Klu, said he was disappointed by Blair’s suggestion that slavery is a thing of the past: ›He’s missed the point. They do not understand contemporary enslavement. There is nothing in this statement about the enduring legacy of slavery in terms of racism and global injustice.‹«138
Zusätzliche Verärgerung löste bei Klu die Abwesenheit des Wortes »sorry« aus: »It’s adding insult to the lingering injuries of the enslavement of African people by the European ruling classes.«139 Der große Sturm der Entrüstung kam jedoch aus der entgegengesetzten Richtung. Beginnend mit dem Moment, in dem aus dem Beratungsausschuss der Regierung für die Vorbereitungen des Jubiläumsjahres erste Andeutungen an die Öffentlichkeit drangen, erschien in britischen Zeitungen eine ganze Reihe von Kommentaren und Leserbriefen, in denen ein »statement of regret« oft kategorisch abgelehnt wurde. »The very suggestion ha[d] already been condemned in the rightwing press as unpatriotic and absurdly ahistorical.«140 Die Gegenargumente, für die nicht nur die Daily Mail ein breites Forum bot, waren oft pragmatischer Natur und befassten sich etwa mit der schwierigen Frage der Nachweisbarkeit eines Opfer- bzw. Täterstatus im Abstand von mehreren Generationen. Viele Äußerungen standen aber auch ganz im Zeichen des britischen »abolition myth«.141 Es wurde also die Ansicht vertreten, dass sich Großbritannien im historisch bilanzierenden Rückblick gerade durch die Abschaffung des Sklavenhandels ausgezeichnet habe: »Britain should not say sorry, but be thanked for ending the slave trade.«142 Der religiös überzeugte Abgeordnete William Wilberforce konnte in diesem Zusammenhang sowohl stellvertretend für die positive Leistung der britischen (Parlaments-)Politik als auch für die englische Kirche stehen. Ein weiteres Argument brachte John Prescott in die Diskussion ein, der aus Gesprächen im Rahmen einer Ghana-Reise den Schluss zog, dass eine Entschuldigung nicht nötig sei, da diese tatsächlich gar nicht verlangt werde.143 Hier muss davon ausgegangen werden, dass der Stellvertreter des Premierministers die ihm durch seine Arbeit im Planungsausschuss des Bicentenary wohl vertraute Forderung bewusst verkannte. 138 Zit. n. Smith, David: »Historic statement condemns crime against humanity. Critics say Prime Minister has fallen short of full apology«, in: The Observer vom 26.11.2006. 139 Zit. n. ebd. 140 Beckett, Andy: »Heirs to the slavers. Nearly 200 years after Britain abolished slavery its legacy is all around«, in: The Guardian vom 2.12.2006. 141 Vgl. M. Wood: Horrible Gift, S. 8. Ausführlicher zu Woods Konzept der »emancipation mythology« vgl. ebd., v.a. S. 13 ff., S. 95 ff. Vgl. auch Johnston, Sasha: Slavery, Abolition, and the Myth of White British Benevolence, MA-Thesis University of British Columbia, 2009, https://open.library.ubc.ca/cIRcle/collections/ubctheses/24/items/1.0067283. 142 Vgl. die Leserbriefsektion in The Daily Telegraph, 28.11.2006. 143 Wintour, Patrick: »Commemoration day to recall slave trade and make UK face up to past«, in: The Guardian vom 23.3.2007.
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Aus dem Umfeld der Regierung gab es keine Hilfestellung zur Konkretisierung der tatsächlichen Absichten des Premierministers. »No 10 declined to say whether his intervention was intended as a statement of regret or form of apology, saying only that Mr Blair’s words spoke for themselves.«144 Den Grund für die offenkundige Ambivalenz eben dieser Worte zu identifizieren, war für die britischen Medien dabei keine Schwierigkeit. »Mr Blair’s uncharacteristic reticence was prompted by guidance from his legal advisers that saying sorry could also mean admitting liability to an individual or group claiming compensation.«145 Michael Eboda, der Herausgeber der New Nation, zeigte sich dabei bereit, die einschränkenden Umstände, denen selbst die Formulierung einer persönlich gehaltenen Position des Regierungschefs unterlag, anzuerkennen: »It’s pretty much as close to an apology as he can give taking into account the advice he has been getting from the Foreign Office in terms of the threat of legal action. I am pleased with it.« 146 Mit ähnlicher Zurückhaltung drückte seine Zustimmung ein »schwarzer« Aktivist aus Bristol aus: »It’s historic for a British Prime Minister to say this and it is to be welcomed.«147 Auch andere positive Kommentare lobten Blair vor allem für einen mutigen ersten Schritt, »breaking decades of official silence«.148 Da die Diskussion sich bereits vorab auf die Frage der Entschuldigung fokussiert hatte, entging den meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren, dass der Zeitungsartikel in New Nation mehr enthielt als Blairs persönliche »sort-of-apology«.149 Er war in vielerlei Hinsicht zugleich ein Testlauf für die Strategie, welche die Regierungsrhetorik zum Thema Sklaverei und Sklavenhandel im Jubiläumsjahr 2007 bestimmen sollte, die im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt wird. Im Sinne des Interesses an der Verteilung historischer Handlungsmacht sollen hier zunächst die Auffälligkeiten hinsichtlich der Thematisierung britischer Verantwortlichkeiten beleuchtet werden.150 Der Premierminister begann seine Ausführungen mit der Feststellung: »The transatlantic slave trade stands as one of the most inhuman enterprises in history.«151 Als solches habe der Sklavenhandel den zur gleichen Zeit in Europa und Amerika entwickelten Vorstellungen universeller Menschenrechte diametral entgegengestanden. Die Agency hinter der Unternehmung bleibt zunächst verdeckt. Schon an dieser Stelle 144 Hurst, Greg: »Blair to state his personal deep sorrow at slave trade«, in: The Times vom 21.11.2006. 145 Addley, Esther/Muir, Hugh: »Marching to London to hear a single word ... sorry: PM has used the S-word but clamour grows for a formal apology over British role in the slave trade«, in: The Guardian vom 24.3.2007. Ebenso Wintour, Patrick: »Blair fights shy of full apology for slave trade«, in: The Guardian vom 27.11.2006. 146 Addley, Esther/Muir, Hugh: »Marching to London to hear a single word ... sorry: PM has used the S-word but clamour grows for a formal apology over British role in the slave trade«, in: The Guardian vom 24.3.2007. 147 Paul Stephenson zit. n. Smith, David: »Historic statement condemns crime against humanity. Critics say Prime Minister has fallen short of full apology«, in: The Observer vom 26.11.2006. 148 Ebd. 149 Hurst, Greg: »Blair to state his personal deep sorrow at slave trade«, in: The Times vom 21.11.2006. 150 Für eine detaillierte Kritik vgl. auch Ligali Organisation: No apology. 151 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006.
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verankerte Tony Blair das historische Geschehen allerdings auf einer internationalen und vor allem europäischen Ebene. Diese Perspektive behielt er bei, als er den fundamentalen Einfluss hervorhob, den die Geschichte des Sklavenhandels auf – in dieser Reihenfolge – Afrika, die Karibik und Europa gehabt habe. »The prime minister did not specifically single out a government for blame. But he recognised ›the active role‹ Britain played in the trade prior to its abolition and the fact that ›Britain’s rise to global pre-eminence was partially dependent on a system of colonial slave labour‹.«152 Noch vor dieser Wendung bot er seinen Landsleuten allerdings einen, wenn auch historisch inkorrekten, nationalen Lichtblick an: »Thankfully, Britain was the first country to abolish the trade.«153 Im Folgenden ging er kurz auf die Abolitionsbewegung ein, ohne in diesem Zusammenhang zwischen der Abschaffung des Sklavenhandels und der 30 Jahre später erfolgten Abschaffung der Sklaverei zu unterscheiden. Dies erweckt den Eindruck, dass die Änderung der Gesetzeslage vor 200 Jahren der entscheidende Wendepunkt war. Mehr als die Hälfte des Artikels befasste sich überhaupt nicht mit der Vergangenheit, sondern vor allem mit der aktuellen britischen Politik für Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit im nationalen wie internationalen Rahmen, dem Einsatz gegen AIDS, Armut, Kindersterblichkeit und gegen die Verschuldung verarmter Staaten. In diesem Zusammenhang hob Blair auch die britische Unterstützung der bereits erwähnten UN-Resolution für die Verstärkung des Gedenkens an die Abschaffung des Sklavenhandels hervor. Das Handeln der Regierung wurde damit einerseits in eine historische Traditionslinie mit dem international ausgreifenden Abolitionismus gestellt, andererseits konnte sie wie eine Art Wiedergutmachung erscheinen. So vermittelt der von den Worten hervorgerufene Gesamteindruck vor allem das altbekannte Bild von Großbritannien als einer Macht, die für das »Gute« in der Welt wirkt. Als Basis für den Versuch, offizielle Entschädigungsleistungen einzuklagen, eigneten sich die Ausführungen folglich nicht. In dieser Form hatte die gezielt lancierte, aber vorsichtig formulierte Positionierung jedoch andere, sehr wahrscheinlich ebenfalls unerwünschte Konsequenzen. Im Zuge des Bicentenary traten mehrfach Forderungen nach einer inhaltlich deutlicheren und politisch folgenreicheren Aussage an prominente Stellen der öffentlichen Debatte. Die britische Regierung sah sich in diesem Zusammenhang auch mit Versuchen konfrontiert, New Labour bei seinem erinnerungskulturellen Voranschreiten explizit unter Druck zu setzen oder gar links zu überholen. Die am stärksten wahrgenommenen Signale kamen weniger von Aktionsgruppen, deren Mitglieder sich als historische Erben der von kolonialer Ausbeutung Betroffenen betrachteten, sondern vor allem von führenden anglikanischen Bischöfen und der Stadt London. So lenkte der damals amtierende Bürgermeister der britischen Hauptstadt, Blairs streitbarer Parteigenosse Ken Livingstone, die öffentliche Aufmerksamkeit zugleich auf sich selbst und auf die vermeintlichen Unzulänglichkeiten der geschichtspolitischen Position des Premierministers. »What the mayor called for was an unambiguous apology and that has yet to be forthcoming«, erklärte Lee Jasper, 152 Chancellor, Alexander: »We think he says sorry at the drop of a hat, but has Tony Blair really apologised for anything?«, in: The Guardian vom 1.12.2006. 153 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. Das erste europäische Land, das seinen Bürgern den transatlantischen Sklavenhandel untersagte, war Dänemark als freilich nachrangiger Akteur auf dem Feld.
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Livingstones Berater in Gleichstellungsfragen, der Presse die Haltung seines Vorgesetzten.154 Persönlich machte der Bürgermeister seine Position zunächst im März 2007 über einen Zeitungsartikel im Guardian publik.155 Obwohl direkt im Vorfeld des 200. Jahrestags des Slave Trade Abolition Act veröffentlicht, spielten für diesen Text gerade die Abschaffung des britischen Sklavenhandels und schließlich die rechtliche Emanzipation der Sklavinnen und Sklaven eine untergeordnete Rolle. Gleiches gilt für heutige Formen unfreier Arbeit oder die Nachwirkungen kolonialer Wirtschaftsstrukturen. Livingstone konzentrierte sich stattdessen klar auf die Geschichte der Sklaverei und auf die fundamentale Gewaltsamkeit, die diesem historischen Zwangsarbeitssystem zugrunde lag. Gerade durch die Verwendung von drastischen Quellenzitaten und Begriffen wie »Mord«, »Barbarei« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ließ er dabei keinen Spielraum für Zweideutigkeiten.156 Durch diese Schwerpunktsetzung enthält der Artikel eine implizite, aber grundsätzliche Kritik an der inhaltlichen Organisation des Bicentenary durch die Labour-Regierung. Zudem demontierte Livingstone Gründe für die konservative Ablehnung einer offiziellen Entschuldigung, wie sie etwa von Oppositionsführer David Cameron vertreten wurde. Denn er verwies insbesondere auf internationale Beispiele für die wachsende Anerkennung des historischen Unrechts, die aus seiner Sicht gerade jede weitere Verzögerung – und nicht die Aussprache entsprechender Worte – zu einem Skandal mache. »A British state that refuses to apologise for a crime on such a gigantic scale as the slave trade merely lowers our country in the opinion of the world.«157 Vor allem aus diesem Grund schloss der Bürgermeister mit einem direkten Aufruf, das Versäumnis der Regierung zumindest auf kommunalpolitischer Ebene auszugleichen: »I invite all representatives of London society to join me in following the example of Virginia, France, Liverpool and the
154 Addley, Esther/Muir, Hugh: »Marching to London to hear a single word ... sorry: PM has used the S-word but clamour grows for a formal apology over British role in the slave trade«, in: The Guardian vom 24.3.2007. 155 Livingstone, Ken: »Why I am saying sorry for London’s role in this horror«, in: The Guardian vom 21.3.2007. Vgl. auch den Leserbrief von Ken Livingstone zum Thema »The big issue: Slavery«, in: The Observer vom 1.4.2007. 156 Als Beispiel kann ein Absatz zu den Zuständen in den britischen Kolonien genügen: »Conditions imposed on survivors were unimaginable. Virginia made it lawful ›to kill and destroy such negroes‹ who ›absent themselves from ... service‹. Branding and rape were commonplace. A Jamaican planter, Thomas Thistlewood, in 1756 had a slave ›well flogged and pickled, then made Hector shit in his mouth‹ for eating sugar cane. From 1707, punishment for rebellion included ›nailing them to the ground‹ and ›applying fire by degrees from the feet and hands, burning them gradually up to the head‹.« Livingstone, Ken: »Why I am saying sorry for London’s role in this horror«, in: The Guardian vom 21.3.2007. 157 Ebd. Livingstone ging in diesem Zusammenhang auch auf die bereits erwähnte Politik im internationalen Kontext ein: »The British government’s refusal of such an apology is squalid. Until recently, almost unbelievably, it refused even to recognise the slave trade as a crime against humanity, on the grounds that it was legal at the time. It helped block an EU apology for slavery.«
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Church of England, by formally apologising for London’s role in this monstrous crime.«158 Diesen geschriebenen Worten ließ Ken Livingstone Taten folgen. Im Jahr des Bicentenary beging die Stadt London ihren ersten, seitdem jährlich stattfindenden Slavery Remembrance Day und schloss sich dabei dem zuvor schon in Liverpool etablierten, von den Vereinten Nationen eingerichteten Datum (23. August) an. Die Zeremonie in der City Hall gestaltete sich tatsächlich sehr denkwürdig und zugleich medienwirksam. »The London mayor wept as he told a commemorative service of the cruelties inflicted on the millions transported from Africa and the legacy that confronts them today. [...] As he voiced the apology, the US civil rights leader the Rev Jesse Jackson walked over and placed his arm around the mayor.«159 Die öffentliche Aussprache der Entschuldigung brachte ihm »wide applause«160 von den Anwesenden ein. Unter den Befürwortern befand sich der Vorsitzende von Anti-Slavery International Aidan McQuade, der nicht zuletzt hoffte, dass die Regierung unter dem nun auch innenpolitisch wachsenden Druck schließlich einlenken würde.161 Mit der Forderung nach einer Entschuldigung mal mehr, mal weniger eng verbunden ist der Ruf nach Reparationen. Wichtige Impulse erreichten die britischen Inseln dabei oft auf Umwegen. Ab Ende der 1980er Jahre gewann in den USA eine in weiten Teilen panafrikanisch und damit international orientierte Bewegung an Einfluss, die sich für eine materielle Entschädigung für die Sklaverei einsetzt. In den britischen Medien wurde während des Untersuchungszeitraums nicht nur aufgrund der sprachlichen Nähe immer wieder über entsprechende Aktivitäten beispielsweise der N’COBRA berichtet.162 Durch die historisch enge und im Hinblick auf Sklaverei und Sklavenhandel zum Teil untrennbare Verbindung zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gerieten schließlich auch britische Institutionen ins Visier der amerikanischen Reparationsbewegung. So betraf ein juristischer Vorstoß das traditionsrei-
158 Ebd. Im Gegensatz zu Virginia, Liverpool und der anglikanischen Kirche hat Frankreich bislang keine offizielle Entschuldigung formuliert. Dass Livingstone in diesem Zusammenhang auch Frankreich erwähnte, ist möglicherweise auf die Verabschiedung des Gesetzes zurückzuführen, das den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte. Dieses hatte gerade auf der UN-Konferenz in Durban zu einer Sonderstellung des Landes geführt und Anerkennung bei Gruppierungen hervorgerufen, die auch eine offizielle Entschuldigung forderten. 159 Muir, Hugh: »Livingstone weeps as he apologises for slavery«, in: The Guardian vom 24.8.2007. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Dies trifft besonders auf die Guardian Group zu, vgl. z.B. Harker, Joseph: »Slavery took a huge social and economic toll on its victims. Now some people want this historic debt repaid«, in: The Guardian vom 25.10.1994; Mack, Tara: »Payback time. It is less than 150 years since America’s slaves were freed. Their labour helped build the nation. Now their descendants are demanding recompense«, in: The Guardian vom 11.8.2001; Hutton, Will: »Slaves to the past. The road to hell is paved with good intentions«, in: The Observer vom 26.8.2001; aber auch Allen-Mills, Tony: »Big business is sent bill for slave trade«, in: The Sunday Times vom 10.6.2001.
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che Bankhaus Lloyd’s of London, und auch Barclay’s Bank sah sich mit Anschuldigungen und Entschädigungsforderungen konfrontiert, die schließlich immerhin zu einer öffentlichen Stellungnahme bewegten.163 Solche Initiativen trugen zu einer gesteigerten Sensibilität für die Reparationsfrage und ihre potentiell weitreichenden Folgen in einem Land bei, das so umfassend in den Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven involviert gewesen war. Im Sommer 2006 fand in Ghana eine von der N’COBRA veranstaltete Konferenz statt, an der neben afrikanischen und amerikanischen auch britische Vertreterinnen und Vertreter teilnahmen. Sie entschieden gemeinsam, »der britischen Regierung eine ›strong message‹ hinsichtlich ihrer ›Gedenkfeiern‹ im Jahr 2007 zu schicken.«164 Bereits Ende 1993, dem Jahr der in Abuja abgehaltenen Pan-African Conference on Reparations, gründete sich in Leeds die African Reparation Movement UK (ARM UK). Die Vereinigung läutete in Großbritannien »[t]he age of slave apologies«165 ein; dass die erste von ihr abgehaltene Konferenz sich der Frage »Reparations – What does it mean?« widmete, kann aber als bezeichnend für den damaligen Stand nicht nur der britischen Diskussion des komplexen Themas betrachtet werden. Das »campaign committee« bestand vor allem aus »prominent black jurists, leaders and politicians«166, zu den Gründungsmitgliedern gehörte auch Sam Walker. Er war Leiter der britischen Black Cultural Archives, einer seit 1981 im Londoner Stadtteil Brixton angesiedelten Institution mit der Aufgabe »to collect, preserve and celebrate the contributions Black people have made to the culture, society and heritage of the UK«. 167 Im Untersuchungszeitraum befand sich die Einrichtung in einer räumlichen und konzeptionellen Ausweitung zu einem repräsentativen »first Black heritage centre« im Vereinigten Königreich, das im Sommer 2014 eröffnet wurde.168 Die Einrichtung des Archivs war durch einen entsprechenden Finanzierungsbeschluss des Lambeth Council ermöglicht worden. Dessen Präsidentin war zu dieser Zeit Linda Bellos gewesen, eine Mitbegründerin des britischen Black History Month, die sich ebenfalls an der Begründung von
163 Vgl. z.B. Campbell, Duncan: »Descendants of US slaves sue firms for unpaid work«, in: The Guardian vom 5.9.2002; Walsh, Conal: »Slave descendants sue Lloyd’s for billions. Americans whose ancestors were taken from Africa in chains have hired a feared New York lawyer to seek compensation for the insurer’s support of ›genocide‹«, in: The Observer vom 28.3.2004; Ders.: »JP Morgan faces boycott over slave trade reparations«, in: The Obsever vom 11.12.2005; Ders.: »Financial giants in US courts over slavery accusations«, in: The Observer vom 24.9.2006; Mathiason, Nick: »Barclays admits possible link to slavery after reparation call«, in: The Observer vom 1.4.2007; Ders.: »British firms could be sued for slave trade«, in: The Observer vom 1.7.2007. 164 J. Grillitsch: Gedenkjahr 2007, S. 146. 165 »The Age of Slave Apologies. The Case of Liverpool, England«, Titel eines Vortrags von Mark Christian, gehalten im Rahmen der »International Slavery Museum public lecture series«, Merseyside Maritime Museum, Liverpool, Dezember 2007. 166 Esther Stanford in einem Vortrag zum Thema »Reparations public debate«, Liverpool, 11.10.2007, www.liverpoolmuseums.org.uk/podcasts/transcripts/reparations_kuya.asp. 167 Vgl. http://www.communityarchives.org.uk/content/organisation/black-cultural-archives sowie Black Cultural Archives, www.bcaheritage.org.uk. 168 Vgl. Black Heritage Centre, http://bcaheritage.org.uk/about/heritage-centre.
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ARM UK beteiligte.169 Mit viel Engagement und für die britischen Medien oft provokativen Stellungnahmen wurde in den folgenden Jahren aber vor allem der inzwischen verstorbene Labour-Politiker Bernie Grant, MP für London-Tottenham und seinerzeit erstes »schwarzes« Parlamentsmitglied Großbritanniens, zum Gesicht der Kampagne. Diese forderte »amends for Britain’s involvement in the slave trade by an act of absolution and contrition which include[s] a formal apology and a cash settlement.«170 Die Vorschläge waren, wie ein britischer Journalist richtig erkannte, »essentially the invention of the Organisation of African Unity«171, und umfassten daher außerdem einen Schuldenerlass für afrikanische Staaten sowie die Rückgabe von Kunst- und Kulturgegenständen kolonialer Provenienz, unter ihnen die als »Stars of Africa« bekannten Diamanten der britischen Kronjuwelen.172 Ebenfalls im Geiste der internationalen Entschädigungsbewegung wurde bei den Aufrufen zur Reparation der Folgen des »biggest crime in history – the colonisation and enslavement of our people«173 – nicht zwischen dem transatlantischen Sklavenhandel und dem britischen Imperialismus insgesamt unterschieden; das stimmte viele Kommentare in Großbritannien nicht milder. Eine erste affirmative Reaktion auf die Entschuldigungsforderungen war auf kommunalpolitischer Ebene die bereits erwähnte Erklärung des Stadtrats von Liverpool im Jahr 1999, dem Jahr, in dem Bernie Grant anlässlich des Slavery Remembrance Day seinen offiziellen Besuch in der Stadt machte. Seine persönliche und politische Nähe zu Vertreterinnen und Vertretern von NML zeigte sich auch am Kurs, den das ISM in Bezug auf die Debatte um finanzielle Entschädigungen einschlug. Die oft wie eine Art Tabu behandelte Reparationsfrage wird vom Museum als generell legitimes Anliegen betrachtet, zu dem auch Vortragsveranstaltungen organisiert wurden. Zwar betrachtet sich das Liverpooler campaigning museum nicht als Akteur mit dem Ziel, entsprechende materielle Zugeständnisse der Regierung zu erreichen: »Our standard response is that reparations are a valid subject which we are happy to raise but on which the museum has no standpoint.«174 Führende Vertreter wie Anthony Tibbles liebäugelten aber mit einer offensiveren Herangehensweise und stellten sich und anderen die Frage: »[S]hould we now be going further stimulating debate on the subject, providing a forum for examining the issue?«175 Auch wenn die Aktivitäten von ARM UK sich nicht 169 Vgl. Wharton, Kit: »Blacks give Britain their bill for colouring the map pink«, in: The Sunday Telegraph vom 7.11.1993. 170 Hattersley, Roy: »Endpiece. In the Empire, diamonds were never forever«, in: The Guardian vom 15.11.1993. 171 Ebd. 172 Ebd.; Bakewell, Joan: »Paying for our crimes«, in: The Guardian vom 21.3.2004. Eine kurze Einschätzung der Bewegung auch bei E. Barkan: Guilt of Nations, S. 299 ff. 173 Wharton, Kit: »Blacks give Britain their bill for colouring the map pink«, in: The Sunday Telegraph vom 7.11.1993. 174 A. Tibbles: Museums and the Representation of Slavery. 175 Ebd. Tibbles äußerte sich auch zu der Entwicklung, welche die Diskussion in den Jahren bis 2007 genommen hatte: »I can remember that during the discussions which were taking place about the original gallery at least two of our advisors said we can’t possibly deal with reparations: that was off the agenda. Whereas now our attitude is, reparations is a legitimate debate, it’s legitimate for us to raise it. It’s partly because society has moved on in the last 10 or 15 years.« A. Tibbles: Interview.
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weiter verdichteten – etwa zu einer Serie von juristischen Vorstößen für klar definierte Ziele wie in den USA –, blieben Bernie Grant und seine Mitstreiter/-innen mit ihren Forderungen in Politik und Medien zunächst relativ kontinuierlich präsent. In den 1990er Jahren wurden auch erste Initiativen auf parlamentarischer Ebene in die Wege geleitet. Dabei war Anthony Gifford, der den offiziellen Bericht zu den Unruhen in Liverpool-Toxteth koordiniert hatte, als Mitglied des Oberhauses »einer der lautstärksten und einflussreichsten Reparationsbefürworter in England.« 176 Der Rechtsanwalt verfasste ein Grundsatzpapier, in dem er sich mit der rechtlichen Basis und einer möglichen juristischen Argumentationsstrategie auseinandersetzte. 177 Im März 1996 debattierte das House of Lords auf seine Anregung hin die Reparationsfrage. Hier nannte Lord Gifford fünf Elemente, die seiner Auffassung nach Teil eines Ausgleichs sein sollten: erstens »an apology at the highest level for the criminal acts committed«; zweitens einen Schuldenerlass für afrikanische und karibische Staaten; drittens die Rückgabe von afrikanischen Artefakten durch britische Museen; viertens die Unterstützung von Menschen afrikanischer Abstammung, die eine »Rückkehr« nach Afrika anstrebten; und schließlich fünftens die Finanzierung spezieller Entwicklungsprogramme in Afrika, der Karibik und Südamerika.178 Die Position der amtierenden konservativen Regierung vertrat Lord Chesham. »Attributing responsibility […] is difficult; it is not straightforward«, war die Prämisse, von er dabei ausging.179 Zum einen seien neben Briten auch andere Europäer sowie Afrikaner und Araber am Menschenhandel beteiligt gewesen, zum anderen sei der Sklavenhandel eine von privaten Händlern ausgeübte Unternehmung gewesen; die 1672 mit einem staatlichen Monopolpatent ausgestattete Royal African Company erwähnte er nicht. Im Gegensatz dazu hätten sich Großbritannien als Nation und insbesondere seine Marine um den Kampf gegen den Sklavenhandel verdient gemacht. Weiterhin verwies Lord Chesham auf die britische Entwicklungspolitik, die sich gerade afrikanischen und karibischen Staaten bereits intensiv zuwende. »To suggest that the Government should make reparations to the African nations and the descendants of Africans for the damage caused by the slave trade is clearly, from what I have said, not appropriate.«180 Auch Bernie Grant blieb bis zu seinem frühen Tod im April 2000 auf parlamentarischer Ebene für die Reparationsfrage aktiv. »He famously faced public criticism after challenging Blair [...] at the House of Commons during Prime Minister’s Question Time, on 24 Nov 1999.«181 Dabei konfrontierte er seinen Parteikollegen umstandslos mit der nicht nur für ihn zentralen Frage: »Would my right honourable friend set the 176 J. Grillitsch: Gedenkjahr 2007, S. 142. 177 Ebd. Sein Konzept hatte Gifford auch bei der Reparationskonferenz in Abuja zur Diskussion gestellt. Abgedruckt wurde es in New African, 1.12.1999. Vgl. auch Gifford, Anthony Lord: »Formulating the Case for Reparations«, in: Fernne Brennan/John Packer (Hg.), Colonialism, Slavery, Reparations and Trade. Remedying the ›Past‹?, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012, S. 77-96. 178 Lord Gifford, House of Lords, 14.3.1996, C. 1043. 179 Lord Chesham, House of Lords, 14.3.1996, C. 1057. Chesham sprach in seiner Rolle als deputy chief whip der Major-Regierung im Oberhaus. 180 Ebd., C. 1061 f. 181 Morris, Steven/Constable, Nick: »Prisoners or slaves? New row over wreck’s bones«, in: The Guardian vom 6.11.2007.
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historic record straight, would he apologise to people of African origin, both living and dead, for the part that Britain played in the transatlantic slave trade?«182 Tony Blair antwortete in einer ausweichenden, für die Unterstützerinnen und Unterstützer von ARM UK sicherlich unbefriedigenden Weise. Der vordergründige Gegensatz verdeckt allerdings die Hoffnungen, die Grant mit der geschichtspolitischen Zukunft Großbritanniens unter einer Linksregierung verband.183 Diese sollten sich im Jahr 2007 unter führender Beteiligung seines Nachfolgers in der parlamentarischen Vertretung Tottenhams, Blairs Kulturminister David Lammy, jedoch nur eingeschränkt erfüllen. Der Rechtsweg in Richtung Reparationen wurde in Großbritannien probeweise im Rahmen der Black Quest for Justice Campaign eingeschlagen. Beteiligt war neben anderen Esther Stanford(-Xosei), deren vielfältiges Engagement einmal mehr die starke internationale Ausrichtung der Bewegung verdeutlicht: Stanford war nicht nur Europavertreterin von N’COBRA, sondern auch für die Kampagne Rendezvous of Victory tätig und außerdem Vizepräsidentin der Pan-Afrikan Reparations Coalition in Europe (PARCOE), die sich als europäischer Dachverband der internationalen Reparationsbewegung versteht. Die beiden letztgenannten Organisationen verfügen über keine nennenswerte öffentliche Wahrnehmung oder auch nur Selbstdarstellung; im Internet ist lediglich Stanford selbst vergleichsweise präsent, wenn auch, an den gezählten Seitenaufrufen gemessen, nicht übermäßig gefragt. 184 Es war die Abschlusserklärung der UN-Konferenz in Durban, welche die Aktivistinnen und Aktivisten der Black Quest for Justice Campaign ermutigte, die Möglichkeiten auf der juristischen Ebene auszuloten. Die Qualifikation des Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bildete den Ausgangspunkt für das Vorgehen, welches jedoch im Rahmen der bestehenden Gesetze keine tragfähige Rechtsgrundlage hatte. Esther Stanford gehörte zu einem »legal team that actually developed a legal action within this country and filed it on 2003 [...] against the Queen [...] and the British government.«185 Im britischen Rechtssystem ist eine Voraussetzung für einen Prozess wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit eine entsprechende Bestätigung des Generalstaatsanwalts, der von der Krone ernannt wird. Daraus folgte eine paradoxe Situation, die Stanford in einem Vortrag folgendermaßen beschrieb: »And what we were trying to do was sue the Queen, so you are actually asking the government to sue itself and to give you permission to sue it. Ridiculous. So you can imagine the response we got.«186 Das Ziel einer erfolgreichen Klage war ebenso fern wie die vage Hoffnung auf die benötigte Ausweitung der »boundaries of existing law in order to transform law.«187 Die Gruppe der potentiellen Kläger betrachtete die Angelegenheit pragmatisch. Sie sahen die juristische Aktion als eine Widerstandsform und vor allem als »good public educational and mobilisation tactics. So it gets us talking and so there is 182 Bernie Grant, Labour-Abgeordneter für Tottenham, House of Commons, 24.11.1999, C. 611. 183 Vgl. Gibbs, Geoffrey: »Grant wants memorial to slaves. Labour MP visits Devon cove where 150 died in hold of wreck«, in: The Guardian vom 3.3.1997. 184 Vgl. Esther Stanford-Xosei, Advocate | Reparationist | Broadcaster, www.estherstan ford.com. 185 E. Stanford: Reparations public debate. 186 Ebd. 187 Ebd.
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a value.«188 Auch dieses Ziel konnte allerdings allenfalls innerhalb des begrenzten Zirkels bereits mobilisierter Personen verwirklicht werden. Die großen Organe der britischen Presse erwähnten die Kampagne nicht. Der trotz allem andauernde geschichtspolitische Druck erhielt im Sommer 2014 erneut internationale Verstärkung, als Hilary Beckles den Plan der CARICOM Reparations Commission vor Mitgliedern des britischen Unterhauses, unter ihnen Diane Abbott, präsentierte.189 Mit besonderer Anspannung beobachtete die britische Regierung die karibische Aktion dabei auch aufgrund des Modellcharakters der Kompensationsregelung, die Großbritannien im Jahr 2013 mit kenianischen Folteropfern des Mau-Mau-Aufstands getroffen hatte.190 Nur wenige Monate zuvor waren zudem Recherchen veröffentlicht worden, die eine historische Verbindung der Familien von Premierminister David Cameron und seiner Frau zu Besitzern von Sklavenplantagen offen gelegt hatten.191 Jährlich am 1. August, dem Jahrestag des Slavery Abolition Act von 1833, der zum Afrikan Remembrance Day umgedeutet wurde, wird ausgehend vom Londoner Stadtteil Brixton außerdem ein Reparations March zum Parlamentsgebäude organisiert.192 Der Dialog nimmt sich somit sehr begrenzt aus, das letzte Wort ist in der Angelegenheit aber keinesfalls gesprochen.
SCHULD UND SÜNDE. DIE ROLLE DER ANGLIKANISCHEN KIRCHE Rückenwind erhielt der postkoloniale Wandel der Erinnerungskultur im britischen Fall durch die anglikanische Kirche. Noch vor dem Premierminister hatten im Februar 2006 die offiziellen Vertreter der Church of England Position zur Geschichte des Sklavenhandels bezogen. »In a move backed by the Archbishops of Canterbury and York, the General Synod issued its unprecedented apology.«193 Auch in diesem Fall war der Entschluss zu der Initiative aus Diskussionen zur Vorbereitung des Gedenkens an den 200.
188 Ebd. 189 Die University of the West Indies, für die Beckles verschiedene Leitungsfunktionen ausgeübt hat, veröffentlichte den Text der Ansprache unter http://www.cavehill.uwi.edu/ News-Events/News/?release_id=514. 190 AP (Miami): »Slavery compensation: Caribbean nations propose Mau Mau model. Regional organisation targets British, French and Dutch governments over continuing effects of slavery«, in: The Guardian vom 26.7.2013. 191 Vgl. Hall, Catherine: »Britain’s debt to slavery. Today the records that show how much the trade in humans benefited the UK will be made public«, in: The Guardian vom 27.2.2013; Jones, Sam: »Follow the money. Investigators trace forgotten story of Britain’s slave trade«, in: The Guardian vom 27.8.2013. 192 Mangels Berichterstattung in den hauptsächlich untersuchten Zeitungen sei an dieser Stelle verwiesen auf Onibada, Ade: »Emancipation Day reparations march kicks off in London. Annual walk departed from Windrush Square at noon and will convene at Parliament Square«, in: The Voice Online vom 1.8.2016, http://www.voice-online.co.uk/article/ emancipation-day-reparations-march-kicks-london. 193 Gledhill, Ruth: »Church apologises for role in slave trade«, in: The Times vom 9.2.2006.
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Jahrestag des Slave Trade Abolition Act hervorgegangen. Da die Kirche im Angesicht des herannahenden Bicentenary früher die Flucht nach vorn ergriffen hatte und mit ihrer formellen Entschuldigung der Regierung zuvorgekommen war, konnte sie im Folgenden aus dieser herausragenden Position weiter agieren: »Archbishop of York urges PM to apologise for slavery«194 war eine Meldung zum Höhepunkt des Jubiläumsjahres im März 2007. Allerdings war die Resolution der Synode erst im Verlauf der internen Diskussion inhaltlich ausgeweitet und konkretisiert worden; eine direkte Entschuldigung war ursprünglich nicht vorgesehen. Der verabschiedete Text enthielt die klare Forderung, »[t]hat this Synod […] recognising the damage done to those who are the heirs of those who were enslaved, offer an apology to them«.195 Er wurde schließlich einstimmig akzeptiert, und zwar ausdrücklich in Verbindung mit dem Hinweis auf »Christian demands of repentance and sorrow«.196 Dass Befürworterinnen und Befürworter der von der Synode sanktionierten geschichtspolitischen Linie von der Kirche nicht zuletzt forderten, »[to] confess its sin before God«197, ist in geistlicher Perspektive lediglich konsequent. Die besonderen Bedingungen des spirituell geprägten Wegs erlaubten es zudem, gleich mehrere geschichtspolitische Kernprobleme zu umgehen. Im Bereich des Transzendenten und Überzeitlichen verliert der historische Zeitablauf an Bedeutung, es kann daher auch für die verstorbenen Vorfahren bedeutungsvoll gesprochen werden. Die Entschuldigung und Bitte um Vergebung musste nicht zwingend unmittelbar an die Nachfahren der Versklavten gerichtet werden, denn sie stand nicht zuletzt in Bezug zu einer höheren, ja der höchsten Instanz der Gerechtigkeit – ohne dass von dieser Seite unmittelbar Einspruch oder gar eine Kompensationsklage zu befürchten war. Zwar mischten sich Kirchenführer in die geschichtspolitische Auseinandersetzung also ausdrücklich ein, von Vorteil war in diesem Zusammenhang aber gerade die in erster Linie religiöse Rahmung ihrer Aktivitäten. Die der christlichen Kirche vertraute Sprache von Sünde, Buße und Vergebung erwies sich als geeignetes und zudem medientaugliches Instrumentarium für die erinnerungskulturelle Konfrontation mit der Sklaverei. Die Aktivität beschränkte sich nicht auf Worte, sondern umfasste auch christlichspirituell gefärbte Rituale wie den offiziellen Gedenkgottesdienst des Bicentenary in Westminster Abbey, in dem die Bitte um göttliche Vergebung einen zentralen Moment darstellte. Entsprechend ausgerichtet war auch der Walk of Witness, veranstaltet nicht nur als »acknowledgement of the past and its continuing legacy«, sondern auch als »recognition of what God requires of us, through to repentance, forgiveness and reconciliation.«198 Der ökumenische Demonstrationszug durch den Süden Londons, der wie der Gottesdienst im März stattfand, lehnte sich in seiner Symbolik explizit an den 194 Ward, David: »Archbishop of York urges PM to apologise for slavery«, in: The Guardian vom 26.3.2007. 195 Church of England, General Synod, Group of Session, 6.2.2006, www.churchofeng land.org/media/38668/bdf06.rtf, S. 12. 196 Ebd. 197 Rev Simon Bessant, zit. n. Petre, Jonathan: »Church told to apologise for its part in slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 17.1.2006. 198 Information der Internetseite zum Walk of Witness am 24.3.2007, »Making our Mark. Remembrance, Repentance, Restoration«, www.makingourmark.org.uk/moreinfo.html.
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christlichen Passionsweg an. Die Teilnehmenden199 machten von Whitehall bzw. der Holy Trinity Church (Clapham) ausgehend an verschiedenen Stellen Halt und widmeten sich andächtig den Themen »Erinnerung«, »Reue« und »Wiedergutmachung«.200 Die letzte Station im Kensington-Park spielte dabei eine hervorgehobene Rolle. »The Walk concludes with an Act of Repentance, Forgiveness and Commitment«201 als Teil eines »large-scale act of worship to be led by the Archbishops of Canterbury and York, and Primates from West Indies and Ghana.«202 Die zur Teilnahme an dem Marsch geladenen Gläubigen waren am Ende außerdem dazu aufgerufen, eine Erklärung von Anti-Slavery International zu unterzeichnen, »calling for measures to better understand the Transatlantic Slave Trade, redress its legacies, and end modern day slavery.«203 Die klare und sichtbare geschichtspolitische Positionierung der anglikanischen Kirche lag nicht nur aufgrund ihrer nationalen und politiknahen Verfasstheit nahe. Auch der Verlauf der Vergangenheit ermöglichte die Konstruktion einer prägnanten Argumentationslinie, die sich auf sehr konkrete Sachverhalte stützte. Denn die Church of England war selbst an der Geschichte der Sklaverei in den britischen Kolonien beteiligt gewesen. »Anglican culpability in the Caribbean slave trade can be traced back at least to 1710, when the planter Christopher Codrington died, leaving his 800-acre Barbados plantations to the Church’s newly-established Society for the Propagation of the Christian Religion in Foreign Parts (SPG).«204 Wie andere Güter auch, zeichnete sich die Plantage in geistlicher Hand durch eine hohe Zahl von Todesfällen aus, die einen kontinuierlichen Rückgriff auf das Angebot des transatlantischen Menschenhandels erforderlich machte.205 Besonders eindrücklich manifestiert sich der aus heutiger 199 Angekündigt waren neben hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern der anglikanischen Kirche »the President of the Methodist Conference, the Revd Graham Carter; the President of the Baptist Union, the Revd Kate Coleman; the Director of the Evangelical Alliance, Joel Edwards; the Chief Executive Officer of the African and Caribbean Evangelical Alliance, Katei Kirby; and the Chief Executive Officer of the Church Army, Mark Russell. In addition, leaders from large black-led Churches in and around the capital are also joining the pilgrimage, including the Revd Jonathan Oleyede, Senior Associate Pastor at the Glory House Church, Plaistow. The Director of Christian Aid, Daleep Mukarji, has also pledged to join the walk, as has the Leader of Lambeth Council, Councillor Steve Reed.«. Die Masse der Gläubigen war selbstverständlich ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen, vgl. Church leaders sign-up to join pilgrimage Walk of Witness, Pressemeldung der Church of England, 22.2.2007, www.churchofengland.org/media-centre/news/2007/02/pr1807.aspx. 200 »Making our Mark. Remembrance, Repentance, Restoration« lautete das Motto des Marsches. 201 The Link 1/3 (2006), S. 3, https://www.churchofengland.org/media/36361/christmas06. pdf. The Link ist ein kleines Informationsmagazin des Committee for Minority Ethnic Anglican Concerns, das von 2006 bis 2009 erschien. 202 »Making our Mark. Remembrance, Repentance, Restoration«, www.makingourmark.org. uk/moreinfo.htm. 203 Ebd. 204 Fenton, Ben: »Church’s slavery apology ›is not enough‹. Descendants of plantation workers want more than just a word«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006. 205 Hierzu wurde in der britischen Presse mehrfach ein Zitat des Erzbischofs Thomas Saecker aus dem Jahr 1760 angebracht: »I have long wondered and lamented that the negroes on
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Sicht eklatante ethische Widerspruch in der Brandmarkung der Sklavinnen und Sklaven, deren stigmatisierende Wundmale das Wort »Society« formten – eine Detailinformation, die in den britischen Medien auffallend häufig transportiert wurde. Erst als sich der entsprechende Rechtszwang ergab, wurden die Arbeiter/-innen der Codrington-Plantage aus ihrem Status der Unfreiheit entlassen, wobei die Emanzipation von 665 Versklavten den Kirchenvertretern insgesamt 13.000 Pfund an staatlichen Kompensationszahlungen einbrachte.206 Zwar lässt sich der Grad der Schuld relativieren: »[T]he Church’s sins over Codrington were those of omission more than commission«, da die eigentliche Leitung der Plantage professionalisierten Laien überlassen wurde; das Handeln der Geistlichen beschränkte sich im Wesentlichen auf die Einnahme des Profits.207 Und auch 2007 konnte die Geschichtspolitik der Church of England nach wie vor auf die religiöse Motivation der Abolitionsbewegung setzen. Dennoch verbreitete sich die Auffassung, dass die Kirche vor ihrem Beitrag zur Lösung als ein Teil des Problems betrachtet werden musste: »We were in it up to our eyeballs.«208 Die einseitig positive Perspektive auf die eigene Rolle für die historische Handlung wurde somit partiell korrigiert. Auch die demonstrative Bußfertigkeit der englischen Kirche stieß jedoch an Grenzen, wenn es um die Frage einer materiellen Entschädigung ging. Dass diese mit der Thematisierung von Schuld und Vergebung nahezu unweigerlich verbunden ist, zeigte sich an den Reaktionen auf die offizielle Entschuldigung der Synode. Denn diejenigen, an die sich die symbolische Entschuldigung mit ihrer klaren Wortwahl eigentlich richtete, reagierten teilweise mit bezeichnender Skepsis. So kommentierte etwa Lisa Codrington, eine Kanadierin, die als eine mutmaßlich direkte Nachfahrin von Sklavinnen und Sklaven der gleichnamigen Plantage befragt wurde: »It’s a good start. But is that all? [...] Is it involving reparation? Is it involving further work, further education by the Church?«209 Angesichts der institutionellen Kontinuität und der mikrohistorisch überschaubaren Verhältnisse hätte die Etablierung eines Präzedenzfalls in Sachen Entschädigung hier relativ einfach erfolgen können; einen passgenauen Ansatzpunkt hätte die an Vertreter der Kirche im Zuge der Emanzipation ausgezahlte Kompensationssumme geboten.
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our planation decrease and new supplies become necessary continuously . . . but we must take things as they are at present.« Petre, Jonathan: »Church offers apology for its role in slavery«, in: The Daily Telegraph vom 9.2.2006; Ders.: »An unhappy reminder of complicity in a tragedy«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006; Bates, Stephen: »People«, in: The Guardian vom 29.3.2007. Petre, Jonathan: »Church offers apology for its role in slavery«, in: The Daily Telegraph vom 9.2.2006. So die Argumentation von Woodville Marshall, emeritierter Professor für Geschichte an der University of the West Indies, vgl. Fenton, Ben: »Church’s slavery apology ›is not enough‹. Descendants of plantation workers want more than just a word«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006. Rev Simon Bessant, Diözese Blackburn, zit. n. Petre, Jonathan: »Church told to apologise for its part in slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 17.1.2006. Fenton, Ben: »Church’s slavery apology ›is not enough‹. Descendants of plantation workers want more than just a word«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006.
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Zu Reparationszahlungen war die anglikanische Kirche aber ebenso wenig bereit wie irgendeine andere öffentliche Institution in Großbritannien, in den USA oder auch in Frankreich, dem Land, dessen Parlament den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt hat. Es war für die Church of England daher peinlich, dass die britischen Zeitungen auf dem Höhepunkt der Jubiläumsfeierlichkeiten im März 2007 meldeten: »Institutions that profited from the slave trade should make amends – possibly financially, the Archbishop of Canterbury says.«210 Hintergrund war ein Radiointerview, das Rowan Williams BBC4 gegeben hatte. Aufgrund der großen Medienaufmerksamkeit sah das Erzbistum sich zu einer umgehenden Richtigstellung genötigt: »Lambeth Palace put out a hasty clarification. […] The archbishop […] had not really meant it. When, in answer to a question from Michael Buerk about the church making amends in some form, he replied: ›I think so, yes‹, what he meant, the palace said, was not a call for reparations but a wider sense of institutional responsibility.«211 Und schließlich war der auf der Synode beschlossene Kurs nicht unumstritten. Rt Rev Michael Nazir-Ali, damals Bischof von Rochester und einer der aktivsten Vertreter des konservativen Flügels der Church of England, beharrte darauf, »that the anniversary should be ›a time of celebration and of thanksgiving‹ for Britain’s role in bringing slavery to an end.«212 Die revisionistische Richtung profitierte jedoch von der aktiven Unterstützung namentlich der beiden höchsten Würdenträger, der Erzbischöfe von Canterbury und York. Amtsträger in York war (und ist) John Sentamu »who grew up in Uganda and has described how his forebears were among those enslaved«.213 Der zu dieser Zeit in Canterbury residierende Rowan Williams war schon zuvor durch seine liberalen Haltungen gerade bei Glaubensgenossinnen und -genossen nicht nur positiv aufgefallen.214 Hinter den Kulissen war insbesondere das Committee for Minority Ethnic Anglican Concerns in der Frage aktiv. So konnten sich Vertreter/-innen divergierender Meinungen letztlich nicht gegen eine Position durchsetzen, die in der Öffentlichkeit teils sehr kritisch als ein Posieren in »politically correct sackcloth and ashes«215 wahrgenommen wurde. Tatsächlich untermauerte aber auch Williams in einem ausführlichen Zeitungsartikel seine allgemeine Kritik der britischen Politik aus Sicht der Kirche mit der Symbolkraft des historischen Akteurs William Wilberforce. Dieser war für ihn zweifelsfrei
210 Petre, Jonathan: »We must make amends for slave trade, says archbishop«, in: The Daily Telegraph vom 26.3.2007. 211 Bates, Stephen: »People«, in: The Guardian vom 29.3.2007. Vgl. auch die Pressemitteilung des Bischofssitzes www.archbishopofcanterbury.org/articles.php/1433/reparations-for-sla very-press-briefing-from-lambeth-palace. 212 Petre, Jonathan: »We must make amends for slave trade, says archbishop«, in: The Daily Telegraph vom 26.3.2007. 213 Gadher, Dipesh: »Archbishops to go on slavery ›guilt march‹«, in: The Sunday Telegraph vom 14.1.2007. 214 Vgl. Petre, Jonathan: »Church offers apology for its role in slavery«, in: The Daily Telegraph vom 9.2.2006; Bates, Stephen: »People«, in: The Guardian vom 29.3.2007. 215 Leserbrief von John Stevens zum Thema »The bishop who fought the slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006.
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»the greatest influential British citizen of the last millennium«.216 Der traditionelle Bezug auf den christlich inspirierten parlamentarischen Abolitionismus wurde allerdings durch ein nachdenkliches und spirituelles Element des Gedenkens ergänzt, das zu einem gewissen Alleinstellungsmerkmal auf höchster geschichtspolitischer Ebene verhalf. Drei Jahre nach dem Bicentenary integrierte die Church of England auch Thomas Clarkson und Olaudah Equiano in die Liste der Personen, denen ein besonderer Gebetstag (»lesser festival«) gewidmet ist. Als Datum wurde der 30. Juli gewählt, an dem nun drei Männern gedacht wird, da es sich bereits zuvor um den Tag des Andenkens an Wilberforce gehandelt hatte.217 Weiteren Anlass für den Bischof von Rochester, sich mit Nachdruck gegen die Aktivität der »›mea culpa‹ brigade«218 auszusprechen, boten kleinere und radikalere Initiativen, welche gerade über ihre Beziehung zur Church of England Anbindung an das offizielle Programm des Jubiläumsjahres erhielten. Zu ihnen gehörte vor allem die Lifeline Expedition, die sich ebenfalls für eine explizit christlich begründete Entschuldigung engagierte. An ihrem »March of the Abolitionists« durch verschiedene Regionen der britischen Hauptinsel im Frühjahr 2007 nahmen vereinzelt auch anglikanische Bischöfe teil, allerdings nur für kleinere Etappen. 219 Trotz einer insgesamt sehr begrenzten Zahl aktiver Unterstützer/-innen stieß die Aktion auf eine breite Medienaufmerksamkeit. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die unabhängigen Christinnen und Christen ihrem Wunsch, »die Vergangenheit zu heilen«220, in einer symbolisch eindrucksvollen Weise Ausdruck verliehen, die höchst kritisch aufgenommen wurde. Auf ihrem Weg wollten sie den Nachfahren versklavter Afrikaner/-innen eine Entschuldigung präsentieren, sowohl aus einem Gefühl der persönlichen Betroffenheit heraus als auch im Namen derjenigen, die in der historischen Makroperspektive auf der Seite der Ausbeutung und des Profits zu verorten sind. Ziel war es, ein Zeichen für eine umfassende Versöhnung zu setzen. Dabei wurden die beiden Gruppen durch die Marschierenden buchstäblich verkörpert und in diesem Zusammenhang vornehmlich über ihre Hautfarben definiert; »schwarze« und »weiße« Menschen nahmen im Rahmen des Rituals klar unterschiedene Rollen ein. Der offizielle Name des umstrittenen Marsches erscheint vor diesem Hintergrund weniger nachvollziehbar als das schlicht, aber treffend gewählte und absolut wörtlich gemeinte Motto »Walking In Yokes And Chains To Apologize For Slavery«. Allerdings waren es nur die Aktivistinnen und Aktivisten, deren Äußeres eine zumindest in jüngerer Zeit überwiegend europäisch geprägte Abstammungslinie nahe legte, die den Marsch in Ketten sowie teilweise unter einem hölzernen Joch zurück-
216 Williams, Rowan: »Down with godless government«, in: The Sunday Times vom 22.4.2007. 217 Vgl. Ergebnisprotokoll der Generalsynode der Church of England, 19.-13. Juli 2010 in York, Summary of General Synod, July 2010 (shorter version), https://www.churchofeng land.org/media/59462/gsjul10summshort.rtf. 218 Petre, Jonathan: »We must make amends for slave trade, says archbishop«, in: The Daily Telegraph vom 26.3.2007. 219 Vgl. hierzu Lifeline Expedition & March of the Abolitionists Website, http://www.lifeline expedition.co.uk, www.lifelineexpedition.co.uk/mota/index.htm. 220 »Healing the past… transforming the future« lautete das Motto der Lifeline Expedition.
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legten. Das Auftreten der Gruppe war damit grob dem Fußmarsch afrikanischer Gefangener nachempfunden, die zur Küste gebracht wurden, um dort an europäische Händler verkauft zu werden – mit dem augenfälligen Unterschied, dass es nun hellhäutige Menschen waren, die in Fesseln zu gehen hatten. Sie trugen dabei außerdem markante schwarze T-Shirts mit der weißen Aufschrift »So Sorry«. Nur selten wurden diese auch von dunkelhäutigen Teilnehmerinnen oder Teilnehmern des Marsches angezogen, unter denen sich sowohl Menschen aus Afrika als auch Nachfahren der von dort deportierten Sklavinnen und Sklaven befanden. Der Marsch gliederte sich in zwei Etappen, von denen die erste, der Meridian Walk, am 1. März im Geburtsort von William Wilberforce startete.221 Auch eine Nachfahrin von Wilberforce, Kate Davson, begleitete den Aufbruch. 222 Wie die meisten Menschen, die sich an verschiedenen Orten anschlossen, ging sie aber nur einen kleinen Teil des Wegs. Von Hull aus wanderte die Gruppe über 250 Meilen entlang des Längengrads nach Süden und kam gut drei Wochen später in der britischen Hauptstadt an. Unterwegs besuchte sie unter anderem Kirchengemeinden, Schulen und Rathäuser. Die zentrale programmatische Komponente war zwar »to bring an apology for the slave trade (especially the role of the church)«.223 Die Aktivistinnen und Aktivisten propagierten aber noch eine Reihe weiterer Ziele, namentlich die Förderung einer Auseinandersetzung mit der »true history of slavery and abolition«224, die Erinnerung an die »black and white abolitionists of 200 years ago« und die Aufnahme von Gesprächen über den Umgang mit dem historischen Erbe sowie die Unterstützung von »current campaigns seeking to end the atrocity of contemporary slavery.«225 Diese Kombination verschiedener Themen stellte, wie auch der Name der Aktion, einen – möglicherweise gezielt gewählten – Anknüpfungspunkt zu den offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten dar. Deren eigentlicher historischer Anlass spielte für die Symbolsprache, die sich explizit auf die Erfahrung der Versklavung selbst bezog, jedoch allenfalls eine nachrangige Rolle. Auch wenn die Aktion mit ihrer kruden Symbolik viele ablehnende Reaktionen hervorrief, traf die Gruppe in London mit dem erzbischöflich geführten Walk of Witness zusammen und beteiligte sich an dessen Stationen sowie der Mahnwache am Parlamentsgebäude. Der lange Fußmarsch fügte sich somit in den Rahmen der offiziellen Gedenkveranstaltungen ein und wurde formal von verschiedenen Zusammenschlüssen und Organisationen unterstützt, die in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle
221 Zur ersten Etappe des Marsches vgl. die Presseerklärung Lifeline Expedition: The March of the Abolitionists. Walking in Yokes and Chains to Apologise for Slavery, Januar 2007, www.lifelineexpedition.co.uk/mota/newsupdates/Press%20Release%20Jan%202007.pdf; Details zum Verlauf: Lifeline Expedition Meridian Walk Report. Extracts from Weekly Reports during walk by David Pott (Photographs by the BBC), www.lifelineexpedition. co.uk/mota/press/meridianwalk-report.pdf. 222 Ebd. 223 Lifeline Expedition: Presserklärung (Januar 2007), S. 1. 224 Ebd. 225 Ebd.
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spielten.226 Vor diesem Hintergrund wurde der March of the Abolitionists vom Veranstalter als »National Project for the Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade«227 propagiert, blieb aber eine insgesamt randständige Aktion; die Kerngruppe der Aktivistinnen und Aktivisten bestand aus kaum einem halben Dutzend Personen internationaler Herkunft.228 Im Anschluss an den Aufenthalt in der Hauptstadt setzten die Unterstützer/-innen der Lifeline Expedition ihre Mischung aus Wanderung und religiös motiviertem Bußritual im Laufe des Sommers fort. Vom 4. Juni bis zum 11. Juli 2007 marschierten sie von London nach Bristol und weiter nach Liverpool. Der über 400 Meilen betragende Weg verband also die wichtigen Sklavenhandelshäfen Englands, umfasste aber auch Stationen in anderen Städten, die seinerzeit auf die eine oder andere Weise in dieses Geschäft involviert waren, wie Plymouth, Lancaster, Whitehaven oder Glasgow.229 Dieser zweite Teil des Marsches nannte sich Sankofa Walk. Die Bedeutung des Begriffs aus der westafrikanischen Akan-Sprache, der symbolisch oft über ein Vogelmotiv dargestellt wird, wurde dabei als Aufforderung interpretiert: »[W]e must learn from the past to build for the future«.230 Streckenweise wurde der Marsch von Vertreterinnen und Vertretern britischer Medien wie der Times oder der BBC begleitet; tatsächlich zeigten sogar Reporter/-innen aus dem Ausland Interesse an der Aktion, die vor allem eindrückliche Bilder lieferte.231 Die Lifeline Expedition selbst förderte die öffentliche Wahrnehmung durch eine ausgefeilte PR-Strategie, die neben der Eigenproduktion einer DVD auch ein reichhaltiges Onlineangebot umfasste, das unter anderem Reaktionen dokumentiert, die sich dem Blick der Medien trotz allem entzogen. Der gesamte Marsch von 2007 war Teil eines größeren Programms, für das vor allem der Brite David Pott stand, der gemeinsam mit einem jungen Amerikaner das Joch trug und die Aktion anführte. Einer in seinen Augen göttlichen Inspiration folgend begründete der überzeugte Christ im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt der Millenniumsstimmung die Lifeline Expedition mit dem Jubilee 2000 Lifeline Walk entlang
226 »The March of the Abolitionists is an initiative of the Lifeline Expedition in partnership with Anti-Slavery International, CARE, Church Mission Society, the Equiano Society, Northumbria Community, Peaceworks, USPG, Wilberforce 2007 (Hull) and Youth With A Mission. The march is also associated with the Set All Free and Stop the Traffik coalitions.«, Lifeline Expedition: Presserklärung (Januar 2007), S. 2. 227 Ebd. 228 Vgl. den langen Bericht von Liddle, Rod: »I’m sorry but my feet are killing me«, in: The Sunday Times vom 25.3.2007. Liddle war einer der Journalisten, welche die Gruppe ein Stück ihres Wegs begleiteten. 229 Zur zweiten Etappe des Marsches vgl. die Presseerklärung der Lifeline Expedition: The March of the Abolitionists. Walking in Yokes and Chains in Former Slave Ports to Apologise for Slavery, Mai 2007, www.lifelineexpedition.co.uk/mota/press/sankofa%20walk %20press%20release.pdf; Details zum Verlauf: Lifeline Expedition, Sankofa Walk Report, www.lifelineexpedition.co.uk/mota/press/sankofa%20report.pdf. 230 Lifeline Expedition: Presserklärung (Mai 2007). 231 Vgl. Lifeline Expedition: Meridian Walk Report, S. 2.
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des Meridians zur englischen Südküste.232 Pott selbst wanderte auch schon für die Aufarbeitung der Konfliktgeschichte von England und Wales233, insgesamt konzentriert sich seine kleine Organisation aber auf die koloniale Vergangenheit und im weiteren Sinn auf die Beziehungen Europas zu anderen Erdteilen, insbesondere Afrika. Ein Ziel des Jubilee Walk war die Werbung für einen Erlass der Schulden verarmter Staaten. Ab 2002 standen vor allem der transatlantische Sklavenhandel und seine Folgen im Fokus und die Lifeline-Unterstützer/-innen bereisten verschiedene Regionen auf beiden Seiten des Atlantiks.234 In Westafrika machten sie in mehreren Ländern Station, der Höhepunkt war aber das Roots Festival in der ehemaligen britischen Kolonie Gambia im Jahr 2006.235 Über die dort von der Lifeline Expedition groß angelegte Inszenierung eines Entschuldigungsrituals wurde wiederum auch in Großbritannien berichtet, wobei die Reaktionen zum Teil sehr emotional und vehement ablehnend waren.236 Dies lag vor allem daran, dass es David Pott gelungen war, eine höchst symbolträchtige Beteiligung zu sichern: Auf seine Einladung hin reiste der Brite Andrew Hawkins, ein damals 37-jähriger Jugendarbeiter aus Cornwall, mit nach Westafrika. Einer der Vorfahren seiner Familie war Sir John Hawkins, der in der Erinnerung seiner Landsleute vor allem als Pirat, Schatzmeister von Elizabeth I. und Vizeadmiral im Kampf gegen die spanische Armada präsent geblieben ist, außerdem aber als der erste britische Sklavenhändler gilt. Auch Andrew Hawkins war sich dieses Teils seiner Familiengeschichte lange nicht bewusst. Zwar ist er selbst praktizierender Christ, der Kontakt mit Lifeline ergab sich aber eher zufällig, und er entschloss sich nur zögernd zur Reise nach Gambia. Seine Entscheidung wurde schließlich vor allem von individuellen Motiven bestimmt: »I don’t feel guilty about the slave trade personally. But I want to take the story seriously and learn from it.«237 Erst in Afrika wurde Hawkins die enorme Symbolwirkung seiner Teilnahme an der Entschuldigungszeremonie klar, und die Emotionen hinterließen einen bleibenden Eindruck. »Andrew Hawkins may have grown up knowing nothing about his slaving ancestor, but when he went to the Gambia more than 400 years after Sir John, [he] found the name of Hawkins was feared and hated«.238 Um die 20.000 Personen unterschiedlicher, überwiegend westafrikanischer Herkunft sollen dem Ritual beigewohnt haben, in dessen Zentrum die Vizepräsidentin des 232 Vgl. Liddle, Rod: »I’m sorry but my feet are killing me«, in: The Sunday Times vom 25.3.2007; Lifeline Expedition, The Jubilee 2000 Lifeline Walk in England, www.lifeline expedition.co.uk/content/view/21/62. 233 Liddle, Rod: »I’m sorry but my feet are killing me«, in: The Sunday Times vom 25.3.2007. 234 Der Reiseverlauf war dabei wie folgt: Frankreich (2002), Spanien und Portugal (2003), USA (2004), Karibik (2005) und Westafrika (2006), Lifeline Expedition: Presserklärung (Januar 2007), S. 1. 235 Vgl. hierzu International Roots Festival, www.rootsgambia.gm. Das Anliegen des Festivals ist es, Menschen aus Westafrika und der afrikanischen Diaspora zusammenzubringen, deren Vorfahren durch den Sklavenhandel getrennt wurden, und – wie auf der Webseite explizit eingeräumt wird – auf diesem Wege auch die Entwicklung des Tourismus in der Region zu fördern. 236 Vgl. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006. 237 Ebd. 238 Ebd.
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Landes, Isatou Njie Saidy, stand. »Mr Hawkins and a group of 20 friends locked themselves in chains of the type used to imprison slaves. At the festival they knelt down in front of a large crowd from across Africa and asked to be forgiven for past sins.«239 Die Menschen aus Europa, die im Rahmen des Rituals die historische Tätergruppe repräsentierten, sprachen die Bitte um Entschuldigung nicht nur in verschiedenen Sprachen aus, sondern trugen dabei zudem die später auch beim March of the Abolitonists verwendeten T-Shirts mit der Botschaft »So sorry«. »[Saidy] accepted the apology very graciously«, berichtete Hawkins. »She offered her forgiveness and then came forward and took the chains off.«240 Auch in diesem Ritual manifestierte sich also eine Umkehr der ursprünglichen historischen Agency-Struktur. Für den entfernten Nachfahren des berühmten Marinekommandanten war das Roots Festival eine sehr tiefgreifende und bewegende Erfahrung. Die Afrikareise hat ihn nach eigener Auffassung viel über die Opferperspektive auf die Geschichte des Sklavenhandels gelehrt.241 Seinen Entschluss hat er daher nicht bereut, obwohl ihn die Konsequenzen, die ihn bei seiner Rückkehr nach Großbritannien erwarteten, verletzten und verärgerten. In seiner Heimat war er nämlich zum »public enemy number one for the no-apology lobby« 242 geworden. Die öffentlich geäußerten Reaktionen reichten von der Bezeichnung seines Engagements als »publicity-seeking« über »ridiculous« bis »beyond fatuous« und »absolutely nauseating«; der Inhalt der »electronic hatemail«243, die einige seiner Landsleute ihm persönlich schickten, dürfte mindestens so deutlich ausgefallen sein. Ähnliche Vorwürfe und von dem gleichen »Hass« erfüllte E-Mails wurden im Jahr darauf auch an die Teilnehmer/-innen des March of the Abolitionists adressiert. »The response tends to be hostility and anger […]. People tell us we have no right to make people feel guilty.«244 Der schwerste Moment des Weges war für David Pott allerdings eine Konfrontation in Liverpool, die sich nach einem verbalen Angriff einer »schwarzen« Person auf die Gruppe ergab, und deren Verlauf er wie folgt beschrieb: »I went over to him, to try to explain to him that he should respect the African presence on our team and that it was not just a white thing, but he just glared at me eyeball to eyeball and carried on ranting at me and releasing masses of anger and bitterness.«245 Der historische Rollenwechsel, der von den »weißen« Gläubigen inszeniert wurde, konnte demnach auch die Adressatinnen und Adressaten ihrer Versöhnungsgeste nicht durchweg überzeugen. Die Reaktionen auf die Entschuldigungsrituale der Lifeline Expedition fielen entsprechend der von ihr verwendeten Mittel drastisch aus. Sie zeugen von der Polarisierung zwischen »weißen« Britinnen und Briten, die mit patriotischem
239 Hamilton, Alan: »Slaver’s descendant begs forgiveness«, in: The Times vom 22.6.2006. 240 Ebd. 241 Vgl. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006. Vgl. auch das Kapitel Perspektiven der Erinnerung. 242 Zit. n. ebd. 243 Ebd. 244 Andrew Winter, einer der Mitläufer der Lifeline Expedition, zit. n. Woods, Richard/Booth, Robert: »Forgive but don’t forget«, in: The Sunday Times vom 18.3.2007. 245 Lifeline Expedition: Presserklärung (Mai 2007).
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Stolz an ihrer Nationalgeschichte als Heldenerzählung festhalten wollen, und einer politisierten »schwarzen« Minderheit, die derzeit nicht bereit erscheint, ohne substantielle Zugeständnisse Versöhnlichkeit zu gewähren.
DAS JUBILÄUM 2007: DER 200. JAHRESTAG DES SLAVE TRADE ABOLITION ACT (K)ein »Wilberfest«? Das Jubiläum zwischen Feier und Gedenken Gefördert von der Labour-Regierung unter Tony Blair wurde dem 200. Jahrestag des Slave Trade Abolition Act 2007 ein ganzes Gedenkjahr gewidmet. »[It] provoked an extraordinary range of community events, media programming and museum exhibitions in Britain«.246 Mit diesem Jahr verfügt die erinnerungskulturelle Entwicklung in Großbritannien über einen zentralen Dreh- und Angelpunkt und einen »›watershed‹ moment«247, der es erlaubt, sie in eine Zeit vor und nach dem Bicentenary zu unterteilen. Kaum eine kulturelle Einrichtung, deren Ausrichtung Anknüpfungsmöglichkeiten zur Geschichte bot, ließ die Chance zur Partizipation am großen Jubiläum ungenutzt.248 Als besonders relevant bezeichnet werden kann die erste historische Dauerausstellung zum Thema in der Hauptstadt, die unter dem Titel »London, Sugar and Slavery« im heutigen Museum of London Docklands eröffnete und zu der auch ein thematisch passender Stadtrundgang gehört.249 Vom Standpunkt der »seafaring nation« ausgehend wird die Geschichte in der Galerie »The Atlantic: Slavery, Trade and Empire« betrachtet, die seit Ende 2007 im National Maritime Museum in London besucht werden kann. Eine weitere, in diesem Fall temporäre Londoner Ausstellung, »The British Slave Trade: Abolition, Parliament and People«, erhielt herausragende Bedeutung durch ihren Standort im Parlamentsgebäude und die Auswahl hochkarätiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Konzept in Zusammenarbeit mit interessierten Abgeordneten erarbeitet hatten.250
246 Paton, Diana: »Interpreting the Bicentenary in Britain«, in: Slavery & Abolition 30/2 (2009), S. 277-289, hier S. 277. 247 Wilson, Ross: The Curatorial Complex. Making the Abolition of the Slave Trade, in: Smith, Laurajane u.a. (Hg.), Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon 2011, S. 131-146, hier S. 131; ebenso Munroe, Leanne: Negotiating Memories and Silences. Museum Narratives of Transatlantic Slavery in England, in: Dessingué, Alexandre/Winter, Jay (Hg.), Beyond Memory. Silence and the Aesthetics of Remembrance, Abingdon/New York, NY 2016, S. 175-193, hier S. 181. 248 Für das Projekt »1807 Commemorated« wurden insgesamt 60 thematische Ausstellungen einer detaillierten Analyse unterzogen, vgl. L. Smith u.a.: Anxiety and Ambiguity, S. 2. 249 Vgl. Spence, David: »Making the London, Sugar and Slavery Gallery at the Museum of London Docklands«, in: Laurajane Smith u.a. (Hg.), Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon: Routledge 2011, S. 149-163. 250 Vgl. S. Farrell/M. Unwin/J. Walvin (Hg.): The British Slave Trade.
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Aber nicht nur die hauptstädtischen Institutionen widmeten sich der Geschichte des Sklavenhandels. Ein großer Publikumserfolg war auch die Ausstellung »Breaking the chains«, die knapp zwei Jahre lang im British Empire and Commonwealth Museum in Bristol zu sehen war.251 Zudem wurde die älteste britische Dauerausstellung im Geburtshaus von William Wilberforce in Hull komplett überarbeitet und feierlich neu eröffnet. Dem Einsatz der in Großbritannien hoch angesehenen königlichen Marine war unter anderem die Ausstellung »Chasing Freedom: The Royal Navy and the Suppression of the Transatlantic Slave Trade« gewidmet, die 2007 im Royal Naval Museum in Portsmouth gezeigt wurde. 252 In Birmingham zog dagegen eine Olaudah Equiano gewidmete Ausstellung 30.000 Besucherinnen und Besucher an.253 »At the local level churches and community groups set up innumerable activities«.254 So umfasste das Gedenkjahr außerdem eine Vielzahl von karibischen und afrikanischen Kulturveranstaltungen, Wettbewerbe und Mitmachaktionen für Kinder und Jugendliche, spezielle Stadtführungen, weltliche und geistliche Gedenkzeremonien, öffentliche Reden und Vorträge, aber auch wissenschaftliche Konferenzen, Demonstrationsmärsche und mehr.255 Die Aktivitäten konzentrierten sich in London, Bristol, Hull und Liverpool. Aber auch an Orten, deren Geschichte weniger direkt mit dem transatlantischen Sklavenhandel verbunden ist, fanden Veranstaltungen statt. Dies gilt nicht nur für England, sondern auch für Wales und Schottland.256
251 Einen Überblick über die Inhalte vermittelt »Breaking the chains. The fight to end slavery«, www.empiremuseum.co.uk/exhibitions/st2007.htm. Vgl. auch McLeod, Corinna: »Negotiating a National Memory. The British Empire & Commonwealth Museum«, in: Dominic Thomas (Hg.), Museums in Postcolonial Europe, Abingdon/New York, NY: Routledge 2012, S. 33-40. 252 Das Museum heißt inzwischen National Museum of the Royal Navy, zur Ausstellung vgl. http://www.history.ac.uk/1807commemorated/exhibitions/museums/chasing.html. 253 Walvin, James: »The Slave Trade Abolition and Public Memory«, in: Transactions of the Royal Historical Society, Sixth Series, 19 (2009), S. 139-149, hier S. 140. 254 Hall, Catherine: »Afterword. Britain 2007, Problematising Histories«, in: Cora Kaplan/John R. Oldfield (Hg.), Imagining Transatlantic Slavery, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 191-201, hier S. 192. 255 Für einen Überblick über die wichtigsten Veranstaltungen vgl. HMG: 1807-2007 und HMG: Way Forward. 256 Speziell zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sklavenhandels in Schottland vgl. v.a. die Berichterstattung der (Sunday) Times: Fry, Michael: »Scots the builders of bridges«, in: The Sunday Times vom 6.10.2002; McIntyre, Ian: »Bravehearts and blaggards (Feature/Rezension zu Thomas M. Devine, Scotland’s Empire, 1600-1815, London 2003)«, in: The Times vom 6.12.2003; Horne Marc: »Apologise for role in slavery, Frees told«, in: The Sunday Times vom 22.1.2006; McAlpine, Joan: »Did slavery make Scotland great?«, in: The Sunday Times vom 12.11.2006; Horne, Marc/Langlands, Eva: »Burns’s slavery ›apology‹ attacked«, in: The Sunday Times vom 28.1.2007; Macaskill, Mark: »Hamilton has a Scots slave name«, in: The Sunday Times, 22.7.2007; Sweeney, Charlene: »Ghostly figures emerge to reveal hidden legacy of Glasgow’s colonial past«, in: The Times vom 17.8.2007; Sweeney, Charlene: »The ›hard men‹ of Empire who made up the dark side of Scottish diaspora«, in: The Times vom 30.10.2008; Devine, Tom: »When it
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Die britischen Medien und insbesondere die BBC, die in ihrer von Chantal Benjamin-Badjie koordinierten Abolition Season 30 Stunden Sonderprogramm sendete, befanden sich ebenfalls im »commemoration mode«.257 Viel gelobt, aber auch kritisiert wurde zudem der Kinofilm »Amazing Grace«, eine britisch-amerikanische Ko-Produktion, die in erster Linie die Rolle des britischen Parlamentes für die Abschaffung des Sklavenhandels thematisiert. Angesichts der Tragweite kann es nicht überraschen, dass die Wirkung des Jubiläums über das Jahr 2007 selbst hinausreichte. Nicht nur die Erklärung von Tony Blair in der Zeitung New Nation und die Entschuldigung der anglikanischen Kirche fielen in die Monate des Vorjahres.258 So wurde etwa im Juli 2006 in Hull das Wilberforce Institute for the Study of Slavery and Emancipation (WISE) offiziell eröffnet259, und die Lancierung von Programmen zur historischen Neukontextualisierung von Landhäusern unter der Verwaltung von National Trust und English Heritage wurde im Herbst desselben Jahres publik gemacht. 260 Genauso wirkte das Jahr des Gedenkens nach, und spätere prominente Initiativen, wie die Errichtung des kommunalen Denkmals Gilt of Cain in London (2008) oder die Einführung eines offiziellen britischen Gedenktags am 23. August (ebenfalls 2008) stehen in einem direkten Zusammenhang. Der Umfang des Gedenkens entzieht sich mithin der Gesamtschau261, und das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf die Höhepunkte und Leitlinien der offiziellen
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comes to slavery Scots were the worst«, in: The Sunday Times vom 10.8.2008; vgl. außerdem Hemp, Jackie: »Tartan and home truths. A new centre for the study of the Scottish diaspora is already caught up in controversy«, in: The Guardian vom 25.11.2008. Interessante Akzente im Ausstellungsbereich setzte das Museum of Edinburgh mit der Ausstellung »It didn’t happen here«, nämlich: »challenging the national orthodoxy that it was the English who were responsible for slavery while the Scots led the way on anti-slavery.«, C. Hall: Afterword, S. 192. Ebd. Die ursprüngliche Website der BBC zum Programm ist selbst nicht mehr verfügbar. Der Rahmen, in dem historische Informationen vermittelt wurden, lässt sich nachvollziehen unter www.bbc.co.uk/history/british/abolition und http://www.bbc.co.uk/worldser vice/specials/1458_abolition/index.shtml. Vgl. auch B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History. Für eine kritische Besprechung der wichtigsten Rundfunkproduktionen rund um den Jahrestag vgl. Wilson, Ross: Remembering to forget: the BBC Abolition Season and public memory, www.history.ac.uk/1807commemorated/media/analysis/remem bering.html. Vgl. das Kapitel So sorr… owful. Die Debatte um Entschuldigung und Entschädigung. Brennan, Clare: »Research will shine light on a dark period«, in: The Times vom 18.2.2005; Wainwright, Martin: »Slave trade research unit in Wilberforce birthplace«, in: The Guardian vom 7.7.2006. Reynolds, Nigel: »English Heritage searches for links to slavery«, in: The Daily Telegraph vom 26.10.2006; Brooks, Richard: »National Trust to reveal properties built with profits from slave trade«, in: The Sunday Times vom 31.12.2006. So lehnt auch Marcus Wood in seiner umfassenden Studie zur Erinnerung an Abolition und Emanzipation einen entsprechenden Versuch aus praktischen Gründen ab und greift einzelne »key cultural moments« heraus, die er in seinen theoretischen Rahmen einbettet. M. Wood: Horrible Gift, S. 296 ff. Das Ausmaß des öffentlichen Gedenkens hat die akademi-
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Geschichtspolitik sowie die von ihr provozierten Reaktionen. Da im Rahmen des Bicentenary nicht nur an die Abschaffung des Sklavenhandels, sondern auch an die koloniale Sklaverei als solche erinnert wurde, stand das Gedenken insgesamt unter dem Vorzeichen einer deutlichen Spannung zwischen den Polen »celebration« und »atonement«. Diese spiegelte sich nicht zuletzt in den beiden geschichtspolitischen Hauptereignissen: Am 27. März, im unmittelbaren Anschluss an den eigentlichen Jahrestag der Verabschiedung des Slave Trade Abolition Act, wurde in der Kathedrale von Westminster Abbey ein Gedenkgottesdienst unter der Leitung von Very Rev. John Hall, Dean of Westminster, abgehalten. Unter den zahlreichen hochrangigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern befanden sich auch der Premierminister und weitere Mitglieder der amtierenden Regierung sowie die Königin mit ihrem Ehemann. Bei dem zweiten repräsentativen Ereignis handelte es sich um die offizielle Eröffnung des International Slavery Museum in Liverpool am 23. August, dem Jahrestag des Aufstandsbeginns im heutigen Haiti. Die unterschiedlichen erinnerungskulturellen Implikationen, welche die gewählten Daten insbesondere im Hinblick auf die Rolle von Black Agency tragen, prägten die Organisation und die Wahrnehmung des Bicentenary. Dabei war die Museumseröffnung dem Gottesdienst nicht nur chronologisch, sondern auch von der Rangfolge der Anwesenden nachgeordnet. Der in der nationalen Politik namhafteste Teilnehmer war John Prescott als Stellvertreter des Premierministers. Insgesamt hatte die Labour-Regierung an der »unprecedented explosion of activities«262, die sich der Geschichte des Sklavenhandels zuwandten, einen beträchtlichen Anteil. »Across all this activity there was cast a political shadow. Tony Blair’s government showed a keen interest in the bicentenary of abolition. A committee was established, chaired by the deputy prime minister, John Prescott, and consisting of prominent figures from various bicentenary organisations and institutions.«263 Das Beratungsgremium, das für die Ausarbeitung der inhaltlichen Leitlinien zuständig war, trat erstmals im Januar 2006 zusammen. Beteiligt waren sowohl Historikerinnen und Historiker, unter ihnen James Walvin, als auch Vertreterinnen und Vertreter der englischen Kirche sowie Delegierte »zivilgesellschaftlicher afrikanischer und afrikanischkaribischer Organisationen [...], darunter auch Kofi Mawuli Klu, Koordinator von ›Rendezvous of Victory‹«.264 Da Prescott als Abgeordneter des Wahlkreises Hull ein parlamentspolitischer Nachfolger von William Wilberforce war, konnte er zugleich eine besondere Verbindung zur Geschichte der Abolition geltend machen.265 Nach außen vertreten wurden die geschichtspolitischen Grundlinien zudem von hochrangingen
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sche Auseinandersetzung entsprechend angeregt, insbesondere die sehr zahlreichen Museumsausstellungen wurden intensiv analysiert. Zur Forschungsliteratur zum Themenkomplex Sklaverei und Museum vgl. das Kapitel Forschungsstand und Forschungssperspektiven. C. Hall: Afterword, S. 191. J. Walvin: The Slave Trade Abolition and Public Memory, S. 145. J. Grillitsch: Gedenkjahr 2007, S. 147. Auch andere Abgeordnete versuchten immer wieder, die Geschichte vor allem der begrenzten Perspektive ihres Wahlkreises oder ihrer politischen Person unterzuordnen. Der rhetorische Rahmen der Parlamentspolitik wurde hier also auch auf das historische Gedenken übertragen.
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»schwarzen« Politikerinnen und Politikern wie Valerie Amos und Kulturminister David Lammy, selbst »descendant of freed slaves«.266 Wesentlich war in diesem Zusammenhang aber auch die Zuteilung von Finanzmitteln. »The British government [...] threw an awful lot of money at a publicity drive surrounding the bicentenary.«267 Über den Heritage Lottery Fund, der administrativ dem DCMS zugeordnet ist, stellte sie die beachtliche Summe von insgesamt 20 Millionen Pfund für die Jubiläumsveranstaltungen zur Verfügung.268 Fast die Hälfte floss in das ISM in Liverpool; die Aktualisierung von Wilberforce House und die Einrichtung der Dauerausstellung »London, Sugar and Slavery« wurden ebenfalls mit größeren Summen unterstützt. Über ein Ausschreibungsverfahren konnten sich auch Vertreterinnen und Vertreter kleinerer Initiativen um eine Förderung bewerben: »[T]he Heritage Lottery Fund is encouraging community-based organisations and others to apply for funding for projects inspired by the Bicentenary«, betonte das DCMS.269 Insgesamt profitierten aber vor allem etablierte Institutionen von der Zuweisung öffentlicher Gelder.270 Einige der international stattfindenden Gedenkveranstaltungen waren in ihrer Organisation und Finanzierung ebenfalls direkt von der britischen Regierung bzw. dem in enger Absprache agierenden British Council abhängig. 271 Dieser integrierte eine
266 David Lammy, Parliamentary Under-Secretary of State for Culture, Media and Sport (Labour), 13.12.2005, C. 411WH. 267 M. Wood: Horrible Gift, S. 308 268 Die Summe von 20 Millionen Pfund für »events large and small« nennt HMG: Bicentenary, S. 22, ebenso Woods, Richard/Booth, Robert: »Forgive but don’t forget«, in: The Sunday Times vom 18.3.2007. Bis Ende des Jahres sollen 14 Millionen Pfund für 180 Projekte ausgegeben worden sein, HMG: Way forward, S. 4, 19. Diese Bilanz widerspricht einer früheren Angabe des DCMS, nach der schon 16 Millionen Pfund zugeteilt worden seien, DCMS: Reflecting on the past, S. 6. 269 Ebd., S. 14. »The largest Heritage Lottery Fund award for a community project was £408,000 to Leeds West Indian Centre Charitable Trust.«, HMG: Way forward, S. 21. Aus den Projekten ging u.a. eine neue Dauerausstellung zur afrikanischen Diaspora im Stadtmuseum hervor. 270 Vgl. auch die Kritik von Marcus Wood an der Verteilung der Fördergelder, mit denen überwiegend städtische Museen unterstützt wurden und eben nicht die von Catherine Hall hervorgehobenen lokalen Gemeinde- und Gemeinschaftsinitiativen, M. Wood: Horrible Gift, S. 308, Anm. 33. Der HLF selbst bilanzierte seine Aktivitäten folgendermaßen: »Insufficient time, money and resources were available to build capacity within BAME [Black Asian and Minority Ethnic] organisations. This impacted on their ability to run projects on an equal footing with larger mainstream organizations.«, Heritage Lottery Fund: A review of HLF’s activity during 2005-2007 to mark the bicentenary of the abolition of the slave trade in British ships (2007), o.O. 2009, www.hlf.org.uk/aboutus/howwework/Documents/ Bicentenary_review_09%20.doc. 271 Vgl. M. Wood: Horrible Gift, S. 308 ff., 352 f. Eine prominente Stellung nahm in diesem Zusammenhang die Gedenkfeier in Ghana ein, bei der eine hochrangige britische Delegation anwesend war, vgl. hierzu v.a. Herbstein, Manu: »Reflections in a Shattered Glass. The British Council’s Celebrations of the Bicentenary of the 1807 Act for the Abolition of the Slave Trade in Ghana«, in: Slavery and Abolition 30/2 (2009), S. 197-207.
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persönliche Videobotschaft von Tony Blair, die am Jahrestag des Slave Trade Abolition Act auch von der BBC ausgestrahlt wurde, in seine Zeremonie in Ghana. 272 Zusammenfassend kann also gelten: »The government remain the source and primary instigators of the commemoration«.273 Zudem spielten Impulse aus dem Umfeld der christlichen Kirchen weiterhin eine wichtige Rolle. Würdenträger der Church of England beteiligten sich aktiv an den öffentlichen Debatten und waren wichtige Kooperationspartner der Parteipolitiker/ -innen. Dabei führten sie den im Vorfeld erprobten Zugang zur Geschichte des Sklavenhandels fort und setzten damit bisweilen von der Hauptlinie abweichende Akzente. So übten die Geistlichen auch Druck auf die Regierung aus, die gerade Demonstrationen der Reue und Bußfertigkeit wenig zugeneigt war. Doch nicht nur die Staatskirche engagierte sich für das Jubiläum des Slave Trade Abolition Act, für dessen Verabschiedung sich seinerzeit vor allem Anhängerinnen und Anhänger nonkonformistischer Glaubensströmungen, allen voran die Society of Friends (Quäker), ausgesprochen hatten. Für die Kampagne Set All Free schlossen sich verschiedene christliche Glaubensbekenntnisse unter der Leitung des Dachverbandes Churches Together in England zusammen, um gemeinsam unter anderem die Organisation des zentralen Gedenkgottesdienstes zu übernehmen.274 Set All Free unterstützte auch den umstrittenen March of the Abolitionists der Lifeline Expedition.275 Vehementer Protest, der sich gegen den allgemein vorherrschenden Tenor und die Gedenkpolitik der Regierung im Besonderen wandte, wurde unter dem bezeichnenden Motto »(Operation) Truth 2007: Challenging abolition myths« vor allem von einem Bündnis panafrikanisch orientierter Gruppierungen geäußert. Die Federführung übernahm dabei die Ligali Organisation, die, wie andere der beteiligten Vereinigungen
272 Vgl. Hinsliff, Gaby: »Bishops call for Blair slavery apology. Expressing Britains ›profound regret‹ is not enough, Archbishop of the West Indies says«, in: The Observer vom 24.3.2007; vgl. Ward, David: »Blair is asked to apologise for British role in slave trade«, in: The Guardian vom 26.3.2007 zur »video message from Mr Blair at an event yesterday in Ghana to mark the 200th anniversary of Britain abolishing the trade in slaves, expressing ›deep sorrow and regret‹ and saying the legislation, pushed through by William Wilberforce, began the ending of a shameful chapter.« In seiner Botschaft wiederholte Blair also wesentliche Elemente, die bereits seinen Zeitungsartikel für New Nation aus dem November 2006 ausgemacht hatten. 273 Sis Jendayi [Serwah]: Operation Truth 2007. Challenging Abolition Myths 2007, www.li gali.org/article.php?id=589. 274 Die eigene Webseite des Projektes unter der Leitung von Richard Reddie ist inzwischen nicht mehr online, zum Zeitpunkt des Verfassens der Arbeit waren programmatische Materialien noch verfügbar unter Wilberforce Central, Set All Free Resources, www.wilber forcecentral.org/wfc/Coalition/coalitionSAF.htm. Vgl. außerdem Reddie, Richard S.: Abolition! The Struggle to Abolish Slavery in the British Colonies, Oxford: Lion Books 2007. 275 Vgl. das Kapitel Schuld und Sünde: Die Rolle der Anglikanischen Kirche.
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auch, primär von Menschen afrikanischer oder afro-karibischer Herkunft bzw. Abstammung getragen wird.276 Ende März trafen Vertreter/-innen der verschiedenen erinnerungskulturellen Richtungen in London zusammen bzw. aufeinander, und der Gottesdienst in Westminster Abbey wurde zu einem Kulminationspunkt, an dem die Spaltungen entlang der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel zum öffentlichen Eklat führten. Während sich das offizielle Gedenken in Frankreich im Rahmen der Journée nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions auf ein zu diesem Zweck geschaffenes Datum ohne konkreten Geschichtsbezug konzentriert, gab der Jahrestag in Großbritannien einen für alle Beteiligten mehr oder weniger verbindlichen historischen Bezugsrahmen vor. Da die Erinnerungsrituale sich über mehrere Monate hinweg entfalten konnten, bot das Bicentenary zugleich mehr Möglichkeiten, die Last der symbolischen Bedeutungen auf eine größere Zahl von Personen, Orten und Aktionen zu verteilen. Den meisten Interessierten und nicht zuletzt den Vertreterinnen und Vertretern der Regierung war dabei von vornherein bewusst, dass eine reine Erfolgsfeier zu Ehren der britischen Abolitionsbewegung zum gegebenen Zeitpunkt keine Option (mehr) darstellte – unabhängig davon, ob sie dies für tendenziell wünschenswert hielten oder nicht. So stellte sich auch für die Menschen in Großbritannien die Frage, was nun eigentlich gefeiert werden sollte – und ob es überhaupt einen Grund zum Feiern gab. Bei einschlägig ausgewiesenen Historikern wie James Walvin weckte die Abschaffung des Sklavenhandels als Gedenkanlass die Befürchtung historischer Engsicht: »My worry about 2007 is that there will be such a euphoria of nationalistic pride that people will forget what happened before, which was that the British had shipped extraordinary numbers of Africans across the Atlantic.«277 Für den konservativen Unterhausabgeordneten Malcolm Moss schien dagegen zweifelsfrei klar: »It is right that we should [...] celebrate – that is the key word – the bicentenary of the Abolition of the Slave Trade Act 1807.«278 Konkret seien in erster Linie die berühmten (»weißen«) Männer zu würdigen, »people such as William Wilberforce, Granville Sharp, James Ramsay and Thomas Clarkson«, und ebenso »the places with connections to those great social pioneers – the towns and villages the length and breadth of the country that take immense pride in their famous sons and daughters.«279 Zu diesen Orten zählt insbesondere die Stadt Hull, deren Vertreterin im House of Commons Diana Johnson für ihren Wahlkreis eine gedenkpolitische Führungsrolle beanspruchte und daher bereits im Dezember 2005 eine parlamentarische Debatte zum Thema initiierte. Sie freute sich auf »34 weeks of celebration«280 von März bis Oktober, die neben vielem anderen auch 276 Die Webseite www.operationtruth2007.co.uk ist inzwischen nicht mehr verfügbar, die Ziele und der Informationsverlauf zum Bicentenary lassen sich aber nachverfolgen über die Seiten der Ligali Organisation, www.ligali.org/truth2007/index.htm. 277 Hunt, Tristam: »Easy on the euphoria«, in: The Guardian vom 25.3.2006. 278 Malcolm Moss, konservativer Abgeordneter des Unterhauses für North-East Cambridgeshire, House of Commons, 20.3.2007, C. 737. 279 Ebd. Immerhin erwähnte Moss im Einklang mit der offiziellen Regierungsrhetorik neben den klassischen Helden der Abolitionsbewegung auch »thousands of ordinary people, many slaves and freed slaves who supported the campaign.« 280 Diana R. Johnson, Labour-Abgeordnete des Unterhauses für Kingston upon Hull, North, House of Commons, 13.12.2005, C. 410WH.
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ein Fußballturnier um den Wilberforce Cup beinhalten sollten, für das sich das Publikum wahlweise mit »William Wilberforce Freedom ale« oder »William Wilberforce Freedom fair trade coffee« in Stimmung bringen konnte.281 Schon diese frühe Thematisierung der laufenden Planungen im Parlament – und in diesem Zusammenhang gerade die wiederholte Hervorhebung von Wilberforce282 – ließ bei den späteren Initiatorinnen und Initiatoren von Operation Truth 2007 die erinnerungskulturellen Alarmglocken schrillen. Ligali sah sich hiervon zur Formulierung einer formalen Protesterklärung veranlasst283, die von einer deutlich anderen Prämisse ausging: »The purpose of any commemorative event related to the fight against injustice is to remember and pay tribute to those who suffered and fought under unjust and oppressive systems«. 284 In dem Dokument wurden Einwände erhoben, die um drei Hauptthemen kreisten: erstens die aus Sicht der Verfasser/-innen weder moralisch noch politisch gerechtfertigte Überbewertung der Abolitionsbewegung; zweitens die bis heute kontinuierlich fortdauernde Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und der Menschen, die ihm durch Wohnort, Herkunft oder das Erbe einer Hautfarbe verbunden sind; und drittens die Würdigung der historischen Rolle afrikanischer Freiheitskämpfer.285 Im Kern ging es um eine Verteilung von positiv und negativ besetzter Agency zuungunsten von »weißen« Britinnen und Briten, welche die positive Rolle in der Geschichte bislang für sich beanspruchten. Dabei wurde der dritte Punkt als Hauptargument in den Vordergrund der Erklärung gerückt. Diese forderte außerdem eine offizielle Entschuldigung sowie Reparationen für den als Verbrechen gegen die 281 Dies., House of Commons, 20.3.2007, C. 736. Eine solche Marketingstrategie ist ebenso wie die zugehörigen Getränke zwar eine Geschmacksfrage, sie fügt sich aber zumindest schlüssig in die Perspektive des historischen Mythos ein. Allenfalls spekulieren kann man dagegen über die Gründe einer Brauerei, ihr hoch gehandeltes Bicentenary-Bier ausgerechnet nach dem wahrscheinlich berüchtigsten Sklavenschiff aller Zeiten zu benennen – will man die Aktion nicht als Ergebnis eines Mangels an Überlegung und Sensibilität abtun. Malcolm Moss scheint dennoch keine Bedenken gehabt zu haben, als er seinen Kolleginnen und Kollegen im Parlament ankündigte: »[T]he renowned brewery in Wisbech, Elgoods brewery, which brews an extremely palatable real ale, will brew a special ale to be known as the Brookes ale, named after Clarkson’s ship which he drew and took round to show people how the slave were packed into such vessels. The ale will be launched at the same exhibition opening on 23 May and will be available to all quaffers of such ale in the bars of the Palace of Westminster from 23 May till the end of our summer term.«, ebd. 282 In einer Aktion, die nachträglich in die offiziellen Kommentare der Operation Truth 2007 eingeordnet wurde, stellte Ligali u.a. einen Auszug aus der Debatte im House of Commons am 13.12.2006 ins Internet, der den »Betrug« des offiziellen Beratungsgremiums für die Planungen des Jubiläums an den Afrikanerinnen und Afrikanern belegen sollte. Jede der zahlreichen Nennungen des Namens von William Wilberforce wurde in dem Text hervorgehoben, vgl. Ligali Organisation: The Betrayal. Commemorating Wilberforce, ignoring Africans, www.ligali.org/article.php?id=426. Dies verdeutlicht sehr anschaulich das Provokationspotential, das dem Personenkult um den Parlamentarier aus Hull zueigen war. 283 Ligali Organisation: Declaration of Protest. 284 Ebd., S. 4. 285 Ebd. Vgl. auch Ligali: Operation Truth 2007, www.ligali.org/truth2007/position.htm; T. Agbetu: Restoring the Pan-African Perspective, S. 64 ff.
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Menschlichkeit bezeichneten Sklavenhandel, bevor sie mit einem Appell für die Einführung eines African Remembrance Day schloss. 286 Anstelle der Mitglieder der SEAST, die in erster Linie als Rassisten und Befürworter des nach 1807 weiter bestehenden kolonialen Zwangsarbeitssystems erscheinen, sollten an diesem Tag »afrikanische« Menschen gefeiert werden, die sich dem auf ihre Unterwerfung ausgerichteten System entgegen gestellt hatten. Neben dem politischen Engagement von Olaudah Equiano wird in dem Text auch der gewaltsame Widerstand im Zuge von Aufständen in den Rahmen einer primär afrikanischen Freiheitsbewegung eingeordnet, deren Ziel die Abschaffung der Sklaverei an sich gewesen sei. Die Angst vor einem Umsturz der herrschenden Strukturen durch die rebellierenden Sklaven wird als entscheidender Antriebsfaktor des Abolitionismus betrachtet, so dass sich die britische Gesetzgebung wie ein reaktives Zugeständnis darstellt.287 Zusätzlich wird die Vorstellung, dass die europäische Abolitionsbewegung in erster Linie moralisch motiviert gewesen sei, als Mythos abgetan.288 Die britische Politik erscheint zudem als grundsätzlich kompromittiert durch den langen und zögerlich beschrittenen Weg zur formalrechtlichen Emanzipation in den 1830er Jahren sowie die Auszahlung von Kompensationen an die Plantagenbesitzer. Für die Afrikaner/-innen und vormaligen Versklavten wird das Emanzipationsgesetz im Angesicht von Kolonialismus, Neokolonialismus, Apartheid und Rassismus nicht als entscheidender Wendepunkt angesehen. Für das Jahr 2007 riefen die Unterstützerinnen und Unterstützer der Operation Truth, unter ihnen auch Esther Stanford, daher zum Boykott der Gedenkveranstaltungen auf, die dieser Sicht auf die Geschichte nicht genügen konnten.289 So trat im Rahmen des Jubiläumsjahres nicht zuletzt eine Veränderung des erinnerungskulturellen Status Quo zutage: »[T]he old consensus, the one that traditionally focused almost exclusively on Britain’s tradition of humanitarianism, has broken down.«290 Vor diesem Hintergrund wurde immer wieder auch versucht, in einer geschichtspolitischen tour de force erinnerungskulturelle Entwicklung zu beweisen. Verschiedene Elemente der Geschichte von kolonialer Sklaverei und transatlantischem Sklavenhandel wurden dabei mit großer Regelmäßigkeit demonstrativ erwähnt. Hierzu gehörten das Ausmaß des Leidens der Versklavten, aber auch der maßgebliche Anteil britischer Geschäftsleute am transatlantischen Menschenhandel, die resultierenden wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen, die Rolle der Profite für die Entwicklung des Landes, die Leistungen afrikanischer Akteure für die Abolitionsbewegung sowie die anhaltenden Nachwirkungen der Geschichte. Oftmals wurden diese Aspekte 286 Vgl. Ligali: Declaration of Protest, S. 10. 287 »Such rebellions exposed the fundamental flaw in the 1807 declaration and forced the final end to Britain’s formal exploitation of enslaved Africans. Eventually, two British parliamentary committees on enslavement concluded that ›if the British government didn’t bring an end to slavery in the colonies peaceably, then those [Caribbean] islands would soon be drenched in blood, [because] the slaves would in the end emancipate themselves‹.«, ebd., S. 14. 288 Ebd., S. 5. 289 Vgl. hierzu Ligali Organisation, www.ligali.org/truth2007/support.htm. 290 Kaplan, Cora/Oldfield, John: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Imagining Transatlantic Slavery, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 1-14, hier S. 12.
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jedoch wie in einer Pflichtübung vorgetragen und gingen nur eine recht mühsam konstruierte Verbindung mit der augenscheinlich vertrauteren nationalstolzen Rhetorik ein. Diese passte letztlich auch besser zu einem Veranstaltungsprogramm, das unter dem Logo Abolition 200 oder gar Wilberforce 2007 firmierte.291 So lässt sich zwar einerseits mit den Worten von Catherine Hall konstatieren, »that orthodox histories have been at least partially disrupted and new narratives of slavery and emancipation have achieved a much greater level of public visibility.«292 Andererseits muss hinzugefügt werden: »[A] narrative of white British self-congratulation and pride dominated the most visible responses to the bicentenary.«293 Insbesondere die Herangehensweise des politischen Establishments erweckte daher bei denjenigen, die sich aktiv mit der historischen Opferperspektive identifizierten, den Eindruck einer herablassenden Behandlung: »[T]he message is clear: ›They freed us, we should be grateful, commemorate and move on‹. Box ticked.«294 Die historische Tatsache, dass es sich bei dem im März 1807 verabschiedeten Gesetz tatsächlich nicht um die Emanzipation der Versklavten handelte, sondern um das Verbot einer weiteren britischen Beteiligung am transatlantischen Handel mit entrechteten Menschen aus Afrika, konnten allerdings auch enthusiastische Befürworter/-innen eines Wilberforce-Festes nicht ignorieren. Die kritische Frage, ob der eigentliche historische Anlass den Aufwand und die Feierstimmung überhaupt rechtfertige und ob Großbritannien damit nicht bis zum Jahrestag der Emanzipationsgesetzgebung hätte warten sollen, wurde nur vereinzelt gestellt.295 Jede halbwegs kohärente geschichtspolitische Argumentation musste aber zumindest indirekt eine Antwort bieten.296 Rhetorisch gelöst wurde das Problem sowohl in der Politik als auch in den Medien in der Regel dadurch, dass der Slave Trade Abolition Act in einem vom Ergebnis ausgehenden Rückblick als »erster Schritt« in Richtung eines größeren Ziels dargestellt wurde, »the beginning of the end for the transatlantic traffic in human beings«297 und »first piece of legislation to make slavery illegal.«298 Trotzdem kam es nicht nur bei Journalistinnen und Journalisten der großen Tageszeitungen wiederholt zu Verwirrung und
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So lauteten die Titel des Veranstaltungsprogramms in Bristol bzw. Hull. C. Hall: Afterword, S. 192. D. Paton: Interpreting the Bicentenary, S. 279. J. Serwah: Operation Truth. Vgl. z.B. Reynolds, Gillian: »Slavery – a topic that makes everyone angry«, in: The Daily Telegraph vom 27.3.2007; E. Stanford: Reparations public debate. 296 Bemerkenswert ist in an dieser Stelle, wie auch Diane Paton und Jane Webster hervorheben, dass weder in Dänemark noch in den USA ein auch nur annähernd vergleichbarer Aufwand betrieben wurde, obwohl dort die Beteiligung der Landsleute am Sklavenhandel früher bzw. nahezu zeitgleich verboten wurde, wenn auch unter anderen Umständen und mit anderen Konsequenzen. Paton, Diane/Webster, Jane: »Introduction. Remembering Slave Trade Abolitions: Reflections on 2007 in International Perspective«, in: Slavery & Abolition 30/3 (2009), S. 161-167. 297 DCMS: Reflecting on the past, S. 3. 298 John Prescott, stellvertretender Premierminister der Labour-Regierung, House of Commons, 20.3.2007, C. 688.
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Verwechslung im Hinblick auf die lange Geschichte von Abolition und Emanzipation.299 Die Tatsache, dass die Menschen, die vor mehr als 200 Jahren für ein Verbot des Sklavenhandels eingetreten waren, zumeist pauschal als Gegner/-innen der Kolonialsklaverei dargestellt wurden, dürfte hierzu ihren Teil beigetragen haben. Zusammen mit einer oft positiven Feierstimmung warf die Verbreitung dieser Darstellung allerdings auch eine entscheidende Frage auf, die sich unter anderem der Schauspieler Kwame Kwei-Armah stellte: »[I] wonder whether this subconscious blurring of two very different, yet momentous, events […] does not reveal how we Brits […] really feel about this year-long commemoration.«300 Einem in Bezug auf die rechtsgeschichtliche Entwicklung oft nicht sehr umfassend vorinformierten Publikum lässt sich dabei immerhin zugutehalten, dass auch der geschichtspolitische Kurs der Regierung der exakten historischen Orientierung nicht gerade zuträglich war. Für einen erneuten Höhepunkt traditioneller Topoi des Erinnerns sorgte aber vor allem der Spielfilm »Amazing Grace«, der pünktlich am 23. März 2007 in die britischen Kinos kam. Bereits der Titel deutet die historische Einordnung des Abolition Act als einer von christlicher Moral getragenen Gabe an, ein welthistorischer Verdienst, der hier ganz überwiegend William Wilberforce und anderen Männern der britischen Parlamentspolitik zugeschrieben wird. Im Mittelpunkt der filmischen Inszenierung unter der Regie von Michael Apted steht die Person von Wilberforce, der das Ideal der freiheitlichen parlamentarischen Tradition ebenso verkörpert wie das der christlichen Nächstenliebe. Sein Lebensweg wird weitgehend mit dem Kampf gegen den Sklavenhandel gleichgesetzt – und umgekehrt. Da jede umfassende historische Sinnstiftung auf den weiteren Verlauf der Geschichte hin zur britischen Emanzipationsgesetzge-
299 Vom 200. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei war u.a. die Rede im Leitartikel »Slavish Guilt«, in: The Daily Telegraph vom 11.2.2006 und auch in so ausführlichen Artikeln wie denen von MacIntyre, Ben: »Hardest word? Don’t be soft«, in: The Times vom 29.9.2006 oder Pitman, Joanna: »It’s still a buyers’ market«, in: The Times vom 21.2.2007. Während die Times sich und ihr Publikum von Leser Prof. David Lowenthal aufklären ließ, korrigierte sich der Guardian selbst für den gleichen Fehler, der sich u.a. in den Artikel von Wintour, Patrick: »Blair fights shy of full apology for slave trade« vom 27.11.2006, eingeschlichen hatte. Besonders bemerkenswert ist allerdings, dass auf einer Webseite der Regierung gleich mehrfach von einem »bicentenary of the abolition of slavery« die Rede war (www.direct.gov.uk/en/slavery); in einigen Artikeln des Government News Network wird zwischen beiden Ereignissen praktisch nicht unterschieden, vgl. GNN: Listing of 18 historic buildings amended to highlight their links to the abolition of slavery, 20.12.2007. Beim Heritage Lottery Fund sollen im Zuge des Ausschreibungsverfahrens in größerer Zahl Bewerbungen um die Förderung eines Projekts anlässlich des Jahrestages der Abschaffung der Sklaverei eingegangen sein, D. Paton/J. Webster: Introduction, S. 166, Anm. 5. Schauspieler und Schriftsteller Kwame Kwei-Armah vermutete einen weiteren Grund in der schlichten Länge der korrekten Bezeichnung des »bicentenary of the abolition of the slave trade«: »This need for brevity may account for the many times I have heard today’s anniversary described as the abolition of slavery, which of course it is not.«, Kwei-Armah, Kwame: »From Ian to Kwame. Why slavery made me change my name«, in: The Observer vom 25.3.2007. 300 Ebd.
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bung angewiesen war, muss es für das Drehbuch von »Amazing Grace« als dramaturgischer Glücksfall bezeichnet werden, dass das Leben von William Wilberforce nahezu zeitgleich mit der Parlamentsabstimmung endete. Hiervon abgesehen spielt die Zeit zwischen 1807 und 1833/38 praktisch keine Rolle. »›Amazing Grace‹ was very pure in terms of the way it duplicated the mechanisms evolved by the British to account for and disguise their role in the slave trade«, schrieb Marcus Wood.301 Dass die Übernahme dieser Struktur für einen Kinofilm sich offenkundig anbot, zeigt nicht zuletzt, dass die Geschichte und ihre Erinnerung ein entsprechend verwendbares Narrativ anboten. Die britisch-amerikanische Produktion von Walden Media zielte auf Märkte beiderseits des Atlantiks ab und trug einen wichtigen Teil der populärkulturellen visuellen Repräsentation der Geschichte. Die Filmhandlung wurde zwar als »unforgettable true story«302 präsentiert, zeichnete sich im Übrigen aber durch ihren recht freien Umgang mit historisch (nicht) überlieferten Zusammenhängen aus303, was bei Filmkritikerinnen und -kritikern allerdings in der Regel keinen besonderen Anstoß erregte. Die Reaktionen auf den Film waren gemischt, er wurde oft als sentimental und durch seine Fokussierung auf das Parlamentsgeschehen als langatmig empfunden. Diverse überwiegend positive Kritiken zeigen aber, dass die bestehenden Erwartungen des Zielpublikums nicht grundsätzlich verfehlt wurden.304 Das Geld für den Film stammte vorwiegend aus dem Umfeld christlich-evangelikaler Netzwerke305, die Integration in den Rahmen der Gedenkveranstaltung des British Council in Ghana zeugt aber auch von der Unterstützung der britischen Regierung.306 Insbesondere die filmische Abwesenheit der Sklavinnen und Sklaven löste bei Kritikern wie Lee Jasper jedoch eine Empörung aus, die zentrale Elemente der panafrikanischen Perspektive aufgriff und zumindest am Rande wieder in die öffentliche Diskussion einspeiste: »The film prettifies the tragedy, the horror and the brutality of the slave trade. It seeks to give the impression that one man freed millions of slaves and
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M. Wood: Horrible Gift, S. 345. Werbetext auf der Hülle zur DVD-Veröffentlichung. M. Wood: Horrible Gift, S. 344 ff. Vgl. Pearce, Garth: »Abolition Man«, in: The Sunday Times vom 11.3.2007; Lee, Marc: »Amazing Grace«, in: The Daily Telegraph vom 17.3.2007; French, Philip: »How just William won. Michael Apted’s biopic of Wilberforce is done with great style«, in: The Observer vom 25.3.2007; Potton, Ed: »Amazing Grace«, in: The Times vom 4.8.2007; Kermode, Mark: »DVD of the week. Just William’s just cause«, in: The Observer vom 5.8.2007. Deutlich kritischer ist Robey, Tim: »A fight too easily won. This account of William Wilberforce’s struggle to end slavery is laudable but unengaging«, in: The Daily Telegraph vom 23.3.2007. 305 Für Details zu den Geldgebern und Förderern vgl. Amazing Grace (Film), www.amazing gracemovie.com/partnerships.php. Neben religiösen Vereinigungen werden u.a. auch die britische Botschaft in den USA und der US Kongress genannt. Kritisiert wurden die Hintergründe u.a. von Adam Hochschild und Barbara Korte. 306 M. Wood: Horrible Gift. S. 308 ff., 352 f.; vgl. auch M. Herbstein: Reflections.
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negates the contribution of the enslaved Africans to their own freedom to a bit part.«307 Zwar spielt in »Amazing Grace« Olaudah Equiano einmal mehr seine Rolle für die optische Diversifikation der Abolitionsbewegung. Die Versklavung und die Versklavten selbst tauchen aber beinahe ausschließlich symbolhaft im Rahmen von Albträumen des Protagonisten auf und bleiben ansonsten auf eine schemenhafte Hintergrundpräsenz beschränkt, die nicht zuletzt durch hochproblematische Allegorien vermittelt wird.308 In der ersten Szene des Filmes etwa hält William Wilberforce auf der Straße zwei Männer davon ab, auf ein am Boden liegendes schwarzes Pferd einzuschlagen, und auch im weiteren Verlauf wird seine altruistische Ader wiederholt über seinen gutmütigen Umgang mit Tieren unterstrichen. Zwischen der britischen Antisklavereiund der britischen Tierrechtsbewegung bestanden tatsächlich enge Verbindungen und Wilberforce gehörte zu den Begründern der Society for the Prevention of Cruelty against Animals.309 Gerade ein solches Beispiel macht aber überdeutlich, dass eine Geschichte, welche die versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner einzig durch eine eurozentrische Linse des Mitgefühls betrachten will, mit ethischen und politischen Implikationen beladen ist, die mit Françoise Vergès als »pitié dangereuse« zu bezeichnen sind.310 Eklat beim Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey Kritiker/-innen des Bicentenary betrachteten die aus ihrer Sicht unzureichende Würdigung des afrikanischen Beitrags zur Geschichte oft als mehr oder weniger umstandslose Fortsetzung des kolonialrassistischen Denkens. Besonders eindrucksvoll wurde der Protest von Ligali-Gründer Toyin Agbetu vertreten, der den sorgfältig orchestrierten Gedenkgottesdienst am 27. März 2007 auf für viele Kommentatorinnen und Kommentatoren skandalöse Weise unterbrach. »According to many reports, on Tuesday last week a crazed madman breached Westminster Abbey security, screamed obscenities and demanded an unreserved apology [...] and financial compensation from the Queen and Tony Blair.«311 Agbetus Auftreten unter den Augen und Ohren der Rundfunköffentlichkeit dauerte zwar nur wenige Minuten, gehörte aber zu den denkwürdigsten Momenten des Gedenkjahres. 307 Lee Jasper zit. n. Gledhill, Ruth: »Film row on ›prettifying‹ of slave trade«, in: The Times vom 10.2.2007. Ein Kritiker des Observer kam diesbezüglich zu einer anderen Einschätzung: »Wisely, the movie steers clear of dramatic depictions of the slave trade and life on the plantations (avoiding the sensational, sado-masochism of such films as the dubious Mandingo and its dire sequel, Drum).«, French, Philip: »How just William won. Michael Apted’s biopic of Wilberforce is done with great style«, in: The Observer vom 25.3.2007. 308 Vgl. auch M. Wood: Horrible Gift, S. 349. 309 Vgl. hierzu Roscher, Mieke: Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Marburg: Tectum Verlag 2009, S. 84, 183 f. 310 Vgl. F. Vergès: L’Utopie coloniale, z.B. S. 9 ff. 311 So kommentierte Toyin Agebtu selbst die Medienkommentare in seinem Artikel »My protest was born of anger, not madness«, in: The Guardian vom 3.4.2007; ebenso Merritt, Stephanie: »›Madman‹ who asked the Queen to say sorry. Campaigner Toyin Agbetu«, in: The Observer vom 16.12.2007: »When Toyin Agbetu challenged the Queen, the incident
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Der offiziell geplante Ablauf des Gottesdienstes wies in doppelter Hinsicht erinnerungskulturell hybride Züge auf.312 Zum einen stellte er eine Mischung aus der für die Position der anglikanischen Kirche typischen religiösen Ritualsprache von Sünde und Buße, Umkehr und Vergebung sowie dem Personenkult um die übliche Auswahl führender Abolitionisten dar, die in ihrem politischen Handeln religiösen Idealen folgten. Sie konnten zwar den Sündenfall nicht auslöschen, verkörperten jedoch eine Art nationales Erlösungsmoment. Hierbei spielte auch der Umgang mit bestimmten Objekten, wie der Originalversion des Slave Trade Abolition Act oder Equianos Autobiographie, eine rituelle Rolle, die Marcus Wood als eine Form des Fetischismus qualifiziert.313 William Wilberforce war unter anderem durch Redebeiträge von mehreren seiner Nachfahren in der dargebotenen Narration äußerst präsent. Darüber hinaus überschnitten sich in dem Gedenkgottesdienst religiöses Ritual und mediale Inszenierung, was nicht zuletzt auch die Tragweite von Agbetus Intervention bedingte, die sich vor den Kameras und Mikrofonen der BBC abspielte. Das Infotainment des Rahmenprogramms, durch das die eigentliche Zeremonie eingeleitet wurde, ließ der Ligali-Aktivist mit den anderen Anwesenden über sich ergehen. Als jedoch ein Geistlicher die Gläubigen aufforderte, auf Knien um göttliche Vergebung zu bitten, erhob Agbetu sich mit den Worten »Not in our name« von der Kirchenbank.314 Er trat auch räumlich ins Zentrum der Veranstaltung und damit in den Fokus der Fernsehkameras. Nur wenige Schritte vom VIP- und dem sich anschließenden Altarbereich der Kathedrale entfernt, eröffnete er einen Monolog, in dem er die in seinen Augen beleidigende und beschämende Gedenkzeremonie sowie die Verweigerung einer offiziellen Entschuldigung kritisierte. Er wandte sich dabei auch direkt an die Königin und den Premierminister, die in Hörweite, aber mit ausdruckslosen Gesichtern auf ihren Plätzen saßen und versuchten, den Vorfall soweit wie möglich zu ignorieren. Der Pastor versuchte währenddessen, mit der Inszenierung fortzufahren, und die meisten anderen Teilnehmenden ließen sich ebenso wenig Regung anmerken. Für die Sicherheitskräfte war es angesichts der laufenden Kameras und Mikrofone keine Option, den Aktivisten umgehend mit Gewalt aus dem Gebäude zu entfernen. Da dieser seinen Vortrag aber ausweitete, zwangen sie ihn schließlich, mit so viel Zurückhaltung wie möglich, die Kathedrale zu verlassen.315 Agbetus an alle »afrikanischen« Christinnen und Christen gerichtete Aufforderung, sich ebenfalls von der Veranstaltung zu entfernen, blieb dagegen folgenlos.
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was widely reported as the act of a madman, a security threat in the heart of the establishment.« Zum Ablauf vgl. M. Wood: Horrible Gift, S. 297 ff.; vgl. außerdem Hamilton, Alan: »Black protester disrupts slavery service«, in: The Times vom 28.3.2007; Petre, Jonathan: »Slavery protester disrupts Westminster service«, in: The Daily Telegraph vom 28.3.2007. M. Wood: Horrible Gift, S. 298 ff. Agbetu, Toyin: »My protest was born of anger, not madness«, in: The Guardian vom 3.4.2007. Nach Agbetus Darstellung ereignete sich folgendes: »Then a gang of men attempted to drag me out through the back door on my knees. I strongly asserted that I would be walking through the front door, on my feet, as an African.«, Agbetu, Toyin: »My protest was born of anger, not madness«, in: The Guardian vom 3.4.2007. Vgl. auch M. Wood: Horrible Gift, S. 305 f.; Hamilton, Alan: »Black protester disrupts slavery service«, in: The Times
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Der Gottesdienst setzte sich fort, und im Anschluss legte Königin Elizabeth zu den Füßen der Statue von William Wilberforce Blumen nieder. Die Dankesgeste wurde ergänzt durch einen zweiten Blumenstrauß, den sie auf dem im Boden eingelassenen Rundstein ablegte, der sich vor dem Westeingang von Westminster Abbey befindet – ein für die Veranstaltung dramaturgisch günstiger Zufall. Das Denkmal ist allen »innocent victims of oppression, violence and war« gewidmet. Seine Botschaft lässt sich somit auf das Schicksal afrikanischer Sklavinnen und Sklaven anwenden, auch wenn es keineswegs diese historische Opfergruppe war, an deren Erinnerung bei der Errichtung des Denkmals ursprünglich gedacht war. Eingeweiht wurde es Mitte der 1990er Jahre, als sich die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf den Völkermord in Ruanda, die Kriege auf dem Balkan und die Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltherrschaft richtete. Vielleicht war es auch dieser Moment, der einige Parlamentsmitglieder zur Forderung nach einer spezifischen Art von Denkmal bewegte, wie sie als Andenken an die große Zahl der in den Weltkriegen gefallenen Soldaten bekannt ist: »The time has come for a statue of an unknown slave to be put up in London in the same way that we have the Unknown Warrior.«316 An welche Form des historischen Opfers hiermit erinnert werden sollte, wurde nicht weiter ausgeführt. Die Verbindung zum Gedenken an die heroische aufopferungsvolle Tat ist aber zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Abb. 1: Innocent Victims Memorial, Westminster Abbey, London
Foto: S. Dinter
Nachdem Toyin Agbetu vor den Toren der Kathedrale die Möglichkeit gewährt worden war, eine kurze Stellungnahme abzugeben, wurde er auf ein Polizeirevier gebracht,
vom 28.3.2007; Petre, Jonathan: »Slavery protester disrupts Westminster service«, in: The Daily Telegraph vom 28.3.2007. 316 Baroness Howells of St Davids, House of Lords, 10.5.2007, C. 1587.
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wo er die Nacht über in Gewahrsam blieb.317 Die Frage, welche(r) Aspekt(e) der kirchlichen Gedenkveranstaltung den Impuls zu seiner Intervention gabe(n), lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es lässt sich zudem nicht ausschließen, dass der Protest sich gegen den vorherrschenden Ton und die politische Koordinierung des Bicentenary im Allgemeinen richtete, die Ligali ja vom ersten Moment an abgelehnt hatte; die Suche nach dem konkreten Auslöser wäre in diesem Fall recht müßig. Laut Johanna Grillitsch soll die zum Ausdruck gebrachte Wut eine Folge der Weigerung von Königin und Premierminister gewesen sein, im besagten Moment der Veranstaltung niederzuknien.318 Agbetus eigene Äußerungen, sowohl vor Ort als auch in zeitlichem Abstand, deuten jedoch eher darauf hin, dass er die Verallgemeinerung historischer Verantwortung ablehnte, die symbolisch auf den Schultern aller Anwesenden verteilt wurde, unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe. In den Aufnahmen, die von dem Vorfall existieren, ist zu hören, wie er sich gegen die Teilnahme von »Afrikanern« an der Veranstaltung ausspricht, zu denen auch der zu diesem Zeitpunkt sprechende Geistliche gehörte. Sehr deutlich wird dieser Fokus auch in einer Zusammenfassung der Ereignisse durch einen Journalisten der Times: »Agu Irukwu, senior pastor of the Redeemed Christian Church of God, was at the lectern finishing a brief address on how 12 million people worldwide were still in slavery when Mr Agbetu shouted: ›You should be ashamed. We should not be here. You are standing there disrespecting your ancestors. This is an insult to us. I want all the Christians who are Africans to walk out.‹ No one moved.«319 »[T]he Church of England may have got the Westminster Abbey service commemorating the end of the slave trade wrong«320 – dieser Auffassung war allerdings nicht nur Toyin Agbetu. »Katei Kirby and Joel Edwards, senior black members of the Evangelical Alliance who also attended, have castigated the service for being insufficiently apologetic.«321 Sie kritisierten weiterhin eine »insufficient opportunity for inclusion and due recognition of the impact of slavery.«322 Zu einer Solidarisierungsaktion mit Agbetu kam es bei einem kleineren Gedenkgottesdienst in Bristol. »[A] black African group protested with banners and chants of ›Not in our name‹« und lieferte damit »another indication that the descendants of slaves can still find the white man’s attitude patronising.«323 Jedoch befürworteten keineswegs alle Angehörige jenes verschwommenen Kollektivs, in dessen Namen Agbetu sprechen wollte, seine in den Medien als »extrem« bezeichneten Ansichten und den Protestakt uneingeschränkt.324 Großbritanniens erster »schwarzer« Erzbischof John Sentamu zeigte sich zufrieden, dass Agbetu seine Worte hatte vorbringen können, fügte aber im Hinblick auf die panafrikanische Perspektive historisch differenzierend hinzu: »I hope the depth of anger he expressed 317 318 319 320 321 322 323
N.N.: »Bail for protester«, in: The Times vom 29.3.2007. J. Grillitsch: Gedenkjahr 2007, S. 138. Hamilton, Alan: »Black protester disrupts slavery service«, in: The Times vom 28.3.2007. Bates, Stephen: »People«, in: The Guardian vom 29.3.2007. Hamilton, Alan: »Black protester disrupts slavery service«, in: The Times vom 28.3.2007. Ebd. Ebd. Dies belegen auch die Kommentare, die das von Ligali in das Internet gestellte Video auf sich gezogen hat. Die Liste von über 120 Stellungnahmen zeigt jedoch vor allem, wie umstritten Agbetus Aktion war, wie verhärtet die Fronten und wie nahe liegend die Polemik. 324 M. Wood: Horrible Gift, S. 306.
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is matched by that he should have towards those African chiefs who grew fat through the capture and sale of their kith and kin for trinkets.«325 Die im Kontext der transatlantischen Sklaverei negativ besetzte Handlungsmacht beschränkte sich für ihn also nicht auf »weiße« Akteure, welche die erinnerungskulturelle Verantwortung folglich nicht alleine zu tragen hatten. Insbesondere im Rahmen von Internetforen wurde aber auch zum Ausdruck gebracht, wie sehr die Unterbrechung des Gottesdienstes durch einen Afrikaner, der sich als Nachfahre der Opfer des Sklavenhandels verstand, einige derjenigen Britinnen und Briten aufgebracht hatte, die sich historisch über einen anderen Strang der Geschichte definierten. Nicht wenige der hier geäußerten Vorwürfe und Beleidigungen trugen offen rassistische Züge.326 Mindestens in Einzelfällen löste die Aktion aber Nachdenklichkeit und schließlich Sympathie auch bei Personen aus, die mit den zugrundeliegenden Argumenten und Empfindungen zuvor kaum vertraut gewesen waren. Robin Taylor-Hunt, »Great-great-great grandson of William Wilberforce«, schrieb in einem unterstützenden Leserbrief an die Times: »The ceremony was a beautiful pat on the back until Mr Agbetu’s furious interruption, which made me realise how much anger the slave trade still engenders. He’s right; yesterday would have been the ideal opportunity for the Queen or the Prime Minister to apologise on behalf of all the institutions in this country. So I say to Mr Agbetu, and all descendants of slaves, that I am very sorry for all that we [sic] have done, and I implore a representative of our country to say sorry too.«327
Im Rückblick erklärte der Ligali-Aktivist sein Handeln in einem Artikel für den Guardian folgendermaßen: »I was moved to make a collective voice heard at the commemorative ritual of appeasement and self-approval marking the bicentenary of the British parliamentary act.«328 Zur Frage, ob seine Intervention geplant oder das Ergebnis spontaner Empörung war, gibt es widersprüchliche Aussagen.329 Die im Gottes-
325 Zit. n. Petre, Jonathan: »Slavery protester disrupts Westminster service«, in: The Daily Telegraph vom 28.3.2007. 326 Vgl. M. Wood: Horrible Gift, S. 306 ff. Vgl. auch die Leserbriefe zum Thema »Facing up to England’s part in the slave trade«, in: The Times vom 29.3.2007. 327 Leserbrief zum Thema »Facing up to England’s part in the slave trade«, in: The Times vom 29.3.2007. 328 Agbetu, Toyin: »My protest was born of anger, not madness«, in: The Guardian vom 3.4.2007. 329 M. Wood: Horrible Gift, S. 299, Anm. 5. Der öffentliche Effekt der Aktion war jedenfalls durchaus willkommen. Agbetus »international profile increased when on 27 March 2007 he successfully challenged the British monarch, church and government at Westminster Abbey, London at their public ritual of disrespect to the millions of African people lost during Maafa.«, Ligali Organisation, www.ligali.org/toyin-agbetu.html. »Since then, Agbetu has been invited to give lectures all over the world and is glad to have raised the profile of the issues.«, so Merritt, Stephanie: »›Madman‹ who asked the Queen to say sorry. Campaigner Toyin Agbetu«, in: The Observer vom 16.12.2007. Angesichts der Tatsache,
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dienst vorgebrachten Einwände decken sich jedenfalls mit dem von Ligali grundsätzlich vertretenen Geschichtsbild. Wie schon in der Protesterklärung vom Dezember 2005 war es vor allem das Bild des Sklaven als Objekt und passivem Empfänger britischer Wohltätigkeit, gegen das Agbetu sich auflehnte: »The ›Wilberfest‹ abolition commemoration has eradicated any mention of resistance, rebellion and revolution instigated by millions of African people.«330 Demnach ging es ihm um die Wiederaneignung geschichtspolitischer Agency. Very Rev. John Hall, der die Planung und Durchführung des Gedenkgottesdienstes geleitet hatte, empfand die Unterbrechung wenig überraschend als »misplaced«.331 Sein im Guardian veröffentlichtes Gegenstatement ist gerade aufgrund der enthaltenen Auslassung bezeichnend für die tiefen erinnerungskulturellen Gräben, welche die Verständigung über die Geschichte und die Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandels erschwert: Toyin Agbetus »claim that the commemoration ›eradicated any mention of resistance … [sic] by millions of African people‹ ignores my reference in the bidding to ›the commitment and courage of abolitionists, black and white, male and female, who gave much and risked much to end the cruelty‹ and the presentation at the high altar of a first edition of Olaudah Equiano’s Interesting Narrative.«332 Aus der Formulierung geht die Inanspruchnahme von Equiano als erinnerungskulturelles Schein-Alibi hervor, mit dessen Hilfe auch weitgehend konservative Positionen als inkludierende Öffnung der nationalen Erinnerung dargestellt werden konnten – obwohl alternative, afrikanisch oder karibisch geprägte Perspektiven in ihren kritischen Punkten gerade nicht aufgenommen wurden. New Labour – neue Geschichte? Das 200. Jubiläum der Abschaffung des britischen Sklavenhandels war eine hochpolitische Veranstaltung. »The Government sought to provide co-ordination and leadership during the bicentenary year«.333 Das Gedenkjahr trug in der Konsequenz die politische Handschrift von New Labour. Weitere wichtige Elemente neben Blairs »statement of regret«, dem Gottesdienst und der Eröffnung des ISM waren Debatten im Ober- und Unterhaus des Parlamentes, die Herausgabe eines Sets von sechs Sonderbriefmarken und einer Zwei-Pfund-Gedenkmünze sowie eine von der Regierung publizierte 30-seitige Informationsbroschüre, die als »commemorative magazine« Interessierten kostenlos zur Verfügung gestellt wurde.334 Das Magazin enthält nicht nur
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dass Agebtu auch einem Bekannten, der ihn zu beruhigen versuchte, mit Schlägen drohte, scheint die Wut allerdings nicht nur gespielt gewesen zu sein. Agbetu, Toyin: »My protest was born of anger, not madness«, in: The Guardian vom 3.4.2007. John Hall in einem Leserbrief zum Thema »Anger over apologies for the slave trade«, in: The Guardian vom 4.4.2007. Ebd. DCLG/DCMS: 23rd August 2008. UNESCO International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition, o.O. 2008, S. 2. Her Majesty’s Government: Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade Act 18072007, London 2007, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20120919132719/http:// www.communities.gov.uk/documents/communities/pdf/322014.pdf. Vgl. zu den Höhepunkten des Jubiläumsjahres aus Sicht der Regierung eine zweite offizielle Broschüre, Her
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das offizielle Veranstaltungsprogramm, sondern auch eine sorgfältig formulierte historische und (geschichts-)politische Kontextualisierung des Jubiläums. Eingeleitet wird es von einem Vorwort des Premierministers, das die bereits im »statement of regret« bezogene Position teils wörtlich wiederholt. Im Juni 2007 übernahm Gordon Brown, der in der der Labour-Regierung zuvor den Posten des Schatzkanzlers bekleidet hatte, das Amt von Tony Blair. Wie sein Vorgänger ließ auch er eine Jubiläumsbroschüre veröffentlichen, zu der er ein persönliches Vorwort beisteuerte. Das zweite Heft verzichtete allerdings fast völlig auf historische Informationen, somit schloss sich das neue Kabinett faktisch dem zuvor etablierten geschichtspolitischen Rahmen des laufenden Gedenkjahres an.335 Das erste und deutlich umfangreichere »commemorative magazine« muss nicht, wie von der Regierung propagiert, als ein eigener Höhepunkt des Jubiläumsjahres betrachtet werden336, um exemplarisch für den offiziellen Kurs stehen zu können. Dieser wurde bereits im Vorfeld des Jubiläums erprobt. Neben Tony Blair und dem stellvertretenden Premierminister John Prescott trug dabei auch David Lammy als Kulturminister eine wesentliche Mitverantwortung für die geschichtspolitischen Leitlinien. Als Vertreter der Labour-Regierung stand er dem Parlament erstmals im Dezember 2005 in dieser Angelegenheit Rede und Antwort. Die Ausführungen, die er im Unterhaus zu den offiziellen Planungen für das Bicentenary vortrug, enthielten – neben dem begleitenden Pathos, das schon diese kurzfristig anberaumte Diskussion zu einer »historic occasion« erhob – die wesentlichen Kernelemente der für das Jubiläumsjahr aufgelegten Regierungsrhetorik.337 Unter dem Motto »Reflecting on the past, looking to the future« etablierte diese eine richtungsweisende Verbindung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft: »The Bicentenary in 2007 marks an important opportunity to reflect on the struggles of the past, the progress we have made and the challenges that remain.«338 Auf die Zeit des transatlantischen Sklavenhandels und der kolonialen Sklaverei mussten Britinnen und Briten – mit den oft wiederholten Worten von Tony Blair – mit Scham und Schwermut zurückschauen. Für die historische Tradition, die das Land vor allem geprägt hat, steht jedoch das Abolitionsgesetz von 1807. » [It] marks a crucial turning point in this country’s move towards the nation it is today. It was a critical, if long overdue, step into the modern world, which we should still be proud this country took before any other«.339 Der Slave Trade Abolition Act stellt damit nicht nur einen fundamentalen Bruch, sondern auch die entscheidende Verbindungslinie zu
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Majesty’s Government: The Way forward. Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade Act, London 2007, S. 5, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20120919132719/ww w.communities.gov.uk/documents/communities/pdf/603189.pdf. Vgl. HMG: Way forward. Ebd., S. 5. David Lammy, Parliamentary Under-Secretary of State for Culture, Media and Sport (Labour), House of Commons, 13.12.2005, C. 411WH. Auch andere Abgeordnete bezeichneten ihre eigenen Debatten anlässlich des Gedenkens als historisch, so etwa John Prescott, House of Commons, 20.3.2007 oder Lord Lester of Herne Hill, House of Lords, 10.5.2007. DCMS: Reflecting on the past, S. 14. David Lammy, Parliamentary Under-Secretary of State for Culture, Media and Sport (Labour), House of Commons, 13.12.2005, C. 411WH. Vgl. auch DCMS: Reflecting on the past, S. 7.
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einer besseren, wenn auch weiterhin unvollkommenen Gegenwart dar. Über ein handlungsorientiertes Moment wurde diese mit einer positiven Zukunftsvision verknüpft: »2007 is also a chance to make a collective commitment that in another two centuries’ time, no-one should feel the need to express regret on our behalf for our actions.«340 Das argumentative Grundgerüst wurde durchgehend und auch über den Wechsel des Premierministers hinweg beibehalten. Es findet sich in Tony Blairs Artikel für New Nation ebenso wie in den offiziellen Informationsbroschüren zu den Jubiläumsfeierlichkeiten. Zur Verdeutlichung der zeitlichen Abläufe enthält das erste Heft einen Zeitstrahl, in dem das Jahr 1807 als ein Punkt in einer langen Geschichte erscheint, die hier mit dem Jahr der Hawkins-Expedition 1562 beginnt und 1888, dem Jahr der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien, endet. Über den narrativen Text wurde die Verabschiedung des Slave Trade Abolition Act jedoch wiederum zum national wie international entscheidenden Wendepunkt dieser Gesamtgeschichte stilisiert. Der Parlamentsbeschluss erscheint als der Moment, in dem Großbritannien sich von seiner bisherigen Rolle distanzierte und im Kampf gegen den Sklavenhandel seine neue historische Bestimmung fand, die – und das ist wesentlich – sich in der aktuellen Politik fortsetzte. Gerade das Ausmaß des britischen Sklavenhandels, »the appalling suffering of the millions of people who were enslaved Africans«341, ließ die Leistung der Abolition umso größer und bis heute beispielgebend wirken: »[T]he example of all those who campaigned for abolition 200 years ago remains an inspiration. With commitment like theirs, we can have every confidence in our ability to build a better future.«342 Das Heft gibt einen historischen Abriss, der von den Anfängen des transatlantischen Sklavenhandels im 16. Jahrhundert bis zur britischen Emanzipationsgesetzgebung reicht und neben zahlreichen Abbildungen auch den besagten Zeitstrahl sowie diverse Quellenzitate umfasst. Dieser Aufbau suggeriert eine neutrale Vermittlung der für die Einordnung des Jubiläums wichtigsten Daten und Fakten. Nach einem geschichtspolitisch vergleichsweise konservativen Einstieg ist der historischen Darstellung im Folgenden vor allem der Versuch anzumerken, viele der nahe liegenden Ansatzpunkte für Kritik systematisch zu umgehen. Die überlegt gewählten Formulierungen spiegeln zum einen den Stand der erinnerungskulturellen Entwicklung und die Ergebnisse eines Beratungsprozesses wider. In diesem Zusammenhang dürfte die Erfahrung von Tony Tibbles, der für Teile des Textes verantwortlich zeichnete, ebenso nützlich gewesen sein wie die von David Fleming, der neben einem weiteren Vertreter der Liverpooler Museen Mitglied des Advisory Committee war. Zum anderen zeichnet sich die geschichtspolitische Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Sinne von New Labour an vielen Stellen aber auch durch eine »significant silence« aus: die Abwesenheit des größten Teils der britischen Kolonialgeschichte im 19. Jahrhundert.343 Da diese Erinnerungslücke sich mit einer gewissen Notwendigkeit aus der 340 341 342 343
Ebd., S. 9. Gordon Brown in seinem Vorwort zu HMG: Way forward, S. 1. Ebd. Die Formulierung wird von Marcus Wood im Titel eines Aufsatzes verwendet, in dem er vor allem die aus seiner Sicht unzureichende Thematisierung von slave agency in der Bebilderung des Bicentenary kritisiert, die aber nur eine von (mindestens) zwei bedeutenden Lücken in der öffentlichen Erinnerung darstellt. Wood, Marcus: »Significant Silence. Where was Slave Agency in the Popular Imagery of 2007?«, in: Cora Kaplan/John Oldfield
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skizzierten Argumentationslinie ergab, prägte sie den Gesamteindruck der politischen Rhetorik, die wiederum den medial vermittelten Gesamteindruck des Bicentenary beeinflusste. Die Entwicklung alternativer geschichtspolitischer Handlungsmacht trat mit dem Jubiläum ebenfalls an das Licht einer breiteren Öffentlichkeit. »[M]ainstream institutions have needed to publicly demonstrate their consideration of Black/African perspectives on the bicentenary.«344 Dies zeigt auch das Beispiel des commemorative magazine, sprachlich sehr deutlich durch die Vermeidung des Begriffes »slave«. Ihm wird in der Regel die Formulierung »enslaved African« vorgezogen und damit die bereits vom ISM nach intensiven Diskussionen eingeschlagene Richtung aufgenommen. Durch den Verweis auf die unterschiedliche Herkunft, auf Vergangenheiten als »domestics, farmers, merchants, priests, soldiers, artisans and musicians«345 wird für die Leser/-innen ein Teil der menschlichen Individualität der auf den Status einer Massenware degradierten Afrikanerinnen und Afrikaner rekonstruiert. Bei der kurzen Beschreibung des Lebens in den Plantagen werden auch Verweise auf Folter, Vergewaltigungen und Selbstmorde nicht ausgespart.346 Auffällig ist weiterhin die vergleichsweise umfassende Thematisierung des von Sklaven geführten Widerstands gegen die Unterdrückung. Besonders hervorgehoben wird Slave Agency durch die Erwähnung von für die Kolonialmacht ernst zu nehmenden Aufständen und Kleinkriegen in den Plantagenkolonien. 347 Die Losung »Remember not that we were freed but that we fought«348 wird damit aber nur sehr partiell eingelöst. Denn die Widerstandsformen werden getrennt von der Abolitionsbewegung in Großbritannien betrachtet, der im Verhältnis deutlich mehr Raum zur Entfaltung ihres historischen Prestiges und damit zur Identifikationsstiftung eingeräumt wird. Den »weißen« Männern der parlamentarischen und intellektuellen Elite stellt das Konzept der Broschüre weibliche und »schwarze« Aktivisten zur Seite. Letztere erscheinen sogar wie die eigentlichen Initiatoren des politischen Kampfes gegen den Sklavenhandel, zu dem Männer wie Thomas Clarkson, Granville Sharp und William Wilberforce lediglich ihren verstärkenden Beitrag leisteten: »A small band of Africans began to agitate for an end to an inhuman practice, including leading African abolitionists Olaudah Equiano and Ottobah Cugano. They both knew about slavery firsthand, and made sure others heard about the realities. Their campaigning ensured slavery became a key issue of political debate. They were supported by leading abolitionists«. 349
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(Hg.), Imagining Transatlantic Slavery, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 162190. D. Paton: Interpreting the bicentenary, S. 281. HMG: Bicentenary, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6 f. Vom ISM verwendeter Slogan. HMG: Bicentenary, S. 8.
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Tatsächlich rückt gerade Wilberforce auch sprachlich in den Hintergrund, da sein Name in Aufzählungen stets als letztes angeführt wird. So wird verdeutlicht: »Wilberforce didn’t organise a revolution on his own.«350 Insgesamt wird das Wirken der namentlich genannten Aktivistinnen und Aktivisten in eine von »passion and people power« angetriebene britische Massenbewegung eingeordnet, getragen von »countless ordinary people who signed petitions, marched, lobbied and prayed for change.«351 Ein Text des DCMS versuchte dabei, die Abolitionsbewegung ganz direkt ins rechte Licht des um die Jahrtausendwende entflammten Enthusiasmus für politische Kampagnen zu rücken und bezeichnete sie als »grass-roots movement, similar in its day to the tens of thousands that joined the campaign to abolish apartheid in South Africa or who supported the Make Poverty History movement last year.«352 Der bemühte Text der Regierungsbroschüre steht allerdings in einem deutlichen Kontrast zum Veranstaltungsprogramm, das an zwei Stellen die historische und die abschließende politische Betrachtung unterbricht. Der »Calendar of Events« für das Jahr 2007 wird von Veranstaltungen dominiert, die den Namen Wilberforce bereits in ihrem Titel führen. Auch bei dem im Heft präsentierten Sonderbriefmarkenset treten die progressiven Ansätze in den Hintergrund. Dies betrifft zunächst die optische Gestaltung: Der »great man theory of history« folgend353 konzentriert sich die Reihe auf die Porträtdarstellung von einer Frau und fünf Männern, die sich in Großbritannien für die Abschaffung des Sklavenhandels eingesetzt haben. Angeführt wird die Riege von William Wilberforce und dem »legendary Olaudah Equiano«.354 Sie führen das nach Markenwert gestaffelte Set gemeinsam an. Es folgen die Schriftstellerin Hannah More und mit Ignatius Sancho ein weiterer Mann afrikanischer Herkunft. Abgeschlossen wird die Riege von den beiden Gründungsmitgliedern der Abolition Society, Grenville Sharp und Thomas Clarkson, dessen Porträt auf der 50p-Marke vor einem Ausschnitt der »Brookes« präsentiert wird. More steht in diesem Zusammenhang nicht allein für sich und ihr literarisches Werk, sondern auch stellvertretend für das Engagement von Frauen im Rahmen der britischen Abolitionsbewegung. Mit dieser Bewegung in ihrer politisch organisierten Form kam der 1780 verstorbene Sancho praktisch nicht in Berührung, allerdings wurde seine Lebensgeschichte in diesem Kontext als Vorbild für die erfolgreiche Entwicklung eines ehemaligen Sklaven zu einem kultivierten Bürger Großbritanniens propagiert.355 Sharp und Clarkson durften in der Aufstellung offenkundig nicht fehlen. Als »Dead White European Males« eigneten sie sich unter den 350 Kofi Mawuli Klu zit. n. Smith, David: »200 years on, the Queen is told to say sorry for Britain’s role in slave trade«, in: The Observer vom 5.12.2004. 351 HMG: Bicentenary, S. 8. 352 DCMS: Reflecting on the past, S. 8. Ebenso Brown, Gordon: »How we can liberate every child in the world«, in: The Times vom 5.4.2007 (»The Make Poverty History movement in 2005 taught us anew what the anti-slavery movement taught us 200 years ago«) und Diane Abbott, Labour-Abgeordnete für Hackney, North and Stoke Newington, House of Commons, 20.3.2007, C. 707 (»in many ways, the anti-slavery agitation was the Make Poverty History campaign of its day«). 353 M. Wood: Horrible Gift, z.B. S. 341. 354 Earl of Sandwich, House of Lords, 10.5.2007, C. 1562. 355 Vgl. P. Fryer: Staying Power, S. 93. ff. Zu Sancho vgl. v.a. Holbrook Gerzina, Gretchen: Black England. Life before Emancipation, London: Murray 1995; King, Reyahn (Hg.):
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gegebenen Umständen aber weniger als Träger einer aktuellen Bedeutung, die über ihre Person hinausgewiesen hätte. Von einer massiven erinnerungskulturellen Aufwertung hat im Rahmen des Bicentenary dagegen Olaudah Equiano profitiert. Dabei stellte die Würdigung seiner Person das in gewisser Hinsicht einfachste geschichtspolitische Zugeständnis dar: eine Erweiterung der britischen, pauschal mit dem Abolitionismus identifizierten Wir-Gruppe um einen Akteur mit anderer Hautfarbe. Sie musste nicht zwingend auch eine weitere Hinterfragung der mythischen Qualität populärer Nationalgeschichte nach sich ziehen. Zur Ergänzung des Personaltableaus der klassischen Erinnerungsmuster ließ sich die Figur vergleichsweise leicht adaptieren. Denn mit seiner »Autobiographie« hatte Equiano nicht zuletzt seine religiöse und politische Integration in den Mainstream des britischen Establishments unter Beweis gestellt. Dass die Betrachtung der Lebensgeschichte im gegebenen geschichtspolitischen Kontext vergleichsweise einseitig ausfiel, ist nicht weiter verwunderlich: Die überlieferte Zusammenarbeit von Olaudah Equiano mit Charles Irving beim Aufbau einer Sklavenplantage in Südamerika etwa, in deren Rahmen sein afrikanischer Hintergrund ihn zum Käufer und Manager der Arbeiter/-innen prädestinierte, war nicht sinnvoll verwendbar. 356 Genau die biographischen Eigenschaften also, die ihn grundsätzlich zu einer Idealbesetzung für die Rolle im Narrativ des »britischen Abolitionsmythos 2.0« machte, hätten an dieser Stelle unter den Bedingungen des beginnenden zweiten Jahrtausends zu einem problematischen erinnerungskulturellen Widerspruch geführt. Auch das commemorative magazine der Labour-Regierung behandelt die Entwicklungsverlauf von der Abschaffung des Sklavenhandels zur formalrechtlichen Emanzipation der Sklavinnen und Sklaven in den britischen Kolonien nur kursorisch. Unterstrichen wurde einmal mehr die Bedeutung des »landmark law«357 von 1807: »[T]he Abolition Act was only the beginning of the move towards emancipation for enslaved Africans.«358 Mit der Emanzipation endet die historische Betrachtung ziemlich abrupt, in diesem Fall allerdings nicht mit dem Jahr 1838, sondern ein Jahr später. Denn über die in der letzten Zeile des Kapitels erwähnte Gründung der UK Anti-Slavery Society wird ein Sprungbrett geschaffen für den folgenden kühnen Satz in das 21. Jahrhundert. Denn die Gesellschaft war ein direkter Vorläufer der heute weltweit führend aktiven Organisation Anti-Slavery International, die sich im Rahmen des Bicentenary sehr präsent und engagiert zeigte. Die Tatsache, dass in der offiziellen Informationsbroschüre unter dem Titel »Bicentenary [...] 1807-2007« nach 1839 eine Lücke von 170 Jahren britischer Geschichte klafft, wird mehr oder weniger überzeugend durch den Einschub des zweiten Teils des Veranstaltungsprogramms überdeckt. In seiner Stellungnahme im Vorfeld des Jubiläumsjahres hatte Tony Blair gefordert, dass Großbritannien das historische Gedenken vor allem als Ansporn nutzen Ignatius Sancho. An African Man of Letters, London: National Portrait Gallery 1997 (Ausstellungskatalog). Das berühmte Porträt, das oft Olaudah Equiano zugeordnet wird und u.a. den Umschlag der Penguin-Ausgabe von dessen Lebensgeschichte ziert, bildet möglicherweise Sancho ab und wurde im Briefmarkenset nicht verwendet. 356 Vgl. Equiano, Olaudah: The Interesting Narrative and other Writings, New York [u.a.]: Penguin Books 2003, Ch. XI. 357 HMG: Way forward, S. 3. 358 HMG: Bicentenary, S. 20.
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sollte, um die eigenen Anstrengungen im Kampf gegen Ausbeutung und Diskriminierung in der heutigen Zeit zu verdoppeln. 359 Die vorrangigen Probleme, denen sich durch das Vorbild von Equiano und Wilberforce inspirierte britische Bürger/-innen zuwenden sollten, stellten sich also vielfältig dar: »Today slavery comes in many guises around the world, such as bonded labour, forced recruitment of child soldiers and human trafficking, and at its root is poverty and social exclusion.«360 Soll das moderne Übel an seiner Wurzel bekämpft werden, lässt sich also ein ganzes Spektrum sozial- und entwicklungspolitischer Maßnahmen in die wie beschrieben konstruierte Tradition der britischen Abolitionsbewegung einordnen – vom Kampf gegen Malaria und AIDS über die Förderung der Geschlechtergleichstellung bis hin zu Bildungsinitiativen in Afrika, wie sie besonders Gordon Brown forderte.361 Neben der globalen Ansage zum Kampf gegen »poverty and inequality on the African continent and in the Caribbean« und »contemporary slavery in all its forms«362, mutet das dritte und primär innenpolitische Problemfeld von »inequality, discrimination and racism today, in particular for people of African and Caribbean heritage living in the UK« 363 vergleichsweise undramatisch an. Die Regierung bemühte sich allerdings auch hier, vergangene, laufende und geplante Aktionen »an allen Fronten«364 der Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik herauszustellen, angefangen bei den Race Relations Acts der 1960er Jahre.365 Zwar ist von einer Broschüre, die auf dreißig reich bebilderten Seiten eine Geschichte von John Hawkins bis zur zweiten Jahrtausendwende erzählen soll, keine vertiefte Problemanalyse zu erwarten. Dass dies nicht die Intention war, zeigt sich aber auch daran, dass die Darstellung der Gegenwart sprachlich relativ einseitig blieb – und zwar mit einer bemerkenswert konsequenten Ausrichtung auf ihren weiteren Verlauf zu einer besseren Zukunft: »Freeing children from slavery«, »Increasing Race Equality«, »Action against human trafficking into the UK«, »Education, a road out of poverty« und »Tackling the root causes of slavery« sind die in der breiten Grauzone zwischen programmpolitischer Ankündigung und utopischem Wunschdenken angesiedelten Formeln der Labour-Regierung. Entscheidender als die Auseinandersetzung mit politischen und wirtschaftlichen Strukturen, in denen sich die Perpetuierung von
359 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. Vgl. auch Branigan, Tania: »Bicentenary should spur fight against new slavery, says Blair«, in: The Guardian vom 28.11.2006. 360 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. 361 Vgl. v.a. Brown, Gordon: »How we can liberate every child in the world«, in: The Times vom 5.4.2007. 362 HMG: Bicentenary, S. 26. 363 Ebd. 364 Vorwort von Tony Blair, ebd., S. 1. 365 Vgl. HMG: Bicentenary, S. 24 ff.; DCMS: Reflecting on the past, S. 9 ff.; HMG: Way forward, S. 23 ff. Für einen britischen Einsatz zur weltweiten Ausweitung von Bildungsmöglichkeiten für Kinder sprach sich nicht zuletzt Gordon Brown aus, »Our 2p pledge to all children. I want to mark the end of the slave trade in 1807 by tackling the modern slavery – ignorance«, in: The Guardian vom 4.1.2007 und »How we can liberate every child in the world«, in: The Times vom 5.4.2007.
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Ungleichheit, Missbrauch und Ausbeutung vollzieht, ist die aktive Handlung namentlich der Regierung. Die historischen wie gegenwärtigen Probleme werden so bisweilen zum Hintergrund für die Präsentation der Lösungsansätze, die durch ihre Verknüpfung mit der Geschichte des Abolitionismus Erfolg versprechen: »There are clear links between the struggles for justice 200 years ago, and our ongoing concerns to tackle discrimination in Britain and forms of slavery in the world today.«366 Auch wenn die »klaren Verbindungen« nicht expliziert werden, legen solche Formulierungen den britischen Einsatz für Gerechtigkeit als die zentrale historische Konstante nahe, auf die es sich im Jahr 2007 zu besinnen galt. Diese gegenwarts- und vor allem zukunftsbezogene Inhaltsebene wurde auch von den Medien und in besonderem Maße von den Parlamentsabgeordneten aufgegriffen. Gerade in den parlamentarischen Debatten, die anlässlich des 200. Jahrestages des Abolition Act anberaumt wurden, verlagerte sich der Schwerpunkt der Perspektive insgesamt noch deutlicher auf globale Zusammenhänge der heutigen Zeit. In einem institutionellen Umfeld, in dem politische Polemik üblicher ist als die historische Kontemplation, reduzierte sich die Betrachtung der Geschichte oft auf einen Anlass zur Verhandlung aktueller Politiklinien und auf ein Legitimationsargument nach dem Motto: »Because of William Wilberforce, the United Kingdom was at the forefront of making the slave trade illegal, and we must continue to be so.«367 Vor diesem Hintergrund wenig vorbildlich war die ausbleibende Ratifizierung der EU-Ratskonvention gegen den Menschenhandel durch die britische Regierung. Sie wurde von Angehörigen der Oppositionsparteien zu einem explizit mit dem Gedenken an den Slave Trade Abolition Act verknüpften Thema gemacht.368 Der gedenkpolitische Rahmen erwies sich zudem als flexibel genug, um diverse Präsentationen persönlicher Philanthropie insbesondere von Mitgliedern des Oberhauses anzuregen, die sich auf die Arbeit für das Joint Committee on Human Rights oder das CHASTE-Programm (Churches Alert to Sex Trafficking Across Europe) beziehen konnten, aber auch auf ein Engagement für Flüchtlinge im Sudan, Zwangsarbeiter/-innen in Burma oder Kindersoldatinnen und -soldaten in Uganda. Nachdem die Regierung die Veröffentlichung ihrer Druckschriften dazu genutzt hatte, ihre Leistungen hervorzuheben, wurden im Parlament nun auch Versäumnisse aus Sicht der Abgeordneten angeprangert. Dies umfasste den Aufruf zur Einrichtung einer »UK border police force with specialist expertise to intercept traffickers and victims«369 ebenso wie die Kritik des POPPY-Projektes zur Unterstützung von Opfern erzwungener Sexarbeit als Tropfen auf den heißen Stein.370
366 HMG: Bicentenary, S. 26. 367 Baroness Hooper, House of Lords, 10.5.2007, C. 1546. 368 Vgl. Johnston, Philip: »Join Europe’s fight to defeat modern slavery, say Tories«, in: The Daily Telegraph vom 4.1.2007. »The Government has declined to sign the convention, which is backed by 34 states, on the grounds that it could be a ›pull factor‹ for illegal immigration. This is because its provisions allow victims to remain in the country under certain conditions.« 369 William Hague, konservativer Abgeordneter des Unterhauses für Richmond, Yorkshire, House of Commons, 20.3.2007, C. 702. 370 Diesbezüglich besonders deutlich wurde Anthony Steen, konservativer Abgeordneter des Unterhauses für Totnes, in derselben Debatte.
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Anders als die Macher des commemoration magazine konnten die Parlamentsmitglieder und Peers nicht auf das Mittel der optischen Anordnung von Textteilen zurückgreifen, um das Jahr 1807 möglichst direkt mit dem Jahr 2007 zu verbinden. Daher gestaltete sich der Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart bei Ausklammerung des weiteren Verlaufs der britischen Kolonialgeschichte rhetorisch bisweilen etwas ungelenk. Dies zeigte sich etwa im Redebeitrag von Valerie Amos, der die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts recht übereilt hinter sich ließ. In einem Moment sprach die Baroness von der »Royal Navy policing the seas«, um im nächsten anzukündigen: »I turn to contemporary forms of slavery.« 371 Ähnlich ging Lord Young of Norwood Green vor, der in seinem Redebeitrag nach der Ankündigung »I turn now to modern times« von 1807 direkt in das Jahr 2007 sprang.372 In dieser Hinsicht vergleichbar aufgebaut war der Beitrag von Rowan Williams beim Gedenkgottesdienst in der Kathedrale von Westminster, der mit einer vorwiegend religiös gerahmten Einleitung begann. Über den folgenden Teil schrieb Marcus Wood in seinem gewohnt offensiven Stil: »There followed a woolly piece of nonsense, moving between past and present forms of enslavement. The analysis mushed all forms of slavery, past, present, and future into a sludge.«373 Hintergrund: Die postkoloniale Nation im »Krieg gegen den Terror« Die Debatten um die Geschichte des Sklavenhandels waren in Großbritannien geprägt von der Spannung zwischen einem antirassistischen »Multikulturalismus« und der Furcht vor dem »clash of civilizations«, die sich unter dem Vorzeichen des politischen Islamismus und Terrorismus verbreitete. In diesem Spannungsfeld agierte New Labour als selbsternannte Partei eines »Dritten Weges« zwischen traditionell konservativen und klassisch linken Politikperspektiven. Die Positionierungen führender Politikerinnen und Politiker zeichneten sich daher auf der einen Seite durch die nachdrückliche Befürwortung eines kulturell und ethnisch vielfältigen Vereinigten Königreiches aus. So wurde das Vorgehen des nationalen Gesetzgebers im Kampf gegen rassistische Diskriminierung im Rahmen des Bicentenary wiederholt als vorbildlich hervorgehoben. Ähnlich wie die Abolitionsbewegung galten die entsprechenden politischen Schritte nicht zuletzt bei Kabinetts- und Parlamentsmitgliedern als historisches Aushängeschild britischer Offenheit und Toleranz. »The UK was one of the first countries to introduce legislation against race discrimination and we now have some of the most progressive law on race equality and race relations in the world«374, lobte etwa die Regierung in der Jubiläumsbroschüre auch ihre eigene Arbeit. Auf der anderen Seite wurde die Bedeutung von Nationalstolz als Stütze des gesellschaftlichen Zusammenhalts rhetorisch stark gemacht. Die Jahre der Blair-Regierung lassen dabei eine klare Tendenz zur Zurücknahme des anfänglichen Enthusiasmus für ein explizit multikulturelles Großbritannien erkennen. Denn schon einige Monate nach der Verabschiedung des neuen Race Relations Act begannen sich die Rahmenbedingungen auf eine Weise
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Baroness Amos, Lord President of the Council, House of Lords, 10.5.2007, C. 1582. Ebd., C. 1575. M. Wood: Horrible Gift, S. 304. HMG: Bicentenary, S. 26.
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zu verändern, die verbreitet Zweifel an den zugrunde liegenden Denkansätzen schürten. »The climate of ideas began to shift against multiculturalism in 2001. The turning point was not 9/11 alone, but the whole constellation of events that made the year such a toxic one for the selfunderstanding of British society: the riots in Bradford, Oldham and Burnley; a sharp increase in asylum claims, accompanied by daily images of young men scaling the fences of the Eurotunnel freight yards; and then the globe shattering attacks on the twin towers.«375
Die Anschläge vom 11. September 2001 und die ihnen nachfolgenden Kriege im Nahen Osten rückten die Zusammenhänge von äußerer und innerer Sicherheit in den Fokus der Regierung und in das öffentliche Bewusstsein. Dies betraf auch die Außenpolitik gegenüber Afrika. 376 Die Situation zeichnete sich dabei durch eine komplexe Überlagerung von »außen« und »innen« aus, sowohl im geographischen als auch im übertragenen Sinne des Raumbegriffs. »Th[e] increasing emphasis on Britishness, belonging, identity and values [...] has coincided strongly with the creation of the ›other‹ in foreign policy and with the invasion of Iraq. A strong national, rather than global, identity has been aggressively encouraged.«377 Nicht nur die nationale, sondern ebenso die lokale Politik erhielt dabei eine perspektivische Erweiterung ins Globale. Dies lässt sich anhand der Aussagen einer Abgeordneten der Labour-Partei verdeutlichen, die sich an der Debatte zum Jahrestag des Slave Trade Abolition Act am 20. März 2007 im House of Commons beteiligte. Sie nutzte die Gelegenheit zunächst, um ihren Kolleginnen und Kollegen ein Partnerschaftsprojekt von Liverpool und der Kleinstadt Waterloo in Sierra Leone zu präsentieren. Passend zum Anlass der Debatte, berief sie sich auf die Geschichte des Sklavenhandels als Grund für die Aufnahme der Zusammenarbeit: »Given that, 200 years ago, Merseyside helped to rob Africa of some of its best bodies and minds, it is fitting that, 200 years later, its descendants are doing something to help that same part of the world and, perhaps, to absolve the sins of our ancestors.«378 Die Unterstützung der infrastrukturellen Entwicklung in Sierra Leone war für sie jedoch nicht nur eine Moralfrage: 375 Pearce, Nick: »Not Less Immigration, but More Integration«, in: Nick Johnson (Hg.), Britishness. Towards a Progressive Citizenship, London: The Smith Institute 2007, S. 48-59, hier S. 48. 376 Vgl. Abrahamsen, Rita: »Blair’s Africa. The Politics of Securitization and Fear«, in: Alternatives 30/1 (2005), S. 55-80. Abrahamsen diagnostiziert dabei einen graduellen Übergang »from the category of ›development/humanitarianism‹ toward a category of ›risk/ fear/threat‹ in the context of the ›war on terrorism‹« (S. 55), im Hinblick auf die Britishness-Debatte sind beide Kategorien aber letztlich Teil desselben Diskurses. Vgl. hierzu auch die Ansprache von Tony Blair beim Weltwirtschaftsforum in Davos, 27.1.2007. 377 Bam-Hutchinson, June: »Britishness« in the National Conversation. The Life in the UK test, Citizenship Lessons, and the History Curriculum, Research Paper commissioned by the IPUP University of York, 2010, https://www.york.ac.uk/ipup/research/archive/natio nal-identity/britishness-conversation. 378 Claire Curtis-Thomas, Labour-Abgeordnete für Crosby/Merseyside, House of Commons, 20.3.2007, C. 746.
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»But we do not do this merely to appease guilty consciences. I believe that reaching out is important if we are to create communities with integrity and cohesion at home. We are living in a globalised world in which issues such as slavery, prostitution and the trade in drugs, weapons and people are fundamentally linked with matters concerning economics, population, immigration, labour supply and the state of our society.«379
Perspektiven wie diese stehen für eine im Vergleich zu den französischen Geschichtsdebatten deutlich stärkere außenpolitische Orientierung der Erinnerung. Hierfür boten zum einen die Geschichte der Inselnation sowie der sie begleitende Mythos der »seafaring nation« Anknüpfungspunkte. Zum anderen wirkte sich die aktuelle politische Bedarfslage aus, die mit der Vorprägung der Erinnerung in eine äußerst produktive Resonanz trat. Für die Art und Weise, in der New Labour versuchte, neue Akzente zu setzen, spielte die enge Verbindung von innen- und außenpolitischem Denken von Beginn an eine große Rolle. Auf der einen Seite ging es um ein in die Außenkommunikation eingespeistes Positivbild des Landes. »Pour un gouvernement usant de toutes les techniques modernes de communication, la question de l’image de la Grande-Bretagne que le nouveau travaillisme allait pouvoir donner au monde apparaissait comme un aspect essentiel de la politique du nouveau gouvernement.«380 Auf der anderen Seite sollte eine betont ambitionierte Außenpolitik zur Affirmation des politischen Projekts im Innern beitragen. »Who you are and who you want to be on the international scene also serves to define who you are and who you want your country to be domestically, and conversely. The two cannot be separated.«381 Die reformierte Labour-Partei definierte sich dabei in demonstrativer Abgrenzung von einem zunehmend als unzeitgemäß betrachteten Tory-Konservatismus. Ein besonders eindrückliches Beispiel für das bewusst betriebene image building liefert der Bericht mit dem programmatischen Titel »BritainTM: Renewing our identity«, der 1997 von Mark Leonard für den Labour nahe stehenden ThinkTank Demos verfasst wurde. 382 Die etwa zeitgleich aufkommende popkulturelle »Cool Britannia«-Stimmung kann ebenfalls exemplarisch für diesen Zusammenhang stehen, gleiches gilt für die politische Rhetorik, welche die erfolgreiche Bewerbung Londons für die Olympischen Sommerspiele 2012 begleitete.383 Außerdem betonte die neue Parteiführung ihren geistigen Bruch mit dem an Klassengegensätzen orientierten Denken der traditionellen Linken. Die Fokussierung auf moralische Wertbegriffe bildete hierbei eine sprachlich-inhaltliche Klammer, die den Vermittlungsweisen nationaler wie internationaler Politiklinien eine klare Konvergenz verlieh.
379 Ebd. 380 Barrier-Roiron, Virginie: »Le New Labour et l’identité britannique dans le monde. Continuité ou rupture?«, in: Observatoire de la société britannique (online) 5 (2008), https://doi. org/10.4000/osb.704, S. 2. 381 Auffret, Serge: »Great Expectations and the Moment of Truth. New Labour, National Identity, Religion and War«, in: Observatoire de la société britannique (online) 5/2008, https://doi.org/10.4000/osb.674, 3. 382 M. Leonard: BritainTM. 383 Vgl. Shi, Tongyun: »British National Identity in the 21st Century«, in: Intercultural Communication Studies XVII/1 (2008), S. 102-114.
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»Given that class is no longer relevant, what is the social content of New Labour’s ideology? Blair and Schroeder’s Third Way transformed traditional socialist values such as equality or solidarity into a set of ethical values based on the notion of community. The notion of community was then extended to the international sphere, in terms of discourse on ethical foreign policy and the duty to carry out ›humanitarian‹ interventions around the world.«384
Als Tony Blair an die Macht kam, verfügte er über keine relevante außenpolitische Erfahrung. »He did, however, come with charisma, an almost missionary zeal to change the UK and the world, and the kind of political clout that only a vast parliamentary majority can buy.«385 Auch wenn der Wahlkampf in erster Linie auf dem Feld der Innenpolitik ausgetragen worden war, enthielt das Manifest von New Labour bereits ehrgeizige Ankündigungen für die britische Außenpolitik. »Tony Blair had fully taken stock of the fact that, although the Suez affair had certainly taught Britain and France a lesson on the limits of their power, neither had Britain become an ordinary country. With a seat as a permanent member of the UN Security Council, worldwide access and capable military forces and the nuclear deterrent, Britain still had a unique role to play.«386
Außenpolitische Teile des Wahlprogramms waren daher um den Gedanken »Leadership« angeordnet. »On voit également apparaître un aspect important de la politique étrangère néo-travailliste: l’utilisation de valeurs morales en politique. D’aucuns auront pu relever la fréquence de l’emploi des épithètes ›right‹, ›good‹, ›evil‹ pour qualifier la politique étrangère britannique dans les discours de Tony Blair.«387 So verhieß der Text in der für die politische Rhetorik von New Labour typischen Verknüpfung von innerer und äußerer Perspektive eine Ära neuen Selbstvertrauens: »Britain cannot be strong at home if it is weak abroad. The tragedy of the Conservative years has been the squandering of Britain’s assets and the loss of Britain’s influence. A new Labour government will use those assets to the full to restore Britain’s pride and influence as a leading force for good in the world.«388 Nicht nur der Begriff der »Wiederherstellung« von Stolz und Einfluss kann als eine Referenz an die verflossene Kolonialmacht gelesen werden. Inwieweit es sich um einen neuen Ansatz handelte, ist daher durchaus fraglich: »La phrase est ambiguë: s’agitil de restaurer la fierté et l’influence de la Grande-Bretagne pour faire de cette dernière une force au service du bien, ou de restaurer l’influence et la fierté de la Grande-Bretagne parce qu’elles sont traditionnellement au service du bien?«389 Dieser selbstgerechten Haltung wurden von Kritikerinnen wie der Historikerin Virginie Barrier-Roiron konkrete politische Folgen unterstellt: »Tout se passe comme si le seul fait d’avoir 384 C. Curran-Vigier: From Multiculturalism to Global Values, 2. 385 Porteous, Tom: »British Government Policy in Sub-Saharan Africa under New Labour«, in: International Affairs 81/2 (2005), S. 281-292, hier S. 286. 386 S. Auffret: Great Expectations, S. 5. 387 V. Barrier-Roiron: New Labour et l’identité britannique, 2. 388 Labour Party 1997 General Election Manifesto, Abschnitt »Leadership not isolation«, abgedruckt u.a. in Dale, Iain (Hg.): Labour Party General Election Manifestos, Bd. 2: 1900-1997, London/New York 2000, S. 343-382, hier S. 382. 389 V. Barrier-Roiron: New Labour et l’identité britannique, S. 2.
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décolonisé l’empire n’avait pas réellement affecté l’ambition de la politique étrangère britannique, et par là même, la manière dont la Grande-Bretagne envisageait son rôle sur la scène internationale.«390 Die Betrachtung der interventionistischen Außenpolitik in der Amtszeit von Tony Blair eignet sich zumindest nicht dazu, solche Einschätzungen zu widerlegen. »During his 10 years in office he has fought more wars than any previous British prime minister, and his premiership will ultimately be defined by his decision to commit British troops to the invasion of Iraq«.391 Der Angriff auf den Irak bzw. das Regime von Saddam Hussein im Jahr 2003, einer von fünf britischen Militäreinsätzen im Ausland in der Zeit von Blair392, war national und international besonders umstritten. Insgesamt gab die Außenpolitik unter New Labour wiederholt Anlässe zu Reflexionen über den Zusammenhang zwischen der historischen Kolonialmacht und der aktuellen weltpolitischen Rolle des Landes. Die entsprechenden Kontroversen färbten auch auf die Geschichtsdebatten um den transatlantischen Sklavenhandel ab. Die internationale Neuordnung nach Ende des Kalten Krieges betraf nicht nur das Verhältnis der westeuropäischen Staaten zu Ländern der vormals so genannten »Dritten Welt«. Der europäische Kontinent selbst wurde vom Zusammenbruch der sowjetischen Weltmacht schwer erschüttert. »Under the impact of the Yugoslav wars of the 1990s, the cause of ›humanitarian intervention‹ was increasingly taken up by more liberal voices across the western world.«393 Vor diesem Hintergrund skizzierte Tony Blair in einer Rede, die er 1999 vor dem Chicago Economic Club hielt, die Umrisse einer »doctrine of the international community«, um Standards für die Definition von gerechten und gerechtfertigten Militärinterventionen zu setzen. Das aktive Eingreifen zum Schutz der Menschenrechte sah er dabei als eine außenpolitische Verantwortung liberaler Staaten an. »This demonstrates how far crusading humanitarianism was an important theme in New Labour’s foreign policy before Iraq.«394 Der in den Kommentierungen von Blairs Vision wiederholt auftauchende Begriff des »Kreuzzuges« setzte die Politik in eine Beziehung zu den religiösen Überzeugungen des Premierministers,
390 Ebd., S. 5. 391 Coughlin, Con: »Defiant warmonger to the last«, in: The Daily Telegraph vom 10.5.2007. 392 Irak, Desert Fox (1998), Kosovo (1999), Sierra Leone (2000), Afghanistan (2001), Irak (2003); vgl. hierzu v.a. J. Kampfner: Blair’s Wars; Deighton, Anne: The Foreign Politics of British Prime Minister Tony Blair. Radical or Retrograde?, HU Berlin Centre for British Studies, Working Paper Series, 11.7.2005, https://www.gbz.hu-berlin.de/downloads/pdf/ WPS_Deighton_Blair.pdf. 393 Milne, Seumas: »Imperial nostalgia. Britain not only conveniently still forgets the crimes of its imperial past, but it has also again begun to romanticise its colonial achievements and declare them a proper source of pride«, in: Le Monde Diplomatique vom Mai 2005. 394 Wheeler, Nicholas J./Dunne, Tim: Moral Britannia? Evaluating the Ethical Dimension in New Labour’s Foreign policy, Foreign Policy Centre, London 2007, http://fpc.org.uk/ fsblob/233.pdf, S. 19.
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der sich deutlicher als viele seiner Vorgänger zu seinem christlichen Glauben bekannte.395 Zudem entstand hierdurch eine vermutlich unbeabsichtigte, aber nicht zufällige Nähe zum religiös inspirierten Engagement gegen den transatlantischen Sklavenhandel. Spätestens seit dem 1903 erschienenen Buchtitel »William Wilberforce: The Story of a Great Crusade« von Travers Buxton kommt die Metapher in diesem Zusammenhang zur Anwendung. Vor dem Hintergrund des Bicentenary fand ein neues Attribut Eingang in die Formulierung: »[T]he anti-slavery campaign became the first great moral crusade in modern history.«396 Im Verlauf seiner Amtszeiten entwickelte der britische Premierminister sein außenpolitisches Profil systematisch weiter. »No one could have predicted in mid1997 that Prime Minister Tony Blair would become more involved in African politics than any British leader since decolonization, […] making Africa an explicit foreign policy priority for his second term.«397 Diese Schwerpunktsetzung passte zu einer größeren Verschiebung der Interessenlage, denn in den 1990er Jahren alarmierte die sich verschärfende Krisensymptomatik auf dem afrikanischen Kontinent die britische und internationale Öffentlichkeit zunehmend. »The starting point of these debates was a moral challenge: not enough was being done by rich countries to tackle poverty. One problem was that it was very hard to implement reform in the context of weak states […]. Another was that poor countries were increasingly disadvantaged in the global economy because of unsustainable debts and an international trading system weighted against them. In response, the World Bank and others were now breaking old taboos on debt and political governance and coming up with new ideas.«398
Neben dem weiterhin offensiv verfolgten Ansatz der makroökonomischen »Strukturanpassung« traten also der Kampf gegen Verschuldung, Armut und Korruption sowie die Betonung von »good governance«. Die britische Regierung schloss sich dieser Perspektive nicht nur an, sondern strebte nach einer internationalen Führungsrolle bei ihrer praktischen Umsetzung. So wirkte etwa Clare Short, Inhaberin des neu eingerichteten Postens des Secretary of State for International Development im ersten Kabinett Blair, sehr aktiv an der Ausarbeitung der von der UNO proklamierten MillenniumsEntwicklungsziele mit.399 »The change has been driven in part by genuine changes in articulate public opinion. The public support for the Jubilee 2000 campaign, the willingness to contribute on to an unprecedented scale to relief and rehabilitation after the Indian Ocean tsunami, the success of the ›Make Poverty 395 Vgl. auch den früh zum Thema erschienenen Buchtitel von Little, Richard (Hg.): New Labour’s Foreign Policy. A New Moral Crusade?, Manchester: Manchester University Press 2000. 396 So Rennison, Nick: »Bury the Chains. The British Struggle to Abolish Slavery (Rezension zu dem gleichnamigen Buch von Adam Hochschild, New York 2005)«, in: The Sunday Times vom 8.1.2006. 397 T. Porteous: British Government Policy in Sub-Saharan Africa, S. 281. 398 Ebd., S. 286. 399 Vgl. Manning, Richard: »Development«, in: Anthony Seldon (Hg.), Blair’s Britain, 19972007, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 551-571, hier S. 554.
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History‹ and ›Live 8‹ campaigns, and the rise of the Fair Trade movement all showed heightened public concern about the well-being of poor people worldwide.«400
Vor diesem Hintergrund entwickelte die Labour-Regierung ihre als »ethisch« bezeichnete Perspektive auf die britische Außenpolitik.401 Nicht das Eigeninteresse, sondern das aktive Engagement für die universellen Werte der UN-Menschenrechtscharta sollte, so der propagierte Anspruch, den politischen Horizont ausmachen. Dies bedeutete zunächst eine Aufwertung der Entwicklungszusammenarbeit.402 Die von Großbritannien präsidierten G8-Gipfel 1998 in Birmingham und 2005 im schottischen Gleneagles, der den Belangen afrikanischer Staaten einen besonderen Stellenwert einräumte, boten willkommene Möglichkeiten zur Unterstreichung entsprechender Ambitionen.403 Beginnend mit dem NATO-Einsatz gegen die Politik von Slobodan Milošević im Kosovo und der britischen Intervention im Bürgerkrieg in Sierra Leone trat aber zunehmend die Option des direkten militärischen Eingreifens in den Vordergrund. Dieses wurde zwar als zweite Seite derselben Medaille präsentiert – brachte aber einen deutlich erhöhten Legitimationsbedarf mit sich. Zudem trug die oft spannungsreiche Zusammenarbeit von nunmehr zwei für die internationalen Beziehungen zuständigen Ministerien wiederholt dazu bei, einen alten Konflikt auf neue Art sichtbar zu machen, der auch in zeitgenössischen wie aktuellen Debatten um den transatlantischen Sklavenhandel eine wesentliche Rolle spielt(e): »the centuries-old conflict between Britain’s interests and its moral values.«404 Im Hinblick auf den britischen Abolitionismus wurde und wird genau dieser Punkt besonders intensiv erforscht und diskutiert, ohne dass sich eine konsensfähige Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Antrieb der historischen Entwicklung abzeichnet.405 Hochaktuelle Herausforderungen der praktischen Politik trafen hier also auf ebenfalls ungelöste Probleme der Geschichtswissenschaft. Dies machte den politischen Umgang mit historischen Argumenten besonders spannend und vielgestaltig. »From 1997 to the beginning of 1999 the government’s ethical foreign policy was reasonably well received. The architects of the policy were regularly praised for their courage, and many of their substantive policy commitments were thought to be progressive«. 406 Das soziale Echo wurde vom positiven Strang der »Millenniumsstimmung« und dem wachsenden Einfluss von Nichtregierungsorganisationen unterstützt. 400 401 402 403
Ebd., S. 553 Vgl. S. Auffret: Great Expectations. Vgl. R. Manning: Development. Vgl. v.a. den Leitartikel in The Guardian: »Africa – Out of Gleneagles« vom 11.7.2005 sowie Elliot, Larry: »Hear Africa 05. The verdict – A year ago the Guardian set out to track the west’s promises of action for Africa on aid, trade, health and debt relief. As G8 finance ministers meet this week, our four-page special report examines whether those commitments have been met«, in: The Guardian vom 6.2.2006; Ders.: »Africa’s time has come – and may have gone«, in: The Guardian vom 19.9.2005. 404 Blair, David: »What price justice? The expected release of the Lockerbie bomber illustrates the centuries-old conflict between Britain’s interests and its moral values«, in: The Daily Telegraph vom 20.8.2009. 405 Vgl. das Kapitel Der historische Konflikt: Die koloniale Sklaverei. 406 N.J. Wheeler/T. Dunne: Moral Britannia?, S. 15.
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Kampagnen wie »Jubilee 2000« und »Make Poverty History« konnten vor diesem Hintergrund gerade in Großbritannien das Interesse und die Unterstützung vieler Bürger/ -innen mobilisieren. »[T]he ›Drop the Debt‹ campaign [...] was enormous in Britain and involved huge numbers of people and the churches [...] culminating in huge demonstrations in Birmingham outside G8 and which was effectively orchestrated by the government.«407 In der zwei Jahre später orchestrierten Feier der britischen Abolitionsbewegung in ihrer sozialen Breite erhielt die skizzierte Stimmung ein historisches Spiegelbild. Der Verlauf der Konferenz in Gleneagles kann aber exemplarisch vor allem für den Wandel des Klimas stehen, der sich im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende vollzog: Unter dem Eindruck der Bombenattentate auf das Londoner Verkehrssystem am 7. Juli 2005, dem zweiten Tag der Gipfelgespräche, rückten die Themen Terrorismus und Sicherheit auf der Agenda nach vorn. Das Bemühen, die Führungsrolle britischer Institutionen und Akteure in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu betonen, machte sich bereits in Blairs Zeitungsartikel für New Nation bemerkbar, der den offiziellen Tenor des herannahenden Jubiläumsjahres 2007 vorgab: »[T]he world is now focusing, not least because of the G8 summit and the Make Poverty History campaign, on how we can help Africa tackle its problems. Agreement was reached to double aid to Africa by 2010, to write off the debts of the poorest countries and massively to increase funding to tackle AIDS and improve healthcare and education. Britain is playing its full part both through increasing bilateral aid and through international leadership.«408
Besonders explizit wurde für die diesbezügliche Leistungsbereitschaft der amtierenden Regierung außerdem in der offiziellen Broschüre zum Bicentenary geworben, die unter anderem die Leistungsfähigkeit des neuen Department for International Development herausstrich: »DFID works in partnership with others in 150 countries, with a budget of approximately £5.9 billion in 2006.«409 Der Gedanke, dass es sich um eine Art Wiedergutmachung für die unrühmliche Rolle handeln könnte, die Großbritannien in der 407 Starkey, Phyllis: »British Identity. Community Cohesion and Embracing Diversity«, in: Observatoire de la société britannique (online) 5 (2008), https://doi.org/10.4000/osb.608, 3. 408 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. 409 HMG: Bicentenary 1807-2007, S. 24. Auch der Tenor der Unterhausdebatte am 20. März 2007 war nicht zuletzt von »Stolz« auf die historischen und aktuellen Leistungen Großbritanniens geprägt. Dies galt in besonderem Maße für Regierungsmitglieder und -anhänger/ -innen, wie die bereits zitierte Labour-Abgeordnete aus Liverpool, welche die von der Parteiführung vertretene Linie ihrerseits aufnahm: »I am proud to be a member of a party that, in government, has done more than any other to tackle the problems of international development. It has created a Department for International Development at Cabinet level, and it is working with our partners to improve access to medicines, to combat AIDS and to fight corruption. It is also taking a lead on the world stage by doubling aid and writing off debt.« Claire Curtis-Thomas, Labour-Abgeordnete für Crosby/Merseyside, House of Commons, 20.3.2007, C. 746. Ausführungen wie diese erfolgten natürlich nicht zufällig im genannten Rahmen, auch wenn die Verbindung zwischen der aktuellen Regierungspolitik und dem Kampf gegen den transatlantischen Sklavenhandel nicht unbedingt expliziert wurde.
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Hochzeit des transatlantischen Sklavenhandels gespielt hatte, liegt hier zwar nahe, ausformuliert wurde er allerdings nicht. Eine historisch kausale Verknüpfung zwischen dem Reichtum der Gebenden und dem Elend der Bedürftigen blieb in der offiziellen Rhetorik weitgehend außen vor. Die in diesem Rahmen hergestellten Verknüpfungen folgten einer anderen Logik: »Slavery has its roots in poverty and discrimination, which make people vulnerable to exploitation. DFID […] supports long-term programmes to eliminate the underlying causes of poverty.«410 Gründe und Verantwortlichkeiten für die bestehenden Verhältnisse blieben in solchen Formulierungen ausgeklammert. Neue Nahrung erhielt dagegen der bereits aus kolonialhistorischen Kontexten bekannte »Mythos der britischen Wohltätigkeit«. 411 Auch die Vielfalt der angeführten Aktionsfelder »ethischer Außenpolitik« zeigt, dass die historische Konkretion bisweilen erheblich unter der Übertragung der vermeintlichen Lehre aus der Geschichte auf die Gegenwart zu leiden hatte. Sehr deutlich wurde dies anhand eines weiteren Versuchs aus Kabinettskreisen, die eigene Politik im Zuge des Gedenkjahres fruchtbar zu vermarkten. In einem Zeitungskommentar, den er bereits Anfang Januar veröffentlichte, befasste sich Schatzkanzler Gordon Brown mit einem von ihm stets besonders hervorgehobenen Aspekt der internationalen Zusammenarbeit, nämlich der Entwicklungshilfe im Bildungsbereich. Dabei bemühte er sich, auch diese mit dem 200 Jahre zuvor geführten Kampf für die Abschaffung des Sklavenhandels gleichzusetzen: »[T]he best way to commemorate the end of the slave trade in 1807 is to end the slavery of ignorance in 2007. Our goal is to ensure free education for every child, building the foundation of a truly free life for every adult, and we will commit to every child being at school, and achieve it within 10 years.«412 Sklaverei wird hier zu einer Metapher der ungerechten Ungleichheit schlechthin ausgedehnt, die von New Labour in allen möglichen Formen verurteilt und bekämpft werden müsse. Regierungskritiker/-innen hielten den Instrumentalisierungsversuchen des Jubiläumsjahres 2007 eigene historische Betrachtungen entgegen, in denen sie andere Parallelen und Kontinuitätslinien in Bezug auf die Konsequenzen britischen Handelns in der Welt zogen. In einem Schreiben an den Guardian skizzierte ein Leser folgende Situation: »Here is a trade that employs very large numbers of people and contributes immeasurably to Britain’s wealth, and thereby benefits all of society. It creates great financial enterprises and encourages businesses, industry and technical development (e.g. in shipbuilding). It extends Britain’s influence across the globe, in territories that otherwise would be subject to foreign pressure. Extremist fringe elements oppose it on various ethical grounds, but it is sanctioned by reason of 410 HMG: Bicentenary 1807-2007, S. 24. 411 Vgl. Johnston, Sasha: Slavery, Abolition, and the Myth of White British Benevolence, MAThesis University of British Columbia, 2009. 412 Kommentar von Brown, Gordon: »Our 2p pledge to all children: I want to mark the end of the slave trade in 1807 by tackling the modern slavery – ignorance«, in: The Guardian vom 4.1.2007. Auch diese Linie der Regierung wurde in Parlamentsdebatten aufgenommen: »We can congratulate ourselves on having come a long way since 1807, but we have not come all the way. There is a tremendous amount yet to be done, not only in direct action on slavery but in tackling other problems, such as poverty and illiteracy, which enslave people.«, Lord Roberts of Llandudno, House of Lords, 10.5.2007, C. 1577 f.
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national necessity and supported by well-argued moral and religious reasoning. Moreover, if we did not participate in it others – not as nice as us – would, undermining our economy and international standing.«413
Vordergründig handelt es sich zunächst um eine grobe Auflistung der im 18. Jahrhundert zur Rechtfertigung des transatlantischen Sklavenhandels angebrachten Argumente. Dass diese Art von Geschichte möglicherweise nicht einfach der Vergangenheit angehörte, signalisiert lediglich die Überschrift, unter welcher der spitzfindige Brief veröffentlicht wurde: »From slavery to weapons dealing«. Anstelle der Abolition tritt hier der Sklavenhandel selbst in den Mittelpunkt, und es ist der (un-)moralische Widerspruch, der im Lichte der britischen Gegenwart zur nationalen Tradition erhoben wird. Nicht ohne Zynismus und mit einem klaren Seitenhieb auf die geschichtspolitisch geförderte Feierstimmung folgt der Schluss: »It is now fashionable to condemn the slave trade and all those involved in and benefiting from it. Today, of course, we are better than them.« 414 Ein weiterer Leserbrief reagierte direkt auf die vom Schatzkanzler präsentierte Argumentation. »Gordon Brown sees the lack of education in poor countries as the equivalent of the slave trade. The true moral equivalent is the export of armaments.«415 Zwar ist der Versuch, ein von konkreten Handlungskontexten abstrahierendes Moraläquivalent zu konstruieren, problembehaftet. Dennoch kommt der hier zum Vergleich herangezogene Waffenhandel dem originalen historischen Zusammenhang tatsächlich in einiger Hinsicht näher: Auch hier geht es im Kern um die Problematik eines wirtschaftlich profitablen, aber mit unethischen Konsequenzen verbundenen Geschäfts. Nicht zuletzt werden in einem weiteren Sinne britische Verantwortlichkeiten sehr viel eher berührt. Im Fall der Bildungsmisere in verarmten afrikanischen Staaten exportiert Großbritannien lediglich freiwillige Unterstützung. Die eigentliche ethische Herausforderung, nämlich die Überordnung der moralischen über die eigenen materiellen Interessen, stellt sich allenfalls indirekt. Und an diesem Punkt stieß die von New Labour propagierte Kombination von Eigeninteresse und Uneigennützigkeit in der Außenpolitik offenbar an Grenzen: Die kritischen Kommentare standen vor dem Hintergrund gleich einer ganzen Reihe von umstrittenen britischen Waffenlieferungen an von wirtschaftlichen und/oder politischen Krisen destabilisierte Staaten wie Simbabwe, Marokko, Tansania, Indien und Pakistan sowie Indonesien, dessen Regierung trotz der Konflikteskalation in Ost-Timor mit Kriegsmaterial versorgt wurde. Tatsächlich sah sich die Glaubwürdigkeit der neuen Regierung bereits kurz nach ihrem offiziellen Zusammentreten durch einen Skandal gefährdet, der als »Arms-to-Africa-Affair« bekannt wurde. Er betraf eine Waffenlieferung zur Unterstützung des gestürzten Präsidenten von Sierra Leone, die einen Verstoß gegen das von der UNO zu Stabilisierung der Region verhängten Waffenembargos darstellte. Der Handel wurde mit Billigung des Außenministeriums unter Robin Cook von einem britischen Privatunternehmen abgeschlossen und durchgeführt. »An illegal arms deal, cosy meetings between British officials and British mercenaries, 413 Lionel Burman in einem Leserbrief zum Thema »From slavery to weapons dealing«, in: The Guardian vom 28.8.2006. 414 Ebd. 415 Leserbrief von Roberts, John: »Education opens the way to tackling poverty«, in: The Guardian vom 5.1.2007.
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crates of weapons quietly shipped to West Africa, a dodgy Indian middleman – it all flew in the face of the ›ethical dimension‹ and the openness Cook was trying to bring to UK foreign policy.«416 Die Lage in der ehemaligen Kolonie Sierra Leone spitzte sich in der Folgezeit so weit zu, dass die britische Regierung sich zur Entsendung eigener Truppen entschloss. Die militärische Intervention im Mai 2000 war zwar nicht unumstritten, da sie aber mittelfristig einen Beitrag zur Beendigung des seit Jahren andauernden Bürgerkriegs leistete, fällt das Urteil im Rückblick oft positiv aus: »Sierra Leone is usually presented as the main example of successful UK intervention to rescue a collapsed state.«417 Dies bestärkte Tony Blair in seiner Überzeugung von der Richtigkeit des offensiven Ansatzes. Auch die Präsentation des bewaffneten Eingreifens als ethisch motiviert und moralisch legitimiert wurde von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren übernommen.418 Besonders interessant ist in dieser Hinsicht ein Artikel, den der mit dem Premierminister weder persönlich noch politisch verwandte Auslandskorrespondent David Blair für den Daily Telegraph verfasste. Zwar gab der Journalist sich insgesamt skeptisch, was die Uneigennützigkeit nationalstaatlichen Handelns betraf, auch in Bezug auf die ihn vor allem interessierende britische Geschichte. Vor diesem Hintergrund hob seine Argumentation jedoch signifikante Ausnahmen von der Regel hervor: »Instead of the umpteen occasions when brute national interest has triumphed, perhaps the more surprising fact is how often in British history we have put our values first. The shining example remains the abolition of the slave trade in 1807, when Britain chose to damage its own commercial interests in Caribbean sugar, and place itself at odds with key allies, for the sake of doing what was manifestly right.«419 Genau hier sah er eine Vergleichbarkeit zur »ethischen Außenpolitik«. »[N]o cynical calculation of self-interest lay behind Tony Blair’s intervention in Sierra Leone in 2000, when British troops saved an African capital from the clutches of a brutal rebel army and, eventually, stopped a terrible civil war.«420 Zwei Jahre nach dem Bicentenary zeigte sich an Argumentationen wie dieser der Erfolg, mit dem die Geschichte des britischen Abolitionismus als historische Tiefendimension des »neuen Internationalismus« etabliert worden war. Nach der Zerstörung des World Trade Center nahmen die USA eine neue, offen interventionistische Haltung in den internationalen Beziehungen ein, die zunächst den militärischen Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan und schließlich des irakischen Machthabers Saddam Hussein zur Folge hatte. Die Richtungsentscheidung zur Unterstützung des so genannten »war on terror« der Bush-Administration führte mittelfristig zu deutlichen Prestigeverlusten für die britische Regierung und ihren Premierminister. 416 T. Porteous: British Government Policy in Sub-Saharan Africa, S. 287. 417 Ebd., S. 291. 418 Vgl. z.B. N.J. Wheeler/T. Dunne: Moral Britannia?, S. 15: »The architects of the policy were regularly praised for their courage, and many of their substantive policy commitments were thought to be progressive, including […] the successful humanitarian intervention in Sierra Leone where the usual menu of interests were negligible.« 419 Blair, David: »What price justice? The expected release of the Lockerbie bomber illustrates the centuries-old conflict between Britain’s interests and its moral values«, in: The Daily Telegraph vom 20.8.2009. 420 Ebd.
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»The run-up to the war in Iraq, then war itself and its aftermath were to alter profoundly not just the image of Tony Blair as a leader but public perceptions of the role of Britain alongside the US on the world scene.«421 Die nicht zuletzt von Blair persönlich forcierte Entscheidung für den Kriegseintritt stieß auf massiven Protest im In- und Ausland, der mit kritischen Stimmen zur Intervention im Kosovo, in Sierra Leone und zum bereits umstritteneren Angriff auf Afghanistan nicht zu vergleichen war. Auch diese bewaffneten Interventionen wurde vom Premierminister mit dem Vokabular der ethischen Verpflichtung gerechtfertigt, die das Land im Namen der Menschlichkeit und im Angesicht der Geschichte zu übernehmen habe. Die stark zugespitzte Frage, ob es sich beim britischen Empire nun um ein »good thing« oder ein »bad thing« gehandelt habe422, bekam in einem solchen Kontext eine neue Qualität und Relevanz. Dabei hatte die Regierung einige namhafte Intellektuelle auf ihrer Seite: Auch und gerade vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung sprachen sich nicht zuletzt der Historiker Niall Ferguson und Blairs Berater Robert Cooper für eine aktive britische Außenpolitik aus, die unter dem Vorzeichen einer bewusst wahrgenommenen neo-imperialen Verantwortung stehen sollte.423 In diesen Zusammenhang ordneten sich mithin auch viele Thematisierungen des Kampfes gegen Sklaverei und Sklavenhandel ein. »Whiggish champions of Britain’s imperial past point to 1807 as symbolic of our ›good empire‹. It was a heroic moment when idealism trumped materialism as the Royal Navy scoured the seas for illegal slave ships.«424 Es ging hierbei weniger um geographisch und zeitlich begrenzte Zusammenhänge oder konkrete historische Analysen als um das Gesamtbild, »the bigger moral picture« – eine Perspektive, die laut John Kampfner auch für Tony Blairs Herangehensweise an außenpolitische Fragen typisch war.425 Dieser Perspektivierung ordnete sich nicht zuletzt die Darstellung der Royal Navy als einem klassischen Träger der traditionellen Erinnerungskultur unter. »One dominant image […] of slavery is of the sea«, erklärte der Earl of Sandwich in der Oberhausdebatte anlässlich des Jubiläums, ohne sich der Verwechslung von Sklaverei und Sklavenhandel gewahr zu werden. »›Britannia rules the waves‹, we used to sing at school. We still believed it as late as 1956. […] We still have pride in this country in our modern Navy and our Merchant Navy and their many achievements. But we can have no pride in the terrible slave trade and the scandalous way that human cargo was used to achieve and build on some of these excesses and to satisfy our demand for
421 S. Auffret: Great Expectations, S. 4. 422 Diese Stoßrichtung erhielt die Diskussion nicht zuletzt durch die viel beachtete Fernsehserie »Empire. How Britain made the modern world« (Channel 4, Januar 2003), für deren Inhalt in erster Linie Niall Ferguson verantwortlich zeichnete. 423 Vgl. Bishop, Patrick: »Neo-colonialism may be the solution«, in: The Daily Telegraph vom 11.11.2001. Vgl. Ferguson, Niall: Empire. The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, London: Basic Books 2003. 424 Kommentar von Hunt, Tristram: »Easy on the euphoria. Slavery underpinned the Georgian economy as oil does ours. 2007 should give us a chance to learn«, in: The Guardian vom 25.3.2006. 425 Vgl. v.a. J. Kampfner: Blair’s Wars.
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cheap imports.«426 Der Einsatz der Marine gegen den internationalen Sklavenhandel konnte den aufkommenden historischen Selbstzweifel aber umgehend wieder ausgleichen. Er war praktisch der einzige Aspekt der weiteren britischen Imperial- und Außenpolitik des 19. Jahrhunderts, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit sowohl in den Medien als auch in politischen Reden thematisiert wurde. 427 Verweise auf das indentured labour system, das im Anschluss an die Abschaffung der Sklaverei in der Karibik etabliert bzw. unter imperialem Vorzeichen retabliert wurde, oder auf den Aufbau von exportorientierten Großplantagen in Afrika waren dagegen selten.428 Dies gilt umso mehr für Aufrufe zu einer kontextualisierenden Erinnerungsleistung, wie sie etwa von Baroness Howells of St Davids anlässlich des Bicentenary im Oberhaus vorgetragen wurden: »Slavery did not end in 1807 and should be remembered as an initial part of the much larger and more pervasive colonial system that developed in tandem with Britain’s involvement with the trade.«429 Die relativ randständige Position solcher Stimmen ließ Raum für eine geschichtspolitische Strategie, in deren Rahmen sich Vergangenheit und aktuelle Außenpolitik gegenseitig in ein vorteilhaftes Licht setzten. Die den britischen Abolitionismus auf das Weltmeer tragende Aktivität der Royal Navy erschien in diesem Zusammenhang vor allem als Vorläufer des »humanitären Interventionismus«. Jenseits der Suche nach der moralischen Makroperspektive kann der Einsatz der britischen Marine gegen Sklavenhandelsschiffe auf dem Atlantik zwar auch als ein »völkerrechtlich« nicht legitimiertes Vorgehen und als unilateraler Eingriff in die Freiheit des Handels betrachtet werden – sei er nun zum Wohle der in Afrika versklavten Menschen erfolgt oder zum Ausgleich eines relativen wirtschaftlichen Nachteils, der aufgrund des eigenen politisch verordneten Rückzugs aus dem profitablen Geschäft zu befürchten war. Die Bedeutung des proklamierten Zieles, der menschenverachtenden Praxis ein Ende zu setzen, lässt solche Erwägungen wie Detailfragen erscheinen und
426 Earl of Sandwich, House of Lords, 10.5.2007, C. 1562. Zum Zusammenhang von imperialnationaler Identität und dem Einsatz gegen den Sklavenhandel auf See, vgl. J. Oldfield: After Emancipation. 427 Vgl. z.B. ebd., S. 21. 428 Sadiq Khan, Labour-Abgeordneter für Tooting, House of Commons, 20.3.2007, Lord Lester of Herne Hill und Baroness Young of Hornsey, House of Lords, 10.5.2007. Das commemorative magazine der Regierung Blair erwähnt das System zwar, setzt es aber nicht in Beziehung zu Zwang und Ausbeutung, sondern eher zur multikulturellen Gegenwart: »White landowners, meanwhile, turned to new sources of labour, and indentured Chinese and Indians were brought to the islands to work the plantations and make their own mark on the West Indies.«, HMG: Bicentenary 1807-2007, S. 20. 429 Baroness Howells of St Davids (»whose ancestors were among those enslaved«), House of Lords, 10.5.2007, C. 1545. Vgl. auch die ausführlichen Kommentare von Gopal, Priyamvada: »It is contradictory to condemn slavery and yet celebrate the empire. The horrors of the past were not momentary lapses of judgment that can be redeemed through public remorse«, in: The Guardian vom 2.4.2007 und Gott, Richard: »Britain’s vote to end its slave trade was a precursor to today’s liberal imperialism. The sanctimonious interventionism that still motivates British governments was first conceived in 1807«, in: The Guardian vom 17.1.2007.
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in der historischen Forschung, vor allem aber der historischen Erinnerung in den Hintergrund treten. Die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels wurde so vor allem zum historischen Beispiel für den moralisch überlegenen Zweck, der die Mittel der internationalen Intervention ohne Zweifel rechtfertigte. Politisch besonders nützlich war diese Aura des britischen Abolitionismus vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffs auf den Irak, der nicht nur von großen Teilen der britischen Bevölkerung abgelehnt wurde, sondern auch den Rücktritt hochrangiger Labour-Mitglieder von ihren Ämtern zur Folge hatte.430 In Schadensbegrenzung versuchte sich nicht zuletzt Valerie Amos, die 2003 von Clare Short das Amt des Secretary of State for International Development übernahm. Sie warb auch in internationalen Kontexten für die Regierungslinie, die ihre Vorgängerin zum Rücktritt gedrängt hatte.431 Auch das neu aufgeschlagene Kapitel der Außenpolitik wurde in eine 1807 beginnende Linie der historischen Kontinuität des moralischen Handelns gestellt. Nutznießerin dieser Verknüpfung konnte die Labour-Partei sein, ein Großteil des 2007 verteilten Lobes wurde allerdings der britischen Nation, vertreten durch ihr Parlament, ihre Kirche(n) und ihre engagierten Bürger/-innen, zuteil – mit denen die Regierung im Zuge der Debatte um den Kriegseintritt in einen langfristig nachwirkenden Konflikt geraten war. Es ist aufschlussreich für den Zusammenhang von Gegenwarts- und Vergangenheitsinterpretation, dass die weniger ruhm- oder erfolgreichen Aspekte der Geschichte genau dann zur Sprache kamen, wenn nicht mehr das von der Medienöffentlichkeit weitgehend geteilte Eigenlob, sondern die Zurückweisung von Kritik gefragt war. In diesen Zusammenhängen verlor auch der britische Einsatz gegen den transatlantischen Sklavenhandel einen Teil seines Glanzes und seiner historischen Eindeutigkeit. Die formulierten Einschränkungen blieben insofern sehr partiell, als dass das Ziel über den moralischen Zweifel erhaben blieb – bleiben musste, um die Aura des Mythos auf aktuelle Zusammenhänge übertragen zu können. Die Darstellung der Wege und Mittel gewann allerdings an historischer Substanz und Differenziertheit. Dies lässt sich beispielhaft an einer Kontroverse illustrieren, die David Miliband mit einer seiner Reden auf den Leserbriefseiten des Guardian entzündete. Gordon Browns Außenminister sprach sich Anfang 2008 explizit gegen eine grundlegende Kehrtwende in der britischen Außenpolitik als Lehre aus den Kriegen in Afghanistan und im Irak aus. »[D]iscussion about the Iraq war has clouded the debate about promoting democracy around
430 Robin Cook trat von seinen Posten als Leader of the House of Commons und Lord President of the Council zurück, Clare Short von ihrem Amt als Secretary of State for International Development. Rein formal benötigt die Regierung des Vereinigten Königreichs die Zustimmung der Abgeordneten zum Eintritt in einen militärischen Konflikt nicht; das Votum und vor allem die Haushaltsbefugnisse des Parlaments sind natürlich trotzdem bedeutsam. 431 Ein Journalist des Evening Standard schrieb hierzu: »Mr Blair has an absolute trust in the 49-year-old peer which far exceeds his confidence in most elected Labour MPs. During the worst days of the Iraq crisis, he trusted her on a mission to fly to Africa to try to talk around several key states to support a second UN resolution for military action. One of them was Guyana, where she was born in 1954.«, Joe Murphy: »Enter the Baroness: bright, attractive and above all loyal«, in: Evening Standard vom 12.5.2003.
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the world«, so Miliband. »But my plea is that we do not let divisions over those conflicts obscure our national interest, never mind our moral impulse, in supporting movements for democracy.«432 Gegen den von ihm formulierten »demokratischen Imperativ« zu Einflussnahme und Intervention erhoben nicht nur Zeitungsleser/-innen ihre Einwände.433 Verteidigt wurde die Argumentation des Ministers dagegen von einem einflussreichen Parteikollegen aus dem House of Lords. Dieser bediente sich dabei ebenfalls des weiter oben bereits in Erscheinung getretenen Mittels der politisch-historisch doppeldeutigen Darstellung, welche die Leser/-innen zunächst bewusst auf eine falsche Fährte lockte. »Two hundred years ago an illegal war was launched by Britain on the basis of an idea […]. It lasted for 60 years. Legal action was initiated against Britain here and overseas. Opponents of the idea were trying to force a change in British policy«, begann Clive Soley seine Ausführungen und fuhr fort: »The idea was the abolition of the transatlantic slave trade. There were many innocent victims in this war, not least when chained slaves were thrown overboard when a Royal Navy ship was sighted. Others were killed when the navy entered harbours in foreign countries and burnt the slave boats.«434 Diese Betonung der Kehrseiten der britischen Politik, die heute vermutlich unter dem Begriff »Kollateralschaden« gefasst werden würden, stellte eine Ausnahme in den Ausführungen von Politikerinnen und Politikern zur Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels dar. Sie war hier in erster Linie durch eine zunehmend defensive politische Position bedingt. Offene Kritik am globalen Einfluss des britischen Kolonialismus blieb unter den gegebenen Umständen ein politisches Risiko. Dies kann vor allem eine von Jack Straw ausgelöste Kontroverse illustrieren; allerdings entzündete sich an einer öffentlichen Stellungnahme von David Cameron einige Jahre später eine erstaunlich ähnliche Diskussion.435 In seiner Funktion als Außenminister fasste Straw in einem Interview, das 432 Miliband, David: »The democratic imperative«, Aung San Suu Kyi lecture by Rt Hon David Miliband MP Foreign Secretary St Hugh’s college, Oxford 12.2.2008, http://www. telegraph.co.uk/news/politics/1578384/Speech-in-full.html. Im Guardian wurden Inhalte der Rede unter dem Titel »The duty to intervene« zusammengefasst, eine Formulierung, die sich in der Ansprache so nicht findet, Wintour, Patrick: »Miliband: UK has moral duty to intervene. Mistakes in Iraq ›must not derail efforts to spread democracy‹«, in: The Guardian vom 12.2.2008. 433 Leserbriefe von Richard Horton und Lindsey German zum Thema »Democracy is a dangerous export«, in: The Guardian vom 14.2.2008. 434 Clive Soley in einem Leserbrief zum Thema »An idea for our time«, in: The Guardian vom 15.2.2008. 435 In diesem Fall war es eine Gruppe von pakistanischen Schulkindern, gegenüber der ein britischer Politiker aktuelle Probleme der Weltpolitik mit dem Erbe des Empire in Verbindung brachte: »As with so many of the problems of the world, we are responsible for their creation in the first place.«, White, Michael: »How much is Britain to blame for problems in its former colonies?«, in: The Guardian vom 8.4.2011; Kirkup, James/Hope, Christopher: »UK caused many of the world’s problems. Cameron enters historic minefield«, in: The Daily Telegraph vom 6.4.2011. Vgl. auch Butt, Daniel: »Repairing Historical Wrongs and the End of Empire«, in: Social & Legal Studies 21/2 (2012), S. 227-242, hier S. 234.
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er dem New Statesman vor dem Hintergrund des Afghanistan-Kriegs gab, seine Sicht auf die geostrategische Situation nach dem 11. September 2001 wie folgt zusammen: »A lot of the problems we are having to deal with now – I have to deal with now – are a consequence of our colonial past.«436 Als Beispiele nannte er neben Afghanistan auch Kaschmir, Palästina und Irak sowie den Landkonflikt in Simbabwe. Von der außenpolitischen Leitlinie wich er allerdings nicht ab. »The Foreign Secretary is ready to wage war on tyrants, but blames many of the world’s problems on Britain’s imperial past.«437 Es ist bezeichnend, dass Jack Straw mit seinen Worten, aus denen angesichts der aktuellen Politiklage teils weitreichende Implikationen herausgelesen wurden, dennoch eine hitzige Debatte um die historische Gesamtbilanz des britischen Empire auslöste. Eine besonders harsche Kritik publizierte Sean Thomas in der Times. Die Einbindung der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel in die Argumentation ist – fünf Jahre vor dem Bicentenary – äußerst bezeichnend. Thomas sprach das Projekt des britischen Kolonialismus pauschal vom Vorwurf des Rassismus frei und fügte hinzu: »And of course the British Empire, staffed by those xenophobic white British males who Straw loves to hate, was responsible for the abolition of slavery in 1833. The Pax Britannica was used, against Britain’s commercial interests, to wipe out the nastiest exudation of racism the world has ever seen. Where were the French, Brazilians, Arabs, Americans and large parts of black Africa in 1833? Still slaving, that’s where.«438
Von dem einschneidenden Wandel, der aus der neuen sicherheitspolitischen Situation resultierte und auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte auf eine neue Grundlage stellte, zeugen vor allem Beiträge aus dem Daily Telegraph. In ihnen wird der Auftritt des Außenministers vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage betrachtet – und ebenfalls scharf kritisiert. »You cannot imagine Colin Powell, the American Secretary of State, indulging in such maundering self-hatred. It weakens Britain’s position internationally. It undermines soldiers who may be about to risk their lives for what they – at least – believe to be right.«439 Das hier hervortretende Gefühl der Bedrohung sollte sich 2005 deutlich verstärken und das Klima für die Auseinandersetzung mit der Geschichte weiter verschärfen. Dies macht ein anderer, 2007 im Daily Telegraph erschienener Leitartikel deutlich: »Teach our story as a chronicle of racism and exploitation and it is hardly surprising that youngsters will be alienated – some of them to the extent that they will travel to Afghanistan to fight us.«440 An dieser Stelle knüpft ein weiteres Kernelement der New-Labour-Politik an, das in den politischen Geschichtsdeutungen ebenfalls sehr präsent war: die Werbung für sozialen Zusammenhalt auf der Basis einer geteilten nationalen bis offen nationalistischen Identität.
436 Jack Straw im Interview mit Kampfner, John: »The Foreign Secretary is ready to wage war on tyrants, but blames many of the world’s problems on Britain’s imperial past«, in: The New Statesman vom 18.11.2002. 437 Ebd. 438 Thomas, Sean: »No racism please, we’re British. The British are xenophobes, says the foreign secretary – but immigration rates are rocketing«, in: The Times vom 29.11.2002. 439 Leitartikel »How the empire strikes Jack«, in: The Daily Telegraph vom 15.11.2002. 440 Leitartikel »Our proud story«, in: The Daily Telegraph vom 2.3.2007.
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Zu den neuen Schlagwörtern der innenpolitischen Debatte wurden vor allem »Britishness« und »community cohesion«. Zugleich galt es, einen zeitgemäßen, politisch inklusiven Nationalismus zu kreieren, welcher der Proklamation des selbstbewussten Neuanfangs gerecht werden konnte. »Blair also seemed anxious to differentiate Labour’s vision of the nation from that of the Tories, stressing the openness, tolerance and compassion of British culture, the values embodied in the notion of ›Cool Britannia‹. Blair’s nationalism is a new, unifying force which will permit the country to overcome the class division of the past.«441 Die Feier der britischen Abolitionsbewegung als freiheitsliebender politischer Massenbewegung in vermeintlich typisch britischer Tradition fügte sich gut in das zu konstruierende Bild. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der versuchten Loslösung der Britishness von einem englisch und imperial geprägten Nationalchauvinismus. Der neue Patriotismus sollte die Bürger/-innen nicht nur über soziale Grenzen hinweg zusammenhalten und ihnen in den verschiedenen Landesteilen dabei gleichzeitig Raum zur Entfaltung kultureller Eigenarten geben können. Vielmehr war das Großbritannien von New Labour von jeher eine multinationale, multiethnische Konstruktion. Gerade in diesem Zusammenhang spielte eine bestimmte Darstellung der Geschichte als Baustein nationaler Zugehörigkeitsgefühle eine zentrale Rolle. Mit dieser Zielsetzung ging eine in sich widersprüchliche, politisch aber durchaus zielgerichtete Tendenz einher, bestimmte historische Ereignisse und Entwicklungen zwar explizit als moralisch bedauernswert anzuerkennen, eine an Machtkonflikten reiche Geschichte aber insgesamt vereinfachend zu glätten. Dies betraf nicht zuletzt die imperiale Vergangenheit des Landes, deren langfristig nachwirkendes Spannungspotential Tony Blair in Sätzen wie dem folgenden auflöste: »This nation has been formed by a particularly rich complex of experiences: successive waves of invasion and immigration and trading partnerships, a potent mix of cultures and traditions which have flowed together to make us what we are today.«442 Der transatlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in den britischen Kolonien erscheinen wie das unausgesprochene Gegenbild dieser fließenden Evolution einer Nation, die sich als quasi natürliche und erfolgreiche Symbiose unterschiedlicher ethnischer Gruppen präsentieren wollte. Das progressive Element war dabei vor allem in der Anfangszeit der Labour-Regierung präsent: »The future of multi-ethnic Britain« lautete der offizielle Titel des so genannten Parekh Report, der im Jahr 2000 vom linksliberalen ThinkTank »Runnymede Trust« veröffentlicht wurde. Er sollte den Stand der Dinge in der britischen Gesellschaft im Hinblick auf ethnisch-kulturelle Vielfalt, soziale Ungleichheit und Exklusion zusammenfassen und Empfehlungen für die weitere Entwicklung formulieren. Den Vorsitz der Expertenkommission übernahm der in Gujarat geborene Politikwissenschaftler Bhikhu Parekh, der in den 1980er Jahren als Vizepräsident der Commission for Racial Equality (CRE) amtiert hatte. Er gilt als wichtiger Theoretiker des Multikulturalismus und wurde im Erscheinungsjahr des Berichts in den Stand eines Barons mit Sitz im britischen Oberhaus erhoben, wo er die Politik der Labour-Partei vertritt. Der Parekh Report bezeichnete England, Schottland und Wales ohne Umschweife als »multi-ethnic, multi-faith, multicultural, multi-community societies« und sprach 441 C. Curran-Vigier: From Multiculturalism to Global Values, 2. 442 Blair, Tony: »Britain Speech«, London, 28.3.2003, https://www.theguardian.com/uk/2000/ mar/28/britishidentity.tonyblair.
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Großbritannien den Charakter einer »community of communities« zu.443 Vor diesem Hintergrund musste es um die Herstellung einer sozialen Balance zwischen Vielfalt und Einheit gehen. »[E]very society needs to be cohesive as well as respectful of diversity, and must find ways of nurturing diversity while fostering a common sense of belonging and a shared identity among its constituent members.«444 Hiervon ausgehend und den Ideen von Benedict Anderson folgend, legte die Argumentation besonderes Gewicht auf die gemeinschaftsstiftende Rolle von historischen Narrativen in pluralen Gesellschaften: »The forging and nurturing of such a society involves, at the outset, reinterpreting the past.«445 Der Umgang mit der Geschichte wurde also zu einer zentralen Erfolgsvoraussetzung für die Zukunft erhoben. Schon im Einleitungskapitel greift die Kommission für die Herleitung der Relevanz und der Legitimation ihrer Arbeit auf die Geschichte der Sklaverei zurück. »In view of the history of slavery and the violence inspired by racist doctrines, race is too important and sensitive an issue to be turned into a political football or approached in terms of narrow electoral calculations.«446 Postuliert wird weiterhin, dass sich die britische Gesellschaft an einem Scheideweg ihrer Entwicklung befinde. An diesem Punkt gelte es, die Ausbreitung von autoritären und angstvoll-introvertierten Denkmustern aufzuhalten und stattdessen den Weg zu mehr Gelassenheit, Toleranz und Inklusion zu ebnen. Hierbei sei die Neuinterpretation der Vergangenheit der erste Schritt in die richtige Richtung. Das entsprechende Kapitel des Berichts mit dem Titel »Rethinking the national story« beginnt mit einem zukunftsgewandten Ausblick. Vorangestellt ist eine Aussage, die im Rahmen der von der Kommission vorgenommenen Anhörungen gemacht worden war: »The future of Britain lies in the hands of […] descendants of slave owners and slaves, of indentured labourers, of feudal landlords and serfs, of industrialists and factory workers, of lairds and crofters, of refugees and asylum-seekers.«447 Zudem betonte der Bericht die symbiotische Verbindung von Britishness und Imperialismus, die nicht nur die gedankliche Abgrenzung nach außen, sondern auch die Herausbildung nationaler Geschlossenheit nach innen in ihrem Charakter geprägt habe. »Britishness, as much as Englishness, has systematic, largely unspoken, racial connotations.«448 Die Nachwirkungen machten sich, so der Parekh Report weiter, nicht zuletzt in den unreflektierten Untertönen der Nationalgeschichte bemerkbar, die damit aus multikultureller und postkolonialer Perspektive als fundamental kompromittiert erscheinen muss. Die vorgebrachte Kritik an den vorherrschenden Tendenzen wird abschließend wie folgt zusammengefasst: »[W]e have argued that some of the dominant stories in Britain need to be changed. […] As long as they are dominant in British recollections of the past the country cannot be a just and inclusive society in the present, for from these myths large numbers of peoples and many experiences are omitted.«449 Gerade in den als konservativ geltenden Medienorganen erhob sich ein Sturm der Empörung. In einem Artikel des Daily Telegraph wurden die kritisierten »racial 443 444 445 446 447 448 449
B. Parekh: Future of Multi-Ethnic Britain, S. ix Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. i. Ebd., S. 14. Ebd., S. 38. Ebd., S. 103.
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connotations« prompt zu »racist connotations«450 – und die ablehnende Reaktion fiel entsprechend heftig aus. Die verbreitete Entrüstung veranlasste Innenminister Straw, sich vom Bericht der Commission on Multi-Ethnic Britain teilweise zu distanzieren.451 Dennoch kann der Parekh Report einer Phase vor dem Einschnitt der Jahre 2001/2005 zugeordnet werden, in der sich die Regierung noch stärker zu einer multikulturellen und antirassistischen Agenda bekannte. Die Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Berichts zum Mordfall Stephen Lawrence hatten hierfür die politische Basis gelegt. Die Anerkennung der Diversität der multikulturellen »community of communities« trat im weiteren Verlauf allerdings zugunsten der Betonung des Zusammenhaltes der nationalen Gemeinschaft wieder zurück. Die Grenzlinie zwischen positiver und bedrohlicher Vielfalt wurde dabei anhand der Akzeptanz bestimmter »Werte« rhetorisch konstruiert. Im Jahr 2005 zog Claire Worley das Fazit: »It is safe to say that community cohesion is now the official race relations policy of the UK, and [...] it has largely replaced the earlier agenda that came out of the Macpherson Report.«452 Ihrer Auffassung nach hat der Ansatz unter anderem den politischen Vorteil, dass er es erlaubt, in einer scheinbar neutralen Sprache über ethnisch definierte Teile der Bevölkerung zu sprechen, ohne diese beim Namen zu nennen. »Talking about ›communities‹ enables for language to become de-racialized, whilst at the same time the language of community cohesion draws upon earlier discourses of assimilation through notions of ›integration‹.«453 Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang waren die offiziellen Reaktionen auf die Unruhen, die im Sommer 2001 mehrere nordenglische Städte erfassten. Die größte Erschütterung brachten freilich die Bombenattentate auf das Londoner Verkehrssystem im Juli 2005. Die Sorge um die nationale Sicherheit schuf ein denkbar ungünstiges Klima für die kritische Infragestellung von tradierten, in der imperialen Vergangenheit wurzelnden Mustern der kollektiven Selbstversicherung, wie sie von Bhikhu Parekh gefordert worden war. Denn die Spannungen, die sich innerhalb der britischen Gesellschaft entwickelt hatten, erschienen nunmehr als akute und unberechenbare Bedrohung. Diese stand zwar vor dem Hintergrund der Gewaltspirale im Irak – ein Zusammenhang, dessen explizite Thematisierung von der Regierung vermieden wurde –, hatte zugleich aber auch eine ausgeprägte innenpolitische Dimension. Denn die Anschläge waren von britischen Staatsbürgern geplant und ausgeführt worden, die in den Medien bald als »homegrown suicide bombers« dargestellt wurden.454 Einer der vier Attentäter war der 19-jährige Abdullah Shaheed Jamal, der in der ehemaligen Sklavenkolonie Jamaika geboren worden und erst vier Jahre vor dem Attentat zum Islam konvertiert 450 Johnston, Philip: »Straw wants to rewrite our history«, in: The Daily Telegraph vom 10.10.2000. 451 Travis, Alan: »Be proud to be British, Straw tells left«, in: The Guardian vom 12.10.2000. 452 Worley, Claire: »›It’s not about race. It’s about the community‹. New Labour and ›Community Cohesion‹«, in: Critical Social Policy 25/4 (2005), S. 483-496, hier S. 487. 453 Ebd., S. 483. 454 So z.B. Campbell, Duncan/Laville, Sandra: »British suicide bombers carried out London attacks, say police«, in: The Guardian vom 13.7.2005. Äußerst bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch der Titel einer Meldung von AFP/Peter Walker: »British press recoils in horror at discovery of the enemy within«, 13.7.2005.
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war. Von der religiösen Überzeugung abgesehen, ließen die Biographien der Terroristen die intuitive Logik bestimmter, auf Fremdheitsvorstellungen basierender Erklärungsansätze ins Leere laufen. Die Bombenleger waren nicht nur in England geboren und aufgewachsen, sondern hatten bis zu ihrer politischen und religiösen Radikalisierung eine nach britischen Maßstäben unauffällige soziale Existenz geführt. »The four young men who created bloody havoc led neither deprived nor segregated lives. Abdullah Jamal (formerly Jermaine Lindsay) was married to a white Englishwoman; Mohammad Sidique Khan was a graduate who helped children of all religions with learning difficulties; Hasib Hussain was sent to Pakistan only after he ›went a bit wild‹ with drinking and swearing; Shehzad Tanweer was a graduate who used to help at his father’s fish-and-chip shop.«455
Das Deutungsvakuum füllten viele Britinnen und Briten, unter ihnen nicht zuletzt Angehörige der politischen Elite, mit der Schlussfolgerung, dass die in die Tat umgesetzte Gewaltbereitschaft auf einen fundamentalen Werte- und Identitätskonflikt zurückgeführt werden müsse. Sehr deutlich geht dies aus einem kurz nach den Terroranschlägen in London veröffentlichten Bericht des Innenministeriums hervor: »Fundamentally, national cohesion rests on an inclusive sense of Britishness which couples the offer of fair, mutual support […] with the expectation that people will play their part in society and will respect others.«456 In seiner Neujahrsansprache an die Fabian Society erläuterte Gordon Brown die Regierungssicht auf die Problematik folgendermaßen: »[T]errorism in our midst means that debates, which sometimes may be seen as dry, about Britishness and our model of integration clearly now have a new urgency. I believe in your discussions today you will conclude that it does entail giving more emphasis to the common glue – a Britishness which welcomes differences, but which is not so loose, so nebulous that it is simply defined as the toleration of difference and leaves a hole where national identity should be.«457
In dieser Herangehensweise spiegelte sich die verbreitete Reaktion auf den Terrorismus, die auf einer stark kulturalistischen und vergleichsweise beschränkten Lesart seiner durchaus politischen Hintergründe basierte. Die intellektuelle Basis hierfür war in den Jahren zuvor entstanden. Auf eine für den britischen Kontext spezifische Weise verstärkt worden war die Furcht vor einem schwarzen »Identitätsloch« durch Umfrageergebnisse des vierten National Survey of Ethnic Minorities in Britain, die 1997 vom Londoner Policy Studies Institute veröffentlicht wurde. Die unter der Leitung von Tariq Modood durchgeführte Studie, die in Frankreich in dieser Form undenkbar wäre, war der statistischen Datenerhebung zur 455 Younge, Gary: »Please stop fetishising integration. Equality is what we really need: A decent job with a decent income is still the best path out of the crudest forms of racism and fundamentalism«, in: The Guardian vom 19.9.2005. 456 DCLG: Improving opportunity, strengthening society. The Government’s strategy to increase race equality and community cohesion, London 2005, http://www.tedcantle.co.uk/ publications/045%20improving%20opportunity%20strengthening%20society%20progre ss%20rep.pdf, S. 20. 457 Brown, Gordon: Speech to the Fabian New Year Conference, London, 14.1.2006, http://www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=316.
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Lebenssituation von Menschen gewidmet, die in diesem Zusammenhang bestimmten ethnischen Gruppen zugeordnet wurden. Der Bericht enthält neben Kapiteln zu Themen wie Arbeitsmarkt, Wohnungswesen und Gesundheitsfürsorge bezeichnenderweise auch einen Teil zu »Kultur und Identität«. »Caribbeans, of all non-whites the culturally and socially closest to the white British, had the highest proportion who dismissed identification with Britishness – more than the Pakistanis and the Bangladeshis, the most culturally conservative and separate of these groups.«458 Hieran änderte auch die Tatsache nichts, dass die ursprüngliche Migration nicht selten bereits Generationen zurücklag und – statistisch gesehen – die Integration der betreffenden Personengruppe in die Gesellschaft als allgemein fortgeschritten galt, was u.a. an der hohen Zahl von Eheschließungen mit »weißen« Partnern bzw. Partnerinnen und einer relativen kulturellen Nähe durch die zumeist christliche Religionszugehörigkeit festgemacht wurde. Dies ließ auf ein unverarbeitetes und potentiell folgenreiches Entfremdungsgefühl schließen, dem im Sinne der community cohesion durch die Bestärkung von Britishness entgegenzuwirken war. Mehr oder weniger klar bestimmte Grundwerte sollten den Kern der neuen Britishness bilden und den Widerspruch zwischen Identität und Diversität auf neo-nationalistischem Weg überbrücken. Die Motive der »British-born suicide bombers who had lived and been brought up in this country, who had received all its many advantages«459, hatte Tony Blair kurz nach den tödlichen Explosionen in der Hauptstadt folgendermaßen charakterisiert: »Their emphasis was not on shared values but separate ones«.460 Die »Werte« siedelte er dabei jenseits bzw. über sozialen Attributen wie Berufs- und Schichtzugehörigkeit, Bildung oder kulturellem Lebensstil an: »The 7/7 bombers were integrated at one level in terms of lifestyle and work. […] Integration, in this context, is not about culture or lifestyle. It is about values. It is about integrating at the point of shared, common unifying British values.«461 Trevor Phillips, zu dieser Zeit Vorsitzender der Equality and Human Rights Commission (EHRC), einem Nachfolger der CRE, warnte in einer in Manchester gehaltenen Ansprache vor einem »›anything goes‹ multiculturalism«.462 Dieser führe zu sozialer Spaltung und Ungleichheit. »We’ve emphasized what divides us over what unites us. We have allowed tolerance of diversity to harden into the effective isolation of communities, in which some people think special separate values ought to apply.«463 Auch Phillips hielt dieser Entwicklung vor allem die Idee der einenden Britishness entgegen: »Too much that is too abstract is already being said on the subject of Britishness, but there are some simple truths that should bind us together. First and foremost, our shared values«.464
458 Modood, Tariq: »Anti-Essentialism, Multiculturalism and the Recognition of Religious Groups«, in: Journal of Political Philosophy 6/4 (1998), S. 378-399, hier S. 387. 459 Blair, Tony: »The duty to integrate«, speech on multiculturalism«, London, 8.12.2006, http://www.runnymedetrust.org/uploads/publications/pdfs/348BulletinDec06.pdf. 460 Ebd. 461 Ebd. 462 Phillips, Trevor: »After 7/7. Sleepwalking to Segregation«, speech to the Manchester Council for Community Relations, 22.9.2005. 463 Ebd. 464 Ebd.
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Insgesamt brachte die politische Fokussierung auf die »gemeinsamen Werte« (mindestens) zwei Herausforderungen mit sich. Zum einen galt es, der Begrifflichkeit Substanz zu verleihen und ihre Bedeutung für die soziale und politische Praxis zu illustrieren. Zum anderen mussten die Werte im gegebenen Zusammenhang als genuin britisch begreifbar gemacht werden. Der Rekurs auf die nationale Geschichte sollte beide Probleme lösen helfen. In Frankreich ist es vor allem die »Republik«, die als universelles ideelles Konstrukt und als Ergebnis der nationalhistorischen Entwicklung den Orientierungsrahmen vorgab. Die omnipräsente Bezugnahme auf das ideologisch fest etablierte Modell des französischen Republikanismus brachte immer wieder auch Probleme mit sich, weil Diskussionsteilnehmer/-innen von einer selbstverständlichen Eindeutigkeit des Arguments ausgingen – dabei aber oft über unterschiedliche Dinge sprachen. Im Gegensatz zu diesem Übermaß an scheinbarer Klarheit musste ein Konzept von Britishness in einem sehr viel stärkeren Maße überhaupt erst konstruiert werden. Denn tatsächlich schienen viele Britinnen und Briten nicht genau zu wissen, was damit gemeint sein könnte. Durch die öffentliche Debatte geisterte eine bemerkenswerte Vielzahl von Attributen, welche die nationale Identität ausmachen sollten. Die Palette reichte von Freiheits- bis Tierliebe und von Unternehmer- bis Sportsgeist.465 Dies lässt darauf schließen, dass in der britischen Bevölkerung und Medienöffentlichkeit eine große Unklarheit vorherrschte: »Which values? It is a question that never receives a satisfactory answer, unless you count fish and chips, football and tea – the most popular responses – as values.«466 Die einschlägigen Ausführungen von Blair und Brown betonten – inhaltliche Wiederholungen ausgenommen – in erster Linie »the rule of law, parliamentary democracy, social justice, fair play, freedom of speech and equality of opportunity«467, »respect for this country and its shared heritage«, »freedom from violence and discrimination«, »willingness to welcome difference«, »solidarity across the racial and religious divide«468 sowie »qualities of creativity built on tolerance, openness and adaptability, work and self-improvement, strong communities and families and fair play, rights and responsibilities and an outward looking approach to the world that all flow from our unique island geography and history [sic].«469 Dieses weite Feld galt es mit aussagekräftigen Beispielen zu besetzen. Dabei wurde gerade an der in aller Deutlichkeit vertretenen Vorstellung einer nationalen Qualität der liberalen Werte wiederholt Zweifel angebracht. »[W]hat is ›Britishness‹ apart from a fairly hackneyed litany of enlightenment ideals including fair play, the rule of law and an outward going approach to the world? These are hardly unique to these islands«, gab beispielsweise Labour-
465 Vgl. z.B. Kellner, Peter: »What Britishness means to the British«, in: The Political Quarterly 78/S1 (2007), 62-71; Oberhausdebatte zum Thema »Britishness«, House of Lords, 19.6.2008. 466 Yeoman, Fran: »Britishness lessons? Not for us, say pupils«, in: The Times vom 27.1.2007. 467 Lord Taylor Warwick in einer Oberhausdebatte zum Thema Britishness, House of Lords, 19.6.2008, C. 1141. 468 Blair, Tony: »Social Exclusion«, speech at the Joseph Rowntree Foundation, York, 5.9.2006, http://www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=283. 469 T. Blair: Britain speech.
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MP und Historiker Tristram Hunt zu bedenken.470 Derlei Einwände brachten die Regierung und ihr nahe stehende Kreise in Argumentationsnot: »Jack Straw recognises that these values are not exclusively British or indeed western: they are common human values reflected in the charter of the United Nations.«471 Bezeichnenderweise versuchte auch der Außenminister das logische Problem durch den Rückgriff auf die Geschichte zu lösen: »[W]hat is uniquely British is the process by which these principles and ideals were gradually applied here.«472 Das Adverb »graduell« ist hierbei durchaus bedeutsam. Denn das Verständnis von Geschichte als einem sukzessiven Fortschrittsprozess, das sich hier andeutet, kann ein Kapitel wie das der kolonialen Sklaverei durchaus integrieren – aber eben nur als Ausgangspunkt und Kontrastfolie für die folgenden Episoden einer insgesamt positiven Entwicklung. Straw bekannte sich dabei recht offen zu einem instrumentellen Einsatz des auf diese Weise konstruierten nationalen Narrativs: »You cannot transmit these ideas without stories. We must […] bring out the freedom that lies at the heart of the story. That means freedom through the narrative of the Magna Carta, the civil war, the Bill of Rights, through Adam Smith and the Scottish enlightenment, the fight for votes, for the emancipation of Catholics and nonconformists, of women and of the black community, the second world war, the fight for rights for minority groups, the fight now against unbridled terror.«473
Auch wenn Straw in der britischen Imperialgeschichte einen Hauptwiderspruch zu dieser unterkomplexen und linearen Deutung erkannte, bleibt die Grundhaltung mit den Worten von Peter Brett als »worringly whiggish« zu bezeichnen.474 Und damit stand Jack Straw nicht allein. Gordon Brown stellte in seiner Ansprache vor der Versammlung der Fabian Society den Dreiklang »liberty to all, responsibility by all, fairness for all« in den Mittelpunkt.475 Ausgerechnet die Vergangenheit sollte den als maßgeblich für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft präsentierten Grundwerten Substanz verleihen. Die Herleitung gestaltete sich dabei scheinbar unproblematisch, da die britische Geschichte vom Mittelalter bis hinein ins 21. Jahrhundert laut Brown einem roten bzw. goldenen Faden der Freiheit folgte (»golden thread
470 Tristram Hunt in einer Rede vor der Royal Society of Arts, Teaching History. Narrative and the Challenge of Britishness, RSA Lecture, 7.2.2007, hier zit. n. Brett, Peter: Identity and Diversity. Citizenship Education and Looking Forwards from the Ajegbo Report, Research Paper, DOI: 10.13140/RG.2.1.2692.7443, online auch verfügbar unter http://www.citized. info/pdf/commarticles/Peter%20Brett%20-%20Identity%20and%20Diversity.pdf. »citizED is an organisation, previously funded by the Training and Development Agency for Schools (TDA). It is a collaboration within higher education for all providers of initial teacher education in England.« 471 Straw, Jack: »We need a British story«, in: The Sunday Times vom 29.4.2007. 472 Ebd. 473 Ebd. 474 P. Brett: Identity and Diversity. 475 Brown, Gordon: Speech on Britishness, Commonwealth Club, London, 27.2.2007, http:// www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=317.
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of liberty«).476 In dieser nationalen Meistererzählung konnte die koloniale Sklaverei allenfalls eine Nebenrolle spielen – oder aber sie konnte als essentiell unbritischer Antagonismus den Hintergrund für die entsprechende Gegenbewegung darstellen. Diese wiederum entsprach den beanspruchten Tugenden der Britishness in geradezu exemplarischer Weise. Der Abolitionismus, im modernen Sinne als Einsatz für das Menschenrecht auf Selbstbestimmung verstanden, fügte sich sehr gut in die goldglänzende Geschichte. Bewehrt mit diesem und anderen historischen Beispielen, wagte sich Gordon Brown in seiner offen nationalistischen Deutung vergangener Entwicklungen weit vor: »I think Britain can lay claim to the idea of liberty. [...] Just as it was in the name of liberty that in the 1800s Britain led the world in abolishing the slave trade [...] so too in the 1940s in the name of liberty Britain stood firm against fascism«.477 An dieser Stelle schließt sich der gedankliche Kreis, der die Abschaffung des Sklavenhandels sehr viel fester als die koloniale Sklaverei als solche in den bestehenden Rahmen der britischen Erinnerungskultur einordnete. In der Regierungszeit von Gordon Brown wurde Britishness zu einem geradezu bestimmenden Thema, das sich seinerseits wie ein roter Faden durch zahlreiche Beiträge der offiziellen Rhetorik zog. Entsprechend hoch im Kurs standen Ideen zur politisch intendierten Beförderung des Nationalgefühls. »There have been suggestions for a British national day, for encouragements to Britons to fly the flag in their garden, making the teaching of citizenship involve instruction in British history, for a creation of an institute for Britishness, and a national conversation on Britishness, charged with drawing up a list of the values everyone can agree on as constituting part of Britishness.«478
Im Frühjahr 2008 wurde ein eigens zum Thema Nations- und Staatsangehörigkeit in Auftrag gegebener Bericht an den Premierminister veröffentlicht.479 Wie andere Texte vor ihm, legte der Goldsmith Report großes Gewicht auf eine historische Meistererzählung und einen wertzentrierten Patriotismus, der auch durch den öffentlichen Umgang mit Geschichte identitär verankert werden sollte. »The idea of a patriotic celebration similar to America’s July 4 or Bastille Day in France was first promoted by Mr
476 Ebd. Die Formulierung des »goldenen Fadens« der britischen Geschichte verwendete Gordon Brown bereits in einem Zeitungskommentar aus dem Jahr 2004. Brown, Gordon: »The golden thread that runs through our history. Liberty, tolerance, fair play – these are the core values of Britishness«, in: The Guardian vom 8.7.2004. 477 Brown, Gordon: Speech on Britishness, Commonwealth Club, London, 27.2.2007, http:// www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=317. 478 Gamble, Andrew/Wright, Tony: »Introduction. The Britishness Question«, in: The Political Quarterly 78/S1 (2007): Britishness. Perspectives on the British Question, S. 1-9, hier S. 4. 479 Vgl. hierzu den Bericht von Goldsmith, Peter Henry: Citizenship. Our Common Bond, London 2008, online verfübar unter http://image.guardian.co.uk/sys-files/Politics/docume nts/2008/03/11/citizenship-report-full.pdf, außerdem die intensive Medienberichterstattung beginnend am 12.3.2008. Zur historischen Konstruktion von Britishness vgl. auch Dixon, Keith: »Blair, Brown and Britishness. The End of an Old song?«, in: Observatoire de la société britannique (online) 5/2008, https://osb.revues.org/698.
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Brown as Chancellor in 2006, months after the 7/7 bombings.«480 Ein solcher Nationalfeiertag wurde zwar von Politikerinnen und Politikern unterschiedlicher Parteien befürwortet, zu einer Umsetzung der Idee kam es aber nicht. Allerdings führte das BBC History Magazine umgehend eine Umfrage zu möglichen Daten und mit ihnen verbundenen Ereignissen durch. Der 25. März als Datum des Slave Trade Abolition Act schaffte es in die Top 10 der zentralen britischen Erinnerungsorte mit potentieller Eignung für eine »patriotische Feier« im Sinne von Brown. Insgesamt lag die Magna Carta deutlich vorn, die über ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen konnte. Ihr folgten drei historisch bedeutsame Tage aus dem Kontext der die Geschichtskultur nachhaltig prägenden Erinnerung an die beiden Weltkriege (VE Day, D-Day, Armistice Day). Die Abschaffung des Sklavenhandels erreichte mit 6% Zustimmung einen guten sechsten Platz. Zwar lag der Jahrestag des Gesetzes weit hinter dem meistgenannten Datum. Der 25. März schnitt jedoch besser ab als etwa der Tag des Sieges über Napoleon oder der Geburtstag von Winston Churchill.481 Im unmittelbaren Vorfeld des Jubiläumsjahres konnte dies als Zeichen für die langfristige Verwurzelung des Abolitionsmythos gelesen werden, es spricht aber ebenso für die Bedeutung der geschichtspolitischen Aktivitäten, die sich jüngst entwickelt hatten. All dies führte dazu, dass sich das groß angelegte Jubiläum des Slave Trade Abolition Act in den besagten Kontext nicht nur einordnete – es entwickelte sich zu einem eigenständigen Faktor in der größeren politischen Debatte. »[T]he bicentenary of the commemoration of the Slave Trade was the trigger for much reflection on identity, diversity and citizenship.«482 Die demonstrative Anerkennung der dunklen Seite der Geschichte gehörte inzwischen zur Grundvoraussetzung geschichtspolitischer Glaubwürdigkeit und konnte selbst zu einer Auszeichnung für das vermeintlich ebenfalls typisch britische Mitgefühl gegenüber den Unterdrückten und Benachteiligten werden. Hiervon ausgehend war die Stoßrichtung allerdings festgelegt, wie eine Absichtserklärung von Baroness Amos verdeutlichen kann: »This bicentenary provides a valuable opportunity to have a real debate about what it means to be British today and how the diverse cultures which comprise modern Britain can forge a common purpose, shared values and a common identity.«483 Die Bereitschaft zu einem ergebnisoffenen Dialog über das Thema, wie sie hier nahegelegt wird, betrachteten Kritiker/-innen als sehr viel eingeschränkter. Tatsächlich präsentierte sich das Bicentenary oft in erster Linie als zusätzlicher Kanal, über den community cohesion und active citizenship als Kernelemente des neuen Nationalismus beworben wurden. Die Abschaffung des Sklavenhandels wurde so zum Musterbeispiel eines die Nation einigenden Ziels erhoben – »a mass movement of popular discontent«484 mit der Macht, dem Parlament und der Regierung
480 So war Ende Oktober 2008 in verschiedenen britischen Zeitungen zu lesen. Der Inhalt scheint ursprünglich aus einer Pressemeldung von Press Association Mediapoint zu stammen, Churcher, Joe: »›No plans‹ to introduce Brown’s national day«, 27.10.2008. 481 Zu der Umfrage vgl. Date to celebrate Britishness, Magna Carta tops British day poll, 30.5.2006, http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/5028496.stm. 482 J. Bam-Hutchinson: »Britishness« in the National Conversation. 483 Baroness Amos, Lord President of the Council, House of Lords, 10.5.2007, C. 1586. 484 John Prescott, stellvertretender Premierminister der Labour-Regierung, House of Commons, 20.3.2007, C. 688.
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schließlich den »will of the people«485 aufzuzwingen. Hieraus ließ sich sodann ableiten: »It is a credit to ordinary, British people across the country that they were prepared to rise up against slavery.«486 Über die Aufnahme von afrikanischen und ehemals versklavten Menschen in den Kanon der führend agierenden Persönlichkeiten wurden »schwarze« Britinnen und Briten eingeladen, sich mit dieser historischen, durch und durch »britischen« Gruppe zu identifizieren – auch wenn bei Menschen karibischer Herkunft eine Abstammung von Angehörigen der heute weitgehend namenlosen Masse der rechtlosen Sklavinnen und Sklaven weitaus wahrscheinlicher ist. Die Integration von Menschen afrikanischer Herkunft trug unter diesen Umständen nur bedingt zur Öffnung des historischen Narrativs bei; je nach Kontext konnte sie auch als bloße Oberflächenkorrektur fungieren, die den Blick von besonders problematischen Aspekten der kolonialen Vergangenheit ablenkte. So basierte sie zumeist auf einem »bargain of intellegebility« zu den Konditionen der erinnerungskulturellen Mehrheit und der politischen Mitte. Vormals versklavte Afrikaner wurden so zu »echten«, ja exemplarischen Briten: »Their skin is shed so they can reveal their true colour(s): displaying the right attitude and doing the right things [...] thus making them eligible for incorporation within the ›welcoming‹ nation, who in turn can claim its own distinctiveness as a tolerant and inclusive society. The authenticating black voice of the individual success story is cited as evidence of the opportunities offered to all.«487
Olaudah Equiano war einer von »uns« lautete der Subtext, denn er handelte wie »wir« gehandelt hätten und handeln sollten. Die das Handeln umgebenden materiellen Strukturen wurden dabei allerdings mehr oder weniger unverändert von heutigen auf damalige Verhältnisse übertragen und mit ihnen der intellektuelle und moralische Wertekontext. Dort, wo die Auseinandersetzung mit der Geschichte dazu hätte dienen können, den eigenen Erfahrungshorizont aufzubrechen und aktuelle Antworten in Frage zu stellen, ergab sich ein mehr oder weniger geschlossener Kreis. In gewissen Hinsichten waren die Hauptträger dieser Botschaft – neben Equiano auch Ottobah Cugoano und Ignatius Sancho – allerdings tatsächlich sehr viel »gleicher« als die meisten ihrer afrikanischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen488: Alle drei waren gebildete, mit der kulturellen und politischen Elite Großbritanniens vertraute self-made men, die im Hinblick auf ihre persönliche Lebensführung die Versklavung weit hinter sich lassen konnten. Mit Talent und Ehrgeiz erkämpften sie sich einen 485 Ebd. 486 Diane Abbott, Labour-Abgeordnete für Hackney, North and Stoke Newington, House of Commons, 20.3.2007, C. 707. 487 Fortier, Anne-Marie: »Pride, Politics and Multiculturalist Citizenship«, in: Ethnic and Racial Studies 28/3 (2005), S. 559-578, hier S. 569. 488 In ähnlicher Weise gilt dies auch für den 1999 mit einer nach ihm benannten Fußgängerbrücke in Bristol geehrten Sklaven Pero, der für die lokale Erinnerung an die Sklaverei eine wichtige Rolle spielt, Gibbs, Geoffrey: »Pero the slave builds bridge across centuries for Bristol«, in: The Guardian vom 15.3.1999. Zu Pero vgl. E. Kowaleski Wallace: British Slave Trade and Public Memory, S. 50 f.; C. Chivallon: Bristol et la mémoire de l’esclavage.
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gewissen Rang in der metropolitanen Gesellschaft, und ihr abolitionistisches Engagement erfolgte in konsequentem Bezug auf das hier vorherrschende Wertesystem. Schon seine »Autobiographie« und das dem Text in der Publikation vorangestellte Porträtbild präsentierten Equiano bewusst als eine Art Musterbeispiel der identitären Integration in die zeitgenössischen, christlich geprägten Britishness-Diskurse. Zu diesem Vermittlungsmodus erwünschter Rollenbilder passt auch der Umstand, dass zu Sanchos erinnerungskultureller Reputation sein Status als erster »schwarzer« Wähler der britischen Geschichte gehört.489 Somit konnten gerade die genannten Gegner der Sklaverei als im besten Sinne exemplarische historische Vertreter von Britishness und active citzenship auf den geschichtspolitischen Plan gerufen werden – und dies, so der Subtext, trotz ihrer afrikanischen Herkunft, die in diesem Kontext scheinbar ohne Relevanz war. Auf der Basis des zentralen Differenzmerkmals der Hautfarbe sollten Equiano, Sancho und Cugoano die »afrikanische« Seite in der schwarz-weiß gezeichneten Geschichte von Sklavenhandel, Sklaverei und Abolitionismus repräsentieren. Diese Sichtweise auf die Verhältnisse im Vereinigten Königreich des 18. und 19. Jahrhunderts war den Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart angemessener als der historischen Realität. Gleiches gilt für die Interpretation der Abolitionsbewegung als »Mutter« der modernen Menschenrechtsbewegungen, als »first modern NGO«490, die im Jahr 2007 über das politische Spektrum hinweg weit verbreitet war. Sie konnte viele ihrer Argumente aus neueren, mehr oder weniger populärwissenschaftlichen Arbeiten wie der von Adam Hochschild entlehnen.491 Es ist insgesamt aber bemerkenswert, dass die von New Labour präsentierte Version der Geschichte in vielen Punkten Rückendeckung durch ausgewiesene britische Historiker/-innen erhielt. In seinem einleitenden Beitrag im Begleitband der Ausstellung »The British Slave Trade: Abolition, Parliament and People«, die den Sommer über in der Westminster Hall zu besichtigen war, erläuterte James Walvin: »Abolition in 1807 marked a dramatic break in British history and in British economic practice. Before 1807, the British were the greatest maritime slave traders, linking Africa to the Americas. After 1807, the British transformed themselves into the world’s greatest and most aggressive abolitionists.« 492 Seymour Drescher sprach in diesem Zusammenhang davon, dass aus dem britischen Abolitionismus »the first human rights organization« hervorging.493 Und mit Ausführungen, die John Oldfield 2013 in einem Aufsatz veröffentlichte, scheint sich der historische Kreis der politischen Argumente vollends zu schließen: »[I]nstead of seeing 1807 and 1833 as
489 Lediglich als Beispiele seien hier der englische Wikipedia-Eintrag zu Sancho sowie der seiner Person gewidmete Artikel auf http://www.blackhistorymonth.org.uk genannt. 490 Kofi Annan in seiner Rede vor dem britischen Parlament am 10.5.2007, in der er die Abolitionsbewegung in Großbritannien außerdem als »first peaceful mass protest of modern times« bezeichnete. Die Ansprache ist online verfügbar unter www.unodc.org/unodc/en/ about-unodc/speeches/speech_2007_05_08.html. 491 A. Hochschild: Bury the Chains. 492 Walvin, James: »Introduction«, in: Stephen Farrell/Melanie Unwin/James Walvin (Hg.), The British Slave Trade. Abolition, Parliament and People, Edinburgh: Edinburgh University Press 2007, S. 1-11, hier S. 11, Hervorhebung im Original. 493 S. Drescher: Public Opinion and Parliament, S. 65.
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acts of closure, [...] it is perhaps more meaningful to see them as part of broader historical narrative (a specific national history) that spoke to and reinforced Britain’s tradition of humanitarian interventionism [sic].«494 Das Blickfeld der Geschichtswissenschaft ist um einiges weiter und ihre Diskussion in sich differenzierter; dort, wo sich die Interessen von Politik und Wissenschaft trafen, ergaben sich in Großbritannien aber denkbar breite Überschneidungsflächen.
DIE VERSTETIGUNG DER ERINNERUNG: GEDENKTAG(E) UND DENKMAL(E) Der richtungsweisende Einfluss der Labour-Regierung auf die Vorbereitung und den Ablauf des Bicentenary war vielen Kritiker/-innen ein Dorn im Auge. Auch Gegner/ -innen der inhaltlichen Ausrichtung mussten jedoch anerkennen, dass im Jubiläumsjahr bisher randständige Themen zu Gegenständen einer öffentlichen Auseinandersetzung im großen Stil geworden waren.495 Das Interesse der nationalen Medien flaute jedoch relativ bald auf ein Niveau ab, das sich nicht wesentlich von dem der Vorjahre unterschied, und bei späteren geschichtspolitischen Schritten handelte es sich in erster Linie um bereits im Zuge des Jubiläums geforderte, angekündigte oder in Angriff genommene Maßnahmen. Die früh geäußerten Zweifel an der Nachhaltigkeit des Aufmerksamkeitseffekts können daher im Rückblick als durchaus begründet betrachtet werden.496 Im Laufe des Gedenkjahres wurde wiederholt zu einer langfristigen Verankerung der Erinnerung an die Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel aufgerufen – ein Anliegen, dem die Regierung demonstrativen Rückhalt bot: »The Government wants to ensure that we continue to mark this important part of our history beyond 2007.«497 Zu diesem Zweck verkündete sie am Ende des Jahres, »that from 2008 the 23rd of August – UNESCO International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition – would be adopted as the focal date for national commemorations in the years to come.«498 Das Jahr 2008 war außerdem das erste, in dem sich britische Schüler/-innen im Unterricht mit der Geschichte der kolonialen Sklaverei befassen mussten, die im Zuge einer allgemeinen Aktualisierung der Unterrichtsinhalte für die weiterführenden Schulen zu einem verpflichtenden Teil des nationalen Curriculums geworden war. Zwar folgte aus der zweiten Kranzniederlegung der Königin nach dem
494 Oldfield, John: »After Emancipation. Slavery, Freedom and the Victorian Empire«, in: Miles Taylor (Hg.), The Victorian Empire and Britain’s Maritime World, 1837-1901. The Sea and Global History, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 43-63. Da diese Tradition nach populärer Meinung 1807 begründet wurde und in den 1990er Jahren den verwendeten Begriff erhielt, erscheint die Zusammenfassung nicht ganz schlüssig; der »humanitäre Interventionismus« deutet sich hier sogar als eine Konstante der britischen Geschichte an. 495 Vgl. z.B. T. Agbetu: Restoring the Pan-African Perspective, S. 67 f. 496 D. Paton/J. Webster: Introduction, S. 165. 497 DCMS: Way Forward, S. 4. 498 DCLG/DCMS: 23rd August 2008, S. 2.
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Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey »an even keener appreciation of a memorial silence in the heart of London«.499 Die entscheidende Reaktion manifestierte sich aber im kommunalen Rahmen; ein nationales Denkmal, das an die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels erinnert, gibt es in Großbritannien, anders als in Frankreich, bis heute nicht. Bereits in der Parlamentsdebatte, die das Unterhaus anlässlich des Jubiläums im März 2007 abhielt, stellte John Prescott die Frage eines regelmäßigen Gedenktags zur Diskussion: »We are also encouraging a debate about how we can commemorate the anniversary as a national event in the future. Should we have a national day of commemoration every year, and if so, when?«500 Auf Nachfrage gab er sowohl gegenüber dem Parlament als auch den Medien wiederholt zu verstehen, dass die Regierung einen jährlichen Tag des Gedenkens grundsätzlich befürwortete. Auf ein Datum wollte er sich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht festlegen und verwies auf die Absicht einer möglichst breiten Konsultation.501 Als aussichtsreichste Alternative zum 23. August erschien dabei der 25. März als Tag der Inkraftsetzung des britischen Slave Trade Abolition Act. Das Datum mit dem nationalhistorischen Bezug wird von der UNESCO ebenfalls als internationaler Gedenktag unterstützt, verfügt in diesem Rahmen aber über ein deutlich schwächeres Profil als der globale Slavery Remembrance Day. Die britische Regierung wollte die Debatte allerdings nicht auf diese beiden Tage beschränkt sehen. Vielmehr brachte Prescott noch ein weiteres, international ausgerichtetes Datum ins Gespräch: »[T]he European Commission supports 11 June as the European day against human trafficking. That day could be a candidate for an annual commemorative event«.502 Dieser Vorschlag drängte in Richtung einer unzweideutigen Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunkts von der Geschichte auf die Gegenwart und vom Andenken in Richtung des Aufrufs zur Aktion. Als die Stadt London am 23. August 2007 zum ersten Mal den Slavery Remembrance Day zelebrierte, nutzte Bürgermeister Ken Livingstone den Anlass, um sich mit Nachdruck für eine offizielle Anerkennung des Datums auszusprechen, das in der Vorreiterkommune Liverpool schon institutionalisiert war. 503 Im Dezember bestätigte dann das DCMS den Anschluss Großbritanniens an den lokal wie international bereits angenommenen Gedenktag. Dass die entsprechende Pressemeldung, bei der es sich ja nicht zuletzt um die Bekanntgabe der Entscheidung gegen den 25. März handelte, dennoch unter dem Titel »Abolition to be remembered in future years« stand504, weist 499 Ebd., S. 14. 500 John Prescott, stellvertretender Premierminister der Labour-Regierung, House of Commons, 20.3.2007, C. 688. 501 Wintour, Patrick: »Commemoration day to recall slave trade and make UK face up to past«, in: The Guardian vom 23.3.2007; Slavery Remembrance Day, Written Question, Dawn Butler, Labour-Abgeordnete für Brent South, an den stellvertretenden Premierminister John Prescott (Labour), House of Commons, 23.3.2007, https://publications.parlia ment.uk/pa/cm200607/cmhansrd/cm070323/text/70323w0005.htm#07032344000499. 502 John Prescott, stellvertretender Premierminister der Labour-Regierung, House of Commons, 20.3.2007, C. 688. 503 Vgl. auch Leserbrief von Ken Livingstone zum Thema »The big issue: Slavery«, in: The Observer vom 1.4.2007. 504 Pressemitteilung des DCLG, Abolition to be remembered in future years, 13.12.2007,
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darauf hin, dass die nationale Erinnerung den Prämissen der UNESCO durchaus nicht vollständig untergeordnet werden sollte. Ohnehin präsentierte sich die mit der Wahl des 23. August verbundene Perspektivik eher als »glokal« denn national, und die Organisation des Gedenkens wurde als explizit »community-based« aufgestellt: »Events are being organised by local authorities, community groups and cultural institutions.« 505 Wie im Jahr des Bicentenary, stellt der HLF Gelder für die Planung und Durchführung von Gedenkveranstaltungen zur Verfügung; die britische Regierung selbst wahrt aber eine relative Distanz zum Slavery Remembrance Day. Anders als in Frankreich wurde der Tag nicht durch weitere geschichtspolitische Meilensteine oder die Anwesenheit hochrangiger Staatsvertreter/-innen aufgewertet – und so wurde er von den großen Tageszeitungen praktisch nicht wahrgenommen. Das Programm schien stärker auf die Aktivitäten im Umfeld des ISM im nordenglischen Liverpool zu setzen als auf das Engagement der Hauptstadt. Nach dem Wechsel zu einer konservativen Stadtregierung in London 2008 wurde im Umfeld des abgewählten Ken Livingstone sogar die kommunalpolitische Tendenz angeprangert, den Gedenktag völlig zu ignorieren.506 Der erste Veranstaltungskalender des Slavery Remembrance Day im Jahr 2008 zeichnete sich aufgrund dieser relativ politikfernen, dezentralen Organisation durch eine offene Vielfalt aus, die auch einen African Remembrance Day integrieren konnte; ein klarer inhaltlicher Fokus trat dagegen nicht hervor.507 Die relativ schwache Aufstellung des 23. August wird im Vergleich mit anderen neu institutionalisierten Gedenkdaten deutlich, die in Großbritannien sowohl über mehr Öffentlichkeitswirkung als auch über eine zentrale institutionelle Verankerung verfügen. Dies gilt nicht zuletzt für den im Jahr 2001 unter kontroversen Diskussionen eingeführten Holocaust Memorial Day. Zwar wird dieser inzwischen organisatorisch nicht mehr von der Regierung geleitet; allerdings wurde hierfür eigens eine Stiftung ins Leben gerufen, die auch die dem Gedenktag gewidmete Homepage betreibt.508 Interessant ist in diesem Zusammenhang darüber hinaus der Anti-Slavery Day, der in England und Wales 2010 gesetzlich eingeführt wurde und jedes Jahr am 17. Oktober begangen wird. Die Initiative geht auf den konservativen Unterhausabgeordneten Anthony Steen zurück, der auch die All Party Parliamentary Group on Human Trafficking gründete und eine so genannte Private Member’s Bill in das Parlament einbrachte. In der parlamentarischen Diskussion des Vorschlags machte sich die Nachwirkung des Jubiläumsjahres 2007 deutlich bemerkbar. Eine wichtige Rolle spielte die einordnende Bezugnahme auf die bisher existierenden, der Sklaverei gewidmeten Gedenktage, also vor allem die von der UNESCO geförderten Daten, »although the focus of these tends to be on commemorating the historical abolition of the transatlantic slave
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http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/http://www.communities.gov.uk/news/corpo rate/607662. DCLG/DCMS: 23rd August 2008, S. 2. Blogeintrag von Lee Jasper: International Slavery Remembrance Day, http://leejasper. blogspot.de/2011/08/today-23rd-august-marks-official-4th.html. Vgl. ebd. Für die Folgejahre ab 2009 ist keine entsprechende offizielle Broschüre zum nationalen Gedenktag mehr erschienen. Vgl. Holocaust Memorial Day Trust, http://hmd.org.uk/page/about-hmdt.
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trade as opposed to raising awareness of modern-day slavery and trafficking.«509 Der ursprüngliche Text knüpfte an die Geschichte an, indem er forderte, dass durch den neu zu etablierenden Aktionstag anerkannt und bewusst gemacht werden sollte, »that modern-day slavery is taking the place of the trans-Atlantic slave trade and that millions of men, women and children continue to be victims of modern-day slavery.«510 Der erste Teil der Formulierung wurde jedoch fallengelassen, so dass inzwischen a priori keine inhaltliche Verbindung zur kolonialen Sklaverei mehr gegeben ist. Von der beibehaltenen Prämisse millionenfacher Menschenrechtsverletzungen ausgehend, wird nun vor allem zum Kampf für eine Verbesserung bestehender Verhältnisse aufgerufen. Expliziter Bestandteil des gesetzlich festgelegten Rahmens ist dabei auch das Ziel, Aufmerksamkeit auf die Leistungen von Regierungs- und Nicht-Regierungs-Organisationen zu lenken.511 Wie es im Rahmen des Bicentenary ebenfalls oft der Fall war, verschwimmt die Grenze zwischen heutigen Ausbeutungsformen und der mit dem transatlantischen Menschenhandel verbundenen kolonialen Sklaverei; die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Kontexte tritt hinter der moralischen Verurteilung zurück. Das wichtigste Beispiel für eine geschichtspolitische Maßnahme jenseits des politischen Zugriffs der nationalen Regierungsinstitutionen liefert das Londoner Denkmal mit dem Titel »Gilt of Cain«, das 2008 eingeweiht wurde. Im Gegensatz zu der ein gutes Jahr zuvor enthüllten Skulptur im Pariser Jardin du Luxembourg handelt es sich um eine kommunale Umsetzung. »This project was initiated by Black British Heritage and the Parish of St Mary Woolnoth and was commissioned by the City of London Corporation in partnership with the British Land Company.«512 Die Ausführung oblag Futurecity, einer in Großbritannien sehr erfolgreichen privaten Beratungsagentur, die sich auf die Realisierung von Projekten im Schnittpunkt von Kunst, Architektur und Stadtplanung spezialisiert hat.513 »Unlike the UK, where there is still no national memorial, in France, in the heart of the capital city, a memorial has been constructed; the important political statement made in commissioning such a work and having it unveiled by the head of state should not be underestimated«, merkt Alan Rice zu Recht an.514 Ebenso wenig sollten allerdings die Last der Repräsentation und die Beschränkungen unterschätzt werden, denen ein nationalpolitisch sanktionierter Standpunkt in einer umkämpften Erinnerungslandschaft unterworfen ist. Die kreative Gestaltung von Gilt of Cain gibt Grund zu der Annahme, dass der Freiraum eines vergleichsweise niedrigschwelligen Projekts der Potentialentfaltung des Gedenkorts durchaus zuträglich war. 509 Almandras, Sally: Anti-Slavery Day Bill, Commons Library Standard Note (SN/HA/5311), 3.2.2010, www.parliament.uk/briefing-papers/SN05311. Vgl. auch Antislavery Day UK, http://www.antislaveryday.com. 510 S. Almandras: Anti-Slavery Day Bill, S. 7. 511 Anti-Slavery Day Act, 8.4.2010, www.legislation.gov.uk/ukpga/2010/14/pdfs/ukpga_201 00014_en.pdf. 512 Gilt of Cain, www.londonremembers.com/memorials/gilt-of-cain-slave-trade. 513 Vgl. hierzu Futurecity Placemaking Agency, http://futurecity.co.uk. Futurecity war unter anderem auch für die neue Großskulptur im Flughafen Heathrow oder das »Tate-Boot« verantwortlich, das die beiden berühmten Kunstgalerien verbindet. 514 A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 26.
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Zwar wurde das Denkmal erst einige Monate nach Abschluss des Jubiläumsjahres von Desmond Tutu enthüllt515, gewidmet ist es aber dem 200. Jahrestag der Abolition des britischen transatlantischen Sklavenhandels. Zum Anlass ist auf der zugehörigen Informationstafel zu lesen: »The sculpture commemorates the abolition of the transatlantic slave trade in 1807, which began the process of the emancipation of slaves throughout the British Empire.« Hier klingt das im Rahmen des Bicentenary oft wiederholte und von der Labour-Regierung aktiv beförderte Narrativ an, das die Abolition des Sklavenhandels zum dramatischen Wendepunkt erhebt. Während die Widmung vergleichsweise konventionelle Töne anschlägt, gibt sich das Kunstwerk insgesamt deutlich progressiver. Gilt of Cain ist eine Symbiose aus begehbarer Skulptur und Poesie, die sich vom klassischen personenzentrierten Ansatz der Erinnerung, wie er sich etwa in den Gedenkmarken der Royal Mail manifestierte, abhebt. Die bildhauerischen Elemente sind das Werk des schottischen Künstlers Michael Visocchi. Das teilweise in den Granit gemeißelte Gedicht, das vollständig auf der ergänzenden Tafel nachzulesen ist, stammt aus der Feder von Lemn Sissay. Die Wirkung des Ortes setzt auf künstlerische Ausdrucksformen, auf Metaphern in Wort und Stein, die multiple Assoziationsstränge tragen. Die Vermittlung historisch konkreter Informationen ist dagegen sekundär, vielmehr verbinden sich Facetten von Vergangenheit und Gegenwart zu verdichteter Bedeutung. Ein integraler Bestandteil dieses Geflechts ist der Standort, der viel zur Erdung einer Botschaft beiträgt, welche die Allusion der geschichtspolitisch schwerfälligen Eindeutigkeit vorzieht. So kommt auch Rice zu dem Schluss: »The multiplicity of the memorial is one of its main strengths; it refuses to be tied down to a unitary vision of the slave trade’s meaning to the contemporary visitor.«516 Abb. 2: Gilt of Cain, Fen Court, London
Foto: S. Dinter
515 N.N.: »Art of freedom. Desmond Tutu unveils sculpture«, in: The Guardian vom 5.9.2008. 516 A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 19.
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Es ist nicht zuletzt die inhaltlich enge Anbindung an den Ort, die Geschichte und Gegenwart einen gemeinsamen Rahmen verleiht. Sie fundiert den bis heute aktuellen, wenn nicht gar zeitlosen Charakter des vorgeschlagenen Deutungsansatzes. »The artwork is sited at Fen Court, a walk-through courtyard between Fenchurch Avenue and Fenchurch Street. This site is significant because of its proximity to St Mary Woolnoth Church – where anti-slavery campaigner William Wilberforce was inspired by the Rev John Newton’s powerful anti-slavery sermons.«517 Diese Lage bedeutet aber auch, dass Gilt of Cain in direkter Nähe zu den Straßenzügen errichtet wurde, in denen sich ein Zentrum des globalen Finanzwesens befindet, das bis heute eine so zentrale Rolle für die britische Wirtschaft spielt. Die Londoner City spielte für die Entwicklung des Sklavenhandels eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie dieser für die Ausprägung internationaler Handelsbeziehungen und eines weitverzweigten Bank-, Kredit- und Versicherungswesens. Beide Ebenen, die christlich orientierte Ethik der Mitmenschlichkeit, die den Abolitionistinnen und Abolitionisten zugesprochen wird, und eine diese Ideale unterminierende Profitorientierung werden im poetischen Sprachtext des Denkmals immer wieder miteinander konfrontiert. In einer auf Breitenwirkung ausgerichteten Perspektive lassen sich kritische Einwände gegen die Lokalität erheben: »[I]ts effectiveness is [...] crucially compromised by its position in Fen Court, a quiet, obscure square away from London’s major landmarks.«518 Die Funktionsweise des Kunstwerks ist mit diesem Standort jedoch so eng verknüpft, dass sie in dieser Form nicht beliebig auf einen anderen Platz übertragbar sein dürfte. Das bildhauerische Ensemble von Gilt of Cain besteht aus zwei Hauptelementen: Ins Auge fallen zunächst siebzehn schlanke Säulen, deren Gestaltung hoch aufragende Zuckerrohrpflanzen und damit die Ware suggeriert, deren Massenproduktion den entscheidenden Ausschlag für die Versklavung von Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern gab. Durch die voluminöse Überzeichnung der typischen Wachstumsringe rufen die aufragenden Elemente zudem den Gedanken an Fässer wach und verweisen so auf Transport und Vermarktung des Ernteprodukts.519 Die Zahl der Säulen entspricht der Anzahl der Jahre, die vergingen, bevor der Druck auf das britische Parlament schließlich in ein Verbot des transatlantischen Sklavenhandels mündete. Die Manifestation der langen Zeitspanne und die im Text angedeutete ursprüngliche Randgruppenposition des Abolitionismus sorgt dafür, dass der Gesamteindruck des Denkmals weniger triumphalistisch ausfällt, als dies für die Erinnerung an die Abschaffung des Sklavenhandels in Großbritannien lange üblich war. Dies gilt sowohl für die historische als auch die gegenwartsbezogene Ebene, die vor allem im Text angelegt ist. Das zweite Hauptelement der Skulptur spielt, je nach Lesart, wiederum auf den Parlamentarismus und insbesondere auf die für ihre epische Länge bekannten Ansprachen von William Wilberforce an. Es handelt sich um ein Rednerpult, das in dieser oder ähnlicher Form in verschiedenen Kontexten zur Hervorhebung eines Sprechers oder einer
517 Gilt of Cain, http://futurecity.co.uk/gilt-of-cain. 518 A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 28. 519 Zit. n. Macdonald, Murdo: »The Uneasiness Inherent in Culture. A Note on Michael Visocchi’s Memorial to the Abolition of the Transatlantic Slave Trade«, in: International Journal of Scottish Literature 4 (2008), S. 104-108, S. 106.
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Sprecherin dienen könnte. In diesen Zusammenhang gesetzt, werden die siebzehn Säulen zu anthropomorphen Formen520, denn sie sind als Gruppe angeordnet, die an eine dem Podest zugewandte Menschenansammlung erinnern kann und soll. Die Konstellation kann dabei als Gerichtsverhandlung, Predigt, parlamentarische Debatte oder Sklavenauktion gelesen werden – verschiedene Situationen, die integrale Bestandteile der Geschichte von kolonialer Sklaverei und transatlantischem Sklavenhandel waren. Über eine Treppe können Passantinnen und Passanten die erhöhte Plattform selbst besteigen und erhalten damit nicht nur eine andere Sichtperspektive auf das Werk. Als aktiv Handelnde betreten sie mit dem Denkmal auch die von ihm beschriebene Konstellation und finden sich in der Position des Redners bzw. der Rednerin wieder. Seinen Namen gab dem Denkmal das eingeschriebene Gedicht von Lemn Sissay.521 »The poem skillfully weaves the coded language of the City’s stock exchange trading floor with biblical Old Testament references.«522 Die versierte Überschneidung von Bedeutungs-, aber auch Orts- und Zeitebenen ist bereits im Titel enthalten, einer Überblendung der homophonen Formulierungen »Guilt of Cain« und »Gilt of Cane«. Über den Jargon des Börsenparketts werden die in der Metropole London wirkenden ökonomischen Mechanismen sprachlich in engste Beziehung zur Gewalt der Sklaverei gesetzt, die sich geographisch weit entfernt von der City abspielte. Die Satzkonstruktionen des Textes lösen diese Distanz wortspielerisch auf. So werden die menschlichen Folgen der dominierenden Profitorientierung, die vor Ort weitgehend unsichtbar blieben und allenfalls in Form von Handelszahlen eine Rolle spielten, als Teil eines globalen Netzes von menschengemachten Ursachen und Wirkungen aufgedeckt. Durch die auf dem Weg der Sprache vollzogene Direktkonfrontation von beiden Seiten der Medaille entlarvt sich auch die börsensprachliche Verhüllung der wirtschaftlich motivierten Entmenschlichung selbst. Wie in den anthropomorphisierten Säulen, verschmelzen im Text Mensch, Rohstoff und Handelsware zu einem Kontinuum, das von den Finanzgeschäften zusammengehalten wird. Über das Hineinweben des biblischen 520 Ebd. 521 »Here is the ask price on the closed position, / history is no inherent acquisition / for here the Technical Correction upon the act, / a merger of truth and in actual fact / on the spot, on the money – the spread. / The dealer lied when the dealer said / the bull was charging the bear was dead, / the market must calculate per capita, not head. / / And great traders acting in concert, arms rise / as the actuals frought on the sea of franchise / thrown overboard into the exchange to drown / in distressed brokers disconsolate frown. / In Accounting liquidity is a mounting morbidity / but raising the arms with such rigid rapidity… / Oh the reaping the raping rapacious fluidity. / the violence the vicious and vexed volatility. / / The roaring trade floor rises above crashing waves: / the traders buy ships, beneath the slaves. / Sway machete back, sway machete again / cut back the Sugar Rush, Cain. / The whipsaw it’s all and the whip saw it all / The rising market and the cargo fall / Who’ll enter ›Jerusalem‹ make the margin call for Abel? / Who will kick over the stall and turn the table? / / Cain gathers cane as gilt-gift to his land / But whose sword of truth shall not sleep in hand? / Who shall unlock the stocks and share? / Break the bond the bind unbound – lay bare / The Truth. Cash flow runs deep but spirit deeper / You ask Am I my brothers keeper? / I answer by nature by spirit by rightful laws / My name, my brother, Wilberforce.« Online nachzulesen unter www.londonremembers.com/memorials/gilt-of-cain-slave-trade. 522 Ebd.
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Vokabulars erfährt die moderne Anordnung, in welcher der Gewinn der einen mit dem Leiden der anderen berechnet wird, eine Deutung als Sündenfall des Brudermordes. Die Ungerechtigkeit wider die göttliche Natur des Menschen schreit daher zwar buchstäblich zum Himmel, sie erfordert aber eine sehr irdische Antwort, nämlich eine ethisch motivierte Umkehr und entsprechende, von menschlicher (Selbst-)Erkenntnis geleitete Handlungsweisen. Und so schließt Sissay seine durch die vielschichtigen sprachlichen und inhaltlichen Bezüge anspruchsvolle Poesie mit einem Appell, der in seiner moralisierenden Eindeutigkeit vergleichsweise einfach ist: »Break the bond the bind unbound – lay bare / The truth. Cash flow runs deep but spirit deeper.« Erst in den letzten Zeilen greift der Autor zum ersten Mal auf das zutiefst persönliche lyrische »Ich« zurück und kreiert damit, vor dem Hintergrund des bis dahin situationsbeschreibend angelegten Textes, einen handelnden Akteur. Er nennt auch den Namen von William Wilberforce, und zwar an einer Stelle, die von entscheidender Bedeutung für ein so stark mit sprachlichen und sprachrhythmischen Mitteln arbeitendes Gedicht ist. Dieses endet tatsächlich mit dem Wort »Wilberforce«, mit dessen Erwähnung quasi eine abschließende (Er-)Lösung erreicht wird: »I answer by nature by spirit, by rightful laws / My name, my brother, Wilberforce.« Der Komplexität zum Trotz, wird also auch hier ein Bild des britischen Abolitionismus und seiner Beweggründe propagiert, das geschichtswissenschaftlich zwar weiter umstritten ist, in jüngerer Zeit aber wieder verstärkt vertreten wird: »The final two couplets exemplify the polemical message of the poet that the money god must be undermined by the value of brotherhood, encapsulated by the actions of abolitionists like Wilberforce.«523 An dem Gesamtwerk ist bemerkenswert, wie deutlich es mit seiner Multiperspektivität über die typischen Konflikte hinausgreift, welche die öffentlichen Debatten um den transatlantischen Sklavenhandel prägten. »[I]t encourages us to move away from the notorious binary oppositions of the histories of slavery and abolition.«524 Auch stützt sich der im Denkmal verkörperte Zugang zur Vergangenheit nicht an eine identitäre, emotional besetzte Botschaft; Gilt of Cain ist weder ein Ort des Opfer- noch ein Ort des Heldengedenkens und spricht daher weder in der Sprache der Trauer noch der des Sieges. Dabei vermeidet das Denkmal zugleich die unausgegorene Mischung aus beiden Gedenkperspektiven, aus der oft eine Darstellung resultierte, die eine lineare Fortschrittsgeschichte mit dramatischer Wendung im Jahr 1807 vermittelte. Es verbindet einen für informierte Betrachter/-innen sehr konkreten Fokus mit einer die Geschichte transzendierenden Offenheit, ohne dabei in den plakativen Symbolismus etwa des Bildes der zerbrochenen Kette abzugleiten. In den Mittelpunkt gerückt und historisch aktualisiert werden stattdessen die überzeitlichen Motive des rücksichtslosen Reichtumsstrebens und der gewaltsamen Unterdrückung in ihrer intimen Verbindung. Als ein Ort, der vor allem zum Nachdenken mahnt, verlangt Gilt of Cain damit eine recht anspruchsvolle Interpretationsleistung. Denn trotz des klaren moralischen Appells enthält das Werk keine abschließende Klärung, was und wie historisch erinnert werden soll. Die zahlreichen Anspielungen scheinen vielmehr darauf angelegt, gerade die üblicherweise zentralen Deutungs- und Diskussionskategorien zu umgehen. Mit seinem weiten Ansatz zielt Gilt of Cain nicht auf einen Kommentar zur kontrovers geführten Agency-Debatte ab. Die Herangehensweise ist gleichbedeutend mit 523 A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 23. 524 Ebd., S. 19.
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einer Distanznahme von den ethnisierten historischen Konflikten und den von ihnen geprägten persönlichen Perspektiven, die »Täter« und »Opfer« zu fassen versuchen. Ausgehend von der Kommerzialisierung menschlicher Beziehungen, die im transatlantischen Sklavenhandel einen ihrer weltgeschichtlichen Höhepunkte fand, formuliert das Denkmal eine Botschaft, welche die Geschichte und Gegenwart des Ortes mit einschließt. Herausgearbeitet wird nicht die Präsenz der Vergangenheit, sondern die Präsenz einer ähnlichen Motivlage, die heute wie damals Menschen in Gewinner/-innen und Verlierer/-innen einer im weitesten Sinne finanzkapitalistisch organisierten Wirtschaftsweise teilt. Aufgezeigt wird also eine strukturelle Parallele, eine Analogie des Prinzips, dessen Konstanz mit dem historischen Wandel koexistieren kann und das Leben von Menschen in sehr unterschiedlichen, miteinander ebenso verbundenen wie konfligierenden Positionen prägt. Diese Struktur verstößt gegen Ideale, die als ebenso geschichtsmächtig wie aktuell relevant vermittelt werden, ohne dass die kritisierte Konstellation zu einer bloßen Projektionsfläche für humanitäres Engagement wird, in der das Mitleid der Privilegierten als moralische Auszeichnung den Fokus diktiert. Das Denkmal eröffnet damit eine Weitwinkelperspektive auf die Entwicklung der Moderne und löst ihren scheinbaren Widerspruch zur Sklaverei auf. »[C]ontextualising slavery situates it within the exploitative networks of global industrial capitalism, showing it not as an anomaly but as part of other forms of involuntary labour. Slavery is thus not an aberration of modernity, as liberal humanists claim, but rather essential to its paradigm.«525 Zwar nimmt Gilt of Cain aufgrund seiner Größe und seiner Hauptstadtlage eine einzigartige Position in Großbritannien ein, wo einige ältere und neuere Denkmäler vor allem an die Geschichte von Abolitionismus und Emanzipation erinnern. Es ist aber weder ein nationales Denkmal noch ist es den Menschen gewidmet, die durch die koloniale Sklaverei vor allem zu Gewaltopfern, aber auch zu Widerständigen wurden. Beide Aspekte versuchte die Initiative »Memorial 2007« zu vereinen, die sich für die Einrichtung eines Gedenkortes im Londoner Hyde Park einsetzte. Die Vereinigung konnte einige Anfangserfolge für sich verbuchen, und ihre Unterstützer/-innen stellten ein professionell elaboriertes Konzept auf. »Theirs is not some amateur, kitchen-table campaign, but a serious and determined project with an impressive list of patrons and trustees.«526 Memorial 2007 wurde bereits im Januar 2005 von einer kleinen Gruppe ehrenamtlicher Freiwilliger ins Leben gerufen, die ihr Ziel folgendermaßen in Worte fassten: »to erect the first national memorial anywhere in the world to commemorate enslaved Africans and their descendants.« 527 Die inhaltliche Ausrichtung war also nicht zuletzt von panafrikanischen Perspektiven geleitet, die in dieser Form bislang weder in Großbritannien noch in Frankreich eine unzweideutige Anerkennung in den offiziell sanktionierten Formen der öffentlichen Erinnerung erhalten haben. Durch die demonstrative Bezugnahme auf das Jubiläumsjahr des Slave Trade Abolition Act 525 Young, Hershini Bhana: Haunting Capital. Memory, Text and the Black Diasporic Body, Hanover, NH: Dartmouth 2006, S. 11, hier zit. n. A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 24. »Situieren« kann hier mit Blick auf den Standort durchaus wörtlich verstanden werden. 526 Olusoga, David: »Why has a memorial to slaves quietly been dropped?«, in: The Guardian vom 4.10.2015. 527 Website der Initiative Memorial 2007, www.memorial2007.org.uk/about.
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wurde über den Kurztitel des Projekts zwar eine klare Verbindung zum Bicentenary hergestellt. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass hierbei auch taktische Überlegungen eine Rolle spielten; jedenfalls sind die ausführlich zelebrierte britische Abolitionsbewegung und die von ihr angestoßene Gesetzgebung für das Gesamtkonzept nicht zentral. Eine wichtige inhaltliche und organisatorische Anbindung war dagegen das UNESCO-Projekt Slave Route, über welches das Monument mit anderen Gedenkorten weltweit verbunden werden sollte. Von der 2007 angestoßenen erinnerungskulturellen Dynamik konnte die Initiative, die inzwischen am Punkt ihres Scheiterns angelangt scheint, schließlich aber nur bedingt profitieren. »For 13 years, Memorial 2007 has been raising money for the project in Hyde Park rose gardens, but the government has refused to help.«528 Angeführt wurde die Initiative für das Memorial 2007 von der Historikerin Oku Ekpenyon, die in London Jahrzehnte lang nicht nur als Lehrerin tätig war. »Oku has been recognised for her service to the History of Black British People, and for her tireless efforts to raise public awareness and appreciation of the black presence in Britain«.529 Im Jahre 2010 wurde sie von der britischen Königin zum Member of the Order of the British Empire erhoben. Zunächst hatte sie sich für die Erinnerung an den afroamerikanischen Schauspieler Ira Aldridge eingesetzt, der im frühen 19. Jahrhundert durch den Einfluss von rassistischen Einstellungen um den bleibenden Ruhm seiner erfolgreichen Arbeit in London gebracht wurde. Inzwischen wird Ekpenyons Vater, nicht zuletzt aufgrund des engagierten Wirkens seiner Tochter, als »forgotten Blitz hero« anerkannt. »Nigerian-born Ita Ekpenyon was one of over 200,000 Londoners (1.5 million across Britain as a whole) who volunteered as Air Raid Protection (ARP) wardens.«530 Auch im Rahmen des Jubiläumsjahres 2007 setzte sich Oku Ekpenyon mit Nachdruck für ihre Ziele ein. »The campaigning spirit continued with [her] contacting Royal Mail for commemorative stamps to mark the bicentenary of the Act to abolish the transatlantic trafficking in African people. [She] suggested a few names and gave advice on Olaudah Equiano and Ignatius Sancho.«531 Die Fokussierung auf den Hyde Park als zentral gelegenem Standort stellte einen ersten wichtigen Schritt in Richtung Umsetzung der mit dem Memorial 2007 verbundenen geschichtspolitischen Ambitionen dar. Der ausgewählte Entwurf war eine Arbeit des australischstämmigen Bildhauers Les Johnson 532 , der seine Ideen für das Denkmal zur Geschichte der Sklaverei folgendermaßen skizziert: »My design aims to
528 Ebd. 529 Rutt, Troy: Ekpenyon awarded MBE, Pressemeldung des Institute of Commonwealth Studies, 24.6.2010, http://commonwealth.sas.ac.uk/news/news-single-item/?tx_ttnews[pointer] =7&tx_ttnews[tt_news]=22&tx_ttnews[backPid]=55&cHash=c7130dec7347c9e19af812 41c6624b18. 530 Ly, Boc: Ita Ekpenyon. A forgotten Blitz hero, http://news.bbc.co.uk/local/london/hi/ people_and_places/history/newsid_8972000/8972701.stm. 531 Oku Ekpenyon, Selbstdarstellung auf der Website der Windrush Foundation, https://wind rushfoundation.com/community-champions/oku-ekpenyon/. 532 Bilder des Entwurfs: Memorial 2007, The Sculpture, www.memorial2007.org.uk/thesculpture und Timothy Associates, Pressemitteilung, London, November 2016, http://timo thy.co.uk/docs/news/Enslaved-Africans-Memorial-Garden-nov-8.docx.
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depict the history of slavery, its abolition and its legacy in the form of a relief set beneath six larger than life free-standing figures, each of whom represents a part of the slave story.«533 In seiner realen Ausführung sollte das Monument über vier Meter hoch sein. Die Abfolge der Bilder, die den Sockel verzieren, schließt nicht nur das immer wieder diskutierte gegenwärtige Erbe des transatlantischen Sklavenhandels und damit die Zeit nach Abolition und Emanzipation mit ein, sondern auch die Zeit vor dem von Europäern etablierten Menschenhandel zwischen Afrika und Amerika. Diese wird durch Elemente dargestellt, die exemplarisch für afrikanische Kultur stehen sollen. Zugänglichkeit stellte ein wichtiges Prinzip dar: »The story told in the relief has universal significance«, so Johnson weiter. »I have therefore set the height of the relief to be easily accessible to all, including children, wheelchair users, and the blind«.534 Bei den sechs über dem Sockelfries angeordneten Hauptfiguren handelt es sich um realistische Abbildungen von Personen afrikanischer Herkunft bzw. Abstammung. Das Denkmal stellt damit also gerade die Menschen bildlich als Handelnde dar, die sich in Historiographie und Erinnerung oft in der anonymen Masse der Versklavten auflösen und auch im Konzept von Gilt of Cain nur hintergründig präsent sind. Auf einer Seite sind ein Mann und eine Frau positioniert, wobei er ihr vorangeht. Sie präsentieren den ursprünglichen Moment der Versklavung in Afrika. Beide sind halbnackt, die Hände sind ihnen auf den Rücken gefesselt und gemeinsam tragen sie ein hölzernes Joch, wie sie bei den Märschen zur Küste zum Einsatz kamen. Der hintere Teil der vom Sockel getragenen runden Plattform wird wiederum von zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts eingenommen. Es handelt sich um eine Arbeiterin mit zwei Kindern, die eine gebückte Haltung einnimmt, sowie einen Mann, der die für die Sklavenarbeit typischen Zuckerrohrstangen trägt. Auf der anderen Seite steht ein Mann in für die europäische Elite des 18. Jahrhundert üblicher Kleidung, der mit sichtlicher Leidenschaft aus einem Buch rezitiert. Er repräsentiert eine führende und wohlgemerkt »schwarze« Figur der britischen Abolitionsbewegung und ist daher wahrscheinlich Olaudah Equiano nachempfunden. Dominiert wird das Ensemble aber durch eine weitere männliche Figur, die nicht nur in der Mitte positioniert ist, sondern zudem erhöht auf einem Podest und somit deutlich über den anderen steht. Der Mann trägt den Kopf auf- und den Blick nach vorn gerichtet, in seiner erhobenen Hand hält er eine Kette, die seine Hand- bzw. Fußgelenke offensichtlich nicht mehr bindet. Die Ikonographie des Afrikaners im triumphierenden Moment der Selbstbefreiung erinnert stark an Denkmäler des karibischen Raums. Diese bilden die zumeist maskulinen Helden des Widerstands in stolzer, oft körperbetonter und dynamischer Pose ab.535 Im Gegensatz zu Gilt of Cain ist die Symbolsprache des für den Hyde Park geplanten Denkmals
533 Zit. n. Memorial 2007, The Sculpture, www.memorial2007.org.uk/the-sculpture. 534 Zit. n. ebd. 535 Beispiele für diesen Stil sind das Tula-Denkmal (Curaçao), das Denkmal für Sam Sharpe (Montego Bay, Jamaika), das Denkmal für die Emanzipation bzw. die 1816 von Bussa angeführte Revolte (Bridgetown, Barbados), das Denkmal für Louis Delgrès und seine Mitstreiter (Les Abymes, Guadeloupe), das Denkmal für den »nègre marron« (Le Diamant, Martinique) oder Albert Mangonès’ berühmter »Nèg Mawon« (Statue du marron inconnu de Saint-Domingue) vor dem Präsidentenpalast in Port-au-Prince, Haiti. Die Denkmäler sind stark von bestimmten Helden- und Männlichkeitsbildern geprägt, dennoch lässt sich
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sehr bildhaft-konkret gehalten; das Anliegen, die historische Agency einer bestimmten Personengruppe abzubilden, erfordert Personalisierung. Diese bleibt trotz allem allegorisch, da eine Fokussierung auf die herausragenden quellenmäßig überlieferten Personen dem gesetzten Ziel nicht gerecht würde. Das Gesamtkonzept des Gedenkortes berücksichtigte aber auch den Wunsch nach einer Verankerung des kontemplativen Opfergedenkens, denn die Skulptur sollte nur das zentrale Element darstellen. »It will be placed within a landscaped site including the flora of Africa as an oasis of remembrance.«536 Vorgesehen war ein »memorial garden« der inneren Einkehr, dessen Gestaltung auf der Allusion der drei an den Atlantik angrenzenden Kontinente sowie des Ozeans selbst basieren, dabei aber auch eine offene Picknickfläche umfassen sollte. Der Plan für das Monument stellt eine besondere Herausforderung für die britische Geschichtspolitik und Erinnerungskultur dar. Zwar waren die Vertreter/-innen der Initiative bemüht, die übergreifende Bedeutung der Botschaft für alle Britinnen und Briten hervorzuheben. »This is a monumental subject which is so profound and far reaching it touches us all whatever our colour, culture or creed.«537 Dennoch gingen sie zugleich und wie selbstverständlich davon aus, dass die Bedeutung der Botschaft nicht für alle Menschen die gleiche sein konnte. »[I]t will have a particular resonance for those of African heritage.«538 Aus Sicht des Bildhauers ist das Memorial 2007 hauptsächlich zwei Zwecken gewidmet: »The first is to pay tribute to the courage and dignity of all those who were enslaved and their struggle for freedom. The second is the recognition and understanding that we are all the beneficiaries of their labour.«539 Das erste Ziel steht buchstäblich im Vordergrund und verdeckt aus der vorgesehenen Zentralperspektive die Figuren der Arbeitenden. Die Intention, die Menschen von heute daran zu erinnern, dass sie Erben und Nutznießer/-innen des von Sklavinnen und Sklaven generierten Wohlstands sind, stellt dabei eine interessante Ergänzung dar. In die öffentlich geführten Geschichtsdebatten ist dieser Gedanke erstaunlich wenig eingedrungen, obwohl gerade er eine Öffnung der Erinnerung über ethnische Grenzen hinweg impliziert. Solange Reichtum und Armut allerdings nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen
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inzwischen auch die Statue von Solitude (Pointe-à-Pitre, Guadeloupe) in diese Reihe einordnen. Einen reich bebilderten Überblick zur Darstellung von Sklaverei und Emanzipation in Denkmälern der französischen Überseedepartements bietet Nicolas, Thierry: »A la poursuite du patrimoine. Les lieux de mémoire de l’esclavage dans les départements d’outre mer (DOM)«, in: EchoGéo (Online) (2009), https://doi.org/10.4000/echogeo.11300; vgl. auch C. Reinhardt: Claims to Memory, S. 159 ff. Ähnlich gestaltet ist auch das »Denkmal der afrikanischen Rennaissance« in Senegals Hauptstadt Dakar. Memorial 2007, About, www.memorial2007.org.uk/about. Memorial 2007, The Sculpture, www.memorial2007.org.uk/the-sculpture. Memorial 2007, Education, www.memorial2007.org.uk/education. Memorial 2007, The Sculpture, www.memorial2007.org.uk/the-sculpture. Tatsächlich wird neben der Position von Les Johnson auf der offiziellen Homepage der Initiative aber auch eine zweite, leicht abweichende Interpretation des Hauptziele vertreten, die da Opfergedenken ebenfalls umfasst: »The themes to be embraced are remembrance and legacy. 1. Remembering enslaved Africans whose lives were sacrificed during the era of transAtlantic slave trading and the system of slavery. 2. The legacy of economic prosperity to Britain.«, www.memorial2007.org.uk/the-memorial.
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ethnischen Gruppen massiv ungleich verteilt sind, hat die Einigung im Gedenken an die historische Leistung der Ausgebeuteten sehr begrenzte Erfolgsaussichten. Zwar haben sich die Versklavten nicht für einen von ihnen als höheres Ziel anerkannten Zweck ihrer Arbeit aufgeopfert. Dennoch bekommt ihr Leben im Rahmen der hier angedeuteten Sichtweise heldenhafte Züge, da ihr Handeln ein Ergebnis bewirkte, das heutige Generationen zu Dankbarkeit und einer gewissen Ehrfurcht ihnen gegenüber verpflichten sollte. Auch die in der Überlieferung schweigende Masse wird somit zu einem Träger von »courage and dignity«, denn ihre Arbeit wird zum Motor eines historischen Fortschritts, der durchaus nicht bloß materiell verstanden werden muss. Eine per se elitäre Sicht auf die Geschichte, die vor allem denjenigen Beachtung schenkt, die sich in irgendeiner Form aus der Menge ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hervorgehoben haben, wird in Johnsons Konzept relativiert. Durch die Würdigung der Arbeit wird zudem der einseitige Fokus auf Rassismus als Erbe der Sklaverei aufgebrochen und eine greifbare Verbindung zu einer Gegenwart geschaffen, die Erinnernde unabhängig von ihrer Hautfarbe betrifft. »The legacy of slavery is not just a matter of history, it is a very visceral legacy that has shaped all our destinies, and continues to do so to the present day«.540 Zunächst erhielt das Denkmalprojekt viele Unterstützungsbekundungen. Nach Angaben der Initiative äußerte sich nicht nur die UNESCO positiv. Gleiches gilt auch für mehrere Akteurinnen und Akteure, die im Rahmen des britischen Bicentenary tragende Rollen spielten. »The Department of Culture Media & Sport gave their early support by negotiating a site with the Royal Parks for the Memorial Garden.«541 Enge Verbindungen bestanden zudem zu Set All Free, der Kampagne von Churches Together in England; Erzbischof John Sentamu war ein offizieller Schirmherr des Vorhabens. Zu den »patrons« gehörten auch Wilberforce-Nachfahrin Kate Davson sowie wichtige Vertreter des kulturellen Lebens in der britischen Hauptstadt wie der Direktor des Museum of London und der Direktor der National Portrait Gallery.542 Das Hauptanliegen des Projekts wurde dabei bezeichnenderweise sehr unterschiedlich interpretiert. »Creating a permanent national memorial to commemorate the abolition of the slave trade is of great significance. A creative response in the present will allow all sections of the community to recognise the bravery and extraordinary determination of all those who fought against the great evil of slavery two hundred years ago«, begründete Museumsdirektor Sandy Nairne sein Engagement. Im Vergleich dazu lautete das von John Sentamu aufgenommene Statement: »The voices of those who died in chains call to us through the centuries and ask us to remember. So let us together build this memorial so that future generations may never forget.« Als Unterstützerin gewonnen werden konnte auch Philippa Gregory, die Autorin des Romans »A Respectable Trade?«, der die gleichnamige Ausstellung in Bristol inspirierte. Ihr Statement rückt den Kampf gegen aktuelle Formen der Sklaverei in den Vordergrund. Schauspieler Ray Fearon wiederum setzte einen ähnlichen Schwerpunkt wie Bildhauer Les Johnson: »It is time we pay our respects and value the contributions made by the millions of Africans to help make Britain the wealth it enjoys today.«543 540 541 542 543
Ebd. Memorial 2007, Background, www.memorial2007.org.uk/background. Vgl. Memorial 2007, Patrons, www.memorial2007.org.uk/patrons. Ebd.
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Wenige Monate nach dem Wechsel der Londoner Stadtregierung demonstrierte außerdem der neue Bürgermeister Boris Johnson seine symbolische Unterstützung. Er ließ das Modell des Denkmals anlässlich des Slavery Remembrance Day im August 2008 für einige Wochen in der City Hall ausstellen.544 Eine signifikante finanzielle Bezuschussung blieb allerdings aus, und so stellte der Geldmangel ein zentrales Hindernis für die Realisierung des Gedenkortes dar. Bitten um Spenden von privaten Geldgebern hatten nicht den erhofften Erfolg. »Barclays [Bank] made their first millions from slavery and the slave trade. But when the Memorial 2007 group asked the bank for a donation for the national anti-slavery memorial garden in Hyde Park, it refused.«545 Aber auch eine Zusage öffentlicher Gelder konnten Oku Ekpenyon und ihre Mitstreiter/-innen nicht erwirken. »In February [2015], Memorial 2007 approached the government to request financial assistance. It was partly inspired by the news in January that George Osborne had pledged £50m towards the cost of a new Holocaust memorial and education centre. It had a polite meeting at Number 10 but no commitments, no money and, five months later no reply to their letters.«546 Der Verkauf von Postkarten, eine Sponsorenfahrt mit dem Fahrrad durch ganz England oder die Organisation von Filmabenden bezeugten zwar die große Motivation, das nötige Kapital von 1,5 Millionen Pfund ließ sich damit indes nicht generieren. »The Royal Parks have been incredibly patient and supportive but, after nine years, they reluctantly gave Memorial 2007 a deadline of 30 September [2015], by which time they needed to raise the final sums needed for the memorial or else lose the site. […] [T]hat deadline quietly passed, unnoticed and unreported.«547 Zu den wenigen, die das Auslaufen der Frist, mit dem das Projekt vorerst heimatlos geworden ist, bemerkten, gehörte der in Nigeria geborene britische Historiker und BBC2-Moderator David Olusoga, der im Guardian kommentierte: »[T]he role Britain played in the abolition of slavery […] does deserve to be celebrated. The problem here is that, when it comes to statues and memorials, abolition is all we remember. […] Given the scale of Britain’s involvement and the enormous profits generated from the trade, the creation of a single memorial to the victims of that system in a London rose garden seems a fairly modest demand.«548
An dieser Stelle deuten sich also sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Grenzen der erinnerungskulturellen Wende an, die New Labour mit dem Bicentenary in Szene gesetzt hatte. Das letzte Wort scheint aber auch in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Im November 2016 meldete ein Londoner Architekturbüro: »Timothy Associates’ design for a memorial garden to remember enslaved Africans and their 544 Mayor Boris Johnson backs slavery memorial statue in Hyde Park, Pressemeldung des Londoner Stadtrats, 18. August 2008, www.london.gov.uk/media/press_releases_mayoral/ mayor-boris-johnson-backs-slavery-memorial-statue-hyde-park. 545 Marika Sherwood in einem Leserbrief zum Thema »The legacy of slavery in the modern world«, in: The Guardian vom 31.3.2007. 546 Olusoga, David: »Why has a memorial to slaves quietly been dropped?«, in: The Guardian vom 4.10.2015. 547 Ebd. 548 Ebd.
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descendants, on a prominent site in London’s Hyde Park, was granted planning permission […]. The proposal was supported unanimously by the City of Westminster.«549 Im Februar brachte Lord Oates das Anliegen in eine kleine Debatte des Lords Grand Committee ein und rief die Mitglieder des Oberhauses zur Unterstützung des Projektes auf.550 Die bereits zehn Jahre andauernde Phase des Fundraising setzt sich fort.
549 Timothy Associates, Pressemitteilung, London, November 2016, http://timothy.co.uk/ docs/news/Enslaved-Africans-Memorial-Garden-nov-8.docx. 550 House of Lords, Short debate: Protection of existing historical statues and memorials and establishment of new memorials that reflect broader UK history, 9.2.2017, https://parlia mentlive.tv/event/index/7c058ec6-fc61-4ec3-ba30-02d08d79b16a?in=13:00:04 (Video).
Entwicklung der Erinnerung in Frankreich
DAS JUBILÄUM 1998: DER 150. JAHRESTAG DES EMANZIPATIONSDEKRETS In Frankreich folgten die Konflikte, die den Wandel der Erinnerungskultur umgaben, in erster Linie der Logik einer innernationalen Erinnerungskluft. Denn im Hinblick auf die Geschichte der kolonialen Sklaverei besteht die französische Republik aus zwei sehr unterschiedlich geprägten Erinnerungsräumen: den kontinentaleuropäischen und den überseeischen Departements. Der Unterschiedlichkeit der historischen Erfahrung entsprechend nahm auch die Entwicklung der vor Ort jeweils gepflegten – oder eben nicht gepflegten – Erinnerung einen anderen Verlauf. Dabei hat sich der Abstand im Vorfeld des Untersuchungszeitraums zunächst verbreitert. Die 1970er Jahre waren eine Zeit der Erneuerung des kulturbezogenen Denkens in den DOM, die von einer verstärkten Bezugnahme auf die den Gebieten jeweils eigenen Traditionen geprägt war. Parallel verzeichneten politische Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen einen Aufstieg; insgesamt vollzog sich also eine gewisse Distanzierung vom paternalistischen Einfluss des »Mutterlandes« Frankreich. Hiermit trat auch die Auseinandersetzung mit der regionalen, von Sklaverei und Kolonialismus geprägten Vergangenheit in den Vordergrund, die bis dato gerade in der öffentlichen Geschichtsdarstellung nicht im Mittelpunkt gestanden hatte.1 Im Jahr 1983 wurden in den Überseegebieten arbeitsfreie Gedenktage an die 1848 erfolgte Abschaffung der Sklaverei eingeführt, die bis heute bestehen.2 Jedes Departement begeht das Ereignis an einem anderen Datum, das sich am Zeitpunkt der faktischen Emanzipation vor Ort orientiert.3 Bis 2006 gab es aber weder ein metropolitanes Äquivalent noch ein gesamtnational konzipiertes Datum des Erinnerns an die Geschichte der Sklaverei. Ebenso wenig fand regional kultivierte Erinnerung an den Widerstand der Versklavten Eingang in die offiziell sanktionierte
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Vgl. z.B. C. Chivallon: L’esclavage, du souvenir à la mémoire oder M.-J. Jolivet: La construction d’une mémoire historique à la Martinique. Loi n° 83-550 du 30 juin 1983 relative à la commémoration de l’abolition de l’esclavage; Décret n° 83-1003 du 23 novembre 1983 relatif à la commémoration de l’abolition de l’esclavage. Die 1983 für die damaligen DOM bestimmten Daten sind der 22. Mai (Martinique), 27. Mai (Guadeloupe), 10. August (Guayana), 20. Dezember (La Réunion). Das Gedenkdatum Mayottes ist inzwischen der 27. April, das Datum des offiziellen Emanzipationsdekrets der II. Republik.
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und in der französischen Öffentlichkeit vorherrschende Fassung der Nationalgeschichte. Die französische Entwicklung stellt sich vor diesem Hintergrund vor allem als Ergebnis der Ambition dar, die erinnerungskulturelle Kluft zwischen den Landesteilen zu überbrücken und der Geschichte eine gesamtnationale Bedeutung zu verleihen – »de sortir cette commémoration de son confinement ultramarin.«4 Wie weit die Vergangenheitsbilder in Frankreich tatsächlich auseinander klafften, wurde erstmals 1998 deutlich, und zwar in einer Weise, die lange nachwirken sollte. In diesem Jahr feierte die französische Republik den 150. Jahrestag des zweiten Emanzipationsdekrets. Die Initiative ging auf die kurz zuvor an die Macht gekommene Koalitionsregierung unter Lionel Jospin zurück, in der neben dem PS mehrere kleinere Parteien der politischen Linken vertreten waren. Es handelte sich um eine geschichtspolitische Premiere: Der 100. Jahrestag der zweiten Emanzipation hatte zwei Jahre nach dem Gesetz zur Departementalisierung und inmitten der Nachkriegsprobleme im metropolitanen Frankreich keine besondere Aufmerksamkeit gefunden. »En 1948, le centenaire du décret est célébré officiellement à la Sorbonne, mais avec une remarquable discrétion, en présence de Gaston Monnerville et Aimé Césaire.«5 Monnerville, der Enkel eines Sklaven aus Französisch-Guayana, war in der Zeit des Zweiten Weltkriegs für die Résistance aktiv gewesen. Unmittelbar nach Kriegsende leitete er die Kommission, die für die Gestaltung der Departementalisierung der ehemaligen Sklavenkolonien verantwortlich war. Sein Einsatz für die Aufwertung der Erinnerung an die Geschichte von Sklaverei und Emanzipation nahm zunächst recht traditionelle republikanische Züge an. »[Il] a souhaité et obtenu qu’en 1949, un siècle après l’abolition de l’esclavage, Victor Schœlcher, avec Félix Eboué, entre au Panthéon.«6 Diese frühen geschichtspolitischen Schritte hinterließen allerdings keinen bleibenden Eindruck, vielmehr war 50 Jahre später die Meinung verbreitet: »[E]n 1948, les cérémonies du centenaire avaient été purement et simplement escamotées. Refus d’en parler.« 7 Angestrebt für das 150. Jubiläum des am 27. April 1848 unterzeichneten Emanzipationsdekrets war dagegen eine »célébration nationale de grande ampleur«.8 Die entsprechenden Veranstaltungen beschränkten sich nicht auf die Überseegebiete und schlossen neben der Hauptstadt auch andere Orte des metropolitanen Staatsgebietes mit ein. In einer Zeit, in der Rituale des öffentlichen Geschichtsgedenkens ebenso 4
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CPME: Les commémorations et manifestations du 10 mai. Bilan des trois premières éditions, et propositions du CPME pour 2009, http://www.cnmhe.fr/spip.php?article831&id_docu ment=920#documents_portfolio. CPME: Mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions. Rapport à Monsieur le Premier ministre, April 2005, www.comite-memoire-esclavage.fr/IMG/pdf/Rapport _memoire_esclavage.pdf, S. 22 (Druckfassung des Berichts unter dem gleichen Titel erschienen bei La Découverte, Paris 2005). Jean-Jacques Queyranne, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. Bantman, Béatrice: »Abolition de l’esclavage. L’anniversaire ambigu. Les Antillais ressentent une certaine amertume devant les cérémonies qui se multiplient en métropole«, in: Libération vom 25.4.1998. Kultusministerin Catherine Trautmann (PS) zit. n. N.N.: »Conseil des ministres. L’abolition de l’esclavage célébrée en 1998«, in: Le Figaro vom 11.11.1997.
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wie Integrationsfragen an Bedeutung gewannen, war auch die erinnerungskulturelle Marginalisierung der DOM in zunehmendem Maße sichtbar geworden. Hierzu hatte nicht zuletzt der 200. Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution beigetragen, der 1989 in Frankreich begangen worden war. Das beispiellose Ausmaß des Bicentenaire, das als Feier der Menschenrechte begangen worden war, hatte auch die weitgehende Abwesenheit der Kolonien aus den um dieses Epizentrum der französischen Geschichte konstruierten Narrativen offengelegt. Aber trotz entsprechender Forderungen erhielt der 200. Jahrestag des ersten Emanzipationsdekrets 1994, der von der UNESCO mit der Gründung des Projektes Slave Route gewürdigt wurde, im politischen Paris und in den nationalen Medien wiederum keine besondere Aufmerksamkeit. Der Cent-Cinquantenaire der endgültigen Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien wurde ein knappes Jahrzehnt vor dem Bicentenary des britischen Slave Trade Abolition Act zelebriert. Der Jahrestag steht somit relativ am Anfang der hier interessierenden Entwicklung und fand unter entsprechend anderen Voraussetzungen statt. Zunächst ließen weder das Vorgehen des Kabinetts noch die Berichterstattung darauf schließen, dass die besondere Brisanz des geschichtspolitischen Themas in vollem Ausmaß erkannt wurde. Die offizielle Entscheidung, dass der 150. Jahrestag der Emanzipation Gegenstand nationaler Feierlichkeiten sein würde, verkündete Kultusministerin Catherine Trautmann nur wenige Monate im Voraus.9 Die Impulse waren vor allem von politischen Vertreter/-innen der Überseedepartements ausgegangen, und die Koordination der Planungen übernahm Daniel Maximin, der als Romanschriftsteller bekannt ist und unter anderem ein Werk zum Kampf der Aufständischen unter Louis Delgrès gegen die napoleonische Armee verfasst hat.10 Als Directeur Régional des Affaires Culturelles seiner Heimatregion Guadeloupe hatte er bereits 1996 die Ausarbeitung eines Programms vorgelegt, das sich in erster Linie auf die spezifischen Kulturformen der DOM und das grundlegende Thema der kulturellen »métissage« konzentrierte.11 Daneben zielte die politische Rhetorik insbesondere auf die positive Hervorhebung bürgerschaftlichen Engagements und in diesem Zusammenhang auf ein junges Publikum ab. Wie das britische Jubiläumsjahr 2007, umfasste das Programm des französischen Jubiläums von 1998 Ausstellungen, organisierte Debatten, kulturelle sowie im engeren Sinne politische Termine, und es wurde ergänzt durch Beiträge der Medien, die sich des Themas ebenfalls annahmen.12 Das in Großbritannien durchaus prägende religiöse Element spielte dagegen praktisch keine Rolle. Auch in Frankreich äußerten sich Kritiker/-innen früh skeptisch über die Reichweite der offiziellen Veranstaltungen. »Les projets ambitieux de commémoration de
9 Ebd. 10 Ebd., »[u]ne mission interministérielle chargée de coordonner l’ensemble des manifestations a été confiée à l’écrivain guadeloupéen Daniel Maximin.« 11 Roux, Emmanuel de: »La discrète célébration du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage. Les projets ambitieux de commémoration de l’émancipation des esclaves risquent, faute de crédits et de volonté politique, de ne devenir qu’un saupoudrage de manifestations et de discours«, in: Le Monde vom 6.4.1998. 12 Vgl. z.B. N.N.: »Abolition de l’esclavage« und 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 20.4.1998.
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l’émancipation des esclaves risquent […] de ne devenir qu’un saupoudrage de manifestations et de discours.«13 Tatsächlich blieb die Umsetzung deutlich hinter der Ursprungsidee – »le grand dessin de M. Maximin«14 – zurück. Die als Herzstück des Jubiläums angedachte Großveranstaltung in der Hauptstadt entfiel komplett: »Paris devait susciter à la Villette un événement majeur avec, entre autres, la collaboration de grandes institutions (Musée des arts et des traditions populaires et Musée d’Orsay). Cette manifestation phare, pluridisciplinaire, ouverte sur les cultures du présent, avait un prix assez élevé«.15 Zwar wurden sowohl in den beiden genannten Museen als auch in La Villette Ausstellungen bzw. kulturelle Themenwochenenden veranstaltet, wobei die begrenzten Finanzmittel durch den Rückgriff auf Zuschüsse privater Mäzene ergänzt wurden.16 Jedoch fiel dieser Teil des Programms deutlich unspektakulärer aus als zunächst angestrebt. Darüber hinaus wurde auch ein Mangel an inhaltlicher Koordination moniert. Die Ausstellung im Orsay-Museum widmete sich tatsächlich weniger der Abschaffung der Sklaverei als dem Revolutionsjahr 1848 allgemein.17 Der Musée des arts et des traditions populaires griff im Gegensatz dazu sehr direkt den von Daniel Maximin ausgearbeiteten Themenschwerpunkt auf. Die Ausstellung »Tropiques métis. Mémoires et cultures de Guadeloupe, Guyane, Martinique, Réunion«18 befasste sich mit den historisch gewachsenen Kulturen der Überseedepartements. Der Verantwortliche Michel Colardelle erläuterte das Engagement seiner Institution mit den bezeichnenden Worten: »Nous présenterons une belle exposition, tournée vers le présent avec un socle historique. […] Bien sûr, j’aurais préféré une grande exposition à la Villette pour mêler culture vivante et patrimoine, mais nous sommes quand même les seuls à faire quelque chose d’envergure.«19 Die offiziellen Feierlichkeiten erstreckten sich vom 23. April bis zum 20. Dezember, dem Datum der Emanzipation auf La Réunion. Dass der Auftakt bereits vier Tage vor dem eigentlichen Jahrestag des gefeierten Dekrets erfolgte, war dem Terminkalender von Staatspräsident Jacques Chirac geschuldet. Im ElyseePalast hielt er die erste große Jubiläumsansprache, um im direkten Anschluss zu einem 13 Roux, Emmanuel de: »La discrète célébration du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage. Les projets ambitieux de commémoration de l’émancipation des esclaves risquent, faute de crédits et de volonté politique, de ne devenir qu’un saupoudrage de manifestations et de discours«, in: Le Monde vom 6.4.1998. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Unter dem Titel »1848, la République et l’art vivant« beleuchtete sie vor allem die Auswirkungen der Revolution auf Bedingungen, Inhalte und Formen der künstlerischen Produktion. 18 Pizzorni-Itié, Florence (Hg.): Tropiques métis. Mémoires et cultures de Guadeloupe, Guyane, Martinique, Réunion (Katalog der Ausstellung im Musée des Arts et Traditions Populaires, 6.11.1998-12.4.1999), Paris: Ed. de la Réunion des Musées Nationaux 1998; Roux, Emmanuel de: »Mémoires métisses au Musée des arts et des tradritions populaires«, in: Le Monde vom 22.12.1998. 19 Roux, Emmanuel de: »La discrète célébration du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage. Les projets ambitieux de commémoration de l’émancipation des esclaves risquent, faute de crédits et de volonté politique, de ne devenir qu’un saupoudrage de manifestations et de discours«, in: Le Monde vom 6.4.1998.
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offenkundig vorrangigen Termin nach Japan zu fliegen.20 Insgesamt drängte sich die Frage auf: »Ne manque-t-il pas une véritable ambition politique pour marquer cet anniversaire symbolique?«21 Für die linke Koalition war die Feier des Jahrestages dennoch mit einer bewussten Positionierung verbunden. Die Abschaffung der Sklaverei war eines von insgesamt vier Daten, welche die neue Regierung 1998 in den Mittelpunkt ihrer Geschichtspolitik rückte. Bei den anderen handelte es sich um den 400. Jahrestag des Ediktes von Nantes, das 100. Jubiläum der Publikation von Émile Zolas offenem Brief »J’accuse« und den 50. Geburtstag der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.22 Besonders letztere wurde inhaltlich oft mit der Emanzipation der Sklavinnen und Sklaven in Verbindung gebracht. Das amtierende Kabinett stellte sich hier in eine gewisse Traditionslinie der führenden Partei PS: »En France, il fallut attendre l’avènement des socialistes pour qu’un geste significatif soit fait en faveur de cette reconnaissance: dès son élection, le président François Mitterrand alla s’incliner sur les cendres du père de l’abolition [Victor Schœlcher] au Panthéon.«23 An rhetorischen Bekenntnissen zur geradezu historischen Relevanz nicht nur des Anlasses, sondern auch des Gedenkens selbst mangelte es daher trotz allem nicht. Die zentrale Zeremonie fand nicht in Paris statt, sondern in Champagney nahe Belfort. »Lionel Jospin s’est rendu, avec cinq ministres, Marie-George Buffet (jeunesse et sports), Jean-Pierre Chevènement (intérieur), Jean-Jack Queyranne (outre-mer), Pierre Moscovici (affaires européennes) et Catherine Trautmann (culture), dimanche 26 avril, à Champagney (trois mille trois cents habitants), pour célébrer, avec un jour d’avance, le 150e anniversaire du décret du 27 avril 1848 abolissant l’esclavage.«24 Der kleine Ort in der Franche-Comté zeichnet sich historisch dadurch aus, dass seine Einwohnerschaft in einem Beschwerdeheft aus dem Jahr 1789 vom König die Abschaffung der Sklaverei forderte, die erst 60 Jahre später bleibende Realität werden sollte. Es handelt sich hierbei um ein frühes und insgesamt eher atypisches Beispiel des politischen Abolitionismus in Frankreich, der nie eine mit der britischen Bewegung vergleichbare
20 Saux, Jean Louis: »27 avril 1848. Le sol de la France affranchit l’esclave«, in: Le Monde vom 6.4.1998. 21 Ebd. 22 Fulda, Anne: »Chirac – Jospin, le temps des bonnes résolutions«, in: Le Figaro vom 3.1.1998. Vgl. auch den vollständigen Text von Jospin, Lionel: Vœux de M. Lionel Jospin, Premier ministre au Président de la République, M. Jacques Chirac, sur la cohabitation, et sur les principes qui guident la République tout au long des manifestations prévues, Paris, 2.1.1998, http://discours.vie-publique.fr/notices/983000265.html. 23 Rapport no 1378 fait au nom de la commission des lois constitutionnelles, de la législation et de l’administration générale de la République sur les propositions des lois n° 1297, n° 792, n° 1050, n° 1302, par Christiane Taubira-Delannon, http://www.assemblee-nationale.fr/ 11/rapports/r1378.asp. 24 Mouisse, André: »A Champagney, Lionel Jospin appelle à la tolérance et à la vigilance. Le premier ministre participait à une cérémonie commémorant l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 28.4.1998.
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Mobilisierung der Bevölkerung hervorrief.25 Die im Zentrum der Erinnerung stehende Akteursmacht wurde hier also in einem Kontext verortet, in dem sie eigentlich schwach ausgeprägt gewesen war. Die chronologische Ausdehnung der Perspektive auf die Zeit der ersten Republik macht deutlich, dass Frankreich sich im Gedenken an das Dekret von 1848 mit einer längeren Geschichte auseinandersetzte. Im Mittelpunkt stand oft das historisch gewachsene Verhältnis zwischen der Republik und ihren Überseedepartements. So wurde etwa im Senat eine Gedenkmedaille angebracht, die Gaston Monnerville gewidmet ist, der knapp 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Emanzipationsdekrets geboren wurde. Victor Schœlcher stand oft im Vordergrund des Gedenkens. Zusätzlich zur Ausstellung »Le combat contre l’esclavage, une conquête permanente de la dignité« wurde im Senat eine Sonderdebatte explizit zu Ehren des Parlamentariers organisiert.26 Auch Jacques Chirac rückte in seiner Ansprache zum Auftakt des Gedenkens ganz eindeutig den »großen Mann« in den Mittelpunkt der Geschichte: »Comme souvent, à l’origine d’une décision légale, il y a la ténacité, l’énergie, le courage d’un homme, qui ose remettre en question l’ordre établi et qui engage le fer contre des intérêts puissants. Cet homme, c’est Victor Schœlcher qui fit de l’émancipation des esclaves le combat de toute une vie. L’anniversaire que nous célébrons aujourd’hui est d’abord un hommage à ce citoyen d’honneur de la République Française.«27
Bisweilen waren aber auch sehr progressive geschichtspolitische Töne zu vernehmen. Dies gilt in erster Linie für Vertreter/-innen der regierenden Koalition, die nach geschichtspolitischer Profilierung strebte. »Comme l’avait fait le chef du gouvernement Lionel Jospin [...] à Champagney [...] la ministre [de la justice] a souligné le rôle de Toussaint Louverture et Louis Delgrès, deux héros de la République qui ont joué un rôle essentiel pour combattre l’esclavage, le premier, à Haïti et le second à la Guadeloupe.«28 Das Profil von Toussaint-Louverture zierte zudem die Sonderbriefmarke der französischen Post nach einem Entwurf des aus Haiti stammenden Künstlers Hervé Télémaque.29 Motive der im überseeischen Frankreich gepflegten Erinnerung an den Widerstand gegen die Sklaverei fanden so erstmals ganz offiziell Eingang in den metropolitanen Erinnerungsraum: »It signified the (at least partial) dialogue between and merging of divergent and conflicting historiographical and commemorative traditions 25 Das Dorf war in dieser Hinsicht keine völlige Ausnahme, die in seinem Beschwerdeheft enthaltene Forderung zeichnet sich allerdings auch durch ihre auf Moral und Empathie begründete Formulierung aus. Zur insgesamt untergeordneten Rolle des Themas Sklaverei in den cahiers de doléances vgl. S. Drescher: Abolition, S. 152 f. 26 »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. 27 J. Chirac: Rede in Paris, 23.4.1998. 28 N.N.: »Pour Elisabeth Guigou, l’esclavage fut une offense à l’humanité. Les socialistes parisiens débaptisent symboliquement la rue Richepance«, in: Le Monde vom 29.4.1998. 29 Vgl. die offizielle Website des Kultusministeriums zum Jubiläum, Ministère de la culture et de la communication: Tous nés en 1848. 150ème Anniversaire de l’abolition de l’esclavage, 1848-1998, http://www.culture.gouv.fr/culture/actual/abolition/esclavage.htm.; Manicer, Jacques: »Le bicentenaire de Delacroix«, in: Le Figaro vom 20.4.1998; Jullien, Pierre: »L’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 2.5.1998.
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that developed in parallel in the past decades in metropolitan France and the French Antilles.«30 Ein wesentlicher Schritt war in diesem Zusammenhang die Anbringung von Gedenktafeln für François-Dominique Toussaint-Louverture und Louis Delgrès im Pariser Pantheon.31 Beide hatten Führungsrollen für den militärischen Widerstand gegen die napoleonische Politik in der Karibik gespielt und waren in der Folge zu Helden vor allem der regionalen historischen Erinnerung aufgestiegen. »Cette ›panthéonisation‹ des deux généraux noirs est le signe que le nom de Schœlcher ne peut plus résumer à lui seul le combat contre l’oppression.«32 Aufmerksamkeit verdient dabei auch das exakte Arrangement, denn der Weg zum Ehrengrab Victor Schœlchers führt nun an den beiden Gedenktafeln für die Gegner Napoleons vorbei. Laurent Dubois veranschlagt die Bedeutung der in der Ehrung angelegten geschichtspolitischen Botschaft daher hoch: »The process of bringing them into the Pantheon, then, reflected a broader process of reinterpreting history, of rethinking France’s colonialism and slavery.«33 Sowohl Toussaint als auch Delgrès fanden im Zusammenhang mit dem militärischen Vorgehen gegen die napoleonische Intervention auf sehr unterschiedliche Weise ihren Tod. Eines jedoch war anlässlich des 150. Jahrestags der Emanzipation bezeichnenderweise in beiden Fällen unmöglich: »Saluer de manière flamboyante style Malraux l’événement passé, en décidant, par exemple, le transfert solennel des cendres de Toussaint Louverture au Panthéon, aux côtés de Victor Schœlcher. Cendres à vrai dire difficiles à repérer dans la fosse commune où fut jetée la dépouille du général haïtien.«34 Der Verbleib der sterblichen Überreste von Delgrès ist ebenso wenig bekannt. Freilich sollte auch nach Auffassung des sozialistischen Premierministers das Gedenken nicht den historischen Konflikt hervorheben, sondern die Bürger/-innen im Geiste des Republikanismus einen. Und so erklärte die Regierung kurzerhand alle Französinnen und Franzosen zu »Kindern der Abolition«: Die offizielle Kampagne stand im Zeichen des Slogan »Tous nés en 1848«, der die Emanzipation zu einer Art 30 Dubois, Laurent: »Haunting Delgrès«, in: Daniel J. Walkowitz/Lisa Maya Knauer (Hg.), Contested Histories in Public Space. Memory, Race, and Nation, Durham: Duke University Press 2009, S. 311-328, hier S. 312 f. 31 Roux, Emmanuel de: »La discrète célébration du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage. Les projets ambitieux de commémoration de l'émancipation des esclaves risquent, faute de crédits et de volonté politique, de ne devenir qu'un saupoudrage de manifestations et de discours«, in: Le Monde vom 6.4.1998; N.N.: »Pour Elisabeth Guigou l’esclavage fut une offense à l’humanité. Les socialistes parisiens débaptisent symboliquement la rue Richepance«, in: Le Monde vom 29.4.1998. Die Inschriften der beiden Tafeln lauten: »Combattant de la liberté, artisan de l’abolition de l’esclavage, héros haïtien mort déporté au Fortde-Joux en 1803« (Toussaint) bzw. »Héros de la lutte contre le rétablissement de l’esclavage à la Guadeloupe, mort sans capituler avec trois cents combattants au Matouba en 1802, Pour que vive la liberté« (Delgrès), vgl. auch www.cpmhe.fr/spip.php?article630. 32 R. Hourcade: L’esclavage dans la mémoire nationale française, 7. 33 L. Dubois: Haunting Delgrès, S. 312. 34 Roux, Emmanuel de: »La discrète célébration du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage. Les projets ambitieux de commémoration de l’émancipation des esclaves risquent, faute de crédits et de volonté politique, de ne devenir qu’un saupoudrage de manifestations et de discours«, in: Le Monde vom 6.4.1998.
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gemeinsamem Gründungsmoment erklärte. Der konservative Staatspräsident Jacques Chirac sprach in diesem Zusammenhang von einem »acte fondateur« in der Geschichte Frankreichs und seiner Überseegebiete.35 So erschien ihre mit dem Triumph republikanischer Werte gleichgesetzte Abschaffung als großer Wendepunkt36, die Sklaverei selbst aber weitgehend als überwundene Vorgeschichte ohne eine über das Jahr 1848 hinausweisende Kontinuitätslinie. In einer Zeit, in der vermehrt Zweifel an der Leistungsfähigkeit des französischen Integrationsmodells geäußert wurden, sollte so vor allem dessen historische Legitimation geschichtspolitisch gestützt werden; diese Zielsetzung war dem Präsident und dem Premierminister gemeinsam. Denn, so Chirac, die französische Republik konnte und könne keine »catégorie de citoyens de seconde zone« akzeptieren: »En cela, la démarche retenue pour l’abolition est une démarche d’intégration. Elle contribue à renforcer l’unité de la nation. Elle n’est pas, comme dans d’autres Etats, le prélude au développement d’une société à deux vitesses, fragilisée par les tensions et les antagonismes.«37 Auch Jospin griff explizit auf das vermeintliche Vorbild der Vergangenheit zurück, um den Willen zur nationalen Einheit in Geschichte, Gegenwart und Gedenken zu betonen: »En recouvrant sa liberté, l’esclave affranchi n’a pas cherché à nier l’humanité de l’ancien maître. Il a refusé de se laisser porter par la vengeance ou le ressentiment. […] Aujourd’hui, pour vivre et construire ensemble, il faut, tout en rappelant la vérité, dépasser les débats affectés de bonne ou de mauvaise conscience entre descendants de victimes ou de coupables. Ils sont facteurs d’incompréhension, en métropole comme outre-mer.«38
Trotz – oder gerade wegen – der vehementen Aufrufe zur Einigung und Versöhnung war das Jubiläumsjahr 1998 vornehmlich vom Spaltungspotential der Geschichte geprägt. »[L]es commémorations officielles de l’abolition de l’esclavage n’ont cependant pas entièrement apaisé les consciences, car elles n’ont pas suffisamment célébré la mémoire des esclaves, se centrant sur le rôle de l’abolitionnisme français. Or, pour celles et ceux dont les ancêtres furent amenés enchaînés à fond de cale, la réalité de la traite et de l’esclavage ne peut être restituée par la seule célébration de leur abolition. Ils réclament que cette histoire soit reconnue.«39
Im Rückblick stellen sich die Konflikte sogar als das eigentlich maßgebliche Moment dar, denn sie katalysierten die Bündelung des geschichtspolitischen Aktionspotentials 35 Discours de M. Jacques Chirac, Président de la République, sur l’histoire de l’abolition de l’esclavage, le rôle de Victor Schœlcher et contre les formes modernes de l’asservissement, Paris, 23.4.1998, http://discours.vie-publique.fr/notices/987000146.html. 36 Vgl. z.B. ebd.: »Commémorer l’abolition de l’esclavage par la France, c’est parler de l’homme et c’est parler des valeurs de la République.«; vgl. auch L. Jospin: Vœux, 2.1.1998. Hier sprach Lionel Jospin von Gedenkveranstaltungen »permettront à nos concitoyens de se rassembler autour des principes de la République.« 37 J. Chirac: Discours, 23.4.1998. 38 Déclaration de M. Lionel Jospin, Premier ministre, sur l’abolition de l’esclavage et les droits de l’homme et l’apport des DOM TOM à la Nation, Champagney, 26.4.1998. 39 CPME: Rapport (2005), S. 8.
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von Französinnen und Franzosen aus den DOM, die ihre Handlungsmacht auf diesem Feld in den folgenden Jahren systematisch ausbauten. »The 1998 commemoration itself gave rise to significant mobilization on the part of the black community in the Antilles. The slogan ›Tous nés en 1848‹ galvanized opposition because it denied the lived experience of the slaves and truncated the memory of the Antillean people.«40 Der Versuch, mit dem Jubiläum Einigkeit über Partei- und Herkunftsgrenzen hinweg zu stiften, wie er sich in dem offiziellen Motto besonders deutlich ausdrückte, stieß auf verbreitete und nicht selten vehemente Ablehnung. »[L]e message passe mal: une ›gifle‹ répond un Martiniquais; une ›dépossession‹, s’énerve une Guadeloupéenne.«41 Die Wahl von Champagney als Veranstaltungsort unterstrich die insgesamt vorherrschende Reduktion der langen Geschichte der kolonialen Sklaverei auf die vermeintlich traditionsbildenden Momente ihrer Abschaffung. »[A]u fond, le reproche est partout le même: on ne célèbre pas comme une distribution des prix un souvenir aussi présent que violent et douloureux.«42 Auch divergierende Vorstellungen zur Verteilung historischer Handlungsmacht spielten eine Rolle, wie ein Zitat von Alfred MarieJeanne, einem der Köpfe der martinikanischen Unabhängigkeitsbewegung belegen kann: »[N]ous ne célébrons pas l’abolition de l’esclavage! Nous commémorons l’insurrection antiesclavagiste. C’est différent.«43 In extremen Fällen wurde zu einem völligen Boykott der ersten nationalen Gedenkfeiern für die Abschaffung der Sklaverei in ganz Frankreich aufgerufen. Der offene Aufbruch des Konflikts scheint die Regierung vergleichsweise unvorbereitet getroffen zu haben. Dabei wäre die Unzufriedenheit mit der eingeschlagenen geschichtspolitischen Linie durchaus vorhersehbar gewesen, wie unter anderem umfassende Reportagen in Le Monde über die Stimmung in den DOM belegen können. »La surprise, la vraie, c’est que ces voix marginales soient entendues et portées par une foule de gens qui descendent dans la rue pour désavouer le discours officiel.«44 Dies geschah am 23. Mai 1998, als zehntausende Menschen schweigend durch die Pariser Innenstadt marschierten. Die meisten von ihnen hatten eine dunkle Hautfarbe und eine persönliche Beziehung zu den überseeischen Landesteilen. Das Datum der Demonstration lehnte sich an die Geschichte Martiniques an, wo die Sklavenrevolte zur vorzeitigen Proklamation der Bürgerrechte am 22. Mai geführt hatte. Ihren Ursprung hatte die Initiative in einer Gruppe um den aus Guadeloupe stammenden Mediziner Serge Romana, seine Frau Viviane und den Rechtsanwalt Hubert Jabot. Für sie war die zentrale Frage im Zusammenhang mit dem 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien: »[Q]uand, comment et où allons-nous honorer la mémoire des nos 40 Gross, Ariela: »All Born to Freedom? Comparing the Law and Politics of Race and the Memory of Slavery in the U.S. and France Today«, in: Southern Californian Interdisciplinary Law Journal 21/3 (2012), S. 523-560, hier S. 550. 41 Bantman, Béatrice: »Abolition de l’esclavage. L’anniversaire ambigu. Les Antillais ressentent une certaine amertume devant les cérémonies qui se multiplient en métropole«, in: Libération vom 25.4.1998. 42 Ebd. 43 Zit. n. Cojean, Annick: »Le devoir de mémoire ravive le souvenir des humiliations subies. En Martinique, la commémoration de l’abolition est d’abord celle de la révolte des esclaves«, in: Le Monde vom 25.4.1998. 44 Faes, Géraldine/Smith, Stephen: Noir et français, Paris: Éditions du Panama 2006, S. 120.
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aïeux qui ont souffert l’esclavage?«45 Von der eigentlich in der Wahl des Datums angelegten Botschaft der Selbstbefreiung wich diese Schwerpunktsetzung in bemerkenswerter Weise ab. Aus den Überlegungen ging Anfang des Jahres 1998 der Comité pour une commémoration unitaire du cent-cinquantenaire de l’abolition de l’esclavage des nègres dans les colonies françaises hervor, an dem sich rund 300 überwiegend antillische Verbände beteiligten.46 Dieser Zusammenschluss lancierte den Aufruf zu dem Schweigemarsch am 23. Mai, dem nach verbreiteter Einschätzung 40.000 Menschen folgten47 – ein Erfolg, der selbst die Organisatorinnen und Organisatoren überraschte.48 »Nous sommes toutes et tous des filles et fils d’esclaves«49 war eine zentrale und erinnerungskulturell partikulare Botschaft, die der Protestmarsch dem nationalen Motto »Tous nés en 1848« entgegenstellte. »Cette manifestation [...] voulait rappeler que le slogan officiel faisait ›bon marché des quatre siècles de capture, de déportation, d’esclavage qui ont précédé l’abolition‹.«50 Seine Ansprache im Rahmen der Kundgebung bezog Serge Romana direkt auf die offiziellen Feierlichkeiten und beschrieb dabei sehr klar die bestehende Kluft in der Wahrnehmung und Deutung der Vergangenheit. »Nous nous réjouissons des convictions anti-esclavagistes des ouvriers de Paris, d’anti-esclavagistes convaincus comme Victor Schœlcher, mais nous pensons dorénavant à nos parents. La montagne de schœlcheristes est peut-être verte, mais notre sol est rouge du sang de nos parents.« 51 Romanas offizielle Äußerungen sind von Verwandtschaftsreferenzen durchzogen; dass es sich bei ihm um einen ausgebildeten Genetiker handelt, dürfte
45 Ebd., S. 160. 46 Gueye, Abdoulaye: »Breaking the Silence. The Emergence of a Black Collective Voice in France«, in: Du Bois Review 7/1 (2010), S. 81-102, hier S. 86. 47 Die Zahl von 40.000 Teilnehmenden hat sich auch in der Literatur etabliert (vgl. z.B. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 160), scheint jedoch zu hoch gegriffen. In den Pressemeldungen vom Mai 1998 waren Schätzungen von 20.000 (nach Angaben der Organisatorinnen und Organisatoren) bzw. 8.000 Demonstrierenden (nach Angaben der Polizei) zu lesen, vgl. N.N.: »Esclavage. Chirac soutient la marche des enfants. Des milliers d’Antillais ont défilé à Paris«, in: Libération vom 25.5.1998 und N.N.: »Les élus martiniquais réclament davantage d’autonomie pour les départements d’outre-mer. Plusieurs milliers de personnes ont commémoré à Paris l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 26.5.1998. Die Zahl 20.000 nennt auch Cottias, Myriam: »›Forgetting‹ Slavery, Resilience and the End of National Deafness in France«, in: Paul E. Lovejoy/Vanessa S. Oliveira (Hg.), Slavery, Memory, Citizenship, Trenton, NJ: Africa World Press 2016, S. 301-319, hier S. 306. Die Überschätzung der Größe der Demonstration weist auf die Bedeutung des Ereignisses für viele Menschen hin, die anscheinend eine gewisse Legendenbildung befördert hat. 48 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 163. 49 So war es auf einem Banner zu lesen, das Demonstrierende während des Marsches trugen, N.N.: »Les élus martiniquais réclament davantage d’autonomie pour les départements d’outre-mer. Plusieurs milliers de personnes ont commémoré à Paris l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 26.5.1998. 50 N.N.: »Esclavage. Chirac soutient la marche des enfants. Des milliers d’Antillais ont défilé à Paris«, in: Libération vom 25.5.1998. 51 Zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 163.
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mehr als ein Zufallszusammenhang sein. In gewisser Weise rehabilitierte die offensiv reklamierte Verwandtschaftsbeziehung auch die Versklavten als Personen. Die Protestwelle von 1998 und ihre Nachwirkungen prägten den weiteren Entwicklungsverlauf in Frankreich, der sich nicht zuletzt durch Versuche des Entgegenkommens und der Konfliktvermeidung seitens der Regierung auszeichnete. »Political mobilization around slavery memorialization contributed to the formation of new organizations […] organized around Black, slave-descended identity for the first time«.52 Sie verstärkten den bereits relativ dichten Organisationsgrad antillischer Französinnen und Franzosen in der Metropole.53 So wurde die Demonstration am 23. Mai selbst zum Gegenstand einer gewissen erinnernden Mythisierung. Die erfolgreiche Sammlung war eine prägende Erfahrung, »une césure nette dans l’esprit de tous les participants«.54 Das erinnerungskulturelle Gemeinschaftsgefühl, das im Rahmen des Marsches performativ begründet wurde, stützte sich auf eine von ethnischen Gegensätzen bestimmte Geschichte. Einen konkreten Ansatzpunkt fand die Bewegung dabei in der als ehrverletzend empfundenen Art und Weise, in der das Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei von den Autoritäten gehandhabt wurde: »L’instant de cette marche silencieuse, nous avons surmonté la honte de nos origines et avons été envahis de nouveaux sentiments: fierté d’être des filles et des fils d’esclaves; dignité d’avoir pu défendre leur mémoire«.55 Der gewaltsamen Unterwerfung, die diese Menschen über ihren Tod hinaus auch in das Schweigen der Geschichte gedrängt hat, wurde mit der Loyalitätsdemonstration ihrer Nachfahren ein symbolisches Zeichen entgegengesetzt. Die »descendants d’esclaves« wiederum erlebten sich in diesem Moment neu als handlungsmächtige Akteurinnen und Akteure, die aus einer langen Geschichte der Unterdrückung die Motivation und die Solidarität zur gemeinsamen Aktion bezogen. Einer der wichtigsten der geschichtspolitisch militanten Vereine neuen Typs ist der bis heute bestehende Comité du 23 Mai 1998 (CM98) unter der Leitung von Serge Romana, der direkt aus der Auflösung des ursprünglichen Organisationskomitees hervorging. »Les organisateurs de la Marche du 23 mai 1998, forts de leur succès, décident de poursuivre le travail de mémoire à peine engagé [...]. [I]ls décident de créer une association défendant la mémoire des victimes de l’esclavage en France hexagonale«.56 Auch andere Assoziationen bauten in den Jahren nach 1998 ihr geschichtspolitisches Engagement aus. Dies gilt nicht zuletzt für den im Jahr 2003 gegründeten Collectif DOM. Er war im Untersuchungszeitraum einer der aktivsten von zahlreichen
52 A. Gross: All Born to Freedom, S. 544. 53 Vgl. Célestine, Audrey: »Mobilisations et identité chez les Antillais en France. Le choix de la différentiation«, in: Revue Asylon(s) 8 (2010), www.reseau-terra.eu/article946.html. 54 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 160. 55 Internetkommunikation des Organisationskomitees zum Marsch vom 23. Mai 1998, zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 120 f. 56 Rolle-Romana, Viviane: Historique, www.cm98.fr/index.php?option=com_content&view= article&id=48&Itemid=57. Das ursprüngliche Organisationskomitee des Marsches vom 23. Mai 1998 war als ein temporäres, monothematisches Bündnis konzipiert, und die von bestehenden politischen Fronten unabhängige Aufstellung dürfte zum Erfolg des Zusammenschlusses beigetragen haben.
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Verbänden zur Interessenvertretung der Französinnen und Franzosen aus den Überseedepartements und versteht sich selbst als eine apolitische Lobby.57 Zeitweise entwickelte er sich zu einem öffentlich einflussreichen, wenn auch nicht unbedingt erfolgreichen Akteur auf dem geschichtspolitischen Feld. Nicht zuletzt aufgrund interner Führungsstreitigkeiten ist seine Bedeutung in diesem Bereich inzwischen allerdings wieder zurückgegangen. Patrick Karam, der aus Guadeloupe stammende Gründungsvorsitzende des Kollektivs, machte als Unterstützer von Nicolas Sarkozy politisch Karriere; nach seiner Tätigkeit als Délégué interministériel pour l’égalité des chances des Français d’outre-mer ist er seit 2015 Vizepräsident des Regionalrats Île-de-France. Darüber hinaus wurde er 2014 zum ersten Vorsitzenden des neu gegründeten Conseil Représentatif des Français de l’Outre-mer (CREFOM), an dessen Leitung mit Claude Ribbe ein weiteres früheres Führungsmitglied des Collectif DOM beteiligt ist. Dieses Amt hat Karam schließlich niedergelegt, weil er sich vor dem Hintergrund der 2017 anstehenden Präsidentschaftswahlen stärker parteipolitisch für die UMP bzw. den nach einer weiteren Kandidatur strebenden Nicolas Sarkozy engagieren wollte. Die Arbeit des noch immer unter dem Vorsitz von Serge Romana stehenden CM98 ist in erster Linie auf die Domiens selbst ausgerichtet, das erklärte Ziel lautet »développer le travail et le devoir de mémoire dans les communautés guadeloupéenne, guyanaise, martiniquaise et réunionnaise«.58 Zu diesem Zweck organisierte der Verein auch nach 1998 jährlich einen Demonstrationsmarsch am 23. Mai. Dieser konnte an den Ursprungserfolg allerdings nicht anknüpfen, im Vergleich müssen die Fortsetzungen tatsächlich eher als »Flop«59 bezeichnet werden. Dennoch zieht die Aktion jedes Jahr Aktivistinnen und Aktivisten an. Sie wurde zunächst als eine Form des »Gegengedenkens« parallel zu offiziellen oder größeren Zeremonien organisiert, die dazu beitrugen, dass die »descendants d’esclaves« sich und ihre erinnerungskulturellen Interessen geschichtspolitisch etablieren konnten. Im Jahr 2008 stellte sich die konservative Regierung mit einem Zirkular hinter den 23. Mai, der seitdem eine ambivalente Stellung als anerkannter, aber weitgehend unabhängig organisierter Gedenktag einnimmt, der explizit den Opfern des Sklavenhandels gewidmet ist.60 Die geschichtspolitischen Vereine haben hiermit ihren Einfluss unter Beweis gestellt. Diese Weiterentwicklung und die heutige Beurteilung des Marsches vom 23. Mai als »événement fondateur du combat mémoriel des Français descendants d’esclaves«61 stehen in einer auffälligen Diskrepanz zu den verhaltenen Reaktionen in den landesweit erscheinenden Zeitungen im Mai 1998 selbst.62 Zum einen darf vermutet werden, 57 58 59 60
Vgl. auch die Webseite des Verbands unter www.collectifdom.com. Ebd. Christiane Taubira zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 165. Circulaire du 29 avril 2008 relative aux commémorations de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions (NOR: PRMX0811026C), JORF (Lois et Décrets) 103/2008, S. 7323, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000018740271. 61 V. Rolle-Romana: Historique. 62 Vgl. N.N.: »Les élus martiniquais réclament davantage d’autonomie pour les départements d’outre-mer. Plusieurs milliers de personnes ont commémoré à Paris l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 26.5.1998; N.N.: »Marche silencieuse contre les commémorations«, in: Libération vom 23.5.1998; N.N.: »Esclavage. Chirac soutient la marche des enfants. Des milliers d’Antillais ont défilé à Paris«, in: Libération vom 25.5.1998.
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dass viele Journalistinnen und Journalisten das in dieser Form unvorhergesehene Ereignis nicht einzuordnen wussten und über die Entstehungshintergründe nicht gut informiert waren. Zum anderen lässt sich aber auch nicht ausschließen, dass sich ihre Reaktionen mittelfristig als durchaus angemessen hätten erweisen können, nämlich dann, wenn die Mobilisierung ein ephemeres Phänomen geblieben wäre. In der Tat wurde es nämlich im Hinblick auf die Geschichte der Sklaverei in den französischen Kolonien in der Folgezeit zumindest vordergründig wieder ruhig. Dass sich das geschichtspolitische Thema in Frankreich schließlich auf höchster politischer Ebene nachhaltig institutionalisieren konnte, ist auf das besondere Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen zurückzuführen, die erst im Laufe der folgenden Jahre zur vollen Entfaltung kamen. Wichtige persönliche Rollen spielten in diesem Zusammenhang die Politikerin Christiane Taubira aus Guayana, später Justizministerin für den PS im ersten Kabinett unter der Präsidentschaft von François Hollande, und die Politologin Françoise Vergès aus La Réunion. Beide unterstützen bereits den Marsch am 23. Mai 1998 und seine geschichtspolitische Stoßrichtung.
DAS GESETZ VOM 21. MAI 2001 (LOI TAUBIRA) Das französische Gesetz zur Anerkennung der kolonialen Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist heute unter dem Namen Loi Taubira bekannt. Als Parlamentsabgeordnete für das Departement Guayana brachte Christiane Taubira (seinerzeit Taubira-Delannon) den entscheidenden Gesetzesvorschlag in die Nationalversammlung ein und übernahm die Berichterstattung für den mit der weiteren Ausarbeitung betrauten Rechtsausschuss. Das Projekt wurzelt allerdings in einer weiter ausgreifenden Entwicklung, in die sowohl nationale als auch internationale Impulse einflossen. Auf nationaler Ebene erwies sich das im vorangehenden Kapitel beschriebene 150. Jubiläum der Emanzipation als entscheidender Katalysator in inhaltlicher wie auch organisatorischer Hinsicht. Im Zuge des Marsches am 23. Mai wurden nach Angaben des CM98 10.000 Unterschriften für eine Petition gesammelt, welche die Anerkennung des Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit forderte.63 »Les manifestants ont défilé en silence avec des banderoles portant des inscriptions telles que Esclavage: crime contre l’humanité«.64 Angesichts der anstehenden öffentlichen Ansprachen wurde im Vorfeld der Jubiläumsveranstaltungen außerdem eine gezielte Lobbyarbeit aufgenommen, um ein Bekenntnis von Spitzenpolitiker/-innen zu dieser Agenda zu erreichen.65 Die Amtsträger/-innen waren sich der Tragweite einer solchen Stellungnahme jedoch bewusst und 63 V. Rolle-Romana: Historique. 64 N.N.: »Les élus martiniquais réclament davantage d’autonomie pour les départements d’outre-mer. Plusieurs milliers de personnes ont commémoré à Paris l’abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 26.5.1998. 65 »Ainsi, l’indépendantiste Luc Reinette qui, au nom du Comité international des peuples noirs, a écrit au président de l’Assemblée nationale, Laurent Fabius, pour lui demander de faire adopter, puis porter devant l’ONU, une résolution qualifiant l’esclavage de crime contre l’humanité.«, Cojean, Annick: »En Guadeloupe, des voix demandent à la France de reconnaître son passé esclavagiste«, in: Le Monde vom 27.4.1998.
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reagierten mit entsprechender Vorsicht. »Tout au long de cette année de commémoration, le gouvernement n’a pas souhaité prendre lui-même l’initiative d’une telle reconnaissance.«66 Nach heutigen Maßstäben war das System der kolonialen Sklaverei eindeutig verbrecherisch und die Versklavung von Menschen wird mittlerweile weltweit strafrechtlich sanktioniert. Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit wurde erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Prozesse gegen führende deutsche Nationalsozialisten definiert und hat seitdem international kontinuierlich an Bedeutung für das allgemeine Rechtsverständnis gewonnen. Im Jahr 1994 fand er schließlich Eingang in das französische Strafgesetzbuch, den Code pénal. Auch Deportation und Versklavung gelten hier, ebenso wie im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein solches unterscheidet sich vor allem durch zwei miteinander verknüpfte Besonderheiten von anderen Straftatbeständen. Erstens unterliegt es keiner Verjährungsfrist. Damit ist und bleibt es zweitens nach gängiger Vorstellung unter allen Umständen ein Verbrechen, und zwar unabhängig von der vor Ort zur Tatzeit geltenden Gesetzeslage. »La notion de crime contre l’humanité implique qu’il existe une loi supérieure aux lois des États, une loi supranationale.«67 Eine entsprechende Qualifizierung ermöglicht daher theoretisch auch die Verurteilung weit zurückliegender Taten. Praktische Relevanz kann dieser Umstand erhalten, wenn die Nachfahren einer historischen Opfergruppe materielle Entschädigungen anstreben. Eine explizite Anerkennung des transatlantischen Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit barg daher die Gefahr, politisch unerwünschten Forderungen zumindest argumentativ Vorschub zu leisten. Angesichts der rechtsgeschichtlichen Entwicklung steht außerdem zumindest implizit stets die Shoah als Vergleichsmaßstab im Hintergrund einer entsprechenden Positionierung, die auch aus diesem Grund geschichtspolitisch heikel ist. Infolgedessen wurde die Sklaverei in offiziellen Stellungnahmen französischer Politiker/-innen zwar auf das Deutlichste verurteilt, Worte der Rechtsprechung dabei aber in der Regel vermieden. Die gewählten Formulierungen offenbaren dennoch den Versuch, bestehenden Erwartungen sprachlich entgegenzukommen. Während Lionel Jospin von einer »tragédie humaine« sprach68, war es in diesem Fall Jacques Chirac, der sich einen Schritt weiter vorwagte. Er bezeichnete die Sklaverei als »pratique contre l’humanité, inhumaine en ce qu’elle nie ce qui fait l’homme pour le constituer en objet«.69 Ähnlich gingen auch andere Mitglieder der Regierung vor. »Elisabeth Guigou, ministre de la justice, a déclaré [...] que l’esclavage fut une offense à l’humanité.«70 Solche Formulierungen erinnern an die Präambel des Emanzipationsdekrets, das von Victor Schœlcher lange vor der heute gültigen Definition des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ausgearbeitet wurde: »[L]’esclavage est un attentat contre la dignité
66 Saux, Jean-Louis: »Une proposition de loi qualifie l’esclavage de crime contre l’humanité«, in: Le Monde vom 19.2.1999. 67 CPME: Rapport (2005), S. 11. 68 L. Jospin: Déclaration, 26.4.1998. 69 J. Chirac: Discours, 23.4.1998. 70 N.N.: »Pour Elisabeth Guigou, l’esclavage fut une offense à l’humanité. Les socialistes parisiens débaptisent symboliquement la rue Richepance«, in: Le Monde vom 29.4.1998.
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humaine.«71 Eine in ihrer Eindeutigkeit bemerkenswerte Ausnahme stellte dagegen die Rede dar, die der Präsident der Nationalversammlung als Schirmherr zur Eröffnung der Ausstellung »Déchaîne ta citoyenneté« hielt. Laurent Fabius erklärte seinem Publikum: »C’est vraiment la personne humaine elle-même qui est visée, dans ce qui constitue l’esclavage. On lui supprime sa liberté, on lui supprime son identité, on lui nie toute existence comme homme ou comme femme. Donc, si ça n’est pas un crime contre l’humanité, le crime contre l’humanité n’a pas de contenu.«72 Am 22. Dezember 1998 schließlich, zwei Tage, nachdem das Gedenkjahr mit einem Besuch des Staatssekretärs für die Belange der Überseegebiete auf La Réunion offiziell ausgeklungen war, wurden der Nationalversammlung zwei Gesetzesvorschläge vorgelegt. Beide forderten die Anerkennung der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der eine wurde von Christiane Taubira und der parlamentarischen Gruppe des PS, der andere von drei kommunistischen Abgeordneten aus La Réunion eingereicht. Zwei weitere Vorschläge von den Kommunistinnen und Kommunisten in der Nationalversammlung betrafen die Einrichtung eines offiziellen Gedenktags an die Abschaffung der Sklaverei im metropolitanen Frankreich sowie die Errichtung eines Monuments und eines Museums zu dieser Geschichte. Die vier genannten Eingaben wurden vom Rechtsausschuss der Nationalversammlung gemeinsam diskutiert.73 Dass die Diskussionen sich schwierig gestalteten, sollte dabei nicht verwundern. Der geschichtspolitische Ansatz von Gruppen wie dem CM98 wandte sich in erster Linie an eine zahlenmäßig begrenzte Gruppe innerhalb der Nation, die einen neuen Umgang mit »ihrer« Geschichte suchten. Das Gesetzesprojekt stellte dagegen nicht nur durch die formale Ebene, auf der es angesiedelt war, eine direkte Herausforderung für die französische Nationalgeschichte als solche dar. Gleichzeitig schloss der Marsch durch die Institutionen eine allzu weitreichende Provokation von Mehrheitsmeinungen aus und war auf die Aushandlung eines politischen Kompromisses angewiesen. Da die Ausmaße des historischen Verbrechens im Parlament nicht in Frage gestellt wurden, betraf dies in erster Linie Form und For-
71 Décret relatif à l’abolition de l’esclavage dans les colonies et les possessions françaises du 27 avril 1848, in: Le Moniteur Universel. Journal officiel de la République française, 2. Mai 1848, hier zit. n. www.assemblee-nationale.fr/histoire/esclavage/decret1848.asp. 72 Laurent Fabius zit. n. Bantman, Béatrice: »Esclavage. Un ›crime contre l’humanité‹ pour Fabius«, in: Libération vom 27.4.1998. 73 Im Rahmen der Ausarbeitung des Textes befasste sich der Rechtsausschuss mit vier unterschiedlichen Eingaben: »1. (n° 1297) de Mme Christiane Taubira et plusieurs de ses collègues, tendant à la reconnaissance de la traite et de l’esclavage en tant que crimes contre l’humanité; 2. (n° 792) de M. Bernard Birsinger et plusieurs de ses collègues, relative à la célébration de l’abolition de l’esclavage en France métropolitaine; 3. (n° 1050) de M. Bernard Birsinger et plusieurs de ses collègues, tendant à perpétuer le souvenir du drame de l’esclavage; 4. (n° 1302) de Mme Huguette Bello, Mm. Élie Hoarau et Claude Hoarau, relative à la reconnaissance de la traite et de l’esclavage en tant que crime contre l’humanité.«, vgl. Rapport n° 1378 par Christiane Taubira-Delannon.
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mulierung des Textes. Tatsächlich nahm der Rechtsausschuss mehrere wichtige Veränderungen an der ursprünglich von Christiane Taubira eingebrachten Fassung vor. Sogar eine Expertenkommission war an der Ausarbeitung beteiligt.74 Der endgültige Text setzt sich aus fünf Artikeln zusammen. Essentiell ist dabei vor allem der erste Artikel, der den transatlantischen Sklavenhandel und die koloniale Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert. Diese Passage beherrschte die parlamentarische und öffentliche Debatte in einer Weise, die andere Inhalte des Gesetzes in den Hintergrund drängte. Diese zielen vor allem darauf ab, die Geschichte der Sklaverei nachhaltig in der französischen Gedenkkultur zu verankern: Artikel 2 fordert, dass in den Lehrplänen und in der Forschung dem Thema der ihm gebührende Platz eingeräumt werde und verlangt allgemein die staatliche Unterstützung der Erschließung von mündlichen wie schriftlichen Quellen und Archiven. Der dritte Artikel verpflichtet die Republik, sich international für die Anerkennung von Sklavenhandel und Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für die Erinnerung an diese Kapitel der Geschichte einzusetzen. Gemäß Artikel 4 soll im metropolitanen Frankreich von der Regierung ein Gedenktag an die Abschaffung der Sklaverei eingerichtet werden. Dieser Artikel sieht außerdem die Schaffung eines Expertenkomitees zu Fragen des öffentlichen Gedenkens vor. Der fünfte und letzte Artikel schließlich stellt eine Ergänzung des französischen Gesetzes zur Pressefreiheit von 1881 dar. Er erlaubt es Verbänden, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, »das Andenken an die Sklaven und die Ehre ihrer Nachkommen zu verteidigen«, ausdrücklich, als Zivilpartei eine Klage gegen eine Verletzung dieses Interesses anzustreben. Die Debatte zur ersten Lesung stieß im Februar 1999 auf insgesamt wenig Interesse bei den Abgeordneten.75 »Si ce texte a été adopté à l’unanimité des 81 députés présents dans l’Hémicycle, l’opposition n’était guère représentée dans ce débat: seuls 3 RPR et 1 UDF étaient en séance lors du vote, auquel le groupe Démocratie libérale n’a pas voulu participer.«76 Ausdrücklich kritisiert wurde der Vorschlag in diesem Rahmen nur vereinzelt. Wie auch die parteipolitische Verteilung der Anwesenheit zeigt, spielte die Zugehörigkeit zu einem politischen Lager in diesem Zusammenhang eine große Rolle, im Einzelfall aber nicht unbedingt die entscheidende. Über den gesamten Gesetzgebungsprozess hinweg waren es in erster Linie Politikerinnen und Politiker aus den DOM, die sich in beiden Kammern des Parlaments nachdrücklich für eine Verabschiedung des Textes aussprachen. Der Senat, in dessen Debatte sich besonders der Staatssekretär für die Belange der Überseegebiete engagiert für den Vorschlag einsetzte, stimmte im nächsten Schritt für die Annahme des zentralen ersten Artikels in unveränderter Form. Die Senatorinnen und Senatoren schlossen sich damit dem Hauptanliegen an, dem das Gesetz auch seine offizielle Bezeichnung verdankt. Andere, in den folgenden Artikeln formulierte Bestimmungen lehnte die Mehrheit der Senatsmitglieder vor allem aus formalen Gründen ab.77 Erst in der zweiten Lesung passierte das
74 Vergès, Françoise: La Mémoire enchaînée. Questions sur l’esclavage, Paris: Albin Michel 2006, S. 110. Zur Entstehungsgeschichte der Loi Taubira vgl. v.a. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 166 ff. und F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 107 ff. 75 Vgl. Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1637 ff., Ergebnis der Abstimmung S. 1666. 76 Huet, Sophie: »L’esclavage au ban de l’humanité«, in: Le Figaro vom 19.2.1999. 77 Vgl. Sénat, 23.3.2000.
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Gesetz als Ganzes den Senat, nachdem die Nationalversammlung die Einwände abgelehnt hatte.78 Die endgültige Annahme der Loi Taubira im Parlament erfolgte einstimmig. Rein juristisch betrachtet, enthielt das Gesetz keine wesentliche Innovation. Neu war vor allem die rückwirkende Ausdehnung des aktuell gültigen Rechtsrahmens auf historisch vergleichsweise weit zurückliegende Zusammenhänge. Dies wurde zumeist als ein symbolisch und moralisch relevanter Schritt aufgefasst. So erklärte es auch die damalige französische Justizministerin Elisabeth Guigou in ihrem Plädoyer für eine Annahme: »La proposition de loi [...] ne comporte pas d’innovation juridique mais elle apporte une dimension symbolique forte à la condamnation de l’esclavage. C’est pourquoi le Gouvernement y apporte son adhésion.«79 Die Wahrnehmung der Loi Taubira als überwiegend deklarativ erleichterte auch einigen Mitgliedern der Opposition die Zustimmung. »A l’exception de Robert Pandraud (RPR, Seine-Saint-Denis), hostile, comme une large fraction du mouvement gaulliste, aux actes de repentance de la République, les membres de la commission de lois de l’Assemblée nationale ont compris le sens de la démarche. Très réservé sur certains aspects juridiques de la proposition de loi, Claude Goasguen, député de Paris et porte-parole de DL, a souligné que le texte avait valeur de manifeste mais qu’il était prêt à s’y associer.«80
Angesichts der rechtlich und moralisch als unzweideutig betrachteten Verhältnisse kamen bei einigen Abgeordneten Zweifel daran auf, ob für die Auseinandersetzung mit der Frage der richtige Weg gewählt worden sei. So kommentierte der Abgeordnete Gilbert Gantier von der Gruppe Démocratie Liberale (DL): »[L]a réduction en esclavage est un crime contre l’humanité d’une telle évidence qu’il est absolument superfétatoire de mobiliser le Parlement pour le proclamer en 1999.«81 Gantier wies nicht nur auf die wiederholt kritisierte Redundanz des Gesetzes hin, sondern auch darauf, dass die Vereinten Nationen sich bereits mit dem Thema beschäftigten und ein nationales Vorgehen daher unnötig sei.82 Der Text, so Gantier weiter, enthalte zudem Bestimmungen, die gemäß der französischen Verfassung nicht in die Domäne der parlamentarischen Gesetzgebung fallen sollten.83 »Mais surtout, le groupe Démocratie Libérale craint l’instauration d’une certaine histoire officielle, qui, loin d’approfondir l’étude de cette période, la figera au niveau des connaissances actuelles.« 84 Die generelle Furcht vor einer (partei-)politischen Instrumentalisierung der Geschichte wurde hier-
78 Assemblée nationale, 6.4.2000, S. 3183 ff. 79 Elisabeth Guigou, Justizministerin, Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1639. 80 Saux, Jean-Louis: »Une proposition de loi qualifie l’esclavage de crime contre l’humanité«, in: Le Monde vom 19.2.1999. 81 Gilbert Gantier, DL-Abgeordneter für das 16. Arrondissement von, Paris Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1642. 82 So die Meinung von Gantier, ebd. 83 Vgl. Assemblée nationale 18.2.1999 und 6.4.2000. 84 Gilbert Gantier, DL-Abgeordneter für das 16. Arrondissement von Paris, Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1641.
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bei von den Nachwirkungen eines von Lionel Jospin im Januar 1998 ausgelösten Eklats verstärkt.85 Dies lässt sich an Gantiers weiteren Ausführungen ablesen: »J’ai craint que ne ressurgissent certains sectarismes et certaines assimilations trop faciles. Il n’y a pas si longtemps, dans cet hémicycle même, le Premier ministre de l’actuel gouvernement n’a pas hésité à injurier la droite en la traitant d’›esclavagiste‹ et d’›antisémite‹.«86 Inhaltlichen Anstoß nahmen einige Abgeordnete sowie Journalistinnen und Journalisten darüber hinaus vor allem am Wortlaut des ersten Artikels, der explizit nur den transatlantischen Sklavenhandel und die Sklaverei in den französischen Kolonien verurteilte. Dies wurde als eine implizite Absolution für andere Formen der Versklavung und nicht zuletzt für afrikanische und arabische Sklavenhändler gewertet.87 Dabei ist die exakte Formulierung wohlüberlegt. In der endgültigen Fassung lautet der Text des Artikels: »La République française reconnaît que la traite négrière transatlantique ainsi que la traite dans l’océan Indien d’une part, et l’esclavage d’autre part, perpétrés à partir du XVe siècle, aux Amériques et aux Caraïbes, dans l’océan Indien et en Europe contre les populations africaines, amérindiennes, malgaches et indiennes constituent un crime contre l’humanité.«
Sklavenhandel und Sklaverei sind hier also vor allem über geographische und zeitliche Attribute definiert. Verurteilt wird ein historisches Phänomen, dessen Opfer in erster Linie Afrikanerinnen und Afrikaner waren, die im ursprünglichen Vorschlag von Christiane Taubira daher noch als alleinige Opfergruppe genannt waren. Dass der verabschiedete Text ausdrücklich auch andere Betroffene miteinschließt, ist vor allem der kommunistischen Fraktion zu verdanken. Auch wenn der nationale Bezug als solcher nicht in Worte gefasst wird, geht es letztlich um die Geschichte Frankreichs und seiner Überseedepartements, deren Demographie sich in der Formulierung widerspiegelt. Die detaillierte Benennung der Opfergruppen steht in einem auffälligen Gegensatz zur sprachlichen Abwesenheit der Täter. Die Loi Taubira verurteilt im Prinzip nur das Verbrechen, nicht aber die verbrecherisch Handelnden. Der Sklavenhandel über den Seeweg wurde in erster Linie von Europäern betrieben, und die europäische Kolonialmacht, die in größerem Umfang afrikanische Sklavinnen und Sklaven in Gebiete des Indischen Ozeans transportieren ließ, war Frankreich. Eine nationale historische Verantwortung lässt sich daher ohne größere Schwierigkeiten aus der Formulierung ableiten. Allerdings ging es für die Befürworter/-innen der Loi Taubira nicht primär um die nachträgliche Verurteilung bereits verstorbener Täter oder darum, auf der Basis des Gesetzes Strafverfolgungen zu ermöglichen. »[L]a valeur juridique d’une telle déclaration serait sans doute entachée de l’impossibilité de revêtir les formes traditionnelles d’un procès, faute d’auteurs, de victimes ou de témoins directs«.88 Hauptsächlich ging es um eine andere Form von Gerechtigkeit: um die symbolische Anerkennung der Op-
85 Siehe hierzu das Kapitel Erinnerung in der postkolonialen Nation. 86 Gilbert Gantier, DL-Abgeordneter für das 16. Arrondissement von Paris, Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1641. 87 Vgl. Assemblée nationale, 18.2.1999, S. 1647. 88 Pierre-Fanfan, Max: »Esclavage et pardon«, in: Le Monde vom 4.6.1998.
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fer eines historischen Verbrechens durch die französische Republik, »une institutionnalisation de la juste mémoire«.89 In diesem Sinne erklärt sich auch der Konsens, mit dem der Text diskutiert und verabschiedet wurde: »Bien sûr, au nom du ›devoir de mémoire‹ transformé en règle depuis quelques années, il fallait se souvenir, rendre hommage et commémorer. Tout le monde s’accordait sur la condamnation morale […]. Il y eut peu de voix dissidentes. Elles se manifestèrent essentiellement autour de la question des réparations matérielles.«90 In den Augen von Christiane Taubira war die Verabschiedung des Gesetzes somit zwar ein entscheidender Fortschritt. Die endgültige Form des Textes war für sie aber auch eine gewisse Enttäuschung. Gestrichen wurde ein zusätzlicher Artikel zur Erweiterung des französischen Pressegesetzes. Dieser hätte, analog zum Verbot der Holocaust-Leugnung, eine Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel 1 explizit unter Strafe gestellt. Vor allem aber hatte die ursprünglich vorgelegte Textfassung die Einsetzung eines Komitees vorgesehen, das sich mit der Frage der verursachten Schädigung und entsprechenden Reparationen hätte befassen sollen. Diese Idee stieß auf erheblichen Widerstand bei Abgeordneten in allen Lagern des parlamentarischen Spektrums. Selbst die Mehrzahl der Delegierten aus den Überseedepartements verweigerten Taubira in Bezug auf diesen sensiblen Punkt ihre Unterstützung. Dies war der Hauptgrund, der die Initiatorin schließlich dazu bewog, die Forderung fallen zu lassen. 91 Jede Erwähnung eventueller Entschädigungen wurde aus dem Gesetzesvorschlag gestrichen, ebenso wie die ursprünglich vorgesehenen Qualifizierungen von Opfern als »Deportierte« und Tätern als »europäische Mächte«.92 In der Diskussion hatte Taubira immer wieder betont, dass mit Reparationen keine individuellen Entschädigungszahlungen gemeint seien. Denn Reparationen für Sklaverei und Sklavenhandel hätte der französische Staat nach ihren Vorstellungen in Form von Entwicklungsfördermaßnahmen zugunsten der DOM leisten sollen.93 Sie konnte aber auch mit diesem Konzept ihre Kolleginnen und Kollegen nicht von der mehrheitlich ablehnenden Haltung abbringen. »To track the evolution of the Taubira law through these government chambers is thus to witness a process of de-radicalisation.«94
89 N.N.: »L’esclavage des Noirs n’a jamais été juridiquement qualifié«, in: Libération vom 29.9.1997. 90 F. Vergès: Abolir l’esclavage, S. 18. 91 G. Faes/S. Smith: Noir et Français, S. 167. 92 Vgl. ebd. S. 166 ff.; F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 115 f. Die Bezeichnung der Sklavinnen und Sklaven als Deportierte wäre nicht zuletzt deshalb problematisch gewesen, weil es in Frankreich einen Gedenktag zu Ehren der Opfer der Deportationen aus Frankreich während des Zweiten Weltkrieges gibt. 93 G. Faes/S. Smith, Noir et Français, S. 167. Andere Entschädigungskonzepte brachten die kommunistischen Abgeordneten um Bernard Birsinger in die Debatte der Nationalversammlung ein. Sie sahen eine entsprechende Verpflichtung Frankreichs nicht zuletzt gegenüber afrikanischen Ländern. Vgl. Assemblée Nationale, 18.2.1999, S. 1658 f., 1661. 94 Frith, Nicola: »Crime and Penitence in Slavery Commemoration. From Political Controversy to the Politics of Performance«, in: Fiona Barclay (Hg.), France’s Colonial Legacies. Memory, Identity and Narrative, Cardiff: University of Wales Press 2013, S. 227-248, hier S. 233.
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Beschritten wurde lediglich »le parcours de la reconnaissance.«95 Die Loi Taubira bleibt damit weitgehend auf den Geist einer Haltung beschränkt, die Ina Césaire in einem Zeitungsartikel als die des »Moralisten« bezeichnet hat.96 Die Relevanz für die weitere erinnerungskulturelle Entwicklung kann dennoch kaum überschätzt werden. Als in Verbindung mit dem starken moralischen Appell einflussreich erwies sich auf lange Sicht insbesondere der vierte Artikel mit seinem geschichtspolitisch sehr konkreten Potential. Die entscheidenden Maßnahmen, die in Frankreich auf nationalem Niveau umgesetzt wurden, lassen sich mehr oder weniger direkt auf ihn zurückführen. Dies gilt für die Einsetzung des seit 2004 auf höchster politischer Ebene Einfluss nehmenden Expertenkomitees ebenso wie für die Einführung eines nationalen Gedenktags am 10. Mai – dem Tag, an dem die Loi Taubira das Parlament passierte. Die Wahl des Datums belegt die herausragende Bedeutung, die dem Text als einer Art Gründungsdokument für einen gerechteren Neuanfang in der Erinnerung zumindest nachträglich zugewiesen wurde. Auf den Impuls des Gesetzgebers gehen schließlich auch die bislang nicht realisierten Pläne für ein der Sklaverei gewidmetes Nationalmuseum in Frankreich zurück. Vor dem Hintergrund der längerfristigen Auswirkungen der Loi Taubira kann leicht übersehen werden, dass die Situation in Frankreich im Jahr 2001 noch eine andere war als fünf Jahre später. Bezeichnend war eher das weitgehende Desinteresse von Politik und Öffentlichkeit. Die Verabschiedung des Gesetzes blieb zunächst ohne greifbare Konsequenzen, dies gilt auch für die Einsetzung einer ersten geschichtspolitischen Expertengruppe. Von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich dem Andenken der Versklavten verpflichtet fühlten, wurde das Gesetz entsprechend als zu unverbindlich kritisiert.97 Zwar wurde die Annahme der Loi Taubira in den Überseegebieten teilweise wie ein politischer Triumph gefeiert98, die Medien im metropolitanen Frankreich widmeten ihr allerdings keine besondere Aufmerksamkeit. Die Initiative, die neben der Anerkennung der Opfer vor allem das pädagogische Ziel verfolgte, gerade im Hexagon eine intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sklavenhandels zu fördern, wurde von der französischen Öffentlichkeit insgesamt offenbar vor allem als eine Angelegenheit der DOM betrachtet – die sich erinnerungskulturell entsprechend diskriminiert fühlten. »[L]a très grande majorité [des] concitoyens du monde issu de l’esclavage sont convaincus que, malgré la loi du 21 mai 2001, l’histoire de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions continue d’être largement ignorée, négligée, marginalisée.«99 Vor diesem Hintergrund ist das internationale Echo bemerkenswert, dass die Entscheidung der französischen Nationalversammlung hervorrief. Die Resonanz rührte vor allem daher, dass die Anerkennung der Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit an sich kein nationales Projekt war. Im Jahr 2010 wurde im Senegal 95 Cottias, Myriam: La question noire. Histoire d’une construction coloniale, Paris: Bayard 2007, S. 84. 96 Césaire, Ina: »A chacun sa commémoration«, in: Libération vom 25.4.1998. 97 So z.B. von dem Philosophieprofessor Louis Sala-Molins, der auch am UNESCO-Projekt Slave Route beteiligt ist, Sala-Molins, Louis: »Esclavage. Une mémoire à peu de frais«, in: Le Monde vom 23.2.1999. Vgl. auch G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 168. 98 F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 110. 99 CPME: Rapport (2005), S. 7.
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ein entsprechendes Gesetz beschlossen, dass sich in Teilen direkt am französischen Vorbild orientiert.100 Nur wenige Wochen nach der Verabschiedung der Loi Taubira fand in Durban die UN-Konferenz zu Rassismus und Xenophobie statt. Die französische Beteiligung stach in diesem Zusammenhang nicht sonderlich hervor; zumindest lässt die britische und französische Berichterstattung in keiner Weise darauf schließen. Die Loi Taubira brachte den vor Ort für die geschichtspolitische Anerkennung der Kolonialsklaverei aktiven Gruppen allerdings ein gewichtiges Argument, und das Gesetz wurde von den Delegierten zahlreicher afrikanischer Teilnehmerstaaten entsprechend begrüßt.101 In der Abschlusserklärung der in höchst konfrontativer Atmosphäre verlaufenen Konferenz werden der transatlantisches Sklavenhandel und die Sklaverei unmissverständlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert. Die Vertretungen der USA, Großbritanniens und der Niederlande konnten sich dennoch nicht zu einer direkten Bestätigung durchringen.102 Somit blieb Frankreich seine Sonderstellung als erstes und einziges europäisches Land, das den transatlantischen Sklavenhandel explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hat, in vollem Umfang erhalten. Zugleich zeigte die Konferenz in Durban aber auch die Grenzen der französischen Position auf: »[S]i la France a reconnu avoir commis un crime, il n’est pas pour autant question qu’elle accepte qu’y soient associées des réparations.«103 Diejenigen, die in dieser Hinsicht andere Ziele vertraten, nutzten das Gesetz trotzdem als Ausgangsbasis für Versuche, entsprechende Zugeständnisse zu erzwingen. Anfang des Jahres 2013 kündigte Rosita Destival, französische Bürgerin aus Guadeloupe und Anhängerin der »Brigade Anti-Négrophobie«, in einer Pressekonferenz ein juristisches Vorgehen gegen den Staat an. Verhandelt werden soll die Entschädigung für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß der Loi Taubira. Unterstützung erhielt Destival dabei vor allem vom CRAN, dessen Vorsitzender Louis-Georges Tin zeitgleich ein Buch zum Thema veröffentlichte, und dem Mouvement International pour les Réparations (MIR). Dessen Vizepräsidentin kontrastierte das Vorhaben auf bezeichnende Weise mit geläufigeren geschichtspolitischen Ambitionen: »D’après Rosa Amelia Plumelle-Uribe, la démarche de Rosita est capitale. Il s’agit pour la première fois d’une initiative ›engagée par une descendante de l’Etat français, victime directe, qui ne se bornera pas à demander l’ouverture d’un musée ou une peine symbolique‹«.104 100 Senegal, Loi 2010-10 déclarant l’esclavage et la traite négrière, crimes contre l’Humanité, 5.5.2010, Journal officiel du République Sénégal 6560, 11.12.2010. Interessant ist dabei auch der zweite Artikel, der einen jährlichen Gedenktag am 27. April einführte. Denn das mit Victor Schœlcher und dem Emanzipationsdekret verbundene Datum konnte sich im französischen Konflikt um historische Handlungs- und Deutungsmacht nicht durchsetzen. 101 Vgl. die Berichterstattung der französischen Zeitungen Anfang September 2001, z.B. Pompey, Fabienne: »A Durban, les pays africains réclament des excuses et des réparations économiques pour l’esclavage«, in: Le Monde vom 8.9.2001. 102 Vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 168 f. 103 Pompey, Fabienne: »A Durban, les pays africains réclament des excuses et des réparations économiques pour l’esclavage«, in: Le Monde vom 8.9.2001. 104 Zit. n. Arnaud, Didier: »Descendante d’esclave, Rosita veut réparation. Une Française d’origine guadeloupéenne va assigner l’Etat pour ›crime contre l’humanité‹«, in: Libération vom 8.1.2013.
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Dass der Vorstoß bislang erfolglos blieb, kann vor dem Hintergrund der offiziellen Haltung zur Reparationsfrage kaum überraschen. Sie basiert auf zwei zentralen Argumenten: dem Vorrang der Zukunftsgestaltung vor der Vergangenheitsaufarbeitung und dem mit Geldwert nicht zu bemessenden Ausmaß des historischen Verbrechens. Entsprechend äußerte sich zuletzt auch François Hollande anlässlich des nationalen Gedenktags am 10. Mai 2013 und erneut bei der Eröffnung des Mémorial ACTe in Guadeloupe 2015: »La seule dette qui doit être réglée, c’est de faire avancer l’humanité [...], a déclaré le président de la République devant une trentaine de dirigeants africains et caribéens, empruntant à Aimé Césaire la formule sur ›la nature irréparable du crime‹.«105 Auf dieselbe Autorität berief sich auch sein Premierminister. Die Aneignung der Aura des 2008 verstorbenen Schriftstellers, der durchaus komplexe Positionen zu Themen wie Integration und Reparation bezogen hatte, bezeichnet Nicola Frith als einen Akt des »political hijacking«, der zuvor bereits von Präsident Sarkozy begangen worden war.106 Tatsächlich kann der Versuch, den Staat vor Gericht zu bringen, als Folge der Frustration von Bestrebungen betrachtet werden, Entschädigungszahlen auf anderem Wege zu erwirken. Im Oktober 2012 hatte der CRAN einen Aufruf zur Aufnahme einer politischen und gesellschaftlichen Debatte über finanzielle Reparationen für die koloniale Sklaverei initiiert. Unterschrieben wurde der in Le Monde veröffentlichte Appell unter anderem von den Europaabgeordneten Jean-Jacob Bicep, Daniel Cohn-Bendit und Eva Joly, dem Verantwortlichen für das UNESCO-Projekt Slave Route Doudou Diène, dem ehemaligen Kulturminister Jack Lang und Françoise Vergès. Eine zentrale Passage bezog sich auch in diesem Fall auf das Gesetz, mit dem Frankreich die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hatte: »[L]a loi Taubira [...] comportait au départ un article libellé de la sorte: ›Il est instauré un comité de personnalités qualifiées chargées de déterminer le préjudice subi et d’examiner les conditions de réparation due au titre de ce crime. [...].‹ Mais cet article a été écarté en commission, et c’est un texte de loi amputé qui a été voté le 10 mai 2001. Aujourd’hui, il est temps de relancer le débat sur les réparations«.107 Im Rampenlicht der Öffentlichkeit zeigte sich der damalige Premierminister zunächst betont offen für Gespräche. »Jean-Marc Ayrault nous avait promis une réunion interministérielle avant le 7 novembre pour discuter des réparations liées à l’esclavage. Depuis, plus de nouvelles«, beklagte sich der Vorsitzende des CRAN allerdings bald darauf.108 Eine diskrete Unterredung von Tin mit Ayrault soll zwar stattgefunden haben, offensichtlich hat dieser Prozess die Befürworter/-innen von Reparationszahlungen aber nicht wesentlich weiter gebracht. »Si le gouvernement n’a pas souhaité répondre sur le terrain politique, peut-être se verra-t-il
105 AFP: »Esclavage. Hollande reconnaît une dette morale mais pas financière«, in: Libération vom 10.5.2015. 106 Vgl. N. Frith: Crime and Penitence, S. 237 f. 107 Tin, Louis-Georges u.a.: »Appel pour un débat national sur les réparations liées à l’esclavage«, in: Le Monde vom 12.10.2012. 108 Zit. n. Duportail, Judith: »Une descendante d’esclaves porte plainte contre l’État«, in: Le Figaro vom 8.1.2013.
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obligé de le faire sur le plan judiciaire.«109 Auch diese Antwort steht bislang aus, es erscheint jedoch absehbar, wie sie lauten wird.
DAS JAHR 2005: ERINNERUNGSKULTURELLE UNRUHEN Hintergrund: Die postkoloniale Nation im »Krieg der Erinnerungen« Die Beteiligung der allgemeinen französischen Öffentlichkeit an der Auseinandersetzung mit der Geschichte der kolonialen Sklaverei blieb noch für längere Zeit verhältnismäßig gering. Dies änderte sich erst im Jahr 2005, das nicht nur in dieser Hinsicht einen spürbaren Einschnitt darstellte. Entscheidend für die Wende in der französischen Geschichtspolitik war also nicht die Loi Taubira allein, der im Rückblick zumeist eine Hauptrolle zugewiesen wird. Den Ausschlag gab die soziale, politische und mediale Gemengelage des besagten Jahres, in dem sich mehrere kontrovers geführte Debatten chronologisch und inhaltlich überschnitten. Die massiven urbanen Unruhen, die Frankreich im Herbst des Jahres erschütterten, schürten die Ängste unterschiedlicher erinnerungskultureller Parteien umso stärker, als sie sich im Rahmen ohnehin bestehender Befürchtungen deuten ließen. »Suddenly the whole nation was forced to admit that the memory of colonialism and slavery did not only concern people in the former colonies but also involved the French state, which had emerged in the context of colonization and slavery.« 110 Die Verbindung lag umso näher, als im Laufe des Jahres die geschichtspolitischen Konflikte in Frankreich einen Höhepunkt im Zeichen der Kolonialgeschichte erreichten. Der Stein des Anstoßes war in diesem Fall ein Gesetz, offiziell Loi portant reconnaissance de la Nation et contribution nationale en faveur des Français rapatriés111, das vom 23. Februar datiert. Es war in erster Linie der materiellen Regelung von Spätfolgen des Algerienkriegs gewidmet, enthielt zugleich aber einen Absatz, mit dem die vermeintlich »positive Rolle« des französischen Kolonialismus in Übersee geschichtspolitisch festgeschrieben werden sollte. Die Formulierung löste eine beispiellose Gegenmobilisierung aus, die nicht zuletzt von Geschichtslehrer/-innen und Historiker/-innen getragen wurde. Aus diesen Kontroversen entwickelte sich ein größerer Streit um mehrere geschichtsbezogene Gesetze, in dem auch die ursprünglich einstimmig befürwortete Loi Taubira zwischen die Fronten geriet. Dieser Gesetzestext und alle mit ihm mehr oder weniger direkt verbundenen Initiativen standen in der Folgezeit stets im Schatten der großen Kontroversen des Jahres 2005. Ähnlich wie in Großbritannien das Jahr 2007, ließ dieses Jahr in Frankreich prägende Grundlinien der Erinnerungsentwicklung pro-
109 Zit. n. Arnaud, Didier: »Descendante d’esclave, Rosita veut réparation. Une Française d’origine guadeloupéenne va assigner l’Etat pour ›crime contre l’humanité‹«, in: Libération vom 8.1.2013. 110 M. Cottias: ›Forgetting‹ Slavery, S. 305. 111 Loi n° 2005-158 du 23 février 2005 portant reconnaissance de la Nation et contribution nationale en faveur des Français rapatriés (NOR: DEFX0300218L), JORF 46/2005, S. 3128, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT00000044 4898.
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filiert hervortreten. Die Akkumulation von Ereignissen hob auch die Frage des Umgangs mit der Geschichte der Sklaverei aus ihrer erinnerungskulturellen Nische hervor und setzte sie in einen größeren und dabei hochpolitischen Zusammenhang. Dieser schien die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart des Landes in sehr umfassender Weise auf den Prüfstand zu stellen. Die vielfältigen Wechselwirkungen, die sich im Verlauf der zwölf Monate ergaben, waren damit auch das Ergebnis einer mehr oder weniger zufälligen Chronologie, die – auf der Basis einer längeren Vorgeschichte – schließlich eine beachtliche Eigendynamik entfaltete. »It is, in fact, rare to see such an array of tensions at work. Specialists were stunned by the social as well as political forces suddenly unleashed.«112 Die Situation setzte die Regierung unter einen massiven geschichtspolitischen Handlungsdruck, der sich in dieser Form im Vereinigten Königreich nicht aufbaute. Bei den Vorstadtunruhen handelte es sich um die größte Protestwelle seit dem Mai 1968, sie manifestierte sich allerdings in politisch sehr viel weniger organisierten Formen, was viele Beobachter/-innen besonders beunruhigte. »Bilan: plus de 10.000 véhicules brûlés, 300 bâtiments détruits ou dégradés, 6000 interpellations et 1300 personnes écrouées.«113 Zur landesweiten Ausbreitung der »émeutes« trug der Einschlag einer Tränengasbombe der Polizeieinsatzkräfte im Eingangsbereich einer Moschee der Gemeinde Clichy-sous-Bois bei. Auch eine Stellungnahme von Nicolas Sarkozy beförderte das Umschlagen eines offenkundig verbreiteten Grolls in offene Wut: Der Innenminister bezeichnete einen Teil der »jeunes de cité« als »racaille« (Gesindel) und »voyous« (Schurken), von denen es bestimmte Viertel mit dem Hochdruck des inzwischen sprichwörtlichen Kärchers zu säubern gelte.114 Am 8. November dekretierte der Ministerrat unter Führung von Chirac und Villepin für zahlreiche urbanisierte Teile des Landes und die gesamte Region Île-de-France den Notstand, der öffentlich zumeist als »couvre-freu« bezeichnet wurde. Die juristische Basis lieferte ein Gesetz, das aus der Zeit des Algerienkriegs stammte und danach nur noch im Zuge der Unruhen in Neukaledonien Mitte der 1980er Jahre zur Anwendung gekommen war. Sowohl in Frankreich wie auch im Ausland wurden die schweren Unruhen häufig als Beleg des Scheiterns genau jener »intégration à la française« betrachtet, die im Rahmen des Emanzipationsjubiläums 1998 noch so viel gelobt worden war. Im Licht der nächtlichen Brände verschmolzen gesellschaftspolitische und historische Dimensionen der Problemlage in einer zutiefst polarisierten öffentlichen Diskussion. Unter den demonstrierenden und/oder randalierenden Jugendlichen befanden sich viele Söhne aus in jüngerer Zeit aus ehemaligen französischen Kolonien in Afrika eingewanderten Familien, die sich in relativ großer Zahl in den stigmatisierten und stigmatisierenden Wohnvierteln niedergelassen hatten. »Une partie de la presse se laisse [...] aller aux généralisations raciales. Un article du Point, intitulé ›Les Blacks en première ligne‹ estime que ›la communauté noire se replie dans un communautarisme inquiétant‹.«115 Jenseits der viel diskutierten und sehr unterschiedlich beantworteten 112 M. Cottias: ›Forgetting‹ Slavery, S. 304. 113 N.N.: »En 2005, trois semaines d’émeutes urbaines«, in: Le Figaro.fr vom 27.10.2015. 114 Vgl. z.B. Gurrey, Béatrice: »Jacques Chirac affirme qu’il a pris ›toutes les mesures nécessaires‹ sur la crise des banlieues«, in: Le Monde vom 11.11.2005. 115 Durpaire, François: France blanche, colère noire, Paris: Odile Jacob 2006, S. 234. Der zitierte Artikel erschien am 10.11.2005 in Le Point.
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Frage nach der Rolle ethnisch-kultureller Elemente in aktuellen Gesellschaftskonflikten, setzte diese Art der Darstellung Kinder aus afrikanischen Einwandererfamilien mit jungen Franzosen gleich, die lediglich aufgrund ihres Aussehens mit diesen assoziiert oder gar verwechselt wurden. Auch die französischen Polizei- und Sicherheitskräfte, die unter anderem für ihre regelmäßigen Personalkontrollen »à faciès« kritisiert wurden, machten hier häufig keinen Unterschied.116 Dennoch sollen sich Jugendliche aus afrokaribischen Familien kaum an den Straßenschlachten beteiligt haben. »Parmi la petite minorité passée à l’acte, on trouve par ordre décroissant, les Maghrébins, les Africains (Maliens...) ensuite loin derrière les Français ethniques [sic]. Les Antillais ont été peu actifs dans les violences«, erklärte jedenfalls Patrick Karam, dem als späterem Staatssekretär für die Förderung der Chancengleichheit von Französinnen und Franzosen aus den DOM eine relativ gut informierte Position zugetraut werden darf.117 Zehn Jahre vor der wiederholten Erschütterung des Landes durch große angelegte Terrorangriffe mit islamistischem Hintergrund, eröffnete die Ereigniskette zunächst vor allem ein Zeitfenster für die öffentliche Sichtbarmachung einer nun als »question noire« bezeichneten Gesellschaftsproblematik. Symbolisch markiert wurde dieser Moment gegen Ende des Jahres 2005 durch die Formierung des Conseil Représentatif des Associations Noires de France (CRAN). Dem potentiell gemeinsamen Kampf um eine verstärkte politische und mediale Repräsentation von ethnischen Minderheiten in Frankreich stand dabei die Überrepräsentation bestimmter Medienbilder des »afrikanischen Anderen« gegenüber, die Abgrenzungsbedürfnisse aufseiten der Domiens verstärkte. Die Suche nach der erinnerungskulturellen Nähe zur Mehrheitsbevölkerung, über deren republikanische Rituale eine spezifische, auf nationale Inklusion abzielende Sichtbarkeit verstärkt wurde, konnte in diesem Zusammenhang zu einem Mittel der Distanzierung vom vermeintlichen communautarisme der »Anderen« werden. »Ce processus implique non seulement de se différencier des autres populations minoritaires susceptibles d’être victimes de discriminations mais également de présenter le groupe des ›Ultramarins‹ comme un groupe modèle porteur d’une diversité ›meilleure‹ que les autres et partant victimes ›injustes‹ de discriminations.«118 Die Herausbildung der neuen Tendenz zur selbstgewählten Zusammenfassung aller als »schwarz« gelesenen Menschen im Land ohne Rücksicht auf Nationalität, Kultur oder Herkunft wurde also nicht unbedingt begrüßt. »L’émergence d’une étiquette ›Noirs‹ réduit fortement [les] possibilités d’usage alterné du référent ethnique et est perçue comme pouvant menacer l’accès aux ressources destinées aux seuls ›Ultramarins‹ ou ›Antillais‹.«119 In mehreren öffentlichen Äußerungen, unter anderem von Alain Finkielkraut, aber auch Nicolas Sarkozy und dem Vorsitzenden der UMP-Fraktion Bernard Accoyer, erhielt der Konflikt zwischen Staat und Vorstadt ein ethnisch-kulturelles Profil. Afrikanische Formen der Polygamie, die zu einem konfliktreichen und räumlich beengten Zusammenleben in Großfamilien führen würden, wurden als Grund für das zu großen 116 Vgl. z.B. Ndiaye, Pap: La condition noire. Essai sur une minorité française, Paris: Calmann-Lévy 2008, S. 211. 117 Vgl. F. Durpaire: France blanche, colère noire, S. 231. Der Vorsitzende des Collectif DOM hob in Übereinstimmung mit anderen Beobachterinnen und Beobachtern vor allem die Relevanz von stadträumlichen Solidaritäten und Rivalitäten hervor. 118 A. Célestine: Mobilisations et identité. 119 Ebd.
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Teilen auf der Straße stattfindende Sozialleben der Jugendlichen genannt.120 Die Relativierung von Erklärungsmustern, die Armut, Erwerbslosigkeit, soziale Ausgrenzung und rassistische Vorurteile in den Vordergrund rückten und damit an die Verantwortung der Gesamtgesellschaft und ihrer Eliten appellierten, ging oft mit der Verurteilung einer »culture d’excuse« einher. In einem umfassenderen Sinne verhandelt wurden also gesellschaftliche Täter- und Opferrollen. Am weitesten gingen dabei bezeichnenderweise Äußerungen, die gegenüber ausländischen Medienorganen gemacht wurden. Hélène Carrère d’Encausse, Historikerin und erster weiblicher Ständiger Sekretär der Académie Française, bediente sich gegenüber einem russischen Fernsehsender eines sozial überheblichen und stereotypen Bildes der in jüngerer Zeit nach Frankreich Eingewanderten. »Ces gens, ils viennent directement de leurs villages africains. Or la ville de Paris et les autres villes d’Europe, ce ne sont pas des villages africains.«121 Im Gespräch mit der israelischen Zeitung Haaretz fühlte sich Alain Finkielkraut offenbar ebenfalls berufen, einen Klartext zu sprechen, für den er in der nationalen Debatte keinen Platz sah. »On voudrait réduire les émeutes des banlieues à leur dimension sociale, y voir une révolte de jeunes contre la discrimination et le chômage. Le problème est que la plupart sont noirs ou arabes, avec une identité musulmane. [...] Il est clair que nous avons affaire à une révolte à caractère ethnico-religieux.«122 Der Philosoph bemühte in diesem Zusammenhang die auch aus Reden von Nicolas Sarkozy bekannte Figur des Frankreich bzw. die Republik ablehnenden Fremden. Bemerkenswert an den auf das israelische Publikum zugeschnittenen Ausführungen ist die Tatsache, dass Finkielkraut den von ihm diagnostizierten Hass der »Schwarzen« (»Noirs«) für noch ausgeprägter hielt als den der »Araber«. In den französischen Verhältnissen sah er außerdem den Spiegel eines globalen Kampfes der Kulturen mit buchstäblich historischem Ausmaß. »Voir dans les émeutes ›une réponse au racisme français, c’est être aveugle à une haine plus large: celle de l’Occident‹ qui anime, selon lui, les jeunes banlieusards.« 123 Eine historische oder erinnerungskulturelle Begründung der Ressentiments wollte er allerdings nicht gelten lassen. »Eux et ceux qui les justifient disent que cela provient de la fracture coloniale.« Dabei habe Frankreich »den Afrikanern« nur Gutes getan, »le projet colonial entendait éduquer et amener la culture aux sauvages.«124 Die provozierenden Inhalte von Carrères und Finkielkrauts Stellungnahmen fanden rasch ihren Weg nach Frankreich, wo sie vorhersehbar hohe Wellen schlugen. Das zeitliche Zusammentreffen der Vorstadtrevolte mit einer bereits aufgeheizten erinnerungskulturellen Diskussion prinzipiell unabhängigen Ursprungs beförderte den 120 Millot, Lorraine: »›Beaucoup de ces Africains sont polygames...‹«, in: Libération vom 15.10.2015. Vgl. auch F. Durpaire: France blanche, colère noire, S. 226 ff. 121 Zit. n. Millot, Lorraine: »›Beaucoup de ces Africains sont polygames...‹«, in: Libération vom 15.10.2015. 122 Zit. n. Cypel, Sylvain: »La voix ›très déviante‹ d’Alain Finkielkraut au quotidien ›Haaretz‹«, in: Le Monde vom 23.11.2005; vgl. auch Allouce, Jean-Luc: »Banlieues. Finkielkraut s’explique... et insiste«, in: Libération vom 26.11.2005. 123 Zit. n. Cypel, Sylvain: »La voix ›très déviante‹ d’Alain Finkielkraut au quotidien ›Haaretz‹«, in: Le Monde vom 23.11.2005. 124 Zit. n. ebd.
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Aufstieg der These von der »fracture coloniale«. Diese führte die aufgebrochene Spannung auf einen fundamentalen Bruch zurück, der eine langfristige Folge des nur scheinbar überwundenen Gegensatzes von kolonial Herrschenden und kolonial Unterworfenen sei. Die Verdichtung der komplexen Diskussion in der einfachen Formel entfaltete dabei auch deshalb eine beachtliche Überzeugungskraft, weil sie an eine erkennbare Territorialisierung des Konfliktes anhand des abgegrenzten Lebens- und Diskursraumes der banlieue anknüpfen konnte. In provokant-polemischer Form wurde die Perspektive von der Assoziation »Les Indigènes de la République« vertreten, die im Januar 2005 mit einem Aufruf zum Widerstand gegen Rassismus, Diskriminierung und Imperialismus ins Licht der Öffentlichkeit trat.125 Die Reaktionen auf die in dem Appell formulierten Botschaften waren verbreitet und teils massiv ablehnend, auch deshalb, weil sich in dem Text die Bestätigung einer weiteren Befürchtung zu manifestieren schien: der Einschluss eines Teils der Bevölkerung in einer antagonistischen, ethnisch konnotierten und politisch schwer zugänglichen Opfer-Identität mit religiösen Anteilen. »L’Appel […] est de ce point de vue emblématique. Il énumère une série de faits attestants légitimement la condition de victimes des anciens colonisés ou de leurs descendants en France, sans qu’aucun moment il n’exprime des exigences précises de changements susceptibles d’y mettre fin. […] [L]a ›victimité‹ se drape en ›vertu‹«.126 Intellektuelle Ausarbeitung fand der Gedanke der »fracture coloniale« in einem Sammelband unter der Leitung von Nicolas Bancel und Pascal Blanchard, der im selben Jahr erschien und folgerichtig seinerseits auf große Aufmerksamkeit stieß.127 Die Frage, inwiefern sich die Geschichte auf der einen, die erinnerungskulturellen Debatten auf der anderen Seite tatsächlich auf die Eskalation in den banlieues ausgewirkt haben, wurde intensiv und kontrovers diskutiert.128 Je weniger die Gründe für die »émeutes« in politischen Begriffen fass- und formulierbar schienen, desto mehr Raum blieb für die Betrachtung der Ereignisse durch die Prismen des communautarisme und der kolonialen Spaltung. Durch die Formen der Ethnisierung und Territorialisierung des Konflikts sowie die umstrittenen Sicherheitsmaßnahmen des Innenministeriums gewann das (post-)koloniale Deutungsmuster Glaubwürdigkeit, die durch die sozialwissenschaftliche Investition in den Ansatz eigene Autoritätsargumente erhielt. Die Intellektuellen wiederum stärkten mit Argumentationen, die sich nicht im zunehmend sterilen Konflikt zwischen »Klasse« und »Rasse« verfingen, ihre Position als weitblickende Gesellschaftskritiker/-innen. Die These, dass die jungen Menschen, die Symbole und Vertreter/-innen der öffentlichen Ordnung angriffen, sich hauptsächlich in 125 Indigènes de la République: L’Appel des Indigènes, Januar 2005, http://indigenes-repu blique.fr/le-p-i-r/appel-des-indigenes-de-la-republique. Vgl. À propos des indigènes de la République, Mouvements 41/4 (2005), S. 112-126, mit Beiträgen von Annick Madec und Numa Murard, Smaïn Laacher, François Gèze; Robine, Jérémy: »Les ›indigènes de la République‹. Nation et question postcoloniale. Territories des enfants de l’immirgration et rivalité de pouvoir«, in: Hérodote 120/1 (2006), S. 118-148. 126 Benbassa, Esther: »À qui sert la guerre de mémoires«, in: Pascal Blanchard/Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 252-261, hier S. 259. 127 Blanchard, Pascal/Bancel, Nicolas/Lemaire, Sandrine (Hg.): La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris: La Découverte 2005. 128 Zusammenfassend D. Hüser: Plurales Frankreich in der unteilbaren Republik.
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der Tradition rebellierender Sklaven oder kolonialer Untertanen sahen, scheint letztlich aber nicht haltbar. »[J]amais aucun historien n’a prétendu que tout aujourd’hui, et en particulier les émeutes de banlieue, les mouvements contestataires luttant contre les discriminations raciales, ou les positions politiques, ne s’expliquent que par le passé colonial.«129 Festhalten lässt sich jedoch zweierlei: Zum einen zeichnete sich hier eine partielle, aber merkliche und auf unterschiedlichen Seiten des politischen Meinungsspektrums zu beobachtende Verschiebung der Deutungsmuster ab, die zur Erklärung der die französische Gesellschaft durchziehenden Spannungen herangezogen wurden – zehn Jahre zuvor hatte Jacques Chirac einen Großteil seines Präsidentschaftswahlkampfes noch um das Paradigma der »fracture sociale« angeordnet. Zum anderen wirkte sich die gewaltsame Entladung der bestehenden Spannung massiv verstärkend auf die Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte aus. Der nationalspezifische Charakter der weitläufigen und bisweilen unversöhnlich anmutenden Geschichtskontroversen wird in der Regel hoch veranschlagt. So schreibt etwa Jean-Yves Camus: »The controversy over the commemoration of slavery has its roots in both France’s attempt to come to terms with its history as a colonial power and in its identity crisis, its evolution into a multicultural and ›multireligious‹ country. Had France been built on an Anglo-Saxon model of immigration, where ethnic groups are recognized as such and are not seen as an obstacle to sharing a common culture and national identity, the rediscovery of a dark and long-hidden past would perhaps not be a problem.«130
Ohne Akzentuierung kann die These dem internationalen Vergleich zwar nicht standhalten. Das Verhältnis der republikanischen Staatsdoktrin zum Nationsverständnis auf der einen, zum Umgang mit rassistischer Diskriminierung auf der anderen Seite führte in Frankreich allerdings dazu, dass die Geschichtsdebatten den merklichen Beigeschmack einer Grundsatzdiskussion annahmen oder gar offen als solche ausgetragen wurden. Vor diesem Hintergrund trat die Auseinandersetzung um die ethnisch markierte Geschichte des Sklavenhandels in eine ausgesprochen ausgeprägte Resonanz mit der größeren Debatte um das Selbstverständnis der postkolonialen Nation als solcher. Im Zentrum stand die mit der nationalen Idee untrennbar verwobene »Republik« im Spannungsfeld zwischen Diversität, (Anti-)Diskriminierung, Rassismus und communautarisme. Bei der französischen Republik handelt es sich in erster Linie um eine politische und juristische Konstruktion revolutionärer Prägung; Prinzipien wie Abstammung oder überzeitliche Tradition spielen vordergründig keine Rolle für die Selbstdefinition der Nation, die sich in das kulturell unscheinbare Gewand der Staatlichkeit hüllt.131 Die auf diese Weise transportierte Vorstellung von »Frenchness« nimmt die Form der mit bestimmten gesellschaftlichen Garantien und Pflichten verbundenen »citoyenneté« im »Land der Menschen- und Bürgerrechte« an. Mit der Republik ist auch ihre Bevölkerung »indivisible«; eine kategorische Unterscheidung kann allenfalls anhand der 129 C. Coquery-Vidrovitch: Esclavage, colonisation, racisme, »postcolonialité«. 130 J.-Y. Camus: Commemoration of Slavery, S. 650. 131 Diese Ausrichtung wird zwar vom parallel existierenden Diskurs der »exception culturelle« relativiert, dieser spielte aber in den Geschichtsdebatten keine eigenständige Rolle.
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Grenze zwischen Staatsbürgern und Immigranten vorgenommen werden. Letztere, so eine weitere zentrale Annahme, würden als Individuen früher oder später als Gleiche in der Gesamtbevölkerung aufgehen – kraft der Neutralität, der Offenheit und der ausgleichenden Wirkung der republikanischen Institutionen. »[I]l suffit de les laisser faire. Contester cette logique provoque immédiatement la suspicion d’être hostile au principe de l’égalité, communautariste, partisan des particularismes.«132 Die Unterdurchschnittlichkeit der Lebenssituationen, die den aus der postkolonialen Nordmigration hervorgegangenen Bevölkerungsteil überdurchschnittlich betrifft, zeigt jedoch deutlich, wo das mechanistische Prinzip aktuell an Grenzen stößt. Dass die soziale Strukturkrise hier eine starke ethnische Komponente aufweist, machten nicht erst die Fernsehbilder vom Herbst 2005 deutlich. »[Q]uand on évoque en bloc ›les jeunes des banlieues‹, on ne pense pas aux jeunes en tant que tel, mais aux enfants d’immigrés d’origine noireafricaine et maghrébine. Il s’agit d’une référence implicite à l’origine ethnique de ces citoyens.«133 Nicht zuletzt die ideologisch erzeugte »Farbenblindheit« der republikanischen Institutionen, deren Einfluss sich auch auf die Regulation der öffentlichen Sprache erstreckt, hielt spezielle Hindernisse für die postkoloniale Aushandlung des kollektiven Selbstbilds bereit. Dies berührt die Substanz des hier interessierenden Themenfeldes. Das stark institutionell ausgerichtete Leitbild des individuell weitgehend eigenschaftslosen »citoyen« verstellt den Blick auf bestimmte soziale Realitäten, und dies nicht zuletzt aufgrund seines Mangels an Historizität. »Le Noir ne peut renoncer à son identité propre, faite de racisme, de déportation et de colonisation. Or, le système de relations sociales et politiques né de 1789 sur lequel vit toujours ce pays a tout fait pour bannir la question d’identité, qu’elle soit ancestrale, réelle ou fantasmatique. La République entre en contact avec l’identité noire sur fond d’une incompréhension de principe.«134
Der bemerkenswerte Aufstieg des transatlantischen Sklavenhandels als Thema der französischen Geschichtspolitik basiert daher nicht nur auf dem Druck der lange Zeit marginalisierten erinnerungskulturellen Tradition der Überseedepartements. Die Auseinandersetzung mit der Sklaverei erfüllte eine wichtige Funktion für den gesamtgesellschaftlichen Reflexionsprozess: Die Geschichte des Kolonialrassismus lieferte zentrale Elemente für eine inzwischen verbreitete, wenn auch nicht unumstrittene Erklärung »comment on est arrivé là«. Im Sinne des »devoir de mémoire« bot sich die kollektive Ausarbeitung von Formen der historischen Erinnerung zudem als Teil der Problemlösung an. Dies war im Vereinigten Königreich nicht grundsätzlich anders. Unter französischen Umständen erhielten beide Aspekte aber ein besonderes Gewicht; der Bedarf an Erklärungen und Lösungsansätzen, die sich nicht in der Wiederholung 132 Begag, Azouz: L’Intégration, Paris: Le Cavalier bleu 2003, S. 18. 133 Ebd., S. 22. Außerdem müsste man hinzufügen, dass die »Jugendlichen«, von denen in diesen Kontexten die Rede ist, zudem geschlechtlich konnotiert sind – es handelt sich um ein Stereotyp junger Männer, Mädchen und junge Frauen nehmen in dem Diskurs eine ganz andere Position ein. 134 Barro, Abdoulaye: »Ce que cache le débat sur la mémoire noire en France«, in: Controverses. Revue d’idées 2 (2006), Dossier: La politique des mémoires en France, S. 89-102, hier S. 89 f.
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republikanischer Glaubenssätze erschöpften, diese aber auch nicht allzu offen verwarfen, war hier hoch. Dennoch markierten Erinnerung und Geschichtspolitik nicht den einzigen Bereich, an dem sich Forderungen nach Staatsintervention zur Entspannung einer Lage bündelten, in der die Wut der Vorstädte nur die Spitze eines vom Meer der republikanischen Rhetorik weitgehend verdeckten Eisberges darstellte. Argumente für Formen der »discrimination positive« und eine Einführung von »statistiques ethniques« gewannen, um im sprachlichen Bild zu verbleiben, temporär ebenfalls Oberwasser. Diese Lösungsansätze wurden unter anderem von der Führungsriege des CRAN befürwortet, und sie verfügten über einen breiten Rückhalt innerhalb des französischen Bevölkerungsteils, den der Dachverband vertreten möchte. Insgesamt blieben sie freilich hoch umstritten, wie sich unter anderem in einschlägigen Umfragen widerspiegelte. »[T]he ›average French person‹ indicated that the best way to oppose racial prejudice is to educate the public in order to sensitize them to these issues.«135 Die Übernahme von in den USA und Großbritannien gängigen Praktiken wäre in Frankreich gleichbedeutend mit dem Bruch eines »nationalen Tabus«. Die Erinnerungsarbeit konnte im Vergleich hierzu als eine inzwischen geradezu nationaltypische Herangehensweise erscheinen. Für die an ihr beteiligten Politiker/-innen bot sie zudem vielfältige und vor allem günstige Möglichkeiten, sich selbst und eine Art Neubegründung des republikanischen Paktes feierlich vor den Augen der Öffentlichkeit in Szene zu setzen. Sowohl die Vorstadtrevolte als auch die Rückbindung derselben an die Geschichte des Kolonialismus und die Rolle ihrer öffentlichen Erinnerung trugen dazu bei, den Diskussionsgegenstand der rassistischen Diskriminierung in einem französisch-republikanischen Sinne zu nationalisieren. Da »französische Identität« und »republikanischer Universalismus« in der öffentlichen Diskussion in der Regel als nahezu deckungsgleich gehandelt werden, blieb für eine hiervon abweichende »schwarze Identität« wenig Raum, der sich durch die naheliegende Historisierung der Frage allerdings entscheidend ausweiten ließ. Die teilweise Verlagerung auf das Feld der Geschichte brachte also eine zusätzliche Flexibilität in die Auseinandersetzung ein. Diese war von besonderem Wert in einer oft ideologisch geprägten Diskussion, in der sich der Austausch der Argumente bereits seit geraumer Zeit ohne erkennbaren Durchbruch im Kreis gedreht hatte. »Reconnaître l’existence de populations noires ou arabes, c’était s’exposer au soupçon de vouloir américaniser la France en faisant le jeu du multiculturalisme.« 136 Die »descendants d’esclaves« haben im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende eine Position im Inneren der republikanischen Nation etabliert, die durch ihre relative Distanz zu Fragen der »Rasse«, Religion oder Einwanderung Vorteile für die Erzeugung einer spezifischen Sichtbarkeit bietet. Die Positionierung als »descendants d’esclaves« enthält zum einen eine Abgrenzung von der sozial, kulturell und historisch distinkten Gruppe der afrikanischen Einwanderer/-innen und ihrem in vielen Fällen marginalen 135 Constant, Fred: »›Black France‹ and the National Identity Debate. How Best to Be Black in France?«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. 123-144, hier S. 131. 136 So der Soziologe Éric Fassin im Interview mit Van Eeckhout, Laetitia: »Pourquoi et comment notre vision du monde se ›racialise‹«, in: Le Monde vom 17.4.2007.
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Status innerhalb der französischen Gesellschaft. Sie ermöglichte zum anderen die Konstitution und den öffentlichen Ausdruck einer Identität, die zwar eindeutig »schwarz« war, durch die Historisierung der Abstammungsbeziehung zugleich aber den in Frankreich tabuisierten direkten Bezug auf ethnische Konzepte vermied. Trotz aller Konflikte um ihre Interpretation diente die Geschichte somit auch als Basis für den Versuch eines Dialogs, der unter in vielerlei Hinsicht schwierigen Voraussetzungen stand. Im Verhältnis zu anderen Aspekten der Problematik, historischen ebenso wie gegenwärtigen, ist der »devoir de mémoire« in Frankreich als moralisches Grundprinzip weithin anerkannt. Für die Befriedung und den Zusammenhalt der postkolonialen Nation wurde dem Umgang mit der Vergangenheit daher besondere Bedeutung zugeschrieben. Dies hat sich nicht zuletzt der CRAN zunutze gemacht, der die bislang primär von antillischen Verbänden und Perspektiven geprägte Erinnerung an die Sklaverei bald zu einem seiner zentralen Anliegen machte. »Les véritables enjeux, c’est comment trouver davantage de cohésion sociale en réintégrant dans le récit national et dans la communauté nationale des gens qui en sont aujourd’hui exclus de manière permanente parce qu’ils ont la peau noire«, erklärte Stéphane Pocrain im Rahmen der feierlichen Gründungsveranstaltung des »schwarzen« Dachverbands, dem aus gegebenem Anlass sehr an einer zusätzlichen Untermauerung seiner republikanischen Glaubwürdigkeit gelegen sein musste. Insgesamt war die historische Erinnerung mehr als nur ein Nebenschauplatz, ein Ausdrucksmittel oder eine Art »Trojanisches Pferd«, das einer ihrem Wesen nach anders gelagerten Problematik Eingang in die medialen und politischen Agenden verschaffen sollte – obwohl sie dies auch sein konnte. In dem Maße, wie die »mémoire« als integrales Aufbauelement von Republik und Nation betrachtet wurde, war sie notwendigerweise ein integraler Bestandteil der Debatte um Rassismus und Exklusion in Frankreich. Die Weiterentwicklung des Kampfes gegen rassistische Diskriminierung und das Hervortreten eines auf die Metropole, auf die gesamte Nation als solche abzielenden geschichtspolitischen Aktivismus bildeten mithin einen Zusammenhang, in dem das eine ohne das andere kaum denkbar erschien. »La question mémorielle est devenue un des volets importants de l’expression identitaire de la minorité noire.«137 Neben der Möglichkeit, an eine in Relevanz und Form fest etablierte Debattenkultur anzuknüpfen, war das hiermit verbundene Sammlungsmoment entscheidend; die Erinnerung wurde nicht nur mobilisiert, sie wirkte unter den gegebenen Umständen auch stark mobilisierend. »This mobilization and these discussions derive in part, especially among West Indians or in relation to them, from a strong engagement with the memory of the slavery of ›Negroes‹ and from the controversies that have given rise to the idea of a ›duty to remember‹ this servitude.«138 Sozialwissenschaftliche Analysen schreiben der Erinnerung an die Sklaverei einen zentralen Stellenwert zu, die anderen Fragen, die auf der Basis eines erneuerten kollektiven Selbstverständnisses in Angriff genommen wurden, auch zeitlich vorgeordnet ist. »On peut dater de 1998 le réveil 137 P. Ndiaye: Condition noire, S. 398. 138 Giraud, Michel: »The ›Question of Blackness‹ and the Memory of Slavery. Invisibility and Forgetting a Voluntary Fire and some Pyromaniac Firefighters«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. 171-286, hier S. 174.
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d’une ›question noire‹ à l’occasion du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage«, lautet etwa der Vorschlag von Richard Senghor für eine politische Chronologie.139 Für Fred Constant ist der 23. Mai 1998 das erste »key date in the political awakening of Black France.«140 Ähnlich sieht es Yoann Lopez: »Investie sous l’angle de la question coloniale et de la question de l’esclavage, la ›question noire‹ a revêtu par la suite un habit aux multiples facettes. [...] [L]es acteurs qui se définissent identitairement soit comme Antillais, Africains, Noirs, ou encore comme descendants d’esclaves et de colonisés, occupent le terrain mémoriel et historique puis celui du social correspondant aux discriminations raciales.«141
Die konsequente Historisierung der postkolonialen Frage war allerdings ein zweischneidiges Schwert: In die Debatte um aktuelle Formen des Rassismus in der französischen Gesellschaft hielt so ein starkes Element Einzug, das zwei umkämpfte Diskussionsfelder mit einem bereits für sich genommen hohen Konfliktpotential verschmelzen ließ. An dieser Stelle fügt sich ein Sachverhalt ein, der für die französische Geschichtspolitik, auch und gerade im Vergleich zur britischen, wesentlich ist: Die Konfliktlinien lassen sich nicht unabhängig von der laufenden Auseinandersetzung mit der Geschichte, und zwar der französischen Geschichte, der Judenverfolgung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs begreifen. »In several respects, the campaign for the ›black cause,‹ for public recognition of the role France played in the slave trade, was modelled on the Jewish community’s campaign for the state’s responsibility for the Holocaust of the Jews.«142 Für diese Entwicklung war die Rede von Jacques Chirac am 16. Juli 1995 ein Meilenstein, der neue Wege eröffnete – und damit auch den geschichtspolitischen Druck ansteigen ließ, der aus anderen Richtungen auf die republikanischen Institutionen einwirkte: »Comme Chirac a reconnu la culpabilité de la République envers les juifs, il faut aujourd’hui qu’il demande pardon aux fils d’esclaves. Un geste pour les nègres, monsieur le président!«143 Zum Zeitpunkt des 150. Jahrestages des Emanzipationsdekrets war die Erinnerung an die Prozesse gegen Barbie, Touvier und Papon noch relativ frisch und unter anderem in der parlamentarischen Debatte anlässlich des Gedenkens an die Kolonialgeschichte aktiv: »Si le crime contre l’humanité est, comme l’a rappelé un témoin lors du procès de Klaus Barbie, ›le meurtre de quelqu’un sous le seul prétexte qu’il est né‹, alors, l’esclavage est le plus grand crime contre l’humanité.«144 Diese Aussage von Lucette Michaux-Chevry, Senatorin aus Guadeloupe, erhielt laut Protokoll die direkte Zustimmung der anwesenden Parteikolleginnen und
139 Senghor, Richard: »Le surgissement d’une ›question noire‹ en France«, in: Esprit 1 (2006), S. 5-19, hier S. 7. 140 F. Constant: Talking Race in Color-Blind France, S. 151. 141 Y. Lopez: Questions noires, S. 11. 142 J.-Y. Camus: Commemoration of Slavery, S. 648. 143 Cojean, Annick: »En Guadeloupe, des voix demandent à la France de reconnaître son passé esclavagiste«, in: Le Monde vom 27.4.1998. 144 Lucette Michaux-Chevry, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998.
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-kollegen. Sie zeigt aber zugleich ein Risiko der Annäherung von Sklaverei und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Völkermord auf, nämlich die Ausblendung des kolonialwirtschaftlichen Kontextes. Die inhaltliche Ausrichtung der Jubiläumsfeierlichkeiten von 1998 konnte vor diesem Hintergrund wie eine Art Geschichtsleugnung erscheinen, die in Frankreich in Bezug auf die Shoah nicht nur moralisch untersagt ist, sondern – anders als in Großbritannien – von der nationalen Gesetzgebung explizit sanktioniert wird. »La France qui, en fêtant Schœlcher, continuera de se donner le beau rôle. La France à qui gardefou n’interdira de minimiser l’horreur de l’esclavage tant qu’une qualification solennelle de crime contre l’humanité ne rendra pas la tragédie intouchable.«145 Auch die Angriffe auf den Historiker Olivier Grenouilleau wiesen Parallelen zur französischen Negationismusdebatte auf. Selbst eine junge Französin, die einer formalen Erklärung der kolonialen Sklaverei zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit kritisch gegenüberstand, bekannte: »Ce qui me choque, c’est qu’il n’y a jamais eu de condamnation, de jugement, de sanction. Pour la Shoah, on a recherché les criminels. Pour l’esclavage, on n’a rien fait.«146 Auch wenn die Loi Taubira nicht unbedingt als potentielle Grundlage zur Initiierung von Gerichtsprozessen betrachtet werden muss, sollte sie doch ein fundamentales historisches wie geschichtspolitisches Versäumnis ausgleichen. An dieser Stelle tut sich also ein ganzes Feld klarer und dabei in mancher Hinsicht nationalspezifischer Anleihen auf. »Ce champ sémantique qui mériterait une analyse détaillée, témoigne de la diffusion du modèle mémoriel qui s’est constitué autour de la gestion collective du souvenir de la Shoah et qui peut être décomposé ainsi – l’ordre n’est pas chronologique –: reconnaissance, commémoration/enseignement, réparation, sanctuarisation par une loi punissant la négation, modèle qui s’impose comme le mode exemplaire de gestion du passé – et particulièrement des passés qualifiés de traumatiques – à partir des années 1990.«147
Dies betrifft auch die kollektiven Akteure der Geschichtspolitik, unter ihnen die beiden Dachverbände, die versuchten, auf breiter Basis einschlägig aktive Vereine zusammenzuführen: Sowohl der CRAN als auch der CREFOM nahmen sich die Organisation des CRIF zum Vorbild – und dies durchaus nicht nur dem Namen nach. So veranstaltet
145 Cojean, Annick: »En Guadeloupe, des voix demandent à la France de reconnaître son passé esclavagiste«, in: Le Monde vom 27.4.1998. 146 So die Abiturientin »Aline« aus Fort-de-France in einer Debatte zum 150. Jahrestag der Abolition, protokolliert von Cojean, Annick: »L’héritage de l’esclavage aux Antilles. A Fort-de-France, les élèves d’une classe d’hypokhâgne ont accepté d’évoquer l’esclavage et ses séquelles, cent cinquante ans après son abolition«, in: Le Monde vom 24.4.1998. 147 Garcia, Patrick: »France 2005. Une ›crise historique‹ en perspective«, in: Bogumil Jewsiewicki/Érika Nimis (Hg.), Expériences et mémoire. Partager en français la diversité du monde, Paris: L’Harmattan 2008, S. 337-352. Zur Geschichtspolitik von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy vgl. auch Ahearne, Jeremy: Government through Culture and the Contemporary French Right, Basingstoke 2014.
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inzwischen auch der CRAN ein jährliches Dinner, bei dem die Beziehungen zur politischen und medialen Elite gepflegt werden sollen.148 Die staatlich unterstützten Stiftungen zur Kolonialgeschichte entsprechen dem Modell der Fondation pour la mémoire de la Shoah – die zur Geschichte des Algerienkriegs, die auf der Basis des Gesetzes vom 23. Februar 2005 bislang wenig erfolgreich agiert149, ebenso wie die angekündigte zur Geschichte der Sklaverei. Der mit dem Beitrag der Stiftung für die Erinnerung an die Shoah ausgebaute Gedenkort in Paris umfasst unter anderem eine »Mauer der Namen«. »Sur ce mur ont été gravés les noms des 76 000 Juifs, parmi eux 11 000 enfants, déportés de France dans le cadre du plan nazi de la destruction des Juifs d’Europe, avec la collaboration du gouvernement de Vichy.«150 Die öffentliche Ausstellung von Tausenden Namen war auch Teil des Gedenkens am 23. Mai 2008. Sie basierte auf der akribischen Arbeit von Mitgliedern des CM98 in regionalen Archiven der Überseedepartements. »Nous avons [...] créé le ›Mémorial itinérant, les noms de l’abolition‹ [...] Il s’agit d’une collection de près de 400 panneaux grand format sur lesquels ont été inscrits, par commune, par département, les prénoms et surnoms, les numéros matricules et les noms patronymiques attribués à nos parents au moment de l’abolition de l’esclavage.«151 Im englischsprachigen Raum wird der »afrikanische Holocaust« oft mit dem Begriff »Maafa« bezeichnet, der in Kiswahili einen »Schrecken« oder eine »Katastrophe« bezeichnet und sich damit offensichtlich an den hebräischen Terminus »Shoah« anlehnt. Gleichzeitig kursiert der Terminus »Maangamizi«, der aus demselben Sprachkontext entlehnt ist und eine sehr ähnliche Bedeutung hat. In Frankreich sind dagegen derzeit vor allem zwei Neologismen im Umlauf, die angewendet werden, um dem transatlantischen Sklavenhandel ein erinnerungskulturell distinktes Label zu verleihen. Während das grundsätzliche Ziel das gleiche ist, sind die Worte mit durchaus unterschiedlichen Implikationen versehen. »Lanmèkannfènèg est une proposition identitaire soumise aux ›filles et fils d’esclaves de la communauté antillaise‹ pour se reconnaître à partir des quatre éléments fondateurs des sociétés antillaises: Lanmè (l’océan: la déportation); Kann (la canne à sucre: la cause de la déportation); Fè (les chaînes: l’esclavage); Nèg (nègre: l’affiliation).«152 Vor allem die Mitglieder des CM98 berufen sich auf die in ihren historischen Bezügen sehr spezifische Kombination aus dem kreolischen Vokabular, welche die afrikanische Erfahrung weitgehend ausschließt. Der
148 »Kiswahili term meaning ›an event of great disaster, calamity or terrible occurrence‹. It is commonly used by Africentric academics to describe the more than five hundred years of barbaric crimes committed by Europeans against humanity.« Ligali: Declaration of Protest, S. 16. 149 Zu Entwicklung und Aktivitäten der Fondation pour la mémoire de la guerre d’Algérie, des combats du Maroc et de Tunisie vgl. www.fm-gacmt.org. 150 Memorial de la Shoah, Mur des noms, http://www.memorialdelashoah.org/le-memorial/ les-espaces-du-musee-memorial/le-mur-des-noms.html. 151 Gordien, Emmanuel: »Les patronymes attribués aux anciens esclaves des colonies françaises«, in: In Situ (online) 20 (2013): Les patrimoines de la traite négrière et de l’esclavage, https://doi.org/10.4000/insitu.10129, S. 4. 152 Y. Lopez: Questions noires, S. 242. Vgl. hierzu auch G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 159, 165.
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seinerseits äußerst beredte Begriff »Yovodah« ist dagegen stärker afrozentrisch besetzt; er leitet sich von zwei Wörtern aus einer Sprache des südlichen Benin ab: »weiß« bzw. »Europäer« (yovo) und »Grausamkeit« (dah).153 Propagiert wird er in erster Linie vom Collectif des filles et fils des Africains déportés (COFFAD), der unter anderem im Rahmen von Aktionen gegen die öffentliche Versteigerung von den Sklavenhandel betreffenden Archivmaterialen von sich reden machte. Die Orientierung an der Entwicklung jüdischer Geschichtspolitik in Frankreich lässt auch die Benennung dieser Vereinigung erkennen – »chosen to recall the Association des Fils et Filles des Déportés Juifs de France, the Jewish association led by famous Nazi-hunters, Beate and Serge Klarsfeld, the driving force behind the claims for compensation for genocide victims.«154 Ohne Beachtung des in ihr enthaltenen jüdischen Elements lässt sich allerdings auch die eng mit der historischen Erinnerung verbundene Debatte um Rassismus und nationale Identität in Frankreich nicht verstehen. Die beschriebene geschichtspolitische Dimension ist für sich genommen brisant; in vollem Umfang lässt sich das Spannungspotential allerdings erst begreifen, wenn der Rahmen der Betrachtung ausgedehnt wird, um die gesamtgesellschaftliche Komplexität des Verhältnisses von communautarisme und concurrence des victimes zu erfassen. Denn auch die französische Gegenwart erzählte im Zeitraum der Untersuchung Geschichten, in deren Zentrum die Verhandlung von Opfer- und Täterrollen stand. An ihnen lud sich die zeitgleich in den Medien für Furore sorgende Transformation der Erinnerungskultur mit zusätzlicher Bedeutung auf. Die jüdische und die afrikanische Diaspora waren dabei trotz des ihnen gemeinsamen Minderheitenstatus sehr unterschiedlich positioniert. »[L]a condition actuelle des Juifs semble être en décalage avec leur statut de victime majuscule. Certains ont bien du mal à accepter que les Juifs soient pris pour modèle historique de douleur alors que nombre d’entre eux leur sembler posséder aujourd’hui un statut social enviable. Pourquoi, se disent-ils, les Juifs bénéficieraient-ils d’une reconnaissance de souffrance éternelle alors qu’ils ne souffrent plus ›ici et maintenant‹?«155
Der Umstand, dass die jüdisch- und die afrikanischstämmige Bevölkerung sowohl das erinnerungskulturelle Feld als auch die Debatte um Rassismus mit ihren jeweils eigenen Themen zu besetzen suchten und die hiervon ausgehenden Impulse zusätzlich in Berührung mit der Rolle des Islam in Frankreich traten, bezog die unterschiedlichen Ebenen umso stärker – und umso konfliktlastiger – aufeinander. Die Funken, die das mediale Feuer auslösten, in dem die Bereiche verschmolzen, schlug vor allem die Kontroverse, die Anfang des Jahres 2005 von dem Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala angestoßen wurde, der in der französischen Öffentlichkeit vor allem unter seinem Vornamen bekannt ist.156 »Le débat sur la mémoire noire a vite 153 J.-Y. Camus: Commemoration of Slavery, S. 652, Anm. 5. 154 Ebd., S. 652. 155 Keslassy, Éric/Rosenbaum, Alexis: Mémoires vives. Pourquoi les communautés instrumentalisent l’Histoire, Paris: Bourin Editeur 2007, S. 95 f. 156 Für eine Zusammenfassung der Diskussion um Dieudonné vgl. Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »Une colère noire«, in: Libération vom 9.11.2005 und Dies.: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005.
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dérapé sur la Shoah, avec les diatribes antisémites de Dieudonné. La souffrance juive et la souffrance noire se voient mises perpétuellement dans un jeu absurde de comparaison et de concurrence.«157 Die scharfe Polemik mit handgreiflichen Ausläufern entfaltete sich sowohl anhand der historischen als auch der geschichtspolitischen Ebene. Denn zur Debatte stand zum einen die vermeintlich markante Beteiligung jüdischer Geschäftsleute am transatlantischen Sklavenhandel, zum anderen die öffentliche Bedeutung des Holocaust-Gedenkens. »[N]on seulement Dieudonné conçoit la Shoah comme une mémoire purement juive, mais il en fait un instrument de complot manié par les Juifs pour promouvoir leurs intérêts aux dépens des minorités postcoloniales.«158 Die in Frankreich äußerst sensible Saite der »Opferkonkurrenz« wurde auch von Mitgliedern des Collectif DOM angeschlagen, die sich im Übrigen äußerst kritisch zur »Affäre Dieudonné« positionierten. Die Veröffentlichung des Buches »Le crime de Napoléon«, das sich mit der Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien befasste, stellte im Vorfeld des 200. Jahrestags der Schlacht von Austerlitz (2. Dezember 2005) nichts weniger als einen gezielten Angriff auf eine Ikone der französischen Erinnerungskultur dar. Das Mittel der Wahl war dabei eine systematische politische und persönliche Parallelisierung des selbsternannten Kaisers mit Adolf Hitler. Der Versuch, den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau, der in einem Interview Unterschiede in der historischen Logik von Shoah und Sklavenhandel erläutert hatte, auf Basis der Loi Taubira wegen der vermeintlichen Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu bringen, war für viele Historiker/-innen der Tropfen, der das Fass der erinnerungskulturellen Debatte zum Überlaufen brachte. Symptomatisch für diese Situation war nicht zuletzt der Appell, den die politisch überwiegend linksorientierte Gruppe Indigènes de la République zu Beginn des Jahres 2005 veröffentlichte. Die Gruppe hatte in den Geschichtsdebatten auch deshalb einen schweren Stand, weil sie in besonderem Maße mit den aus dem Nahostkonflikt resultierenden Spannungen und einer antizionistischen und religiösen bzw. islamfreundlichen Bewegung von in Frankreich lebenden Muslimen und »linken« Intellektuellen assoziiert wurde. Die Unterzeichnung des Gründungsappells durch den umstrittenen Islamwissenschaftler Tariq Ramadan dürfte ihren Beitrag zur im Verhältnis zum republikanischen Mainstream ungünstigen Positionierung geleistet haben. Der offene Brief warf den französischen Autoritäten vor, Immigrantinnen und Immigranten sowie ethnische Minderheiten im Land wie seinerzeit die Bevölkerungen der Kolonialgebiete als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Die Anprangerung von Verfehlungen der französischen Republik – von der Sklaverei über die vermeintlich fortbestehende Ausübung von Kolonialmacht in den Überseegebieten und in Côte d’Ivoire bis zum »Kopftuchgesetz« – war die Hauptintention des Aufrufs. Dieser präsentierte aber eine buchstäblich globale Imperialismuskritik, die »de l’Afrique à la Palestine, de l’Irak à la Tchétchénie, des Caraïbes à l’Amérique latine« reichte und somit kaum einen akuten Spannungsherd ausließ. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner betrachteten sich als »descendants d’esclaves et de déportés africains, filles et fils de colonisés et d’immigrés, […] Français et non-Français vivants en France, militantes et militants engagé-
157 A. Barro: Ce que cache le débat, S. 94. 158 É. Keslassy/A. Rosenbaum: Mémoires vives, S. 98.
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es dans les luttes contre l’oppression et les discriminations produites par la République post-coloniale«.159 Für eine postkoloniale Kritik an den in Frankreich herrschenden Verhältnissen war die Bezugnahme auf die Sklaverei eine naheliegende Option. Die Figur des »Sklaven« hat eine lange Tradition als symbolisch hoch aufgeladenes Ausdrucksmittel zur Beschreibung von Situationen menschlicher Unterwerfung und Unfreiheit. Dies kam der generellen Botschaft, die eine Gruppe wie die Indigènes de la République vermitteln wollte, nicht nur entgegen, es führte vielmehr kaum ein Weg an diesem Kapitel der Vergangenheit vorbei. Akteurinnen und Akteuren allerdings, welche die Erinnerung an die Sklaverei an eine fester umrissene Gruppe binden wollten, musste diese Tendenz zur Auflösung ihres Interesses in einer größeren Debatte ein Dorn im Auge sein. In der praktischen Geschichtspolitik wirkte sich der theoretische Anspruch der Indigènes de la République, auch die »descendants d’esclaves et de déportés africains« zu vertreten, daher kaum spürbar aus. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der besonderen Risiken, die sich im Hinblick auf den Fortschritt der öffentlichen Anerkennung an dieser Stelle auftaten. Denn im Hintergrund stand dabei auch eine neue Lesart des Konfliktes um das »Heilige Land«, die eine Täterposition Israels mit Begriffen wie Kolonialismus, Rassismus und Apartheid, wenn nicht gar mit Referenzen an den Nationalsozialismus zu beschreiben suchte.160 Sie war bereits eine Hauptquelle der Differenzen gewesen, welche die UN-Konferenz gegen Rassismus und Xenophobie in Durban 2001 an den Rand des kompletten Scheiterns gedrängt hatte. Das Übergreifen des Nahostkonflikts auf die sozialen Beziehungen in Frankreich stellte ein Schreckensszenario für französische Politiker/-innen und Intellektuelle dar. Das Land verfügt nach den USA und Israel nicht nur über den weltweit drittgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil. »[T]here are now 4.5 million Muslims in France, the largest Islamic population in any European country.«161 Ohnehin gab die Entwicklung der interethnischen Beziehungen in den Jahren nach der Jahrtausendwende einigen Anlass zur Besorgnis. Aus dem Jahresbericht 2004 der Commission Nationale Consultative des Droits de l’Homme zum Kampf gegen Rassismus und Xenophobie lässt diese sich deutlich herauslesen: »L’année […] a été globalement marquée par un accroissement considérable tant des faits antisémites que des autres faits racistes et xénophobes«, lautete das offizielle Resümee. »2004 serait donc l’année d’une accélération brutale des menaces et actes racistes et antisémites.«162 Das geographische Zentrum der Spannungen war mit großer Eindeutigkeit die Region Îlede-France. Als alarmierend präsentierte sich nicht zuletzt die Zahl der Übergriffe auf Personen muslimischen Glaubens und ihre Begräbnisorte. Auf der anderen Seite wurde ein statistisch signifikanter Teil der antisemitischen Straftaten auf »milieux arabomusulmans« zurückgeführt.163 »Le problème de l’antisémitisme est revenu au centre 159 Indigènes de la République: Appel. 160 Zu den Hintergründen vgl. Attal, Sylvain: »Aux racines du nouvel antisémitisme«, in: Revue internationale et stratégique 58/2 (2005), S. 57-66. 161 R. Aldrich: Vestiges of the Colonial Empire, S. 4. 162 Commission nationale consultative des droits de l’homme: La lutte contre le racisme et la xénophobie. Rapport d’activité 2004, 26.11.2004, online verfügbar unter www.ladocumen tationfrancaise.fr/var/storage/rapports-publics/054000193.pdf, S. 7, 177. 163 Ebd., S. 22, passim.
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de l’actualité en France […]. Ce retour ne s’est pas fait à l’occasion de la commémoration d’un événement passé ou d’un travail de mémoire, mais [...] en raison du nombre important d’actes hostiles aux Juifs accomplis en France [...] depuis le début de la seconde Intifada.«164 Prägend für die Diskussionen wurde das Schlagwort des »neuen Antisemitismus«, der nicht mehr in der Tradition des nationalistisch-xenophoben Rechtsextremismus stehe, sondern gerade die Folge eines quer zu ihm verlaufenden Konflikts der multikulturellen Gesellschaftsentwicklung sei. Als Träger des »neuen Antisemitismus« rückten in erster Linie junge Muslime aus den Vorstädten in den Fokus. In der Perspektive des communautarisme mussten Spannungen zwischen Minderheitsgruppen als besonders bedrohlich für die gesamtgesellschaftliche Stabilität erscheinen – zumal viele dieser Gruppen ihre historischen Erinnerungen mit ins Spiel brachten, für die sie sich öffentliche und/oder staatliche Anerkennung wünschten. Ein besonders starkes erinnerungskulturelles Element sah der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut im »neuen Antisemitismus«, dessen Position Pascal Boniface wie folgt zusammenfasst: »Il s’agit à la fois d’une antisémitisme d’ordre intellectuel qui se développe au fur et à mesure que le Proche-Orient sombre dans le chaos, mais aussi d’un antisémitisme exprimé par les autres victimes de l’histoire, frustrées de voir que la colonisation ou la traite des Noirs n’ont pas fait l’objet de la même attention que la Shoah«.165 Vor diesem Hintergrund war für Finkielkraut nicht der FN, sondern Dieudonné »le vrai patron de l’antisémitisme«.166 Oft als mehrfach diskriminierte Opfer von Rassismus und Ausgrenzung porträtiert, erschienen die »jeunes de cités« nun auch in diesem Diskussionszusammenhang als zumindest teilweise erinnerungskulturell motivierte Täter. Ihre Verortung in der vielfältig stigmatisierten banlieue, der Einschluss der Problematik in eine größere postkoloniale Perspektive und die mediale Wirkung der »Affäre Dieudonné« brachten jedoch die Tendenz zu einer Auflösung von Gruppengrenzen mit sich. »Many [muslims in France] share with black people the intense feeling that their situation, especially the racial discrimination they suffer from, is a direct outcome of colonial history. […] [I]f colonial history is the problem which blinds French society to the claims of minorities, then Islam [...] can be an ally in the fight against the Jacobin state«, schreibt Jean-Yves Camus. »This explains why we are now witnessing two separate, distinct movements, which never the less tend to interact.«167 Nicht jede Interaktion war dabei als Kollaboration zu verstehen. »While some radical black activists seek an alliance with part of the Islamic movement, they are also competing over the recognition of their collective
164 Zarka, Yves-Charles: »Éditorial. L’antisemitisme en France aujourd’hui«, in: Cités 10 (2002), S. 3-7, hier S. 3. 165 Boniface, Pascal: »Surmonter par la vérité la dérive antisémite. Entretien avec Alain Finkielkraut«, in: Revue international stratégique 58/2 (2005), S. 87-96, Abstract. Es handelt sich nicht um ein direktes Zitat von Finkielkraut, der von »[h]aine exprimée des ›victimes‹ vivant la mémoire de la Shoah comme unaffront à leur propre héritage de souffrance« sprach, zit. n. ebd., S. 93. 166 Cypel, Sylvain: »La voix ›très déviante‹ d’Alain Finkielkraut au quotidien ›Haaretz‹«, in: Le Monde vom 23.11.2005. 167 J.-Y. Camus: Commemoration of Slavery, S. 651.
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identity by the [French] State with the growing Muslim community whose memory is that of colonization and second-class citizenship.«168 Konkrete Annäherungsbemühungen auf geschichtspolitischer Ebene lassen sich am Beispiel des COFFAD verdeutlichen, dessen insgesamt überschaubare Zahl von Anhänger/-innen sich zu einem großen Teil aus martinikanischen Französinnen und Franzosen rekrutiert, deren Konversion zum Islam zumindest keine Seltenheit mehr darstellt. »This organization is at the forefront of the fight to obtain financial compensation from the state for the victims of slavery. [...] [I]t is led by Benin-born Assani Fassassi, a political scientist who taught for a long time in Libya, and is a board member of the Conseil Français du Culte Musulman (CFCM) [...] where he represents his Fédération française des associations islamiques d’Afrique, des Comores et des Antilles (FFAIACA), which strives to unite the Muslims from West Africa, the Indian Ocean and the Caribbean.«169
Bei der Vizepräsidentin des COFFAD, der martinikanischen Musikerin Joby Valente, handelt es sich um eine enge politische Weggefährtin Dieudonnés, die sich auch für Solidarität mit den Indigènes de la République aussprach. »Cette islamisation de l’identité noire aboutit, chez les animateurs de ce courant, à une criminalisation du sionisme, et à une relativisation de la singularité de la Shoah. Par exemple, le COFFAD utilise fréquemment les qualifications d’›Holocauste‹, de ›génocide‹ pour parler de la Traite et de l’esclavage des Noirs.«170 Extreme Ausläufer der Tendenz knüpften an eine theologisch geprägte Strömung an, die das Gedankengut radikaler »schwarzer« Identitätsbewegungen von den Thesen des senegalesischen Historikers Cheikh Anta Diop bis zur Rhetorik von Louis Farrakhan durchzieht. Nicht zuletzt in den Reden von Khalid Abdul Muhammad, einem vormals führenden Mitglied der Nation of Islam, äußerte sich der Antisemitismus auch in Form einer erinnerungskulturellen Konkurrenz; den »black holocaust« bezeichnete er als »one hundred times worse than the Jewish holocaust. Theirs was six years; ours is five hundred years and still counting.« 171 Nachdem selbst Anführer Farrakhan seinem Mitstreiter Muhammad die Unterstützung entzogen hatte, gründete dieser in den USA die so genannte New Black Panther Party, die nur noch wenig mit den »Schwarzen Panthern« der 1960er Jahre zu tun hat. Als Kopf des französischen Ablegers der rassistischen Gruppierung gilt der in Straßburg geborene Stellio Capo Chichi alias Kémi Séba, der enge Kontakte unter anderem zu Dieudonné gepflegt hat. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte vor allem der Auftritt der »Kemiten« in der Rue de Rosiers des jüdischen Viertels von Paris, wo sie im Frühjahr 2006 Passantinnen und Passanten aggressiv einschüchterten. Ihren ursprünglichen Plan, Mitglieder der ebenfalls als extremistisch einzustufenden Ligue de Défense Juive anzugreifen, setzten die 168 Ebd., S. 647. 169 Ebd., S. 651. Von Serge Romana (CM98) soll Fassassi als »Farrakhan européen« bezeichnet worden sein, G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 165. 170 A. Barro: Ce que cache le débat, S. 94. 171 Hier zit. n. M. Rothberg: Multidirectional Memory, S. 1 f. Vgl. auch Somé, Roger: »Slavery, Genocide or Holocaust?«, in: Doudou Diène/UNESCO (Hg.), From Chains to Bonds. The Slave Trade Revisited, New York, NY: Berghahn Books 2001, S. 416-430.
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Beteiligten allerdings nicht um. Folgenreich war die Aktion daher vor allem für die Gruppe selbst: Auf Anregung des Innenministers Nicolas Sarkozy ließ der französische Ministerrat Sébas Vereinigung Tribu KA nur wenige Wochen später per Dekret auflösen, auch eine wenig bescheiden »Generation Kémi Séba« genannte Nachfolgeorganisation wurde später verboten.172 Die Zwischenzeit nutzten die Aktivisten allerdings, um sich im neu eröffneten Musée du Quai Branly zu präsentieren, wo sie die Rückgabe von Artefakten an die Nachfahren der afrikanischen Urheber/-innen forderten sowie Sklaverei und Kolonialismus anprangerten. Auch die Gruppe um Kémi Séba schloss also umstandslos an die laufenden Debatten um die Geschichte des Sklavenhandels an. »The ›moderates‹ seek official recognition of this damage by creating institutions that would represent the fragmented black community. Meanwhile, the more radical groups, although still marginal in numbers, see slavery as a starting point to develop the French brand of the Black Power movement.«173 Nach dem Abbüßen einer Gefängnisstrafe in Frankreich lebt Séba inzwischen im Senegal.174 Es war die im Winter 2005/2006 zu ihrem Höhepunkt gelangende erinnerungskulturelle Debatte, die dafür sorgte, dass er und seine Anhänger/-innen für einen Moment ins Rampenlicht der französischen Medienöffentlichkeit traten. »[C]e débat a aussi vu la montée sur la scène publique de groupuscules excentriques, voire extrémistes au sein de la communauté noire. Certes, ils sont minoritaires mais bénéficient d’une forte médiatisation.« 175 Völlig unterschätzt werden sollte der Einfluss der wenigen Extremistinnen und Extremisten dennoch nicht. »Aujourd’hui, ce révisionnisme théologique a le vent en poupe au sein d’une frange nihiliste de la communauté noire, notamment chez les jeunes en quête de repères identitaires et vecteurs identificatoires positifs«176 – und hier schließt sich also der von den Vorstadtunruhen ausgehend geschlagene Kreis. In diesem Kontext musste auch der neu gegründete CRAN seine Position finden. Der Zeitpunkt seiner Gründung war alles andere als zufällig, denn der Dachverband verstand sich auch als Vermittlungsorgan zwischen staatlichen Institutionen und den in den Vororten sozioökonomisch marginalisierten und rassistisch stigmatisierten jungen Menschen.177 Die Struktur seiner Mitglieder konnte jedoch Zweifel daran aufkommen lassen, dass diese das hierfür unbedingt erforderliche Maß an Glaubwürdigkeit mitbrachten: Wie andere im Bereich der Geschichtspolitik aktive Verbände auch, ver-
172 Zum Tribu Ka vergleiche v.a. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 196 ff. François, Stéphane/Guillaume, Damien/Kreis, Emmanuel: »La Weltanschauung de la tribu Ka. D’un antisémitisme égyptomaniaque à un islam guénonien«, in: Politica Hermetica 22 (2008), S. 107-125. Vgl. auch Chichizola, Jean/Gabizon, Cécilia: »Les délires antisémites de la Tribu Ka«, in: Le Figaro vom 31.5.2006. 173 J.-Y. Camus: Commemoration of Slavery, S. 652. 174 AFP: »Le militant radical Kemi Seba arrêté puis incarcéré«, in: Libération vom 14.9.2014. 175 A. Barro: Ce que cache le débat, S. 90. 176 Ebd., S. 93. 177 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 277. Vgl. auch Didier, Arnaud: »Les noirs se rassemblent pour mieux compter. Une fédération de 56 associations et collectifs est créée aujourd’hui. Une première, destinée à porter la ›question noire‹ au cœur de la République«, in: Libération vom 26.11.2005; CRAN, http://www.lecran.org.
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sammelte der CRAN vor allem vergleichsweise gut situierte Menschen mittleren Alters, die über ein hohes Bildungsniveau und ein gewisses Sozialkapitel verfügten.178 Dabei hätte es der Vermittlung dringend bedurft. Viele Kommentare betonten die auffallende Schwierigkeit, die politischen Motive und konkreten Ziele der wütenden jungen Männer zu identifizieren; bezeichnenderweise betrat aus ihrer Mitte oder zumindest ihrem unmittelbaren Umkreis auch kein anerkannter Sprecher die politische Bühne, der die banlieue gegenüber den irritierten Eliten in einer für diese verständlichen Sprache hätte vertreten können. »Aujourd’hui, l’humoriste Dieudonné, connu pour son discours pro-black radical, est considéré par les jeunes de banlieue comme le porte-parole de leurs frustrations«, schrieben vor diesem Hintergrund die Verfasser eines vielzitierten Artikels in Le Point, in dem von »bandes de blacks« ebenso die Rede war wie von »racisme anti-blanc«. Und um dem Eindruck entgegenzuwirken, lediglich eine spekulative Außenperspektive zu vermitteln, zitierten sie auch eine Insiderin, die sie jenseits dieses Glaubwürdigkeitszweifels verorteten, mit einer pessimistischen Einschätzung: »Egérie de la communauté noire, l’écrivaine Calixthe Beyala qui a mené à la fin des années 90 le combat pour une plus grande représentativité des Blacks dans la société française, est effarée par la violence de cette nouvelle génération. ›Ils ne se mélangent pas. Ils vivent entre eux comme dans une secte avec le rap en toile de fond et le business qui se cristallise dessus. Ils disent qu’ils font la guerre à la France, mais ils n’ont aucune conscience politique structurée. Leur bannière de ralliement, c’est l’esclavage et le racisme anti-blanc‹.«179
Neben dem direkt oder indirekt allgegenwärtigen communautarisme war »le spectre des violences anti-›Blancs‹«180 ein weiteres Gespenst, das die französischen Gesellschaftsdebatten verfolgte. Auf der Basis eines von Jean-Marie Le Pen vorbereiteten Terrains war es im Frühjahr des Jahres 2005 zu einem neuen Eigenleben erweckt worden. Anlass war eine Serie von kleinen, aber gewalttätigen Raubüberfällen auf Gymnasiasten, die in den Straßen von Paris gegen François Fillons Gesetzgebung zur Schulreform demonstrierten. Täter waren die aus der Medienberichterstattung vermeintlich wohlbekannten »casseurs« aus dem Vorstadtgürtel. Eine Reihe von Anhaltspunkten sprach für eine Interpretation im Sinne schichtbezogener und schichtspezifischer Ressentiments. Auf ein bemerkenswertes Echo stieß allerdings eine andere Deutung.
178 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 282 f. 179 Décugis, Jean-Michel/Labbé, Christophe/Recasens, Olivia: »Émeutes. Les blacks en première ligne«, in: Le Point vom 10.11.2005. »Business« steht in diesem Zusammenhang vor allem für die auch in den Texten der besagten Rap-Musik häufig thematisierte Kleinkriminalität, insbesondere im Bereich des Drogenhandels. Wie aus anderen Kontexten hervorgeht, stellte der »anti-weiße Rassismus« für Beyala primär den Ausdruck eines unreflektierten Gefühls der eigenen Benachteiligung dar, das die Bezeichnung mit einem auf »-ismus« endenden Begriff letztlich nicht verdient – eine Differenzierung, auf deren Wiedergabe im o.g. Artikel in Le Point verzichtet wurde. 180 Bronner, Luc: »Manifestations de lycéens. Le spectre des violences anti-›Blancs‹«, in: Le Monde vom 15.3.2005.
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»Très vite, en effet, s’est imposée l’idée selon laquelle les agressions et les vols commis par des ›bandes de casseurs‹ dont plusieurs dizaines de lycéens ont été les victimes étaient l’expression d’une nouvelle forme de racisme: un racisme ›anti-blancs‹. Cette vision sinon ›raciste‹, du moins ›racialisée‹ ou ›racisée‹ des violences juvéniles, telle qu’elle a été notamment construite par les médias, constitue en soi un fait relativement nouveau.«181
Besonders in den Vordergrund gerückt wurde sie durch einen als »Appell contre les ratonnades anti-blancs« bezeichneten Aufruf, der vom Radiosender Shalom und der zionistischen Vereinigung Hachomer Hatzaïr ausging, die dem linkspolitischen Spektrum zugeordnet wird. Aus Sicht der Unterstützer/-innen wurden junge Menschen in Frankreich zu Opfern gewaltsamer Übergriffe »parce qu’ils sont français«.182 Das Motiv der Täter war mithin ein rassistisches, als Beispiele für Betroffene wurden neben den erwähnten Schülern jüdische Jugendliche angeführt, die am Rande einer Demonstration gegen den Irak-Krieg der zweiten Bush-Administration angegriffen worden waren. »La déclaration, benoîte, traduit une interprétation hyper-racialisée d’un événement. Les jeunes sont réduits exclusivement à leur apparence noire, et leur comportement n’est expliqué que parce qu’ils sont noirs et hostiles aux Blancs.«183 Für den auf nordamerikanische Geschichte spezialisierten französischen Historiker Pap Ndiaye ist diese Einseitigkeit der Darstellung so signifikant wie symptomatisch für die französischen Verhältnisse. »La demarche est significative en ce sens qu’elle témoigne probablement d’une contre-offensive des ›néorépublicains‹ hostiles à l’expression et à l’organisation des minorités visibles.« 184 In einem Gespräch mit der Libération äußerte sich Ndiaye sehr kritisch zu dem Appell. Auf die Frage nach einem Zusammenhang zur Diskussion um Dieudonné, die zur selben Zeit Fahrt aufnahm, antwortete er:
»On peut voir ce manifeste comme une contre-offensive […] menée à l’occasion de la manifestation mais dont l’adversaire principal est Dieudonné et qui, plus largement, entend mettre un coup d’arrêt à ce qui est perçu comme une dérive dangereuse: c’est-à-dire une mise en accusation injuste de la France validée par une gauche bien-pensante.«185 Die hintergründig transportierte Botschaft beschrieb er in bewusst überzeichnendem Ton wie folgt: »Bon, les Noirs ça suffit, vous nous cassez les pieds avec les histoires de traite et d’esclavage, et vous êtes un problème social, les casseurs. Et, en plus, votre attitude témoigne de pratiques racistes dont vous voulez par ailleurs nous accuser.«186 181 Kokoreff, Michel: »La banalisation raciale. À propos du racisme ›anti-blanc‹«, in: Mouvements 41/4 (2005), S. 127-135, hier S. 127. 182 Vgl. Van Eeckhout, Laetitia: »Un appel est lancé contre les ›ratonnades anti-Blancs‹«, in: Le Monde, 25.3.2005; Grosjean, Blandine: »Malaise après un appel contre le ›racisme antiBlancs‹«, in: Libération vom 26.3.2005; Rioufol, Ivan: »Le bloc-notes d’Ivan Rioufol«, in: Le Figaro vom 1.4.2005. 183 P. Ndiaye: Condition noire, S. 255 ff. 184 Ebd., S. 256. 185 Pap Ndiaye im Interview mit Arnaud, Didier/Rotman, Charlotte: »Il n’y aura pas une histoire pacifiée«, in: Libération vom 13.4.2005. 186 Ebd.
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Der Hauptbeitrag des Aufrufs lag nicht nur in der Erweiterung der Rassismus-Debatte um eine weitere Opfergruppe durch die Separation des Begriffs von den Machtund Verteilungsfragen der sie umgebenden Gesellschaft; eine Perspektive, die inzwischen auch antirassistische Organisationen und hochrangige Politiker/-innen aufgenommen haben. 187 Der Appell implizierte zudem eine gewisse Gleichsetzung von »Judéophobie« und »Frankophobie«, die der Republik eine ethnisch markierte Bruchlinie entlang der Frage der nationalen Identität unterstellte, »un éclatement communautariste de la communauté nationale« mit den Worten des (nicht-jüdischen) Unterzeichners Pierre-André Taguieff.188 Auf der einen Seite standen »weiße« Bürgerinnen und Bürger, auf der von hier aus gesehen anderen Menschen mit dunklerer Hautfarbe. »[C]es manifestations de violence anti-Juifs et anti-Français, participent d’un même clivage ethnoracial [...] qui est réel et important«, erläuterte der Politologe seinen Standpunkt. »Des Blacks et des Maghrébins se pensent comme anti-Blancs.«189 Als Mitunterzeichner fügte Alain Finkielkraut dem Bild eine weitere Verbindungslinie hinzu, die sich für ihn als Evidenz präsentierte: »Les violences lors des manifestations lycéennes relèvent du même phénomène que le nouvel antisémitisme.«190 Die französischen Jüdinnen und Juden wurden so im Zentrum der Nation, in der Mitte einer Mehrheitsgesellschaft verortet, die eine Bedrohung von ihrem postkolonialen Rand zu fürchten hatte. An diesen wurde aufgrund ihrer Hautfarbe auch die afrokaribische Bevölkerung gedrängt. Die Bereitschaft, den um die Vorstellung des »neuen Antisemitismus« angeordneten Befürchtungen Glauben zu schenken, bewies unter anderem die »Affäre RER D«.191 Sie bezeichnet den Skandal um einen von antijüdischen Einstellungen gefärbten Übergriff auf eine junge Frau und ihr Kind in einem S-Bahn-Zug der Region Île-deFrance, der sich wenig später als vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung frei erfunden herausstellte. Eine kleine Gruppe junger Männer, so behauptete die damals 23-jährige Marie Leblanc im Sommer 2004, habe ihr auf der Fahrt die Brieftasche abgenommen, in der sich ein Ausweis mit einer Adresse im für seine wohlhabende Bevölkerung bekannten 16. Arrondissement im Pariser Westen befand. Auf dieser Basis hätten die Jugendlichen sie als »Jüdin« (dis-)qualifiziert, ihr Haare abgeschnitten und Hakenkreuze auf den Bauch gemalt, um dann auf der Flucht vom Tatort auch den Kinderwagen mit dem Baby umzustoßen. Die Geschichte versetzte die Medienöffentlichkeit in einen großen Aufruhr und war somit am Ende eine Peinlichkeit nicht zuletzt für die großen Presseorgane. »[A]ucune précaution n’a été prise quant à la véracité de l’information, et qui insistent parfois lourdement sur l’origine maghrébine (ou noire
187 Zu den Assoziationen, die den Begriff – nicht ohne interne Widerstände – in ihr Repertoire aufnahmen, gehörten MRAP und LICRA, als Regierungspolitikerin widmete sich u.a. Najat Vallaud-Belcacem dem Thema, vgl. Vincent, Elise: »Le ›racisme anti-Blancs‹ divise les antiracistes«, in: Le Monde vom 26.10.2012 und N.N.: »›Racisme anti-Blanc‹. VallaudBelkacem explique pourquoi elle a aussi utilisé ce terme«, in: Le Monde vom 27.9.2012. 188 Zit. n. Van Eeckhout, Laetitia: »Un appel est lancé contre les ›ratonnades anti-Blancs‹«, in: Le Monde vom 25.3.2005. 189 Ebd. 190 Zit. n. ebd. 191 Vgl. v.a. J. Robine: Les »indigènes de la République«, hierzu bes. S. 125.
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parfois) des agresseurs.«192 Besonders vielsagend liest sich die Selbstkritik der Journalistinnen und Journalisten von Le Monde: »Ce fait divers sonnait trop juste. Comme un révélateur d’une époque marquée par la persistance du rejet de l’autre, la montée des agressions racistes et antisémites, de la violence et de la peur. [...] Nous en devons excuses aux jeunes des cités issus de l’immigration maghrébine ou africaine, stigmatisés à tort.«193 Ein kollektives Verbrechen allerdings, das wie die Bestätigung des Verdachts und der schlimmsten mit ihm verbundenen Befürchtungen anmutete, brannte sich besonders in das Gedächtnis der Französinnen und Franzosen ein: »[les] tortures effroyables infligée à un jeune homme, Ilan Halimi, suivies de son assassinat, en février 2006 par un groupe dont le chef [ivoirien] affiche antisémitisme et faux apitoiement sur son sort ›d’esclave‹.«194 Bruchstücke der guerres de mémoire tauchten also wiederholt in stark mediatisierten Konflikten wieder auf, welche die öffentliche Aufmerksamkeit auf soziale Verwerfungen weit jenseits des elitären Ringens um symbolische Deutungshoheit und politische Rituale lenkten. Auch Halimi wurde aufgrund des Vorurteils vom »reichen Juden« zum Opfer seiner Peiniger/-innen, die es ursprünglich auf eine Lösegelderpressung abgesehen hatten.195 Sie hielten ihn dann aber über drei Wochen lang in einem Sozialwohnungsblock einer Gemeinde im südlichen Einzugsbereich von Paris fest, wo sie schwerste Folterungen an ihm verübten, wie unter anderem das Abtrennen von Körperteilen und das großflächige Verätzen der Haut mit Säure. Schließlich ließen die Täter/-innen den jungen Mann an den Gleisen der Bahnstrecke des RER C zurück, wo er nicht mehr rechtzeitig gefunden wurde, um sein Leben zu retten; im Krankenhaus erlag Ilan Halimi seinen Verletzungen. Zusätzlich schockierend war die große Zahl der Mittäter- und Mitwisser/-innen, die dem Verbrechen in seinem Verlauf beiwohnten, ohne die Behörden zu informieren. Die überwiegend aus afrikanischen Familien stammenden Personen, die an der Entführung und den ihr folgenden Gewalttaten beteiligt waren, gingen als »bande des barbares« in die von der umfassenden Medienberichterstattung geprägte Erinnerung ein. Der Name lehnte sich an die vom Haupttäter Youssouf Fofana verwendete Selbstbezeichnung als »afrikanische barbarische Armee der salafistischen Revolution« an. Zur Gruppe gehörte mindestens ein zum islamischen Glauben konvertierter Mann aus einer martinikanischen Familie. Als Verfasser von an jüdische Organisationen adressierten Drohbriefen, die einen fairen Prozess für Fofana forderten, fiel Kémi Séba der Justiz und der Öffentlichkeit auf.196 »L’affaire Dieudonné« In einem geradezu symbolhaften Ausmaß bündelte sich die Brisanz der unterschiedlichen Debattenstränge an der Person von Dieudonné M’Bala M’Bala bzw. der Position, 192 Ebd. 193 N.N.: »La faute et le défi (Leitartikel)«, in: Le Monde vom 15.7.2004. Vgl. auch Solé, Robert: »La petite Marie«, in: Le Monde vom 26.7.2004. 194 F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 10. 195 Zum Fall Halimi vgl. Peace, Timothy: »Un antisémitisme nouveau? The Debate about a ›New Antisemitism‹ in France«, in: Patterns of Prejudice 43/2 (2009), S. 103-121. 196 Chichizola, Jean/Gabizon, Cécilia: »Les délires antisémites de la Tribu Ka«, in: Le Figaro vom 31.5.2006.
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die er in den Medien repräsentierte. Seit Ende des Jahres 2004 brachte »Dieudo« mit einer Reihe von Stellungnahmen zur Erinnerung an den Sklavenhandel und den NaziHolocaust die französische Mehrheitsmeinung gegen sich auf, sprach dabei aber auch bestehende Ressentiments an.197 Sein Beitrag zu den Geschichtsdebatten exemplifizierte das, was in Frankreich mit den häufig verwendeten Begriffen Opferkonkurrenz und communautarisme bezeichnet wird. Tatsächlich präsentierte sich historische Erinnerung hier in der Form des von Michael Rothberg kritisierten »Nullsummenspiels«.198 Die Polemik entfaltete sich vor dem Hintergrund des 60. Jahrestags der Befreiung der Gefangenen aus dem KZ Auschwitz-Birkenau, der in Frankreich mit der Eröffnung des Mémorial de la Shoah in Paris durch den Staatspräsidenten verbunden war. Das Abdriften Dieudonnés in einen zunehmend politisch paranoiden Radikalismus und damit ins Abseits der öffentlichen Debatte sollte nicht dazu verleiten, seine Bedeutung für die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel in Frankreich zu unterschätzen. Während die Umsetzung der Loi Taubira auf sich warten ließ und das Gesetz vom 23. Februar 2005 noch in den Kammern des französischen Parlamentes diskutiert wurde, wirkte die von ihm ausgelöste Kontroverse als entscheidender Katalysator oder – je nach Betrachtungsweise – als Brandbeschleuniger. 199 Pap Ndiaye sprach in diesem Kontext von einem »détonateur médiatique: ce sont les déclarations spectaculaires de Dieudonné. […] Sans Dieudonné, je pense que ces questions seraient restées provisoirement au niveau qui était le leur: minoritaire et régional (dans les DOM-TOM).«200 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die bis heute zahlreichen Kontroversen um den für seine Provokationen berüchtigten Bühnenkünstler im Detail nachzuzeichnen. Dennoch muss die Rolle, die er für den hier interessierenden Kontext spielte, in einem etwas weiter ausgreifenden Rahmen beleuchtet werden. Die spätere Entwicklung, die unter anderem in einer Einreiseverweigerung nach Kanada und einer Verurteilung zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe durch ein belgisches Gericht kulminierte201, kann die Ausgangsposition im Jahr 2004 in den Hintergrund treten lassen. Der Humorist konnte zu dieser Zeit an seine beachtliche Popularität und eine gewisse Sonderstellung in der französischen Medienlandschaft anknüpfen. Denn er war einer der wenigen dunkelhäutigen »Stars« außerhalb des Profisports, seine Karriere »l’une des rares success stories d’un Noir en France.«202 Hinzu kam, dass er sich eigenständig aus relativ bescheidenen sozialen Verhältnissen hochgearbeitet, seine Herkunft aus der Pariser banlieue aber nicht vergessen hatte. Im Verlauf der 1990er Jahre stieg Dieudonné zu einem beliebten Darsteller auf der Bühne, im Film 197 Vgl. Mercier, Anne-Sophie: Dieudonné démasqué, Paris: Seuil 2009. Für eine Zusammenfassung der Diskussion um Dieudonné vgl. auch Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »Une colère noire«, in: Libération vom 9.11.2005 und Dies.: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005. 198 Siehe hierzu das Kapitel Forschungsstand und Forschungsperspektiven. 199 Mit diesen Worten umschrieb der Historiker Pap Ndiaye die Rolle der Äußerungen von Dieudonné in einem Interview, vgl. Arnaud, Didier/Rotman, Charlotte: »›Il n’y aura pas une histoire pacifiée‹ (Interview mit Pap Ndiaye)«, in: Libération vom 13.4.2005. 200 Pap Ndiaye zit. n. ebd. 201 Vgl. die entsprechende Meldung von AFP, z.B. »Dieudonné risque d’être poursuivi en Belgique«, in: Libération vom 10.5.2012. 202 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 229.
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und im Fernsehen auf. Seine ersten Erfolge feierte er zusammen mit dem in Frankreich sehr beliebten jüdischen Bühnenkünstler Élie Semoun. Seit 1999 ist er ohne seinen früheren Partner vor allem in Soloprogrammen zu sehen, die aber in den ersten Jahren ebenfalls Anlass zu positiven Kritiken gaben. Außerdem spielte Dieudonné in mehreren Film- und Fernsehproduktionen, die größte unter ihnen der Kinofilm »Asterix und Obelix: Mission Kleopatra« aus dem Jahr 2002. Von Beginn an zeichnete sich der Komiker, der sich inzwischen systematisch als Gegner des Establishments produziert, durch seinen Mut zu Eigensinn und Respektlosigkeit gegenüber Autoritäten und Konventionen aus; die humoristische Provokation war stets Teil seines Programms. Hierbei spielten immer wieder auch ethnische und nationale Stereotype eine Rolle. Dies gilt nicht nur für den zusammen mit Semoun realisierten Sketch über »Cohen« und »Bokassa«, der Vorurteile gegenüber »schwarzen« und jüdischen Menschen ebenso thematisiert wie das oft gespannte Verhältnis zwischen den beiden Gruppen. Dieudonné selbst wurde 1966 in der Nähe von Paris geboren. Als Sohn einer bretonischen Mutter wuchs er in einem Vorstadtviertel weitgehend ohne Kontakt zu seinem Vater auf. Dessen Heimatland Kamerun besuchte er mit siebzehn Jahren zum ersten Mal. Auch wenn er dort inzwischen ein kleines Anwesen und außerdem die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, lebt Dieudonné bis heute in seinem Geburtsland.203 Allerdings identifiziert er sich selbst überwiegend über seine Hautfarbe, die er als »schwarz« definiert, und die Herkunft seines afrikanischen Elternteils. Er bezeichnet sich daher nicht nur als Français d’origine africaine, sondern auch als Euro-Afrikaner oder schlicht als Afrikaner.204 Wie so viele andere unterstützte auch Dieudonné den Marsch am 23. Mai 1998, entfernte sich später jedoch von den karibisch dominierten Vereinen. Möglicherweise beeinflusst durch seinen Beruf, war sein geschichtspolitisches Vorgehen ein eher individuelles und stark auf seine eigene Person ausgerichtet. Die von ihm vertretenen Positionen fanden vor allem bei Zielgruppen Anklang, die sich mit den traditionellen republikanischen und häufig bildungsbürgerlichen Vereinsstrukturen nicht identifizieren konnten oder wollten. Umgekehrt verträgt sich Dieudonnés Rhetorik nicht mit dem Streben der klassischen Verbände nach einem politisch halbwegs respektablen Image. Bereits früh war M’Bala M’Bala neben seiner künstlerischen Tätigkeit auch politisch aktiv und arbeitete dabei im Laufe der Jahre mit sehr verschiedenen Gruppierungen zusammen. Die zunehmende Radikalisierung seines Weltbildes spiegelt sich in den Wechseln der von ihm gewählten Allianzen wider. Ohne sich zu einem gegebenen Zeitpunkt eindeutig einer ideologischen Richtung zuzuordnen, lassen diese dennoch einen klaren, anti-zionistisch motivierten Rechtstrend erkennen. Das hier näher zu betrachtende Kapitel der Laufbahn steht relativ am Anfang dieser Entwicklung. Gemeinsam mit Organisationen aus dem linkspolitischen Spektrum setzte Dieudonné sich in den 1990er Jahren für Menschen ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung, für bessere Wohnbedingungen in den Vorstädten und gegen Rassismus insbesondere in den französischen Medien ein. Zwischen 1997 und 2002 kandidierte er bei den Kommunal203 Zur Person vgl. ebd., S. 230 ff. 204 So sprach Dieudonné in einem Interview von sich selbst »en tant qu’Africain«, vgl. das Interview mit Dieudonné M’Bala M’Bala geführt von Tabet, Marie Christine: »›Je ne renoncerai pas à mes convictions pour autant‹«, in: Le Figaro vom 11.2.2004. Vgl. auch G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 228.
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und Regionalwahlen zunächst mehrfach auf linkspolitischen Listen. Er wurde dabei sowohl von der führenden antirassistischen Organisation SOS Racisme als auch von den französischen Grünen unterstützt.205 In Dreux ließ er sich als direkter Herausforderer von Marie-France Stirbois aufstellen, der dort sehr erfolgreichen Kandidatin des rechtsextremen FN. Bei dieser Wahl erreichte er immerhin knapp 8% der abgegebenen Stimmen.206 Im Jahr 2004 war der Künstler kurzfristig als Sprecher der Gruppe EuroPalestine aktiv, für die er auch bei den Europawahlen kandidierte. Nicht einmal 2% der Wählerinnen und Wähler gaben ihre Stimme für diese Partei ab, die allerdings in einigen Wahlbezirken von Seine-Saint-Denis auffällig besser abschnitt. Sowohl 2002 als auch 2007 kündigte Dieudonné zudem seine Ambitionen in Bezug auf eine Präsidentschaftskandidatur an, von denen er allerdings vorzeitig wieder Abstand nehmen musste.207 Seit 2009 engagierte er sich für den politisch marginalen Parti Antisioniste. Der Stimmenanteil der antizionistischen Liste, deren Verbot wiederholt diskutiert wurde, lag bei Europa- und Legislativwahlen bei unter zwei Prozent. Hier arbeitete Dieudonné unter anderem mit Alain Soral zusammen, einem Ex-Mitglied der kommunistischen Partei, das gerade aus der Führung des FN ausgeschieden war. Für Aufsehen sorgte der Kabarettist zu dieser Zeit außerdem durch seine öffentlichen Auftritte mit dem Holocaustleugner Robert Faurisson. 208 Das antizionistische und schließlich antisemitische Element entwickelte sich sukzessive zu einem dominierenden Leitmotiv in Diedonnés politischem und künstlerischem Wirken. In der Folge wurde er wiederholt wegen Beleidigung, Verleumdung und Anstiftung zu Diskriminierung, Hass und Gewalt angeklagt und ab 2006 auch mehrfach verurteilt.209 Anlass waren stets Äußerungen über jüdische Personen, über die Rolle des Judentums in Geschichte, Politik und Medien oder über die Shoah und ihre erinnerungskulturelle Bedeutung. Dass sich viele seiner früheren Unterstützerinnen und Unterstützer inzwischen von ihm distanziert haben, hat an seinen Auffassungen wenig geändert. Bis heute stößt Dieudonné immer wieder mit staatlichen Autoritäten zusammen. In den 2014 geführten Rechtsstreit um einen Auftrittstermin in Nantes, der nach einer Entscheidung des französischen Staatsrates schließlich abgesagt wurde, mischte sich
205 Vgl. ebd., S. 235 f. Vgl. auch Geisler, Rodolphe: »Dieudonné, candidat en Ile-de-France sur une liste Euro-Palestine«, in: Le Figaro vom 6.5.2004. 206 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 235. 207 N.N.: »Présidentielle...«, in: Le Figaro vom 24.12.2005 und 12.10.2006. 208 Vgl. z.B. Garat, Jean-Baptiste: »L’Élysée veut interdire les listes Dieudonné. Claude Guéant fustige l’antisémitisme ›odieux‹ de l’humoriste«, in: Le Figaro vom 4.5.2009. 209 Nach eigenen Angaben wurde Dieudonné M’Bala M’Bala bis 2006 insgesamt zwanzig Mal verklagt und freigesprochen, Arnaud, Didier: »Dieudonné ne fait plus rire la justice«, in: Libération vom 11.3.2006. Für Aufsehen sorgte er vor allem im Präsidentschaftswahlkampf 2002, als er Osama Bin Laden seinen Respekt aussprach, weil dieser der Supermacht USA die Stirn böte, und ihn in diesem Zusammenhang »wichtigste Persönlichkeit der zeitgenössischen Geschichte« bezeichnete, vgl. Germon, Marie-Laure: »Leurs associations tenues à l’écart de la mission Favier«, in: Le Figaro vom 18.2.2002.
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Innenminister Manuel Valls persönlich ein.210 Er drohte unter anderem mit einem Vorgehen auch gegen die Internetinhalte der »Dieudosphère«, die für die Vernetzung der Anhänger/-innen von M’Bala M’Bala von entscheidender Bedeutung ist. Seine Ansichten vertritt der Komiker aber nach wie vor auch auf der Bühne – mit entsprechenden Konsequenzen. So kam es 2015 zu mehreren Auftrittsverboten, unter anderem in Brüssel, wo die offizielle Entscheidung unter Polizeieinsatz durchgesetzt wurde.211 Die letzten rechtskräftigen Urteile gegen Dieudonné ergingen 2017, eines davon lautet auf zwei Monate Gefängnishaft, die er bislang nicht angetreten hat. Die Räumlichkeiten des Théâtre de la Main d’Or musste der Bühnenkünstler verlassen.212 Die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und ihre Erinnerung wurden im Laufe des Jahres 2004 zu einem zentralen Thema in den zunehmend umstrittenen öffentlichen Kommentaren des Komikers. Der Anlass, diese Frage in den Vordergrund rücken ließ, war dabei zugleich ein entscheidender Auslöser für seine weitere ideologische Entwicklung. Dass die Geschichte der Sklaverei in Dieudonnés Denken bereits zuvor eine gewisse Rolle spielte, zeigte sich nicht nur an seiner Teilnahme am Marsch vom 23. Mai 1998, sondern bisweilen auch in seinen Äußerungen. Im März 2000 etwa bezeichnete er in einem Interview mit der Zeitung France-Soir vor allem »weiße« Katholiken als »raciste« und »esclavagiste«.213 Damit wies er einer zentralen französischen Bevölkerungsgruppe negativ besetzte historische Akteursmacht zu. Zugleich vertrat der Humorist aber auch eine in seinen Augen allgemein antikolonialistische Haltung. Diese umfasste eine Ablehnung der US-amerikanischen Okkupation des Irak ebenso wie eine vehemente Kritik an der israelischen Besatzungspolitik.214 Hierdurch machte er seine Rhetorik auch für andere »postkoloniale« Minderheiten in Frankreich attraktiv, namentlich für ein jüngeres, arabischstämmiges Publikum. Es ist bezeichnend, dass auch die stark von einer nordafrikanischen Perspektive geprägten Indigènes de la République Dieudonné ihren Respekt zollten. Sie gerieten schließlich ihrerseits ins Visier der Renseignements Généraux, dem französischen Pendant zum deutschen Verfassungsschutz.215 Am 1. Dezember 2003 gab Dieudonné als Überraschungsgast einen Live-Auftritt in der bekannten, von dem jüdischen Moderator Marc-Olivier Fogiel präsentierten Fernsehshow »On ne peut pas plaire à tout le monde« auf France 3. Der Sketch, den er dort aufführte, gefiel in der Tat nicht allen, sondern wurde von vielen Zuschauerinnen
210 AFP/Reuters: »Dieudonné. Le Conseil d’Etat maintient l’interdiction du spectacle à Nantes«, in: Le Monde vom 9.1.2014. 211 AFP: »Dieudonné/Bruxelles. Un spectacle clandestin interdit«, in: Le Figaro vom 18.5.2015. 212 AFP/lemonde.fr: La condamnation de Dieudonné à deux mois de prison ferme validée par la Cour de cassation belge, lemonde.fr, 7.6.2017; AFP/Libération Dieudonné condamné en appel à quitter la Main d'Or et à deux mois de sursis pour «La bête immonde», 8.11.2017. 213 Vgl. Tanney, Philippe du: »Diffamation raciale. Dieudonné relaxé en appel«, in: Le Figaro vom 15.3.2002. 214 Vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 237. 215 Vgl. Cornevin, Christophe: »Communautarisme. Les Indigènes de la République inquiètent la police. Dénonçant la République ›raciste et coloniale‹ et les ›souchiens‹ blancs, ce mouvement est dans le collimateur des RG et de la justice«, in: Le Figaro vom 14.6.2008.
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und Zuschauern als antisemitisch qualifiziert. In einer Verkleidung, die sich am ehesten als eine Mischung aus uniformiertem Terroristen und orthodoxem Rabbiner beschreiben ließe, nahm Dieudonné in seiner Nummer vor allem radikale Zionistinnen und Zionisten ins Visier. Er schloss seinen Auftritt mit einem hastig präsentierten Hitlergruß und dem Ausruf »Isra-Heil!«, der allerdings im – mit einigen Pfiffen durchsetzten – Publikumsapplaus fast unterging. 216 Das französische Justizministerium strebte in der Folge einen Prozess wegen rassistischer Diffamierung an, die Klage wurde allerdings abgelehnt.217 Auch der CRIF, der sich später dem Vorgehen gegen den Komiker anschließen sollte, und andere jüdische Organe Frankreichs taten den Vorfall zunächst als nebensächlich ab.218 Die Geschichte hätte also an dieser Stelle als die eines kleinen Fernsehskandals ein frühes Ende finden können. Dann stieß jedoch der Generalsekretär der Fédération Sioniste und frühere Likoud-Verantwortliche Alex Moïse eine offensive Kampagne gegen Dieudonné an. Die folgenden öffentlichen Auftritte des Komikers wurden so zum Anlass von Gegendemonstrationen und erschienen zunehmend als Sicherheitsrisiko. Eine für den Februar 2004 geplante große Darbietung im Pariser »L’Olympia« musste vor diesem Hintergrund schließlich abgesagt werden.219 Der Künstler selbst sah keinen substantiellen Unterschied zwischen seinem antizionistischen Sketch und früheren provokanten Stellungnahmen. Er betrachtete sich von diesem Zeitpunkt an vor allem als Opfer einer gut organisierten und militanten Vertretung jüdischer Interessen, einer regelrechten »lynchage médiatique«. 220 Tatsächlich sah er sich massiven Anfeindungen durch Gegnerinnen und Gegner ausgesetzt, die auch vor offenen Drohungen und physischen Übergriffen nicht zurückschreckten.221 Allerdings übertrug Dieudonné die Idee zunehmend auch auf größere Zusammenhänge, wobei das klassische antisemitische Motiv der jüdischen »Weltverschwörung« immer deutlicher hervortrat. Es war vor allem dieser Kontext, in dem er die in seinen Augen vergessene und verdrängte Geschichte des Sklavenhandels thematisierte. Die öffentliche Rolle des organisierten Judentums in Frankreich stellte der Komiker als eine systematische Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit dar, die Erinnerung an die Shoah als ein entsprechendes Druckmittel. An dem Abend, an dem sein Auftritt im »L’Olympia« hätte stattfinden sollen, verlegte Dieudonné das Spektakel kurzerhand auf die Straße und erklärte einem Publikum von einigen hundert Menschen: »Nous n’avons pas vécu des siècles d’esclavage pour
216 Die Videoaufzeichnung des Sketches ist auf verschiedenen Plattformen im Internet verbreitet. 217 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 239. 218 Vgl. Tabet, Marie-Christine: »Accusé d’antisémitisme, Dieudonné ne fait plus recette«, in: Le Figaro vom 11.2.2004. 219 Vgl. Gros, Marie-Joëlle: »L’Olympia restera à micros fermés face à Dieudonné«, in: Libération vom 20.2.2004 und Martinez, Dominique: »Dieudonné interdit d’Olympia«, in: Le Monde vom 20.2.2004; vgl. auch Landrin, Sophie: »Importantes perturbations lors du spectacle de Dieudonné à Lyon«, in: Le Monde vom 7.2.2004. 220 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 228. 221 Vgl. v.a. Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »Une colère noire«, in: Libération vom 9.11.2005 und Dies.: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005.
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être victimes de la perte de notre liberté d’expression.«222 Die lange Geschichte einer Entrechtung wird hier nicht nur zum Argument für ein besonderes Streben nach Autonomie im Denken und Handeln, sondern sie wird auch gegen einen in der französischen Gesellschaft vermeintlich (über-)mächtigen jüdischen Einfluss in Stellung gebracht. Die Mobilisierungskampagne gegen den Künstler ließ in den folgenden Wochen nicht nach, er selbst goss mit seinen Bemerkungen wiederholt Öl ins Feuer der Auseinandersetzung. In einem Interview mit dem Journal de Dimanche am 8. Februar 2005 sagte er über seine (jüdischen) Kritiker/-innen: »Ce sont tous des négriers reconvertis dans la banque, le spectacle, et aujourd’hui l’action terroriste. Ceux qui m’attaquent ont fondé des empires et des fortunes sur la traite des noirs et l’esclavage.«223 Es war diese Aussage, die dem Komiker schließlich eine Verurteilung zur Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von 5.000 Euro einbrachte.224 Das Gerücht einer maßgeblichen Beteiligung jüdischer Geschäftsleute am transatlantischen Sklavenhandel kennt, auch unter Teilen der afro-amerikanischen Bevölkerung eine gewisse Verbreitung, es ist jedoch historisch nachweisbar unbegründet.225 »Par glissements successifs, ce qui au départ était une revendication fondée de la mémoire de l’esclavage tend à devenir une machine infernale à énoncer des idées antisémites. La matrice en est – comme toujours – l’idée du ›complot juif‹. […] C’est la reprise d’un thème nauséabond, répété sans discontinuité depuis le XIXe siècle par les groupes politiques et les publicistes, à la racine des catastrophes que l’on sait.«226
Zum Ausgangspunkt einer weiteren Klage wurden Dieudonnés Äußerungen bei einer Pressekonferenz in Algier. Hier sprach er im Zusammenhang mit dem Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden von einer »pornographie mémorielle«, auch wenn er dies trotz einer vorhandenen Videoaufzeichnung später zunächst abstritt.227 222 Cornevin, Christophe: »Privé d’Olympia, Dieudonné se produit sur le trottoir«, in: Le Figaro vom 21.2.2004. 223 Zit. n. Laske, Karl: »Dérapages en série et vagues de menaces«, in: Libération vom 21.2.2004. 224 N.N.: »Dieudonné condamné pour des propos racistes«, in: Le Figaro vom 27.5.2004. 225 Die Thesen der Nation of Islam, die Dieudonné aufnahm, wurden u.a. von den Historikern Seymour Drescher und David Brion Davis widerlegt. Zum »antisémitisme ›noir‹« vgl. P. Ndiaye: Condition noire, S. 403 ff. 226 »Démons français. Les discriminations n’excusent pas tout. Lutter contre les séquelles du colonialisme n’autorise pas les discours antisémites«, in: Le Monde vom 5.12.2005, Appell französischer Intellektueller, unterzeichnet von Salah Amokrane, Nicolas Bancel, Esther Benbassa, Hamida Bensadia, Pascal Blanchard, Jean-Claude Chikaya, Suzanne Citron, Maryse Condé, Catherine Coquery-Vidrovitch, Yvan Gastaut, François Gèze, Nacira Guénif-Souilamas, Didier Lapeyronnie, Sandrine Lemaire, Gilles Manceron, Carpanin Marimoutou, Achille Mbembe, Laurent Mucchielli, Pap Ndiaye, Benjamin Stora, Christiane Taubira, Françoise Vergès, Pierre Vidal-Naquet, Michel Wieviorka. 227 Die Kontroverse ging ursprünglich auf ein ungenaues Zitat der Onlinezeitung proche-orient.info zurück, die zunächst davon gesprochen hatte, für Dieudonné sei die Shoah eine »pornographie mémorielle«. Diese Formulierung wurde dann aber geändert, so dass in dem entsprechenden Artikel zu lesen war, dass die Shoah nach Meinung Dieudonnés zu einer
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Am 23. Februar 2005 ließ sein Anwalt dann verlauten, sein Mandant bekenne sich zwar zu dem Ausdruck, er habe ihn aber nie mit der Shoah in Verbindung gebracht. Tatsächlich habe er von deren Andenken gesprochen, das von einigen Menschen instrumentalisiert werde.228 Dieudonné selbst erklärte, den Begriff von der israelischen Wissenschaftlerin Idith Zertal übernommen zu haben, der Verfasserin eines kritischen Buches zum politischen Umgang mit der Geschichte des Holocaust in Israel.229 Diese distanzierte sich daraufhin öffentlich von der Wendung, die lediglich in einer Kommunikation ihres Übersetzers, nie aber von ihr selbst verwendet worden sein soll.230 Die Äußerungen des Komikers bezeichnete sie in diesem Zusammenhang als rassistisch.231 Bei einer folgenden Pressekonferenz kam Dieudonné auf das Thema zurück und sprach dieses Mal von einer »hypertrophie dans la communication sur la commémoration de la Shoah«.232 Den anwesenden Journalistinnen und Journalisten stellte er die Frage: »Comment se fait qu’il n’y ait pas de commémoration aussi importante des 400 ans d’esclavage? Pourquoi cette classification, cette différence de traitement dans la mémoire?«233 Was unter anderen Umständen die Eröffnung einer Diskussion über die Selektivität des historischen Gedächtnisses hätte sein können, endete wiederum vor Gericht. Im September 2007 wurde der Künstler für seine Äußerungen in Algier zu einem Bußgeld von 7.000 Euro verurteilt.234 Dieudonné ließ es jedoch nicht bei Stellungnahmen gegenüber den Medien bewenden, sondern nahm sich selbst ein Projekt vor, um die von ihm öffentlich angeprangerte Erinnerungslücke zumindest teilweise auszugleichen. Gemeinsam mit Louis Sala-Molins arbeitete er das Konzept für einen Fernsehfilm aus, in dessen Zentrum der berüchtigte Code Noir stehen sollte. Der Gesetzeskodex ist seit langem ein Spezialgebiet von Sala-Molins, seines Zeichens Professor für politische Philosophie an der Universität Toulouse II. Seine Forschungen auf diesem Gebiet führten ihn zu einer in Texten und Äußerungen deutlich spürbaren moralischen Empörung über die juristische Ordnung der Entrechtung. Dies wiederum bedingte ein geschichtspolitisches Engagement, das den Akademiker auch radikaleren Positionen etwa zur Reparationsfrage nahebrachte.
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»pornographie mémorielle« geführt habe bzw. diese errege (»susciter«), vgl. Portes, Thierry: »Dieudonné contre-attaque«, in: Le Figaro vom 23.2.2005. Ebd. N.N: »Enquête préliminaire sur un nouveau dérapage«, in: Le Figaro vom 19.2.2005; vgl. Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »Une colère noire«, in: Libération vom 9.11.2005 und Dies.: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005; Coroller, Catherine: »Dieudonné s’enlise dans la confusion. Entouré d’antisionistes radicaux, l’humoriste a tenté d’expliquer ses propos tenus à Alger«, in: Libération vom 21.2.2005. Vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 243, Anm. 1. Vgl. Allouche, Jean-Luc: »Idith Zertal contredit Dieudonné«, in: Libération vom 23.2.2005. Zit. n. Coroller, Catherine: »Dieudonné s’enlise dans la confusion. Entouré d’antisionistes radicaux, l’humoriste a tenté d’expliquer ses propos tenus à Alger«, in: Libération vom 21.2.2005. Ebd. N.N.: »En bref«, in: Le Figaro vom 12.9.2007. Das Gericht befand ihn der »diffamation publique à caractère racial« für schuldig.
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Für die Umsetzung ihres Films versuchten M’Bala M’Bala und Sala-Molins öffentliche Gelder einzuwerben, der Centre National de la Cinématographie (CNC) lehnte einen Antrag auf finanzielle Unterstützung des Vorhabens jedoch ab.235 Der Kabarettist sah sich hierdurch bestätigt in der Vorstellung einer Verschwörung gegen ihn und alle Menschen von sichtbar afrikanischer Abstammung, die sich insbesondere in der vermeintlich jüdisch dominierten französischen Medienwelt bemerkbar mache. Seine Vorwürfe gegen den CNC folgten dem bekannten Denkmuster: Er bezeichnete ihn als eine Institution, die von einer Gruppe von Männern und Frauen in ihre Gewalt gebracht worden sei, die mit öffentlichen Geldern zwar die Realisierung von mehr als 200 Filmen über die Shoah, aber nicht einen über den transatlantischen Sklavenhandel ermöglicht habe.236 Die Drehankündigung zu dem fiktionalen Fernsehmehrteiler »Tropiques amers« für France 3 beschwichtigte weder den Komiker noch seine Sympathisantinnen und Sympathisanten, sondern sorgte für weitere Entrüstung. 237 Auf Ablehnung stieß nicht zuletzt die publikumswirksame Aufbereitung des Themas, die unter anderem mit einer Liebesgeschichte zwischen der Frau eines Plantagenbesitzers und einem »schwarzen« Rebellen aufwartet. M’Bala M’Bala versucht seitdem, das Geld für seine Filmproduktion selbstständig aufzubringen, bislang augenscheinlich ohne großen Erfolg. Inhaltlich war ein Großteil der von Dieudonné vertretenen Positionen indiskutabel. Gemessen am Ziel, die Geschichte der kolonialen Sklaverei stärker ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu rücken, fällt die Bilanz aber sehr viel ambivalenter aus. Die von ihm ausgelöste Polemik erzielte rasch die Medienaufmerksamkeit, die der Loi Taubira zur Enttäuschung ihrer Unterstützer/-innen zunächst verwehrt blieb. Dieudonnés Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der Sklaverei in den französischen Medien und im Rahmen der nationalen Gedenkkultur stand im Einklang mit den Intentionen des Gesetzgebers und den Absichten von Vereinen wie dem CM98. Die Kehrseite seiner Selbstwahrnehmung und -darstellung als Opfer war dabei allerdings eine Fixierung auf die Frage der Täterschaft, die in dem Gesetz, das den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte, weitgehend unbeantwortet blieb. Aber letztlich ging es um mehr. »Dieudonné fédère autour de lui ceux qui se voient écartés des logements, des bonnes écoles, des médias, et cristallise un ras-le-bol, une impatience, des appétits d’action autour de la cause
235 Dieudonné kommentierte die Verweigerung der finanziellen Unterstützung folgendermaßen: »Avec l’argent public, on fait 150 films sur la Shoah, je demande d’en faire un sur la traite des Noirs et on me dit: ›Ce n’est pas un sujet de film‹. C’est une guerre qui est déclarée culturellement au monde noir. Il est normal que le monde noir réponde: ›non, nous ne nous soumettrons pas à votre pouvoir‹.«, zit. n. N.N.: »Enquête préliminaire sur un nouveau dérapage«, in: Le Figaro vom 19.2.2005. 236 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 241 f. 237 Vgl. ebd., S. 22 f.; zu »Tropiques amers« vgl. Cornu, Francis: »Le roman vrai de l’esclavage«, in: Le Monde vom 7.5.2007 und Simon, Nathalie: »Au temps de la colonisation«, in: Le Figaro vom 10.5.2007. Dass der in Guadeloupe geborene Jean-Claude Barny-Flamand die Regie des Films übernahm, erregte eine Verbitterung, die sich unter anderem in Drohanrufen an den Regisseur äußerte, der als »Verräter« tituliert wurde, vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 22 f.
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noire.«238 Vielen »schwarzen« Menschen in Frankreich fiel es unabhängig von ihrer Herkunft daher nicht leicht, sich explizit von dem Künstler zu distanzieren, der sich selbst zur Symbolfigur einer auch sie betreffenden rassistischen Diskriminierung stilisierte. Die demonstrativen Solidaritätsbekundungen nahmen angesichts der in der öffentlichen Debatte zunehmend unhaltbaren Kommentare zwar ab. »Mais, à mots couverts, les deux principaux mouvements de lobby antillais (le collectif dom et le Comité pour la marche du 23 mai) reconnaissent [...] que Dieudonné a fait avancer leur cause identitaire à pas de géant.«239 Dieudonné ging es zwar immer wieder um die Opferrolle von Afrikanerinnen und Afrikanern in der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels. Für ihn war dies jedoch vor allem der Ausgangspunkt einer Argumentation, in der die gegenwärtige Erfahrung von Menschen mit dunkler Hautfarbe im Vordergrund stand. Hiervon ausgehend ordnete er seine Verknüpfungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit an. Die historisch differenzierende Unterscheidung zwischen Menschen aus der Karibik und aus Afrika ist in einem solchen Zusammenhang sehr viel weniger relevant als die Zusammenführung derjenigen, die sich in Frankreich als postkoloniale Migrantinnen und Migranten benachteiligt fühlen. Gerade der Fall Dieudonné macht deutlich, dass die Geschichte in erster Linie den verstärkenden Hintergrund für die Anprangerung aktueller Diskriminierungserfahrungen liefern sollte und sich den entsprechenden ethnischen Mustern unterordnen sollte. Der Journalist Jean-François Bizot, der sich im Zuge der Kontroverse zur Distanznahme veranlasst sah, konfrontierte seinen Freund Dieudonné vor diesem Hintergrund mit differenzierenden Fragen: »T’as fais le Black, t’oublie juste que tu es 50% breton. Tu t’occupes quand des Bretons? Jamais? Parce qu’ils ont colonisé les Antilles. Mais ton coté africain est camerounais, t’es sûr que tes ancêtres n’ont pas trafiqué? [...] Et quand est-ce tu nous parles du trafic d’esclaves coté arabe? [...] Révise ton histoire!«240 Viele Unterstützerinnen und Unterstützer hielten den Blick in die Geschichtsbücher dagegen nicht für nötig. Nach einem tätlichen Angriff auf den Komiker durch Unterstützer der Ligue de Défense Juive in Fort-de-France äußerte sich die Sympathie vieler martinikanischer Französinnen und Franzosen in Slogans wie »Dieudonné est mon frère, Dieudonné est mon sang!«241 Die physische Metapher für eine tatsächlich nur imaginierte Verwandtschaft, in die sich die offenkundig sehr persönliche Betroffenheit hüllte, steht im Gegensatz zu dem streng historisch und genealogisch argumentierenden Ansatz der »descendants d’esclaves« um Serge Romana und den CM98. Das Gefühl der Verbundenheit, auf dem die Solidaritätsbekundungen beruhten, hatte eine sehr gegenwärtige, deswegen aber nicht unbedingt schwächere Basis. M’Bala M’Bala trat somit hauptsächlich als von den Hauptsträngen der Debatte zunehmend isolierter Einzelkämpfer auf, machte dabei aber ein relativ breites Identifikationsangebot. Auf Zustimmung stieß auch und gerade die Aufmerksamkeit, die er
238 Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005. 239 Ebd. 240 Jean-François Bizot zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 245. 241 Zit. n. ebd.
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auf die Frage der Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel lenkte.242 Allerdings sah er in der untergeordneten erinnerungskulturellen Rolle der Sklaverei weniger ein passives Versagen der französischen Gesellschaft als vielmehr die Folge eines aktiven Komplotts zur Unterdrückung der Leidensgeschichte von Afrikanerinnen und Afrikanern. Indem Dieudonné sowohl die historische als auch die aktuelle Verantwortung dem gezielt ausgeübten Einfluss kollektiv organisierter Jüdinnen und Juden zuschrieb, positionierte er sich nicht nur jenseits des Belegbaren. Es war vor allem die klassisch antisemitische Vorstellung eines jüdisch gelenkten Machtkomplotts, die dazu führte, dass der Komiker mit seinen Stellungnahmen auch die Grenze der öffentlich akzeptablen Argumente hinter sich ließ. Ablehnende Reaktionen und Radikalisierung verstärkten sich im Folgenden gegenseitig. Wenn sie nicht gleich als rassistisch oder antisemitisch bezeichnet wurden, so galten die Äußerungen den meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren jedenfalls als »dérives«, »dérapages« oder sogar »délire«. Gerade die massive Provokation rief aber auch ein äußerst starkes Medienecho hervor, so dass sie die sich gerade erst formierende erinnerungskulturelle Debatte nachhaltig überschattete. »Les déclarations démagogues, provocatrices et outrancières, les réponses confuses qui leur furent données, la personnalisation du débat ont terni l’enthousiasme d’un premier mouvement. Bien entendu, les médias réagissent à chaud, ils ont besoin ›d’information‹, et ›le froid‹ d’une discussion contradictoire et moins attrayant que le conflit.«243 »Napoleons Verbrechen« Der Tabubruch durch den Rekurs auf den Holocaust, der die Polemik um Dieudonné antrieb, prägte im Laufe des Jahres 2005 auch die Initiativen des Collectif DOM – und die entsprechenden Reaktionen. In diesem Fall stand allerdings weniger das Gedenken als die Geschichte selbst im vergleichenden Blick. Der Verband lieferte der französischen Öffentlichkeit zwei weitere überwiegend negativ aufgenommene Beispiele, die Befürchtungen zu bestätigen schienen, dass die Auseinandersetzungen um die Geschichte von Sklavenhandel und Kolonialismus zu ernstzunehmenden sozialen Spaltungen führen könnten. Solchen Argumenten gab der publizistische Frontalangriff auf das Andenken Napoleons, einer Ikone der Nationalgeschichte, neue Nahrung. Geplant und koordiniert wurde er von dem Autor Claude Ribbe, der pünktlich zum Jubiläum der Schlacht von Austerlitz im Dezember 2005 ein Buch mit dem Titel »Le crime de Napoléon« veröffentlichte.244 In ihm befasste er sich vor allem mit dem Militäreinsatz zur Wiederherstellung des Sklavereiregimes in der französischen Karibik. Als Verantwortlicher für kulturelle Angelegenheiten beim Collectif DOM war Ribbe zudem an der Kampagne gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau beteiligt.245 Diese und weitere von ihm angestoßene Kontroversen zeugen vom nachdrücklichen Versuch, die 242 Vgl. v.a. Binet, Stéphanie/Grosjean, Blandine: »La nébuleuse Dieudonné«, in: Libération vom 10.11.2005. 243 F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 7 f. Auch wenn Vergès sich an dieser Stelle nicht direkt auf Dieudonné bezieht, kann vermutet werden, dass er die Politikwissenschaftlerin zu ihrer Formulierung inspirierte. Die Aussage trifft den Fall sehr gut. 244 Ribbe, Claude: Le crime de Napoléon, Paris: Éditions Privé 2005. 245 Siehe unten, Der »Fall Pétré-Grenouilleau«.
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Erinnerung an Sklaverei und Sklavenhandel als politisches Revier abzustecken.246 Der ausgebildete Historiker prägte damit auch die Position des eigentlich zu anderen Zwecken gegründeten Collectif DOM, zu dessen Vorstand er zwischenzeitlich gehörte. Im Jahr 2007 schied Ribbe aufgrund von internen Streitigkeiten aus dem Verband aus. In der Folgezeit gelang es ihm nicht, seine politische Karriere weiter voranzubringen. Die Initiativen des Jahres 2005 wurden zu einer Zeit diskutiert, als die Unruhen in den Vorstädten und Streit um den Artikel 4 des Gesetzes zur vergangenheitspolitischen Verarbeitung des Algerienkriegs quasi täglich neue Schlagzeilen produzierten. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Reaktionen der Öffentlichkeit betrachtet werden. Die Mobilisierung, in deren Mittelpunkt die Buchveröffentlichung von Claude Ribbe stand, war in Anbetracht des herannahenden historischen Jubiläums allerdings langfristig geplant worden. In der Schlacht von Austerlitz standen seinerzeit die Truppen Napoleon Bonapartes einer österreichisch-russischen Allianz gegenüber. Die Konfrontation endete mit einem Sieg Frankreichs, der nicht nur maßgeblich für Napoleons Ruf als strategisches Genie war. Der militärische Erfolg legte die Grundlage für einen Höhepunkt französischer Macht, auf den viele Französinnen und Franzosen bis heute mit Stolz und Nostalgie zurückblicken. Ein Beispiel hierfür kann die Sicht von Dominique de Villepin liefern. Der konservative Politiker (damals UMP), der im Jahr 2005 das Amt des französischen Premierministers antrat, schrieb in einem Buch über den selbsternannten Kaiser der Franzosen: »Napoléon demeure la figure tutélaire de notre histoire. [...] Son règne écrase les autres régimes du souvenir d’une France à l’apogée, rayonnant sur le monde.«247 Es war dieses in der nationalen Erinnerungskultur verankerte Napoleon-Bild, dem Claude Ribbe seine eigene Version entgegenstellte, in der er die Wiedereinführung der Sklaverei zum Ausgangspunkt des Urteils machte. Die Schlacht von Austerlitz ist ein Ereignis nicht nur der französischen, sondern auch der europäischen Geschichte. Anlässlich des Jubiläums wurde sie am Austragungsort der Gefechte im heutigen Tschechien mit einer großen Nachstellung der Kämpfe aufwendig gefeiert. Offizielle Vertreter der Siegernation allerdings nahmen an dieser Veranstaltung nicht teil.248 In Frankreich selbst verlief das Gedenken an den militärischen Triumph auffällig diskret. Eine große Ausstellung im Musée des Armées 246 Einen öffentlichen Schlagabtausch über den richtigen Umgang mit der Geschichte lieferte Claude Ribbe sich auch mit dem damaligen sozialistischen Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë. Im Januar 2002 hatte dieser der Rue Richepance den neuen Namen Rue du Chevalier-de-Saint-Georges gegeben. Damit ist sie ist nun nach Joseph (de) Boulogne benannt, einem Mitte des 18. Jahrhunderts auf Guadeloupe geborenen Musiker und Kommandanten der Revolutionsarmee. Dieser war der Sohn eines französischen Plantagenbesitzers und einer Sklavin. Als Geiger und Komponist war er nicht zuletzt am Hof von Louis XVI. erfolgreich. Nach seinem Tod gerieten er und sein Werk jedoch weitgehend in Vergessenheit. Ribbes neuestes Buch erzählt die Geschichte des Afroamerikaners Eugene Bullard, der einen Teil seines Lebens in Frankreich verbrachte. 247 Villepin, Dominique de: Les cent-jours ou l’esprit de sacrifice, Paris: Perrin 2001. Hier zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 260. 248 Die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie reiste zum Jubiläum der Schlacht zwar in die tschechische Republik, stattete der Rekonstruktion der Kämpfe jedoch keinen offiziellen Besuch ab, vgl. Hopquin, Benoît: »L’UMP refuse d’abroger un article de loi sur ›le rôle positif‹ de la colonisation«, in: Le Monde vom 30.11.2005.
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war, nach offiziellen Angaben aus Kostengründen, abgesagt worden.249 Die Feierlichkeiten auf dem Place Vendôme in Paris fielen bescheiden aus, und kein Mitglied der französischen Regierung fand sich bereit, die Veranstaltung durch persönliche Anwesenheit aufzuwerten. Diese blieb daher vor allem eine Angelegenheit des Militärs.250 Zwar hatte Jacques Chirac, der sich zu dem besagten Zeitpunkt auf einer Reise in Bamako (Mali) befand, Napoleon Bonaparte nie eine besondere Wertschätzung zuteilwerden lassen.251 Jedoch erschien auch de Villepin nicht bei der Gedenkfeier zu Ehren seines erklärten Idols, ebenso wenig wie Verteidigungsministerin Alliot-Marie oder Innenminister Sarkozy. 252 Lediglich ein diesem nahe stehender Abgeordneter der UDF, André Santini, wandte sich in einem Brief an den Premierminister, um gegen das Fernbleiben der Regierungsvertreter/-innen zu protestieren.253 Die Gründe für das demonstrative Nicht-Gedenken 254 hatten weniger mit der Schlacht von Austerlitz selbst zu tun als mit der weniger bekannten Politik, die Bonaparte zur Zeit des Konsulats in den französischen Kolonien verfolgte. Bereits ein Jahr vor dem 200. Jahrestag der berühmten »Dreikaiserschlacht« hatte Claude Ribbe im Namen eines Comité du Deux-Décembre einen Brief an die Verteidigungsministerin geschickt. In diesem hatte er gefordert, dass an der Grabstätte Napoleons im Invalidendom eine Tafel angebracht werde. Sie sollte auf einen Teil der Geschichte hinweisen, dem wohl nur die wenigsten Besucher/-innen des Ortes gedachten: »Ci-gît l’homme glorieux qui a rétabli l’esclavage et la traite négrière.«255 Dies macht sowohl den Ton als auch die inhaltliche Stoßrichtung deutlich, die auch die öffentliche Positionierung im Winter 2005 prägten. Die Intention, aus der Veröffentlichung seines Buches ein Medienereignis zu machen, setzte Ribbe mit beachtlichem Erfolg um.256 Hierbei konnte der ausgebildete Philosoph und Historiker auch auf das Kommunikationsnetzwerk des Collectif DOM zurückgreifen. Dieser rief für den 3. Dezember zu einer Demonstration gegen den »historischen Revisionismus« und das offizielle Gedenken
249 Ebd. 250 Vgl. ebd.; Guiral, Antoine: »Droite. Napoléon inconnu au bataillon«, in: Libération vom 2.12.2005; Perrault, Guillaume: »Austerlitz. Villepin ›assume toute l’histoire de notre pays‹«, in: Le Figaro vom 3.12.2005. 251 Ebd. 252 Vgl. Hopquin, Benoît: »L’UMP refuse d’abroger un article de loi sur ›le rôle positif‹ de la colonisation«, in: Le Monde vom 30.11.2005; Guiral, Antoine: »Droite. Napoléon inconnu au bataillon«, in: Libération vom 2.12.2005; Perrault, Guillaume: »Austerlitz. Villepin ›assume toute l’histoire de notre pays‹«, in: Le Figaro vom 3.12.2005. 253 Vgl. Guiral, Antoine: »Droite. Napoléon inconnu au bataillon«, in: Libération vom 2.12.2005. 254 Nora, Pierre: »Plaidoyer pour les ›indigènes‹ d’Austerlitz. Si l’Europe célèbre avec éclat l’histoire et l’héritage napoléoniens, y compris dans leurs ambiguïtés, la France et ses voix officielles se font toutes petites. Pour de mauvaises raisons«, in: Le Monde vom 13.12.2005. 255 Zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 258. 256 Vgl. v.a. Poncet, Emmanuel: »Le retour des années noires (Portrait Claude Ribbe)«, in: Libération vom 14.12.2005 und G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 257 ff.
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an Napoleon auf.257 Bei schlechtem Wetter zog sie zwar nur wenige Menschen an, ein nicht unwesentlicher Teil von ihnen Journalistinnen und Journalisten. »Mais le gouvernement, qui a pris peur de la France noire, a refusé l’épreuve de forces préférant lâcher le héros national sans combattre.«258 Angesichts der Kontroverse um den Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005, der aggressiven Rhetorik von Dieudonné und den Unruhen in den Vororten hatte die Ankündigung des Protests ausgereicht, um die Vertreter/-innen der Regierung davon abzuhalten, das Gedenken an Napoleon zu offen unterstützen. Und selbst die Fondation Napoléon hatte vor diesem Hintergrund verkünden lassen, dass »gedenken« nicht gleichbedeutend sein müsse mit »feiern«.259 Claude Ribbe verfügt über eine geschichtswissenschaftliche Ausbildung und ist Absolvent der Pariser Elitehochschule École Normale Supérieure. Das umstrittene Buch ist von ihm aber bewusst nicht als historische Studie konzipiert worden. Auch wenn der Autor es versteht, seinen Text mit Fußnoten und Quellenzitaten zu untermauern, ist »Le crime de Napoléon« in erster Linie ein polemischer Frontalangriff auf eine Symbolfigur der Erinnerung. Ein Journalist der Libération sprach in diesem Zusammenhang von »coups de colère vengeurs dans le consensus mémoriel«.260 Durch Selektion und Stil legt der Verfasser es darauf an, sein Publikum zu schockieren. An drastischen Gewaltschilderungen hat er daher nicht gespart. So berichtet er den Leserinnen und Lesern unter anderem von speziell trainierten Hunden, welche die französische Armee aus Kuba nach Guadeloupe einführte, um sie dort auf Aufständische zu hetzen. Bei diesen Menschen handelte es sich spätestens seit dem Emanzipationsdekret von 1794 um Bürger/-innen der französischen Republik; im Rahmen des napoleonischen Feldzugs wurden sie nun aber zur Beute der bewusst ausgehungerten Tiere.261 Massenhinrichtungen, Ertränkungen und Deportationen gehörten ebenso zum Vorgehen der französischen Truppen in der Karibik. Kombattantenstatus, Alter oder Geschlecht spielten dabei eine untergeordnete Rolle im Vergleich zum Kriterium der Hautfarbe der Opfer. Die politische Entscheidung zur Wiedereinführung der Sklaverei begründet der Text folgendermaßen: »Napoléon rêve d’un empire français esclavagiste [...]. Tout démontre que l’esclavage est capital dans la pensée économique et géopolitique de Napoléon.«262 Argumente, welche die persönliche Verantwortung des Kaisers relativieren könnten, werden folgerichtig verworfen. Dies betrifft etwa die Rolle des Einflusses von Josephine de Beauharnais, die einer reichen Plantagenbesitzerfamilie entstammte. Ribbe wendet dagegen ein, dass es sich bei Bonaparte kaum um einen Mann gehandelt habe, der sich in seinen Entscheidungen von den Wünschen seiner
257 Hopquin, Benoît: »L’UMP refuse d’abroger un article de loi sur ›le rôle positif‹ de la colonisation«, in: Le Monde vom 30.11.2005. Zum Ablauf der Demonstration vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 258 f. 258 Ebd., S. 261. 259 Hopquin, Benoît: »L’UMP refuse d’abroger un article de loi sur ›le rôle positif‹ de la colonisation«, in: Le Monde vom 30.11.2005. 260 Poncet, Emmanuel: »Le retour des années noires (Portrait Claude Ribbe)«, in: Libération vom 14.12.2005. 261 Vgl. C. Ribbe: Crime, S. 150 ff. 262 Ebd., S. 45.
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Frau hätte leiten lassen.263 Die französischen Bürger/-innen seien im Übrigen überzeugte Befürworter/-innen der 1794 beschlossenen Sklavenemanzipation gewesen.264 Auch die brutalen Mittel, die das Militär im Rahmen der Kampagne einsetzte, führt der Autor primär auf die expliziten Befehle »von oben« und nicht auf ein Fehlverhalten der ausführenden Kommandanten und Soldaten oder die konkreten Umstände vor Ort zurück. 265 Angesichts einer zunehmend rationalisierten Grausamkeit, mit denen die Kolonien dem politischen Willen Napoleons und dem Regime der Sklaverei wieder unterworfen werden sollten, kommt Ribbe insbesondere im Hinblick auf das Vorgehen gegen die Revolte von Saint-Domingue zu dem Schluss: »[L]e but est clairement exterminatoire.«266 Er begründet dies mit der zeitgenössischen Annahme, dass die auf den Inseln gegen die Kehrtwende der französischen Politik Rebellierenden sich der Sklaverei unter keinen Umständen wieder unterwerfen würden, so dass dieser Teil der Bevölkerung durch neu aus Afrika zu importierende Sklavinnen und Sklaven ersetzt werden müsse. Hier trifft sich seine Interpretation mit der von C.L.R. James oder auch David Brion Davis. Bonaparte, so Ribbe weiter, sei der erste Herrscher der Geschichte gewesen, der sich die Frage gestellt habe, mit welchen Mitteln bei möglichst geringen Kosten in kürzester Zeit eine Höchstzahl von Menschen getötet werden könne.267 Der Autor versuchte also nicht nur, den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit herauszuarbeiten, wie die Loi Taubira ihn bereits offiziell anerkannte, sondern zielte auf die Beschreibung eines Völkermords ab. So etabliert der Text des Buches durchweg Parallelen zu Deutungslinien, die für die Geschichte und Erinnerung der Shoah eine zentrale Rolle spielen. Dabei bediente sich der Verfasser auch eines entsprechenden Vokabulars und arbeitete mit Begriffen wie dem des Konzentrationslagers. Als Napoleons Ziel nennt er eine »Endlösung« (»solution finale«) des Problems der aufständischen Sklaven.268 Außerdem beschreibt Ribbe die Tötung von Menschen, die in Schiffsladeräume gepfercht wurden, in denen man ein Rattengift verbrannte269, als ein karibisches Äquivalent zu den deutschen Gaskammern. Und auch den Geist der so genannten Nürnberger Gesetze findet er in der napoleonischen Politik wieder, wobei er sich bis zu der Aussage vorwagt: »Sans le précédent de Napoléon, pas de lois de Nuremberg.«270 Grundlage dieser Behauptung ist die zeitgenössische französische Gesetzgebung, die Menschen mit dunkler Hautfarbe aus der Armee ausschloss, ihnen die Einreise in das Hexagon verbot und ihre Heirat mit »weißen« Französinnen bzw. Franzosen untersagte. Ein Kondensat der Argumentation wird dem Leser bereits auf dem Buchumschlag präsentiert: »Plus d’un million de personnes vouées à la mort selon des critères ›raciaux‹, un génocide perpétré en utilisant le gaz […] deux cent cinquante mille citoyens enchaînés et mis en esclavage […], des camps de triage et de concentration, des ›lois raciales‹. Cent quarante ans avant la 263 264 265 266 267 268 269 270
Ebd., S. 43 ff. Ebd., S. 86 ff. Ebd., S. 99. Ebd., S. 135. Ebd., S. 25. Ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 139. Ebd.
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Shoah, un dictateur, dans l’espoir de devenir le maître du monde, n’hésite pas à écraser sous sa botte une partie de l’humanité.«271
Ribbe setzte gerade die Aspekte der napoleonischen Politik in eine reißerische Szene, die in Frankreich in der populären Erinnerungskultur, im Schulunterricht, in den Medien oder im öffentlichen Gedenken kaum eine Rolle spielten. Und er tat dies in einer Weise, welche die öffentliche Aufmerksamkeit nahezu zwangsläufig auf seine oft als »Pamphlet« bezeichnete Veröffentlichung lenken musste. Denn dem nationalistisch aufgeladenen Bild des erfolgreichen Feldherrn stellte der Aktivist des Collectif DOM das eines rassistischen Diktators gegenüber, dessen Denken und Handeln Adolf Hitler als direktes Vorbild gedient hätten. Zwar erklärte der Autor von »Napoleons Verbrechen« ausdrücklich, er setze Napoleon nicht mit Hitler gleich.272 Keineswegs zufällig ziert den Buchdeckel der Erstauflage allerdings ein Foto aus dem Jahr 1940, auf dem der Führer des nationalsozialistischen Deutschen Reichs dem französischen Kaiser am Grab seine Ehre erweist. Für die Veröffentlichung in englischer Übersetzung wurde die Botschaft mit einem zusätzlichen Untertitel herausgestrichen; das Buch heißt hier »Napoleon’s crimes. A blueprint for Hitler«.273 Um die Parallelisierung zum Führer der Nationalsozialisten auf persönlicher Ebene abzurunden, vergisst Claude Ribbe weiterhin nicht, auch Napoleons Antisemitismus anzuprangern.274 Als wäre dies für sich genommen nicht schon ein fataler Schlag gegen den historischen Helden von Dominique de Villepin und zahlreicher Landsleute, ergänzt der Autor weitere Kritikpunkte von der Agenda der political correctness: In den Augen des Schriftstellers disqualifiziert sich Bonaparte erinnerungskulturell zudem durch Frauenfeindlichkeit und Homophobie.275 Zwar lassen sich die nach heutigen Wertmaßstäben rassistischen Einstellungen von Napoleon Bonaparte (und vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen) letztlich nicht bestreiten. Ebenso belegbar ist die Bewunderung, die einige führende Nationalsozialisten, unter ihnen Adolf Hitler, für den selbsternannten Kaiser und militärischen Eroberer hegten. Angesichts der überdehnten Argumentationslinie ließen die empörten Reaktionen der französischen Öffentlichkeit allerdings nicht auf sich warten – Vergleiche des Autors mit dem enfant terrible der Erinnerungsdebatte inbegriffen.276 »Après Dieudonné, ou Tariq Ramadan, il n’en faut pas plus pour que l’ancien enseignant devienne le dernier punching-ball très volontaire des rings médiatiques«277 – und das obwohl es sich bei dem Autor nach Auffassung seines Verlegers Guy Birenbaum (Éditions Privé) um eine Art »Anti-Dieudonné« handelte, dessen Perspektive historische
271 272 273 274
Ebd., Umschlagtext. C. Ribbe: Crime, S. 55 f. Erschienen 2008 bei Oneworld Publications. C. Ribbe: Crime, S. 55 f.; vgl. auch Ribbe, Claude: »A l’Esclave inconnu. S’émouvoir du soleil d’Austerlitz, c’est ne rien comprendre à ce qui se passe en France«, in: Le Monde vom 24.12.2005. 275 C. Ribbe: Crime, Umschlagtext. 276 Vgl. ebd. 277 Poncet, Emmanuelle: »Le retour des années noires (Portrait Claude Ribbe)«, in: Libération vom 14.12.2005.
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Opfergruppen verbinden sollte, anstatt sie zu spalten.278 Mit seiner Publikation zog Ribbe auch die ideologische und moralische Basis einer französischen Erinnerungskultur in Zweifel, die Napoleon noch immer einen Ehrenplatz zuwies. Er warf damit eine Frage auf, die in ähnlicher Art tatsächlich von Dieudonné hätte gestellt werden können: »Comment les exactions de ce despote […] ont elles pu, jusqu’à présent, rester ignorées du grand public?«279 Der enthaltene Vorwurf deutete auch in diesem Fall auf Gegenwartsthemen wie das der Diskriminierung und Marginalisierung von Französinnen und Franzosen aus den DOM hin und rührte an entsprechende Ressentiments. Dieudonné stellte jedoch zugleich die aktuelle Praxis des Andenkens an die Opfer des Holocaust in Frage. Claude Ribbe dagegen benutzte die Etablierung der historischen Parallele, um einen früheren französischen Machthaber und sein politisches Programm zu diskreditieren, das in der Karibik massenhaft Todesopfer gefordert hatte. Die meisten Historiker/-innen lehnten den Inhalt und auch die Intention von »Le crime de Napoléon« rundweg ab. Banalisierung des Holocaust lautete ein Vorwurf, Missachtung des historischen Kontexts ein anderer.280 Dass diese Darstellung Napoleons die französischen Minister/-innen dazu veranlasst hatte, der Gedenkfeier auf dem Place Vendôme fernzubleiben, war für die Befürworter/-innen des Austerlitz-Gedenkens dabei eine besondere Provokation. Für zusätzliche Verbitterung sorgte die Tatsache, dass Vertreter/-innen der französischen Republik erst im Juni 2005 an den britischen Gedenkfeierlichkeiten der Seeschlacht von Trafalgar – immerhin ein Sieg des Briten Admiral Nelson über das napoleonische Frankreich – teilgenommen hatten; sogar einen ihrer Flugzeugträger hatten sie zu diesem Anlass aufkreuzen lassen.281 »Avec cette commémoration, ou plutôt cette non-commémoration de la bataille d’Austerlitz, on touche le fond. Le fond de la honte et le fond du ridicule«282, erzürnte sich der renommierte Geschichtswissenschaftler Pierre Nora in einem Artikel für Le Monde, mit dem er sich auf das Feld der öffentlichen Polemik begab. Hier empfing ihn Claude Ribbe mit einem gewissen Heimvorteil, und der Gegenschlag in derselben Zeitung erfolgte prompt.283 So stritt man sich in Frankreich darüber, ob es angezeigt sei, Napoleons Überreste ihrer pompösen Ruhestätte im Invalidendom zu berauben und ein symbolisches »Grab des unbekannten Sklaven« anzulegen – während in anderen europäischen Staaten große Gedenkfeiern anlässlich der Jahrestage von Schlachten der napoleonischen Kriege stattfanden. 278 Ebd. 279 C. Ribbe: Crime, Umschlagtext. 280 Vgl. Poncet, Emmanuelle: »Le retour des années noires (Portrait Claude Ribbe)«, in: Libération vom 14.12.2005. 281 Vgl. Hopquin, Benoît: »L’UMP refuse d’abroger un article de loi sur ›le rôle positif‹ de la colonisation«, in: Le Monde vom 30.11.2005; Perrault, Guillaume: »Austerlitz. Villepin ›assume toute l’histoire de notre pays‹«, in: Le Figaro vom 3.12.2005; Merchet, Jean-Dominique: »Des bougies pour les défaites«, in: Libération, 31.12.2005. 282 Nora, Pierre: »Plaidoyer pour les ›indigènes‹ d’Austerlitz. Si l’Europe célèbre avec éclat l’histoire et l’héritage napoléoniens, y compris dans leurs ambiguïtés, la France et ses voix officielles se font toutes petites. Pour de mauvaises raisons«, in: Le Monde vom 13.12.2005. 283 Vgl. ebd. und Ribbe, Claude: »A l’Esclave inconnu. S’émouvoir du soleil d’Austerlitz, c’est ne rien comprendre à ce qui se passe en France«, in: Le Monde vom 24.12.2005.
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Es war im Winter 2005 nicht das erste Mal, dass sich Claude Ribbe in die französische Geschichtspolitik einmischte. Drei Jahre zuvor war anlässlich des 200. Geburtstags von Alexandre Dumas die Asche des berühmten Schriftstellers in den Pantheon überführt worden. Diese Gelegenheit hatte der Autor genutzt, um mit gewohnt provokanter Publizistik darauf hinzuweisen, dass es sich bei Dumas um den Enkel einer im heutigen Haiti ausgebeuteten Sklavin und den Sohn eines »illegalen Einwanderers« gehandelt habe.284 Am Place du Général Cartroux in Paris, wo sich Statuen von Dumas und seinem Vater, Alexandre Dumas dem Älteren, befinden, wurde 2009 unter anderem auf Ribbes Betreiben hin ein neues Denkmal errichtet.285 Ursprünglich hatte der Anfang des 20. Jahrhunderts eingerichtete Platz des Gedenkens auch eine Statue von Thomas Alexandre, dem ältesten der drei Dumas, umfasst, der nicht nur der Sohn einer Sklavin, sondern auch ein Befehlshaber der republikanischen Armee gewesen war. Während des Zweiten Weltkriegs war diese allerdings kurz vor dem Einzug Adolf Hitlers in Paris von der deutschen Besatzungsmacht aus dem Stadtbild entfernt worden.286 Anstelle eines dritten Standbildes befindet sich hier nun ein sehr viel deutlicherer Hinweis auf die Geschichte der Sklaverei: eine überdimensionale Kette mit Hand- oder Fußeisen. »Das Monument für General Dumas, erster farbiger General der französischen Republik, der unter Napoleon in Ungnade fiel, […] verwendet ebenso das Symbol der zerbrochenen Kette«287 wie das zwei Jahre ältere Nationaldenkmal im Jardin du Luxembourg. Der »Fall Pétré-Grenouilleau« Die Klage, die der Collectif DOM gegen den französischen Historiker Olivier PétréGrenouilleau (inzwischen Olivier Grenouilleau) anstrebte, hatte eine geschichtspolitisch besondere Qualität. Der »Fall Pétré-Grenouilleau« sorgte für großes Aufsehen, da er genau die Befürchtungen bestätigte, die viele Historiker/-innen angesichts der Aktivitäten des Gesetzgebers auf dem Feld der Geschichte ohnehin hegten. In Bezugnahme auf die Loi Taubira forderte das Kollektiv die wissenschaftliche Autorität eines Experten für die Geschichte des Sklavenhandels heraus; den Hintergrund bildete die laufende Debatte um die »Erinnerungsgesetze«.288 Der gegen Grenouilleau erhobene Vorwurf lautete auf Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Zwar wurden die Erfolgsaussichten der Klage gering eingeschätzt und der Collectif DOM brach die juristische Aktion schließlich ab. Dennoch machte der Angriff des Interes-
284 Vgl. Simon, Catherine: »Dumas prend sa revanche au Panthéon«, in: Le Monde vom 2.12.2005 und N.N.: »Une Marianne noire accueille Alexandre Dumas au Panthéon«, in: Le Monde vom 3.12.2002. 285 Vgl. N.N.: »Un symbole contre l’esclavage en plein Paris«, in: Le Parisien vom 18.2.2009. 286 C. Ribbe: Crime, S. 26 ff. 287 U. Schmieder: Orte des Erinnerns und Vergessens, S. 63. 288 Siehe unten, Die Debatte um die Erinnerungsgesetze.
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senverbandes Pétré-Grenouilleau zu einer Art »Märtyrer« für die Freiheit der Geschichtswissenschaft.289 Denn bei dem Vorstoß geriet ein Experte, der Jahre in die Erforschung des Sklavenhandels investiert hatte, aufgrund einer Äußerung ins Visier, die er als solcher zu diesem Thema gemacht hatte. Olivier Grenouilleau, inzwischen Professor am Centre d’histoire de SciencesPo in Paris, stammt aus Nantes, dem einst wichtigsten Hafen für französische Sklavenhandelsschiffe. Die Heimatstadt weckte frühzeitig das Interesse an diesem Teil der Geschichte. Seine Dissertation verfasste er über das Geld, das die Stadt und vor allem Teile ihrer Kaufmannschaft mit dem Menschenhandel erwirtschafteten.290 In den folgenden Jahren verfolgte der Wissenschaftler seine akademische Karriere zunächst vor allem an der Universität von Lorient in der Bretagne. Seinem Forschungsthema blieb er aber treu – einem Thema wohlgemerkt, das in Frankreich zu dieser Zeit nur wenige spezialisierte Historiker/-innen besonders interessierte.291 Pétré-Grenouilleau machte sich bald einen Namen auf dem Gebiet und veröffentlichte unter anderem 1998 in der auflagenstarken Lehrbuchserie »Que sais-je?« (PUF) ein Überblickswerk zum Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven.292 Ein begehrtes Stipendium des Institut Universitaire de France ermöglichte ihm weitere Studien, die Vermittlung Pierre Noras schließlich eine Veröffentlichung beim renommierten Verlag Gallimard. In seinem über 400 Seiten starken Werk »Les traites négrières. Essai d’histoire globale« analysiert und vergleicht Pétré-Grenouilleau den Handel mit Arbeitssklavinnen und -sklaven, wie er von Afrikanern, Arabern und Europäern über Jahrhunderte hinweg betrieben wurde.293 Das Buch erschien im September 2004, angesichts der sich verschärfenden Kontroverse um Dieudonné M’Bala M’Bala ein vergleichsweise günstiger Zeitpunkt für die Publikation einer wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Sklavenhandel. In den wichtigen französischen Tageszeitungen war »Les traites négrières« Gegenstand überwiegend positiver Besprechungen. 294 Im Juni des folgenden Jahres beschloss zudem die Jury des erst 2003 eingerichteten Geschichtspreises des Senats, die 289 So Baecque, Antoine de: »Il s’est fait traiter (Portrait Oliver Pétré-Grenouilleau)«, in: Libération vom 15.3.2006. 290 Pétré-Grenouilleau, Olivier: L’argent de la traite. Milieu négrier, capitalisme et développement. Un modèle, Paris: Aubier 1996. 291 In einem in der Libération veröffentlichten Porträt erklärte Pétré-Grenouilleau sogar: »Faire cette histoire, c’était même sacrifier sa carrière, puisque la plupart de contacts étaient à l’étranger.«, zit. n. Baecque, Antoine de: »Il s’est fait traiter (Portrait Oliver PétréGrenouilleau)«, in: Libération vom 15.3.2006. 292 Pétré-Grenouilleau, Olivier: La traite des noirs, Paris: Presses Universitaires de France 1997. 293 Pétré-Grenouilleau, Olivier: Les traites négrières. Essai d’histoire globale, Paris: Gallimard 2004. Dem Buch »Les traites négrières« angemessener wäre es, an dieser Stelle von den »Händeln« zu sprechen, wenn der Pluralbildung im Deutschen nicht anders besetzt wäre. 294 Le Monde prophezeite der Studie den Status eines Standardwerks (Arnaud, Philippe: »De l’esclavage«, in: Le Monde vom 23.11.2004), auch wenn an anderer Stelle bereits – ebenfalls zu Recht – vermutet wurde, das Buch könne irritieren, da es viele populäre Annahmen in Frage stelle, vgl. Grenier, Jean-Yves: »Le dossier noir de l’esclavage«, in: Libération vom 2.12.2004 und Saint-Victor, Jacques de: »La longue chaîne des négriers«, in: Le Figaro Littéraire vom 11.11.2004.
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Auszeichnung Olivier Pétré-Grenouilleau für seine Arbeit zu verleihen. Die Preisverleihung wurde von fünfzehn Historiker/-innen einstimmig beschlossen. Die Klage des Collectif DOM bezog sich nicht direkt auf die Veröffentlichung, sondern auf ein Interview, das der Geschichtswissenschaftler am 12. Juni 2005 anlässlich der anstehenden Ehrung dem Journal de Dimanche gegeben hatte.295 In diesem Interview wurde der Autor von »Les traites négrières« auf die von Dieudonné ausgelöste Debatte angesprochen. Dabei äußerte der gesprächsführende Journalist die bezeichnende Meinung, dass die ausgezeichnete Studie in diesem Zusammenhang »erhellend« (»éclairant«) wirken könnte.296 Pétré-Grenouilleau verwies zunächst darauf, dass ähnliche Kontroversen in den USA bereits in den 1970er Jahre Konjunktur gehabt hätten, der Streit um die Erinnerung also kein Einzelfall sei. Hierzu ergänzte er: »C’est aussi le problème de la loi Taubira qui considère la traite des Noirs par les Européens comme un ›crime contre l’humanité‹, incluant de ce fait une comparaison avec la Shoah.«297 Einen solchen Vergleich betrachtete der Historiker als unangebracht: »Les traites négrières ne sont pas des génocides. La traite n’avait pas pour but d’exterminer un peuple. L’esclave était un bien qui avait une valeur marchande, qu’on voulait faire travailler le plus possible. Le génocide des Juifs et la traite négrière sont des processus différents. Il n’y a pas d’échelle de Richter des souffrances.«298
Es war vor allem diese Passage, auf die der Collectif DOM seine Klage aufbaute. Patrick Karam, damals Vorsitzender des Verbandes, erläuterte diese mit der Behauptung, Olivier Pétré-Grenouilleau vermische absichtlich die Begriffe Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid299 und habe zudem die »intellektuelle Perversion«, das historische Leiden der Sklavinnen und Sklaven geringer zu veranschlagen als das der zur Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Jüdinnen und Juden.300 Diese Vorwürfe wurden im Internet aufgegriffen, wo der Wissenschaftler prompt zur Zielscheibe zahlreicher Schmähungen wurde. »Monsieur Pétré-Grenouilleau ment, bidonne, falsifie et insulte les Africains et les Antillais sous un tonnerre d’applaudissements hexagonaux«, erregte sich auch Claude Ribbe in einem öffentlichen Brief.301 Obwohl die eingereichte Klage vielen juristisch zweifelhaft erschien, wurde sie zunächst doch angenommen. 295 Vgl. auch G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 267. 296 Vgl. Bertrand, Romain: Mémoires d’empire. La controverse autour du »fait colonial«, Bellecombe-en Bauges: Editions du Croquant 2006, S. 170 f. 297 Diese Kritik an dem Gesetz, das ihren Namen trägt, wies Christiane Taubira mehrfach öffentlich zurück. Tatsächlich war sich die Abgeordnete aber der Gefahr des Vergleichs bewusst. Dies geht aus dem Exposé hervor, in dem sie der Nationalversammlung die Motivation des Gesetzesvorschlags darlegte. In ihm heißt es, »rien ne serait pire que de nourrir et laisser pourrir une sordide ›concurrence de victimes‹.«, Proposition de Loi No 1297, présentée par Christiane Taubira-Delannon. Vgl. auch G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 299. 298 Zit. n. R. Bertrand: Mémoires d’empire, S. 170 f. 299 Ebd., S. 172. 300 Das entsprechende Zitat von Claude Ribbe findet sich bei G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 298. 301 Claude Ribbe zit. n. ebd.
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Mit dem Buch »Les traites négrières« hatte der Anlass vordergründig wenig zu tun. Tatsächlich ging es dem Collectif DOM aber um mehr als die zitierte Passage aus dem Interview mit der Sonntagszeitung. Das zeigen andere Forderungen des Verbandes, der sich außerdem dafür aussprach, dem Historiker den Preis des Senats für sein Buch wieder abzuerkennen und ihn sogar seiner akademischen Ämter zu entheben.302 »La polémique ne s’est pas abattue par hasard sur Olivier Pétré-Grenouilleau [...] puisque son livre contient tout ce que la science a de plus insupportable pour une mémoire blessée«.303 Die Konfrontation der Geschichtsbilder folgte typischen Grundlinien der französischen Debatte und ist daher über den Einzelfall hinaus aufschlussreich. Denn Olivier Pétré-Grenouilleau erhob für sich den Anspruch, mit seiner Arbeit den transatlantischen Sklavenhandel aus dem Bereich der Ideologie, der Klischees und des Halbwissens in den der historisch fundierten Kenntnisse zu überführen. »[L’histoire] est déformée par les ravages du ›on dit‹ et du ›je crois‹, par les rancœurs et les tabous idéologiques, sans cesse reproduits par une sous-littérature n’ayant d’historique que les apparences. […] Mais que sont des souvenirs ou des mémoires sans une histoire préalablement et solidement définie dans ses contours? Rien d’autre qu’un amas d’idées confuses susceptibles de donner lieu à tous les amalgames, à toutes les compromissions, à toutes les erreurs; un fatras de données livrées à la tyrannie des croyances.«304
Dem verbreiteten Irrglauben wollte der Autor das Korrektiv einer distanzierten, wissenschaftlichen Betrachtung gegenüberstellen. Zwar beruft er sich dabei auf den amerikanischen Historiker Herbert S. Klein, der sein 2010 erschienenes Überblickswerk zum transatlantischen Sklavenhandel mit einer ähnlichen Haltung vorlegte. Der anmaßende Tonfall ist aber symptomatisch für die Auseinandersetzung in Frankreich; wenn der Fall »Pétré-Grenouilleau« viel zur Verbreitung der Idee eines »Erinnerungskriegs« beigetragen hat, so scheint dieser nicht unbedingt einseitig erklärt worden zu sein. Die »histoire mémoire«, gegen die sich die so präsentierten Argumente richteten, liest sich im Groben wie folgt: Der Verkauf und die Versklavung von Afrikanerinnen und Afrikanern wurde in erster Linie und mit besonderer Skrupellosigkeit von Europäern betrieben, für die das Leben oder der Tod eines afrikanischen Menschen keine Bedeutung jenseits der ökonomischen hatte. Als Symbol dieser Unmenschlichkeit hat sich vor allem die middle passage als Erinnerungsort der transatlantischen Geschichte etabliert. Die Anzahl der auf europäischen Schiffen in die amerikanische Zwangsarbeit transportierten Personen wird dabei weitaus höher veranschlagt, als dies in der akademischen Diskussion der Regelfall ist. Entsprechend hoch wird auch die Zahl der direkten Todesopfer des Sklavenhandels eingeschätzt. Während Europa durch Sklavenhandel und Sklaverei enorme Profite angehäuft und damit seinen neuzeitlichen Fortschritt begründet hat, war Afrika der große Verlierer dieses Geschäfts, wirtschaftlich, aber auch demographisch. Afrikanerinnen und Afrikaner waren zwar nicht bloß passive Objekte der Geschichte, aber doch die unterlegene, im Sinne europäischer Interessen ma-
302 Vgl. Baecque, Antoine de: »Un historien assigné en justice«, in: Libération vom 21.12.2005; G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 298. 303 Ebd., S. 311. 304 O. Pétré-Grenouilleau: Traites, S. 13 f.
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nipulierte und gewissenlos ausgebeutete Partei. Die Opfer-Täter-Konstellation ist absolut eindeutig: »[T]he Atlantic slave trade is reduced to a Manichean conflict between white and black people.«305 So erzählt, erfüllt die Geschichte den erinnerungskulturellen Zweck, das Leiden und die Unterdrückung als Identifikationsangebot zu betonen. »But it is not necessary to deny the catastrophic consequences of slavery or imperialism in order to point out that neither was based on a single binary division of white oppressors and black victims.«306 Tatsächlich gilt es als geschichtswissenschaftlich belegt, dass nur etwa 80% der Afrikanerinnen und Afrikaner, die an der westafrikanischen Küste ein Sklavenschiff betraten, lebendig auf der anderen Seite des Ozeans angekommen sind.307 Dass zwei Millionen Menschen ihr Grab im Atlantik fanden, ist ohne jede Übertreibung schockierend. Die Studie von Pétré-Grenouilleau liest sich darüber hinaus aber an vielen Stellen wie ein direktes Gegenbild der »histoire mémoire«, die er systematisch widerlegen will. Der Historiker nimmt zunächst einen makroperspektivischen Blick ein und vergleicht den transatlantischen Sklavenhandel mit den über die Sahara-Route und innerhalb des afrikanischen Kontinents betriebenen Formen des Menschenhandels. Das Buch ist explizit den Opfern des Sklavenhandels gewidmet308, im Folgenden ist jedoch in einem sehr ökonomisch-technischen Vokabular von der Produktion und Akquisition der Sklavinnen und Sklaven die Rede. Die leidenschaftslose Betrachtungsweise erregte die Emotionen derjenigen, für die die Geschichte des Sklavenhandels nicht aus Daten und Zahlen, sondern vor allem aus einer historisch beispiellosen Leidenserfahrung besteht. 309 Schwer akzeptabel für die geschichtspolitisch aktiven descendants d’esclaves war zudem die Tatsache, dass in »Les traites négrières« der Transatlantikhandel als Teil einer größeren Geschichte dargestellt wird, in der er weder im Zentrum steht noch prinzipiell einzigartig erscheint. Aufgrund des ausgedehnten Zeitraums und einer teilweise sehr ungünstigen Quellenlage ist die Zahl der afrikanischen Menschen, die Opfer des Sklavenhandels geworden sind, schwer zu bestimmen.310 Dies gesteht der Autor offen ein. Mit ca. 11 Millionen nennt er für den Transatlantikhandel eine Zahl, die in dieser Größenordnung, bei einer leichten Tendenz nach oben, in der Fachwelt weitgehend konsensfähig ist. Die Anzahl der über die Sahara in den arabischen Raum gebrachten Afrikanerinnen und Afrikaner schätzt Olivier PétréGrenouilleau auf etwa 17 Millionen, die Zahl der Menschen, die in Afrika als Sklavinnen und Sklaven leben mussten, auf ungefähr 14 Millionen.311 Doch nicht nur die angeführten Zahlen widersprechen dem herausgehobenen Platz, den der transatlantischen Sklavenhandel in der Erinnerungskultur vieler Menschen einnimmt, die sich aufgrund einer persönlichen Genealogie mit den Versklavten verbunden und zudem als Opfer fortwährender Diskriminierung fühlen. Pétré-Grenouilleau 305 306 307 308 309
K. Myers: Struggles for a Past, S. 192. Ebd. Speitkamp, Winfried: Kleine Geschichte Afrikas, Stuttgart: Reclam 2007, S. 109. O. Pétré-Grenouilleau: Traites, S. 13. Die lapidaren Formulierungen Pétré-Grenouilleaus stießen auch bei einigen Historikerinnen und Historikern auf Kritik, vgl. R. Bertrand: Mémoires d’empire, S. 168, Anm. 93. 310 Zur Bedeutung der Diskussionen um die genaue Zahl der Opfer vgl. F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 81 f. 311 O. Pétré-Grenouilleau: Traites, S. 148, 164 f., 186.
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relativiert darüber hinaus die Vorstellung, nach der die Sklaverei in Afrika und im arabischen Raum vergleichsweise humaner gewesen sei als auf den europäischen Plantagen und die Transportroute durch die Wüste weniger verlustreich.312 Auch der von Eric Williams aufgestellten These zur Profitabilität des Sklavenhandels begegnet er äußerst kritisch. Die Gewinne in diesem Geschäft seien keinesfalls herausragend gewesen und jedenfalls nicht hoch genug, um die Basis für den europäischen Industrialisierungsprozess zu legen. 313 Und für viele Afrikaner, die als gleichberechtigte Handelspartner agiert hätten, sei der Austausch wirtschaftlich betrachtet ebenfalls gewinnbringend gewesen.314 Der Autor bezeichnet »Afrika« als »acteur à part entière de la traite«315 – eine Formulierung, die angesichts der Tatsache, dass es ausschließlich Afrikanerinnen und Afrikaner waren, die in diesem Zusammenhang zu Gewaltopfern wurden, zumindest als grob generalisierend bis fahrlässig bezeichnet werden muss. Der gleiche Einwand lässt sich gegen die Kapitelüberschrift »L’Afrique noire impose ses règles« erheben.316 Schließlich weist der Text explizit darauf hin, dass der größte Hafen für Sklavenschiffe weder Liverpool noch Nantes, sondern Rio de Janeiro war, und kaum 10% dieses Handels von Frankreich ausging – dem einzigen Land, das den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt hat.317 Für Fachleute war ein Großteil der in »Les traites négrières« präsentierten Erkenntnisse nicht neu. Der Beitrag zur Forschung lag vor allem in der Zusammenführung von Informationen und der komparativen Synthese. Claude Ribbe bezichtigte Olivier Pétré-Grenouilleau auf der Internetseite des Collectif DOM dennoch, Zahlen zu fälschen und die Bedeutung des Transatlantikhandels auf ungerechtfertigte Weise zu relativieren, der – »wie man wisse« – keinesfalls mit der innerafrikanischen Sklaverei oder dem arabischen Transsaharahandel vergleichbar sei.318 Im Verhältnis zu anderen Vorwürfen gegen den Historiker, die vor allem im Internet kursierten, zählten diese noch zu den eher harmlosen. Die meisten Journalistinnen und Journalisten ergriffen in der darauffolgenden Debatte dagegen Partei für den Autor von »Les traites négrières« und vertrauten auf die Selbstkontrolle der Wissenschaft. Auch bei französischen Historikerinnen und Historikern stieß die Publikation verbreitet auf Anerkennung, die Reaktionen waren aber durchaus gespalten. Dieser Aspekt ging in der öffentlichen Auseinandersetzung weitgehend verloren, nicht zuletzt deshalb, weil sich auch die Kritiker/-innen geschlossen gegen den Versuch der juristischen Anklage stellten und sich hieran der Streit um die »Erinnerungsgesetze« anschloss. In einem Artikel, der ursprünglich in der von der Ligue des Droits de l’Homme (LDH) herausgegebenen Zeitschrift »Hommes et Libertés« erschien, zollte Marcel Dorigny seinem Fachkollegen zunächst Anerkennung als »spécialiste connu et reconnu de l’histoire de la traite«.319 Im Folgenden erhob er als Historiker und Mitglied des 312 313 314 315 316 317 318 319
Vgl. ebd., S. 113 ff., 144 f. Vgl. ebd., S. 317 ff. Vgl. ebd., S. 74 ff. Kapitelüberschrift, ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Ebd., S. 128, 166, 175, 185. Vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et Français, S. 298. Dorigny, Marcel: Traites négrières et esclavage. Les enjeux d’un livre récent, Auszug veröffentlicht auf der Webseite der Initiative mit dem zur Debatte passenden Namen Les mots
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CPME aber grundlegende Einwände gegen die Struktur der zur Diskussion stehenden Veröffentlichung. In ihr sah er vor allem eine für das französische Publikum wertvolle Übersetzung der englischsprachigen Forschungsliteratur. »Mais au-delà de cet apport essentiel, force est de constater que ce livre, qui se veut œuvre de science historique, se place dans une logique parfaitement limpide.« Die Argumentation basiere vor allem auf der »volonté implicite, mais constante, de ›dédouaner‹ l’Europe de l’époque moderne (XVIe-début XIXe siècles) de son rôle moteur dans le commerce négrier, en tant que maîtresse des circuits maritimes et surtout des débouchés coloniaux demandeurs de main-d’œuvre servile.« Diesem Ziel diene die Gegenüberstellung der Zahlen zum westlichen und zum östlichen Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven. Dabei erstrecke sich der Transsaharahandel über einen deutlich längeren Zeitraum und sei aufgrund der schlechten Überlieferungslage in seinem Ausmaß besonders schwer zu beziffern. Derselbe Hintergrund gelte erkennbar für die von Pétré-Grenouilleau präsentierte Dekonstruktion der »Williams-These«. »L’arrière plan-idéologique de telles démonstrations est tout aussi explicite, mais à finalité diamétralement opposée, que la thèse combattue qui voulait voir dans la traite le moteur principal, sinon exclusif, de l’enrichissement de l’Occident aux dépens de l’Afrique.«320 Christine Chivallon ging in ihrer Argumentation von der »architecture violente« der postemanzipatorischen Gesellschaften aus, die den transatlantischen Sklavenhandel historisch in der Tat einschneidender erscheinen lässt, als dies anhand von verschachtelten europäischen Wirtschaftsdaten quantifizierbar ist. »Le racisme anti-noir, dans sa version moderne, est inédit car il attribue définitivement, via le recours aux théories biologiques, l’appartenance à des mondes sociaux séparés et hiérarchisés. L’Europe, par sa pratique négrière, n’aurait-elle donc rien ajouté aux traites qui ont précédé la sienne?«321 In derselben, auf den Seiten der Revue d’histoire moderne et contemporaine geführten Debatte konstatierte Bernard Vincent sehr zu Recht: »Les désaccords proviennent partiellement d’approches différentes des traites et des esclavages.«322 Chivallon vertrat jedoch die Ansicht, dass die Sinnhaftigkeit einer Betrachtung, die den Sklavenhandel vom Regime der Sklaverei isoliert, höchst zweifelhaft sei.
sont importants (LMSI), 24.9.2005, http://lmsi.net/Traites-negrieres-et-esclavage-les, alle folgenden Zitate des Absatzes finden sich ebd. 320 Vgl. auch Savigneau, Josyane: »›L’esclavage, une histoire qui concerne la nation entière‹.« (Interview mit Marcel Dorigny), in: Le Monde vom 24.4.2009. Ähnlich, aber noch deutlicher fällt das Urteil von Ulrike Schmieder und Michael Zeuske aus, die zu Buch und Debatte schrieben: »Pétré-Grenouilleau hatte sich mit seinem preisgekrönten, aber schon vom Titel her problematischen Buch […], das neben einer sehr oberflächlichen Behandlung von östlichem, westlichen und internen Sklavenhandel – mit dem Ziel, europäische Verantwortung für und Nutzen aus dem transatlantischen Sklavenhandel zu minimieren – auf dünner, dazu nicht ordentlich aufgelisteter Sekundärliteraturbasis, etliche handwerkliche Fehler enthält, angreifbar gemacht.«, U. Schmieder/M. Zeuske: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, S. 2. 321 Vgl. Chivallon, Christine/Vincent, Bernard/Roche, Daniel: »Sur la relecture de l’histoire de la traite négrière. Débat«, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 52/5 (2005), S. 46-58. 322 Ebd., S. 54.
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Diese Auffassung ist berechtigt, dennoch kann der Zuschnitt des Forschungsgegenstands dem Wissenschaftler nicht grundsätzlich zum Vorwurf gemacht werden. Dass Olivier Pétré-Grenouilleau der Meinung war, die historischen Ursprünge der Mythen, zu deren Dekonstruktion er antrat, völlig außer Acht lassen und mit Zahlenaufstellungen von der Hand weisen zu können, deutet dagegen auf eine folgenreiche Begrenzung seiner Perspektive hin. Denn die Publikation, so Marcel Dorigny, »s’inscrit dans le vaste débat, national et international, qui tend à replacer la traite négrière et l’esclavage dans la ›mémoire collective‹, avec toutes les dérives plus ou moins implicites dont est riche de potentialités ce sujet brûlant.«323 Zu Beginn des Jahres 2006 zog der Collectif DOM seine Klage schließlich zurück. Als Begründung nannte Patrick Karam die breite Mobilisierung in den Medien, der Politik und der Fachwelt, die es dem Verband nicht mehr erlaubt habe, Gehör für seine Argumente zu finden; dies habe am Ende dessen Glaubwürdigkeit gefährdet. Im Übrigen habe der Collectif DOM sein Ziel erreicht: Nach der großen öffentlichen Debatte könne niemand mehr die Loi Taubira in Frage stellen, der Bestand des Gesetzes sei damit gesichert.324 Dieses Argument für den Rückzug wirkt freilich konstruiert angesichts der Tatsache, dass es die Offensive gegen Pétré-Grenouilleau war, die den gewichtigsten Angriff auf den Rechtstext auslöste. Sie löste einen regelrechten Schock in der Zunft der akademischen Geschichtswissenschaft aus, der lange nachwirkte. »[T]he emergence of social actors demanding that their history be taken into account in the name of the memory of slavery (but also in recognition of colonization) has been brutal in France and has caused one of the biggest crises since World War II among professional historians«, schreibt Myriam Cottias, vormals Vorsitzende des CPMHE, rückblickend in einem 2016 publizierten Text.325 Neben der populären Erinnerung und der Geschichtspolitik schien nun auch die vermeintlich objektive und universelle Geschichte bzw. die ihr verpflichtete Wissenschaft zum Schlachtfeld der guerre de mémoires zu werden. Neben dem Widerstand gegen den Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Mai 2005 war es der Protest gegen diesen Vorstoß, der eine umfassende Mobilisierung von französischen Historiker/-innen herbeiführte, die sich entsprechend aktiv auch in folgende geschichtspolitische Kontroversen einmischten. Die Kampagne gegen Olivier Pétré-Grenouilleau lässt sich daher nicht unabhängig von der zeitgleich stattfindenden Debatte um die »lois mémorielles« betrachten.
323 M. Dorigny: Traites négrières et esclavage. Gemeinsam mit einem Kollegen veröffentlichte Dorigny im Jahr 2009 einen Sammelband, der aus einer in Dakar und Gorée veranstalteten Konferenz der Association de descendants d’esclaves noirs et de leurs amis hervorging. Man entschied sich für den programmatischen Titel »Les traites négrières coloniales. Histoire d’un crime«. Vgl. Dorigny, Marcel/Zins, Max-Jean (Hg.): Les traites négrières coloniales. Histoire d’un crime, Paris: Cercle d’Art 2009. Um der Vermutung eines »schwarz-weißen« Erinnerungskonflikt vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass weder Zins noch Dorigny zu den descendants d’esclaves zählen. 324 Montvalon, Jean-Baptiste de: »La ruée vers les voix d’outre-mer«, in: Le Monde vom 4.2.2006; G. Faes/S.Smith: Noir et français, S. 268. 325 M. Cottias: ›Forgetting‹ Slavery, S. 315.
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Die Debatte um die Erinnerungsgesetze Am 12. Dezember 2005 veröffentlichten 19 Akademikerinnen und Akademiker eine Petition mit dem Titel »Liberté pour l’histoire!«, die unter anderem die Abschaffung der Loi Taubira forderte.326 Der Aufruf stellte eine zentrale Initiative im Streit um die so genannten »Erinnerungsgesetze« dar und erregte nicht zuletzt deshalb so viel Aufsehen, weil er von einigen der renommiertesten Geschichtswissenschaftler/-innen des Landes unterstützt wurde.327 Zentraler Auslöser für die Initiative war der Streit um das Gesetz vom 23. Februar 2005 »zur Anerkennung der Heimkehrer durch die Nation«, seltener Loi Mekachera genannt. Unter politischen Beschuss gerieten in diesem Zusammenhang jedoch auch die Loi Taubira und weitere französische Gesetze, die sich auf den Umgang mit der nationalen Geschichte bezogen.328 Die am 23. Februar von der Parlamentsmehrheit verabschiedeten Bestimmungen sollten langfristige Folgen des Algerienkriegs regeln und die Bereitstellung entsprechender Finanzmittel zur Unterstützung der seinerzeit Vertriebenen bzw. Geflohenen und ihrer Familien garantieren. In dieser Intention war das Gesetz relativ unumstritten. Für Furore sorgte allerdings der Inhalt des bald nach seiner Formulierung und Verabschiedung berüchtigten Artikels 4. Dieser sollte unter anderem die französische Kolonialisierung Nordafrikas als ein lobenswertes Kapitel der Nationalgeschichte festschreiben und zielte hierbei insbesondere auf den Schulunterricht ab. In seiner vollen Länge lautete er: »Les programmes de recherche universitaire accordent à l’histoire de la présence française outremer, notamment en Afrique du Nord, la place qu’elle mérite. Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l’histoire et aux sacrifices des combattants de l’armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit. La coopération permettant la mise en relation des sources orales et écrites disponibles en France et à l’étranger est encouragée.«329
326 In der Libération erschien der Aufruf am 13. Dezember, in Le Monde einen Tag darauf. 327 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner: Jean-Pierre Azéma, Elisabeth Badinter, JeanJacques Becker, Françoise Chandernagor, Alain Decaux, Marc Ferro, Jacques Julliard, Jean Leclant, Pierre Milza, Pierre Nora, Mona Ozouf, Jean-Claude Perrot, Antoine Prost, René Rémond, Maurice Vaïsse, Jean-Pierre Vernant, Paul Veyne, Pierre Vidal-Naquet, Michel Winock. 328 Zur Diskussion um die Erinnerungsgesetze, auf die sich auch die folgende Zusammenfassung stützt, vgl. v.a. Rémond, René: Quand l’État se mêle de l’Histoire (Entretien avec François Azouvi), Paris: Stock 2006; Liauzu, Claude/Manceron, Gilles (Hg.), La colonisation, la loi et l’histoire, Paris: Syllepse 2006; J. Ahearne: Government through Culture, S. 97 ff.; R. Bertrand: Mémoires d’empire. Auf Deutsch: Ebert, Alice: »Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit – Die Debatten und Kontroversen um das ›Kolonialismusgesetz‹ von 2005«, in: Dietmar Hüser (Hg.): Frankreichs Empire schlägt zurück. Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert, in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 189216. 329 Loi n° 2005-158 du 23 février 2005.
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Das in der zweiten Zeile formulierte explizite Werturteil über die »positive Rolle« des französischen Kolonialismus dominierte später die öffentliche Debatte derart, dass Einwände gegen andere Teile des Gesetzes, die bis heute in Kraft oder bereits umgesetzt sind, allenfalls eine Nebenrolle in der Diskussion spielten. Nicht zuletzt bei Historikerinnen und Historikern stieß aber auch der Artikel 3 auf Widerspruch, der die Schaffung einer staatlich unterstützten Stiftung zum Andenken an den Algerienkrieg und die Kämpfe in Tunesien und Marokko vorsah.330 Eine formal ähnliche Einrichtung, die das Andenken an die Shoah fördern sollte und damit neben die 1990 gegründete Fondation pour la mémoire de la déportation trat, war fünf Jahre zuvor als eine Folge der im Rahmen »Mission Mattéoli« geleisteten Aufarbeitung ins Leben gerufen worden. Irritation rief auch die Aussage des ersten Artikels hervor, der den geschichtspolitischen Grundgedanken des eigentlich vergangenheitspolitischen Gesetzes formuliert.331 In ihm wird den Frauen und Männern, die in Übersee zu dem dort von Frankreich geleisteten »Werk« beigetragen haben, die Anerkennung der französischen Nation ausgesprochen, namentlich auch für ihr »Leid« und ihre »Opfer«. In den ersten Wochen nach seiner Verabschiedung erregte das Gesetz vom 23. Februar 2005 keine besondere Aufmerksamkeit. Ein entscheidender Anstoß zur im Folgenden rapide voranschreitenden Mobilisierung ging von dem inzwischen verstorbenen Historiker der Universität Paris VII Claude Liauzu aus. Selbst in Marokko aufgewachsen, pflegte dieser als Spezialist für die Kolonialgeschichte Frankreichs sowie als politischer Aktivist enge Kontakte zu den drei Kernstaaten des Maghreb.332 Ende März veröffentlichte Liauzu gemeinsam mit fünf Fachkolleginnen und -kollegen einen Appell in der Zeitung Le Monde, der zur umgehenden Abschaffung des Gesetzes aufrief.333 Zu den Unterzeichnenden gehörte auch Frédéric Régent, der zu dieser Zeit an der Veröffentlichung eines ersten großen Überblickswerks zur Sklaverei in den französischen Kolonien arbeitete334 und der 2016 zum Vorsitzenden des offiziellen Regierungskomitees zur Erinnerung an diese Geschichte ernannt werden sollte. Aus der Initiative ging die Historikervereinigung Comité de vigilance face aux usages publics de 330 Vgl. Esclangon Morin, Valérie/Nadiras, François/Thénault, Sylvie: Les origines et la génèse d’une loi scélérate, in: Claude Liauzu/Gilles Manceron (Hg.), La colonisation, la loi et l’histoire, Paris 2006, S. 23-58; vgl. Coroller, Catherine: »Bien, mais peut encore mieux faire. Historiens et associations demandent l’abrogation de la totalité de la loi«, in: Libération vom 27.1.2006. Auch Abgeordnete des PS kritisierten die geplante Stiftung, Perrault, Guillaume: »Colonisation. Le PS continue de polémiquer«, in: Le Figaro vom 11.1.2006. 331 Besonders der Verband Collectif martiniquais contre la loi de honte forderte explizit die Abschaffung des Artikels 1, ebd. 332 Van Eeckhout, Laetitia: »Disparitions. Claude Liauzu, professeur agrégé d’histoire«, in: Le Monde vom 31.5.2007. 333 »Colonisation: Non à l’enseignement d’une histoire officielle«. Unterzeichner: Claude Liauzu, Gilbert Meynier, Gérard Noiriel, Frédéric Régent, Trinh van Thao und Lucette Valensi. Die Begründung der Forderung bezog sich ausschließlich auf den Artikel 4, dieser sei eine Gefahr für die Meinungsfreiheit und verleugne einen Teil der historischen Wahrheit, namentlich die Massaker, die Sklaverei und den Rassismus in den französischen Kolonien. 334 Régent, Frédéric: La France et ses esclaves. De la colonisation aux abolitions (1620-1848), Paris: Grasset & Fasquelle 2007.
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l’histoire (CVUH) hervor, deren Mitglieder die französische Geschichtspolitik bis heute kritisch beobachten und kommentieren.335 In den folgenden Wochen schlossen sich zahlreiche Organisationen, unter anderem die LDH und die Vereinigung der französischen Geschichts- und Geographielehrer, der Forderung an.336 Zudem entrüstete sich der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika öffentlich über das Gesetz und das algerische Parlament verabschiedete eine entsprechende Resolution.337 Auf besonderen Protest stieß der Artikel 4 außerdem in den DOM. Dies bekam nicht zuletzt der amtierende Innenminister Nicolas Sarkozy als expliziter Befürworter des Textes zu spüren. Die zahlreichen Demonstrationen auf den französischen Antilleninseln brachten ihn dazu, eine für den Dezember 2005 vorgesehene Reise nach Martinique kurzfristig abzusagen. Der inzwischen verstorbene Dichter Aimé Césaire, eine politische und literarische Symbolfigur der Insel, hatte zuvor seine demonstrative Weigerung, den Minister zu empfangen, publik gemacht.338 Schließlich schloss sich auch der PS der Bewegung gegen den Artikel 4 an und brachte einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzes in die Nationalversammlung ein, der am 29. November 2005 diskutiert wurde.339 Nicht alle Sozialistinnen und Sozialisten befürworteten das Vorgehen340, das dafür von der kommunistischen Partei und Teilen der christdemokratischen Union pour la démocratie française (UDF) unterstützt wurde. Vor dem Hintergrund der Brände und Straßenschlachten in den Vorstädten führte die Nationalversammlung eine emotional aufgeladene Debatte. Die Mehrheit der anwesenden Delegierten stimmte am Ende für die Beibehaltung des Gesetzes in seiner bestehenden Form, ausschlaggebend war das geschlossene Votum der UMPAbgeordneten. Der Versuch, die Streichung des Artikels auf parlamentarischem Wege zu erreichen, scheiterte etwas später auch im Senat.341 Dies brachte die Mobilisierungskampagne allerdings nicht zum Stillstand, im Gegenteil, viele Kritikerinnen und Kritiker waren nun erst recht empört. Verschiedene Petitionen für die Abschaffung des
335 CVUH, http://cvuh.blogspot.de. 336 Vgl. v.a. Manceron, Gilles/Nadiras, François: »Les réactions à cette loi et la defense de l’autonomie de l’enseignement et de la recherche«, in: Claude Liauzu/Gilles Manceron (Hg.), La colonisation, la loi et l’histoire, Paris: Syllepse 2006, S. 59-88, hierzu S. 64 ff. 337 Vgl. Ait-Larbi, Arezki: »Bouteflika compare la colonisation française au nazisme lors des commémorations des massacres de Sétif«, in: Le Figaro vom 10.5.2005. Das Gesetz bezeichnete Bouteflika als »cécité mentale confinant au négationnisme et au révisionnisme«. 338 Vgl. hierzu neben der Berichterstattung der französischen Zeitungen am 7./8.12.2005 v.a. Nedelkovski, Eddy: »M. Sarkozy, les Antilles et une histoire à fleur de peau«, in: Le Monde vom 9.12.2005 und van Renterghem, Marion: »La mémoire blessée de la Martinique. Aimé Césaire a refusé de voir Nicolas Sarkozy«, in: Le Monde vom 16.12.2005. 339 Vgl. Assemblée nationale, 29.11.2005. Vgl. auch R. Bertrand: Mémoires d’empire, S. 93 ff. 340 Mehrere PS-Abgeordnete südfranzösischer Wahlkreise blieben der Sitzung bewusst fern, der damalige sozialistische Präsident des Regionalrates Languedoc-Roussillon, Georges Frêche, qualifizierte den Vorschlag seiner Partei als »amendement imbécile«, vgl. Belmont, Claude: »Georges Frêche et ›les imbéciles d’anticolonisateurs‹«, in: Le Figaro vom 9.12.2005. 341 O.P.: »La colonisation refait parler d’elle«, in: Le Figaro vom 23.12.2005.
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Gesetzesartikels, unter ihnen eine von den französischen Linksparteien gemeinsam initiierte342, erhielten Tausende Unterschriften aus dem In- und Ausland.343 Angesichts der insgesamt angespannten Lage brachte der Streit gegen Ende des Jahres die Regierung in zunehmende Bedrängnis. Am 9. Dezember 2005 intervenierte schließlich Staatspräsident Jacques Chirac, der sich zuvor nicht an dem öffentlichen Streit beteiligt hatte. Er verkündete: »Dans la République, il n’y a pas d’histoire officielle. La loi n’a pas à écrire l’histoire«344 und beauftragte den Vorsitzenden der Nationalversammlung mit der Leitung einer überparteilichen parlamentarischen Mission mit dem Ziel »d’évaluer l’action du Parlement dans le domaine de l’Histoire et de la mémoire«.345 Nach seinen Konsultationen sprach Jean-Louis Debré sich für eine Umformulierung des umstrittenen Artikels aus. Im Auftrag der Regierung nahm sich schließlich der Conseil constitutionnel der Loi Mekachera an, um die vor allem von Jacques Chirac gewünschte Ruhe in die geschichtspolitische Lage zu bringen. Der Rat deklassierte die umstrittene Zeile zur »positiven Rolle« des französischen Kolonialismus auf die Ebene des Verordnungsrechts. Am Willen der Parlamentsmehrheit vorbei konnte der Präsident sie nun per Dekret abschaffen – »un tour de passe-passe juridique«346, den er umgehend einsetzte. Im Gegensatz dazu ging die Loi Taubira schließlich unbeschädigt, wenn nicht sogar gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor. Ein erneuter Aufruf zur Abschaffung des Forschung und Lehre betreffenden zweiten Artikels, den vierzig Abgeordnete der Regierungspartei UMP wenige Tage vor dem ersten nationalen Gedenktag am 10. Mai 2006 veröffentlichten, blieb ebenfalls erfolglos.347 Mit der Petition »Liberté pour l’histoire!« wurde aus der Debatte um den Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 eine Debatte um die »lois mémorielles«, in der auch die Loi Taubira und weitere Gesetze in ihrem Inhalt hinterfragt sowie in ihrer Existenz in Frage gestellt wurden. Die Diskussion wandte sich damit auch dem grundsätzlichen Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Gesetzgebung zu. Denn die 19 Historiker/-innen erklärten kategorisch: »[I]l n’appartient ni au Parlement ni à l’autorité judiciaire de définir la vérité historique.«348 Wegen Verstoßes gegen dieses Prinzip forderten sie die Abschaffung von vier Gesetzen, die in der Diskussion bald unter dem Begriff »Erinnerungsgesetze« zusammengefasst wurden. Neben der Loi Taubira und 342 Dieser Appell wurde online veröffentlicht, vgl. auch Lévy, Myriam: »Quand la colonisation recrée l’union de la gauche«, in: Le Figaro vom 16.12.2005. 343 Vgl. G. Manceron/F. Nadiras: Réactions. 344 Zit. n. Guiral, Antoine: »Colonies. Chirac veut des missionnaires. Le Président confie une mission de réflexion à Jean-Louis Debré mais n’abroge pas la loi«, in: Libération vom 10.12.2005. 345 Montvalon, Jean-Baptiste de: »Colonisation. Les aléas d’un alinéa«, in: Le Monde vom 26.1.2006. 346 C. Coquery-Vidrovitch: Esclavage, colonisation, racisme, »postcolonialité«. »Tour de passe-passe« bedeutet soviel wie »Taschenspielertrick«. 347 Vgl. v.a. Perrault, Guillaume: »Quarante députés UMP contre un article de la ›loi Taubira‹«, in: Le Figaro vom 10.5.2006. 348 Zit. n. Azéma, Jean-Pierre u.a.: »Liberté pour l’histoire. Une pétition pour l’abrogation des articles de loi contraignant la recherche et l’enseignement de cette discipline«, in: Libération vom 13.12.2005.
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dem Gesetz vom 23. Februar 2005 handelt es sich um die Gesetze vom 13. Juli 1990 und vom 29. Januar 2001. Das erste, die so genannte Loi Gayssot, stellt die Leugnung des Holocausts unter Strafe. In dem zweiten erklärt die französische Republik ihre Anerkennung des an den Armeniern begangenen »Völkermords«. Diese Gesetze würden die Freiheit der Forschung beschränken, professionell arbeitende Wissenschaftler/-innen mit Strafverfolgung bedrohen und seien im Übrigen eines demokratischen Staates unwürdig, so der Text des in der Libération publizierten Aufrufs.349 Vor diesem Hintergrund waren für das Gesetz zur kolonialen Sklaverei nicht nur die Verbindungen problematisch, die zwischen ihm und den vorangehend beschriebenen Initiativen der geschichtspolitischen Vereine gezogen wurden, die im Lauf des Jahres 2005 (Loi Mekachera) so lautstark auf sich aufmerksam gemacht hatten. Auch die formalen Parallelen zwischen der Loi Taubira und dem in der Diskussion tonangebenden Gesetz vom 23. Februar gaben Anlass zur Kritik. Die jeweiligen Passagen, die sich auf Lehre und Forschung bezogen, waren so ähnlich formuliert, dass dem mehrere Jahre älteren Gesetz eine gewisse Vorbildfunktion schwer abzusprechen war. Beide Texte widmeten sich der französischen Kolonialvergangenheit, wenn auch unterschiedlichen Kapiteln und mit entgegengesetzten Stoßrichtungen des geschichtspolitischen Urteils. Nicht alle im Rahmen des Streits bezogenen Positionen lassen sich einem von zwei Lagern zuordnen, die auf der Befürwortung eines der beiden Gesetze basieren; nicht zuletzt einige Historiker/-innen bemühten sich um eine differenzierte Deutung jenseits der auch in Großbritannien deutlichen Neigung zur Pauschalbewertung einer »guten« oder »schlechten« Kolonialgeschichte. Die Loi Taubira und der Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 gaben allerdings zwei Pole vor, zwischen denen eine zentrale Frontlinie der Debatte verlief. Auf der einen Seite standen diejenigen, die in geschichtspolitischer Hinsicht eine konservative Haltung einnahmen, auf der anderen Seite diejenigen, die eine neue Bilanz der nationalen Vergangenheit unter Einbezug postkolonialer und emanzipatorischer Perspektiven forderten. In den folgenden Wochen erntete der Appell für die »Freiheit der Geschichte« Widerspruch von anderen renommierten Intellektuellen.350 Dabei fand besonders die Loi Gayssot viele engagierte Verteidiger/-innen, die hervorhoben, dass dieses Gesetz in keiner Weise die Freiheit der Forschung beeinträchtige; schließlich handele sich beim Holocaust und der genozidären Intention der nationalsozialistischen Politik um zweifelsfrei belegte historische Tatsachen. Auf diese Art von Argument beriefen sich auch Fürsprecher/-innen der Loi Taubira: Niemand könne bestreiten, dass es sich beim transatlantischen Sklavenhandel um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehandelt habe. Kritiker/-innen wandten dagegen ein, dass die Qualifikation in diesem Fall einen Anachronismus darstelle, weil der Tatbestand erst viel später juristisch definiert
349 Ebd. 350 Unter der Überschrift »Au nom d’une ›Liberté pour l’histoire‹, on ne peut pas mêler les événements historiques« erhob etwa der leitende Redakteur der Zeitschrift »Temps modernes« Einspruch, vgl. auch Lanzmann, Claude: »Au nom d’une ›Liberté pour l’histoire‹, on ne peut pas mêler les événements historiques«, in: Libération vom 10.1.2006. Lanzmann gehörte neben Serge Klarsfeld auch zu den insgesamt über dreißig Unterzeichnenden des Aufrufs »Ne melangeons pas tout«, der ab dem 20. Dezember 2005 zirkulierte, http://temps reel.nouvelobs.com/culture/20051220.OBS9491/ne-melangeons-pas-tout.html.
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wurde. Dem konnten Quellenzitate, welche die Sklaverei bereits zeitgenössisch als unmenschliche Praxis bezeichneten, und rechtsphilosophische Grundsätze entgegengehalten werden. »According to the principles of natural law, abolitionists described the emancipation of slaves as ›a great act of reparation of a crime of inhumanity‹, as well as settling ›France’s great debt to humanity.‹«351 Anders als der Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 gebe der Artikel 2 der Loi Taubira folglich kein Werturteil vor; die Formulierung »Les programmes scolaires et les programmes de recherche en histoire et en sciences humaines accorderont à la traite négrière et à l’esclavage la place conséquente qu’ils méritent« sei in dieser Hinsicht neutral. Gegner/-innen des Gesetzes wandten diesbezüglich ein, dass die Formulierung »la place conséquente« in einem Text, der den Sklavenhandel zunächst zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt, eben nicht neutral gelesen werden könne. Angesichts des gegen Pétré-Grenouilleau angestrebten Prozesses war der Hinweis darauf, dass abgesehen von der Loi Gayssot keines der in Frage stehenden Gesetze explizite Bestimmungen zur Strafverfolgung enthielt, in Bezug auf die Loi Taubira wenig überzeugend. Die Diskussionsteilnehmer/-innen, die sich für ihre Bewahrung einsetzten, konnten vor diesem Hintergrund lediglich versichern, dass eine rechtskräftige Verurteilung des Historikers auf der Basis des Gesetzes ausgeschlossen sei.352 Parallel zu der Intervention des Staatspräsidenten, betraute Nicolas Sarkozy, der zunehmend offener als Chiracs Rivale auftrat, in seiner Funktion als UMP-Vorsitzender den Rechtsanwalt Arno Klarsfeld mit der Ausarbeitung eines Berichts zum Thema »La Loi, l’histoire et le devoir de mémoire«.353 In den 1990er Jahren hatte der Sohn von Serge und Beate Klarsfeld den Verein Fils et filles des déportés juifs de France als Zivilpartei in den Prozessen gegen Paul Touvier und Maurice Papon vertreten.354 In seinem Text zu den »Erinnerungsgesetzen« verteidigte der Jurist die Loi Taubira gegen die erhobenen Einwände. Ein solcher Text müsse auch nicht alle historischen Formen der Sklaverei gleichermaßen verurteilen, vielmehr sei der Fokus auf die nationale Geschichte für ein nationales Gesetz angemessen. Der Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 werde dagegen zu Recht kritisiert, da er die Kolonialgeschichte auf verzerrende Weise einseitig darstelle. Der Bericht sprach sich ganz grundsätzlich für das Recht des Gesetzgebers aus, zur Interpretation der Geschichte Stellung zu beziehen: »L’histoire n’appartient pas aux historiens.«355 Ein zentrales Problem sah der
351 M. Cottias: ›Forgetting‹ Slavery, S. 303. 352 Vgl. z.B. Manceron, Gilles: »La loi. Régulateur ou acteur des guerres de mémoires?«, in: Pascal Blanchard/Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires. La France et son histoire, Paris: La Découverte 2010, S. 241-251, hier S. 247. 353 Auszüge sind nachzulesen in Klarsfeld, Arno: »L’histoire n’appartient pas aux historiens«, in: Le Monde vom 28.1.2006. 354 Der Vorwurf gegen die beiden Beamten der Vichy-Regierung, welche die deutsche Besatzungsmacht bei der Judenverfolgung in Frankreich unterstützt hatten, lautete auf (Mitwirkung an) Verbrechen gegen die Menschlichkeit; beide wurden rechtskräftig verurteilt. Vgl. F. Schneider: Atelier de la mémoire, S. 17 ff. Vgl. auch das Kapitel Sklaverei und Kolonialismus als Herausforderung der historischen Kultur. 355 Klarsfeld, Arno: »L’histoire n’appartient pas aux historiens«, in: Le Monde vom 27.1.2006.
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Verfasser in diesem Zusammenhang allerdings in den durch die Verfassung eingeschränkten Möglichkeiten des französischen Parlamentes, Resolutionen zu beschließen, um sich in weniger verbindlicher Form äußern zu können. Im Jahr 2008 erschien dann ein ausführlicher Bericht zu den »questions mémorielles«, der unter der Leitung des zu dieser Zeit amtierenden Vorsitzenden der Nationalversammlung Bernard Accoyer entstanden war. Auch er stellte die »Erinnerungsgesetze« in ihrer bestehenden Form und die auf ihrer Basis umgesetzten geschichtspolitischen Reformen nicht explizit in Frage.356 Der zeitgleich erschienene »Kaspi-Bericht« legte dagegen die Konfliktlinie noch einmal offen, die sich in einer Zeit, in der Geschichte als Heilmittel der nicht zuletzt vom neuen Präsidenten Sarkozy diagnostizierten »nationalen Identitätskrise« dienen sollte, eher vertiefte. In seiner Zuständigkeit für die nationalen Gedenkfeierlichkeiten hatte das Verteidigungsministerium ein Expertengremium unter dem Vorsitz des Historikers André Kaspi ins Leben gerufen. Dieses befasste sich mit der Frage einer grundlegenden Reform des nationalen Geschichtsgedenkens.357 Vor dem Hintergrund einer Vervielfachung der nationalen Gedenkveranstaltungen insbesondere in der Amtszeit von Jacques Chirac prüfte die Gruppe um den emeritierten Professor Möglichkeiten zu einer Straffung der Geschichtspolitik. Die regelmäßigen öffentlichen Gedenkzeremonien in Frankreich hatten sich zwischen 2000 und 2008 von sechs auf zwölf verdoppelt. Die meisten der neuen Gedenktage stehen in einem Bezug zur französischen Kolonialgeschichte. Im Hinblick auf die grundsätzliche Richtung vielsagend ist dabei der folgende Teil der Begründung der Mission: »Il n’est pas admissible que la nation cède aux intérêts communautaristes et que l’on multiplie les journées de repentance pour satisfaire un groupe de victimes.«358 Vor diesem Hintergrund schlugen die Empfehlungen einen ausdrücklich konservativen Ton an. Die zahlenmäßige Verdopplung der nationalen Gedenktage wurde als »inflation mémorielle«359 kritisiert. Ihr setzte das Gremium den Vorschlag einer drastischen Reduktion entgegen. »La commission […] préconise de réduire de douze à trois le nombre des journées de commémorations nationales […], tous trois fériés«.360 Die Auswahl blieb dabei nicht ohne ironische Spannung zur Aufgabe der Mission zur »Modernisierung« des öffentlichen Gedenkens: »Trois dates devraient faire l’objet d’une commémoration nationale: le 11 novembre pour commémorer les morts du passé et du présent, le 8 mai pour rappeler la victoire sur le nazisme et la barbarie, le 14 juillet qui exalte les valeurs de la Révolution française.«361 Andere Anlässe sollten nicht gänzlich aufgegeben, aber in ihrer Bedeutung reduziert werden. Zwar wurde die Empfehlung letztlich nicht umgesetzt. Der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums für die Belange der Veteranen nutzte den Augenblick jedoch, 356 Vgl. Accoyer, Bernard u.a.: Rapport d’information No 1262 sur les question mémorielles, November 2008, www.assemblee-nationale.fr/13/rap-info/i1262.asp. 357 Kaspi, André u.a.: Rapport de la Commission de réflexion sur la modernisation des commémorations publiques, November 2008, http://www.ladocumentationfrancaise.fr/rapp orts-publics/084000707. 358 Ebd., S. 46. 359 Ebd., S. 26. 360 Perrault, Guillaume: »Commémorations. Le rapport qui fait polémique«, in: Le Figaro vom 10.11.2008. 361 Kaspi: Rapport de réflexion, S. 9.
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um sich noch einen Schritt weiter vorzuwagen. Er spielte öffentlich mit dem Gedanken, das Gedenken an die Sklaverei vollständig zur Disposition zu stellen. In einem Interview mit Le Figaro schlug Jean-Marie Bockel am 12. Mai 2008 die Einrichtung eines nationalen »Memorial Day« zu Ehren der Republik und der Menschenrechte vor.362 Dieser sollte alle bestehenden Gedenktage ersetzen und jedes Jahr am 11. November abgehalten werden, an dem in Frankreich das Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert wird, das sich 2008 zum 90. Mal jährte. Bockel wies in diesem Zusammenhang auf die in den vorangegangenen Jahren neu etablierten Gedenkdaten und – zwei Tage nach dem Gedenktag an Sklaverei und Emanzipation – explizit auch auf den 10. Mai hin. Gegen eine solche Grundsatzreform zur Kondensierung des Gedenkens in einem einzigen Tag sprach sich nicht zuletzt auch die Kommission Kaspi aus: »Ce choix, une très grande majorité de Français n’en veulent pas. Tout simplement, parce qu’ils tiennent à implanter dans l’histoire, dans la chronologie l’acte de commémoration et qu’ils ne souhaitent pas désigner une date artificielle.«363 Die Loi Taubira, der auf ihrer Basis eingeführte (letztlich ebenfalls künstliche) Gedenktag und mit ihnen die offizielle Verankerung des Gedenkens an den transatlantischen Sklavenhandel können inzwischen als gesichert gelten. Unantastbar sind sie vor dem Hintergrund von tiefgreifenden und politisch stark aufgeladenen erinnerungskulturellen Spaltungen aber nicht. Dies lässt sich unter anderem anhand eines späteren Vorfalls belegen, einer in ihrem speziellen Kontext vielsagenden Episode im Kampf um die mit dem Namen von Christiane Taubira verbundene Geschichtspolitik. Im Februar 2011 wurde der umstrittene Figaro-Redakteur Eric Zemmour von einem Pariser Gericht der »provocation à la discrimination raciale« für schuldig befunden. »[I]l avait justifié les contrôles au faciès par le fait que ›la plupart des trafiquants sont noirs et arabes‹. Le même jour, il avait estimé, en réponse à une question qui lui était posée, que les employeurs ›ont le droit‹ de refuser des Arabes ou des Noirs.«364 Zemmour wurde daraufhin von einer Gruppe von UMP-Abgeordneten zu einer Diskussion über Normen und Freiheit in die Nationalversammlung eingeladen. Hier inszenierte sich der jüdische Journalist als Opfer einer politisch korrekten »pensée unique«, die er als von den Medien unterstützte linke Propaganda betrachtete. Neben den antirassistischen Vereinen, die ihn vor den Richter gezogen hatten, attackierte er die »législations liberticides« im Land, zu denen er nicht zuletzt die »lois mémorielles« zählte; auch für die Loi Gayssot machte er dabei keine Ausnahme.365 Unterstützung erhielt Zemmour von Christian Vanneste, der als Vertreter der UMP dem Nouvel Observateur ein Interview gab. Ihm waren allerdings nicht alle Geschichtsgesetze gleichermaßen, sondern vor allem die Loi Taubira ein Dorn im Auge. Über das Gesetz zur Geschichte des Sklavenhandels äußerte er sich folgendermaßen: »La loi Taubira est une honte pour notre pays, une honte pour la liberté d’expression 362 Jean-Marie Bockel im Interview mit Bommelaer, Claire: »›Le 11 Novembre, jour de la paix et de la mémoire‹. Le secrétaire d’État à la Défense et aux Anciens Combattants suggère de faire de l’anniversaire de l’Armistice de 14-18 un ›Memorial Day‹ à la française«, in: Le Figaro vom 12.5.2008. 363 Kaspi: Rapport de réflexion, S. 31. 364 Piquard, Alexandre: »Eric Zemmour invité par l’UMP à un débat«, in: Le Monde.fr vom 24.2.2011. 365 AFP: »Eric Zemmour ovationné par des élus UMP«, in: Le Monde.fr vom 3.3.2011.
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dans notre pays. Il faut la supprimer tout de suite. C’est une loi anti-française.«366 Noch vor Marie-Luce Penchard, die im Kabinett Fillon die Interessen der Überseedepartements vertrat und in der Folge vom Parteichef Sanktionen gegen Vanneste forderte, reagierte der CPMHE. Dieser versuchte nicht zuletzt, dem Politiker das nationale bzw. republikanische Terrain streitig zu machen. »[Ces propos] révèlent non seulement une ignorance feinte mais surtout un mépris des idéaux de la République. Ils portent atteinte à l’honneur de tous les citoyens Français descendants d’esclaves. Ils sont insultants pour tous ceux qui ont combattu la traite et l’esclavage.«367 An der Konfrontation zeigt sich deutlich, wie eng die Frage der Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel und andere Kapitel der kolonialen Geschichte mit konkurrierenden Vorstellungen von nationaler Identität verbunden waren. Diese drückten sich nicht unbedingt in der Sprache klassischer Rechts-Links-Schemata aus, sondern zeugen vom Kampf um eine solidarische Gesellschaft, der von ethnisierten Konfliktlinien beeinflusst war, die das Erbe des Kolonialismus mit alten und neuen ideologischen Fronten verband.
DER NATIONALE GEDENKTAG (10. MAI) »Il est instauré un comité de personnalités qualifiées, parmi lesquelles des représentants d’associations défendant la mémoire des esclaves, chargé de proposer, sur l’ensemble du territoire national, des lieux et des actions qui garantissent la pérennité de la mémoire de ce crime à travers les générations.«368 So lautet der vierte Artikel der Loi Taubira, der die Einrichtung des Comité pour la mémoire de l’esclavage (CPME) begründete. Ein noch von Lionel Jospin ins Leben gerufenes Expertengremium war zuvor in seinem Wirken weitgehend folgenlos geblieben.369 Auch nach der Bildung der neuen konservativen Regierung im Jahr 2002 bestand zunächst offenbar keine Eile. Bis zum Winter 2005 blieb das offizielle Engagement weit hinter dem zurück, was das Gesetz und später die Mitglieder des Komitees einforderten. Dann erzwangen die Schärfe und das Ausmaß der öffentlichen Kontroversen ein aktives geschichtspolitisches Handeln der Regierung. Die Relevanz der Weiterentwicklung in Richtung einer ausgleichenden Erinnerung hatte der CPME bereits im Jahr 2004 betont. »[N]ous avons [...] constaté une certaine polarisation autour des enjeux de la mémoire, une approche polémique du débat autour de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions. [...] Il ne s’agit pas de dramatiser, mais c’est le devoir de tous ceux qui exercent une responsabilité d’être clairvoyants. Ils doivent opposer à ces approches polémiques un discours sans ambiguïté
366 Hier zit. n. C. Chivallon: L’esclavage, du souvenir à la mémoire, S. 526. 367 CPMHE: Déclaration solennelle suite aux déclarations de Christian Vanneste appelant à la suppression de la loi du 21 mai 2001 tendant à la reconnaissance de la traite et de l’esclavage en tant que crime contre l’humanité, http://www.cnmhe.fr/IMG/pdf/Communi que_du_CPMHE_a_la_suite_des_propos_de_C._Vanneste_qualifiant_la_loi_du_21_mai _2001_d_antifrancaise.pdf. 368 Diese Formulierung wurde vor allem von den kommunistischen Abgeordneten unter der Führung von Bernard Birsinger vertreten, vgl. Assemblée Nationale, 18.2.1999, S. 1650. 369 F. Vergès: Mémoire enchaînée, S. 108.
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et des actes forts qui manifestent la volonté de la République française d’aborder cette page honteuse de son histoire.«370
Ein entscheidender Schritt sollte dabei die Einrichtung eines gesamtnationalen Gedenktags sein: »Dans cette perspective, l’inscription d’un jour solennel de commémoration dans le calendrier national serait la pierre la plus immédiatement visible de l’édifice mémoriel à construire.«371 Seit nunmehr über einem Jahrzehnt nimmt das Komitee seine Aufgabe als offizielles Beratungsorgan der französischen Regierung wahr. Organisatorisch ist es dem Ministerium für die Überseegebiete zugeordnet, einmal im Jahr erstatten die Mitglieder dem Premierminister schriftlich Bericht. Die Regierungsnähe ist zugleich die große Stärke des Gremiums und – in Abhängigkeit von der politischen Linienführung – eine entscheidende Begrenzung seiner Möglichkeiten. Die zwölf Ursprungsmitglieder ernannte Premierminister Jean-Pierre Raffarin mit einem Dekret vom 15. Januar 2004 für einen Zeitraum von zunächst fünf Jahren.372 Noch im selben Jahre legte das Gremium seinen ersten Bericht vor. Im CPME vertreten waren vor allem Künstler/-innen, Wissenschaftler/-innen und Verbandsvorsitzende, von denen viele aus den Überseedepartements stammten; die afrikanische Präsenz blieb marginal. Die Mitglieder ordneten sich drei Arbeitsgruppen zu, die sich den Themen »Éducation, Recherche«, »Associations« und »Musées, Lieux de mémoire« widmeten.373 Im Januar 2009 lief die im Dekret von 2004 umrissene Mission offiziell aus und der CPME wurde durch ein weiteres Dekret des Premierministers durch den Comité
370 Maryse Condé im Vorwort zu CPME: Rapport (2005), S. 2. 371 CPME: Rapport (2005), S. 23, Hervorhebung im Original. 372 Zur personellen Zusammensetzung des CPME vgl. Décret du 15 janvier 2004 portant nomination des membres du Comité pour la Mémoire de l’Esclavage, NOR: DOMB0400001D, JORF (Lois et Décrets) 13/2004, S. 1222, auch veröffentlicht im Anhang von CPME: Rapport (2005). »Par décret en date du 15 janvier 2004, sont nommés, pour une durée de cinq ans, membres du Comité pour la Mémoire de l’Esclavage: 1° En considération de leurs travaux de recherche dans le domaine de la traite ou de l’esclavage: M. Jean-Godefroy Bidima, directeur de programme au Collège international de philosophie; M. Marcel Dorigny, maître de conférences au département d’histoire de l’université Paris-VIII-Saint-Denis; Mme Nelly Schmidt, chercheuse au Centre national de la recherche scientifique; Mme Françoise Vergès, professeure à l’université de Londres. 2° En considération de leur activité associative pour la défense de la mémoire des esclaves: Mme Henriette Dorion-Sébéloué, présidente de l’Union des Guyanais et des amis de la Guyane, présidente du Comité national de liaison des associations du souvenir; Mme Christiane Falgayrettes-Leveau, présidente de l’Association des amis du musée Dapper; M. Serge Hermine, président de l’Association des descendants d’esclaves noirs et de leurs amis; M. Pierrick-Serge Romana, président du Comité marche du 23 mai 1998. 3° En considération de leur connaissance de l’outre-mer français: Présidente du comité: Mme Maryse Condé, écrivain; M. Fred Constant, recteur de l’université Senghor d’Alexandrie; M. Gilles Gauvin, enseignant; M. Claude-Valentin Marie, sociologue.« 373 CPME: Rapport (2005), S. 9.
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pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage (CPMHE) abgelöst. 374 In dieser Form sollte das Gremium zunächst für weitere drei Jahre tätig sein. In bestimmten Punkten bedeutete die Umbildung eine Verstärkung des ursprünglichen Mandats. So wurde das Komitee mit einem Generalsekretariat ausgestattet und formal enger mit den Ministerien vernetzt. Anders als das erste Dekret enthält das Gründungsdekret des CPMHE einen ausführlichen vierten Artikel, der den allgemeinen Auftrag spezifiziert. Das neue Komitee erhielt ein exklusives Vorrecht zur Zusammenarbeit mit der Regierung auf dem betreffenden geschichtspolitischen Gebiet. Der Expertenkreis hatte die Möglichkeit und die Verpflichtung, spezielle thematische Analysen anzufertigen – ein Passus, der bedeutsam für die weitere Entwicklung werden sollte. Offizielle Aufgabe der Mitglieder war es, der Regierung in einschlägigen Fragen mit Stellungnahmen und Empfehlungen zu »assistieren«, sie bezogen bisweilen aber recht eigenständig Position und hatten das Recht, im Rahmen des Mandats selbstständig aktiv zu werden. Nach einer durch den Präsidentschaftswahlkampf bedingten Übergangsphase wurde das Komitee 2012 unter der sozialistischen Regierung als Comité national pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage (CNMHE) noch einmal neu begründet. Die Mitgliederzahl erhöhte sich in diesem Zusammenhang von zwölf auf fünfzehn. In dieser Form ist der CNMHE bis heute aktiv, den Vorsitz hat nach Maryse Condé, Françoise Vergès und Myriam Cottias derzeit der Historiker Frédéric Régent inne. Für den nationalen Gedenktag galt es zunächst ein Datum, sodann die passenden Botschaften und Vermittlungsformen zu finden. Die in den Überseedepartements bereits etablierten Daten zum Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei sollten durch den nationalen Gedenktag, der im Gegensatz zu ihnen kein Feiertag ist, nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt werden. Im Prinzip war die Einführung eines solchen Tages zur Erinnerung an Sklaverei und Emanzipation mit der Loi Taubira beschlossen worden, die Umsetzung war allerdings eng verbunden mit den Kontroversen des Jahres 2005. Erst der offene Aufbruch der latenten Spannungen sorgte dafür, dass die seit 2001 stagnierende geschichtspolitische Entwicklung wieder an Fahrt gewann. Die Entscheidung zur Einrichtung des Gedenkdatums verkündete Jacques Chirac auf dem Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzungen: Am 13. Dezember sprach sich der konservative Staatspräsident in der Zeitung Le Parisien für dieses Ziel aus375, und er bekräftigte das Vorhaben in seiner Neujahrsansprache an die Vertreter/-innen der Presse. 376 Viele Journalistinnen und Journalisten vermuteten sofort, der Präsident wolle auf diese Weise die Gegner/-innen des Artikels 4 beschwichtigen, der zu diesem Zeitpunkt noch in Kraft war. Nach der Rede zu urteilen, die Chirac wenig später beim offiziellen Empfang des CPME im Präsidentenpalast hielt, lagen sie damit nicht falsch.
374 Décret n° 2009-506 du 6 mai 2009 relatif au Comité pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage (NOR: IOCO0903793D), JORF 106/2009, S. 7676, https://www.legifrance.gouv. fr/eli/decret/2009/5/6/IOCO0903793D/jo/texte. 375 Vgl. die Berichterstattung der französischen Zeitungen an diesem Tag. 376 Chirac, Jacques: Allocution de Jacques Chirac, Président de la République, à l’occasion des vœux à la presse, Palais d’Elysée, Paris, 4.1.2006, http://www.jacqueschirac-asso.fr/ar chives-elysee.fr/elysee/elysee.fr/francais/interventions/discours_et_declarations/2006/jan vier/allocution_du_president_de_la_republique_a_l_occasion_des_voeux_a_la_presse.37 485.html.
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Die Etablierung des Gedenktags begründete er mit für die neuere französische Erinnerungskultur typischen Worten: »La grandeur d’un pays, c’est d’assumer toute son histoire. [...] C’est ainsi qu’un peuple se rassemble, qu’il devient plus uni et plus fort. C’est ce qui est en jeu à travers les questions de mémoire: l’unité et la cohésion nationale«.377 Etwa zeitgleich regte der Präsident die Entwicklung an, die schließlich in der Streichung der umstrittenen Zeile aus dem vierten Artikel des Gesetzes vom 23. Februar 2005 mündete. Mit seinem geschichtspolitischen Schritt bestärkte er nicht zuletzt die Befürworter/-innen der Loi Taubira und bestätigte die ihr zugrundeliegende Vorstellung von der gesamtnationalen Relevanz der Sklaverei-Geschichte. Die Einführung des neuen Gedenktags wertete zudem die Rolle des CPME als einer auf der Loi Taubira basierenden Institution auf. Mit den im vorangehenden Kapitel nachgezeichneten Debatten stand die Einrichtung des Expertenkomitees an und für sich in keinem ursächlichen Zusammenhang. Ihre Folgen veränderten die politischen Voraussetzungen für das Wirken der Gruppe allerdings erheblich. Schon der erste Bericht hatte die Notwendigkeit einer aktiven Geschichtspolitik der Regierung, die den Polemiken und Konflikten rund um die Erinnerung an den Sklavenhandel entgegenwirken sollte, betont. Im Verlauf des Jahres 2005 schienen sich die warnenden Prognosen auf so eindrucksvolle Weise zu bestätigen, dass sich offenkundig zumindest bei Jacques Chirac die Überzeugung von der Stichhaltigkeit der Argumente durchsetzte. Dies hieß freilich nicht, dass der CPME damit die Steuerung der Entwicklung übernahm. Bereits 2004 machte das Expertengremium eine wichtige Empfehlung, die so weder von der Loi Taubira noch von den eigenen Gründungsdekreten konkret gefordert worden war: Es sprach sich mit Nachdruck für die Einrichtung eines Centre national pour l’Histoire et la Mémoire de la traite négrière, de l’esclavage et leurs abolitions aus, der neben anderem die Funktion eines nationalen Museums zur Geschichte der Sklaverei erfüllen sollte.378 Die Umsetzung des ambitionierten Projekts wurde seitdem immer wieder diskutiert, steht jedoch bis heute aus. Der erste Bericht des Komitees schlug auch ein Datum für den nationalen Gedenktag vor. Die Suche nach einem passenden Termin hatte sich als ein kompliziertes Unterfangen erwiesen, »un travail terriblement difficile« mit den Worten der damaligen CPME-Präsidentin Maryse Condé. 379 Das Regierungsdekret hatte den Auftrag in diesem Punkt folgendermaßen formuliert: »Le comité a pour mission de proposer au Premier ministre la date de la commémoration annuelle, en France métropolitaine, de l’abolition de l’esclavage, après avoir procédé à la consultation la plus large.«380 Daher 377 Chirac, Jaques: Discours prononcé lors d’une réception en l’honneur du Comité pour la mémoire de l’mesclavage au Palais de l’Elysée, 30.1.2006, Text und Video: Figaro.fr, Le Scan Politique, http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2014/03/27/25001-20140327ART FIG00102-le-discours-de-jacques-chirac-sur-l-esclavage.php. 378 Entsprechende Forderungen lagen dem Rechtsausschuss allerdings in Form des von den kommunistischen Abgeordneten vorgelegten Gesetzesvorschlags 1302 vor. 379 Zit. n. Portes, Thierry: »Choix difficile pour célébrer l’abolition de l’esclavage«, in: Le Figaro vom 13.4.2005. 380 Décret n° 2004-11 du 5 janvier 2004 relatif au comité institué par la loi n° 83-550 du 30 juin 1983 relative à la commémoration de l’abolition de l’esclavage (NOR: DOMB0300028D), JORF (Lois et Décrets) 4/2004, S. 431, veröffentlicht auch im Anhang von CPME: Rapport (2005).
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wandten sich die Mitglieder in dieser Frage zunächst an gewählte politische Vertreter/ -innen der Überseedepartements, Kenner/-innen der Geschichte des Sklavenhandels sowie führende Mitglieder von Institutionen, die nach Auffassung des CPME mit den eigenen Aufgaben verwandte Ziele verfolgten. Unter den konsultierten Personen befanden sich neben Christiane Taubira auch der Direktor des Museums für außereuropäische Kunst am Quai Branly, Stéphane Martin, und Ali Moussa Iye, der bei der UNESCO für das Projekt Slave Route verantwortlich war. »Un courrier a aussi été envoyé aux associations ultramarines basées en France métropolitaine et aux associations dans les collectivités ultramarines ayant œuvré pour la mémoire de l’esclavage.«381 Das Ergebnis der Konsultationen war, wie zu erwarten, uneindeutig. »Confronté à l’absence d’une mémoire partagée de l’esclavage et de son abolition, le CPME a considéré plusieurs possibilités«.382 Zur Debatte standen nicht nur die beiden Daten, die seit 1998 gewissermaßen die Pole der französischen Debatte markierten: der vor allem vom CM98 favorisierte 23. Mai und der 27. April als Datum des republikanischen Emanzipationsdekrets von 1848. Außerdem in Erwägung gezogen wurden der von den Vereinten Nationen als Gedenktag etablierte 23. August, der Jahrestag des ersten Emanzipationsdekrets vom 4. Februar 1794 sowie der 10. Mai, an dem im Jahr 2001 die Loi Taubira in der Nationalversammlung verabschiedet worden war.383 Die Aufnahme des 10. und des 23. Mai in die Liste der »historischen« Daten zur Geschichte der Sklaverei zeigt, wie weit die Debatte um die Erinnerung als solche in Frankreich bereits vorangeschritten war und wie stark das Augenmerk auf den gegenwärtigen sozialen und politischen Beziehungen im Land lag, für deren positive Gestaltung der »mémoire nationale« eine eminente Bedeutung zugeschrieben wurde. Neben den aktuellen Differenzen machte die wechselvolle französische Geschichte den Weg zur Einigung beschwerlich. Den 4. Februar, das Datum des ersten Emanzipationsdekrets, hielt der CPME aufgrund der historischen Ambivalenz für nicht empfehlenswert. »Il aurait fallu chaque fois engager une longue explication sur le rétablissement de l’esclavage en 1802 (décret du 20 mai) par Napoléon Bonaparte et sur la nécessité d’un deuxième décret d’abolition.«384 Der Kampf gegen diese Politik, wie er von Männern wie Delgrès und Toussaint-Louverture geführt wurde, würde in den Hintergrund gedrängt werden, ebenso die Tatsache, dass das Dekret nicht in allen französischen Überseegebieten überhaupt zur Anwendung kam. Der 27. Februar, der im Zentrum des Gedenkens von 1998 gestanden hatte, stieß bei den Assoziationen auf großen Widerstand, den die Mitglieder des CPME nachvollziehen konnten: »Nous ne souhaitions pas non plus que la date de commémoration annuelle de l’abolition de l’esclavage soit une nouvelle fois prétexte à une célébration unilatérale d’une France ›bonne et généreuse‹ en donnant à la République tout le bénéfice de cet acte.«385 Die Ära der Verherrlichung eines vermeintlichen Triumphes positiv besetzter kolonialer Handlungsmacht sollte also endgültig geschlossen werden. Jeder direkte Bezug auf die for-
381 382 383 384 385
CPME: Rapport (2005), S. 26. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 27 ff. Ebd., S. 28. Ebd.
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malrechtliche Emanzipation erschien auch aufgrund des weiteren Verlaufs der französischen Imperialgeschichte als problematisch im Hinblick auf die geschichtspolitischen Sensibilitäten insbesondere der descendants d’esclaves: »L’abolition ne met fin ni au racisme ni aux inégalités. Comment à la fois célébrer la liberté et ce qui la limite?«386 Dem 23. Mai wiederum fehlte vor allem der Rückhalt außerhalb des Umfelds der einschlägig aktiven Vereine. »Le CPME a […] considéré que cette date, fortement associée au travail d’associations principalement antillaises, n’avait pas acquis une portée universelle.«387 Die Ablehnung des 23. August, International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition der Vereinten Nationen, dem sich 2008 auch Großbritannien anschloss, wurde mit den französischen Schulferien begründet.388 Die Rolle, die darüber hinaus die besondere Verbindung der französischen Geschichte zur Geschichte Haitis gespielt haben könnte, kann daher nur vermutet werden. Gesucht war ein Datum, das als Träger eines explizit auf die Nation fokussierten Gedenkens fungieren konnte. Der CPME sprach sich schließlich für den 10. Mai aus; die Verabschiedung der Loi Taubira nach ihrer zweiten Lesung im Senat wurde in diesem Zusammenhang als »vote historique« bezeichnet. 389 »Ce qui est historique, c’est l’aboutissement d’une procédure législative, portée par un mouvement associatif important et, plus largement, par un débat mondial autour des droits inaliénables de la personne humaine.«390 Interessant ist weiterhin der Name, den das Komitee für den neuen Gedenktag empfahl, denn eingeführt werden sollte laut Bericht eine Journée des mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions. Die gewählte Benennung stellte eine signifikante Abweichung von der ursprünglich gestellten Aufgabe dar, ein Datum zur Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei vorzuschlagen. Die Bezeichnung verdeutlicht das Bestreben, ein möglichst breites geschichtspolitisches Angebot zu machen, um verschiedene erinnerungskulturelle Strömungen unter dem Dach des offiziellen Gedenkens zusammenzubringen. Der »Tag der Erinnerungen« im Plural sollte unterschiedliche Perspektiven vereinen und die aus ihnen jeweils hervorgehenden Erwartungen befriedigen können – ein Ziel, dass der Vorgabe eines eindeutigen historischen Bezugsrahmens offenkundig übergeordnet wurde. Der 10. Mai ermögliche es nicht nur, der langen Leidensgeschichte ebenso wie dem langen Kampf der Sklavinnen und Sklaven zu gedenken. Er kann – und dies ist signifikant – zugleich auch den Kampf ihrer Nachfahren für Freiheit und Anerkennung einschließen. »En mettant ainsi l’accent sur nos réalités contemporaines, ce choix permet de mettre en valeur les contributions actuelles des sociétés issues de l’esclavage. C’est à partir du présent que nous nous tournons vers le passé pour imaginer un avenir plus juste.«391 Gleichzeitig könnten aber auch die positiven Schritte, welche die französische Republik und die französische Gesellschaft in diesem Zusammenhang unternommen hätten, in das gemeinsame Erinnern einbezogen werden. Für den CPME war eine aktive Politik im Hinblick auf die Geschichte der Sklaverei eine eilige Angelegenheit. »[I]l s’agit maintenant d’affirmer une volonté de traduire 386 387 388 389 390 391
Ebd., S. 19. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31.
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ces propositions en actes.«392 Die Einführung des Gedenktags wurde daher mit mehr oder weniger sofortiger Wirkung für den 10. Mai des laufenden Jahres 2005 empfohlen. Der Premierminister schob die endgültige Entscheidung über das Datum jedoch bis auf weiteres auf. Erst vor dem Hintergrund der Unruhen in den Vororten und der Auseinandersetzungen um die Kolonialvergangenheit wurde das Projekt im Winter wieder aufgegriffen. In der Hoffnung, den auch vom Komitee angestrebten nationalen Konsens zu erzielen, schloss sich Chirac dem erarbeiteten Kompromissvorschlag an und erklärte den 10. Mai zur Journée des mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions.393 Er erkannte allerdings auch: »Aucune date ne saurait concilier tous les points de vue.«394 Viele der geschichtspolitisch interessierten Bürger/-innen aus den Überseegebieten hätten die Wahl des 23. Mai bevorzugt. Vor allem aus diesem Grunde hatte Serge Romana als Vertreter des Vereins CM98 noch vor der Veröffentlichung des Berichts seine Mitarbeit im CPME aufgekündigt. Nach der Entscheidung des Präsidenten erklärte er: »Ce sera une date mort-née et nous continuerons à célébrer le 23 mai.«395 Auch Parlamentsabgeordnete aus den DOM machten sich für dieses Datum des Gedenkens stark, sozialistische ebenso wie konservative Delegierte sprachen sich bei einer Pressekonferenz Ende Januar explizit gegen den 10. Mai aus. Die Delegierten der kommunistischen Partei teilten diese Position.396 Das Ziel, den Streit um die Interpretation der Kolonialvergangenheit zu beruhigen, verfehlte die Regierung also zunächst. »M. Chirac risque ainsi de perdre, outre-mer, une partie du crédit qu’il avait regagné en annonçant la suppression de l’alinéa sur le ›rôle positif‹ de la colonisation.«397 Aber nicht nur die Folgen der großen Debatten des Vorjahres überschatteten den 10. Mai 2006. Die französische Regierung und der CPME hatten versucht, einen Gedenktag zu schaffen, der »niemandem gehört, um allen gehören zu können.«398 Nun hatte sich aber offenbar eine gewisse Verwirrung eingestellt, wer oder was an diesem Tag eigentlich gefeiert werden sollte – oder eben nicht. Grundsätzlich bestand auch im metropolitanen Frankreich verbreitet Interesse an dem Geschichtsgedenken; dies belegt unter anderem die Begründung neuer Zusammenschlüsse.399 Durch die Planung eigener Veranstaltungen versuchten verschiedene Gruppen, der Journée des mémoires die von ihnen gewünschte inhaltliche Prägung zu verleihen. Einen umfassenden An-
392 Ebd., S. 25, Hervorhebung im Original. 393 Décret n° 2006-388 du 31 mars 2006 fixant la date en France métropolitaine de la commémoration annuelle de l’abolition de l’esclavage (NOR: PRMX0609202D), JORF 78/2006, S. 4889, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=LEGITEXT000006053 508&dateTexte=20161215. 394 J. Chirac: Discours, 30.1.2006. 395 Zit. n. Arnaud, Didier/Guiral, Antoine: »Le 10 mai, nouveau devoir de mémoire«, in: Libération vom 31.1.2006; vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 265. 396 Ebd. 397 Ebd. 398 »Une date qui appartient à personne pour pouvoir appartenir à tout le monde.« Françoise Vergès, Vizepräsidentin des CPME, zit. n. Arnaud, Didier/Guiral, Antoine: »Le 10 mai, nouveau devoir de mémoire«, in: Libération vom 31.1.2006. 399 Vgl. CPME: Rapport (Januar 2007), z.B. S. 6.
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spruch auf Einflussnahme erhoben die bereits etablierten und auf dem Feld auch weiterhin sehr aktiven Verbände. Einige von ihnen, unter anderem die LDH, SOS Racisme und der CRAN400, taten sich für die Ausrichtung eines großen Konzertabends in Paris zusammen, der unter dem Motto »Mémoire pour l’avenir« stand. Der Collectif DOM, nicht zuletzt ein geschichtspolitischer Gegner des CRAN, sprach öffentlich seinen Protest gegen die Veranstaltung aus und bezeichnete sie als »récupération carnavalesque de la mémoire de la traite négrière«.401 Die Aktivistinnen und Aktivisten um Serge Romana behielten ihr stärker der Vergangenheit zugewandtes Konzept des Opfergedenkens bei. In der Presse wurde die Journée des mémoires de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions dagegen überwiegend mit der Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei verbunden und auch entsprechend (inkorrekt) bezeichnet. Der CRAN kommentierte die Situation in seiner Stellungnahme zum 10. Mai vor diesem Hintergrund mit einer gewissen Verbitterung: »[T]out a conduit au scénario que nous voulions éviter: les associations d’un côté, les officiels de l’autre, la division partout.«402 In Anbetracht seiner Entstehungsbedingungen kam dem ersten Gedenktag an die Geschichte von Sklaverei, Sklavenhandel und Emanzipation eine hervorgehobene geschichtspolitische Bedeutung zu. Jenseits aller inhaltlichen Differenzen wurden die Regierung und das politische Paris ihr zumindest der Form nach weitgehend gerecht. Im Mittelpunkt standen in diesem wie in den folgenden Jahren das Senatsgebäude und der angrenzende Park, der Jardin du Luxembourg, in dem die zentrale Zeremonie stattfand. Hier eröffnete der Staatspräsident persönlich eine temporäre Installation der Künstlerin Léa de Saint-Julien, die zu dieser Zeit Mitglied des CPME war.403 Anwesend waren auch der Premierminister und weitere Mitglieder der amtierenden Regierung, die Vorsitzenden beider Parlamentskammern sowie einige Abgeordnete, vor allem aus den Überseedepartements.404 Vor einem ausgesuchten, aber recht gemischtem Publikum aus geladenen Gästen hielt Jacques Chirac die erste Ansprache zum neu geschaffenen Anlass. 405 Ähnlich wie bereits 1998 verurteilte er den transatlantischen Sklavenhandel scharf, stellte dieses Mal aber nicht den Weg zur Emanzipation in den Mittelpunkt. Als Parallele erhalten blieb dagegen die Vorstellung von zwei histori-
400 Zur Gründung des CRAN vgl. Arnaud, Didier: »Les noirs se rassemblent pour mieux compter«, in: Libération vom 26.11.2005 und G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 276 ff. 401 Zit. n. Hopquin, Benoît/Montvalon, Jean-Baptiste de: »Esclavage. Commémoration sur fond de polémiques«, in: Le Monde vom 10.5.2006. 402 Zit. n. Arnaud, Didier: »10 mai. L’histoire ne se fait pas en un jour«, in: Libération vom 10.5.2006. 403 Bei dem Kunstwerk mit dem Titel »La Forêt des mânes« handelte es sich um eine Art Bogengang aus großen Zuckerrohrpflanzen, in deren Zweigen über den Köpfen der Besucherinnen und Besucher großformatige anonyme Porträts sowie verschiedene Gegenstände angebracht waren. Zusätzlich sollten über Düfte und Musik alle Sinne angesprochen werden. Vgl. CPME: Rapport (Januar 2007), Abbildung auf der Titelseite, Beschreibung S. 4. 404 Ebd. 405 Anwesend waren neben Kabinettsmitgliedern und Abgeordneten auch der Fußballstar Lilian Thuram, Rapper Stomy Bugsy und Komiker Dieudonné M’Bala M’Bala, vgl. N.N.: »Chirac célèbre la ›mémoire‹ des victimes de l’esclavage«, in: Le Figaro vom 10.5.2006.
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schen »Frankreichs«, einem monarchisch-restaurativen und einem republikanisch-revolutionären, wobei Republikanismus und Abolitionismus weitgehend gleichgesetzt wurden. Daten, Ereignisse und Personen der französischen Geschichte spielten insgesamt aber eine untergeordnete Rolle. Durchaus im Einklang mit den Ideen des CPME, wandte sich der Präsident vor allem der Gegenwart zu. Dabei erwähnte er die globalen Konsequenzen des Sklavenhandels, die Entwicklung eines spezifischen Rassismus, die Probleme des afrikanischen Kontinents und aktuelle Formen der Zwangsarbeit – allerdings jeweils nur kurz. Denn der eigentliche Fokus seiner Ansprache lag auf den sozialen Beziehungen innerhalb der französischen Republik und in diesem Zusammenhang auf der gesellschaftlichen Bedeutung des Gedenkens selbst. »Cette première journée à la mémoire de l’esclavage et de ses abolitions constitue une étape très importante pour notre pays. [...] J’ai voulu que tous les pouvoirs publics se mobilisent à l’occasion de cette commémoration, pour signifier la participation de la nation tout entière à cette prise de conscience empreinte de gravité et de fraternité.«406 Die Erinnerung an die Geschichte sollte sowohl bei der Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierung helfen, als auch ein Anlass sein, die »Vielfalt« Frankreichs zu feiern – »[u]ne diversité, ferment d’unité« wohlgemerkt. Auch wenn die offiziellen Feierlichkeiten sich auf die Hauptstadt konzentrierten, beschränkten sich die Gedenkveranstaltungen nicht auf Paris.407 »Dans les établissements scolaires, les enseignants organiseront un moment de réflexion et de recueillement dans leur classe. Les chaînes publiques de radio et de télévision proposeront une programmation spéciale. Chaque préfet organisera dans son département une cérémonie en souvenir de l’esclavage. Et le Gouvernement français est représenté à Gorée, au Sénégal, un des lieux de départ de la Traite«.408 Vereinzelt schaffte es das Thema Sklaverei in die Hauptsendezeit des französischen Fernsehens.409 Neben dem Neuheitseffekt sorgten vor allem die zurückliegenden und sich weiter fortsetzenden Streitigkeiten um die koloniale Vergangenheit für eine – gerade im Vergleich zu späteren Jahren – recht starke mediale Präsenz des Gedenkens. In Bordeaux wurden aus gegebenem Anlass nicht nur Blumen in die Garonne gestreut. »Sur le quai des Chartrons, le députémaire a inauguré une plaque commémorative scellée dans le sol sur laquelle on peut lire: ›A la fin du XVIIème siècle, de ce lieu est parti le premier navire armé dans le port de Bordeaux pour la traite des Noirs. Plusieurs centaines d’expéditions s’en suivirent jusqu’au XIXe siècle. La Ville de Bordeaux honore la mémoire des esclaves africains déportés aux Amériques au mépris de toute humanité.‹«410 Jacques Chirac betonte demonstrativ: »Cette première commémoration n’est pas un aboutissement: c’est un début. C’est l’affirmation nécessaire d’une mémoire de l’esclavage partagée par tous les Français.«411 Das Gedenkdatum allein schien ihm vor diesem Hintergrund nicht ausreichend: »Il faut également à cette mémoire un lieu symbolique, porté par une œuvre forte. Ici même, au Jardin du Luxembourg, où la Haute
406 407 408 409 410 411
Ebd. Für eine Auflistung vgl. CPME: Rapport (Januar 2007), S. 4-25. J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006. CPME: Rapport (Januar 2007), S. 25-28. Ebd., S. 9. J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006.
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Assemblée s’est prononcée le 10 mai 2001, prendra place une œuvre originale commémorant la Traite négrière, l’esclavage et leurs abolitions.«412 Der Präsident schloss sich außerdem der Idee eines Centre national pour la mémoire des esclavages et de leurs abolitions an, dessen Einrichtung der CPME ebenfalls empfohlen hatte. Die Aufgabe eines ersten konzeptuellen Entwurfs wurde dem martinikanischen Schriftsteller Edouard Glissant anvertraut. Im Gegensatz zum bis heute ausstehenden Aufbau des Museums wurde das Denkmal-Projekt vom zuständigen Kultusministerium auf der Basis einer nationalen Ausschreibung umgehend in Angriff genommen. So konnte das neue nationale Monument im Jardin du Luxembourg pünktlich zur zweiten Journée des mémoires im Jahr 2007 eingeweiht werden. Bei dem von Jacques Chirac enthüllten Werk handelt es sich um die erste zeitgenössische Arbeit im Jardin du Luxembourg, der im Übrigen aber zahlreiche weitere Skulpturen und Gedenkorte beherbergt. Die Bronzeskulptur von Fabrice Hyber trägt den Titel »Le cri, l’écrit« und greift in ihrer Form die bekannte Befreiungsmetapher der zerbrochenen Kette auf. Bis in knapp vier Meter Höhe ragen drei überdimensionale Kettenglieder aus dem Boden, von denen das letzte nach oben geöffnet ist und so an einen erhobenen Kopf mit einem offenen, einem schreienden Mund erinnern kann. Mit dem im Französischen homophonen »Geschriebenen« ist vor allem das Emanzipationsdekret der Revolutionsregierung gemeint. »Le cri, l’écrit a voulu montrer qu’au cri des opprimés, répondait l’écrit des lois libératrices.«413 Besondere historische Akteursmacht wird hier also dem Abstraktum der republikanischen Gesetzgebung zugewiesen. Wie das Duo Visocchi/Sissay in London versuchte auch Hyber, die Vielschichtigkeit der langen Geschichte der Sklaverei bis hin zu ihrer Abschaffung und ihren Nachwirkungen in sein Werk zu integrieren. Da die Skulptur aber eine sehr universelle Botschaft über Freiheit und Unfreiheit vermitteln will und über keine konkrete Anbindung an die schwer zu ordnende französische Geschichte verfügt, reihen sich die verschiedenen Bedeutungsebenen eher additiv aneinander. »Le cri c’est la marque de l’abolition de l’esclavage mais aussi la mise en garde contre l’esclavage moderne. Le cri est de peurs, de larmes mais aussi de joie.«414 Auch Le cri, l’écrit arbeitet mit Text oder vielmehr mit begrifflichen Assoziationen. Auf die eine Seite der Metallskulptur ist eine Reihe von Worten eingraviert, die verschiedene Aspekte der Sklaverei-Geschichte andeuten, ohne dass hierbei ein Sinnzusammenhang vorgegeben wird: »Ailleurs – Décimé – Exterminé – Déporté – Mort – Inhumain – Valeurs – Déplacé – Esclave – Commerce«... Die andere Seite ist mit grünen und roten Farbstrukturen versehen, die für die Freude der Befreiung stehen, allerdings auch die in diesem Zusammenhang verstörendere Assoziation von Blutspuren wachrufen können. Die Tafel zur Erläuterung des Kunstwerks trägt auf ihrer linken 412 Ebd. 413 Fabrice Hyber zit. n. CPME: Rapport (November 2007), S. 37. Zur Einordnung des Denkmals vgl. auch Korzilius, Sven: »Le cri, l’écrit. Das Denkmal an Sklavenhandel, Sklaverei und Abolition im Luxembourg-Garten als Ergebnis von Erinnerungsforderungen der descendants de l’esclavage«, in: Armin Heinen/Dietmar Hüser (Hg.), Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 469-478. 414 Auszug aus dem Text auf der Erläuterungstafel zum Denkmal von Hyber, vgl. auch CPME: Rapport (Januar 2007), S. 119.
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Seite einen Auszug aus Aimé Césaires berühmtem Werk »Cahier d’un retour au pays natal«. Mithilfe der Informationen auf der rechten Hälfte können die Betrachter/-innen sich die in Frankreich mit der Geschichte der Sklaverei verbundenen Kerndaten in Erinnerung rufen. Zu den Daten der beiden Abolitionsdekrete, der Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoleon sowie den unterschiedlichen Daten der tatsächlich erfolgten Emanzipation in den Überseedepartements treten der 10. Mai 2001 sowie der 10. Mai 2006 als Datum des ersten nationalen Gedenktags hinzu. Neben der Vergangenheit wurde also auch dem gegenwärtigen Prozess der erinnerungskulturellen Verarbeitung ein Denkmal gesetzt.415 Abb. 3: Le cri, l’écrit, Jardin du Luxembourg, Paris
Foto: S. Dinter
Anders als bei Gilt of Cain handelt es sich bei Le cri, l’écrit zwar um ein offizielles Nationaldenkmal. In seinen materiellen Dimensionen bleibt es allerdings deutlich kleiner und erscheint insgesamt weniger ansprechend für Imagination und Interaktion. Angesichts der Tatsache, dass sich auch die französische Bevölkerung das Denkmal trotz seiner zentralen Lage in der Hauptstadt nur in sehr begrenztem Maße angeeignet hat, können Zweifel daran aufkommen, ob es den erinnerungskulturellen Ansprüchen gerecht werden kann. Alan Rice jedenfalls ist hiervon nicht überzeugt: »To this viewer at least, it is unsubstantial and uninspiring without the dynamic dialogisations caused by the interplay of words and sculptural form contained in Visocchi and Sissay’s Gilt of Cain.«416 Und Françoise Vergès formulierte die Befürchtung, dass Denkmal könne sich als »space of empty rituals« erweisen.
415 Vgl. auch den Anhang von CPME: Rapport (November 2007), S. 119. 416 A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 27.
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»Indeed, a monument on colonial slavery becomes a ›living monument‹ if it finds social and cultural meaning within a wide movement of civic education on colonial slavery and its legacies, otherwise it runs danger of standing alone, devoid of meaning. Physically, Hyber’s sculpture appears isolated in the Jardin and it is not clear what the promeneurs understand of it.«417
Die direkte Nähe zum Senat bedingt auch eine Nähe zu Narrativen der Macht. Vor dem Hintergrund einer asymmetrischen Geschichte kann dies die unbefangene Erinnerung erschweren; der geschichtspolitische Vorteil des zentralen Platzes stellt somit zugleich ein Hindernis dar. Vor dem Hintergrund der konsequenten Opposition des CM98, der »sein« Datum und die mit ihm verbundene Erinnerung des empowerment im nationalen Rahmen nicht hatte durchsetzen können, kann es zudem kaum überraschen, dass auch die erinnerungskulturelle Deutungshoheit des Denkmals umgehend herausgefordert wurde. Auf Betreiben der Assoziation wurde am 23. Mai 2006 – die Worte, mit denen der Präsident die Errichtung eines Nationaldenkmals angekündigt hatte, waren kaum verklungen – ein Monument zur Erinnerung an die Opfer des Sklavenhandels und der kolonialen Sklaverei in der nördlichen banlieue von Paris eingeweiht.418 Die Figur der »Gardienne de la vie« wurde 1998 von dem martinikanischen Künstler Henri Guédon entworfen und hat über längere Zeit die Öffentlichkeitsarbeit des CM98 begleitet. Sie stellt eine Mutter in abwehrender Haltung dar, die sich und ihr kleines Kind vor einem Übergriff zu schützen sucht. Die entsprechende Statue kann nun vor einem Sportzentrum in Sarcelles besichtigt werden. Auffällig ist, dass die Gestaltung weder der sehr konkreten, heroisierenden Bildsprache karibischer Denkmäler entspricht, noch dem Weg der Abstraktion und Allegorie folgt, wie er für Monumente in den ehemaligen Kolonialmetropolen bislang typisch ist. In der anthropomorphen Figur manifestiert sich ein starker Gefühlsausdruck; es ist in diesem Falle die Angst, die triumphiert. Für die zweite Journée des mémoires lieferte die Einweihung des Nationaldenkmals den zentralen Fokus. »On aurait pu craindre que cette seconde édition, qui se situait au lendemain de l’élection présidentielle, passe inaperçue. Il n’en a rien été.«419 Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass der 10. Mai 2007 in die Übergangszeit zwischen den Präsidentschaften von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy fiel. Die Zeremonie zur Erinnerung an die Geschichte der Sklaverei war zugleich die letzte Amtshandlung des scheidenden und der erste öffentliche Auftritt des neu gewählten Präsidenten. Chirac setzte sich zum Ende seiner Amtszeit auch selbst ein Denkmal; sein Name wird auf der Erklärungstafel zu Le cri, l’écrit explizit erwähnt. Die Frage, was Nicolas Sarkozy zu seiner Teilnahme an der Zeremonie bewogen hatte und was er mit ihr verband, gab dagegen Anlass zu Spekulationen. Im zurückliegenden Wahlkampf hatte er mit Blick auf die französische Geschichte eine demonstrativ andere Haltung eingenommen als sein Amtsvorgänger.
417 Vergès, Françoise: »Foreword. The Monument as a Space for Frictions«, in: Fiona Barclay (Hg.), France’s Colonial Legacies. Memory, Identity and Narrative, Cardiff: University of Wales Press 2013, S. ix-xii, hier S. xi. 418 Bilder: Mémoire et histoire de l’esclavage Lieux et événements, http://www.esclavagememoire.com/lieux-de-memoire/la-gardienne-de-vie-d-henri-guedon-sarcelles-113.html. 419 CPME: Rapport (November 2007), S. 8.
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»M. Sarkozy s’est donc posé […] en contempteur de la ›mode de la repentance‹ dont M. Chirac s’était fait le porte-étendard, à travers la reconnaissance de la responsabilité de l’Etat dans la persécution des juifs, l’abrogation de l’article 4 de la loi du 23 février 2005 sur le ›rôle positif‹ de la colonisation, ou encore l’instauration d’une Journée du souvenir de l’esclavage et de son abolition.«420
Nur wenige Wochen zuvor hatte der Herausforderer dabei unter anderem erklärt: »La France n’a jamais exterminé un peuple. La France n’a pas inventé la ›solution finale‹, la France n’a pas commis de crime contre l’humanité, la France n’a pas commis de génocide.«421 Damit hatte der angehende Staatspräsident sich in einen direkten Gegensatz zur Loi Taubira gestellt und bewegte sich dort, wo die Kontroverse um »Napoleons Verbrechen« anklingt, auf historisch zumindest nicht gänzlich gesichertem Boden. Einen geradezu symbolhaften Eindruck erwecken vor diesem Hintergrund die Pressefotos von der Zeremonie im Jardin du Luxembourg, auf denen Sarkozy neben der auch körperlich überragenden Figur von Jacques Chirac zu sehen ist. Tatsächlich soll der scheidende Präsident seinen Nachfolger persönlich zu der Teilnahme überredet haben.422 Das nächste von Chirac angestoßene Großprojekt der Geschichtsvermittlung begann – zumindest auf dem Papier – ebenfalls erste Formen anzunehmen: Pünktlich zum zweiten Gedenktag erschien das fast 200 Seiten umfassende Konzept »Mémoires des esclavages« von Edouard Glissant, in dem dieser seine Ideen zur Einrichtung des Centre National erläuterte.423 Der Schriftsteller legte in seinen Ausführungen zunächst großen Wert darauf, den Rahmen abzustecken, in dem sich das Museum der Sklaverei zuwenden sollte. Dieser sollte – ganz im Gegensatz zu dem in Liverpool gewählten Ansatz – ein explizit nationaler sein, wie sich an der Abgrenzung der Zielgruppen der Erinnerung zeigt. »Il s’agira ici des Africains déportés en esclavage vers les nouvelles Amériques, mais particulièrement des peuples, guadeloupéen, guyanais, martiniquais, qui ont vécu sous l’autorité des royaumes, des empires, des républiques qui se sont succédé en France, et de l’autre côté des mers, des peuples de l’océan Indien.«424 Die internationale Dimension war dem Schriftsteller aber sehr bewusst, so hob er unter anderem die Arbeit des UNESCO-Projektes Slave Route hervor. Insgesamt legte er dem Projekt die Idee einer dialogischen Erinnerung zugrunde, die unterschiedliche Perspektiven vereinen, aber nicht zwingend vereinheitlichen sollte. »Nous vivons le monde, nous avons besoin de toutes les mémoires. L’avantage d’aujourd’hui est que nous pouvons partager ou échanger nos mémoires, sans les dénaturer pour autant.«425
420 Wieder, Thomas: »Nicolas Sarkozy, professeur d’histoire«, in: Le Monde vom 24.1.2009. 421 Zit. n. Le Gendre, Bernard: »Nicolas Sarkozy, la France et son histoire«, in: Le Monde vom 9.5.2007. 422 Jaigu, Charles: »Chirac et Sarkozy, deux présidents côte à côte«, in: Le Figaro vom 11.5.2007. 423 Glissant, Edouard: Mémoires des esclavages. La fondation d’un centre national pour la mémoire des esclavages, Paris: Gallimard 2007, auch online verfügbar unter http://www.la documentationfrancaise.fr/var/storage/rapports-publics/074000732.pdf. 424 Ebd., S. 22. 425 Ebd., S. 177.
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Neben einem Museum sollte der Centre national einen Raum der Erinnerung enthalten, dessen Gestaltung von den Mitteln der Kunst getragen werden sollte: »Ici [...] la priorité sera donnée à la solennité et à la participation, plutôt qu’à des intentions de reconstitution réaliste.«426 Breitenwirkung erzielte der zweite nationale Gedenktag vor allem durch ein Fernsehereignis. »L’édition 2007, en outre, a été marquée par la diffusion, à une heure de grande écoute, sur la chaîne publique France 3, d’une série de cinq épisodes, Tropiques Amers de Jean-Claude Barny, qui a connu un franc succès. Près de 4,7 millions de téléspectateurs l’ont regardée le premier soir, le 10 mai à 20h 55, contredisant ainsi les discours trop souvent ressassés sur l’absence d’intérêt du public français pour cette partie de notre histoire.«427
Die Handlung des Films spielt sich auf den Antillen in den Jahren 1788 bis 1812 ab, sie umfasst also sowohl die erste Abschaffung der Sklaverei als auch deren Wiedereinführung durch Napoleon Bonaparte. Es war die erste französische Fernsehproduktion dieser Art. In den Medien wurde sie mit der in den 1970er Jahren in den USA erstausgestrahlten Serie »Roots« verglichen, die heute rund um den Globus Kultstatus genießt. Mit Zuschauerzahlen, die für alle Termine einem Publikumsanteil von knapp 20% entsprachen428, dürfte die »evening soap opera«429 eine nachhaltigere Wirkung als die elitäre Veranstaltung im Jardin du Luxembourg erzielt haben. Im Folgenden wurde es zunächst etwas ruhiger um die Journée des mémoires. Gegen Jahresende zog der in vielen Fragen durchaus kritische CPME in seinem Bericht dennoch eine positive Gesamtbilanz zur Gestaltung des Gedenktags. »Le CPME se réjouit de l’ampleur et de la diversité des manifestations organisées le 10 mai 2007 et autour de cette journée [...]. L’ensemble de la métropole est concerné, mais aussi l’outre-mer, l’étranger. Elle donne lieu à des cérémonies: inauguration de plaques, de stèles, de noms de rues ou de places, dépôt de gerbes, fleurs jetées dans les fleuves de la façade atlantique, marches de recueillement silencieuses. Sont honorés les ancêtres, les victimes, les révoltés, les militants des abolitions, anonymes ou célèbres.«430
Im Hinblick auf die erstrebte gesamtgesellschaftliche Wirkung erschien den Mitgliedern dies jedoch keinesfalls ausreichend. »La création d’un Centre [national] nous paraît un geste nécessaire et fondamental à l’heure où des informations fragmentées (comme celles sur l’enseignement de l’esclavage) peuvent mener à des confusions et des prises de position hâtives; à l’heure aussi où la diffusion de données
426 Ebd., S. 155. 427 CPME: Rapport (November 2007), S. 8. Vgl. auch Cornu, Francis: »Le roman vrai de l’esclavage«, in: Le Monde vom 7.5.2007 und Simon, Nathalie: »Au temps de la colonisation«, in: Le Figaro vom 10.5.2007. 428 CPME: Rapport (November 2007), S. 94. 429 J.D. Garrigus: French Slavery, S. 195. 430 CPME: Rapport (November 2007), S. 8.
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(dates, faits et noms) doit constituer un fonds commun pour faire obstacle aux raccourcis simplistes.«431
Seit Edouard Glissant einige Monate zuvor seinen Bericht präsentiert hatte, waren in dieser Hinsicht keine konkreten Schritte mehr erfolgt. Der Schriftsteller selbst nutzte die dritte Journée des mémoires daher dazu, in einem unter anderem in der Libération erschienenen Artikel für die Umsetzung seines inhaltlichen Entwurfs zu werben.432 Der neue Staatspräsident Nicolas Sarkozy kündigte in seiner Ansprache am 10. Mai 2008 zwar an, dass die Einrichtung des von seinem Vorgänger versprochenen Centre national pour la mémoire des esclavages et de leurs abolitions »sehr bald« erfolgen werde.433 Das verbale Bekenntnis blieb jedoch folgenlos. Rhetorisch stellte sich Sarkozy ganz eindeutig auf den Boden der von einigen Mitgliedern seiner eigenen Partei wiederholt kritisierten Loi Taubira und bezeichnete die koloniale Sklaverei ohne Umschweife als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Erinnerungsarbeit nahm er in erster Linie Bezug auf den Schulunterricht. In der Lehre an den Gymnasien sollte dieser Teil der französischen Geschichte nur eine relativ indirekte Rolle erhalten, nämlich über die Lektüre von Aimé Césaire. Als klaren Schritt in Richtung der nationalen Implementierung der Erinnerung hob er die Integration des Themas Sklavenhandel in das Unterrichtsprogramm der Grundschulen hervor. 434 Diese Positionierung des geschichtspolitisch streitbaren Präsidenten zog allerdings eher höhnische Kommentare nach sich, unter anderem in der Libération: »[E]ncore une mauvaise note pour Sarkozy! Le Président a déclaré samedi que ›la traite des Noirs, l’esclavage, ainsi que leur abolition, seront introduites dans les nouveaux programmes de l’école primaire dès la rentrée prochaine‹. Or, ils le sont déjà.«435 Einmal mehr rief der Staatspräsident zu Einigkeit in Erinnerung und Gedenken auf: »Le devoir de mémoire ne peut souffrir des concurrences et des clivages. [...] Le devoir de mémoire doit nous rassembler.«436 Im Vordergrund standen die republikanischen Werte und der Stolz auf ihre vermeintlich prägende Rolle für die Essenz der französischen Nationalgeschichte: »A partir de cette histoire douloureuse, la République s’est construite. Elle s’est construite sur ces valeurs d’humanité et de respect de l’Homme.«437 Darüber hinaus legte Sarkozy aber besonderes Gewicht auf die Betonung der »tragischen« Dimension der Vergangenheit; das Wort »Tragödie« fiel in der Ansprache insgesamt vier Mal. Er knüpfte zudem an Perspektiven an, die zuvor vor allem in der Rhetorik der sozialistisch dominierten Regierungskoalition von Lionel 431 Ebd., S. 10. 432 Vgl. Glissant, Edouard: »Pour un Centre national à la mémoire des esclavages«, in: Libération vom 9.5.2008. 433 Sarkozy, Nicolas: Déclaration de M. Nicolas Sarkozy, Président de la République, sur le devoir de mémoire concernant la traite négrière et l’esclavage, Paris, 10.5.2008, http://dis cours.vie-publique.fr/notices/087001428.html. 434 Vgl. ebd. 435 R.P.: »Enseignement de l’esclavage. Encore une mauvaise note pour Sarkozy!«, in: Libération vom 12.5.2008. 436 N. Sarkozy: Déclaration, 10.5.2008. 437 Ebd.
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Jospin aus dem Jahr 1998 ihren Niederschlag gefunden hatten. So lobte der konservative Präsident ausdrücklich die historische Leistung von Männern wie Abbé Grégoire und Rousseau, aber auch von Delgrès und Toussaint-Louverture. Er achtete zudem darauf, die nach wie vor weniger bekannten Helden und Heldinnen der Überseedepartements ebenfalls zu würdigen – und zwar als ehrenwerte Vertreter/-innen des republikanischen Frankreichs. »Des hommes [sic] ont fait honneur aux valeurs de la République. Dimitile, Cimendef, la Mulâtresse Solitude… Ils étaient esclaves. Et ils ont été les premiers à combattre leur oppression.«438 Im Gegensatz dazu spielt Victor Schœlcher keine tragende Rolle in dem Redetext, der hiermit an die Umverteilungsstrategie von historischer Handlungsmacht erinnert, die sich aus Schlüsseltexten von New Labour zur Erinnerung an die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels herauslesen lässt. Von der allgemeinen Öffentlichkeit und nicht zuletzt von den nationalen Medien wurde die dritte Auflage des Gedenktags für Sklaverei, Sklavenhandel und ihre Abschaffungen höchstens am Rande zur Kenntnis genommen. Und auch aus dem Vereinsmilieu meldeten sich kritische Stimmen. »[L]a partie officielle de la commémoration [...] n’a pas recueilli l’adhésion, c’est un euphémisme, des principaux intéressés, à savoir ceux qui se considèrent comme les descendants des esclaves«, 439 schrieb Claude Ribbe vor diesem Hintergrund. »Rien n’oblige, par ailleurs, à rester dans l’enclos du jardin du Luxembourg.«440 Auf mehr Interesse als die offizielle Zeremonie stieß tatsächlich ein unter der führenden Beteiligung des Radiosenders Tropiques FM organisierter »Marche des libertés«. Auch in anderer Hinsicht deutete das Jahr 2008 auf die relativ fragile und ambivalente Position des noch jungen nationalen Gedenktags hin. Auf persönliche Anregung von Nicolas Sarkozy ließ Premierminister Fillon ein Rundschreiben in den Regierungsministerien zirkulieren.441 In diesem hob er generell die Bedeutung des 10. Mai hervor und erbat sich ein entsprechendes Engagement der öffentlichen Institutionen. Entscheidend war allerdings eine Neuerung, die der Präsident auch in seiner Ansprache im Jardin du Luxembourg verkündete: »La date du 23 mai [...] deviendra une journée commémorative pour les associations qui regroupent les Français d’outre mer de l’hexagone et qui souhaitent célébrer le passé douloureux de leurs aïeux.« 442 Nachdem Le Figaro zunächst vermeldete, die Journée des mémoires sei damit verlegt443, bestehen nun beide Daten nebeneinander. Die Erinnerung an die Geschichte der Sklaverei und der Versklavten als solche – und das heißt auch, an die Folgen einer negativ besetzten, kolonialfranzösischen Handlungsmacht – wurde 438 Ebd. 439 Ribbe, Claude: Commémorations nationales. L’exemple du 10 mai, Blog-Eintrag, 15.11.2008, www.claude-ribbe.com/dotclear/index.php?2008/11/15/94-commemorationsnationales-le-10-mai. 440 Ebd. 441 Vgl. auch Circulaire du 29 avril 2008 relative aux commémorations de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions (NOR: PRMX0811026C), JORF (Lois et Décrets) 103/2008, S. 7323, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT 000018740271. 442 N. Sarkozy: Déclaration, 10.5.2008. 443 Leclair, Agnès: »Sarkozy. Apprendre l’histoire de l’esclavage aux 9-10 ans«, in: Le Figaro vom 12.5.2008.
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hiermit zum Teil in den geschichtspolitischen Hoheitsbereich der führend aktiven Assoziationen ausgelagert, die ihre eigenen Veranstaltungen neben der offiziellen Zeremonie organisieren. Damit gab es in Frankreich insgesamt sechs mehr oder weniger offizielle Gedenktage, die der Geschichte der Sklaverei und in erster Linie ihrer Abschaffung gewidmet waren, zwei davon mit Gültigkeit im kontinentaleuropäischen Teil des Landes. Im Zuge der Departementalisierung von Mayotte trat nach dem Vorbild der übrigen DOM ein weiterer hinzu.444 Bei Einbezug der internationalen, von der UNESCO propagierten Gedenkdaten erhöht sich die Zahl nochmals. Der CM98 feierte die offizielle Anerkennung »seines« Tags des Opfergedenkens wie einen Triumph.445 Andere Vertreter/ -innen der descendants d’esclaves sahen den Zug der Regierung vor dem Hintergrund der beschriebenen Vielzahl von Daten dagegen kritischer. Nicht zuletzt Claude Ribbe entrüstete sich in seinem Internet-Blog öffentlich: »Faut-il rappeler qu’une journée de commémoration est une journée destinée à rassembler tous les Français [...]?«446 Den 23. Mai stellte er – für die Gegenwart überwiegend korrekt, aber unter Ausblendung des geschichtspolitischen Großereignisses von 1998 – als Angelegenheit eines einzelnen Vereins dar und zog daher den Schluss: »[I]l n’était pas souhaitable qu’une circulaire vînt officialiser une date supplémentaire pour l’imposer aux autres association [...]. Il n’était pas nécessaire non plus d’embrouiller les Français qui ne comprennent pas l’utilité de doubler la date d’une même commémoration, ce qui est de nature à remettre en question la loi Taubira.«447 Bei Aktivisten wie Claude Ribbe hatte die offizielle Organisation des 10. Mai 2008 auch deswegen Unzufriedenheit hervorgerufen, weil sie ohne eine führende Beteiligung des CPME erfolgt war. In der Folgezeit versuchte das neu als Comité pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage (CPMHE) konstituierte Regierungskomitee seinen Zugriff wieder zu verstärken. Unter dem Vorsitz von Françoise Vergès setzte es sich außerdem für eine stärkere internationale Ausrichtung der Erinnerungsarbeit ein. Beide Zielsetzungen machten sich bereits am 10. Mai 2009 bemerkbar, der in die Übergangsphase zwischen den Mandaten von CPME und CPMHE fiel. Der Gedenktag zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass die zentrale Zeremonie nicht nur den Jardin du Luxembourg, sondern auch die Hauptstadt verließ. Auf Vorschlag des CPME fand sie in Bordeaux statt. Die Verlegung an einen historisch authentischen Ort des transatlantischen Sklavenhandels sollte nicht nur daran erinnern, dass verschiedene Städte und Regionen in Frankreich von dieser Geschichte beeinflusst wurden – und nicht wenige von ihnen stärker als Paris, auch wenn im Einzugsgebiet der Hauptstadt heute ein Großteil der aus den Überseedepartements in die Metropole übergesiedelten
444 Décret n° 2012-553 du 23 avril 2012 modifiant le décret n° 83-1003 du 23 novembre 1983 relatif à la commémoration de l’abolition de l’esclavage (NOR: OMEO1130763D), JORF 98/2012, S. 7373, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT 000025743756&categorieLien=id. Mayotte hatte den Tag zum Andenken an die Abschaffung der Sklaverei bereits zuvor am 27. April begangen, bis 2011 als collectivité d’outremer. 445 Vgl. z.B. V. Rolle-Romana: Historique. 446 C. Ribbe: Commémorations nationales. 447 Ebd.
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Französinnen und Franzosen lebt. Die räumliche Veränderung sollte auch die internationale Öffnung des Gedenkens begünstigen, zum einen durch die Atlantiknähe der Stadt, zum anderen durch eine verstärkte Einbindung der UNESCO, die in Bordeaux als Träger des Weltkulturerbeprogramms und des Projektes Slave Route präsent war.448 Allerdings nahmen weder der Premierminister noch der Staatspräsident die Reise in die Provinz auf sich. Die Leitung der Veranstaltung lag damit in den Händen des örtlichen Bürgermeisters, Alain Juppé, und einer Delegation aus Paris, die unter anderem drei Regierungsmitglieder umfasste, namentlich die amtierende Innenministerin, den Minister für die Angelegenheiten der Überseegebiete und die Leiterin des Kulturministeriums.449 Im Zentrum der Gedenkfeier stand die Eröffnung einer neuen Dauerausstellung zum Thema »Bordeaux, le commerce atlantique et l’esclavage« im Musée d’Aquitaine. »Après dix ans de réflexion et de querelles sur la manière de mener ce travail de mémoire, le port de la lune accepte enfin de se confronter à cet épisode de son histoire. Mais il le fait avec un maximum de pudeur. [...] [L]e musée a choisi une version chaste et lisse du récit. Ni brutalité, ni cris, ni douleur. Rien de spectaculaire ou de déchirant.«450 In Anbetracht der weiteren erinnerungskulturellen Entwicklung könnte aus diesem Kommentar eine Anspielung auf das ISM herausgelesen werden. Dennoch erinnert zumindest die »mur de diversité«, welche die Ausstellung abschließt, auf ihre Art an die »black achievers’ wall« in Liverpool. Besonderen Wert legte die Museumsleitung nach eigenen Aussagen auf eine konsequente historische Kontextualisierung des Sklavenhandels. Die umfasst eine Präsentation des kulturellen und geistigen Reichtums der Stadt im 18. Jahrhundert ebenso wie eine Betonung der internationalen Dimensionen des Handels mit Sklavinnen und Sklaven aus Afrika. Nach Juppés Auffassung verkörperte die Ausstellung damit eine Art »goldenen Mittelweg« der öffentlichen Repräsentation der Geschichte, »une politique de juste mémoire [...] sans pour autant jeter l’anathème sur de très lointains descendants de commerçants négriers«.451 Kritische Stimmen sahen in diesem Vorgehen dagegen eher eine Verwässerung konkreter historischer Verantwortlichkeiten, seien es individuelle, lokale oder nationale.452 Auch die in den Jahren 2009 und 2010 von den die Person des Präsidenten vertretenden Regierungsmitgliedern gehaltenen Reden widmeten sich dem Thema Sklaverei in diesbezüglich ebenso wie insgesamt wenig inspirierter Weise. »Michèle Alliot-Marie’s and Brice Hortefeux’s addresses […] offered little more than banal eulogies to republican universalism, to the point where the connections between France and slavery had become so tenuous as to be almost entirely absent.«453 Im Sinne der vom CPMHE favorisierten Entwicklung sollte es sich als günstig erweisen, dass die nächste Auflage der Journée des mémoires im so genannten »Year of Africa«, dem runden Jubiläumsjahr der nationalen Unabhängigkeiten zahlreicher afri-
448 CPME: Bilan et propositions. 449 N.N.: »Bordeaux inaugure un premier espace feutré en mémoire de l’esclavage«, in: Libération vom 9.5.2009. 450 Ebd. 451 Zit. n. ebd. 452 Ebd. 453 N. Frith: Crime and Penitence, S. 235.
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kanischer Staaten, stattfand. »Sur proposition du Comité [...] la cinquième journée nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage est placée cette année sous le signe de la solidarité avec Haïti et dans le cadre des célébrations du cinquantenaire des indépendances africaines.«454 Diese thematische Rahmung stellte auch einen Schritt in Richtung der kolonialhistorischen Kontextualisierung von Sklavenhandel, Sklaverei und ihren Abschaffungen dar, einer weiteren Priorität des CPMHE unter dem Vorsitz von Vergès. Wie üblich fand eine Zeremonie am nationalen Denkmal im Jardin du Luxembourg statt. Der Präsident wurde dabei allerdings ein zweites Mal durch den Innenminister vertreten, der eine Botschaft verlas, in deren Zentrum die historische und aktuelle Verbindung der französischen Republik und der universellen Menschenrechte stand. Um zu illustrieren, dass darüber hinaus keine wesentlichen Neuerungen für den Interpretationsrahmen des Gedenkens eingebracht wurden, genügt es, den ersten und den letzten Satz des Textes zu zitieren: »Commémorer aujourd’hui l’abolition de la traite et de l’esclavage, c’est refuser l’oubli et c’est affirmer une volonté. [...] [E]n célébrant le souvenir des victimes de l’esclavage et de leur combat contre la servitude, nous contribuons à renforcer les liens qui nous unissent au sein de la communauté nationale, autour des valeurs de la République et de la France.«455 Die im Vergleich zum Tempo der ersten Jahre relative Stagnation in der Weiterentwicklung des öffentlichen Gedenkens an die Sklaverei wurde im Jahr darauf allerdings bereits wieder unterbrochen. Die sechste Journée des mémoires war in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit. Zum einen war 2011 zugleich Année des outre-mers in Frankreich wie auch das von der UNESCO ausgerufene International Year of People of African Descent. Vom CPMHE besonders in den Vordergrund gerückt wurde allerdings der 10. Jahrestag der Loi Taubira, die seit 2006 in ihrer erinnerungskulturellen Bedeutung kontinuierlich weiter aufgewertet worden war.456 Die Regierung und namentlich Präsident Sarkozy würdigten den Tag mit einer entsprechend herausragenden Geste: der Einweihung einer großformatigen Gedenktafel im Jardin du Luxembourg, die auf eine Anregung des offiziellen Beratungskomitees zurückging. Am 10. Mai 2011 war also einmal mehr ein großer Teil des Senatsparks für die Öffentlichkeit gesperrt und von nationalen Sicherheitskräften umstellt. Im Rahmen der Feierstunde sprach Nicolas Sarkozy vor geladenen Gästen, unter ihnen wie üblich auch Christiane Taubira und Françoise Vergès. Währenddessen wartete eine kleine Gruppe von überwiegend dunkelhäutigen Menschen vor den Toren auf den Moment, in dem sie das neue Monument ihrerseits würden sehen können. Am Rande der offiziellen Veranstaltung kam es außerdem zu einem kleineren Zusammenstoß von Sicherheitsleuten mit den Anhängerinnen und Anhängern der Alliance Noire Citoyenne, die sich
454 CPMHE: 10 mai 2010 – Cinquième journée nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions, www.cpmhe.fr/spip.php?article880. 455 Sarkozy, Nicolas: Message du président de la République, verlesen durch Innenminister Brice Hortefeux, Paris, 10.5.2010, http://www.cnmhe.fr/spip.php?article884. 456 Unter anderem gibt es in Saint-Paul (La Réunion) inzwischen auch ein Gymnasium mit einem entsprechenden Namen. Bei der Einweihung des Lycée Saint-Paul IV, Lycée du 10 mai war auch der Bürgermeister der Stadt Paul Vergès, Vater von Françoise, anwesend, vgl. CPME: Rapport (November 2007), S. 85.
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weigerten, ihre T-Shirts mit der Aufschrift »Brigade Anti-Négrophobie« abzulegen.457 Dieser störte den Ablauf des Ereignisses allerdings kaum. Davon abgesehen blieben in Paris größere Demonstrationen der Unterstützung oder des Protests aus. Trotz der gleich mehrfach symbolpolitisch aufgeladenen Zeremonie und der Einweihung eines neuen hauptstädtischen Denkmals durch den Staatspräsidenten zeigten sich zudem auch die Medien kaum interessiert. Dies veranlasste den CPMHE, ein entsprechendes Kommuniqué herauszugeben, in dem er sich irritiert über die verhaltene Berichterstattung äußerte. »Alors que la société française montre des signes de maturité, que des cérémonies et des événements ont lieu dans tout le territoire, la presse nationale fait le choix du silence«.458 Es war 2011 nach zweijähriger Pause das erste Mal, dass der französische Präsident selbst wieder eine Rede anlässlich des Gedenktages an die Geschichte der Sklaverei und ihrer Abschaffungen hielt. »The physical presence of Sarkozy for this ceremony was greeted with no small degree of cynicism by the journalist of France Guyane, who noted that ›he has only participated twice since his election, the last time being three years ago. And this time, right before the presidential elections next year, he has pulled out all the stops!‹«459 Die Einweihung der Gedenktafel und die in diesem Zusammenhang vorgetragene Rede des Präsidenten stießen jedoch auf ein insgesamt positives Echo; Christiane Taubira soll von den Worten sogar zu Tränen gerührt worden sein. »[D]id this represent a genuine moment of reconciliation between hardline ›anti-repentants‹ personified by Sarkozy, and the counter-memories of marginalised groups whose demands for recognition had been mediatised and politicised as a threat to French identity?«460 Nicola Frith kommt zu einem ernüchternden Urteil. »[G]iven the well-known inconsistencies in Sarkozy’s approach to history […] it remains difficult not to see in this performance anything other than a publicity stunt«.461 Die fast ausschließlich in den regionalen Medien der Überseedepartements verbreitete Botschaft der Veranstaltung sei mit gezieltem wahltaktischen Kalkül auf eben dieses Publikum ausgerichtet gewesen, dass traditionell stark den französischen Linksparteien zuneigt. Die Rede bedient sich der wohlbekannten Elemente republikanischer Rhetorik, setzte aber auch neue Schwerpunkte. Auffällig insbesondere am ersten Teil des Textes war die konsequente Verknüpfung des Gedenkens an die Sklaverei mit der Erinnerung an den Völkermord an den Jüdinnen und Juden in Europa. Dabei ließen sich auch die bleibenden Spuren der Kontroversen um Dieudonné M’Bala M’Bala und Olivier Grenouilleau erkennen. Es überrascht nicht, dass Nicolas Sarkozy seine Position auf der Seite des akademischen Arguments bezog: »L’esclavage ne fut pas une grande entreprise délibérée d’extermination mais ce fut une immense entreprise d’exploitation 457 Zu dem Vorfall vgl. z.B. die private Videoaufzeichnung unter https://www.youtube.com/ watch?v=B04JWQ-vS0c. Die Allianz stand Dieudonné M’Bala M’Bala relativ nahe, vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 251 ff. 458 Vgl. CPMHE: Le dévoilement d’une stèle rendant hommage aux esclaves, un geste occulté par les medias nationaux, www.comite-memoire-esclavage.fr/spip.php?article971 sowie die zugehörige Presseerklärung www.comite-memoire-esclavage.fr/IMG/pdf/Un_ geste_ occulte_Communique_du_CPMHE_du_11_mai_ 2011-2.pdf. 459 N. Frith: Crime and Penitence, S. 227. 460 Ebd., S. 228. 461 Ebd., S. 238.
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qui fit énormément souffrir et qui tua massivement.«462 Auch über den Aspekt des menschlichen Leidens hinaus konstruierte und betonte der Präsident aber eine bemerkenswert enge historische Verbindung zwischen transatlantischem Sklavenhandel und Holocaust. Dabei sprach er sich mit Nachdruck für eine Pflicht zur Erinnerung aus: »Pas plus que la mémoire humaine ne doit oublier la Shoah, elle ne doit oublier l’esclavage, parce que l’une et l’autre expriment une leçon universelle.«463 Das Ausmaß an ausgeübter und erlittener Gewalt im Rahmen der systematischen Entrechtung und der Zwangsarbeit beschrieb er entsprechend bildhaft und detailliert. Der Blick erfasste die Sklavinnen und Sklaven vor allem als amorphes Kollektiv und reduzierte sie dabei auf eine passive und historisch statische Opfergruppe. Ihrem Widerstand, ihrem Handeln überhaupt wies der Text lediglich eine marginale Rolle zu, die für den Verlauf der Geschichte kaum relevant erschien. Sowohl im Hinblick auf die Frage der Agency als auch auf die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus der Erinnerung bezog Sarkozy also eine deutliche und überwiegend konservative Position. Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass die Inschrift der Gedenktafel andere Akzente setzte. Der Text geht nicht zuletzt auf den Einfluss des CPMHE zurück. »[D]ix ans après l’adoption de la loi du 21 mai 2001, [le] Comité a défendu, auprès des plus hautes autorités de la République, le principe du dévoilement d’une stèle portant l’hommage écrit de la nation à la mémoire des esclaves de ses anciennes colonies pour leur rôle dans l’avènement de l’universalité des droits humains et des idéaux républicains.«464
Im Zentrum der in Stein gravierten Botschaft stehen entsprechend die französische Republik und die mit ihr traditionell assoziierten Werte – aber auch der aktive Beitrag der Sklavinnen und Sklaven zur Geschichte: »Par leurs luttes et leur profond désir de dignité et de liberté, les esclaves des colonies françaises ont contribués à l’universalité des droits humains et à l’idéal de liberté d’égalité et de fraternité qui fond notre république / La France leur rend ici hommage.« Die Tafel mit diesem Text steht nun als Ergänzung des nationalen Denkmals Le cri, l’écrit im Jardin du Luxembourg. Die internationale Perspektive des nationalen Gedenkens wurde auch im Jahr 2012 wieder hervorgehoben, in dem der Gedenktag explizit europäisch ausgerichtet wurde465 – im Zusammenhang mit der Geschichte des Sklavenhandels, für die vor allem atlantische Beziehungsnetze eine Rolle spielen, ein bislang eher ungewöhnlicher Fokus. »Avec des invités d’honneur venus de Grande-Bretagne, du Portugal, d’Espagne, des Pays-Bas, du Danemark, de Suède, et bien sûr de France, la cérémonie 2012 met l’accent sur les actions et l’engagement des société européenne dans le travail de 462 N. Sarkozy: Message, 10.5.2011. 463 Ebd. 464 CPMHE: Pour une réforme du Comité de la mémoire et l’histoire de l’esclavage. Avis au gouvernement remis à la ministre chargée de l’Outre-mer et au ministre de la Culture et de la communication, Februar 2012, S. 15, www.comite-memoire-esclavage.fr/IMG/pdf/ AVIS_AU_GOUVERNEMENT_-_VERS_UNE_NOUVELLE_ETAPE_-_16_FEVRIER _2012-2.pdf. 465 Vgl. CPMHE: 10 mai 2012 – Cérémonie officielle pour la Journée nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions, www.cpmhe.fr/spip.php?article1016.
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mémoire autour de la traite, l’esclavage et de leurs abolitions.«466 Der CRAN für seinen Teil organisierte am 23. Mai eine öffentliche Diskussion zum Thema Reparationen; der Eintritt war frei. Im Übrigen fiel der 10. Mai erneut in die Phase der Transition zwischen zwei Präsidentschaften, die in diesem Fall auch einen Machtwechsel der regierenden Partei mit sich brachte. Zum ersten Mal seit 1995 hatten sich die französischen Wählerinnen und Wähler mehrheitlich für den Kandidaten des PS ausgesprochen. Angesichts des noch nicht vollzogenen Übergangs kam ein offizieller Wortbeitrag des Siegers François Hollande bei der Zeremonie anlässlich der Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage de leurs abolitions aus formalen Gründen nicht in Frage. Dennoch legte der künftige Staatschef Wert darauf, im Rahmen der ihm offen stehenden Möglichkeiten ein erstes Signal zu setzen. 467 Am Rande der Veranstaltung gab er gegenüber den versammelten Journalistinnen und Journalisten eine kurze Stellungnahme ab, in dem er die Bedeutung des Gedenktags betonte. »Je voulais donner ce message de rassemblement autour de nos mémoires et de ce qu’est notre histoire. Cela renseigne sur ce que sera mon attitude comme président.«468 Nicolas Sarkozy erschien dagegen nicht am Veranstaltungsort. Die Erinnerung an die Sklaverei war auch als Thema im Wahlkampf präsent gewesen. Hollande hatte sich interessiert sowie um positive Signale bemüht gezeigt und nicht zuletzt die Etablierung des nationalen Geschichtszentrums explizit befürwortet.469 Von einem um Wählerstimmen werbenden Kandidaten war zwar letztlich nichts anderes zu erwarten gewesen, aber die Zusammensetzung der Regierung gab zunächst ebenfalls Grund zur Hoffnung auf die Erfüllung bestehender geschichtspolitischer Erwartungen. Die Ernennung von Christiane Taubira zur Justizministerin dürfte insbesondere von vielen descendants d’esclaves mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen worden sein. Bei seinen Landsleuten zu dieser Zeit noch vergleichsweise unbekannt, hatte zudem Jean-Marc Ayrault vor seinem Amtsantritt als neuer Premierminister eine wichtige Rolle für die öffentliche Erinnerung an die Geschichte von Sklaverei und Emanzipation gespielt, auf die im nächsten Kapitel näher einzugehen sein wird. Die von François Hollande und seinem Kabinett tatsächlich unternommenen Schritte muten vor diesem Hintergrund zunächst eher bescheiden an. Weder kam Frankreich der Einrichtung eines Centre national pour l’Histoire et la Mémoire de la traite négrière, de l’esclavage et leurs abolitions wesentlich näher, noch brachte die 466 CPMHE: 10 mai 2012 – Journée Nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leur abolition [sic], http://www.cnmhe.fr/spip.php?article996. 467 Vgl. v.a. Revault d’Allonnes, David/Wieder, Thomas: »›Adieu François, bonjour président‹. M. Hollande entre deux rôles«, in: Le Monde vom 12.5.2012. 468 François Hollande zit. n. Barotte, Nicolas: »Hollande se prépare à petits pas. Le président élu a effectué plusieurs déplacements symboliques, tout en continuant discrètement de préparer ses équipes en coulisses«, in: Le Figaro vom 11.5.2012. 469 In dieser Hinsicht aktiv war u.a. eine Organisation mit dem Namen Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs, die ihren Sitz und ihr Hauptaktionsfeld in Bordeaux hatte. In der Zeit des Wahlkampfs um die Präsidentschaft bat die Organisation die aussichtsreichsten Kandidatinnen und Kandidaten um eine direkte Stellungnahme zu dem seit 2006 nicht wesentlich vorangebrachten Projekt der Einrichtung eines nationalen Zentrums zur Geschichte der Sklaverei. Vgl. AFP: »Hollande supprimera la mention de race dans la Constitution«, in: Libération vom 11.3.2012.
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Neukonstituierung des CPMHE als CNMHE die von Françoise Vergès gewünschte Weiterentwicklung. Die Vorsitzende des Komitees hatte sich für eine explizite Neubegründung des Gremiums ausgesprochen, das ihrer Vorstellung nach für eine integrative Behandlung von Sklaverei und Kolonialismus stehen sollte; ein solcher Schritt hätte das Kompetenzfeld und damit den potentiellen geschichtspolitischen Einfluss erheblich erweitert.470 Die Rede des neuen Präsidenten anlässlich des 10. Mai im Jahr 2013 blieb im Verhältnis zu früheren präsidialen Ansprachen kurz. Vor dem Hintergrund einer laufenden Kampagne des CRAN bezog Hollande eine konservative Position zur Idee finanzieller Entschädigungen. Seine ablehnende Haltung begründete er vor allem moralphilosophisch, indem er sich auf das Argument stützte, dass die menschlichen Folgen des enormen Verbrechens letztlich irreparabel seien. Zwar fokussierten sich die Reaktionen in der Presse in den folgenden Tagen vor allem auf den umkämpften Reizbegriff der Reparation. Die Schlagzeile in Le Monde spiegelte allerdings das eigentliche Schlüsselthema der ersten vom neuen Präsidenten geleiteten Veranstaltung im Jardin du Luxembourg wider: »Hollande salue les artisans de la mémoire«. Über weite Teile seiner Rede lobte der Präsident die zahlreichen der Erinnerung an die koloniale Sklaverei gewidmeten Initiativen. Ganz explizit hob er auch diejenigen hervor, die aus dem Umfeld der geschichtspolitischen Assoziationen hervorgegangen waren, deren Verhältnis zur Regierung in der Vergangenheit nicht immer das beste gewesen war. Er begann dabei mit der Erwähnung von Serge Romana, dem CM98 und dem 23. Mai. Hiermit richtete Hollande seine Rede auf das an dem jährlichen Ritual hauptsächlich interessierte Publikum aus – und erhielt vor Ort den entsprechenden Beifall. Er setzte aber zudem ein Zeichen für eine demokratische Geschichtskultur, in der nichtstaatliche Akteure legitimen Einfluss auf die Gestaltung der nationalen Erinnerungskultur ausüben. Exemplarisch für die französische Entwicklung kann damit auch ein weiterer wichtiger Moment des Gedenkens im Mai 2013 stehen: Die Einweihung von zwei Denkmälern im Norden der Region Île-de-France. Beide sind eng mit dem Wirken des CM98 verbunden; den Fokus bildet die Sklaverei selbst, anstelle ihrer Abschaffung wird ihre Dauer betont, anstelle von Abolitionismus oder Widerstand werden in erster Linie die Opfer gewürdigt.471 Die erste Zeremonie unter der Ägide von Hollande bestätigte und verstärkte mithin die französische Tendenz, weder die Geschichte noch die aktuelle Politik, sondern die Entwicklung der Erinnerungsarbeit selbst ins Zentrum zu rücken. Eine nahezu untrennbare Verschmelzung von Geschichte und Gedenken im geschichtspolitischen Akt vollzog sich in der Ausstellung, die im selben Jahr im Jardin du Luxembourg ausgerichtet wurde. Die Kollaboration des Schauspielers und Regisseurs Luc Saint-Eloy und des togolesischen Historikers Têtêvi Godwin Tété-Adjalogo trug den Titel »Les échos de la mémoire«472 und zeichnete die Geschichte der internationalen erinnerungskulturellen Entwicklung nach. Eine innovative Spannung ergab sich aus dem Verhältnis der Text-Bild-Tafeln und der in die Stationen integrierten Tondokumente. Die weltweit ergriffenen Maßnahmen zur Verbreitung und Pflege der kollektiven Erinnerung an den 470 Siehe hierzu das Kapitel Die Aushandlung der Erinnerung. 471 Hommage aux victimes de l’esclavage, http://www.esclavage-memoire.com/lieux-de-me moire/stele-hommage-aux-victimes-de-l-esclavage-sarcelles-61.html. 472 Les échos de la mémoire, http://www.lesechosdelamemoire.com.
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transatlantischen Sklavenhandel, die bildlich präsentiert wurden, dämpften den emotionalen Effekt einer erzählten Geschichte, die in weiten Teilen von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt war. »26 lettres de l’alphabet accompagnent un parcours imagé, volontairement décalé par rapport au douloureux voyage sonore qui nous plonge au cœur d’une page sombre de l’histoire de l’humanité.«473 Durch die Darstellung einer sich international entwickelnden Erinnerungskultur, in die sich Frankreich bewusst einordnet, greift »Les échos de la mémoire« über den von Chirac und Sarkozy gesetzten, strenger nationalen Fokus hinaus. Der 10. Mai 2016 brachte schließlich neue Bewegung in die Frage des SklavereiMuseums. In der traditionellen Präsidentenrede im Jardin du Luxembourg, bei der auch Jesse Jackson anwesend war, kündigte François Hollande zunächst die Einrichtung einer der Geschichte der Sklaverei gewidmeten Stiftung mit typisch republikanischem Auftrag an. »La Fondation rassemblera toutes les mémoires et tous les Français, que leurs racines soient en Outre-mer, dans l’hexagone ou à l’étranger. La Fondation associera tous les acteurs, publics, privés, associations, entreprises.«474 Die jährlich erneut von Assoziationen und dem CNMHE geforderte Realisierung des inzwischen 10jährigen Museumsprojekts soll ein Hauptziel der Einrichtung sein. »Cette Fondation réfléchira avec la Mairie de Paris à l’édification d’un mémorial aux esclaves et d’un lieu muséographique.«475 Die Aufgabe, diese geschichtspolitische Arbeit vorzubereiten, hat der in Paris geborene Politiker und Finanzgeschäftsmann Lionel Zinsou übernommen. Er beriet die französische Regierung in afrikapolitischen Fragen und hatte in den Monaten vor der Gedenkzeremonie den Posten des Premierministers in der Regierung von Benin, dem Heimatland seines Vaters, innegehabt. Am 27. April 2018, dem 170. Jahrestag des französischen Emanzipationsdekrets, kündigte Hollandes Nachfolger Emmanuel Macron die offizielle Einrichtung der Stiftung für das laufende Jahr an. Als wissenschaftlicher Beirat der Stiftung soll der CNMHE fungieren, der ehemalige französische Premierminister Jean-Marc Ayrault könnte der erste Vorsitzende der Institution werden.476 Die zentrale Rolle des Staates für die französische Geschichtspolitik blieb also trotz gegenläufiger Tendenzen in ihrem Kern erhalten.
MEMORIAL DE L’ABOLITION DE L’ESCLAVAGE, NANTES Die Stadt Nantes nahe der Atlantikküste entwickelte sich zum wichtigsten Nebenschauplatz der erinnerungskulturellen Entwicklung in Frankreich. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem transatlantischen Sklavenhandel setzte hier früher ein als in 473 Les échos de la mémoire, http://www.lesechosdelamemoire.com/le-pari. 474 Hollande, François: Discours lors de la journée nationale des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions, Paris, 10.5.2016, http://www.elysee.fr/declarations/arti cle/discours-lors-de-la-journee-nationale-des-memoires-de-la-traite-de-l-esclavage-et-deleurs-abolitions-2. 475 Ebd. 476 France-Info: »Fondation pour la mémoire de l’esclavage: ›C’est important de connaître d’où l’on vient‹, estime son futur président Jean-Marc Ayrault«, 28.4.2018, https://www.fr ancetvinfo.fr/sciences/histoire/fondation-pour-la-memoire-de-l-esclavage-c-est-important -de-connaitre-d-ou-l-on-vient-estime-son-futur-president-jean-marc-arault_2727849.html.
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Paris und früher auch als in anderen Hafenstädten wie Bordeaux oder La Rochelle. Dies entspricht der Rolle, die der Hafen für diese Geschichte spielte: Nantes nimmt in Frankreich eine ähnliche Position ein wie Liverpool in Großbritannien. Da die Beteiligung von französischen Händlern im Vergleich zu britischen insgesamt nachrangig war, ist die Bedeutung zwar quantitativ nicht mit der von Liverpool – oder London oder Bristol – vergleichbar. Dafür dominierte die Stadt an der Loire den französischen Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven mit einem insgesamt deutlichen Abstand vor Konkurrenten wie Bordeaux oder Le Havre. Über 40% der von Frankreich aus unternommenen Fahrten sollen hier ihren Anfang genommen haben.477 Der Einstieg erfolgte früh und auch nach dem offiziellen Verbot blieben die Händler noch lange im Geschäft aktiv.478 Der Sklaven- und Kolonialhandel prägte die soziale und wirtschaftliche Struktur der Stadt mithin deutlich und langfristig. »Les gens qui comptaient à Nantes comptaient justement parce que leurs parents ou grands-parents avaient bâti leur fortune et conforté leur assise sociale grâce à l’argent de la traite.«479 Wie in Liverpool sind auch in Nantes die materiellen Spuren dieser Geschichte entsprechend gegenwärtig. »Il suffisait d’admirer l’une des têtes négroïdes dont s’ornent les façades du quartier de l’Île Feydeau où demeuraient les armateurs enrichis par le commerce triangulaire.« 480 Auf die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien folgte eine Verdrängung der städtischen Rolle für den Menschenhandel – und der Rolle des Menschenhandels für die Stadt – aus dem öffentlichen Gedächtnis. »Pendant des décennies, ce fut comme un tabou. Un secret de famille honteux. Pas une plaque. Pas un panneau. Pas un monument pour rappeler ce passé d’ancienne capitale négrière...«481 Gleichzeitig blieb die Vergangenheit unter der Oberfläche in urbanen Mythen präsent, die beispielsweise von unterirdischen Sklavenkerkern erzählten, die es in dieser Form aber nie gegeben hat.482 Erst im Laufe der 1980er Jahren setzte eine greifbare Wirkung gegenläufiger Tendenzen ein, wobei akademische Impulse zunächst eine Vorreiterrolle spielten. Im Jahr 1989 löste Jean-Marc Ayrault (PS) den konservativen Bürgermeister in seinem Amt ab. Er hielt diese Position für die nächsten 23 Jahre, bis zu seinem Antritt als Premierminister der ersten Regierung unter François Hollande. Gefordert von Verbänden ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, nun aber auch befördert durch die Stadtverwaltung, entwickelte sich der Sklavenhandel in dieser Zeit zu einem wesentlichen Bestandteil der lokalen Erinnerungskultur. Die Entwicklung kulminierte in einem in Europa einzigartigen Großprojekt, der Errichtung eines knapp acht Millionen Euro teuren Monuments zum Andenken an die Emanzipation. Offiziell eröffnet wurde der Mémorial de l’abolition de l’esclavage im März des Jahres 2012. Das Gestaltungskonzept erarbeiteten der Künstler Krzysztof Wodiczko und der Architekt Julian Bonder aus den USA. Jenseits aller Diskussionen um das ge-
477 478 479 480 481
O. Pétré-Grenouilleau: Traites, S. 209. Vgl. z.B. É. Saugera: Question(s) de mémoire. Ebd., 6. Ballu, Thierry: »Nantes a brisé le tabou avant les autres«, in: Ouest-France vom 9.5.2006. Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 482 Ballu, Thierry: »Nantes a brisé le tabou avant les autres«, in: Ouest-France vom 9.5.2006.
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naue Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis, welche die öffentliche Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte in Frankreich stark geprägt haben, lässt sich sagen, dass das Monument in Nantes seiner Intention und Funktion nach eher letzterem entspricht. »Le Mémorial situé le long de la Loire, quai de la Fosse, est à la fois ›un lieu méditatif, de recueillement et de réflexion‹ sur l’esclavage d’hier et d’aujourd’hui.«483 Der Mémorial wird zwar durch Informationstafeln ergänzt, welche die Grundlinien der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und seiner Folgen vermitteln, wobei ein besonderes Gewicht auf die Chronologie der Daten gelegt wird. Er ist aber weder ein Ersatz für ein – wie auch immer geartetes – nationales Museum und Forschungszentrum, noch ist es mit einer Institution wie dem ISM in Liverpool vergleichbar. Die kontinuierlich wiederholte Forderung des CPM(H)E nach der Einrichtung des Centre national blieb von der Eröffnung daher unberührt. Diese wurde von dem Komitee allerdings ausdrücklich unterstützt und als ein Meilenstein in die laufende erinnerungskulturelle Entwicklung eingeordnet: »C’est une marque importante dans l’histoire, après la loi Taubira ou l’inauguration d’un monument et d’une stèle au jardin du Luxembourg.«484 Bei dem Mémorial handelt es sich jedoch explizit nicht um eine Initiative von anerkannt nationalem Rang. Es erscheint in diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend, dass auch die überregionalen Zeitungen relativ wenig Interesse an dem groß angelegten Denkmal zeigten. Hierbei spielt nicht nur der Standort fernab von der Hauptstadt eine Rolle, der die potentielle Symbolkraft des Monuments in einem zentralistisch verfassten Land wie Frankreich von vornherein beschränkte. »[L]e gouvernement a décidé au final de ne pas apporter un centime au financement (du mémorial) qui a été assumé par les collectivités locales, le département, la région et l’Europe.«485 Einen Beitrag zur Realisierung des Projekts leisteten auch private Spendengelder. Dies war nicht den Absichten der Initiatorinnen und Initiatoren, sondern vor allem der ablehnenden Haltung der konservativen Regierung geschuldet. »Malgré l’insistance locale et l’intérêt du ministre de la Culture, Frédéric Mitterrand, le gouvernement est resté sourd aux multiples demandes.«486 Die Regierung in Paris weigerte sich im Übrigen auch, das Gelände am Flussufer für einen symbolischen Kaufpreis zu überlassen, was die Kosten für den Bau entsprechend erhöhte.487 Jean-Marc Ayrault gab anlässlich der Einweihung seine Enttäuschung über die Blockade zum Ausdruck: »On a prétendu que
483 Gambert, Philippe: »Contre l’esclavage, Thuram et Taubira à Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 23.3.2012. 484 Françoise Vergès zit. n. Gambert, Phillippe: »L’inauguration, par Christiane Taubira et Lilian Thuram notamment, du Mémorial de l’abolition de l’esclavage le 25 mars prochain sera précédée de rencontres qui traiteront de l’esclavage hier et aujourd’hui«, in: OuestFrance (Nantes) vom 13.3.2012. 485 Jean-Marc Ayrault zit. n. ebd. 486 Gambert, Philippe: »Lutte contre le racisme, l’appel de Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 24.3.2012. 487 N.N.: »Mémorial. Il coûtera 1 million de plus«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.10.2011.
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nous étions dans une démarche de repentance, (ce qui est faux), pour dire non au financement, ce que je regrette car un tel mémorial est une occasion pour la France de regarder lucidement son histoire.«488 Der Bürgermeister selbst unterstützte den Bau des Gedenkortes aktiv und mit Nachdruck. Er unternahm in diesem Zusammenhang sogar eine Reise nach Benin, um den ehemaligen Sklavenhandelsplatz Ouidah zu besuchen, der inzwischen zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört.489 Der Umsetzung des Projektes kam außerdem eine bisweilen auch personell enge Verzahnung von Administration und geschichtspolitischen Verbänden entgegen. Mit Octave Cestor verfügte der Stadtrat über ein Mitglied, das nicht nur offiziell für die Beziehungen zur Karibik und zu Afrika zuständig war, sondern zugleich Vorsitzender des Verbands Mémoire de l’Outre-mer. 490 Yvon Chotard, Vorsitzender des wissenschaftsnahen Vereins Anneaux de la Mémoire arbeitete von 1989 bis 2008 als Stadtbeigeordneter eng mit dem Bürgermeister zusammen. Sein Verantwortungsbereich umfasste den Tourismus und die Auslandsbeziehungen. In einem Brief an einen Vorsitzenden des überregional aktiven Verbands DiversCités hob Ayrault hervor: »[J]e suis conscient du rôle crucial des associations dans ce long et nécessaire travail de reconnaissance de cette part honteuse de notre histoire.«491 Dennoch waren auch in Nantes die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kräften nicht immer unproblematisch, und der Weg bis zur Einweihung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage war dementsprechend lang. Die Entscheidung zu seiner Einrichtung fiel mit einem Beschluss des Stadtrates 1998, im Jahr des 150. Jubiläums der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien. Die Wurzeln der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sklavenhandels, die von Beginn an ein Politikum war, reichen aber noch weiter zurück. »Tout démarre en 1985 quand la municipalité de l’époque refuse de soutenir une exposition sur le Code noir, le juridique réglant la vie des esclaves à partir du XVIIe siècle«.492 Es waren daher vor allem die Assoziation Triangle d’ébène und die Universität Nantes, die das 300. Jubiläum mit der Organisation von Veranstaltungen würdigten. Ein internationales Kolloquium des Centre de Recherches sur l’Histoire du Monde Atlantique war die erste große Wissenschaftskonferenz zum Thema in Frankreich.493 Die vom Stadtrat verweigerte Unterstützung der Jubiläumsausstellung zum Code Noir wurde 488 Jean-Marc Ayrault zit. n. Gambert, Philippe: »Lutte contre le racisme, l’appel de Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 24.3.2012. 489 N.N.: »Jean-Marc Ayrault en voyage au Bénin«, in: Ouest-France (Nantes) vom 27.8.2011. 490 Vgl. z.B. Interview mit Octave Cestor geführt von Bigorgne, Joël: »Tension autour de la Marche des esclaves à Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 6.5.2011. Auch Cestor unternahm die Reise nach Ouidah an der Küste Benins. 491 Jean-Marc Ayrault in einem Brief an Karfa Diallo, zu dieser Zeit Vorsitzender von DiversCités, 18.9.2009. Veröffentlicht wurde das Schreiben von Diallo auf der Webseite seiner späteren Organisation Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs, www.fonda tiondumemorialdelatraitedesnoirs.com/JMAyrault.pdf [nicht mehr verfügbar]. 492 Gambert, Philippe: »Nantes bâtit un mémorial à l’abolition de l’esclavage«, in: OuestFrance vom 10.5.2010. Zur frühen Entwicklung der Erinnerung in Nantes vgl. R. Hourcade: Ports négriers, S. 180 ff. 493 Vgl. Daget, Serge (Hg.): De la traite à l’esclavage. Actes du Colloque International sur la Traite des Noirs, Nantes: Centre de recherche sur l’histoire du monde atlantique 1985.
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schließlich auch zum Thema in dem Wahlkampf, der Jean-Marc Ayrault an die Macht brachte.494 Dieser plädierte für einen offenen und offensiven Umgang mit der Stadtvergangenheit und stieß damit auf offene Ohren. »Les bénéfices politiques de ce positionnement apparaissent rapidement. L’identité de Nantes est au centre de la campagne électorale de 1989. L’alternance politique permet ensuite la mise à l’agenda d’une nouvelle politique de mémoire. Avec un camp pour le ›courage de regarder le passé en face‹ et l’autre renvoyé à la ›censure‹, production du problème et politisation sont rendus indissociables«.495
Die neue Stadtverwaltung ließ ihren Worten bald Taten folgen. »Changement de municipalité, en 1992, l’exposition des Anneaux de la mémoire, exhume un passé longtemps refoulé«.496 Diese Ausstellung gilt als entscheidender Wendepunkt für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sklavenhandels in Nantes. »Plus de 400.000 personnes visitent l’exposition des Anneaux de la mémoire. Des Nantais sous le choc découvrent tout un pan occulté de l’histoire de leur ville.«497 Insgesamt war die Veranstaltung im Château des Ducs de Bretagne ein großer Erfolg. »Seuls les héritiers d’une grande famille nantaise demandèrent qu’on décroche leur blason, estimant que leurs aïeux n’avaient pas été des négriers.«498 Langfristigen Einfluss hatte die Ausstellung besonders durch die von ihr angestoßene Gründung der gleichnamigen Assoziation, die bis heute aktiv ist und akademische wie internationale Kontakte pflegt.499 »Surfant sur son succès, l’association multiplie alors les initiatives: activités pédagogiques dans les écoles; lancement des Cahiers des Anneaux de la Mémoire, revue de qualité rédigée par des chercheurs universitaires; création d’un fonds documentaire très fourni.«500 Während Mémoire de l’Outre-mer das Ausstellungsprojekt unterstützte, protestierten afrikanische Aktivistinnen und Aktivisten um Jean-Paul Ngassa vehement gegen die Ausrichtung. »Les membres de la Société Africaine mettent en avant la question, pour eux primordiale, de la reconnaissance de la traite négrière comme un ›génocide‹
494 Ballu, Thierry: »Nantes a brisé le tabou avant les autres«, in: Ouest-France vom 9.5.2006. 495 R. Hourcade: Ports négriers, S. 190. 496 Ebd. Vgl. auch Bodinier, Jean-Louis (Hg.): Les anneaux de la mémoire Nantes – Europe, Afrique, Amériques (Katalog der Ausstellung im Château des Ducs de Bretagne, 5.12.1992-4.2.1994), Nantes: Éditions Apogée 1992. 497 Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. Vgl. auch Guillet, Bertrand: »Entre refoulement et reconnaissance, occultation et exposition, comment s’est constituée, durant le XXe siècle, la collection sur la traite des Noirs au musée de Nantes«, in: In Situ (online) 20 (2013), https://doi.org/10.4000/insitu.10137. 498 Yvon Chotard zit. n. Bigorgne, Joël: »Anneaux de la Mémoire. La polémique gâche l’anniversaire«, in: Ouest-France (Nantes) vom 15.1.2011. 499 Vgl. hierzu die Webseite des Vereins unter http://anneauxdelamemoire.org. 500 Bigorgne, Joël: »Anneaux de la Mémoire. La polémique gâche l’anniversaire«, in: OuestFrance (Nantes) vom 15.1.2011.
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et un ›crime contre l’humanité‹.«501 Diese Dimension wollten sie hervorgehoben wissen; die Thematisierung anderer Aspekte lehnten sie dagegen mehr als deutlich ab, nicht zuletzt die Rolle afrikanischer Geschäftsleute für den Menschenhandel. »On mesure, au vu de ces interventions, l’ancrage idéologique de ces ›voix africaines‹ face à une recomposition de la mémoire historique qui tourne le dos aux problématiques raciales et postcoloniales. Cette contestation d’une exposition ›occidentalo-centrée‹ puise dans une tradition intellectuelle africaine radicale, militante, solidifiée dans la période de désillusion qui a suivi les indépendances.«502
Auch der Erfolg der Ausstellung bedeutete also nicht, dass hiermit ein entspanntes Verhältnis im Umgang mit der Geschichte des Sklavenhandels erreicht gewesen wäre. »Entre les trois branches du triangle, Afrique, Nantes et Antilles, ce fut parfois sur le fil du rasoir.«503 Dass Spannungen fortbestanden, demonstrierte nicht zuletzt das Jubiläumsjahr 1998. »Lors du 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage, on avait fait édifier une petite statue sur le quai de la Fosse. Elle a été vandalisée.«504 Die Zerstörung des ohne formelle Erlaubnis errichteten Denkmals rief zahlreiche empörte und emotionale Reaktionen hervor und war ein Anstoß für die Aufnahme eines offiziellen Projekts.505 Das Loire-Ufer, von dem aus die Sklavenhandelsschiffe Richtung Afrika aufbrachen, ist heute auch der Standort des Mémorial de l’abolition de l’esclavage. In Sichtweite befindet sich das noble Altstadtviertel der Île Feydeau. Der Mémorial verfügt also über eine klare Anbindung an einen historischen Originalschauplatz, der bis heute als solcher zu erkennen ist. Anfang 2002 erhielt eine Fußgängerbrücke, die in unmittelbarer Nähe zwischen dem Justizpalast auf der Île de Nantes und dem Stadtzentrum verläuft, den Namen »Passerelle Victor Schœlcher«.506 Seit 2010 besteht am Quai de la Fosse außerdem das den französischen Überseegebieten zugewandte Kulturzentrum »Louis Delgrès«. Schrittweise etablierte sich so ein Ort des lokalen Gedenkens an den Handel mit Sklavinnen und Sklaven aus Afrika, der allerdings auch in diesem Zusammenhang meist in Verbindung mit seiner Abschaffung gedacht wurde. Das Monument ist außerdem in ein Konzept eingebettet, dass den gesamten Stadtraum in den Blick nimmt. »Ce mémorial n’est pas isolé du reste de la ville. Il est relié au château des Ducs de Bretagne, où un large espace du musée est consacré à la traite négrière, par un parcours jalonné de totems: de
501 502 503 504
R. Hourcade: Ports négriers, S. 210. Ebd., S. 211. Ballu, Thierry: »Nantes a brisé le tabou avant les autres«, in: Ouest-France vom 9.5.2006. »Maguy, Antillaise de Nantes« zit. n. Gambert, Philippe: »Nantes bâtit un mémorial à l’abolition de l’esclavage«, in: Ouest-France (Nantes) vom 10.5.2010. 505 Vgl. E. Chérel: Mémorial, S. 20. 506 Vgl. hierzu den Leserbrief von Guiffan, Jean: »Victor Schœlcher, nom emblématique pour la passerelle«, in: Ouest-France (Nantes) vom 24.3.2012.
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grands panneaux d’informations situés dans des endroits clefs, quai de la Fosse et sur l'île Feydeau, où se dressent les hôtels particuliers des armateurs, cours Flesselles, et au château des Ducs.«507
Die Ausstellung im Schloss wurde wenige Jahre vor der Eröffnung des Mémorial komplett überholt und 2007 neu eröffnet.508 Als Komplement zum Gedenkort am Fluss verfolgt sie einen informationsreichen, quellennahen und explizit stadtgeschichtlichen Zugriff. Die Einweihung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage war zunächst für das Jahr 2008 vorgesehen, musste allerdings wiederholt verschoben werden.509 »Qu’il a été long à aboutir, ce projet! Il a fallu vaincre des réticences, des difficultés techniques.«510 Es waren also mehrere Faktoren, die zu den Verzögerungen führten, aber die Blockade unterschiedlicher Interessen im »comité de pilotage«, an dem Politikschaffende, Fachleute und geschichtspolitische Vereine beteiligt waren, trugen ihren guten Teil hierzu bei.511 Die Formen, Inhalte und Dimensionen des Gedenkortes nahmen erst im Zuge dieses Prozesses ihre heutige Gestalt an. »Le projet, décidé par le conseil municipal de Nantes en juin 1998, a sensiblement évolué au fil des ans: sa fonction, son prix (de 3 millions à 7,9 millions), son aspect architectural, le discours qu’il sous-entend.«512 Als die Eröffnung endlich erfolgen konnte, stieß sie auf ein vergleichsweise großes Interesse, die gilt Einwohner/-innen und Besucher/-innen der Stadt gleichermaßen. Den Eröffnungsakt übernahmen Christiane Taubira und der politisch engagierte frühere Fußballstar Liliam Thuram zusammen mit der Journalistin und Unicef-Aktivistin Claire Brisset.513 Die Zeremonie fand am 24. März statt, in Anlehnung an das Datum des britischen Abolition Act, das von den Vereinten Nationen 2007 zum »Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels« ausgerufen worden war. Sehr international ausgerichtet war auch die wissenschaftliche Konferenz, die in derselben Woche veranstaltet wurde und die zunächst als eine jährliche Veranstaltung geplant war.514 Anwesend wa-
507 Gambert, Philippe: »Esclavage. Première visite d’un lieu de mémoire«, in: Ouest-France (Nantes) vom 19.10.2011. 508 Vgl. CPMHE: Nantes. Château des Ducs de Bretagne, www.cpmhe.fr/spip.php?article691. 509 Vgl. z.B. Tigoé, Yasmine: »Esclavage. L’ouverture du mémorial reportée«, in: OuestFrance (Nantes) vom 10.11.2011. 510 N.N.: in: Ouest-France (Nantes) vom 25.1.2012. 511 Vgl. E. Chérel: Mémorial, S. 79 ff. 512 Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 513 Gambert, Philippe: »L’inauguration, par Christiane Taubira et Lilian Thuram notamment, du Mémorial de l’abolition de l’esclavage le 25 mars prochain sera précédée de rencontres qui traiteront de l’esclavage hier et aujourd’hui«, in: Ouest-France (Nantes) vom 13.3.2012. 514 Vgl. auch das Programm unter http://memorial.nantes.fr/pdf/programme_rencontres_inter nationales_du_memorial.pdf.
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ren neben der unvermeidlichen Françoise Vergès unter anderem Gäste aus Haiti, Kamerun, Benin, Guinea – und Liverpool.515 Aber: »Il faut aussi parler des absents de marque. Pas un ministre ou secrétaire d’État n’est annoncé.«516 Das Monument soll nicht zuletzt ein der Zukunft zugewandtes Denkmal des Fortschritts im Sinne der Menschenrechte sein. »Il [est] avant tout consacré aux luttes, aux résistances contre la traite, et contre tous les esclavages, d’hier et d’aujourd’hui.«517 Im Zentrum steht nicht die Geschichte, sondern die künstlerisch vermittelte Botschaft, die Assoziation, die Emotion. »Ce n’est pas un musée. Ce n’est pas un site où on raconte l’histoire. On est dans la métaphore.« 518 Seine Besucherinnen und Besucher empfängt das Denkmal zunächst mit hunderten in den Boden der Uferpromenade eingelassenen Glaselementen, die an das Konzept der deutschen »Stolpersteine« zur Erinnerung an die Deportierten des Holocaust denken lassen können. »Au cœur de chacune d’elles est gravé un nom de navire négrier. Y figurent notamment 1700 expéditions nantaises sur les quelque 1800 répertoriées. Le nom flotte dans le verre, un peu comme un bateau cinglant sur les vagues de l’Atlantique.«519 Das Herz des Gedenkortes ist über eine Treppe zu erreichen, die unter die Uferanlage führt. Hier befindet sich eine Passage, an deren Ende eine weitere Treppe an die Oberfläche zurückführt. Die Gestaltung des Gangs soll die Erinnerung an einen Schiffsbauch wachrufen. Dabei wird Atmosphäre zusätzlich akustisch untermalt, zum einen durch die Bewegungen des Flusswassers, zum anderen durch den Klang künstlich eingespielter Töne. »[C]e flux et reflux de l’océan qui régissait ce trafic maritime, reste la seule présence physique du commerce des esclaves.«520 Die Wand zur Landseite ist mit zahlreichen Zitaten in verschiedenen Sprachen versehen, die sich auf die Geschichte von Sklaverei und Rassismus beziehen; nicht zuletzt wurde versucht, die Unterdrückten selbst zur Sprache kommen zu lassen. Darüber hinaus ist die Auswahl vor allem breit angelegt. »Les textes sont signés d’esclaves, d’écrivains, de penseurs d’hier et d’aujourd’hui, de militants, d’abolitionnistes, ou même de chanteurs, de tous les pays. Avec, en dessous, répété dans toutes les langues, le mot Liberté.«521 Ergänzt wird das Ensemble durch Informationstafeln, die sich dem transatlantischen Sklavenhandel in seinen globalhistorischen Dimensionen widmen. Neben den wichtigsten Daten können die Besucher/-innen hier eine geographische Karte konsultieren, welche die europäischen Handelsströme abbildet, wobei der von Nantes bzw. Frankreich aus betriebene Sklavenhandel nicht besonders hervorgehoben wird. Ein den
515 Gambert, Philippe: »Lutte contre le racisme, l’appel de Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 24.3.2012. 516 Ebd. 517 So der Ratsabgeordnete Yanick Guin, zit. n. Gambert, Philippe: »Nantes bâtit un mémorial à l’abolition de l’esclavage«, in: Ouest-France (Nantes) vom 10.5.2010. 518 Marie-Hélène Jouzeau, Directrice du patrimoine et de l’archéologie, zit. n. Gambert, Philippe: »Esclavage. Première visite d’un lieu de mémoire«, in: Ouest-France (Nantes) vom 19.10.2011. 519 Ebd. 520 Krzysztof Wodiczko zit. n. E. Chérel: Mémorial, S. 101. 521 Dubray, Franck: »Sur les quais de Nantes, la mémoire des esclaves«, in: Ouest-France (Chantepie) vom 23.3.2012.
360 | Die nationalen Erinnerungsdebatten
Weg flankierender Zeitstrahl nennt Meilensteine des Kampfes gegen Sklaverei und Zwangsarbeit bis in die Gegenwart hinein. Abb. 4: Mémorial de l’abolition de l’esclavage, Quai de la Fosse, Nantes
Foto: S. Dinter522
»[U]n mémorial conçu comme une évocation métaphorique émotionnelle de la lutte principalement historique mais toujours actuelle de l’abolition de l’esclavage«, so lautete die Idee des Gestalterteams.523 Dieses nahm für seine Arbeit Inspirationen aus unterschiedlichen Richtungen auf. Beachtung fanden neben dem ISM in Liverpool auch Konzepte für Orte des Gedenkens an den Holocaust. Gespräche mit Olivier Grenouilleau als Fachmann für die Geschichte des Sklavenhandels und mit Pierre Nora als Kenner der französischen Erinnerungskultur waren ebenfalls Teil des Planungsprozesses.524 »Krzysztof Wodiczko et Julian Bonder ont voulu un lieu brut qui doit frapper l’imagination.«525 Dies bezieht sich zunächst auf die erbauliche Botschaft, den bürgerschaftlichen Appell zum Widerstand gegen Unfreiheit und Zwangsarbeit. »Le visiteur retourne [...] à la surface comme guidé par la déclaration des droits de l’Homme et le mot ›Liberté‹«.526 Eine solche Erfahrung entspräche den Intentionen, welche die Stadtverwaltung unter der Ägide des PS von Beginn an hauptsächlich im Blick hatte: »Porteuse d’un message de fraternité, de solidarité, et de combat, l’œuvre choisie sera un
522 Für einen Eindruck vom Aufbau vgl. den Beitrag von France 3, Mémorial de l’Abolition de l’esclavage de Nantes. Un passé assumé, www.youtube.com/watch?v=5jtLX818lFw. 523 Krzysztof Wodiczko zit. n. E. Chérel: Mémorial, S. 96. 524 Vgl. ebd., S. 98. 525 Ebd. 526 Ebd.
Entwicklung der Erinnerung in Frankreich | 361
symbole non seulement pour la ville de Nantes, mais sur le plan national et international.«527 Jedoch kann die Besichtigung des Mémorial auch ganz andere Gefühle hervorrufen, wie ein Besucherkommentar zeigt: »Quand je suis entré, j’ai ressenti un frissonnement comme si je revivais ce que ces hommes et femmes ont enduré...«528 So war die Einweihung gerade für viele afrikanischstämmige Menschen aus Nantes ein sehr bewegender Moment. Auch Christiane Taubira äußerte sich berührt: »Un flot de souvenirs me monte à la tête. Le Mémorial m’a emmenée au plus profond de moi. C’est intense, unique.«529 Der Erfolg des Denkmals konnte die Kämpfe um seine Einrichtung nicht völlig vergessen lassen, an die sich nicht zuletzt der in dieser Frage äußerst engagierte Octave Cestor lebhaft erinnerte: »Nous en avions décidé la construction en 1998. Vingt-cinq ans de débats parfois passionnés!«530 Angesichts der zur Einweihung herrschenden Stimmung schien dies allerdings größtenteils bereits der Vergangenheit anzugehören. »Cela a mis du temps, mais ce Mémorial arrive dans une ville apaisée.«531 Tatsächlich herrschte über die Thematisierung der Geschichte der Stadt als Sklavenhandelshafen an sich eine große Einigkeit. Zur Frage der Mittel und Wege gab es aber immer noch sehr unterschiedliche Meinungen. Deutlich sichtbar wurde dies am Verhältnis der Stadtverwaltung zu den einschlägig aktiven Vereinen. Die Linie der städtischen Politik wurde von diesen oft nicht prinzipiell abgelehnt. Dennoch verfolgten sie Pläne und Aktivitäten außerhalb dieses Rahmens, die sie mindestens als notwendige Ergänzungen, wenn nicht als bessere Alternativen verstanden. »L’association Les Anneaux de la Fraternité porte un projet de construction de la réplique de l’Aurore, un bateau négrier long de 35 m du XVIIIe siècle. Voilà une idée qui, dès l’origine, a suscité des polémiques.«532 Die Befürworter/-innen suchen derzeit international nach finanzieller Unterstützung für das Werk, das ihrer Auffassung nach eine ideale Komplementierung für den Mémorial wäre und in etwa den gleichen Preis haben soll.533 Die örtlichen Autoritäten wahren bislang Distanz. »Nantes Métropole, si elle ne s’oppose pas de front à ce projet, ne voit pas d’un bon œil la construction sur une longue période (5-10-15 ans?) sur l’île de Nantes.«534 Auch die unter der sozialistischen Führung verfolgte Lokalpolitik kannte also Grenzen im Angesicht von oft weitreichenden Forderungen. »L’association DiversCités exig[eait], quant à elle, que l’on débaptise
527 Ebd., S. 94. 528 So »Christian-Luc«, einer der ersten Besucher des Monuments, zit. n. Grandet, Magali: »Mémorial. Les Nantais au rendez-vous de l’histoire«, in: Ouest-France (Nantes) vom 26.3.2012. 529 Christiane Taubira zit. n. N.N.: »›Un lieu d’apaisement pour construire un avenir serein‹«, in: Ouest-France (Nantes) vom 26.4.2012. 530 Octave Cestor im Interview mit Bigorgne, Joël: »Tension autour de la Marche des esclaves à Nantes«, in: Ouest-France (Nantes) vom 6.5.2011. 531 Ebd. 532 Ph[ilippe] G[ambert]: »Un bateau négrier pour le symbole?«, in: Ouest-France (Nantes) vom 3.8.2011. 533 Ebd. 534 Ebd.
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toutes les rues nantaises portant le nom d’armateurs négriers. Refus poli mais catégorique de Jean-Marc Ayrault.«535 Die Größe des realisierten Mémorial könnte in diesem Zusammenhang künftig auch als schlagkräftiges Argument gegen die Durchführung – und Finanzierung – weiterer Schritte dienen. Besonders umstritten war in Nantes außerdem der so genannte Marche des esclaves, der sich der gleichen Formen bediente wie der Marsch der Lifeline Expedition in Großbritannien. »Cette marche, où blancs et noirs en costumes rappellent la traite, divise à Nantes.«536 Auch hier gehörten Ketten und Fußeisen, die von den Marschierenden getragen wurden, zum Repertoire. Die Demonstration fand regelmäßig anlässlich des 10. Mai statt, allerdings außerhalb des offiziellen Programms. Denn diese Art der Aktion lehnte die Stadtverwaltung kategorisch ab. Die Herangehensweise des den Marsch organisierenden Collectif du 10 mai, der sich konkret dem Andenken der zumeist anonym verstorbenen Opfer der Sklaverei zuwendet, unterscheidet sich deutlich von dem überzeitlichen Lobgesang auf den Kampf für Freiheit und Emanzipation, der sich in der Makroperspektive des Mémorial manifestiert. Aus anderen Gründen wurde das Großprojekt vom politischen Gegner des PS kritisiert. Ein naheliegender Ansatzpunkt war die Kostenexplosion, aber auch inhaltliche Differenzen kamen zum Ausdruck. So bekannte sich die Oppositionsführerin im Stadtrat zwar ausdrücklich zu einer »Geste des Erinnerns«, fügte aber hinzu: »Par contre, je n’adhère pas au projet du mémorial tel qu’il apparaît et dont la gestion a été très mauvaise. La muséographie me paraît plus adaptée à ce geste de mémoire et si les associations le demandent, un espace, comme une statue, aurait été plus adaptée.«537 Eine ähnlich distanzierte Haltung nahmen einige Wissenschaftler/-innen ein. »[L]e Mémorial n’est pas notre idéal et que nous continuons de faire à Nantes ce qu’on a toujours fait depuis 1991, un travail de mémoire par le récit historique«, erklärte Yvon Chotard als Vorsitzender von Anneaux de la Mémoire. Auch er hätte es bevorzugt, wenn die Millionen in ein Museum wie das in Liverpool geflossen wären – oder aber in ein nationales Forschungszentrum zur Geschichte der Sklaverei.538 Einen Mangel an konkretem Informationsgehalt befürchtete auch eine der ersten Besucherinnen des Mémorial: »Les esclaves ne partaient pas de Nantes et ne revenaient pas à Nantes. J’ai peur que les visiteurs fassent la confusion...«539 Die Kernbotschaft des Gedenkortes steht außerdem in einem gewissen Widerspruch zur tatsächlichen historischen Rolle der Stadt. »Un tel monument s’imposaitil? [...] [L]’historien des Anneaux de la mémoire, Jean Breteau, est sceptique: ›Nantes
535 Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 536 N.N.: »Nantes. La fille de Malcom X à la marche des esclaves«, in: Ouest-France (Chantepie) vom 9.5.2011. 537 Sophie Jozan (UMP), Regionalrätin, zit. n. ebd. 538 N.N.: »›Faisons de l’Histoire, pas de la morale‹«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 539 Zit. n. Grandet, Magali: »Mémorial. Les Nantais au rendez-vous de l’histoire«, in: OuestFrance (Nantes) vom 26.3.2012.
Entwicklung der Erinnerung in Frankreich | 363
ne peut s’arroger une mémoire abolitionniste. Elle s’est entêtée dans la traite.‹«540 Allerdings dämpften die Formen und Inhalte des Mémorial auch die Vorbehalte seitens der politischen Opposition – in deren Kommentaren sich bisweilen genau diese Doppelmoral im Umgang mit einem dunklen Kapitel der Stadtgeschichte widerspiegelte: »Notre ville se grandit à regarder son histoire en face, en assumant ses parts d’ombre et d’indignité. J’approuve donc le principe du mémorial dédié à l’abolition de l’esclavage. Loin d’être un acte de repentance, c’est la démonstration que la France lutte partout dans le monde avec détermination contre toutes formes de survivance de l’esclavage au XXIe siècle.«541
In gewissem Sinne stützt sich der Mémorial somit auf das bereits im Jubiläumsjahr 1998 von der französischen Regierung in den Vordergrund gerückte Narrativ, das vor allem die Republik von historischen Anschuldigungen abschirmen soll: »Ce récit réactualise la rupture fondatrice qu’incarne la Révolution française à partir de laquelle la responsabilité du système esclavagiste va pouvoir être rejeté sur l’Ancien Régime et sur lui seulement. De fait, l’esclavage dans les colonies françaises n’intègre cette trame narrative que sous le mode de son anéantissement accompli par une République libératrice.«542
Zudem knüpft die Botschaft, die der Gedenkort vermittelt, an das Konzept des ISM in Liverpool, aber auch an die Grundidee der Gedenktafel im Jardin du Luxembourg an. Widerständige Stimmen und Akteure erhalten einen entscheidenden Raum, dennoch tritt die aktiv handelnde Figur des Sklaven weniger als Widerstandskämpfer gegen die Kolonialmacht in Erscheinung, sondern vor allem als Verfechter von Freiheit und Menschenrechten, als deren Inkarnation sich auch die französische Republik betrachtet. Der Gegner ist vor allem die Sklaverei selbst. »This dual strategy combining the language of human rights with a bottom-up methodology that privileged the slaves’ perspective thus enabled Wodiczko to negotiate the demands of state discourse and the associations’ claims for recognition.«543
540 Jean Breteau zit. n. Gambert, Philippe: »Nantes bâtit un mémorial à l’abolition de l’esclavage«, in: Ouest-France (Nantes) vom 10.5.2010. 541 Franck Louvrier, Regionalrat (UMP), zit. n. N.N.: »La droite partagée sur le Mémorial«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 542 Chivallon, Christine: »L’émergence récente de la mémoire de l’esclavage dans l’espace public. Enjeux et significations«, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 52/5 (2005), 64-81, hier S. 78. 543 Frith, Nicola: »The Art of Reconciliation. The Memorial of the Abolition of Slavery in Nantes«, in: Dies./Kate Hodgson (Hg.), At the Limits of Memory. Legacies of Slavery in the Francophone World, Liverpool: Liverpool University Press 2014, S. 68-89, hier S. 78.
IV Vergleichende Interpretation
Umstrittene historische Handlungen
DIE GESCHICHTE DER ERINNERUNG Die Annäherung an den historischen Gegenstand der aktuellen Geschichtsdebatten stellt den typischen Fall eines Vorgehens dar, das vom Ergebnis ausgehend rückwärts recherchiert: Betrachtet werden die Konflikte, die aus der Entwicklung am Ende hervorgegangenen sind. Die Kontingenz der Entwicklungsergebnisse, die auf dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren beruhen, darf dabei nicht gänzlich vergessen werden. Dennoch deutet manches darauf hin, dass im Hinblick auf Sklavenhandel und Sklaverei, Abolition und Emanzipation die britische Geschichte »leichter« zu erinnern war als die französische. Das heißt vor allem, dass sie sich in den Rahmen narrativer Strukturen fügte, die in eine konstruktive Beziehung zu bereits vorgeprägten Motiven der nationalen Erinnerungskultur gesetzt werden konnten. Auch war die Erinnerung in Form des »Abolitionsmythos« im Vereinigten Königreich bereits im Vorfeld des Untersuchungszeitraums stärker ausgeprägt als in der Französischen Republik. Geschrieben wurde die Geschichte dabei zunächst aus dem Blickwinkel derjenigen, die sich als ihre moralischen Sieger verstanden. »Britons were the first in the world to abolish slavery. That’s the way in which the history’s been written; that’s the way it’s been memorialised. The first histories that are written do that precisely: for example, in Macaulay’s great History of England [1848], he scarcely mentions slavery – scarcely mentions the Caribbean – but he celebrates the fact of abolition. And that’s a very common pattern.«1
Die Ansätze für die Ausprägung dieses Musters gingen bereits aus der politischen Bewegung gegen den Sklavenhandel selbst hervor; die Geschichte und ihre Erinnerung sind in diesem Fall sehr eng, konkret und langfristig miteinander verwoben. Schon im Moment des Ereignisses wurde die Abschaffung des Sklavenhandels als »historisch« und unmittelbar erinnerungswürdig qualifiziert. Die ersten Schritte auf dem Feld der Historiographie des britischen Abolitionismus wurden umgehend von direkt in die Bewegung involvierten Personen unternommen. Zwei Veröffentlichungen waren in diesem Zusammenhang maßgeblich: Das über 1.000 Seiten umfassende Werk von
1
Hall, Catherine: »Britain’s debt to slavery. Today the records that show how much the trade in humans benefited the UK will be made public«, in: The Guardian vom 27.2.2013. Das Werk von Macaulay stellt ein klassisches Beispiel der Whig-Geschichtsschreibung dar.
368 | Vergleichende Interpretation
Thomas Clarkson mit dem Titel »The History of the Rise, Progress and Accomplishment of the Abolition of the Slave Trade by the British Parliament« (1808) sowie die Biographie »The Life of William Wilberforce« (1838), verfasst von dessen Söhnen Robert Isaac und Samuel Wilberforce. Vor allem John Oldfield hat die Geschichte dieser Geschichtsschreibung inzwischen intensiv aufgearbeitet und dabei auch den auch den Konflikt zwischen den Autoren beider Werke beschrieben.2 Diesen konnten die Brüder Wilberforce zunächst zu den erinnerungskulturellen Gunsten ihres Vaters entscheiden. »Today, Wilberforce is generally regarded as the personification of British anti-slavery, a ›statesman-saint‹ who almost single-handedly was responsible for ending the British transatlantic slave trade, and, with it, British colonial slavery.«3 An dieser geradezu legendären Reputation muss sich jede Umgestaltung der britischen Gedenkkultur abarbeiten. Jenseits des Disputs um die Rolle des Handlungsträgers übte aber auch und vor allem Clarksons Narrativ enormen und langfristigen Einfluss auf erinnernde Vorstellungen von der Abolitionsbewegung aus. Christopher L. Brown schreibt: »Clarkson’s History would provide the framework in which, for more than a century, the origins of the British antislavery movement would be understood. Clarkson was the first to charaterize the campaign as the working out of impulses deeply embedded in the society from which it emerged, as the elaboration of principles essential to British Protestantism, as the expression of a distinctively British devotion to liberty and the rule of law. [...] The campaign for the abolition of the slave trade demonstrated and proved that civilized peoples, like the British, could achieve moral progress. [...] This interpretative framework [...] comported nicely with how most in Britains, deep into the twentieth century, preferred to reflect on the nation’s slave trading and slaveholding past.«4
Im Hinblick auf das Kernelement der göttlichen Bestimmung deckt sich der Rückblick von Thomas Clarkson mit dem der Brüder Wilberforce. Denn diese betonten nicht nur die Bedeutung der Arbeit ihres Vaters für die Abolitionsgesetzgebung, sondern auch dessen religiöse Motive. Für eine Biographie relativ einseitig, wird das Thema Sklaverei in den Mittelpunkt des gesamten Lebens und Wirkens von William Wilberforce gerückt. Als dramaturgisch günstig für die Strukturierung erwies sich dabei der Umstand, dass der Protagonist nur wenige Tage nach der Annahme des Emanzipationsgesetzes im britischen Unterhaus verstarb. »Emancipation is linked to the earlier campaign against the slave trade. But, just as important, it is also linked to Wilberforce; the ›fifty years’ struggle‹ is clearly his struggle. […] In other words,
2 3
4
Vgl. J. Oldfield: »Chords of freedom«. Ebd., S. 33. Ebenso Wolff, Isabel: »The man who broke their chains. This month the memory of Thomas Clarkson will be honoured in Westminster Abbey«, in: The Daily Telegraph vom 14.9.1996: »But the myth had been born that somehow William Wilberforce had abolished the slave trade single-handedly.« Brown, Christopher Leslie: Moral Capital. Foundations of British Abolitionism, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 2006, S. 7 f.
Umstrittene historische Handlungen | 369
the circumstances surrounding Wilberforce’s death in 1833 are used here to sustain a narrative strategy that places him at the very centre of British Anti-Slavery.«5
Tatsächlich musste sich William Wilberforce aus gesundheitlichen Gründen bereits 1825 aus dem aktiven Politikerleben zurückziehen. Nach Bekanntwerden seines Todes sprach das britische Parlament dem langjährigen Abgeordneten umgehend eine ehrenvolle Grabstätte in Westminster Abbey zu. Mit einer Statue verewigt ist hier auch das Andenken an Zachary Macaulay. Zur Würdigung der historischen Rolle von Thomas Clarkson wurde erst anlässlich seines 150. Todestag im Jahr 1996 eine Gedenktafel neben der Marmor-Statue von Wilberforce angebracht.6 Zunächst war es seine Heimatstadt Wisbech in Cambridgeshire gewesen, die ihm 1881 ein Monument errichtet hatte. Dieses Denkmal enthält ebenso wie das für Macaulay als Element die Figur eines knienden Sklaven en miniature7 und passt damit zur dominanten historischen Perspektive. »The abolitionist Thomas Clarkson’s history of the campaign to end slavery focused on white humanitarian men. He neglected not only black and female abolitionists but also the horrors of the trade itself.«8 Insbesondere durch die Londoner Vereinigung der »Sons of Africa« waren jedoch auch Afrikaner in die organisierte britische Kampagne eingebunden, unter ihnen Olaudah Equiano (1745 - 1797) und Quobna Ottobah Cugoano (ca. 1757 - ca. 1800).9 Sie und andere afrikanische oder als »afrikanisch« geltende Menschen erfüllten wichtige Zeugnisfunktionen, durch Berichte über ihre Erfahrungen mit der Sklaverei ebenso wie durch ihr persönliches Auftreten. Die »slave narratives« orientierten sich an den Erwartungen des britischen Publikums und werfen bisweilen fundamentale Fragen zur »Authentizität« der Präsentation individueller Lebensgeschichten auf. Denn neben der Grausamkeit des transatlantischen Sklavenhandels und der kolonialen Sklaverei sollte auch die Anpassungsfähigkeit von Menschen aus Afrika an die in Großbritannien vorherrschenden soziokulturellen Normen glaubhaft belegt werden. Von besonderer Relevanz für beide Ebenen war die Hervorhebung christlicher Überzeugungen. Der 1789 erstveröffentlichten und seitdem vielfach neu aufgelegten Lebensgeschichte von Olaudah Equiano kommt in diesem Zusammenhang eine hervorgehobene Bedeutung zu: »A major reason for Equiano’s popularity is that his autobiography contains a detailed account of his birth and childhood in Nigeria, with rare descriptions of the culture of 18th-century Igbo society. His narrative of the Atlantic crossing in a slave ship is as unique as it is moving. The early chapters are much anthologised since they offer a first-hand record of an African kidnapped
5 6
7 8 9
J. Oldfield: »Chords of freedom«, S. 48. Vgl. Ezard, John: »Freedom for a captive history. Thomas Clarkson, the other hero of the anti-slavery movement, is finally being honoured«, in: The Guardian vom 24.8.1996; Wolff, Isabel: »The man who broke their chains. This month the memory of Thomas Clarkson will be honoured in Westminster Abbey«, in: The Daily Telegraph vom 14.9.1996. U. Schmieder: Orte des Erinnerns und Vergessens, S. 63. Hall, Catherine: »Britain’s debt to slavery. Today the records that show how much the trade in humans benefited the UK will be made public«, in: The Guardian vom 27.2.2013. Vgl. P. Fryer: Staying Power, S. 98 ff.
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at the age of ten, taken to the coast, sold to European merchants and dispatched to the Americas.«10
Trotz der Überformung stellen die »slave narratives« als Selbstzeugnisse von (ehemaligen) Sklavinnen und Sklaven historisch äußerst bedeutsame Quellen dar, die unter den inzwischen gegebenen Umständen ein hohes erinnerungskulturelles Potential tragen. 11 Frankreich ist diesbezüglich anders aufgestellt. »[D]ans les Caraïbes francophones il nous manque de véritables témoignages noirs: ni Haïti ni la Guadeloupe ni la Martinique n’ont produit de figure littéraire qui, comme l’anglophone Olaudah Equiano, laisserait à la postérité un récit personnel de l’esclavage.«12 Selbst der haitianische General und ehemalige Sklave François-Dominique Toussaint L’Ouverture hat keinen größeren zusammenhängenden Text hinterlassen. Seine Kraft zieht der Wilberforce-Mythos nicht zuletzt aus dem Umstand, dass er die Abschaffung des Sklavenhandels als spirituelle Umkehr sowie als »ersten Schritt« einer längeren liberalen Entwicklung erscheinen lässt, die sich gut im Schema einer von der Whig-Perspektive inspirierten Nationalgeschichte fassen lässt. Hierzu passt, dass die Abschaffung der Sklaverei vom ersten Parlament verabschiedet wurde, das nach der von konservativen Kräften lange blockierten Wahlkreisreform von 1832 (Great Reform Act) zusammentrat. Relevant für die neuere Entwicklung der Erinnerung war allerdings auch die akute politische Verwendbarkeit der Motive: Mit ein wenig Kreativität verarbeitet, fügten sich diese relativ passgenau in die Konstruktion der Narrative ein, auf die sich die britische Regierung zur Legitimation ihrer interventionistisch konzipierten Außenpolitik stützte. Zugleich ließ sich anhand von dieser Geschichte ein soziales Werte- und Verhaltensmodell konkretisieren, das der aktuellen politischen Vision von Britishness entgegenkam und von Personen verkörpert werden konnte, die der Erinnerung das inzwischen notwendige Mindestmaß an »Diversität« verliehen. Die Überzeugungen und Leistungen einiger Bürgerinnen und Bürger wur-
10 Dabydeen, David: »Poetic licence. A controversial life of an abolitionist hero only adds to his heroic stature« (Rezension zu Vincent Carretta: Equiano the African. Biography of a Self-made Man, Athens, GA 2005), in: The Guardian vom 3.12.2005. Dieser Hintergrund macht die Kontroverse verständlich, die vor einigen Jahren von Vincent Carretta ausgelöst wurde, der die These aufstellte, Equiano sei in South Carolina und nicht in Westafrika geboren worden. Vgl. neben der besagten Biographie auch Carretta, Vincent: »Olaudah Equiano or Gustavus Vassa? New Light on an Eighteenth-Century Question of Identity«, in: Slavery & Abolition 20/3 (1999), S. 96-105. Vgl. auch Lovejoy, Paul E.: »Personal Memory and the Collective Experience of the Slave Trade in the Autobiography of Gustavus Vassa, alias Olaudah Equiano«, in: Ana Lucia Araujo (Hg.), Crossing Memories. Slavery and African Diaspora, Trenton, NJ: Africa World Press 2011, S. 15-34. 11 Zu Equiano vgl. neben der u.a. im Penguin-Verlag aufgelegten Autobiographie Equiano, Olaudah: The Interesting Narrative and Other Writings, New York [u.a.] 2003 z.B. Walvin, James: An African’s life. The Life and Times of Olaudah Equiano, 1745-1797, London: Cassell 1998; G. Holbrook Gerzina: Black England. 12 Forrest, Alan: »Daniel Desormeaux (éd.), Mémoires du général Toussaint Louverture« (Rezension), in: Annales historiques de la Révolution française 370 (2012), S. 245-246, hier S. 246.
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den dabei auf die historische Nation als solche übertragen. Die Breite der Abolitionsbewegung, die Bedeutung der christlichen Religion, die Rolle des Parlamentes und der Marine sowie das Agieren der britischen Regierung gegen den internationalen Sklavenhandel konnten zur Verstärkung des politisch erwünschten Eindrucks beitragen. Die Rolle von Akteurinnen und Akteuren, deren Handeln in die entgegengesetzte Richtung strebte, trat dagegen in den Hintergrund. So wurde die teils parlamentarisch, teils zivilgesellschaftlich vorangebrachte Bewegung in Richtung Emanzipation einmal mehr zur Manifestation einer imaginierten historischen Bestimmung (v)erklärt. Diese Kernbotschaft ließ sich in Frankreich deutlich schwerer in eine akteurszentrierte, auf konkrete historische Ereignisse und chronologische Ordnungen zurückgreifende Erzählung gießen. Die politischen Rahmenbedingungen, unter denen Abolition und Emanzipation erfolgten, spiegeln vor allem die Brüche der durch revolutionäre Regimewechsel und Staatsstreiche zerrissenen neueren Nationalgeschichte. Zudem treten einige spezifische Hindernisse für die Ausprägung einer kohärenten Erzählstruktur hervor. Neben der komplexen Chronologie gehören hierzu die Herausforderung von bereits besetzten und geschichtspolitisch stark aufgeladenen Erinnerungsorten, eine unklare Verteilung von Handlungsmacht sowie schwer auszulagernde Momente der gewaltsamen Auseinandersetzung. Die Fragen an die erinnerungskulturell tradierten Mythen der Nation, die dieser Teil der Vergangenheit aufwirft, sind dagegen verhältnismäßig scharf konturiert: Die Errungenschaften der Aufklärung und der französischen Revolution erscheinen in ihrer Tragweite offenkundig eingeschränkt, wenn die Menschenrechte verachtende Geschichte der Sklaverei in die erinnernde Betrachtung miteinbezogen wird. Aus französisch-nationaler Perspektive besonders schwer zu verarbeiten sind die historischen Ereignisse rund um die Unabhängigkeit Haitis. Die haitianische Revolution ist im Begriff, zum zentralen Erinnerungsort eines atlantischen »counter-narrative« ausgebaut zu werden, das zwar eng mit der Geburtsstunde der französischen Nation verknüpft, in seiner politischen Stoßrichtung aber auf die Relativierung der sie umgebenden Mythen ausgerichtet ist. Mehr noch: »The silencing of the Haitian Revolution is only a chapter within a narrative of global domination. It is part of the history of the West and it is likely to persist, even in attenuated form, as long as the history of the West is not retold in ways that bring forward the perspective of the world.«13 An dieser Stelle gerät die französische Erinnerung nolens volens in den Strudel einer größeren erinnerungskulturellen Auseinandersetzung, die ihre internationale Vernetzungsbasis unter anderem in den Strukturen der UNESCO gefunden hat. So sahen sich die Französinnen und Franzosen oft mit einer Vergangenheit konfrontiert, deren Elemente kaum dazu angetan waren, sich zu einem linearen Fortschrittsnarrativ oder wenigstens zu einer moralisch befriedigenden Konversionsgeschichte zu fügen. Dabei stellte sich nicht zuletzt das Problem, der Vergangenheit überhaupt eine Struktur zu verleihen, die chronologische Brüche ebenso wie Gewaltausbrüche auf sinnhafte Weise hätte integrieren können. Auf dem Weg der erinnerungskulturellen Intuition lassen sich die Ereignisse kaum glatt in eine vertraut anmutende Erzählstruktur einfügen. So konstatierte der guayanische Senator Georges Othily bereits anlässlich des Jubiläums von 1998: »Nous ne célébrons pas le cent-cinquantenaire
13 M.-R. Trouillot: Silencing the Past, S. 107.
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de l’abolition de l’esclavage, puisque la disparité des dates d’abolition nous l’interdit.«14 Vorangetrieben wurde diese Geschichte von in sich unübersichtlichen Umbrüchen, bei denen es sich – allen republikanischen Mythisierungsbemühungen zum Trotz – um nationale Ausnahmezustände handelte. Die Entfaltung der revolutionären Momente bot Anlass zum Lob der Republik; eine kohärente und überzeugend besetzte Erzählung ließ sich aus ihnen aber nur schwer ableiten. Mit den in Frankreich stark nationalistisch aufgeladenen Wertvorstellungen, die auf das Zeitalter der Aufklärung zurückgeführt und vom Menschenrechtsgedanken gekrönt werden, ist dieser Teil der Geschichte nicht in Einklang zu bringen. »[M]ême la Révolution française ne parvint pas à faire disparaître définitivement cet ordre esclavagiste. Alors que l’article premier de la Déclaration des Droits de l’Homme venait de proclamer que les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droit, l’Assemblée constituante, dès 1791, a refusé par décret aux hommes et aux femmes de couleur tous droits de citoyen. Ce n’est que la Convention, le 4 février 1794, qui supprima l’esclavage mais il fut rétabli dans les colonies par Bonaparte le 10 mai 1802.«15
Im Vergleich zum britischen Drama in mehreren Akten blieb daher auch die Geschichte der zweiten Emanzipation zwischen Hervorhebung des Widerstandes und Glorifizierung der von Victor Schœlcher personifizierten Republik in der französischen Erinnerung eher blass. Und schließlich lässt der britische Abolitionsmythos die positive Rolle Frankreichs im historischen Vergleich nicht besonders beeindruckend, sondern vielmehr als durch den Vorrang klassischer Macht- und Wirtschaftsinteressen kompromittiert erscheinen. Eine politische Priorität war die Abschaffung der Sklaverei zu keinem Zeitpunkt der französischen Geschichte, ihre Umsetzung war an den Zusammenhang einer größeren Umwälzung und den Eindruck des britischen Beispiels gebunden. Aufgrund der historischen Vergleichbarkeit und Rivalität zwischen beiden Untersuchungsländern fällt eine Art erinnerungskultureller Schatten vom Vereinigten Königreich auf die Geschichte Frankreichs: Die Abolition des Sklavenhandels und die effektive Abschaffung der Sklaverei erfolgten hier nicht nur später, sondern auch unter dem Eindruck der den Ton angebenden britischen Politik. Der mit geschichtspolitischem Stolz bedachten Traditionslinie, die in Großbritannien von der Gründung der SEAST bis zum aktuellen Aktivismus von ASI gezogen werden konnte, steht die relative Unwirksamkeit der französischen Antisklaverei-Vereinigungen gegenüber. So konnte im Vereinigten Königreich die »eigene« Rolle im Kampf gegen den Sklavenhandel seit der Vorlaufphase zur Gesetzgebung von 1807 hervorgehoben werden, Frankreich dagegen fällt im historischen Vergleich durch eine lange Phase der Reformverweigerung auf. »Hier en avance sur son temps, la patrie des droits de l’homme est à la traîne.«16 14 Georges Othily, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. 15 Justizministerin Elisabeth Guigou, Assemblée nationale, 18.2.1999. An dem Tag, den die Ministerin als Datum der Wiedereinführung der Sklaverei anführt, ließ Louis Delgrès das Herrenhaus der Matouba-Plantage in die Luft sprengen. Vielleicht liegt hier auch eine Verwechslung mit dem napoleonischen Dekret vom 20. Mai 1802 vor. 16 Paringaux, Roland Pierre: »1848, la seconde abolition de l’esclavage«, in: Le Monde vom 20.4.1998.
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Die französische Kolonialpolitik der Ära war aufs Engste verbunden mit den global ausstrahlenden Entwicklungen in der Metropole. Umso frappierender ist die bis in die jüngste Zeit hinein festzustellende Abwesenheit der Kolonien aus der nationalen Erinnerung an die epochal einschneidende Zeit. »Ce processus se fonde sur des dénis: le grand récit national, ce récit sur la France des Lumières et de la République, fait silence sur la traite et sur les périodes d’abolition-restauration de l’esclavage.«17 In besonders augenfälliger Weise trat die koloniale Gedächtnislücke im Zuge des 200. Jahrestages des Bastille-Sturms zutage, der in Frankreich 1989 mit großem Pomp öffentlich zelebriert wurde. Vor diesem Hintergrund erschien die Engführung der Perspektive im Rahmen des nationalöffentlichen Gedenkens zunehmend unhaltbar. In der Wissenschaft zeichnete sich ein gewisser Umbruch bereits ab, wie das 1988 erschienene, viel beachtete Grundlagenwerk von Yves Benot zeigt.18 »Yves Benot dans son ouvrage La Révolution française et la fin des colonies a montré l’oubli dans les ouvrages sur la Révolution française, jusqu’en 1989 du moins, de la question coloniale et du rétablissement de l’esclavage. Cet oubli peut être observé dans les manuels scolaires de collège. Que ce soit le Nathan 4e de 1988, les Belin, Bordas, Magnard de 1998, ou les Belin, Magnard de 2002, il n’y a rien sur le rétablissement de l’esclavage.«19
Von einer regelrechten Kultur des Vergessens kann mit Blick auf die Geschichte von Saint-Domingue / Haiti gesprochen werden. »Après l’indépendance d’Haïti en 1804, la France a ostracisé son ancienne colonie. Elle l’a isolé politiquement et économiquement, puis elle l’a oublié. Haïti et son peuple de gueux ont complètement disparu de la mémoire coloniale française. A tel point qu’en mars 2000, Jacques Chirac déclarait: ›Haïti n’a pas été, à proprement parler, une colonie française.‹ Erreur ou amnésie? La remarque en dit long sur les rapports de Paris avec l’ancienne ›perle des Antilles‹.«20
Auch aus anderen Blickwinkeln taugte die Entwicklung Haitis indes nicht zu einer echten Fortschrittserzählung, denn die turbulente Nachgeschichte der Nationsgründung stellt ein schlechtes Pendant zum welthistorischen Erfolg der Revolution dar. 17 François Noudelman im Interview geführt von Barlet, Olivier: »Mémoires des esclavages. Entretien de François Noudelman avec Edouard Glissant«, in: Africultures vom 16.7.2007, http://www.africultures.com/php/?nav=article&no=6680. 18 Benot, Yves: La Révolution Française et la fin des colonies, Paris: La Découverte 1988. 19 F. Régent: Rétablissement de l’esclavage en Guadeloupe, 3. Vgl. auch Citron, Suzanne: »L’impossible révision de l’histoire de France«, in: Pascal Blanchard/Nicolas Bancel (Hg.), Culture post-coloniale 1961-2006. Traces et mémoires coloniales en France, Paris: Éditions Autrement 2006, S. 42-51. Wie David Brion Davis erläutert, geht dieser blinde Fleck bis auf die Zeit der Revolution zurück, auf deren Höhepunkt die innenpolitischen Umbrüche und Probleme die Außen- und Kolonialpolitik in den Hintergrund des öffentlichen Interesses drängten, D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 161. 20 Christophe Wargny im Interview mit Barthet, Elise: »›La France a oublié Haïti‹«, in: Le Monde vom 17.2.2010. Der Historiker Wargny ist Autor des Buches mit dem vielsagenden Titel: Haïti n’existe pas. 1804-2004. Deux cents ans de solitude, Paris: Éditions Autrement 2004.
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»Sanguine predictions of the moral and educational advance of the people, of economic enterprise that would soon lead to thriving towns and to Haitian ships entering the harbors of the world, increasingly gave way to reports of political upheaval and hopeless poverty.«21 Das Risiko einer Revolte wurde von den Gegnerinnen und Gegnern des Sklavenhandels zu einem Argument gemacht. Zu einem propagandistischen Vorbild konnten und wollten aber auch sie die gewaltsam erkämpfte Emanzipation nicht stilisieren.22 Die haitianische Politik und Wirtschaft befinden sich seit der Unabhängigkeit mehr oder weniger kontinuierlich in einem desolaten Zustand, der in unregelmäßigen Abständen akute Krisen hervorbringt, die für kurze Zeit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Inselrepublik ziehen. Auch die intellektuelle Ausgrenzung aus dem europäischen Zeitalter der Revolutionen trug dazu bei, das Land umfassend und nachhaltig zu marginalisieren, »in short, to reduce Haiti as both idea and reality to no more than the ›poorest country in the Western Hemisphere‹.«23 Insgesamt zeichnete sich die erinnerungskulturelle Ausgangssituation in Frankreich zu Beginn des Untersuchungszeitraums durch einen relativen Mangel an systematischer Traditionsbildung und -anbindung aus. Dies ist im Wesentlichen als eine Folge der allgemeinen politischen Unruhe zu betrachten. In Großbritannien stellt die Institution des Parlamentes, das auch die Gesetze von 1807 und 1833/38 beschloss, ein in seiner Dauerhaftigkeit bemerkenswertes Element historischer Kontinuität dar. Der französische Nationalkonvent, der 1794 über die erste Sklavenemanzipation beriet, existierte dagegen in dieser Form bereits anderthalb Jahre später nicht mehr. 1848 wurde die Emanzipationsgesetzgebung bewusst in der frühen revolutionären Phase verabschiedet.24 Das Dekret war unterzeichnet, noch bevor auf Basis der neu zu formulierenden Verfassung das erste Parlament der II. Republik zusammentreten konnte, die im Übrigen nach nicht einmal vier Jahren selbst wieder Geschichte sein sollte. Geradezu frappierend deutlich werden die Auswirkungen auf die Ursprungsbedingungen der Erinnerung an den französischen Abolitionismus außerdem bei einem Blick auf die hauptsächlich involvierten Personen. Unter ihnen finden sich nur wenige Männer, die aufgrund ihres Lebenswegs dazu geeignet wären, dem historischen Reformprojekt ihr Gesicht und der Erinnerung ein biographisches Orientierungsgerüst zu verleihen.
21 D.B. Davis: Inhuman Bondage, S. 173. 22 Geggus, David: L’indépendance d’Haïti et l’opinion britannique, in: Yves Benot/Marcel Dorigny (Hg.), Rétablissement de l’esclavage dans les colonies françaises 1802. Ruptures et continuités de la politique coloniale française (1800-1830). Aux origines de Haïti (Actes du colloque international tenu à l’Université de Paris VIII les 20, 21 et 22 juin 2002), Paris 2003, S. 149-160. Französische Abolitionisten wie Abbé Grégoire und Victor Schoelcher standen der Haitianischen Revolution positiver gegenüber, waren mit ihren Auffassungen aber in dieder Minderheit, vgl. Tomich, Dale: »Thinking the ›Unthinkable‹. Victor Schœlcher and Haiti«, in: Review (Fernand Braudel Center) 31/3 (2008), S. 401-431, S. 418. Vgl. auch Schœlcher, Victor: Vie de Toussaint Louverture, Paris: Karthala 1982 [1889]. 23 N. Nesbitt: Idea of 1804, S. 8. Auch der politisch linksorientierte Historiker Eric Hobsbawm geht in seinem einflussreichen Werk zum »Zeitalter der Revolutionen« kaum auf die Ereignisse in Haiti ein. Neuere Arbeiten konzentrieren sich daher nicht zuletzt auf die Einordnung Haitis in diesen globalen Kontext. 24 Vgl. F. Régent: La France et ses esclaves, S. 285 ff.
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»In 1793 the Reign of Terror virtually destroyed the Amis des Noirs. Robespierre and his followers condemned the society, and many of its leaders [...] were guillotined or imprisoned.«25 Auch Mitbegründer Jean-Jacques Brissot gehörte zu den Exekutierten; andere wie Abbé Grégoire zogen sich in das Exil und/oder aus dem offiziellen Politikbetrieb zurück. Der getriebene Architekt der ersten Emanzipation, Léger-Félicité Sonthonax, fiel in der Folgezeit der französischen Revolution weitgehend in Vergessenheit. »Le 10 mai 1981, c’est sur la tombe de Schœlcher, le second abolitionniste, qu’est déposée la rose présidentielle. Le 25 mai 1989, c’est à Toussaint Louverture qu’est consacré le spectacle auquel assiste l’ensemble des présidents africains à Dakar. Le 13 décembre 1989 [...] [a]ucun article de presse n’évoqua lors de la panthéonisation de l’abbé Grégoire, le nom de celui qui, en son temps, fut dénommé ›le Bon Dieu des esclaves‹.«26
Auch die historische Forschung würdigte ihn wenig. »Sonthonax was seen as a usurper of power and a dictatorial – even blood-thirsty – ruler by his contemporary enemies and by historians generally unsympathetic toward the outcome of the Saint Domingue revolution. And even historians whose sympathies do lie with the revolutionary principles espoused and put to practice by this radical jacobin still see him as a rather oblique political figure.«27
Im Krieg um die Kontrolle über Saint-Domingue geriet Sonthonax in Konflikt mit Toussaint-Louverture, der ihn schließlich des Territoriums verwies – und in langfristiger Perspektive auch aus der Geschichte verdrängte: »There has been a tendency among historians [...] to cast Sonthonax as the evil archangel in a titanic struggle with the good Toussaint L’Ouverture, a sort of revolutionary dualism.«28 Die Kurzlebigkeit der Republik von 1848 zog ähnliche Konsequenzen nach sich. Die reformierte Rechtslage in den französischen Kolonien blieb zwar auch nach der
25 J. Stauffer: Abolition and Antislavery, S. 566. 26 Barcellini, Serge: »A la recherche d’une mémoire disparue«, in: Revue française d’histoire d’outre-mer 316/3 (1997): Spécial Sonthonax, S. 121-158. Als Vorsitzender der Assoziation »Mémoire de L.F. Sonthonax« setzte sich Barcellini besonders engagiert für eine Rehabilitation von Sonthonax in der Erinnerung ein, vgl. auch Barcellini, Serge: »Two Memories in the Present. Léger Félicité Sonthonax, Victor Schœlcher«, in: Marcel Dorigny (Hg.), The Abolitions of Slavery. From Léger Félicité Sonthonax to Victor Schœlcher, 1793, 1794, 1848, New York, NY: UNESCO/Berghahn Books 2003, S. 340-352. Das o.g. genannte Sonderheft von Revue française d’histoire d’outre-mer bietet mit 16, wenn auch teils kurzen Artikeln einen besonders breiten Überblick. 27 Fick, Carolyn E.: »Robert Louis Stein: Léger Félicité Sonthonax. The Lost Sentinel of the Republic« (Rezension), in: Nieuwe West-Indische Gids/New West Indian Guide 62/3-4 (1988), S. 206-209. 28 Ott, Thomas O.: »Robert Louis Stein: Léger Félicité Sonthonax. The Lost Sentinel of the Republic« (Rezension), in: The Hispanic American Historical Review 67/3 (1987), S. 517518.
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Restauration der Bourbonenherrschaft bestehen. Allerdings sahen sich mehrere Unterzeichner des zweiten Abolitionsdekrets als Gegner des Regimes von Napoleon III. mehr oder weniger gezwungen, ihre politische Karriere zu unterbrechen oder zu beenden, unter ihnen die Minister Alphonse Crémieux (Justiz), François Arago (Krieg, Marine und Kolonien) und schließlich auch Alphonse de Lamartine (Außenpolitik). Victor Schœlcher entschied sich für die Emigration nach Belgien und später England. »With the fall of the Republic in 1851, he began a period of exile that lasted until August 1870, when he returned to defend France from German invasion.« 29 Auch wenn die spätere geschichtspolitische Würdigung seiner Person als eine Art Inkarnation der republikanischen Nation einen diesbezüglich trügerischen Eindruck vermittelt, bewegte er sich die meiste Zeit über am Rande der politischen Hauptströmungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts. »Schœlcher’s abolitionism is distinctive. Based on extensive first-hand knowledge of slave societies, it is at once secular, rational, and political. […] Yet Schœlcher remained a technical expert, strangely isolated from both the radical Republican and abolitionist movements until the February revolution of 1848 brought the Republicans to power.«30 In der Société pour l’abolition de l’esclavage war er zu keiner Zeit ein aktives Mitglied. Der Radikalismus seines Engagements war nur ein Faktor, der die Kontakte zwischen dem viel gereisten Fabrikantensohn aus dem Elsass und dem politischen Establishment behinderte. »Son origine sociale […], sa formation scolaire relativement limitée, son absence de parcours professionnel au sein d’un corps spécifique – en dehors de ses fonctions d’ordre politique […] – et son athéisme l’avaient maintenu à l’écart des milieux au sein desquels s’étaient élevées des voix favorables à l’émancipation des esclaves des colonies.«31 Die Erinnerung an Victor Schœlcher blieb so zunächst weitgehend auf die ehemaligen Sklavenkolonien Frankreichs beschränkt. 32 Erst unter sich wandelnden (geschichts-)politischen Umständen besann sich die französische Republik wieder auf ihren engagierten Vertreter. »Le Centenaire [de l’abolition de l’esclavage] a été celui de
29 D. Tomich: Thinking the ›Unthinkable‹, S. 418. 30 Ebd., S. 417. 31 Schmidt, Nelly: Abolitionnistes de l’esclavage et réformateurs des colonies, 1820-1851. Analyse et documents, Paris: Karthala 2001, S. 229. 32 Vgl. R. Hourcade: L’esclavage dans la mémoire nationale française, 2 f. »Le ›schœlchérisme‹, ce registre d’une mémoire historique tournée vers la générosité de la République […] fortement encouragé par les politiques officielles, est resté hégémonique aux Antilles jusqu’aux années 1970. Fort-de-France, à la Martinique, a par exemple une rue Schœlcher, un lycée Schœlcher, une bibliothèque Schœlcher qui témoignent de cette orientation de la mémoire. En métropole, la mémoire de l’abolition n’a pas été entretenue avec la même vigueur.« Eine verstärkte geschichtspolitische Aktivität um die Person Victor Schœlcher zeigte sich bereits vor dessen Tod in der Zeit des so genannten »Hochimperialismus«. So wurde 1887 die heute Schœlcher-Museum genannte Einrichtung in Pointe-à-Pitre (Guadeloupe) eröffnet, die Gemeinde Schœlcher (Martinique) erhielt ihren Namen 1888. Drei Jahre nach seinem Tod 1896 wurde die bekannte Statue des Politikers in Cayenne (Guayana) errichtet, 1904 – zum 100. Todestag – das Denkmal in Fort-de-France (Martinique).
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la célébration du ›culte Schœlcherien‹.«33 Mit dem Anbrechen des postkolonialen Zeitalters wurden die sterblichen Überreste von Victor Schœlcher gemeinsam mit denen von Félix Eboué 1949 in den Pariser Pantheon überführt. Geboren in Cayenne, Französisch-Guayana, war Eboué lange für die französische Kolonialverwaltung in verschiedenen Teilen Afrikas tätig gewesen. Während des Zweiten Weltkriegs war er eine wichtige Stütze für die Politik von Charles de Gaulle, die auf den militärischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation Frankreichs ausgerichtet war. »The reinterment was intended to mark (indeed, to join together) the centenary of slave emancipation and the decisive ralliement of Éboué and Résistants during the Second World War. […] The gesture of reinterring Schœlcher and Eboué among other grands hommes, at a time of great metamorphosis for the French colonies – after the départementalisation of the vieilles colonies in 1946, a revolt in Madagascar in 1947, the Indochinese War – was meant to underline the connections between metropole and colonies, between black and white Frenchmen, between a France that liberated slaves and a France that combatted Nazis.«34
Die Dekonstruktion des Kolonialreiches setzte sich in den folgenden Jahrzehnten jedoch fort, und die Erinnerung an die Sklaverei und ihre Abschaffung sollte erst lange nach Abschluss dieser Entwicklung wieder auf der Agenda der nationalen Geschichtspolitik auftauchen. Die nächsten Schritte in diese erinnerungskulturelle Richtung wurden unter der Präsidentschaft von François Mitterrand unternommen, der ebenfalls sehr bewusste geschichtspolitische Zeichen setzen wollte. »The Socialist president was keenly aware of the symbolic importance of the Panthéon – on the day of his investiture in 1981, he walked around the Panthéon, alone except for cameras, placing roses on the graves of Schœlcher, Jean Jaurès, the Socialist leader assassinated in 1914, and Jean Moulin, a hero of the Resistance.«35 Auf Betreiben von Mitterrand wurde 1989 auch Abbé Grégoire in den erlauchten Kreis der ehrwürdigen Verstorbenen aufgenommen. »Placing the remains of Grégoire in the Panthéon in the year of the [bi]centenary [sic] of the French Revolution was meant to affirm French humanitarianism, and to represent a homage to France’s black citizens, especially the West Indians and Réunionnais, mostly descendants of slaves, as well as to acknowledge the multicultural nature of contemporary French society.«36
Vor diesen, in Großbritannien ähnlichen sozialen Hintergründen erfuhr die Erinnerung an Sklavenhandel und Sklaverei, Abolition und Emanzipation im Verlauf der 1990er Jahre auch in Frankreich einen entscheidenden Reaktualisierungsprozess. Unter dem Vorzeichen stand auch das 150. Jubiläum der Emanzipation im Jahr 1998. Aus dem offenen Wettstreit gegensätzlicher Interessen in der französischen Geschichte ergab sich dabei ein hohes Maß an Komplexität, Kontingenz und innerer Widersprüchlichkeit. Der Versuch einer geschichtspolitischen Reduktion auf eine einfache Linie 33 Schmidt, Nelly: »1848, des colonies et l’histoire«, in: Revue d’histoire du XIXe siècle (Online), 14/1997, https://doi.org/10.4000/rh19.114. 34 R. Aldrich: Vestiges of the Colonial Empire, S. 178. 35 Ebd., S. 178 f. 36 Ebd., S. 179.
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konnte im Rahmen der äußerst regen Debattenkultur rasch zu Differenzen führen. Und so entlud sich das historisch angelegte Konfliktpotential bereits im Januar 1998 auf höchster politischer Ebene in einem international wahrgenommenen geschichtspolitischen Eklat.37 Noch bevor der Protest auf breiterer Bevölkerungsbasis öffentlich in Erscheinung trat, begann das Jahr des Gedenkens an die Abschaffung der Sklaverei mit einem »clash à l’assemblée nationale«38, in dem sich Regierungsparteien und Opposition gegenüberstanden. In einer Zeit des Abschmelzens ideologischer Gegensätze im etablierten Politikbetrieb stellte die parteipolitische Profilierung auf Basis eines rhetorischen Herbeizitierens vergangener Konflikte eine gewisse subversive Versuchung dar. Ihr erlag Lionel Jospin als Kopf des neu an die Macht gekommenen Links-Bündnisses, er stolperte dabei jedoch umgehend über die spezifischen Fallstricke der französischen Geschichte. In seinem Auftritt vor der Nationalversammlung appellierte der Premierminister zunächst mit Nachdruck an das nationale Gedenken als Gemeinschaftsakt: »Aujourd’hui, en 1998, l’ensemble de la France, l’ensemble des forces politiques se rassemblent dans ces commémorations.« 39 Im Hinblick auf die Vergangenheit selbst reklamierte er den Einsatz für die Emanzipation dann allerdings explizit und ausschließlich für die politische Linke, in deren Tradition er seine Partei einordnete. In dem folgenden Aufruhr unter den Abgeordneten, der mit Beschimpfungen einherging und beinahe in Handgreiflichkeiten gemündet wäre40, konnte sich der Regierungschef mit seiner Hervorhebung der historischen Leistung von Abbé Grégoire, Victor Schœlcher und Toussaint-Louverture kaum noch Gehör verschaffen. Schließlich verließen die Abgeordneten des Rassemblement pour la République (RPR) und der Union pour la démocratie française (UDF) geschlossen den Plenarsaal und betraten ihn auch für spätere Diskussionen an diesem Tag nicht mehr. Rasch wurden Entschuldigungs- und sogar Rücktrittsforderungen laut. Die heftigen Reaktionen weisen auf zwei miteinander verbundene Aspekte im Verhältnis von französischer Republik und Sklaverei-Geschichte hin, die das Problem von narrativer Verarbeitung und Agency berühren. »Jospin’s accusation is one that is destined to remain held in abeyance since 37 Herbert, Susannah: »MPs attack Jospin for Dreyfus remarks«, in: The Daily Telegraph vom 15.1.1998. 38 Gauthier, Nicole/Schneider, Vanessa: »Clash à l’Assemblée après les approximations historiques du Premier ministre. Jospin la gaffe«, in: Libération vom 15.1.1998. 39 Assemblée nationale, 14.1.1998, Questions au gouvernement: 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage, S. 4. 40 Vgl. Fabre, Clarisse/Roland, Lévy Fabien: »La droite accuse Lionel Jospin de tricher avec l’Histoire. Pour le RPR et l’UDF le premier ministre mis en difficulté par le mouvement des chômeurs a cherché à souder sa majorité en mettant en cause l’attitude des forces conservatrices sur l’esclavage en 1848 et lors de l’affaire Dreyfus à la fin du siècle«, in: Le Monde vom 16.1.1998: »La marée des députés RPR et UDF quitte les travées en bloc. Un groupe semble faire mouvement vers Lionel Jospin. Aussi tôt une rangée d’huissiers s’interpose. Tout près de sa cible Pierre Mazeaud (RPR) qui a lancé le mouvement ne réussit à lui glisser qu’un rapide c’est indigne! avant d’être tiré en arrière par le veston. Christine Boutin (UDF) le doigt pointé lance de sonores: ›Honte à vous!‹ tandis qu’à gauche Jean Glavany (PS) brandit une feuille de papier où l’on peut lire ›Boutin hystérique‹. A ce moment le face-à-face est si tendu que le député des Hautes-Pyrénées prévient son voisin du Puy-de-Dôme Jean-Paul Bacquet: ›S’il y a de la baston on y va.‹« Vgl. auch Assemblée Nationale, 14.1.1998.
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neither side wishes to be connected to a historical lineage that can be traced back to slavery. The question of guilt thus circulates around the absent figure of this historical criminal whose location must be found elsewhere, outside of the structures of the Republic.«41 Jospin selbst begegnete der Kritik später mit Überraschung, Unverständnis und der Erklärung: »Je n’ai pas mis en cause la droite d’aujourd’hui […], j’ai fait un rappel historique et il n’est pas nécessaire, l’histoire ayant évolué, de s’identifier à la droite d’hier.«42 Im Übrigen wiederholte und bekräftigte er allerdings seine Sicht auf die Geschichte: »Il me semble très clair que c’est la Révolution française, qui représentait le mouvement de la gauche de l’époque, qui a aboli l’esclavage et que c’est Napoléon Ier qui l’a rétabli, lui, qui représentait, à l’évidence, par rapport à la Révolution, la droite«.43 Die französischen Historiker/-innen, an deren Urteil Jospin in den darauffolgenden Tagen selbst appellierte, unterstützten diese Sicht aber bestenfalls bedingt. »Le plus compréhensif pour la leçon d’histoire sommaire du premier ministre est sans doute Maurice Agulhon.«44 Dies kann nicht verwundern angesichts der Tatsache, dass Agulhon von Laurent Fabius die Expertenverantwortung für die Feier des Emanzipationsdekrets in der Nationalversammlung übertragen worden war.45 Seine vorsichtig formulierte Position wurde in Le Monde wie folgt wiedergegeben: »Il y a donc bien clivage entre républicains progressistes et conservateurs monarchistes et si l’historien ne s’autorise pas l’identification simpliste reprochée à M. Jospin, l’idée qu’il y a des tendances permanentes […] lui semble pouvoir expliquer la formule lapidaire du chef du gouvernement.«46 Andere Wissenschaftler/-innen bezogen eine klar ablehnende Haltung. »Spécialiste des droites françaises depuis la Révolution René Rémond condamne sans appel des simplifications auxquelles l’historien ne peut adhérer.«47 Die Frage der Sklaverei könne nicht als ein Prüfstein der kritischen Unterscheidung zwischen der Rechten und der Linken gelten, zudem habe es 1848 keine Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern der Emanzipation gegeben.48 Vor diesem Hintergrund sah der Premierminister sich schließlich veranlasst, öffentlich sein Bedauern für den Vorfall auszudrücken.49 41 42 43 44 45 46 47 48 49
N. Frith: Crime and Penitence, S. 230. Lionel Jospin, Premierminister, Assemblée Nationale, 14.1.1998, S. 10. Ebd. Catinchi, Jean Philippe: »Les historiens contredisent le premier ministre«, in: Le Monde vom 16.1.1998. Ebd. Ebd. Ebd. N.N.: »L’abolition de l’esclavage en 1848«, in: Libération vom 15.1.1998. Aeschimann, Eric/Perrignon, Judith: »L’arme du clivage droite-gauche. Jospin s’échine à ressouder la coalition gouvernementale«, in: Libération vom 15.1.1998. Vgl. auch Zemmour, Éric: »Jospin à regret. Avant l’intervention télévisée du premier ministre en milieu de semaine«, in: Le Figaro vom 17.1.1998; Thenard, Jean-Michel: »Jospin à l’oral de rattrapage. Le Premier ministre tentera sur TF1 de ›réorienter‹ le débat sur les 35 heures«, in: Libération vom 19.1.1998; Huet, Sophie: »Jospin: ›Tout n’est pas possible‹. Après son intervention devant l’Assemblée, le premier ministre s’explique ce soir sur TF1«, in: Le Figaro vom 21.1.1998.
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Zu beachten ist hierbei die Tatsache, dass das in Frankreich neu an die Macht gekommene Linksbündnis unter Jospin zu diesem Zeitpunkt nicht nur einen besonderen Legitimationsbedarf besaß. Die gegebene politische Konstellation ließ noch einmal Konfliktlinien in den Vordergrund der öffentlichen Debatte treten, die einem eher klassischen Rechts-Links-Schema entsprachen. Für das Ziel einer gemeinschaftsstiftenden Erinnerung stellte die Eröffnung einer zweiten, einer politischen Front des Deutungskampfes um historische Agency neben der unvermeidlichen ethnischen allerdings ein Risiko dar, das im Folgenden vermieden wurde. Das Aufleben partei- und milieugebundener Erinnerungsstrukturen war also ein situationsbedingtes Phänomen, das umgehend abgestraft wurde. In der nachfolgenden Zeit der konservativen Regierungen und unter dem Eindruck der neu in den Vordergrund tretenden Konflikte dominierte wie in Großbritannien eine explizit nationale, in diesem Fall republikanische Erinnerung. Auch wenn das spezifische Konfliktpotential im Verlauf der weiteren Entwicklung daher kaum mehr aktiv zum Tragen kam, war es doch in der französischen Vergangenheit angelegt und wirkte sich auch fortan auf geschichtspolitische Gestaltungsspielräume aus. All dies schließt die Möglichkeit, auch die Geschichte der Sklaverei in den französischen Kolonien mit Blick auf ihre Abschaffung zu einem Erzählstrang mit nationalistischer Botschaft zu flechten, nicht grundsätzlich aus. In Großbritannien allerdings ruhte das entsprechende Narrativ für die politische Elite quasi griffbereit in einem inzwischen etwas verstaubten Winkel der nationalen Erinnerungskultur. Stets ausgehend von der Emanzipation als moralischer Essenz der Geschichte, ließen sich dabei gleich mehrere konstruktive Verbindungen zu Trägern der traditionellen Erinnerungskultur sowie zu in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschichtspolitisch gepflegten Komponenten des nationalen Mythos herstellen: Der historische Fortschritt wurde auf dem Weg der politischen Reform und nicht im Zuge von blutigen revolutionären Umstürzen erreicht, wobei dem Land eine gewisse internationale Vorreiterrolle zukam. Jenseits der Frage nach den Motiven und tatsächlichen Effekten, hob die Außenpolitik, die sich nach 1807 demonstrativ gegen den internationalen Sklavenhandel richtete und andere Staaten zum Teil massiv unter Druck setzte, diesen Aspekt auf eine erweiterte Ebene. Dies passt zur erinnerungskulturellen Konstruktion Großbritanniens als einer Nation, deren historische Entwicklung von einem sich sukzessive politisch entfaltenden Freiheitsstreben angetrieben wird. Gleiches gilt für die hiermit verknüpfte Vorstellung einer Sonderrolle als »für das Gute in der Welt wirkenden Macht«, die stark imperial geprägt ist, sich in Folge des Zweiten Weltkriegs aber noch einmal neu und mit besonderem Nachdruck in die britische Erinnerungskultur eingeschrieben hat. Die geschichtspolitischen Perspektiven, die im Rahmen des 200. Jubiläums des Slave Trade Abolition Act hauptsächlich zum Tragen kamen, waren mit dieser Grundausrichtung vergleichsweise gut kompatibel. Die positiv besetzte und politisch offensive Handlungsmacht war dabei in erster Linie bei Personen und Institutionen angesiedelt, die als im Einklang mit dem vermeintlichen Geist der britischen Geschichte agierend dargestellt werden konnten. Das Parlament und die Royal Navy spielten in diesem Zusammenhang ebenso ihre Rolle wie die anglikanische Kirche bzw. die christliche Religion. Durch die Hervorhebung von weiblichen sowie afrikanischen Akteuren wurde die Geschichte zeitgemäß ausgeweitet, ohne die Basis der erinnerungskulturellen Bedeutung grundsätzlich zu ver-
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schieben. Erinnerungskulturell bezeichnenderweise abwesend war dagegen die Monarchie, die sich in die progressive Reformperspektive weniger gut einordnen ließ und für die aktuellen politischen Kontroversen keine maßgebliche Rolle spielte. Eine gleichberechtigte Integration des in Afrika oder auf den Plantagen geleisteten Widerstands gegen Sklaverei und Sklavenhandel in das so ausgelegte Grundgerüst bot sich nicht ohne weiteres an. Der Druck in diese Richtung konnte durch den besagten Fokus teils abgewendet, teils unterordnend integriert werden. Aufgrund der intuitiven Logik der wohlbekannten Struktur lag das Abgleiten in historische Klischees und Oberflächlichkeiten dabei stets relativ nahe. Ein Leitartikel des Daily Telegraph zum 200. Jahrestag des Slave Trade Abolition Act brachte das Wirken des langfristig geprägten historischen Denkmusters eindrücklich auf den Punkt: »This month, we celebrate the abolition of slavery [sic], which must rank as one of the most unselfish acts ever undertaken. It stands to our credit, too, that, twice in the last century, we threw ourselves into ruinous European wars, not because we had been attacked, but because the sovereignty of a friendly country had been violated. Indeed, a sympathy with other nations has been a characteristic of British foreign policy [...] – not for selfish gain, but for love of freedom.«50
Günstig für die Einbindung des 2007 gefeierten historischen Moments in eine von den Weltkriegen geprägte Erinnerungskultur wirkte sich weiterhin die Möglichkeit aus, dem britischen Militär eine im klassischen Sinne heroische Rolle zuzuweisen. Diese wurde vor dem Hintergrund der aktuellen Außenpolitik bis in die Gegenwart verlängert, insbesondere in den von der Regierung selbst produzierten Narrativen: »The Royal Navy played an important role in the nineteenth century in enforcing the 1807 Act and subsequent anti-slavery treaties. Echoes of that role continue today in the part played by the Royal Navy in preventing piracy and terrorism and in targeting those involved in drug smuggling.«51 Für die öffentliche Etablierung kritischer, gegenläufiger oder alternativer Deutungen, die in eine zwangsläufig harte Konkurrenz zu dieser Lesart traten, stellte das politisch relativ einfach zu manipulierende Grundmuster somit eine erhebliche Herausforderung dar: Die zugunsten entsprechender »counter narratives« geschichtspolitisch handelnden Akteurinnen und Akteure traten »gegen den Strom« einer Eingängigkeit an, der sowohl von der politischen als auch der narrativen und geschichtskulturellen Logik gespeist wurde. Tatsächlich war die Abschaffung des Sklavenhandels bereits in den 1990er Jahren und nicht zuletzt in der Zeit um die Jahrtausendwende – den frühen Jahren der NewLabour-Ära – in der britischen Medienöffentlichkeit merklich präsenter als in der französischen. Dabei wurde die Abolition in recht unterschiedlichen politischen Kontexten als historisches Vorbild zitiert oder zumindest als politisch vorbildhaft in entsprechende Argumentationen miteinbezogen. In vielen Fällen lässt sich eine mehr oder weniger konkrete Verbindung zu der gesellschaftlichen Reformagenda herstellen, die von New Labour offensichtlich mit einem gewissen Erfolg gesetzt bzw. aus einer sozialen Interessenlage heraus in das Regierungsprogramm integriert worden war. Die entsprechenden Debatten drehten sich einerseits um eine Neubegründung der globalen 50 »Our proud story (Leitartikel)«, in: The Daily Telegraph vom 2.4.2007. 51 DCMS: Reflecting on the past, S. 14.
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Beziehungen: Auf den Kampf gegen Sklavenhandel und Sklaverei beriefen sich Aktivistinnen der Kampagne für einen internationalen Schuldenerlass52 ebenso wie Kritiker des weltweiten Waffenhandels. Andererseits spielte auch die moralische Erneuerung im Innern des Landes eine Rolle, Gegnerinnen der traditionellen Fuchsjagd und Befürworter eines offenen Umgangs mit Homosexualität in der Gesellschaft ordneten sich gleichfalls in die historische Kontinuitätslinie ein. Letztlich ging es also um einen Wertewandel und die öffentlichen Auseinandersetzungen wurden folglich oft mit Moralargumenten sowie einem nach historischer Orientierung suchenden Blick ausgetragen. Dass die Geschichte der Abolition gerade in diesen Zusammenhängen zum Argument wurde, ist durchaus bezeichnend. Für die Vertreterinnen und Vertreter progressiver Positionen war der Vergleich ihrer eigenen Reformbestrebungen mit denen der Abolitionsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts in verschiedener Hinsicht attraktiv. Sklaverei und Sklavenhandel waren über Jahrhunderte fest etablierte Institutionen; der gegen sie gerichtete Protest blieb dagegen lange die Angelegenheit einer primär aus engagierten Einzelpersonen bestehenden, isolierten Minderheit. »For more than two centuries, the occasional complaint about the horrors and the injustice of the Atlantic slave trade had no discernible effect on opinion in Europe or in the Americas. There was no more reason to think that the slave trade could be brought to an end in 1750 than there had been in 1550.«53 Im Rückblick erscheint die schließlich durchgesetzte Ächtung der Praktiken dennoch als die moralisch zweifelsfrei richtige Option. In aktuellen Streitfragen konnte der Verweis auf die Abolitionsbewegung eingesetzt werden, um die eigene Position mit dem gleichen Nimbus der allen Konventionen zum Trotz unbestreitbaren ethischen Evidenz zu versehen. Die so konstruierte Eindeutigkeit sollte den Willen zur Veränderung gegenüber konservativer Beharrlichkeit legitimieren und bestärken: »If the Government wants to ban hunting, or allow its supporters to ban hunting, it must take the argument to the country. It must argue and persist. Wilberforce did not achieve the abolition of the slave trade in our colonies by wanting to avoid blame for his proposals and passing his decision to local authorities.«54 Die Strömung des kulturellen Wandels erfasste auch so konventions- und traditionsbewusste Einrichtungen wie die anglikanische Kirche. Diese sah sich kurz nach der Jahrtausendwende am Rande einer Spaltung ihrer internationalen Amtsträger- und Anhängerschaft. Mit Gene Robinson wurde 2003 im amerikanischen New Hampshire 52 Der Vergleich kursierte nicht zuletzt deshalb, weil die christliche Kampagne Jubilee 2000 sich auf die Befreiung von der Schuldknechtschaft (Buch Levitikus, 25) berief. Das Symbol der Kampagne war eine zerbrochene Kette. Vor dem Hintergrund der hohen Verschuldung afrikanischer Staaten wurde die biblische Analogie dann auf den transatlantischen Sklavenhandel übertragen. 53 C.L. Brown: Abolition, S. 282. 54 Budgen, Nicolas: »Hunting – a little local difficulty«, in: The Daily Telegraph vom 16.6.1998. Die von Budgen in diesem Zusammenhang formulierte Kritik an der Idee des von New Labour auch im Rahmen des Bicentenary propagierten verantwortlichen Bürgerengagements ist aufschlussreich: »There is a new proposal to ban hunting. The headline is: ›The people will decide‹. The suggestion is that local councils should be given the power to license or not license hunts [...]. It is to delegate the moral and political problems of banning hunting to councils so that they, and not the Government, would be blamed.«
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erstmals ein Mann in das Amt eines Bischofs gewählt, der seine Homosexualität öffentlich machte. Gegen die Angriffe der religiös konservativen Kräfte versuchte er sich unter anderem mithilfe historischer Analogien zu verteidigen. »Bishop-elect Robinson, who will be consecrated Bishop of New Hampshire [...], said that the Church had been willing to change its understanding of the Bible over the centuries, and it should do so now over sexuality.«55 Als Beispiele führte der geistliche Würdenträger vor allem zwei fundamentale Kapitel der emanzipatorischen Geschichte an, die mit einem weitreichenden Wandel des gesellschaftlichen Selbstverständnisses verbunden wurden: »We’ve reinterpreted passages about slavery and the role of women.«56 Vier Jahre später konnte dieses Argument vor dem Hintergrund des viel beachteten Bicentenary noch einen Schritt weiter getrieben werden. In einem Leserbrief an den Guardian kommentierte ein anderer anglikanischer Geistlicher die zeitgleich stattfindende parlamentarische Debatte um die Gleichberechtigung homosexueller Lebenspartnerschaften folgendermaßen: »Thank goodness the sexual orientation regulations survived the wrecking motion that was put before the House of Lords. [...] Many of us in the churches want to root out the evil of discrimination in all its forms. This year sees the bicentenary of the abolition of the slave trade. For centuries many Christians used the Bible to justify that heinous trade and the discrimination it involved. The church repented of that interpretation of scripture. It now needs to repent for the discrimination of homosexuals.«57
Außerhalb der explizit historisch orientierten Diskussion wurde die Geschichte von Sklavenhandel, Sklaverei, Abolition und Emanzipation in solchen Zusammenhängen also ausnehmend stark in die Nähe eines überzeitlichen und letztlich ahistorischen Moralismus gerückt. Die für ein materialistisches Geschichtsbild erkenntnisleitenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen spielten dagegen praktisch keine Rolle. Eine erwähnenswerte Ausnahme stellt ein längerer Artikel dar, der bereits Mitte der 1990er Jahre im Daily Telegraph erschien. In dem Text setzt sich Peregrine Worsthorne mit Tierrechten und der zunehmend hinterfragten Selbstverständlichkeit des Fleischkonsums auseinander. Den eigentlichen Motor des Wandels verortet er dabei nicht auf der geistig-moralischen Ebene. Entscheidend ist für ihn die Weiterentwicklung der materiellen Grundlagen menschlicher Lebensweisen als Voraussetzung des Umdenkens: »[T]he old justification for man’s exploitation of animals – that his very survival depended on it – is no longer valid [...]. Here I really do believe there is an analogy with slavery.«58 In historisch weiter zurückliegender Zeit, so der Autor, habe der Einsatz von Sklavinnen und Sklaven eine gewisse Rechtfertigung in dem Argument gefunden,
55 Petre, Jonathan: »Gay bishop-elect draws Charles into Church row«, in: The Daily Telegraph vom 1.11.2003. 56 Ebd. 57 Leserbrief von Rev Mike Claridge zum Thema »Homophobia and Christianity«, in: The Guardian vom 11.1.2007. 58 Kommentar von Worsthorne, Peregrine: »Animals and the shape of meals to come«, in: The Sunday Telegraph vom 14.1.1996.
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dass die Früchte der von ihnen geleistete Schwerstarbeit auf keinem anderen Weg verfügbar gemacht werden konnten: Kein Mensch hätte sich freiwillig hierzu bereit gefunden. »With the invention of machinery and other advances, however, this justification grew ever more untenable. [...] But whereas a civilised conscience could just about come to terms with the cruelty of slavery when it was deemed to be a sheer necessity, the same degree of acceptance became increasingly out of the question once the institution was seen to be a matter of mere convenience and profit. So, I suspect, it will be with the exploitation of animals.«59
Die angeführten Beispiele aus Großbritannien sollen vor allem die in Frankreich so nicht gegebene Vielfalt der Diskussionskontexte verdeutlichen, in die Aspekte der Geschichte des Sklavenhandels und seiner Abschaffung übertragen wurden. Zwar sollte die Verbreitung des Abolitions-Mythos in Großbritannien nicht generell überbewertet werden. Bei William Wilberforce handelte es sich nicht um eine allgemein bekannte historische Persönlichkeit, wie im Rahmen des Bicentenary durchaus auch beklagt wurde. Lokale Ausnahmen der französischen Erinnerungskultur sollten in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht übersehen werden. Bedingt durch spezifische historische Entwicklungen war innerhalb des Hexagons die Erinnerung an die Sklaverei an einigen Orten präsenter als an anderen. Beispiele sind Pontarlier (Departement Doubs), dessen Berufsschule nach Toussaint L’Ouverture benannt wurde, der im nahe gelegenen Fort Joux verstarb, oder der kleine Ort Champagney (Departement Haute-Saône), dessen Bewohner heute stolz sind auf den von ihren Vorfahren mit zeitlichem Vorsprung artikulierten Protest gegen die Sklaverei. In Fessenheim, dem Geburtsort von Victor Schœlcher, wurde bereits früh eine Ausstellung zu Ehren des berühmten Sohnes der kleinen elsässischen Stadt errichtet.60 Inzwischen bilden diese und andere mit der Antisklaverei in Frankreich verbundene Orte eine Touristenroute, die von der UNESCO im Rahmen des Projekts Slave Route unterstützt wird. Dennoch konnte die französische Geschichtspolitik die von ihr angestrebte Positivbotschaft in keinem vergleichbaren Maße auf einen bereits etablierten Strang der Erinnerung stützen, der aus dem historischem Material schöpfen konnte, das die als national verstandene Vergangenheit zur Verfügung stellte. In seiner Rede zum 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien versuchte Jacques Chirac dennoch, sein Land aus dem historischen Schatten des Vereinigten Königreiches hervortreten zu lassen. Großbritannien, so gestand der Präsident explizit ein, habe zunächst den historisch größeren Mut bewiesen und die Emanzipation deutlich früher beschlossen. Während unter der Juli-Monarchie nur kleine Schritte zu Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Versklavten unternommen worden seien, habe dann aber die II. Republik mit umso größerer Entschlossenheit gehandelt. »En 1848, la France a fait le choix juste et courageux d’une émancipation immédiate et absolue. Les anciens esclaves deviennent, dès qu’ils
59 Ebd. 60 Vgl. U. Schmieder: Orte des Erinnerns und Vergessens, S. 74 und Durand, Jacky: »Antiesclavagistes depuis 1789. Il y a plus de deux siècles, Champagney se mobilisait pour ›les nègres des colonies‹«, in: Libération vom 9.5.2006.
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sont affranchis, des citoyens à part entière.«61 Hier knüpfte Chirac an die Ansprache an, die Aimé Césaire 50 Jahre zuvor an der Sorbonne gehalten hatte und deren Text dem Staatschef bzw. seinen Schreiber/-innen mit Sicherheit vorlag.62 Die Formulierung »citoyen à part entière«, die hier in einem euphemistischen Eigenlob der Republik auf die soeben noch im weitgehend rechtlosen Sklavenstatus gefangenen Arbeiter/ -innen bezogen wurde, ist unabhängig von der konkreten Zielgruppe ein Gemeinplatz französischer Integrationsdebatten. Die besondere Betonung der erinnerungskulturellen Schwachpunkte britischer Geschichte kann als Versuch interpretiert werden, eine Art nationalen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden. Zwar spielte der direkte Vergleich zumeist keine so große Rolle wie in der zitierten Präsidentenrede, dennoch schien der britische Abolitionsmythos auch in Frankreich bisweilen unter der Oberfläche präsent zu sein. Auffällig am französischen Fall ist weiterhin die Tendenz, die erinnerungskulturelle Entwicklung selbst zum Gegenstand des kollektiven Erinnerns und zur Trägerin einer moralischen Botschaft zu erheben, die sich aus dem Verlauf der umstrittenen Geschichte nicht ohne weiteres ableiten ließ. Mit der Zeit entwickelte sich hieraus eine Art postmoderner Fortschrittsmythos, der nicht nur im speziellen Hinblick auf die französische Nationalgeschichte einen positiven Kontrast zur Vergangenheit entwirft. Einen vorläufigen Höhepunkt bildete die Ausstellung »Les échos de la mémoire«, die im Mai 2013 unter der Schirmherrschaft des französischen Präsidenten im Jardin du Luxembourg ausgerichtet wurde. »Les documents visuels illustrent les initiatives prises, dans l’hexagone, en outre-mer ou ailleurs, pour restituer cette mémoire, et rendre hommage aux innombrables victimes de cette tragédie.«63 Die Ausstellung wollte verstanden werden als »devoir d’histoire qui illustre ce qui se fait pour restituer, valoriser et animer cette mémoire«.64 Insgesamt steht sie damit beispielhaft für die symbiotisch ausgelegte Resonanzbeziehung der Geschichte zu ihrer Erinnerung, die zur nationalen Sinnstiftung besser beitragen konnte als die Interpretation der Vergangenheit selbst. Die Fokussierung auf die erinnerungskulturelle Aufarbeitung entspricht der eminent wichtigen Position, welche die »mémoire nationale« im intellektuellen und politischen Diskurs der französischen Republik einnimmt. Eng mit ihr verbunden ist eine weitere Vorstellung, die inzwischen selbst zu einer Art mythischem Topos in der historischen Kultur des Landes avanciert ist: die fundamentale Bedeutung der Erinnerung als Gegenstück zur Verdrängung unbequemer Geschichtskapitel aus dem Gedächtnis der Nation. Die vermeintlich typisch französische Problematik von Trauma und Verdrängung wird in diesem Zusammenhang als eine dem kollektiven Unbewussten der 61 J. Chirac: Discours, 23.4.1998. 62 »Emancipation non pas concédée d’en haut non pas octroyée dédaigneusement, mais émancipation républicaine, émancipation révolutionnaire, sans ›apprentissage‹ à la manière anglaise, sans ›éducation préalable‹ sans ›travail forcé‹, sans limitation de droits«, so hatte der martinikanische Schriftsteller die Rechtsreform anlässlich ihres 100. Jahrestags in seiner Rede an der Sorbonne beschrieben. Césaire, Aimé: »Commemoration du centenaire de l’abolition de l’esclavage«, in: Œuvres complètes, zusammengestellt von Jean Paul Césaire, Band 3: Œuvre historique et politique. Discours et communications, Fort-de-France 1976, S. 407416, hier S. 413. 63 Echos de la mémoire, http://www.lesechosdelamemoire.com/le-pari. 64 Auszug aus dem Text der zentralen Ausstellungstafel.
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Nation entspringende Quelle sozialer Konflikte betrachtet. Dies ist einerseits Konsequenz des traditionell engen Verhältnisses von Republikanismus, Geschichte und nationaler Identitätsstiftung, resultiert andererseits aus der jüngeren Auseinandersetzung mit der Geschichte der Judenverfolgung in Frankreich. Als Referenzpunkt, auf den in verschiedenen Kontexten Bezug genommen wurde, war dieser Grundgedanke im öffentlichen Raum etabliert, lange bevor die Konflikte um die Geschichte des Sklavenhandels hier Prominenz erlangten. Im Hinblick auf diesen Teil der nationalen Vergangenheit haben sich die besagte Ausgangslage und mittelbar die besondere Brisanz der die französische Gesellschaft durchziehenden guerres de mémoires auch als politisch nutzbar erwiesen. Die vermeintlichen Verfehlungen und Verpflichtungen der »mémoire nationale« gaben einen Bezugsrahmen vor, von den schwierigen Fragen ablenken konnte, die eine Jahrhunderte andauernde Geschichte gewaltsamer kolonialer Unterdrückung zwangsläufig aufwirft. Das Ausmaß des Umdenkens dagegen, die Leistung der geschichtspolitischen Initiativen erschien im Licht der inzwischen aktiv angeprangerten Tendenz zur Vermeidung der Auseinandersetzung umso signifikanter. Bereits eine in erster Linie auf dem Feld der rituellen Symbolik ansetzende Geschichtspolitik konnte vor diesem Hintergrund als substantielles politisches Handeln präsentiert werden. So erhielt jede öffentlichkeitswirksam inszenierte Geste als eine Antithese der sozial schädlichen Verdrängung einen im doppelten Sinne historischen Charakter. Von der potentiellen Strahlkraft dieses Effekts versuchten nicht nur die Präsidenten zu profitieren – Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy ebenso wie François Hollande. Die Ausrichtung erlaubte es zudem, der französischen Republik ex post facto durch das Prisma der Erinnerungsarbeit betrachtet eine progressive internationale Führungsposition im Hinblick auf die Geschichte von Sklaverei und Emanzipation zuzuschreiben. Einen neuralgischen Punkt besetzt in diesem Zusammenhang die Verabschiedung der Loi Taubira, die jenseits aller Kritik aus verschiedenen Richtungen eine zentrale Rolle für die meisten Deutungen der erinnerungskulturellen Entwicklung in Frankreich spielte. Tatsächlich betonte auch Christiane Taubira selbst in ihrer Begründung des Gesetzesvorschlags die historische und für die Nation essentiell positiv konnotierte Bedeutung des symbolischen Akts: »[L]a France, qui fut esclavagiste avant d’être abolitionniste [...], redonnera éclat et grandeur à son prestige aux yeux du monde en s’inclinant la première devant la mémoire des victimes de ce crime orphelin.«65 So gesehen kann das Gesetz, das den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt, auch als eine Art Gegenmittel zur postmodernen, postheroischen und postkolonialen Schwächung des Nationalmythos gedeutet werden: »On pourra là encore noter que la loi de 2001 renforce le biais républicain plus qu’elle ne le remet en cause. En faisant de la France le premier pays à reconnaitre officiellement l’esclavage comme ›crime contre l’humanité‹, elle redonne un certain panache à sa réputation mise à mal de ›patrie des droits de l’homme‹.«66 Kritiker/-innen, die aus dem Gesetzestext einen Angriff auf die historische Reputation der Nation herauslasen, konnten aber gerade dieser Interpretation offenkundig wenig abgewinnen. Über die ursprünglichen Intentionen hinaus wurde die Loi Taubira schließlich aber nicht nur zu einem Anstoß für die erinnerungskulturelle Entwicklung in Frankreich, 65 Proposition de Loi No 1297 présentée par Christiane Taubira-Delannon, S. 5. 66 C. Chivallon: L’esclavage, du souvenir à la mémoire, S. 36 f.
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sondern zudem selbst zu einem zentralen Fixpunkt der dem transatlantischen Sklavenhandel gewidmeten Rituale und Narrative. In der Wahl des Datums für die jährliche Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions manifestierte sich dabei nicht nur eine bereits bestehende Bedeutung, sie zog auch eine zusätzliche Aufwertung und vor allem eine absehbar langfristige Zementierung des Rangs nach sich. Besonders deutlich wurde dies im Rahmen der Gedenkfeier am 10. Mai 2011, mit der zugleich das zehnjährige Jubiläum des Rechtstextes begangen wurde. Die Evokation der Loi Taubira war, ist und bleibt aber ein letztlich unvermeidbares Element jeder Journée des mémoires. Das Denkmal im Jardin du Luxembourg und der Mémorial in Nantes integrieren das Gesetz durch explizite Nennung ebenfalls in den begrenzten Kreis dessen, was im Hinblick auf die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels als essentiell erinnerungswürdig gilt. In nationaler Perspektive entscheidend ist dabei zum einen die fast ausschließliche Fokussierung auf den ersten Artikel und zum anderen die Einstimmigkeit, mit der die Vorlage die parlamentarischen Versammlungen passierte. Das Gesetz kann somit von Vertreter/-innen verschiedener politischer Parteien als positiv besetzter Meilenstein beschworen werden und als Navigationshilfe dienen, um den oft fatalen Sog der Erinnerungskonflikte zu vermeiden. Das anfängliche Desinteresse der meisten Abgeordneten und der metropolitanen Öffentlichkeit, die vorangehenden und nachfolgenden Kontroversen, die erbitterten Auseinandersetzungen im Jahr 2005 und Chiracs persönliche Intervention traten hinter der regelmäßigen Hervorhebung dieser Einstimmigkeit zurück. Die nachträgliche Anerkennung des Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll dabei auch eine erfolgreiche und historisch aufrichtige Neubegründung des postkolonialen Verhältnisses zwischen Frankreich und seinen Überseegebieten symbolisieren. Der Loi Taubira und dem Akt ihrer Verabschiedung kommt im Rahmen der Geschichtspolitik damit eine ähnliche Rolle zu, wie sie 1998 noch der Abschaffung der Sklaverei selbst zugewiesen worden war – ohne dass in diesem Fall die erhoffte einigende Wirkung erzielt werden konnte. Sehr deutlich wird das Ausweichen von der im eigentlichen Sinne historischen Ebene auf eine in ihrer Bedeutung freilich als nicht bloß symbolisch betrachtete Erinnerungspolitik unter anderem in den Reden von Jacques Chirac. »Ici même, au Sénat, le 10 mai 2001, à l’unanimité, la représentation nationale a solennellement qualifié la traite et l’esclavage de crime contre l’humanité«, rief er am 10. Mai 2006, der ersten offiziellen Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions, in das Gedächtnis des im Jardin du Luxembourg versammelten Publikums. Und dieses Ereignis hatte für ihn mehr als nur eine nationale Aura: »La France a ouvert la voie aux autres nations: mémoire et justice devaient être rendues à ces millions et ces millions de victimes anonymes de l’esclavage.«67 Ein Jahr später nahm die vom Präsidenten für sein Land reklamierte moralische Führungsrolle eine zusätzliche Dimension an. Denn Chirac erklärte: »Encore aujourd’hui, la traite des êtres humains fait des centaines de milliers de victimes dans le monde [...]. Plus que jamais, nous devons nous mobiliser contre cette infamie. L’honneur de la
67 J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006.
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France, c’est d’être à la pointe de ce combat pour la dignité et les droits de l’homme. Notre pays est le premier à avoir reconnu que l’esclavage est un crime contre l’humanité.«68
Dort, wo der Verlauf der eigentlichen Geschichte ein gemeinsames Erinnern in höchstem Maße problematisch machte, bot die Loi Taubira einen Mittelweg zwischen republikanischem Selbstlob und materieller Entschädigung an, der mit einem gewissen Erfolg zumindest als kleinster gemeinsamer Nenner des nationalen Gedenkens fungieren konnte. Ihre Stilisierung zum Willensausdruck der ganzen Nation entsprach zudem einem modernen demokratischen Selbstverständnis, für den die Vergangenheit anders als im Fall Großbritanniens keine überzeugenden Anknüpfungspunkte bereithielt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass sich auch die von verschiedenen Assoziationen begrüßte Anerkennung des 23. Mai als Tag des Opfergedenkens auf ein Datum bezieht, das weniger für die Geschichte der Sklaverei als für einen Wendepunkt in der Entwicklung ihrer öffentlichen Erinnerung steht. Die Verbindung mit dem Schweigemarsch im Jahr 1998 überlagerte die Nähe des Datums zur Revolte von 1848 so nachhaltig, dass die geschichtspolitische Widmung des Tages keinen nennenswerten Widerspruch hervorrief. Auch wenn die Verzahnung von Geschichte und Erinnerung im Fall der Sklaverei tatsächlich als äußerst eng betrachtet werden sollte, fand an der Oberfläche bisweilen eine merkliche Überdeckung der einen durch die andere statt. Denn die grundsätzliche Einigung auf den »devoir de mémoire« war sehr viel einfacher zu erzielen, als die Kondensierung der Vergangenheit in ein inklusives und konsensfähiges Geschichtsbild. Ein Widerhall dieser Tendenz, das historische Gedenken zum Gegenstand seiner selbst zu erheben, findet sich auch auf der lokalen Ebene, nämlich im geschichtspolitischen Programm der Stadt Nantes. Zwar wurde statt einer Verschmelzung von Geschichte und Gedächtnis hier in erster Linie eine Aufgabenteilung zwischen dem Musée de Château des Ducs und dem Mémorial de l’abolition de l’esclavage vorgenommen. Während das Museums der Geschichte im engeren Sinne gewidmet ist, hat das Monument eine überwiegend geschichtspolitisch-erinnerungskulturelle Bedeutung. Die Trennung unterliegt im Kern dem Prinzip einer gegenseitigen Ergänzung. Doch selbst die nüchtern gehaltene und vergleichsweise streng an historischen Artefakten ausgerichtete Ausstellung ordnet sich in einen Rahmen ein, der letztlich von den memoriellen Dynamiken geprägt ist. Folgt man der Beschilderung vom Quai de la Fosse bis zum Schloss, so wird der Endpunkt von einer Tafel markiert, die »Mythes et Histoire« thematisiert. Ihr Text weist einerseits auf ein verbreitetes Halbwissen über die Vergangenheit der Stadt als Sklavenhandelshafen hin, andererseits auf Schwierigkeiten und Widerstände bei der Konfrontation dieser Geschichte – »longtemps refoulé, mal connu, mal compris et mal assumé«. Genau hier soll das Museum mit seiner Wissensvermittlung ansetzen. »Lieu d’histoire, il est le pendant indispensable du Mémorial de l’abolition de l’esclavage«.69 In den Räumen, die den Museumsrundgang abschließen, befinden sich Plakate der Vorgängerausstellung »Anneaux de la mémoire«, die – ähnlich wie auf nationaler Ebene der Marsch am 23. Mai oder die Loi Taubira –
68 Chirac, Jacques: Ausführungen im Ministerrat zum Thema Menschenhandel, Elysee-Palast, 9.5.2007, http://www.cnmhe.fr/spip.php?article646. 69 Text einer Schautafel des Rundgangs.
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oft als ein fundamentaler Einschnitt im Hinblick auf den Umgang mit der Vergangenheit betrachtet wird.70 Hier hat außerdem die absichtlich beschädigte Statue eine neue Heimat gefunden, die das Flussufer zunächst subversiv für die Erinnerung an den Sklavenhandel besetzt hatte.71 Der Tendenz zur aktiven Verdrängung wird hiermit ebenso ein Denkmal gesetzt wie dem gegenläufigen Bemühen der städtischen Zivilgesellschaft und Verwaltung. Im Hinblick auf die Überwindung einer der Nation unwürdigen Geschichtsvergessenheit zeichnet sich in Frankreich also die Etablierung eines ganz eigenen »Abolitionsmythos« ab. Mit bemerkenswerter Konsequenz wurde zudem Persönlichkeiten geschichtspolitische Ehre erwiesen, die lange nach 1848 eine wichtige Rolle für das intellektuelle Leben der Überseegebiete und ihr Verhältnis zur (Kolonial-)Metropole spielten, wie Felix Éboué, Gaston Monnerville und vor allem Aimé Césaire. Ihre würdigende Erwähnung machte es möglich, der Partikularität der DOM im öffentlichen Raum dezidiert Rechnung zu tragen, ohne die hochproblematische Geschichte der Sklaverei selbst zu berühren. Die Geschichtspolitik griff perspektivisch über das eigentlich zur Debatte stehende Kapitel der Vergangenheit hinaus, um die (post-)koloniale Frage mit aufzugreifen, die mit der Departementalisierung auf besondere Weise politisch gelöst, auf anderen Ebenen aber längst nicht zu Ende diskutiert wurde. Beschrieben wurde so ein kontinuierlicher Weg der Emanzipation, der nach der Überwindung von Sklaverei und Kolonialismus mit gemeinsamen Zukunfts- und Fortschrittsperspektiven weiter zu beschreiten war. Dieser Ansatz zeigt besonders deutlich, dass es in den französischen Geschichtsdebatten nicht primär oder zumindest nicht ausschließlich um die Geschichte des Sklavenhandels, sondern in einem sehr viel weiteren Sinne um die Beziehungen zwischen den überseeischen und den metropolitanen Teilen des Landes ging. Zugleich bedeutete die chronologische Verschiebung aber auch ein Ausweichen vor der direkten Auseinandersetzung mit den folgenreichen Interessenkonflikten der Vergangenheit, welche die sozialen Strukturen der Überseedepartements bis heute prägen.
DER KONFLIKT UM HISTORISCHE HANDLUNGSMACHT Im Herbst 2013 wurde das Standbild von Victor Schœlcher in der nach ihm benannten Gemeinde in Martinique über Nacht beschädigt. Körper und Sockel wurden mit Slogans in roter Farbe beschrieben, darunter: »Cet homme ne nous a rien donné. Le peu que nous avons a été aquéri par la souffrance«, »La liberté ne se donne pas, la liberté se prend«, »Honneur, dignité et reconnaissance à nos ancêtres africains.«72 Es ist hier 70 Mit den Ereignissen in Paris 1998 vergleichbar ist auch der Versuch, 1985 eine Ausstellung zum 300. Jahrestag des Code Noir auszurichten, da hier die Opposition zu den lokolpolitischen Autoritäten besonders hervortrat. Die mutwillige Beschädigung der autonom errichteten Statue am Loire-Ufer, wo schließlich der Mémorial entstehen sollte, weist aber ebenfalls eine zentrale Parallele zu der Großdemonstration am 23. Mai 1998 auf: Ein Handeln, das als erinnerungskultureller Angriff interpretiert wurde, bildete die Basis für eine zunehmend organisiertes Gegensteuern. 71 Siehe hierzu das Kapitel zum Mémorial de l’abolition de l’esclavage, Nantes. 72 Fotos veröffentlichte u.a. France-Info, Victor Schœlcher vandalisé, 12.9.2013, http://la1ere. francetvinfo.fr/martinique/2013/09/12/victor-schoelcher-vandalise-69319.html.
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von einer Wir-Gruppe die Rede, die auf Abstammung zurückgeführt wird; die Person, die den Stift geführt hatte, sah sich in einer eindeutigen Verbindung zu den »afrikanischen Vorfahren«. Sehr deutlich scheint zudem ein Konflikt um historische Handlungsmacht auf: Angegriffen wird das in der Kolonialzeit geprägte Bild des überlebensgroßen »Papa Schœlcher«, dem die Sklavinnen und Sklaven, und in logischer Konsequenz auch ihre Nachfahren, für ihre Freiheit dankbar sein sollten. Dieser paternalistischen Positionierung Schœlchers in der historischen Erinnerung wird vehement widersprochen. An seine Stelle werden das (Er-)Leiden und der Kampf der eigenen Gruppe gesetzt, zu denen der Parlamentarier als symbolischer Vertreter der französischen Republik offenkundig nicht gehört. In dem Akt konzentrieren sich zentrale Spannungslinien der öffentlichen Debatten um den transatlantischen Sklavenhandel. Es handelt sich hierbei um eine letztlich logische Folge des rassistisch fundierten Ursprungskonfliktes, der versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner als Handelsgüter, Besitzobjekte sowie Instrumente der wirtschaftlichen Profitgenerierung definierte. In vielen historischen Quellen tauchen Versklavte als passive, stereotype und anonyme Figuren auf. In großer Zahl vorhanden sind zudem Dokumente zum Handel und zur Plantagenwirtschaft, in denen sie wie Gegenstände registriert sind. Eine große Menge an Text- und Bildquellen ging außerdem aus abolitionistischen Kampagnen hervor. Die entsprechenden Materialien wandten sich an die Menschen in den kolonialen Metropolen und riefen diese zum Handeln gegen das System der Unterdrückung auf. Die Autorinnen und Autoren setzten hierbei vor allem auf religiös motivierte moralische Empörung, zerstreut werden sollte dagegen die Angst vor Unruhen in den Plantagenkolonien. Im Spiegel der Propaganda erscheinen die versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner daher vor allem als hilfsbedürftige Opfer von Gewalt und Unrecht. Gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit waren die britischen Unterstützer/-innen der Abolition den Versklavten in den Kolonien eindeutig wohlgesonnen. Freilich können die Einstellungen und Ziele der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die in einem von scharfen Hierarchiegrenzen durchzogenen sozialen und intellektuellen Umfeld agierten, nicht als anti-rassistisch, emanzipatorisch oder gar egalitär im heutigen Sinne qualifiziert werden. Zur Aufnahme »schwarzer« Aktivistinnen und Aktivisten war auch die britische SEAST nicht bereit.73 »[T]he abolitionists opposed the most degrading stereotypes of the slaves. But the consistency of their abolitionism was weakened by continuing doubts about the capacity of the slaves to handle freedom or power.«74 In der Erinnerung sind die Anprangerung der Entmenschlichung und die explizite Würdigung von (versklavten) Afrikanerinnen und Afrikanern als Menschen mit eigenen Perspektiven und Zielen ein erster Schritt in Richtung einer Wiederherstellung ihrer Agency. Eine wichtige Stellung in der historischen Erinnerung hat international der so genannte Code Noir inne. In 60 Artikeln formulierte das Rechtskorpus vor allem offizielle Regeln zum Verhältnis zwischen Versklavten und Sklavenbesitzern im französisch-kolonialen Königreich. Der Text gilt inzwischen als archetypischer Ausdruck der
73 J. Stauffer: Abolition and Antislavery, S. 564. 74 Blackburn, Robin: »The Role of Slave Resistance in Slave Emancipation«, in: Seymour Drescher/Pieter C. Emmer (Hg.), Who Abolished Slavery? Slave Revolts and Abolitionism. A Debate with João Pedro Marques, New York, NY: Berghahn Books 2010, S. 169-178.
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letzten Konsequenz einer auf extremem Rassismus basierenden Sklaverei: »En ravalant les esclaves au rang de ›biens meubles‹, le Code noir, promulgué en France en 1685, leur déniait la qualité d’homme«, brachte Jacques Chirac 2006 die gängige Perspektive auf den Punkt.75 An dem zitierten Satz wird aber auch die Expertinnen und Experten wohlbekannte Ambivalenz des Textes deutlich. Denn dieser wurde ja nur deshalb benötigt, weil es sich bei den Sklavinnen und Sklaven eben nicht um Objekte handelte, sondern um Menschen, denen die Rechte »freier« Personen aktiv vorenthalten werden mussten. Mit den Bestimmungen stellte sich der monarchische Staat zwischen die Sklavenbesitzer und die von ihnen als Eigentum beanspruchten Arbeiter/innen.76 Auch hier ist die Kluft zwischen der Theorie auf dem Papier und einer Praxis zu beachten, die auf der faktisch schwer zu regulierenden Machtfülle der kolonialen Oberschicht vor Ort basierte. Die erinnerungskulturelle Funktion des Code Noir ist jedoch in erster Linie die eines unzweideutigen Symbols für eine bestimmte Form von Rassismus, die von der europäisch-kapitalistischen Wirtschafts- und Rechtsentwicklung hervorgebracht wurde und explizit afrikanische bzw. afrikanischstämmige Menschen betraf: »[Les esclaves] ne sont plus considérés comme des êtres humains. Ils sont du ›bois d’ébène‹, simple marchandise que l’on vend et achète avant de l’exploiter.«77 Eine ähnliche Rolle spielten in Großbritannien die Verweise auf den 1783 vor Gericht verhandelten Fall des Liverpooler Sklavenschiffes Zong. Dessen Kapitän ließ aufgrund von Trinkwassermangel weit über hundert Menschen im atlantischen Ozean ertränken. Da das Töten von Sklavinnen und Sklaven nicht grundsätzlich rechtswidrig war, ging es in dem geführten Prozess allerdings nicht um Mord; gestritten wurde ausschließlich um die Zahlungsverpflichtung des Versicherers. Aus heutiger Sicht manifestiert sich hier nicht nur die Verweigerung von Menschenrechten, sondern eine darüber hinausgehende Negation des ihnen zugrunde liegenden Rechtsverständnisses qua Gesetz. Schon von den britischen Abolitionisten wurde dieser Fall aufgegriffen, um auf die Unmenschlichkeit von Sklaverei und Sklavenhandel aufmerksam zu machen,
75 J. Chirac, Déclaration, 10.5.2006. 76 Der Codex enthält auch Abschnitte über die Taufe und religiöse Instruktion von Sklavinnen und Sklaven sowie Unterstützungsverpflichtungen im Krankheitsfall, er verbietet Folter und die Trennung von Familien durch den separaten Verkauf ihrer Mitglieder. Er schützte außerdem die Rechte derjenigen, die den Sklavenstatus auf dem Wege der Manumission überwunden hatten. Diese »libres hommes de couleurs« sollten frei geborenen französischen Untertanen gleichgestellt sein. Vgl. zuletzt Niort, Jean-François: Le Code noir. Idées reçues sur un texte symbolique, Paris: Le Cavalier bleu 2015. Sehr bekannt, aber gerade unter Historikerinnen und Historikern umstritten sind auch die Veröffentlichungen von Louis Sala-Molins zu dem Thema. 77 So Elisabeth Guigou, Justizministerin, in der Parlamentsdebatte zur Verabschiedung der Loi Taubira, Assemblée Nationale, 18.2.1999, S. 1639. Die Veröffentlichung des Buches »Le Code Noir. Idées reçues sur un texte symbolique« des Rechtshistorikers Jean-François Niort im Frühjahr 2015 mündete daher auf vorhersehbare Weise in einer Kontroverse, die einmal mehr französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Aktivistinnen und Aktivisten gegeneinander aufbrachte. Vgl. Niort, Jean-François: »Le Code Noir, une monstruosité qui mérite de l’histoire et non de l’idéologie«, in: Le Monde vom 15.9.2015.
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die in dem Massaker auf hoher See ihr Sinnbild fand.78 Der Akteursstatus von Sklavinnen und Sklaven, ihr Recht auf Selbstbestimmung oder gar Widerstand standen dagegen nicht im Fokus der Kampagnen. »There was little sense of racial equality, and a new image of the ever-grateful black subject subsequently developed – seen to greatest effect in Josiah Wedgwood’s cameo of a slave kneeling in chains. The inscription read: ›Am I not a man and a brother?‹ But few among Wilberforce’s Clapham Sect honestly thought so.« 79 Ursprünglich als Siegelmotiv für das London Committee der SEAST konzipiert, fand das besagte Wedgwood-Design eine weite Verbreitung in unterschiedlichen Formen, es dekorierte Schmuckstücke ebenso wie Tischgeschirr. 80 Eine weitere besonders bekannt gewordene Bildquelle ist der »Plan« des Liverpooler Sklavenschiffes Brookes. Bereits im 18. Jahrhundert wurden beide Bilder in bestimmten Fällen kombiniert, um ihren Effekt auf die Betrachter/-innen zu erhöhen.81 Heute sind die »Brookes« und das »Wedgwood-Medaillon« regelrechte Ikonen der visuellen Sklavenhandels-Geschichte: Kaum eine Ausstellung, kaum ein akademisches oder populärwissenschaftliches Buch zum Thema kommt ohne eine prominente Präsentation der beiden Darstellungen aus, und auch in künstlerischen Werken wird gerade auf die Abbildung des Schiffes immer wieder Bezug genommen. Der Plan spiegelt die Vorstellung des versklavten Menschen als Teil einer anonymen Masse, als Transport- und Handelsobjekt wider. Auf der Fläche des in Aufsicht gezeigten Schiffes sind Dutzende Personen als winzige liegende Figuren verteilt. Diese sind nicht nur stereotypisiert, sondern optisch nahezu gleichartig dargestellt. Im Grunde handelt es sich bei dem »Plan« um eine Art Muster, ein stilisiertes Diagramm. Es soll die Idee der Maximalbeladung eines Handelsschiffes vermitteln, die kalkuliert, geplant und ohne Rücksicht auf die menschliche Natur der Ware umgesetzt wurde. Die wohlgeordneten Reihen aus kaum bekleideten schwarzen Körpern haben mit der tatsächlichen Situation auf den Schiffen, die mit den Sklavinnen und Sklaven aus Afrika den Atlantik überquerten, wenig zu tun. »The crude renderings of the enslaved in the print, side by side, serves to dehumanise individuals at the very moment when the need to proclaim their humanity is paramount. […] The image can therefore be certainly criticised as sanitising the history of the Middle Passage, as the suffering of the enslaved is observed to be obscured or altered by the political objectives or sensibilities of the original abolitionists.«82
78 Vgl. zuletzt und ausführlich Walvin, James: The Zong. A Massacre, the Law and the End of Slavery, New Haven, CT: Yale Universiy Press 2011. 79 Hunt, Tristram: »Easy on the euphoria. Slavery underpinned the Georgian economy as oil does ours«, in: The Guardian vom 25.3.2006. 80 Vgl. Webster, Jane: »The Unredeemed Object. Displaying Abolitionist Artefacts in 2007«, in: Slavery & Abolition 30/2 (2009), S. 311-325. 81 Zur Ikonographie von Sklaverei und Abolitionismus vgl. v.a. die Arbeiten von Marcus Wood; vgl. auch J. Oldfield: Popular Politics and British Anti-Slavery, S. 155 ff. 82 »The Brookes. Visualising the transatlantic slave trade«, Bericht des Forschungsprojekts »1807 Commemorated«, Universität York, https://www.history.ac.uk/1807commemorated/ exhibitions/museums/brookes.html.
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Die irritierende und einprägsame Wirkung des Bildes ergibt sich gerade aus der ornamentalen Anordnung der Figuren, die eher als Fracht denn als Menschen dargestellt werden. Anlässlich des Bicentenary wurden in Durham, London und York Gruppen von zumeist jungen Menschen in liegender Pose zu einer Art lebendigem Abbild der Abbildung arrangiert. Über den (Bei-)Geschmack, die Angemessenheit und den pädagogischen Wert der spielerischen Theatralik wurde kontrovers diskutiert.83 Abb. 5: Das Sklavenschiff »Brookes«, französische Variante
Quelle: Société de la morale chrétienne, 1822. Dokument aus der Sammlung des Château des ducs de Bretagne / Musée d’histoire de Nantes (public domain).
Das mindestens ebenso berühmt-berüchtigte Design des namhaften Keramik-Produzenten Wedgwood zeigt einen »Afrikaner« mit Hand- und Fußfessel, der auf Knien mit erhobenen Händen um Erlösung aus seiner Lage fleht. Die Silhouette wird von dem Schriftzug mit der Frage nach seiner Menschlichkeit umrahmt, die sich an das Zielpublikum der abolitionistischen Propaganda richtete. In der Logik der Darstellung war es also an den britischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die Antwort zu geben; der Status des Sklaven als Person war von ihrer Anerkennung abhängig. Wie die »Sklaven« auf der Brookes zeichnet sich die kaum bekleidete Figur durch ihre Chiffrenhaftigkeit, durch Passivität und Hilflosigkeit in der Situation der Unterwerfung aus. Aus 83 Vgl. ebd.
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ihrer Haltung spricht keinerlei Potential zum eigenständigen oder gar rebellischen Handeln. Abb. 6: Kniender Sklave, Siegelmotiv von Josiah Wedgwood
Quelle: Society for Effecting the Abolition of the Slave Trade, 1787 (public domain).
Auch nach der Abschaffung der Sklaverei blieb der (Ex-)Sklave eine Projektionsfläche für in den kolonialen Metropolen gepflegte und politisch propagierte nationale Selbstbilder. Nicht nur galt er als Empfänger einer Wohltat und damit als zu Dank, Gehorsam und Arbeitsleistung verpflichtet. Die afrikanischstämmigen Arbeiter und Arbeiterinnen waren nun koloniale Untertanen, die angeblich weiterer Bevormundung und Kontrolle bedurften. Vor allem aber sollten sie sich in das Regime der abhängigen Arbeit zu niedrigen Löhnen einordnen. Noch im Jahr der französischen Emanzipation fertigte François-Auguste Biard ein Gemälde an, das diese Überlegenheitsvorstellungen in ebenfalls sehr exemplarischer Weise repräsentiert. Es ist um zwei optische Zentren herum angeordnet: Auf der linken Seite steht, leicht erhöht auf einem Podest und mit einigen französischen Matrosen im Rücken, der offizielle Vertreter der Republik; rechts im Bild ist eine Gruppe von Sklavinnen und Sklaven zu sehen, die von ihm die befreiende Nachricht der Emanzipation erhält. »[I]ls sont dans une attitude de joie et de remerciement face au commissaire général de la République qui, devant le drapeau républicain français, montre le décret d’abolition.«84
84 Schmidt, Nelly: »Esclavage et abolitions, colonies françaises, recherche et transmission des connaissances«, in: UNESCO/La Route de l’Esclave (Hg.): Volume collectif sur les Traites négrières, Esclavages et Abolitions. Perspectives plurielles, http://www.unesco.org/new/fr/ social-and-human-sciences/themes/slave-route/right-box/volume-collectif.
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Die ideologische Aufladung dieser und anderer Bilder ist von der Forschung bloßgelegt und ausführlich diskutiert worden. 85 In erinnerungskulturellen und medialen Kontexten hat Bildmaterial allerdings einen hohen Stellenwert. Das ISM versuchte, das Dilemma auf seine Weise aufzulösen: »[W]herever possible, African images of Africans, not European images, were used in the gallery.«86 In vielen anderen Kontexten wurde weiterhin auf die Bilder westeuropäischer Provenienz zurückgegriffen, die leichter zugänglich und durch ihre Entstehungsbedingungen historisch vertrauter waren. Für den 150. Jahrestag des französischen Emanzipationsdekrets 1998 erging der Beschluss, den Auftritt des Präsidenten im Elyséepalast vom vorgenannten Gemälde visuell einrahmen zu lassen. »Le tableau de François-Auguste Biard célébrant l’abolition de l’esclavage, entreposé au Musée du Château de Versailles, sera exposé pour la circonstance à l’Elysée, à l’endroit de la réception.«87 In einer kleinen Sonderausstellung zur Geschichte der Überseegebiete, die 2011 im Musée du Quai Branly präsentiert wurde, war Biards Werk als ein Kernstück platziert, das die Wahrnehmung des Raumes in den Augen der meisten Besucher/-innen dominiert haben dürfte. Es fungierte als bildliche Darstellung der Emanzipation und blieb ohne kritischen Kommentar. Auch das Motiv aus dem bis heute fortbestehenden Traditionshause Wedgwood blieb oft mit einer prinzipiell gut gemeinten Positivkonnotation verbunden. »It is still viewed today as a powerful emotive piece which communicates the ethics, morality and the humanitarian mission of the abolition movement. It is considered to be an effective means of imparting upon its audience that a shared basis of humanity is in existence.«88 Vor dem britischen Unterhaus gab der konservative Abgeordnete Sir Patrick Cormack Einblicke in sein Arbeitszimmer und seine Sicht auf das Jubiläum des Slave Trade Abolition Act: »I have on my desk at home a little ashtray […] which was produced by Wedgwood in 1983 and which reproduces the famous image of the black man in chains with the slogan around it: ›Am I not a man and a brother?‹ That gave great inspiration to Wilberforce. I would love it to be reproduced as a plaque, and for it to be placed in the Members’ Lobby among the memorials to Prime Ministers […]. It would be a splendid commemoration of this 200th anniversary if we could do something like that.«89
85 Besonders intensive Arbeit auf dem Gebiet leistete Marcus Wood, zudem sind auch im Hinblick auf Ausstellungen und Artefakte gerade im Zuge des britischen Jubiläumsjahres 2007 zahlreiche Beiträge erarbeitet und publiziert worden, siehe hierzu das Kapitel Forschungsstand und Forschungsperspektiven. 86 D. Fleming: Liverpool, European Capital of… the Transatlantic Slave Trade. 87 Ministère de la culture et de la communication: Cent cinquantenaire de l’abolition de l’esclavage. Les manifestations nationales en métropole, http://www.culture.gouv.fr/culture/ac tual/abolition/metro.htm#25. 88 »The image of the supplicant slave: advert or advocate?« (Discussion Topic Two), Forschungsprojekt »1807 Commemorated«, Universität York, https://www.history.ac.uk/1807 commemorated/discussion/supplicant_slave.html. 89 Sir Patrick Cormack, konservativer Abgeordneter für South Staffordshire, House of Commons, 20.3.2007, C. 717.
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Zur speziellen Praxis des Zigarettenausdrückens auf dem Bild des knienden Afrikaners äußerten sich geschichtspolitische Aktivistinnen und Aktivisten öffentlich nicht. Der regelmäßige Einsatz der Darstellung stieß allerdings auf durchaus deutlichen Widerspruch, der bis zu Forderungen eines generellen Ausstellungsverbotes reichte. Die britische, panafrikanisch orientierte Organisation Ligali bezeichnete das Motiv als »steeped in racist ideology« und machte seine häufige Verwendung zu einem von drei Haupteinwänden in ihrer Protesterklärung gegen die Planungen für das Bicentenary.90 Schon im Vorfeld der Jubiläumsveranstaltungen hatte Ligali eine geschichtspolitische Befürchtung besonders in den Mittelpunkt gerückt: »A commemorative focus on the works of European abolitionists will reassert the historic falsehood that African people were the passive recipients of emancipation.«91 Eine einseitige Wiederholung der überholten Perspektive hätte das Bicentenary in der Tat als PR-Debakel der Labour-Regierung in die neueste Geschichte der Geschichtspolitik eingehen lassen. Besonders wichtig für die Kommunikation war daher die Betonung des Beitrags von Reformern wie Sancho, Cugoano und vor allem Equiano. Auf diesem Wege sollte der Mythos der bislang vor allem von Wilberforce verkörperten britischen Abolitionsbewegung im Wesentlichen bewahrt und zugleich mit einem zeitgemäßen Antlitz versehen werden. Die Akteursstruktur der Geschichte bot in diesem Fall die Möglichkeit einer zumindest oberflächlichen Öffnung für »afrikanische« Agency, die freilich überwiegend im Rahmen der tradierten Erzählstruktur erfolgte und damit eine vorwiegend kompensatorische Sichtbarkeit zugestand. 92 In der New-Labour-Variante des Abolitionsmythos lagen Handlungsmacht und historische Leistung bei humanitär engagierten Britinnen und Briten, »weißen« und »schwarzen«, männlichen und weiblichen, armen und reichen: »The campaign to abolish slavery was the first peaceful mass protest of modern times. [...] The people who fought against the slave trade came from all walks of life. They included slaves and former slaves like Olaudah Equiano, church leaders and statesmen like William Wilberforce and countless ordinary people who signed petitions, marched, lobbied and prayed for change.«93
Auch Sharp und Clarkson durften nicht fehlen. Als »Dead White European Males« eigneten sie sich unter den gegebenen Umständen weniger als Träger eines erwünschten Identifikationspotentials, das über ihre Person hinausgewiesen hätte. Der Widerstand der Versklavten selbst war zwar präsent, er wurde im Regelfall aber eben nicht erkennbar der Bewegung zugeordnet, die dem als welthistorisch einschneidend betrachteten Slave Trade Abolition Act zum Erfolg verhalf. »Parliament, passion and people power«94 führten zur Abschaffung des Sklavenhandels in Großbritannien. 90 Ligali Organisation: 10 things about BBC’s slavery myths, August 2005, http://www.ligali. org/bbc/enslavement_myths.htm; Ligali Organisation: Declaration of Protest to the 2007 Commemoration of the Bicentenary of the British Parliamentary Abolition of the Transatlantic Slave Trade, August 2005, www.ligali.org/pdf/Declaration%20of%20protest%20to% 20the%202007%20Abolition%20Commemoration.pdf. 91 Ligali: Declaration of Protest. 92 Vgl. S. Macdonald: Memorylands, S. 177. 93 HMG: Bicentenary 1807-2007, S. 8. 94 Ebd.
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Trotz der merklichen Erweiterung des Akteursspektrums sollten sich die Befürchtungen der Vertreter/-innen von Ligali nicht als unbegründet erweisen. »Much media coverage of 2007 in the UK has preferred to go down the older path of celebrating Wilberforce and pitying the shackled slave, and, insofar as an active black presence in the abolition debate has been acknowledged, it seems to have been limited chiefly to the example of Olaudah Equiano.«95 Marcus Wood sah Equiano vor diesem Hintergrund in die Rolle des »eighteenth century’s celebrity black token abolitionist« gedrängt.96 Dass der Auftritt eines bislang weniger beachteten Akteurs nicht mit einer grundsätzlichen Revision hergebrachter Perspektiven gleichzusetzen ist, belegte unter anderem der Film »Amazing Grace«. Das Drehbuch näherte sich dem historischen Thema primär über eine dem Abolitionsmythos entsprechende Ausleuchtung der Lebensgeschichte von William Wilberforce – der Slogan »One voice changed the lives of millions« lässt im Hinblick auf die Eindeutigkeit der Verortung von historischer Handlungsmacht keine Fragen offen. 97 Aber auch in diesem Zusammenhang hatte Equiano unweigerlich zumindest eine Nebenrolle zu spielen. Sie wurde in diesem speziellen Fall von dem bekannten senegalesischen Musiker Youssou N’Dour verkörpert, der sich als späterer Kultur- und Tourismusminister seines Landes auch für die Reputation der Insel Gorée als Erinnerungsort des transatlantischen Sklavenhandels eingesetzt hat. Während das Gesangs- und Kompositionstalent von N’Dour international anerkannt ist, verfügt er nur über eine sehr eingeschränkte Erfahrung als Schauspieler.98 Afrikaner/-innen sowie Sklavinnen und Sklaven kommen in »Amazing Grace« im Übrigen nur am Rande vor, die Gewalt der Sklaverei und die Möglichkeit einer Rebellion bleiben schemenhafte visuelle Andeutungen. Auch für die Inszenierung der religiösen Veranstaltung in Westminster Abbey, die von Toyin Agbetu auf so spektakuläre Weise kritisierte wurde, lieferte die demonstrative Würdigung von Olaudah Equiano ein entscheidendes Element. Dennoch sendete das geschichtspolitische Drehbuch im Hinblick auf den geforderten Paradigmenwechsel bestenfalls gemischte Signale aus. Dies offenbart nicht zuletzt der Blick auf die Rolle der Königin in diesem Zusammenhang, die nach dem Gottesdienst Blumen zu Füßen der am Ort befindlichen Statue von William Wilberforce niederlegte, bevor sie einen weiteren Strauß am Innocent Victims’ Memorial vor dem Westeingang des Gebäudes ablegte. In die Dramaturgie der Veranstaltung eingebunden, sorgte der wortlose Akt der Regentin für eine abschließende Unterstreichung des Opfergedenkens. Ein Denkmal speziell zur Geschichte der Sklaverei existierte 2007 in London weder nah noch fern der Kathedrale. Der Eindruck, der sich ergeben hätte, wenn die Königin mit derselben Geste Blumen an einem Denkmal zu Ehren von versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern im Hyde Park niedergelegt hätte99, wäre ein völlig anderer gewesen – auch und gerade in Bezug auf den Zusammenhang von gruppenbezogener (Selbst-) Wahrnehmung und historischer Handlungsmacht. Das Gedankenspiel zeigt, dass die 95 Prior, Katherine: »Commemorating Slavery 2007. A Personal View from Inside the Museums«, in: History Workshop Journal 64/1 (2007), S. 200-211, hier S. 205. 96 Ebd. 97 Verwendet u.a. auf dem Ankündigungsplakat für den Kinofilm. 98 So kritisch M. Wood: Horrible Gift, S. 345. 99 Siehe hierzu die Kapitel Das Jubiläum 2007: Der 200. Jahrestag des Slave Trade Abolition Act und Die Verstetigung der Erinnerung: Gedenktag(e) und Denkmal(e).
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An- oder Abwesenheit eines materiellen Gedenkortes weitreichenden Einfluss haben kann, nicht zuletzt auf die für die Geschichtspolitik zunehmend bedeutsamen Medienbilder. Mit der geschichtspolitisch besonders betonten Würdigung von Olaudah Equiano allein waren die akteurszentrierten Einwände von Toyin Agebtu nicht aus der Welt zu schaffen. Der (verfehlte) Dialog zwischen ihm und Very Rev. John Hall ist daher nicht nur im Hinblick auf die Tiefe eines erinnerungskulturellen Missverständnisses äußerst aufschlussreich.100 Sie zeigt auch die Fallstricke auf, die sich aus der Verwechslung einer politisch und inhaltlich begründeten Differenz der Position mit dem oberflächlichen Differenzmerkmal der Hautfarbe ergeben. Dass Equiano und Wilberforce sich persönlich vermutlich nie begegneten – ein gemeinsames Dinner im Film »Amazing Grace« stellt eine sehr bezeichnende historische Ungenauigkeit dar – blieb angesichts der zumindest partiell geteilten Ziele schlicht unerwähnt. Das ganz bewusste Gedenken an die gemeinsame politische Leistung einiger kann zudem zum Ausschluss derjenigen aus dem historischen Narrativ beitragen, die in Verzweiflung und oft vergeblich um ihre Freiheit oder ihr bloßes (Über-)Leben kämpften. Dies gilt für die vielen anonymen Todesopfer der systematisierten Unterdrückung ebenso wie für die Menschen, die den Konflikt mit den europäischen Repräsentanten dieser Unterdrückung direkt austrugen. Zu ihnen gehören die von Agbetu namentlich hervorgehobenen Akteurinnen Königin Nzinga von Matamba und Nanny Maroon sowie Samuel Sharpe.101 Nannys imaginiertes Antlitz ziert zwar einen jamaikanischen Geldschein, findet sich auf den britischen Sonderbriefmarken zum Jubiläum 2007 aber eben nicht wieder. Selbst die zentrale Botschaft des in Bezug auf diesen kritischen Punkt vergleichsweise konsequent konzipierten ISM in Liverpool bleibt letztlich tendenziös. Mit dem Slogan »Remember not that we were freed but that we fought« bezog die Einrichtung zunächst eine deutliche Position. Das Motto ist nicht nur eine Anspielung auf das traditionelle Narrativ der Erinnerung und eine Distanzierung von seinen Leitlinien. Es lehnt sich an ein Zitat von William Prescott an, einem ehemaligen Sklaven, der 1937 in den USA als alternder Mann zu seiner Geschichte befragt wurde. »They will remember that we were sold but they won’t remember that we were strong. They will remember that we were bought, but not that we were brave«, gab er mit einem guten Teil Weitblick und Resignation zu Protokoll.102 Der Versuch einer Zentrierung auf die »afrikanische« Perspektive, der im hier verwendeten »Wir« enthalten ist, wird durch den Aufgriff der in ihrer Art relativ selten überlieferten persönlichen Aussage unterstrichen. Mit seiner »Campaign Zone« will das ISM nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zu zivilgesellschaftlichem Engagement in vermeintlich guter britischer Tradition anregen. Diesbezüglich stellt sich vor allem die trotz ihrer radikalen Ränder 100 Siehe oben, Eklat beim Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey im Kapitel Das Jubiläum 2007: Der 200. Jahrestag des Slave Trade Abolition Act. 101 Vgl. Ligali Organisation/BBC: »Toyin Agbetu challenges Queen & Blair: Wilberfest at Westminster Abbey 27.03.07 (Uncensored Version)«, www.youtube.com/watch?v=L9h_ VVqIatY, 5:02 min. 102 Vgl. Bunch, Lonnie G.: »The Challenge of Remembering Slavery«, in: Anthony Tibbles (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press ²2005 [1994], S. 125-130, hier S. 128. Auch Prescott wurde im Rahmen des amerikanischen Federal Writers’ Project in den 1930er Jahren befragt, siehe S. 71, Anm. 24.
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überwiegend mit friedlichen Mitteln agierende afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung als vorbildlich dar. Sie nimmt in dem Museum deutlich mehr Raum ein als die Thematisierung der historischen Widerstandsformen, die von Personen wie Sharpe und Nanny oder von westafrikanischen Akteuren praktiziert und von den kolonialen Autoritäten mit massiver Repression vergolten wurden. Ein unscheinbares Ausstellungsstück aus dem Stadtmuseum M-Shed in Bristol bringt die auch in der Erweiterung der geschichtspolitischen Perspektive enthaltene Verengung auf den Punkt. Hier wurde in einer Vitrine ein kleines Exemplar des Wedgwood-Medaillons ausgestellt. In Anspielung auf den ursprünglichen Slogan wurde dem Exponat der Satz »Passive victim or political activist?« beigegeben, um die Besucher/-innen zur Hinterfragung des bekannten Motivs zu animieren. Allerdings wird die Reflexion dabei zugleich in eine bestimmte Richtung gelenkt. Nach Widerstandskämpfern oder Revolutionären ist hier nicht gefragt – obwohl der fast unbekleidete, muskulöse Körper eindeutig auf den kolonialen Kontext, die Plantagenarbeit und verbreitete Afrika-Stereotype hindeutet: Bei der abgebildeten Person, möchte man sie denn überhaupt so konkret interpretieren, handelt es sich nicht um einen Menschen in der sozialen Position eines Cugoano, Sancho oder Equiano. Diese pflegten ein Auftreten und ein äußeres Erscheinungsbild, das ihrem christlichen und europäisch-elitären Umfeld entsprach, was eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg ihrer politischen bzw. künstlerischen Arbeit darstellte. Die durch Glück eröffneten und mit Talent genutzten Möglichkeiten des Bildungserwerbs standen den Arbeiter/-innen unter den Bedingungen des Plantagenregimes nicht zur Verfügung. Das gleiche gilt für die Mittel, mit denen diese »politischen Aktivisten« für eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse eintraten. Wenn William Hague also über die britische Abolitionsbewegung sagte, »it secured something that could not happen in countries where political freedom was not yet known«103, so spricht aus dieser Aussage auch die fundamentale Diskrepanz, die dem ambivalenten Verhältnis von Metropole und Kolonie zugrunde lag. Die im Rahmen des Bicentenary lobend herausgestrichenen Aktionsformen gehören zu den in modernen Demokratien anerkannten Ausdrucks- und Austragungsmodi für politische Interessenkonflikte. Diese Art des Engagements ist auf eine zumindest in Ansätzen entwickelte freiheitliche Zivilgesellschaft zugeschnitten und von der Existenz entsprechend privilegierter Bedingungen abhängig. Im Wesentlichen handelte es sich um einen Einsatz für die Sache der Unterprivilegierten, der von Nicht-Betroffenen anstelle der ihrer Handlungsmacht weitgehend beraubten Menschen ausgeübt wird. In dieser Hinsicht bestehen tatsächlich Parallelen zwischen den Aktivitäten der SEAST und der »humanitären Hilfe« von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die anlässlich des Bicentenary in eine historisch lineare Verbindung gesetzt wurden. Auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA agierte nicht unter den Voraussetzungen, die 150 Jahre vor ihrer Hochzeit in Teilen des westatlantischen Raumes galten. Die Ausrichtung des Gedenkens war eine logische, wenn nicht notwendige Folge der politischen Strukturen, aus denen es hervorging und deren (Re-)Stabilisierung es befördern sollte. In den Kolonien, die dem wirtschaftlichen Nutzen der Metropole dienen sollten, war die Ausbildung politisch liberaler Strukturen prinzipiell nicht vorgesehen. Zum 103 William Hague, konservativer Abgeordneter für Richmond, Yorkshire, House of Commons, 20.3.2007, C. 697.
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aus »afrikanischer« Perspektive fundamentalen Aspekt des direkten Widerstands gegen das Regime der Sklaverei hatte die öffentlich präsentierte Geschichte folglich sehr viel weniger zu sagen. Jenseits der Frage nach Herkunft und Hautfarbe der beteiligten Akteurinnen und Akteure blieb sie unweigerlich von einer eurozentrisch-metropolitanen Voreingenommenheit behaftet, die den emanzipatorischen Gehalt begrenzte. Zwar wurde und wird in Bezug auf die britische Geschichte darum gestritten, welche Rolle unterschiedliche Formen des Widerstands für die sukzessive Demontage des Sklavereiregimes gespielt haben. Unabhängig von der konkreten Bewertung wird die historische Handlungsmächtigkeit der Versklavten von der Erinnerung an die Abolitionsbewegung jedoch mit großer Eindeutigkeit in den Schatten gestellt. Als entscheidend für die Auflösung der Geschichte stellt sich somit der Beschluss des britischen Parlaments dar. Kritiker wie Kofi Klu (Rendezvous of Victory) konnte diese Perspektive weder im Hinblick auf ihren historischen noch im Hinblick auf ihren politischen Wert zufrieden stellen. Als Inspiration und Grundlage für Zusammenhalt und Handlungsmacht der »Black community« sollte eine Geschichte dienen, in welcher der entscheidende Durchbruch für Freiheit und Gleichheit eine direkte Folge des aktiven Widerstands von Sklavinnen und Sklaven war. Die »Erfindung« und Durchsetzung des Menschenrechtsgedankens wurde dann ganz explizit einer distinkten Akteursgruppe zugeordnet, die unabhängig von der demonstrativen Integration Equianos nicht mit dem britischen Abolitionismus übereinstimmt, der heute seinerseits als Menschenrechtsbewegung erinnert wird. Die ethnisch markierten Konfliktmomente der französischen Geschichte lassen sich im Vergleich deutlich schwerer auslagern. Die an entscheidenden chronologischen Wegmarken hervorstechenden gewaltsamen Auseinandersetzungen trugen auch den Konflikt um die Verteilung historischer Handlungsmacht in Zentrum der Debatte um die Erinnerung hinein. An den noch relativ unausgefeilten geschichtspolitischen Formen des Cent-Cinquantenaire im Jahr 1998 lassen sich die Konsequenzen dieser Ausgangssituation nachzeichnen. Hier lieferten die Umstände, unter denen das zweite Emanzipationsdekret zur Umsetzung kam, konkrete Anhaltspunkte für eine Erinnerung, die sich als Gegenentwurf zum kolonial geprägten Narrativ der Metropole verstand. Die martinikanischen Unruhen von 1848 begannen zwar erst nachdem der Beschluss zur Abschaffung der Sklaverei in Paris bereits getroffen war; der direkte chronologische Zusammenhang zwischen Emanzipation und Aufstand führt aber auch dazu, dass letzterer in seinem lokalen Kontext als eine erfolgreiche Herausforderung obrigkeitlicher Handlungsmacht betrachtet werden muss: Die Aktivität der Sklaven bewirkte die umgehende Abschaffung der Sklaverei – ein Entwicklungsverlauf, der in dieser Form weder von der Pariser Politik noch von den Plantagenbesitzern gewünscht gewesen war. Dennoch ging mit diesem Moment die faktische Emanzipation der Sklavinnen und Sklaven von Martinique dauerhaft in die Geschichte ein, und als ein solcher Erfolg haben sich die Unruhen in der regionalen Erinnerung bewahrt. Auch wenn sich die inhaltliche Ausgestaltung schließlich in eine andere Richtung entwickelte, belegt die Wahl des Datums für den Protestmarsch am 23. Mai die nachhaltige symbolische Bedeutung der Ereignisse. Die Emanzipation 1998 als eine historische Leistung der französischen Republik zu feiern, kam vor diesem Hintergrund für viele Französinnen und Franzosen nicht in Frage: »Les nègres n’ont pas attendu un libérateur divin venu de métropole pour mener la révolte. Les esclaves ont conquis
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eux-mêmes leur liberté. Voilà ce que nous célébrons!«104 Diesem Bild der historischen Entwicklung wollte sich die geschichtspolitisch progressiv gestimmte Linksregierung unter Lionel Jospin nicht vorbehaltlos anschließen. Einige ihrer Schritte zeugen dennoch von dem Versuch einer Annäherung an die karibische Erinnerung. Insbesondere deren Heldenfiguren wurden formal in das Gedenken integriert, auch wenn sie in den Gesamttenor narrativ eher unzureichend eingebunden blieben. Bedingt durch die in der Zeit der cohabitation gegebenen politischen Mehrheitsverhältnisse war dieser zudem von deutlich konservativeren Stellungnahmen mitgeprägt. Im Hinblick auf die zentrale und äußerst umstrittene Frage nach der Handlungsmacht lassen sich allerdings auch parteiübergreifende Tendenzen beschreiben: Auffällig an der jüngeren französischen Geschichtspolitik ist nicht zuletzt ihr ausgeprägter Hang zur Abstraktion. Der eigentliche Antrieb der Geschichte wurde nicht unbedingt im Bereich konkret greifbarer menschlicher Akteursmacht verortet. Eine Reaktion auf das im Vergangenheitsverlauf an dieser Stelle angelegte Konfliktpotential war das Ausweichen auf andere Zeitebenen und/oder die Vermeidung historischer Gegenständlichkeit. Schon die Konzeption des 10. Mai lässt die (fehlende) Linie hervortreten: Sowohl die Benennung als auch das Datum des Gedenktages umgehen eine konkrete Aussage zur Ordnung der historischen Ereignisse. In den Vordergrund gerückt wird stattdessen das selbstreferentielle Lob des seit der Jahrtausendwende zurückgelegten erinnerungskulturellen Fortschritts. Die Handlungsmacht wird auf diesem Wege demonstrativ und im Einklang mit aktuellen Politikidealen auf das Parlament bzw. den Volkssouverän übertragen, der diesen Anspruch auf rein historischer Basis kaum überzeugend hätte begründen können. »La date du vote (10 mai 2001) a été préférée à celle de la promulgation de la loi (21 mai 2001) pour souligner l’importance du geste: ce sont les représentants du peuple qui, par leur vote, font les lois de la République. Le travail des commissions et les débats parlementaires témoignent de l’effort collectif pour trouver le terrain commun le plus juste.«105 In ihrer Aussageintention glich die französische Geschichtspolitik hier also der britischen. Allerdings bedurfte es eines gewissen Umwegs zur Erreichung des Ziels, um die erinnerungskulturell rauen Klippen der tief gespaltenen nationalen Vergangenheit zu umschiffen. Erwähnenswert ist jedoch auch ein historischer Bezug des Gedenkdatums, der in dem Bericht, der die Empfehlung begründet, zunächst unerwähnt blieb. »Il correspond, aussi, à la célèbre proclamation de résistance et d’aspiration universelle à la liberté de Louis Delgrès le 10 mai 1802 lors du rétablissement de l’esclavage.«106 Die Verlesung der Erklärung wurde 2007 in die offizielle Gedenkzeremonie integriert. Die genaue Rolle, die der 10. Mai 1802 im Rahmen des Erinnerns einnimmt, oder die Natur seiner Beziehung zum 10. Mai 2001 wurden jedoch bislang nicht konkretisiert. Wiederholt zu beobachten war außerdem eine nahezu vollständige Entpersonalisierung der historischen Triebkräfte, die mit der Abschaffung der Sklaverei hauptsächlich verbunden wurden. In diesen Fällen wurden entweder abstrakte Strukturen zu maßgeblichen Handlungsträgern erhoben oder aber die Antworten auf die Agency104 Alfred Marie-Jeanne, eine Führungsperson der martinikanischen Unabhängigkeitsbewegung, zit. n. Cojean, Annick: »En Martinique, la commémoration de l’abolition est d’abord celle de la révolte des esclaves«, in: Le Monde vom 28.4.1998. 105 CPME: Rapport (2005), S. 30. 106 CNMHE: Questions et réponses sur le 10 mai, http://www.cnmhe.fr/spip.php?article135.
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Frage gleich im geschichtspolitisch nicht weiter erhellten Dunkel der Vergangenheit belassen. Als Hilfskonstruktionen für diese von der Geschichte abstrahierenden Narrative konnten die klar ausgeprägten (Sprach-)Konventionen der republikanischen politischen Kultur genutzt werden. Einen besonders hohen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Hervorhebung des als universell anerkannten Menschenrechtsgedankens, der zugleich ein internationales politisches Paradigma darstellt. Zudem spielt die Frage der Leistungen und Unzulänglichkeiten der nationaltypischen Ausprägung des Republikanismus eine zentrale Rolle für die allgemeine öffentliche Debattenkultur. Der Verweis auf die »Republik« ist somit von anderer Qualität als das eher vage geschichtspolitische Lob eines britischen Sinns für Freiheit, Toleranz und Fair Play. Wie ein roter (oder goldener) Faden zog sich die republikanische Darstellungsweise durch die Redebeiträge des konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac, die sich zur Illustration daher in besonderem Maße eignen. Zum Jubiläum der Sklavenemanzipation im Jahr 1998 äußerte er sich folgendermaßen: »C’est le 27 avril 1848, il y a cent cinquante ans, que la Deuxième République parachevait l’œuvre interrompue de la Première.« 107 Zwar fand auch Alphonse de Lamartine als Unterzeichner des Dekrets Erwähnung, als Verkörperung der Republik und damit menschlicher Motor der historischen Entwicklung trat aber vor allem Victor Schœlcher auf. Acht Jahre später, in der deutlich kürzeren Ansprache, die Jacques Chirac anlässlich des ersten Gedenktages am 10. Mai 2006 im Jardin du Luxembourg hielt, tauchten historische Personen nur noch ganz am Rande auf. Vor dem Hintergrund der 1998 erfolgten Pantheonisierungen nannte Chirac Schœlcher, Delgrès und Toussaint-Louverture, die somit in einer Reihe standen. Davon abgesehen griff er aber auch zu diesem Anlass auf das bereits aus früheren Jahren bekannte Prinzip der Darstellung zurück und erklärte: »Nous devons regarder ce passé sans concession, mais aussi sans rougir. Car la République est née avec le combat contre l’esclavage. 1794, 1848. La République, c’est l’abolition. Nous sommes les héritiers de ces républicains. Nous pouvons être fiers de leur combat pour les droits de l’homme.«108 Auffallend ist an dieser Stelle vor allem eine »compartmentalisation of history«, die der Republik eine Art historischen Freispruch verschafft. »The implicit desire to wipe the slate clean by tying the heritage of the French Republic and its citizens genealogically to 1848 requires not just a leap of imagination, but also a willful act of obliteration as history is brutally severed from the nation-state in an attempt to create a universal memory that, freed from guilt, can be shared by all French people.«109
Denn wer genau »diese Republikaner« waren, ob sie auch afrikanischer Abstammung waren, ist an dieser Stelle weniger relevant als der Umstand, dass es sich eben um Anhänger und ggf. Anhängerinnen der französischen Republik und damit auch um Verfechter/-innen der mit ihrer historischen Bestimmung gleichgesetzten universellen Menschenrechte handelte. Die »Nachfahren der Sklaven« sind somit aufgerufen, sich als Erben dieser Republikaner zu begreifen. Ganz explizit unternahm Gérard Larcher,
107 J. Chirac: Discours, 23.4.1998. 108 J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006. 109 N. Frith: Crime and Penitence, S. 231.
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Vorsitzender des Comité de parrainage pour la commémoration de l’abolition de l’esclavage, 1998 die nachträgliche Einebnung des historischen Konflikts. Er vereinnahmte die gegen die napoleonische Politik rebellierenden (Ex-)Sklaven direkt für das nationale Narrativ: »[L]orsqu’ils se révoltent en Haïti, en Martinique, en Guadeloupe, contre la France institutionnelle, ils se réclament des principes de 1789. Ils invoquent la République qui les libéra en 1794. Ils prennent les armes au nom de ses valeurs et de ses idéaux: liberté, égalité, fraternité«.110 Er schlug damit zum einen den Ton an, der später auch den Text der 2011 enthüllten Gedenktafel im Jardin du Luxembourg bestimmen sollte, zum anderen erinnert der Umgang mit dem »institutionellen Frankreich« an Versuche, das Vichy-Regime von der Deutung der Nation und ihrer Geschichte zu isolieren, wie sie unter der Präsidentschaft von François Mitterrand noch verbreitet waren. Der Geist der französischen Nation wird von ihren offiziellen Repräsentanten getrennt und auf die Gruppe der Dissidenten übertragen. Welche Rolle Napoleon in einem so konstruierten nationalen Narrativ noch einnehmen kann, bleibt hier allerdings unklar. Abstrakt und historisch vage gestaltete sich auch das ein Jahr später vom Staatspräsidenten eingeweihte Nationaldenkmal Le cri, l’écrit. Der Titel von Fabrice Hybers Werk, »Der Schrei, das Geschriebene«, deutet darauf hin, dass auch hier das Dekret, das verschriftlichte Wort des Gesetzes mit historischer Handlungsmacht aufgeladen wurde, die über das individuell Menschenmögliche hinausweist. »Le décret du 27 avril 1848 tourne une page peu glorieuse de l’histoire de notre pays. Il met fin à plus de deux siècles d’économie de traite«, hatte Jacques Chirac bereits in seiner ersten wichtigen Rede zum Thema Sklaverei verkündet.111 In diesen Sätzen treten wiederum nicht Personen, sondern abstrakte Prinzipien, der (revolutionäre) Republikanismus und die geregelte staatliche Gesetzgebung als geschichtsmächtige Handlungsträger auf. Auf diese Linie setzte auch Larcher, als er vor dem Senat erklärte: »Le 27 avril 1848, quelques lignes – oui, seulement quelques lignes – parce qu’elles avaient la force de la loi, bouleversaient le destin de dizaines de milliers d’hommes et de femmes, des mots enfin brisaient des fers!«112 Die Erläuterungstafeln des Nationaldenkmals versorgen die Besucher/-innen vor allem mit Daten: Aufgelistet werden die erste Abschaffung, die Wiederherstellung und die endgültige Abschaffung der Sklaverei, die Verabschiedung der Loi Taubira und die erstmalige Begehung der Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions. Das Denkmal erinnert also nicht zuletzt an wichtige legislatorische Entscheidungen, sein Standort in der Nähe des Senats unterstreicht diesen Akzent. Zur Verteilung von Akteursmacht trifft es letztlich keine Aussage. Die einzige Person, die – neben dem ebenfalls genannten offiziellen Auftraggeber Präsident Chirac – für das Denkmalkonzept eine dezidierte Rolle spielt, ist bezeichnenderweise Aimé Césaire, der mit einem kleinen Auszug aus »Cahier d’un retour au pays natal« zitiert wird. 110 Gérard Larcher, Vorsitzender des Comité de parrainage pour la commémoration de l’abolition de l’esclavage und Vizepräsident des Senats, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. 111 J. Chirac: Discours, 23.4.1998. 112 Gérard Larcher, Vorsitzender des Comité de parrainage pour la commémoration de l’abolition de l’esclavage und Vizepräsident des Senats, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998.
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Im Fokus der französischen Geschichtspolitik standen also wiederholt die Republik und ihre Institutionen als Hauptträger der positiven geschichtsmächtigen Agency. Die Gültigkeit dieses Schwerpunkts beschränkte sich keineswegs auf Beiträge aus dem konservativen Lager. Allerdings waren gerade Stellungnahmen von Vertreterinnen und Vertretern der Jospin-Regierung auch andere Ansätze zu entnehmen. Die Worte der offiziellen Jubiläumsansprache, mit der sich Lionel Jospin in Champagney der Geschichte von Sklaverei und Emanzipation zuwandte, wiesen nach dem vorangegangenen Eklat in der Nationalversammlung immer noch einen gewissen politisch-parteiischen Beigeschmack auf. Als Chef des neu an die Macht gelangten Linksbündnisses wollte und musste der Premierminister geschichtspolitische Akzente setzen, die von einem monolithisch und nationalkonservativ verstandenen Republikanismus abwichen. So forderte er unter anderem: »Mais la République doit également rétablir dans les mémoires les résistances locales, comme celle de Champagney, ici; comme celle des ouvriers de Paris qui, sur les barricades en 1848, rédigèrent une pétition contre l’esclavage de leurs frères lointains; et surtout le combat déterminant, parce que quotidien, des esclaves eux-mêmes, comme ces insurgés de Saint-Domingue, en 1791, que Sonthonax émancipa quelques semaines avant que la Convention ne le fasse officiellement.«113
Gerade diese Passage zeigt allerdings auch, wie heikel die Erinnerung an historisch handelnde Personen(-gruppen) im französischen Kontext ist. Zwischen den in einer Reihe genannten politischen Aktionsformen bestehen klare Unterschiede, die sich trotz des hier hervorgehobenen, in einer bestimmten Hinsicht ähnlichen Ziels historisch nicht so einfach auflösen und einer zusammenhängenden Bewegung zuordnen lassen. An der eindimensionalen Vorstellung der Brüderlichkeit zwischen den französischen Bürger/-innen in der Metropole und den Versklavten in den Kolonien dürfen ebenso historisch begründete Zweifel angemeldet werden wie an der (ihrerseits simplifizierenden) Teambildung Wilberforce-Equiano, welche die geschichtspolitische Konjunktur im Vereinigten Königreich prägte. Problematisch sind die Formulierungen aber insbesondere im Hinblick auf die haitianische Geschichte. Der Aufstand in Saint-Domingue war ganz eindeutig kein alltägliches, mit kontinuierlich auftretenden Formen der Widerständigkeit vergleichbares Ereignis. Zudem wird die Proklamation von Sonthonax, von einem der international führenden Spezialisten für die Geschichte der Sklaverei als »byproduct of history’s greatest and most successful slave revolt« bezeichnet114, hier als konkrete Einzelhandlung in ihrem Einfluss auf leicht angreifbare Weise überbewertet. Der Tag des Revolutionsbeginns in Saint-Domingue/Haiti stand auch in Frankreich als mögliches Datum für das offizielle Gedenken zur Debatte. Im Gegensatz zur britischen lehnte die französische Regierung eine nationale Aufwertung des 23. August jedoch ab; als Basis für die Entscheidung dienten die vom CPME in seinem ersten
113 L. Jospin: Déclaration, 26.4.1998. 114 So Seymour Drescher in seiner Rezension des Buches »French Anti-Slavery. The Movement for the Abolition of Slavery in France, 1802-1848« von Lawrence C. Jennings, in: American Historical Review 106/3 (2001), S. 1052 f.
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Bericht gemachten Empfehlungen. Vor dem Hintergrund der mit dem Datum verbundenen erinnerungskulturellen Assoziationen und der Politiklinie der UNESCO mutet die entsprechende Begründung auffällig lakonisch an: Der Augusttermin wurde für ungünstig befunden, weil er in die Zeit der französischen Schulferien fällt.115 Angesichts der besonders hohen geschichtspolitischen und pädagogischen Ambitionen, die mit der Einführung eines explizit nationalen Gedenktages verbunden wurden, ist dieser Einwand nicht völlig von der Hand zu weisen. Aufgrund seiner rein formalen Natur blockierte er aber zugleich den Einstieg in eine inhaltliche Diskussion, die kaum zu einer leichten Einigung beigetragen hätte. Die Kürze des Arguments darf also als durchaus vielsagend betrachtet werden. Auch jede geschichtspolitische Referenzierung von Toussaint-Louverture bedeutete allerdings einen Schritt in Richtung des verminten Diskussionsfeldes, auf dem Frankreich im Zweifelsfall mehr Ruhm zu verlieren als zu gewinnen hatte. Die historischen Spaltungen und tiefgreifenden Differenzen, welche die karibische und die metropolitane Version der Erinnerung wiederholt öffentlich gegeneinander aufbrachten, ließen den Verzicht auf konkrete Details vielfach als die taktisch klügere Entscheidung erscheinen. Die Erwähnung historischer Persönlichkeiten erfolgte daher oft in sehr kursorischer Weise; dies gilt auch für Akteure wie Schœlcher, Delgrès, Toussaint-Louverture oder Abbé Grégoire. Die Sprachhandlung wirkte dann wie eine zeremonielle Formalität und die Quantität der Namensnennung überwog zumeist den der Rhetorik zu entnehmenden Einfluss der betreffenden Personen auf die Quintessenz der erinnerten Geschichte. Die Versuche einer Vereinigung gegensätzlicher Perspektiven durch die Neuverteilung historischer Akteursmacht bargen ein hohes Risiko, die innere Widersprüchlichkeit der Nationalgeschichte ungewollt offenzulegen. Ein besonders spektakuläres Beispiel ist die 1998 erfolgte Würdigung von François-Dominique Toussaint-Louverture und Louis Delgrès durch ihre Aufnahme in den Pariser Pantheon. An der geschichtspolitischen Oberfläche signalisierte dieser Schritt eine Gleichstellung oder jedenfalls Aufwertung des bewaffneten Kampfes gegen die Sklaverei mit dem regierungs- und parlamentspolitischen Abolitionismus. »Given that Louverture and Delgrès both died by the French state in the process of fighting its policies, their inclusion among the ranks of Republican heroes was an official acknowledgment that they had chosen the side of right in taking up arms against France.«116 Besucher/-innen, die das Grab von Victor Schœlcher aufsuchen wollen, müssen nun an den beiden Tafeln vorbeigehen, die auf diesem Wege einen ideellen und chronologischen Zusammenhang andeuten. »The historical claim made in the Pantheon is a radical one that goes beyond the role granted to Caribbean peoples by most historians of France and the abolition of slavery.«117 Angesichts der Rolle, die Revolutionen für die französische Geschichte spielten, war das nationale Narrativ an dieser Stelle womöglich durchlässiger, als dies in Großbritannien der Fall war.
115 »Le 23 août a été écarté en raison du calendrier scolaire national.«, CPME: Rapport (2005), S. 29. 116 L. Dubois: Haunting Delgrès, S. 312. 117 Ebd., S. 324.
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Zugleich wies die Maßnahme aber auch auf die historische und danach erinnerungskulturell fortgeschriebene Diskrepanz zwischen Schœlcher und den beiden Männern (teilweise) afrikanischer Abstammung hin. »The presence of Delgrès and Louverture in the Pantheon […] is different in one crucial way from that of other ›French heroes‹ who surround them«, schreibt Laurent Dubois. »All of the previous induction ceremonies involved the transfer of the honoured individual’s remains into the crypt. No one knows where Delgrès’s bones are; he was likely buried in a mass grave with the other insurgents who died at Matouba. And there is controversy about the exact whereabouts of Louverture’s bones. Given the absence of their remains, itself a powerful reminder of how they died, Delgrès and Louverture were instead given plaques dedicated to their memory.«118
Zum großen Glück für das geschichtspolitische Gelingen haben die Überreste von Napoleon selbst ihren Sonderplatz im Invalidendom gefunden, und zu einer durchaus diskutierten Verlegung in den Pantheon ist es nie gekommen. Die Geste zu Ehren von François-Dominique Toussaint-Louverture und Louis Delgrès hätte unter solchen Umständen kaum umgesetzt werden können; dies zeigt die spätere Kontroverse um die Publikation von Claude Ribbe. Toussaint-Louverture wurde insgesamt eine besonders deutlich gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. Womöglich erhöhte sein Status als General der republikanischen Armee die Zugänglichkeit der Figur. Deren Lebensweg kreuzt sich an diesem Punkt mit den Topoi einer traditionellen national-heroischen Erinnerung, die in der britischen Erinnerung an den Sklavenhandel durch die regelmäßig hervorgehobene Rolle der Marine präsent waren. Für die erinnerungskulturelle Rekrutierung zur Unterstreichung von »Diversität« eignet sich Toussaint-Louverture zwar besser als beispielsweise Dessalines. Schon bei oberflächlicher Betrachtung zeichnet sich die historische Person dennoch durch eine vergleichsweise sperrige Vielschichtigkeit aus. Im Rückblick an den Ansprüchen einer nationalen Heldenerzählung gemessen, stellen sich die taktisch und realpolitisch motivierten Positionswechsel im Rahmen des Konflikts um SaintDomingue einmal mehr als Inkohärenz dar, die schwer auf einen erinnerungskulturellen Punkt zu bringen ist. Toussaint-Louverture suchte sowohl die Allianz als auch die Konfrontation mit der französischen Politik in Abhängigkeit von seinen eigenen Zielen und Interessen. Die Einordnung des haitianischen Generals in eine mit französischer Feder geschriebene Geschichte des Fortschritts zur Freiheit ist somit durchaus nicht evident. Für eine Aufnahme in die thematisch einschlägigen Strukturen der britischen Erinnerungskultur brachte die Lebensgeschichte von Equiano weniger hinderliche Reibungsflächen mit sich. Tatsächlich sind beide Fälle jenseits der Rolle der Hautfarbe kaum miteinander vergleichbar. Als stärker metropolitan geprägte Alternativbesetzung für die französische Erinnerung hätte allenfalls Cyrille Bissette zur Verfügung gestanden, ein Abolitionist aus Martinique, der auch in Paris aktiv war. »If Bissette has remained relatively unknown to both slavery scholars and the general public, while Schœlcher has been immortalized as the leading anti-slavery spokesman in nineteenth118 Ebd., S. 312 f.
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century France, it is not only because Schœlcher was personally instrumental in abolishing slavery in 1848, but because Bissette operated outside the mainstream of emancipationism, and was largely discredited by a series of bitter disputes that alienated him from other prominent French abolitionists.«119
Zur Elite, die sich in der Société pour l’abolition de l’esclavage versammelte, gehörte der unter chronischem Geldmangel leidende Aktivist nie, und auch aus der von seinem politischen Rivalen Victor Schœlcher präsidierten Kommission zur Ausarbeitung des Emanzipationsdekrets blieb er ausgeschlossen. Weitere Gründe für Bissettes Randständigkeit in der öffentlichen Erinnerung an die Sklaverei lassen sich anführen. »La première qui vient à l’esprit tient peut-être à la couleur de sa peau. Trop foncé pour les uns, trop clair pour d’autres, le mulâtre (ou métis) Bissette ne rentre réellement dans aucune case. Écartelé entre deux mondes, il n’a été réellement revendiqué ni par les Martiniquais, ni par les Européens.«120 Die ihm nachgesagte Verwandtschaft mit Joséphine de Beauharnais dürfte in diesem Zusammenhang zumindest kein Vorteil gewesen sein. Bissettes Plädoyer für ein sozial stabilisierendes Verschweigen der Sklavereigeschichte nach der Emanzipation und seine Verurteilung der zur vorzeitigen Durchsetzung derselben ausgeübten Gewalt passt gleichfalls schlecht zu den in aktuellen Debatten maßgeblichen Bedürfnissen der Abgrenzung in der historischen Erinnerung.121 Die Lebensgeschichte von Cyrille Bissette spiegelt insgesamt vor allem seine Zugehörigkeit zur sozialen Schicht der »hommes de couleur« wider. Als frei geborener Mann war er zunächst selbst Sklavenbesitzer, den Kampf für eine grundlegende Reform des kolonialen Systems nahm er erst nach einer extrem demütigenden Erfahrung mit dem brutalen Rassismus der Martinique beherrschenden Oberschicht auf. Mit einem ihrer Vertreter sollte er später trotz allem eine Allianz im Wahlkampf um die parlamentarische Repräsentation seiner Heimatregion in Paris eingehen. Die Taktik stand einerseits im Zusammenhang mit dem Streben nach Überwindung der Vergangenheit, resultierte andererseits in der Niederlage eines anderen, politisch hochrangigen Kandidaten – Victor Schœlcher. Beides brachte Bissette zahlreiche Feindschaften ein.122 Hinzu kommt, dass die mit einem chronologischen Vorsprung aktualisierte Geschichtspolitik der DOM die Rekrutierung weiterer Personen für die »Diversität« der Erinnerung weniger notwendig machte, wenn nicht gar behinderte. Neben Schœlcher musste Erinnerungsträgern wie Delgrès oder Solitude auch im gesamtnationalen Rahmen Tribut gezollt werden; alles andere wäre ein offensichtlicher Fauxpas gewesen. Die Frage nach der konkreten Ausgestaltung dieser Annäherung war damit zwar nicht beantwortet. In jedem Fall stand den Personen aber eine andere Berücksichtigung zu als etwa den Nationalheldinnen und -helden Jamaikas in Großbritannien, die dort als »ausländische« Akteure behandelt werden konnten (und angesichts ihrer prominenten 119 Jennings, Lawrence C.: »Cyrille Bissette, Radical Black French Abolitionist«, in: French History 9/1 (1995), S. 48-66, hier S. 55. 120 Cassiau-Haurie, Christophe: »Cyrille Bissette, héros de l’abolition de l’esclavage (3/3)«, in: Africultures, Online-Dokument in drei Teilen, http://www.africultures.com/php/index. php?nav=article&no=12202. 121 Vgl. M. Cottias: ›Forgetting‹ Slavery, S. 308. 122 Vgl. L. Jennings: Cyrille Bissette, S. 65.
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Bedeutung für die jamaikanische Nation letztlich auch mussten). In Bezug auf General Toussaint-Louverture sprach die international zunehmend anerkannte historische Bedeutung seiner Person für die Würdigung im Rahmen einer aktualisierten französischen Geschichtspolitik. Dass die Figur nicht direkt in der konfrontationsbereiten Erinnerung der DOM beheimatet ist, dürfte sich in diesem Zusammenhang eher als Vorteil präsentiert haben. Das bestehende Konfliktpotential war hiermit aber nicht ausgeräumt. Schließlich stellt die Geburtsstunde Haitis ein besonders umstrittenes und geschichtspolitisch belastetes Kapitel transatlantischer Geschichte dar. Dies ist nicht zuletzt auf den an ihrem Beispiel ausgetragenen Verteilungskampf um historische Handlungsmacht zurückzuführen. Dass die radikale Deutungstradition von Autoren wie Frederick Douglass und C.L.R. James bis heute fortgeschrieben wird, lässt sich an einem längeren Zitat von Nick Nesbitt belegen, das an dieser Stelle als rein exemplarisch aufzufassen ist. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 schrieb der amerikanische Sprach- und Kulturwissenschaftler: »Haiti was the first to demonstrate that the colonized can take hold of their own historical destiny and enter the stage of world history as autonomous actors, and not merely passive, enslaved subjects. [...] The hegemony of a Euro-American dominated historiography would lead us to view the Haitian Revolution as a mere tropical echo of its better-known French and American cousins. Instead, when confronting the question of emancipation, these earlier events appear distinctly parochial and limited: the Haitian Revolution is the greatest event of the age of Enlightenment because it was the first to implement, without compromise, not the freedom of a certain class or race, nor the civil rights of ›constitutional state,‹ but the program of universal emancipation that we today call human rights.«123
Diese Deutung postuliert nicht nur, dass die der französischen Kolonialmacht unterworfenen Menschen einen entscheidenden Anteil am Fortschritt der in der Regel als genuin »europäisch« definierten Moderne hatten. Vielmehr erhebt sie diesen Personenkreis zum eigentlichen Träger der mit ihr verbundenen universellen Ideale, die – bis heute bestenfalls partiell erfüllt – im Zuge der haitianischen Revolution erstmals in voller Konsequenz zu Ende gedacht wurden. In eine ähnliche Richtung deutete eine Stellungnahme von Catherine Trautmann (PS) im französischen Jubiläumsjahr 1998, die vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung besonders interessant ist. In der Ankündigung der ersten Gedenkfeierlichkeiten betonte die damalige Kulturministerin den häufig hergestellten Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und der Abschaffung der Sklaverei in bis dato unkonventioneller Weise: »Cet anniversaire doit être l’occasion de rappeler la réalité de ce que fut pendant trois siècles l’esclavage des Noirs en outre-mer, et de remémorer la résistance des esclaves à leur condition, qui en fait l’un des exemples les plus significatifs de la lutte pour les droits de l’homme.«124 Die Akzentsetzungen finden sich in der Gedenktafel wieder, die das Nationaldenkmal im Jardin du Luxembourg seit 2011
123 N. Nesbitt: Idea of 1804, S. 22. 124 Catherine Trautmann zit. n. N.N.: »Grands raouts pour le 150e anniversaire de l’abolition de l’esclavage«, in: Libération vom 11.11.1997.
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inhaltlich ergänzt, wenn auch nicht wesentlich konkretisiert. Die Inschrift ist im Hinblick auf die in diesem Kapitel diskutierten Probleme im Detail aufschlussreich und soll daher hier noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden: »Par leurs luttes et leur profond désir de dignité et de liberté, les esclaves des colonies françaises ont contribués à l’universalité des droits humains et à l’idéal de liberté d’égalité et de fraternité qui fond notre république / La France leur rend ici hommage.« Der explizit nationale Charakter der erinnerten Geschichte tritt aus den Worten deutlich hervor. Implizit, aber im Lichte der in den vorangegangenen Jahren geführten Debatten klar erkennbar, wird außerdem die Rolle des direkten Widerstandes für den Weg zu Abolition und Emanzipation aufgewertet. Mit einem für die französischen Verhältnisse typischen Hang zur Abstraktion von den tatsächlichen historischen Ereignissen treffen alte und neue Tendenzen der Erinnerungskultur unter republikanischem Vorzeichen zusammen. Im Text nehmen die versklavten Menschen nicht nur ihr Schicksal, sondern auch das der französischen Republik und letztlich der gesamten modernen Menschheit in ihre Hände. Der Kampf der Versklavten gegen ihre eigene Rechtlosigkeit wird in den Kontext der Entwicklung des universellen Menschenrechtsgedankens gestellt. »[N]ous voulions signaler que sans les luttes des esclaves, ces idéaux n’auraient pas la dimension qu’ils ont aujourd’hui«, kommentierte Françoise Vergès als Präsidentin des die Regierung beratenden CPMHE die Initiative. 125 Seine universelle historische Bestimmung kann der Menschenrechtsgedanke nur in seiner uneingeschränkten Anwendung erfüllen. Dasselbe gilt in dieser von moralischen Werten ausgehenden Perspektive aber auch für die Republik Frankreich als dem Land, in dem zuerst eine Formulierung und Verkündung dieser Rechte erfolgte. Die Leistung der Sklavinnen und Sklaven, wie sie hier dargestellt wird, ist also sowohl welt- als auch nationalgeschichtlich von enormer Bedeutung. Ihre Geschichte wird mit den klassischen Leitmotiven des französischen Nationalmythos verschmolzen. Dieser nimmt zwar eine in diesem Zusammenhang bislang unbeachtete Personengruppe auf, bleibt in seinem Kern aber weitgehend unangetastet. In gewisser Weise handelt es sich um eine originelle und zeitgemäße Erneuerung des traditionellen Heldengedenkens; als (er-)leidende Opfergruppe werden die Versklavten jedenfalls nicht präsentiert.126 Die Gedenktafel zeichnet sich darüber hinaus aber auch durch eine gleich mehrschichtige »significant silence« aus. Sie hebt die Sklavinnen und Sklaven der französischen Kolonien zwar aus dem Schweigen der Historie hervor, aber nur als kaum definiertes und damit letztlich ahistorisches Kollektiv. Der Text bezieht sich weder auf einen Ort noch einen bestimmten Zeitpunkt, er ist weder einer Person noch einem Ereignis gewidmet. In erster Linie gewürdigt wird eine ins Überzeitliche erhobene Idee. So erfahren die Betrachter/-innen der Tafel zwar, wofür die Versklavten vermeintlich kämpften – nicht aber, gegen wen oder was sich ihr Kampf richtete. Das liegt nicht 125 So Françoise Vergès in einem auch auf der Webseite des CPMHE veröffentlichten Interview mit France Antilles, zit. n. Jocksan, Alfred: »Traite et esclavage sont contemporains de la modernité« (Interview mit Françoise Vergès) vom 6.5.2011, www.guadeloupe. franceantilles.fr/hexagone/francoise-verges-traite-et-esclavage-sont-contemporains-de-lamodernite-06-05-2011-122486.php. 126 Vgl. hierzu auch Dinter, Sonja: Devoir d’histoire. Confronting the History of Slavery in Public Space in France, in: Paul Lovejoy/Vanessa S. Oliveira (Hg.), Slavery, Memory, Citizenship, Trenton, NJ: Africa World Press 2016, S. 211-226.
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zuletzt an der makrohistorisch abstrahierenden Auflösung des massiven Interessenkonfliktes, der die französische Nation durch ihre Kolonialpolitik in einen Gegensatz zu den Sklavinnen und Sklaven in den Plantagen stellte. Der Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Unfreiheit, gegen ihre französischen Unterdrücker, erscheint als Beitrag zu einer geteilten nationalen Bestimmung; es bleibt keine Spaltung, welche die moralische und nationale Einheit der unteilbaren Republik in Frage stellen würde. Wie in Großbritannien wurde also auch in Frankreich trotz allem versucht, einen gemeinsamen historischen Kampf zu inszenieren. Dieser sollte vor allem ein Kampf »für« die Freiheit und weniger ein Kampf »gegen« die Sklaverei und damit die französische Kolonialpolitik sein – auch wenn beides letztlich nicht auseinandergehalten werden kann. Dass die Kämpfe der revolutionären Republikaner/-innen und der Widerstand in den Kolonien sich nur bedingt überschnitten, folglich schwer »nationalisiert« werden können, tritt durch den Fokus auf die Menschenrechte als solche in den Hintergrund. So erinnert der Text der Gedenktafel an eine gute, aber nicht an eine verbrecherische Handlung; in einer Parallele zur Loi Taubira treten keine Täter/-innen in das Sichtfeld des historischen Rückblicks ein – in diesem Fall aber letztlich auch keine Opfer, denn die Kondition der Versklavung selbst wird durch die starke Abstraktion vom konkreten Kontext weitgehend unsichtbar (gemacht). Negativ besetzte Akteursmacht bleibt also größtenteils ausgeklammert. Die bedeutsame Stille im Hinblick auf die Benennung historischer Verantwortlichkeiten zieht sich auf der einen Seite durch zahlreiche geschichtspolitische Stellungnahmen sowohl französischer als auch britischer Provenienz; die Überarbeitung der Loi Taubira, deren erster Artikel sich in der schließlich beschlossenen Form vollständig auf die Anerkennung der Opfer fokussiert, ist hierfür nur ein besonders prominentes Beispiel. Schon auf dem »Plan« des Sklavenschiffes Brookes war zwar eine maximale Anzahl von Versklavten abgebildet, bezeichnenderweise aber kein einziges Mitglied der Crew. Die stilisierte Abbildung vermittelt damit ihrerseits ein Bild vom transatlantischen Sklavenhandel, das weitgehend ohne Handelnde auskommt, und konnte wohl nur auf dieser Basis zu einem erfolgreichen Kommunikationsinstrument der abolitionistischen Propaganda werden. Bei der Anerkennung der versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner als Opfer der Geschichte handelt es sich um einen erinnerungskulturellen Gemeinplatz mit zumindest in Frankreich und Großbritannien wohlfeiler Konsensfähigkeit. »An acknowledgement that slavery was and is morally wrong is today a given, a default response expected of all.«127 Die Sklaverei in den Plantagenkolonien und der transatlantische Sklavenhandel waren ein von Westeuropa aus etabliertes und gesteuertes System, das der Nachfrage auf den entsprechenden Märkten und den hier zu erzielenden Profiten diente; dieser Umstand lässt sich nicht wegdiskutieren. Je nachdem, wie diese Form der Sklaverei in welthistorischer Perspektive charakterisiert und eingeordnet wird, tritt eine spezifische Verantwortung für die menschenverachtende und langfristig folgenreiche Form der Unterdrückung allerdings mehr oder weniger klar konturiert hervor. Der politische Anschnitt erhöht sich mit dem Wechsel von einer opfer- auf eine täterzentrierte Perspektive, in der neben dem Erleiden die Ausübung von negativer Handlungsmacht in den Vordergrund rückt. Dieser Fokus konnte argumentativ scharf eingestellt oder durch die Einnahme einer weitwinkligen Perspektive relativiert werden, wobei der Grad der bewussten Politisierung der Frage in beiden Fällen variieren 127 Baroness Howells of St Davids, House of Lords, 10.5.2007, Col. 1542.
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konnte. Nicht nur vor dem Hintergrund der Reparationsdiskussion ist die Wortwahl daher geschichtspolitisch sensibel. Hier lag auch das entscheidende Konfliktpotential der umstrittenen Publikation von Olivier Grenouilleau, der seine Forschung explizit auf den Handel mit versklavten Menschen fokussierte und die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Plantagen nur am Rande thematisierte. Der spezifische koloniale Kontext trat hier zugunsten der Vergleichsperspektive zurück, wohingegen nicht-europäische Akteure, die auf dem afrikanischen Kontinent am Menschenhandel beteiligt waren, deutlich mehr Raum in der Geschichte einnahmen. Der Historiker selbst zeigte sich über die Aufregung, die sein Buch erregte, verwundert – dass »Afrikaner« andere Afrikaner versklavt und verkauft hätten, habe man schließlich längst gewusst, nicht zuletzt durch die Arbeiten afrikanischer Historiker/-innen. »La traite n’est pas une histoire en noir et blanc.«128 Genau diese Aufteilung der Geschichte der Sklaverei zwischen europäischen Tätern und afrikanischen Opfern ist es aber, die vielen Menschen angesichts gegenwärtiger Konfliktlinien als die sinnvollste Lesart erscheint, um ihre Weltwahrnehmung und -erfahrung historisch verständlich zu machen. Der Versuch, die reichen Länder zu Reparationszahlungen an afrikanische und/oder karibische Staaten zu bewegen, ist also nur ein Motiv für entsprechende Positionierungen. Der Umstand, dass Olivier Grenouilleau seine Globalgeschichte des Handels mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven den Opfern desselben widmete, konnte unter diesen Umständen jedenfalls wenig zur Dämpfung des Konflikts um die Täterfrage beitragen. Tatsächlich diente die explizite Hervorhebung des Opferleidens bisweilen dazu, geschichtspolitisch restaurative Einstellungen durch ihre rhetorische Rahmung zugänglicher erscheinen zu lassen. So wurden noch 2015 in der Libération Äußerungen kritisiert, die Patrick Devedjian im Zusammenhang mit dem nationalen Gedenktag am 10. Mai öffentlich formuliert hatte. »[A]près avoir admis que ›l’esclavage est une horreur...‹, Devedjian ne peut s’empêcher une touche de relativisme historique un peu particulière.«129 Im direkten Kontrast zu dem in der Loi Taubira eingegrenzten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zeichnete der UMP-Abgeordnete ein globalhistorisches Bild der Sklaverei, das in einem historisch relativ weiten Rückgriff vor allem Europäerinnen und Europäer in der Opferrolle auftreten lässt. »[C]’est un crime mondial qui a été partagé par toutes les civilisations. Je rappelle que les plus nombreux esclaves ont été les esclaves des Barbaresques, c’est-à-dire des Turcs. Et que les Blancs européens, y compris les Français mais surtout les Italiens et les Espagnols, ont été esclaves de Constantinople pendant des siècles.« Seine Schlussfolgerung kann als Beispiel für die Verwässerung spezifisch postkolonialer Fragestellungen dienen, die mit der Weitwinkelperspektive verbunden sein konnten. »Ça ne concerne pas seulement
128 Zit. n. Baecque, Antoine de: »Il s’est fait traiter (Portrait Oliver Pétré-Grenouilleau)«, in: Libération vom 15.3.2006. In seinem umstrittenen Buch versucht der Historiker allerdings, dem Klischee zu begegnen, dass Afrikaner ihre »Brüder« versklavt hätten, indem er darauf hinweist, dass ein entsprechendes kollektives Identitätsbewusstsein unter den Volksgruppen zur damaligen Zeit nicht bestand. 129 Bosquet, Sarah: »Quand Patrick Devedjian fantasme sur l’esclavage des Blancs«, in: Libération vom 15.5.2015.
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l’Afrique, ça concerne tout le monde.«130 Die Fusion historisch unterschiedlicher Formen von Zwangsarbeit und Menschenhandel zu einem epochenübergreifenden Phänomen lässt praktisch keinen Spielraum für politische Argumentationen, die aus der Vergangenheit gruppenspezifische Forderungen abzuleiten suchen. Bei der Mittelpassage handelte es sich um eine zeitlich begrenzte Situation, in welcher der gewaltsame Zwang der Versklavten in einen passiven Opferstatus eine extreme Form annahm – sofern es auf dem Schiff nicht zu einer offenen Revolte kam. Das konzentrierte Setting brachte Marcus Rediker dazu, von Sklavenschiffen als »floating concentration camps« zu sprechen.131 Da es sich bei einem Konzentrationslager nicht zwangsläufig um ein Vernichtungslager handelt, führt die provokante Formulierung zwar leicht in eine erinnerungskulturelle Irre, sie lenkt den Blick aber dennoch in eine Richtung, die der Erfassung der auf engstem Raum vorherrschenden Verhältnisse dienlich sein könnte. Die Rollenverteilung präsentiert sich hier in einer relativ unzweideutigen Dichotomie. Dieses Bild kann auch der Einsatz von »schwarzen« Seeleuten nicht grundsätzlich entkräften. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Seeweg über den Atlantik um ein spezifisches Element handelt, dass den transatlantischen Sklavenhandel von anderen Formen des Menschenhandels unterscheidet. Diese Attribute der Mittelpassage machen die zentrale Stellung verständlich, welche die Überfahrt trotz ihrer zeitlichen Begrenztheit in der Erinnerung derzeit einnimmt. Ein vergleichbares Maß an ethnisch interpretierbarer Eindeutigkeit wurde unter den Bedingungen, die an der afrikanischen Küste herrschten, nicht erreicht. Hier übten afrikanische Geschäftsleute sowie politische und militärische Anführer ihre (Handlungs-)Macht aus, die denen der Europäer nicht zwingend unterlegen war. Und selbst in den karibischen Plantagen wirkten sich Aushandlungsprozesse, Kompromisse und Hierarchien innerhalb der Gruppe der Versklavten auf die konkrete Ausformung sozialer Strukturen aus. Tony Blair zeigte in seiner oft als Entschuldigung verstandenen Stellungnahme eine geringe Neigung, sich mit den Themen Täterschaft, Schuld und Verantwortung – oder neutraler gesprochen, negativ besetzter Handlungsmacht – auseinanderzusetzen. Während die Abolition im Text als eine Leistung britischer Handlungsträger dargestellt wird, wird der Sklavenhandel selbst als europäisches Unterfangen qualifiziert. Eine der Hauptintentionen der Veröffentlichung war es, »to say how profoundly shameful the slave trade was […] and praise those who fought for its abolition, but also to express […] deep sorrow that it ever happened.« 132 Der Sklavenhandel erscheint hier wie eine Art Naturkatastrophe, ein tragischer Vorfall der Geschichte. Das Wort »happened« ist dabei so inadäquat wie unangebracht. Ebenso wenig wie eine Kriegserklärung oder ein Gesetzesbeschluss, war der Handel mit Sklavinnen und Sklaven aus Afrika etwas, das einfach passierte. Er war ganz im Gegenteil ein komplexes kommerzielles Unternehmen, in das viele britische Menschen ihre Geistes- und Körperkraft, ihr Geld und ihre Zeit investieren mussten, um es zu einem finanziellen Erfolg zu führen.
130 Ebd. 131 So Rediker in einem Interview mit der israelischen Zeitschrift Haaretz, geführt von BenAri, Nirit: »Can you compare African slave trade to the Holocaust?«, in: Haaretz vom 21.4.2014. 132 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006.
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Involviert waren dabei deutlich mehr als nur die Personen, die sich vor Ort an den Küsten und auf den Schiffen »die Hände schmutzig machten«. Investoren, Banken und Versicherungen spielten eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle. Das Denkmal Gilt of Cain versucht durch das Zusammenspiel seiner Elemente auch diese Art von schwer fassbarer und schwer zu personalisierender Agency sichtbar zu machen. Der von Tony Blair eingeschlagene Weg war allerdings der deutlich beliebtere: Auch Jacques Chirac verurteilte den transatlantischen Sklavenhandel als »tragédie, qui a vu la déportation en masse d’hommes, de femmes, d’enfants, arrachés à leur terre, aux leurs, et convoyés comme des animaux.«133 Wenn an dieser Stelle überhaupt noch ein Akteur erkennbar wird, so ist es rein sprachlich gesehen die Tragödie selbst, die sich bekanntlich durch die vorherbestimmte Zwangsläufigkeit ihres bitteren Endes auszeichnet. Ähnlich wurde in der öffentlichen Sprache auch der Handel oft zum agierenden Subjekt, das den historischen Blick auf die handelnden Personen verstellte, wie Emma Waterton und Ross Wilson am britischen Beispiel herausgearbeitet haben: »This type of characterization is played out in the anthropomorphizing of the slave trade and slavery in phrases [...] in which the slave trade itself is granted the power to do – and be – evil without human influence.«134 Ein besonderes markantes französisches Beispiel für diese Rhetorik ist die viel kritisierte Ansprache, die Nicolas Sarkozy 2007 an der Universität von Dakar hielt. Seinem senegalesischen Publikum erklärte der französische Präsident: »Je ne suis pas venu nier les fautes ni les crimes car il y a eu des fautes et il y a eu des crimes. Il y a eu la traite négrière, il y a eu l’esclavage, les hommes, les femmes, les enfants achetés et vendus comme des marchandises. Et ce crime ne fut pas seulement un crime contre les Africains, ce fut un crime contre l’homme, ce fut un crime contre l’humanité tout entière.«135
Auffallend ist nicht nur die Vermeidung des handelnden Subjekts, sondern auch die Verallgemeinerung der Opfergruppe, die in dieser Form im Gegensatz zur geschichtspolitischen Linie der UNESCO steht. Im Hinblick auf die Kolonisierung Afrikas zog Sarkozy dann den Schluss: »[L]a colonisation fut une grande faute qui fut payée par l’amertume et la souffrance de ceux qui avaient cru tout donner et qui ne comprenaient pas pourquoi on leur en voulait autant.«136 Hier entsteht ein Bild, das den Kolonialismus als eine Art bedauernswertes historisches Missverständnis erscheinen lässt, das Opfer- und Leidenserfahrungen an ganz unterschiedlichen Stellen des Machtspektrums erzeugte. Die Formulierung dürfte unter dem Eindruck der Debatten um den Algerienkrieg stehen, dessen komplexe Akteurskonstellation die eingezogenen französischen Rekruten ebenso umfasste wie die aus dem Land vertriebenen europäischstämmigen Siedler/-innen und mehrere Gewalt anwendende Konfliktparteien. Die Existenz 133 J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006. 134 Waterton, Emma/Wilson, Ross: »Talking the Talk. Policy, Popular and Media Respon-ses to the Bicentenary of the Abolition of the Slave Trade Using the ›Abolition Dis-course‹«, in: Discourse & Society 20/3 (2009), S. 381-399, hier S. 385, Hervorhebung im Original. 135 Abgedruckt ist die am 26. Juli 2007 gehaltene Rede u.a. in Chrétien, Jean-Pierre u.a.: L’Afrique de Sarkozy, Paris: Karthala 2008, S. 191 ff. Vgl. auch A.B. Konaré (Hg.): Petit précis de remise à niveau sur l’histoire africaine. 136 Ebd.
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prinzipiell gutwilliger Akteure, die im Laufe der Geschichte aufseiten der Kolonialmacht in die asymmetrische Beziehung eintraten, muss nicht in Abrede gestellt werden, um die verklärende Nivellierung höchst ungleicher historischer Erfahrungswelten erkennbar zu machen. Die Geschichte drohte so mitunter die Form eines geradezu metaphysisch gelenkten Trauerspiels anzunehmen, und die Wurzeln der rationalen Handlungsziele sowie macht- und wirtschaftspolitischen Logiken gehorchenden Entwicklung blieben im erinnerungskulturellen Dunkel. Im Einklang mit allgemeinen Trends war die Qualifikation der Kolonialgeschichte gerade in Frankreich im medialen, politischen und teilweise auch wissenschaftlichen Diskurs ausgesprochen häufig mit Begriffen wie »blessure«, »plaie« oder eben »tragédie« verbunden. Die Vergangenheit ist hier kaum mehr nachvollziehbar als eine Geschichte, die sehr konkrete Nachwirkungen für bestimmte Gruppen und Regionen haben könnte und die von bestimmten Menschen im Namen derjenigen, die sie als ihre Vorfahren betrachten, für sich beansprucht wird. »Dans l’histoire de l’humanité, l’esclavage est une blessure. Une tragédie dont tous les continents ont été meurtris«, formulierte Jacques Chirac es anlässlich des Empfangs des CPME im Elysee-Palast am 30. Januar 2006.137 Zwar kann die Positionierung positiv als eine Art Universalisierung des Opfergedächtnisses gewertet werden, wie sie auch in Bezug auf den Holocaust angestrebt wurde. Ob diejenigen, die sich als Nachfahren der Opfer betrachten, eine solche Entwicklung befürworten würden, ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen jedoch fraglich – zumal Sarkozys Formulierung den Reparationsgedanken quasi ad absurdum führt, da die prinzipiell gutwilligen Kolonisatoren selbst nichts als Leid geerntet und damit für begangenes Unrecht bezahlt hätten. Während die Geschichte bei dieser Art von Stellungnahme in sentimentaler Weichzeichnung verschwimmt, konnte die generell vorherrschende Tendenz zur politisch motivierten Schwarz-Weiß-Perspektive auch durch Überspitzung in ihr argumentatives Gegenteil verkehrt werden. Als stellvertretender britischer Premierminister nahm John Prescott Stellung zu den in Großbritannien im Zuge des Bicentenary lauter gewordenen Forderungen nach einer offiziellen Entschuldigung. Er bezog sich in diesem Zusammenhang auf seine Afrikareisen, nahm die Position eines Experten ein und wappnete sich mit einem besonderen Autoritätsargument. »Mr Prescott said the country had to express ›more than regret‹ for its role in the slave trade, but argued the issue of an apology was not being raised in Africa. He has been to Ghana and Sierra Leone in the past few months to visit the jails from which slaves were transported. He said he had met children in Ghana who had told him: ›Not every white man was guilty and not every black man was innocent.‹«138 Die zitierte Aussage der Kinder erhält durch deren Herkunft (bzw. Hautfarbe) den Nimbus besonderer Authentizität. In ihrer bestechenden Einfachheit ist sie historisch fraglos korrekt. Den politischen Spannungen, die den Geschichtsdebatten zugrunde liegen, wird dieser Standpunkt dagegen weniger gerecht. Umgekehrt konnte die »schwarz-weiße« Lesart der Geschichte aber auch dazu eingesetzt werden, solchen kollektiven Entschädigungsforderungen durch Verweise auf »schwarze« Akteure im Sklavenhandel den Nachdruck zu nehmen. Die Hervorhebung 137 J. Chirac: Discours, 30.1.2006. 138 Wintour, Patrick: »Commemoration day to recall slave trade and make UK face up to past«, in: The Guardian vom 23.3.2007.
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der Aktivität arabischer Händler kann den in diesem Kontext negativen welthistorischen Einfluss Westeuropas ebenfalls relativieren – mit einem gleichfalls deutlichen Beigeschmack aktuell virulenter Deutungskonflikte. Der Widerwillen, mit dem westafrikanische Eliten sich der Geschichte des transatlantischen Menschenhandels stellen, wurde vor allem von dem senegalesischen Historiker Ibrahima Thioub umfassend analysiert.139 Auch an dieser Stelle sollte aber kein voreiliges schwarz-weißes Bild gezeichnet werden. Eine solche Analyse – und die Arbeiten von Thioub sind in dieser Hinsicht beispielhaft für den verständigen Umgang mit einer äußerst problematischen Geschichte – darf nicht dazu dienen, von der Existenz einer Opfergruppe abzulenken, die zweifelsfrei als »afrikanisch« bezeichnet werden muss. Auch in Afrika hat es die Opfer als solche ja gegeben – der Umstand, dass die Konfliktlinie nicht zwischen »Europäern« und »Afrikanern« verlief, bedeutet weder die Unmöglichkeit noch die Befreiung von der Pflicht, historische Verantwortlichkeiten mit einem Mindestmaß der hierfür notwendigen Aufrichtigkeit zu rekonstruieren. Die infolge der Kolonialgeschichte politisch gestalteten Sichtweisen panafrikanischer Prägung tragen an dieser Stelle freilich oft wenig zur Klärung der historischen Sachlage bei. »[T]he collective subjects who supposedly remember did not exist as such at the time of the events they claim to remember. Rather, their constitution as subjects goes hand in hand with the continuous creation of the past.«140 Ein Hauptproblem in diesem Zusammenhang ist einmal mehr die Essentialisierung historischer Akteursgruppen, um die Geschichte im Rahmen einer auf aktuell bestehende Konflikte angewandten Lesart verständlich zu machen. Eine besonders krude und dennoch besonders häufig anzutreffende Darstellung ist die, nach der afrikanische Sklavenhändler »ihre eigenen Leute« verkauft hätten, was aus heutiger Sicht als umso verwerflicher erscheint. Das Argument birgt das Risiko, die Existenz einer rassistisch ab- und ausgrenzten Opfergruppe zu negieren, die nach der Fahrt über den Atlantik kaum klarer hätte definiert sein können. So schrieb beispielsweise der Erzbischof von York John Sentamu, ein expliziter Befürworter einer offiziellen Entschuldigung im Namen der britischen Nation: »[I]n Africa brothers sold one another into slavery and the people of Africa are implicated in the slave trade. […] [J]ust as those who grew fat off the profits of slavery owe an apology, so do those implicated in the capture and sale of slaves in their homelands, selling their kith and kin.«141 Tatsächlich gilt es als erwiesen, dass auch Kriminelle, Schuldner/-innen und von der eigenen Familie oder sozialen Gruppe aus einem bestimmten Grund verstoßene Personen versklavt und verkauft wurden. In den meisten Fällen handelte es sich 139 Vgl. Thioub, Ibrahima: »L’esclavage et les traites en Afrique occidentale. Entre mémoires et histoires«, in: Ba Konaré, Adame (Hg.), Petit précis de remise à niveau sur l’histoire africaine à l’usage du président Sarkozy, Paris: La Découverte 2008, S. 201-213 und Ders.: »Postface. Traites et esclavages en Afrique. Mémoires vivantes et silence historiographique«, in: Myriam Cottias (Hg.), Les traites et les esclavages. Perspectives historiques et contemporaines, Paris: Karthala 2011, S. 377-386. 140 M.-R. Trouillot: Silencing the Past, S. 16. 141 Arora, Arun: »Reply. Letters and emails. Anger over apologies for the slave trade«, in: The Guardian vom 4.4.2007. Der Verantwortliche für die öffentliche Kommunikation des Erzbischofs bezieht sich hier auch auf den Zeitungsartikel Sentamu, John: »Why we should all repent for the horror of slavery«, in: Yorkshire Post vom 24.3.2007.
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allerdings um Kriegsgefangene oder bei Überfällen verschleppte Menschen, die eben nicht als »kith and kin« betrachtet wurden; die Idee der panafrikanischen Solidarität ist ein intellektuelles Produkt des frühen 20. Jahrhunderts und damit der Hochzeit des europäischen Kolonialismus, gegen den dieses Denken gerichtet war. »A trade requires two willing parties – buyers and sellers«, bemerkte ein Leser des Daily Telegraph und warf die Frage auf: »Will the African nations happy to sell their own people also apologise?«142 Es darf vermutet werden, dass es sich hierbei um eine rhetorische Frage handeln sollte, die tatsächliche Entwicklung stellt sich allerdings etwas komplexer dar. Als weltweit zweiter Staat verabschiedete Senegal 2010 ein Gesetz, das den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte und orientierte sich dabei erkennbar am französischen Vorbild. Ein traditioneller, wenn auch heute nicht mehr offiziell anerkannter Würdenträger aus Benin reiste 2013 nach Alabama, um dort vor einem afroamerikanischen Publikum eine Entschuldigung im Namen des ehemaligen Königreichs von Porto Novo zu präsentieren.143 Porto Novo liegt kaum 100 Kilometer von Ouidah entfernt, wo mit dem Denkmal der »Tür ohne Wiederkehr« einer der bedeutendsten Gedenkorte des Sklavenhandels in Westafrika errichtet wurde. Dies sollte nicht dazu verleiten, dieses und andere transatlantische Versöhnungsrituale als bloßen Opportunismus abzutun, auch wenn die Tourismusförderung im Rahmen des UNESCO-Projektes Slave Route als ein explizit förderungswürdiges Ziel betrachtet wird. Für Kpoto-Zounmé Dé Hakpon III gehörten auch die aus Porto Novo nach Amerika transportierten Menschen zu einer inzwischen über den Ozean hinweg verbundenen Ahnenwelt. Nur in Einzelfällen wurde die negativ besetzte historische Handlungsmacht zur Basis einer im Rückblick ad hoc imaginierten Gemeinschaft. »Puissions-nous saisir l’occasion de nous rappeler que nous [sic] fûmes des esclavagistes, et nous débarrasser du poids que la servitude impose aux maîtres«, schrieb Régis Debray in seinem Bericht zum 200. Jahrestag der haitianischen Unabhängigkeit144 – und bezog damit eine recht einsame Position. In dieser Hinsicht aufschlussreich ist ein Blick auf die von Nicolas Sarkozy am 10. Mai 2011 gewählten Worte. »Ils furent des millions. Ils furent enchaînés. Ils furent déportés d’un continent à l’autre. Ils furent battus. Ils furent asservis«, begann der Präsident seine Ansprache. »On leur prit tout: leur liberté, leur dignité, leur vie, leurs rêves, leurs espoirs, leurs joies.«145 Während das Erleiden des Unrechts klare Formen annimmt, verbergen sich die Täter/-innen hinter Passivkonstruktionen und dem unpersönlichen »man«; im Folgenden ist dann von »le maître« die Rede. Die Konsequenzen der Geschichte reflektierte Sarkozy wie folgt: »Il ne faut pas pardonner. 142 Leserbrief von David Hayes im Daily Telegraph vom 23.9.2007. 143 »Je tiens à m’excuser pour le rôle joué par mes ancêtres dans le commerce d’esclaves, je savais qu’un jour je voudrais venir sur cette terre et demander pardon à mes frères et sœurs noirs. Je voulais traverser l’océan pour voir la terre où mes ancêtres ont souffert«, soll der Würdenträger der amerikanischen Zeitung The Anniston Star gegenüber geäußert haben, Übersetzung und Zitat: N.N.: »Devons-nous demander pardon aux descendants d’esclaves? Un roi béninois est allé aux Etats-Unis s’excuser pour le rôle joué par les Africains dans la traite négrière«, http://www.slateafrique.com/332684/lafrique-doit-elle-demander-pardonaux-descendants-desclaves-americains. 144 Comité indépendant: Rapport (28.1.2004). 145 N. Sarkozy: Discours, 10.5.2011.
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Il ne faut pas oublier. […] Toussaint et Schœlcher firent ce qu’ils avaient à faire. […] Permettez-moi de finir sur cette question qui devrait sans cesse tourmenter notre âme: ›Et nous?‹.«146 Die Zweifel an einer a priori bestehenden Rechtschaffenheit der WirGruppe lassen diese nicht in einer Täter-Opfer-Konstellation zerfallen, sondern binden alle im Publikum versammelten Französinnen und Franzosen im Appell an die moralische Wachsamkeit und den Mut zur positiven Handlung.147 Problematisch stellen sich allerdings auch viele der Versuche dar, die nationalen Positivmythen postkolonial umzukehren und damit aus geschichtspolitisch radikaler Sicht »vom Kopf auf die Füße« zu stellen. Toyin Agbetus Ausruf »In this story the British are the Nazis«148 zeugt vor allem von einer Art geschichtspolitischer Verzweiflung, mit der er unter den gegebenen erinnerungskulturellen Umständen versuchte, die Aufmerksamkeit vom Abolitionsmythos auf eine eindeutig konturierte Täter-OpferKonstellation zu lenken, in der britische Akteure historisch negative Handlungsmacht ausüben. Der Vergleich, der in diesem Fall vor allem vor dem Hintergrund der nationalen Ausprägung der Weltkriegserinnerung zu betrachten ist, konnte aber durchaus noch radikalere Formen annehmen. »Toute […] interprétation selon laquelle les Africains […] auraient eu une part de responsabilité dans la traite négrière ou la vente de leurs frères ne peut être que le fait des historiens partisans du nazisme«, schrieben die afrikanischen Aktivistinnen und Aktivisten, die in Nantes gegen die Ausstellung »Les Anneaux de la mémoire« protestierten. 149 Mit größerem geschichtspolitischen Geschick widmete Claude Ribbe sein Buch über Napoleon den »maquisards« von Guadeloupe und blieb damit im Bild des Widerstands gegen eine rassistische Politik, die auf allen nur möglichen Ebene mit der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung von Menschen verglichen und gleichgesetzt werden sollte. Solche Manöver lagen in Frankreich aufgrund der exemplarischen Verdichtung des historischen Wertekosmos besonders nahe. Gerade vor dem Hintergrund des schließlich sehr gewaltsamen Kampfes um die Dekolonisation französischer Territorien wirkte die Devise »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« auf frappierende Weise verfehlt. Gleiches galt für die vermeintlich symbiotische Verbindung von Republik und Menschenrechten, die im Résistance-Mythos eine letzte große Aktualisierung erfahren
146 Ebd. 147 An dieser Stelle ist Nicola Frith zu widersprechen, die mit der englischen Übersetzung »We took everything from them. […] We must not forgive, we must not forget.« arbeitet, vgl. N. Frith: Crime and Penitence, S. 228. Die starke Tendenz zur Amalgamierung von »man« und »wir« ist eine Eigenheit der französischen Sprache. Im Sinne des hier vorgebrachten Arguments muss jedoch der Unterschied betont werden, den das Zitat von Debray im Vergleich verdeutlicht und der gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von »Verbrechen« und »Reue« wesentlich ist. Die Verwendung des Personalpronomens »nous« in der Rede von Sarkozy war vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Eine kollektive Selbstidentifikation mit der »Wir«-Gruppe derjenigen, die andere Menschen der Sklaverei unterwarfen, hätte die Einheit der Nation in der Sprachhandlung gespalten. 148 Ligali Organisation / BBC: »Toyin Agbetu challenges Queen & Blair: Wilberfest at Westminster Abbey 27.3.2007 (Uncensored Version)«, www.youtube.com/watch?v=L9h_ VVqIatY. 149 Zit. n. R. Hourcade: Ports négriers, S. 210.
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hatte. Ihre historischen Ansprüche besonders weit trieben die Indigènes de la République, die sich durchaus nicht nur als Nachfahren und Erben von Versklavten und kolonial unterdrückten Bevölkerungsgruppen verstanden. Vielmehr weiteten sie ihren historisch argumentierenden Angriff auf die Mythen des Republikanismus zu einer offensiven erinnerungskulturellen Okkupation des mit ihnen assoziierten Terrains aus. »[N]ous sommes les héritiers de ces Français qui ont résisté à la barbarie nazie et de tous ceux qui se sont engagés avec les opprimés, démontrant, par leur engagement et leurs sacrifices, que la lutte anti-coloniale est indissociable du combat pour l’égalité sociale, la justice et la citoyenneté. Dien Bien Phu est leur victoire. Dien Bien Phu n’est pas une défaite mais une victoire de la liberté, de l’égalité et de la fraternité!«150
In einer Atmosphäre, in der die ethnoapokalyptische Vision eines »clash of civilizations« die Reizschwelle für den Reflex zu Verteidigung »westlicher« Werte als solcher senkte, war die Suche nach einem erinnerungskulturellen Kompromiss auf dieser Basis kein geschichtspolitisch vielversprechendes Unterfangen.
DIE AUSHANDLUNG DER ERINNERUNG Die französischen und britischen Debatten um den transatlantischen Sklavenhandel drehten sich nicht nur um die Vermittlung von Vergangenheit und Botschaften der Geschichte. Die Aushandlung der historischen Erinnerung nahm stets auch konkret politische Formen an: Personen und Gruppen, die sich in den Prozess einbringen wollten, mussten Mittel und Wege finden, ihrer Stimme Gehör, im besseren Fall auch geschichtspolitisches Gewicht zu verschaffen, um im besten Fall ihre Sicht gegenüber anderen durchzusetzen. Die Frage, »was« und »wie« vermittelt werden sollte, war somit oft eng verbunden mit der Frage, »wer« an der Formulierung der geschichtspolitischen Antworten beteiligt werden sollte. Hierbei verlängerte sich der Streit um die historische Handlungsmacht bis in die Gegenwart, in der um die Verteilung von gesellschaftlicher Gestaltungs- und Deutungsmacht und entsprechende Entscheidungspositionen gerungen wurde. Die Ausgangsbedingungen im Vereinigten Königreich unterschieden sich dabei von denen in Frankreich, wo offizielle Geschichtspolitik zwar sehr aktiv, aber unter hohem Druck aus unterschiedlichen Richtungen betrieben wurde. Gerade die erinnerungskulturelle Hochspannung konnte auf unterschiedlichen Ebenen Zweifel an der sozialen Selbstregulation der entsprechenden Fragen aufkommen lassen. Geschichtspolitisch engagierte Assoziationen und gezieltes Lobbying im Umfeld von Regierung und Parlament spielten eine wichtige Rolle, wobei der CPMHE zumindest phasenweise als Mediator fungierte. Auch die Loi Taubira und die Gestaltung der jährlichen nationalen Gedenkzeremonie in Paris spiegeln die Tendenz zu einer aktiven Geschichtspolitik »von oben« wider. Der direkte Vergleich der beiden Untersuchungsländer stößt an diesem Punkt an die Grenzen seines analytischen Potentials. Es ist nicht auszuschließen, dass in Großbritannien ähnliche Konflikte auf einem Niveau ausgetragen wurden, das zu niedrigschwellig war, um die Medienberichterstattung und die Gestaltung der offiziellen 150 Indigènes de la République: Appel.
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Geschichtspolitik in vergleichbarer Weise zu beeinflussen. Die auf der Basis des Quellenmaterials gesetzten Schwerpunkte zur Erfassung der französischen Spezifik mögen daher punktuell überzeichnet sein. Dennoch unterscheidet sich die Aufstellung der handelnden Akteure so deutlich, dass der vergleichende Blick auf die Diskussion in Großbritannien häufig ins Leere fällt. Herauszuarbeiten sind im Folgenden daher vor allem die Merkmale dessen, was als ein französischer Sonderfall der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung betrachtet werden kann. Indirekt – durch die Markierung einer Abweichung – ist die nähere Betrachtung der französischen Verhältnisse aber auch für die britischen aufschlussreich. In Frankreich verlief der Aushandlungsprozess, wie er sich anhand der untersuchten Quellen abzeichnet, in stärker formalisierten und zentralisierten Bahnen. In Bezug auf den hier interessierenden Aspekt wirkte sich dabei auch der republikanische Vorbehalt gegenüber der Verhandlung mit Kollektiven aus, deren offizielle Ansprache als erinnerungskulturelle Stakeholder auf ethnisch-kultureller Basis erfolgen würde: Die Einbindung des Meinungsaustauschs in größere institutionelle Zusammenhänge kam dem offiziellen Neutralitätsanspruch entgegen; auch die Gründungszeremonie des in seiner Ausrichtung umstrittenen CRAN wurde nicht zufällig in der Nationalversammlung, einem Herzstück republikanischer Staatskultur, begangen. Dagegen konnten sich etwa britische Museen in ihren Reformbestrebungen explizit an den Erwartungen bestimmter Zielgruppen orientieren. Diese wollten die Verantwortlichen nicht nur im übertragenen Sinne durch attraktive Ausstellungskonzeptionen ansprechen, sondern auch durch die angestrebte Einbindung der betreffenden »community« in die eigenen Arbeitsprozesse. Die Definition von Publikumssegmenten nach Herkunft und Ethnizität war hierbei gang und gäbe. In dieses Bild passt, dass auch die Stellungnahme von Premierminister Tony Blair zur Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels in einer Zeitung veröffentlicht wurde, die sich gezielt einer spezifischen Teilöffentlichkeit zuwandte. Die Fusion einer auf diese Weise ethnisch markierten Vergangenheit mit einer neu zu konstruierenden gesamtnationalen Geschichte musste nicht zwingend als übergeordnetes Endziel vorausgesetzt werden, um den Wert der kommunikativen Anstrengungen zu legitimieren. So lobte etwa Tristram Hunt die Auseinandersetzung des National Maritime Museum in Greenwich mit seiner imperialen Vergangenheit und fügte mit besonderer Anerkennung hinzu: »Even more encouraging is the museum’s engagement with the local black community, with whom it has had a distant relationship, to ensure the exhibition reflects their understanding of this heritage.«151 Diese Art des Vorgehens verbreitete sich im Vereinigten Königreich relativ rasch und nachhaltig; im Rahmen des Bicentenary erschien der Ansatz bereits wie ein etablierter Handlungsstandard, an dem sich Planer/-innen ebenso orientierten wie das didaktische und pädagogische Personal.152 »La consultation des communautés noires locales devient une procédure incontournable de légitimation, généralement bien acceptée par les professionnels.«153 Die Politik, die das DCMS unter New Labour verfolgte, 151 Hunt, Tristram: »Built with blood money«, in: The Guardian vom 25.2.2003. Im Rahmen von partizipativ ausgerichteten Aktionen integrierte das Museum genauso die Perspektiven von »South Asian British« in seine Ausstellungen und näherte sich diesen dabei kollektiv als »community« an. 152 Vgl. L. Smith u.a. (Hg.): Representing Enslavement and Abolition in Museums, Part II. 153 R. Hourcade: Musée d’histoire face à la question raciale, S. 18.
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trug hierzu maßgeblich bei. Leitlinien, die im Jahr 2000 zum Thema »social inclusion« herausgegebenen wurden, ermutigten Museen nicht nur, sich selbst als »agents of social change« zu begreifen und entsprechend zu wirken. Sie forderten: »Outreach activities should be an integral part of the role of museums, galleries and archives. […] Museums, galleries and archives should consult people at risk of social exclusion about their needs and aspirations. […] Where appropriate, collections and exhibitions should reflect the cultural and social diversity of the organisation’s actual and potential audiences.«154
Diesem Maßstab fügte sich auch das privat finanzierte BECM: »Multi-cultural groups in Bristol had been shown the displays and had approved«, gab Leiter Gareth Griffiths dem Daily Telegraph an.155 Gerade im Hinblick auf (post-)koloniale Aspekte der Geschichte demonstrierten die Museen auf diese Weise auch einen Anspruch, der in der Tradition einer public history steht, die sich dezidiert um integrative »Bottom-up«Ansätze bemüht, wie sie auch im Rahmen von History Workshops verfolgt wurden. »There was a certain amount of fear on the part of institutions in this process, but they opened up what would normally be a closed shop to community specialists.«156 Die Kommunikationsgräben stellten sich allerdings nicht selten als breit und bisweilen als unüberbrückbar heraus, wie das Beispiel der 1994 in Liverpool eröffneten Ausstellung zum Thema Sklavenhandel zeigt. Die vom Planungsteam mit Vertreter/ -innen der betreffenden »communities« sowie mit dem wissenschaftlichen Beirat geführten Gespräche nahmen immer wieder die Form von Grundsatzdebatten an. »What was to be the approach? Should this be seen from a European point of view or an African one? White or black? Is African the same as black?«157 Die für eine öffentliche Einrichtung in vielerlei Hinsicht sinnvolle und notwendige Auseinandersetzung mit diesen Fragen darf als für sich genommen wertvoll betrachtet werden. Für die Beteiligten erwies sich der entsprechende Austausch allerdings auch als zeitaufwendig und anstrengend. Dies galt nicht zuletzt dann, wenn die Kommunikationskultur von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerin auf die von Laien traf, die eine andere Art der historischen Autorität für sich beanspruchten: »Dans un climat de suspicion, marqué par le refus de laisser écrire l’histoire de l’esclavage par des institutions ›blanches‹ jusqu’alors ›insensibles‹, Maria O’Reilly, la porte-parole du Liverpool Consortium of Black Organisations fait valoir une forme de propriété sur ce passé: ›Je pense que cette exposition doit adopter notre point de vue, parce que c’est quelque chose qui nous est arrivé
154 DCMS: Centres for Social Change: Museums, Galleries and Archives for All. Policy Guidance on SociaI Inclusion for DCMS funded and local authority museums, galleries and archives in England, Mai 2000, S. 5, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20100113 222743/http:/www.cep.culture.gov.uk/images/publications/centers_social_change.pdf. 155 Reynolds, Nigel: »Spirit of the British Empire wins through. New museum opens its doors after long battle against public opinion and lack of financial aid«, in: The Daily Telegraph vom 28.9.2002. 156 T. Agbetu: Restoring the Pan-African Perspective, S. 68. 157 D. Fleming: Liverpool, European Capital of… the Transatlantic Slave Trade.
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à nous [sic]. Nous avons été pris, nous avons été assassinés et nous avons fait la richesse de Liverpool.‹«158
Dennoch durften seitens des Museumspersonals auch praktische Erwägungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese setzten der inhaltlichen Entwicklung in Richtung radikalerer Minderheitsmeinungen von vornherein Grenzen: »[T]he politically correct ›agitprop‹ approach favoured by some blacks would have repelled moderate visitors and undermined the credibility.«159 Zusätzliche Schärfe gewann der Konflikt durch seine Verbindung mit einem generellen, genuin gegenwarts- bzw. zukunftsbezogenen Streben nach politischen Ressourcen und sozialem Kapital. Die Furcht vor Übervorteilung und Ungleichbehandlung schwang in der an den ersten Plänen für die Ausstellung geäußerten Kritik unverkennbar mit. »[M]any Liverpool blacks are enraged. The gallery is said to be in a ›white‹ part of Liverpool. Moores is accused of being a ›patronising paternalist‹ motivated by ›tedious white guilt‹.«160 Als Unterstützerin von Geldgeber Peter Moores wurde Joselyn Barrow in diesem Zusammenhang zum Opfer einer Verurteilung, die durchaus weiter verbreiteten Verratsmotiven folgte, dabei aber zudem die Züge sozialer Feindseligkeiten trug. »Barrow has been furiously jostled at public meetings and is mocked as an upper-crust West Indian ›princess‹ and Eurocentric ›sell-out‹ to the white oppressor.«161 Dabei wurde auch im Hinblick auf die Gestaltung des ISM auf das vermeintlich »beste Beispiel« einer erfolgreichen erinnerungskulturellen Selbstbehauptung verwiesen. »How would it look if a German who had benefited from Nazism decided to set up a memorial to the Holocaust, after consulting a handful of Jewish pals and without the participation and definite approval of the majority of Jews? We’ve been left out of the discussions. Our objections and priorities have been ignored. Blacks at the real community level were presented with a fait accompli from day one.«162
Die Aussage kann freilich weniger als Beleg für eine basisdemokratische Struktur jüdischer Erinnerungspolitik dienen, als zur Illustration der Auffassung, dass ein vermeintlich legitimes (Vor-)Recht auf Mitgestaltung in Liverpool verweigert worden sei. Eine Lösung der Konflikte zur allgemeinen Zufriedenheit war unter diesen Umständen kaum zu erreichen. »The fact that there are many black Liverpudlians who have refused to set a foot in the gallery on the grounds that their community was not consulted when the whole institution was planned and built indicates the problematic nature of the whole venture«, schrieb Marcus Wood im Jahr 2000.163 Auch an dem Prozess vor Ort beteiligte Personen zogen zunächst eine eher kritische Bilanz. »Dr Stephen Small, a black sociologist who served on the advisory panel, says: ›I welcome the gallery in the sense that it should stimulate a debate about slavery. But I’m annoyed 158 159 160 161 162 163
R. Hourcade: Musée d’histoire face à la question raciale, S. 11. Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994. Ebd. Ebd. Adam Hussein, zit. n. ebd. M. Wood: Blind Memory, S. 200.
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that an Afrocentric approach was explicitly rejected. A purely black perspective should have taken precedence.‹«164 Jenseits der Nachfrage, was unter einer »rein schwarzen Perspektive« auf das Thema im Einzelnen zu verstehen wäre, muss das rhetorische Herbeizitieren eines durchaus nicht evidenten Kollektivkonsenses auch in seinem strategischen Wert bedacht werden: Die Gleichsetzung eigener Auffassungen mit einer auf breiter Basis fußenden »schwarzen« Geschichtspolitik kann die Verhandlungsposition einer Einzelperson oder einer Gruppe mit dem Nimbus demokratischer Autorität untermauern. Man muss an dieser Stelle nicht in der Kategorie des Verlusts einer privilegierten (Verhandlungs-)Position in der und gegenüber der Nation denken, die in den Debatten um die »Opferkonkurrenz« eine so wesentliche Rolle spielt. Der mit Nachdruck betonte besondere Bezug zur Geschichte der Sklaverei verlöre aber an identitärem und politischem Wert, wenn seine ethnischen Grenzen zerflössen und er zum zwischenmenschlich geteilten Allgemeingut würde. Auch wenn die insgesamt angestrebte Vision nicht durchsetzbar war, zeigte sich Small im Rückblick dennoch zufrieden mit einigen der in der lokalen Auseinandersetzung errungenen Ergebnisse: »On reflection it is clear that we had a considerable amount of success. With constant pressure from community groups and others, the museum changed the focus of the gallery from just the slave trade, to looking at African culture and civilization prior to slavery.« 165 Entscheidend war das Aufbrechen tradierter Akteursstrukturen: »[T]he museum attempted to establish a gallery about the Atlantic Slave Trade that would be based on academic expertise entirely from career historians, and with only token gestures to critical approaches such as Afrocentricity. But the Black community in Liverpool and elsewhere resisted and pushed for the inclusion of more Black scholars, especially women, for Afrocentric scholars, and for significant community involvement.«166
Die Wurzeln der inzwischen etablierten Konsultationsprozesse lassen sich also auch auf den »von unten« auf die Institutionen ausgeübten Druck zurückführen, der nicht allein von »scholars« wie Small ausging. In Bezug auf Rassismus lässt sich das erfahrungsbasierte (Selbst-)Verständnis von »weißen« und »schwarzen« Personen, das den Ausgangspunkt für den historischen Rückblick bildet, tatsächlich nicht gleichsetzen. Gert Oostindie spricht hiervon abgeleiteten Ansprüchen dennoch die Grundlage ab, und setzt dabei auf ein bezeichnendes Argument: »Contemporary Western universalism, which plays such a major role in the debate on hypocrisy and past shortcomings, postulates the freedom of expression as one of the fundamental human rights. This freedom implies a demand for a critical examination of the past in which the black perspective cannot get away with the pretension of superior ›knowledge of experience‹.«167 164 Zit. n. Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994. 165 Small, Stephen: »Slavery, Colonialism and Museums. Representations in Great Britain. Old and New Circuits of Migration«, in: Human Architecture. Journal of the Sociology of Self-Knowledge 9/4 (2011): Contesting Memory. Museumizations of Migration in Comparative Global Context, S. 117-127, hier S. 124. 166 Ebd. 167 G. Oostindie: Stony Regrets and Pledges for the Future, S. 13.
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Vor diesem Hintergrund konnte die Frustration über die Ergebnisse der Aushandlungsprozesse bis zur Forderung von einer Art erinnerungskulturellem Separatismus führen. »Onyekachi Wambu, a columnist at the Voice, a black newspaper, says: ›Slavery should never be forgotten and I personally don’t resent Peter Moores for coming to terms with his race’s past misdemeanours by giving us the gallery. But outsiders cannot provide adequate shrines. And I do think it’s time for us to focus on our own capacities and provide our own memorial.‹«168 Diese Reaktion zeigt sehr deutlich, dass die von der kolonialen Vergangenheit etablierte »Rassentrennung« im Hinblick auf die aktuelle Auseinandersetzung mit ihr alles andere als überwunden ist. Bereits 1995 engagierte Wambu sich als Mitinitiator des »African Remembrance Day«.169 Diese Arbeit zeugte von einem starken Willen, die Erinnerung an die Geschichte der Sklaverei in die »eigenen« Hände zu nehmen und sie damit zumindest teilweise aus einer national orchestrierten Gedenkkultur auszugliedern, die als inadäquat und bevormundend betrachtet wurde. »But if the majority of black Britons want an alternative memorial, fair enough though this desire for their own thing may be, they should raise the money themselves«, setzte die Journalistin Donu Kogbara den Gedanken fort. »Blacks bear the wounds of history. […] Inert and rancorous talk of historical debts and reparations is rife within the black community. Yes, ›they‹ owe us. But sometimes one has to compensate oneself for crimes committed by others. Let black remembrance like Jewish remembrance lead to toughness, realism and self-redemption.«170 Ein entsprechendes Projekt mit einer tragfähigen logistischen und finanziellen Basis scheint sich jedoch derzeit nicht abzuzeichnen. Dies zeigen nicht zuletzt die Schwierigkeiten, welche die Realisierung des Denkmals aufhielten, das im Londoner Hyde Park an die afrikanischen Sklavinnen und Sklaven erinnern sollte – und das obwohl es der Initiative an »toughness« und »realism« letztlich nicht mangelte. In Kogbaras Appell klingt die Verbindung von geschichtspolitischen Projekten mit einer über diesen Kontext hinausreichenden (selbst-)emanzipatorischen Perspektive an, mit der die nigerianische Reporterin nicht alleine stand. Tatsächlich konnte der spätere Meinungsaustausch zur Einrichtung des internationalen Sklavereimuseums den Eindruck erwecken, dass Geschichtspolitik von vielen Interessierten als Nebenschauplatz eines größeren Konflikts betrachtet wurde. »People began asking questions: What is National Museums Liverpool’s Equal Opportunities Policy? How do the museums reflect Black issues? How many employees are Black or from minorities? What employment prospects are there for Black people?«171 Mit einer bloßen Erweiterung des bildungsbürgerlichen Kulturangebots waren diese Interessen nicht abzudecken. 168 Zit. n. Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994 169 Auch wenn sich die Wege von Toyin Agbetu und Onyekachi Wambu punktuell kreuzen, steht diese Initiative in keiner direkten Verbindung zu den Forderungen nach einem »afrikanischen Gedenktag«, die Ligali im Kontext des Bicentenary 2007 erhob. 170 Kogbara, Donu: »The chains of history«, in: The Sunday Times vom 30.10.1994. 171 A. Tibbles: Development of the Transatlantic Slavery Gallery. Auch Mark Christian nahm diese Richtung der Kritik auf und setzte Geschichtspolitik und die Frage der Chancengerechtigkeit in eine direkte Verbindung: »But even in the first decade of the 21th century the Liverpool economy has not fully opened up its opportunity doors to Liverpool Black people. The city centre remains today largely a white enclave of economic activity«, M. Christian: Age of Slave Apologies.
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Das Misstrauen gegenüber einer Symbolpolitik, die zum Kampf gegen rassistische Diskriminierung nichts Wesentliches beizutragen hatte, schwebte auch über den Anlässen im Kalender des britischen Jubiläumsjahres 2007. »The Queen will attend the service at Westminster Abbey to mark the bicentenary of the Act for the Abolition of the Slave Trade, 1807. Have you ever seen her with any black advisers? Have you seen many of them around the Prime Minister? Parliament has come up with myriad ways to commemorate the anniversary of this Act […] but it doesn’t even officially collect figures for the ethnicity of its MPs today.«172
Die Erwartung einer gegenseitigen Befruchtung beider Ebenen, die Hoffnung auf ein Gedenken, das sich nicht im rituellen Handeln erschöpfte, war in den direkt beteiligten politischen Kreisen verständlicherweise verbreiteter. »How a nation tells its stories through its cultural institutions gives us clues about its sense of itself, its self-confidence and how well equipped it is to deal with the more difficult and painful aspects of its history. One legacy of this bicentenary could be a much more vigorous approach to workforce diversity in the museum and archive sectors«, beschrieb Lola Young ihre Vorstellung von einem erfolgreichen Gedenkjahr.173 Auch in der französischen Hafenstadt Nantes kamen Frustrationen über das Procedere und die Ergebnisse offizieller Geschichtspolitik zum Ausdruck. Einen Fokus für die entsprechenden Konflikte lieferte neben der Einrichtung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage die Begehung des nationalen Gedenktages am 10. Mai. Streitigkeiten zwischen einzelnen auf dem geschichtspolitischen Feld aktiven Vereinen beförderten bereits 2006 den Bruch mit der Stadtverwaltung im Hinblick auf die Veranstaltungen zur Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions. Die Entscheidungshoheit des kommunalen Veranstalters anzuerkennen, fiel einigen Aktivistinnen und Aktivisten schwer. »La mairie veut décider à la place des associations«, beklagte sich etwa ein Geschichtslehrer, der lange Zeit an Schulen in großstädtischen Vorortvierteln gearbeitet hatte, die als »Zone d’éducation prioritaire« (ZEP) galten. 174 Sein Engagement ist an dieser Stelle auch deshalb bemerkenswert, weil es sich nicht in das fiktive Binärschema einer »schwarz-weißen« Geschichtspolitik einordnen lässt. An der Loire resultierten die Meinungsverschiedenheiten zum Teil ebenfalls im Streben nach geschichtspolitischer Unabhängigkeit. Das Alternativprogramm zu den kommunalen Gedenkfeierlichkeiten entsprach dabei einer prinzipiellen Herausforderungshaltung gegenüber der französischen Republik. »En évoquant les résistances noires, on a ouvert une nouvelle page. Cette année [2007], nous montrons comment Jules Ferry, en 1881, a officialisé le racisme d’état avec le code de l’indigénat. C’était le travail forcé, l’esclavage déguisé, mis en place par la République jusqu’en 1946. Tout l’éventail politique y a contribué.«175 Gerade die chronologische Erweiterung der Geschichte
172 Miles, Alice: »Racial equality in Britain? Don’t make me laugh«, in: The Times vom 23.3.2007. 173 Baroness Young of Hornsey, House of Lords, 10.5.2007, C. 1572. 174 Alain Vidal zit. n. Leduc, Marc: »Malaak Shabazz, la fille de Malcom X, sera parmi les enchaînés«, in: Ouest-France vom 6.5.2011. 175 Alain Vidal zit. n. ebd.
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über das Jahr 1848 hinaus fügte sich als zentrales Element schlecht in den Tenor des offiziellen Programms. In der konkreten geschichtspolitischen Ambition drückte sich zum einen der Wunsch aus, eine Fortsetzung bzw. Wiederholung der in Historiographie und Erinnerung fortgeschriebenen Marginalisierung zu verhindern, sie bis zu einem gewissen Maße wiedergutzumachen und diesen Fortschritt nach Möglichkeit für die Zukunft abzusichern. Über die besondere persönliche Beziehung zur Geschichte wurde zu diesem Zweck eine Art alternatives Expertentum konstruiert. Zum anderen ging es darum, über das Handeln in einer Wir-Gruppe, die auf die Zeit der Sklaverei zurückgeführt wurde, eine identifikatorische Basis für den mentalen Widerstand gegen rassistische Diskriminierung in der Gegenwart zu gestalten. »Il ne fallait pas braquer les Nantais, qui découvraient l’histoire de leur ville, alors que nous [sic] redevenions fiers d’être des nègres marrons, ces esclaves refusant leur condition«, fasste Octave Cestor, Mitglied des Stadtrates von Nantes und Vorsitzender des Vereins »Mémoire de l’Outremer«, die Grundstruktur des Erinnerungskonfliktes in seiner Kommune zusammen.176 Die Etablierung und Verteidigung einer handlungsmächtigen Position konnte in diesem Sinne als eine Form des späten Siegs in einem jahrhundertalten Konflikt betrachtet werden, als endgültige Emanzipation von einer mit totalitärer Unterwerfung gleichgesetzten Form der Sklaverei. »Slave owners practised total enslavement – enslavement of the mind; enslavement of the culture; enslavement of dignity; enslavement of humanity; enslavement of the body and soul; above all, enslavement of the human spirit.«177 Mit einem autonom definierten und bisweilen kompromisslosen Anspruch auf Respekt und Selbstbehauptung wollten die Nachfahren der afrikanischen Sklavinnen und Sklaven nicht nur ein geschichtspolitisches, sondern auch ein historisches Zeichen setzen. Von besonderer Bedeutung musste in diesem Zusammenhang die Bildung der nachfolgenden Generationen sein. So sollte etwa das Denkmal für die versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner im Londoner Hyde Park mit einem »education project« verbunden sein. »A permanent memorial, functioning as a site for physical visits and as a reference point in teaching, will aid in the process of inclusion and empowerment by redressing the balance.«178 Die Überarbeitung der britischen Lehrpläne wurde ebenfalls äußerst kritisch beobachtet. Sie erfolgte vor dem Hintergrund zunehmender Schwierigkeiten, die Behandlung historischer Themen in heterogenen Lerngruppen in eine konsensfähige Deutung münden zu lassen. Besorgnis erregte außerdem der unterdurchschnittliche schulische Erfolg von (männlichen) Jugendlichen aus afrokaribischen und afrikanischen Familien. Eine Thematisierung des Sklavenhandels aus dem Blickwinkel der Unterdrückung reichte Vertreter/-innen radikalerer geschichtspolitischer Positionen jedoch nicht aus; die entscheidende Lehre aus der Geschichte sollte aus der Darstellung von »Black Agency« gezogen werden und der historischen Untermauerung eigenständiger Widerstandskraft dienen. Der Anschein der Neutralität und demonstratives Kompromissstreben wiesen eine eingeschränkte Verwendbarkeit in einem Kontext auf, der durch machtvolle Traditionen nachhaltig zu Ungunsten der von ihrer Perspektiven geprägt war. 176 Ballu, Thierry: »Nantes a brisé le tabou avant les autres«, in: Ouest-France vom 9.5.2006. 177 Lord Morris of Handsworth, House of Lords, 10.5.2007, C. 1555. 178 Memorial 2007, http://www.memorial2007.org.uk/education.
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Jenseits der inhaltlichen Differenzen, an denen ein Konflikt sich entzündete, wurde die erinnerungskulturelle Selbstbehauptung aus der Opposition heraus also auch um ihrer selbst willen angestrebt. Diese doppelte Aufladung trug in Frankreich insbesondere der 23. Mai als Gedenktag an die Geschichte der Sklaverei. Der Überraschungserfolg der im afrokaribischen Vereinsmilieu geplanten Großdemonstration, die sich im Jahr 1998 direkt gegen die von der Regierung vorgegebenen geschichtspolitischen Prioritäten richtete, beeindruckte nicht zuletzt die Teilnehmenden selbst. Für viele descendants d’esclaves stand das Datum von diesem Tag an nicht nur für eine bestimmte Erinnerung an die Geschichte, sondern auch für eine Rückeroberung oder Neukonstitution politisch wirksamer Akteursmacht. Obwohl die offizielle Unterstützung und die Breitenwirkung der jährlich am 23. Mai organisierten Veranstaltungen begrenzt blieben, war daher auch die Anerkennung des Datums durch die französische Regierung als erfolgreiche Machtdemonstration bedeutsam. Den engagierten Assoziationen kam die Politik unter François Hollande, der in seiner Ansprache am 10. Mai 2013 erstmals die »artisans de la mémoire« als solche in den Vordergrund rückte, einen weiteren Schritt entgegen. Auch der Text der Tafeln, die das Konzept der Ausstellung »Les échos de la mémoire« im Jardin du Luxembourg aus Sicht des hauptverantwortlichen Künstlers erläuterten, betonte: »1998 ouvre une nouvelle étape«.179 Die Verabschiedung der Loi Taubira wurde in diesem Zusammenhang als eine Folge der (Gegen-) Mobilisierung dieses Jahres bezeichnet. Ein Teil der bislang betonten Deutungs- und Handlungshoheit von Parlament und Regierung wurde damit gewissermaßen dezentralisiert und auf eine populäre Ebene übertragen – in Bezug auf die Erinnerung, nicht etwa die Geschichte des Weges Emanzipation, deren Zentrum aus offizieller Sicht nach wie vor im politischen Paris anzusiedeln war. Die Karriere des 23. Mai belegt die Stärke des Vereinsmilieus, von dem in Frankreich ein kontinuierlich und systematisch ausgeübter geschichtspolitischer Druck ausging. Die Wurzeln der Netzwerke reichen dabei bis in die 1970er Jahre zurück. Eine Gesetzesreform, die auf eine Verbesserung der sozialen Integration von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus den DOM abzielte, begünstigte damals die Gründung von Vereinen, die sich in der Folgezeit sehr dynamisch entwickelten und bis heute insbesondere Französinnen und Franzosen aus den Antillen sammeln.180 Die räumliche Konzentration der Zugezogenen in der Region Île-de-France trug ihren Teil zur dichten Vernetzung bei. Die Mobilisierung rund um die neue politische und identitäre Ressource Geschichte, die von den Überseegebieten zeitversetzt auf die Metropole übergriff, fand daher personell und strukturell vorteilhafte Ausgangsbedingungen vor. Zu diesen gehörte auch die formelle Repräsentation der Überseedepartements in Parlament und Regierung. Ohne die institutionelle Verankerung hätte das Projekt eines Gesetzes, das den transatlantischen Sklavenhandel zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt, wohl nicht zu einem Meilenstein der erinnerungskulturellen Entwicklung geführt. Mit der Loi Taubira und der Einrichtung des CPME machte diese Ent-
179 Auszug aus dem Text der zentralen Ausstellungstafel. 180 Vgl. Giraud, Michel/Claude-Valentin, Marie: »Insertion et gestion socio-politique de l’identité culturelle. Le cas des Antillais en France«, in: Revue européenne des migrations internationales 3/3 (1987): Les Antillais en Europe, S. 31-48.
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wicklung zwei große Schritte in Richtung einer Institutionalisierung auf höchster politischer Ebene. Hiermit eröffneten sich Handlungsräume, die in Großbritannien über andere Kanäle, vor allem die Medien, gesucht werden mussten. Die Formierung von explizit auf die Verarbeitung der Geschichte ausgerichteten Assoziationen wie dem CM98 und die umgehende Anknüpfung des neu gegründeten CRAN an die laufenden Diskussionen stehen für die gegenseitige Befruchtung von im weitesten Sinne politischer Vereinstätigkeit und erinnerungskultureller Sammlung. Die Erinnerung an die Sklaverei weckte aufgrund ihres erwiesenen Mobilisierungspotentials das Interesse verschiedener Verbände, die sich für die Belange der »schwarzen« Einwohner/-innen Frankreichs einsetzten. Hierzu gehörte auch der Collectif Égalité, der schließlich vor allem durch seine Aktionen für eine verstärkte Sichtbarkeit ethnischer Minderheiten in den französischen Medien auf sich aufmerksam machte. »Comme on ne voulait pas entrer dans une polémique mesquine avec Serge Romana, explique Calixthe Beyala, on lui a abandonné le passé et on a ouvert un autre front: l’invisibilité des Noirs en France, surtout dans les médias.«181 Dass es dem CM98 gelang, seinen Platz auf dem geschichtspolitischen Feld durch eine Aufteilung der Aktionssphären abzusichern, spricht für den Einfluss, den erfolgreiche Sachwalter/-innen der Erinnerung sich über ihre Tätigkeit erwirtschaften konnten. Im Laufe des Untersuchungszeitraums wurden darüber hinaus weitere Vereinigungen ins Leben gerufen, die auf der bereits gut ausgebauten Basis zusätzliche thematische und personelle Verknüpfungen schufen. Die Loi Taubira und die Berichte des CPMHE gaben solchen Initiativen konkrete Anhaltspunkte zur inhaltlichen Orientierung ihrer Arbeit vor. Zudem fällt die persönliche Beteiligung von CPMHE-Präsidentin Vergès an einer ganzen Reihe von Projekten ins Auge, die dazu angetan waren, die Geschichtspolitik in Bewegung zu halten. Zu ihnen gehörte eine Stiftung, die in Bordeaux aus der inzwischen aufgelösten Assoziation DiversCités hervorging. »Lancée en 2006 à l’Assemblée Nationale Française, sous la présidence de Patrick Chamoiseau, Roni Brauman et Françoise Vergès, la Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs a été fondée par Mr Karfa Diallo«.182 Mittlerweile wurden die Strukturen in das Projekt »Mémoires et partages« überführt.183 Mit den Umstrukturierungen ging jeweils auch eine Anpassung des Arbeitsprofils einher, die größere Tendenzen der erinnerungskulturellen Entwicklung in Frankreich widerspiegelt. Im Jahr 2009 startete DiversCités eine koordinierte Kampagne, in der die Stadtverwaltungen von Nantes, Bordeaux, La Rochelle und Le Havre zur Umbenennung von Straßen aufgefordert wurden, deren Namen eine Verbindung zu Sklavenhändlern aufwiesen. Als Bürgermeister von Nantes reagierte Jean-Marc Ayrault mit
181 G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 171. 182 Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs, www.fondationdumemorialdelatraitedes noirs.com/index.htm. Die Webinhalte der Stiftung sind inzwischen nicht mehr verfügbar. Die programmatischen Grundsätze wurden auch auf der Webseite von Africultures veröffentlicht, http://www.africultures.com/php/?nav=murmure&no=7341. 183 Zu Diallo vgl. Demesmay, Claire: Karfa Diallo. Der Gedächtnismahner von Bordeaux, Kapitel »Geschichte und Erinnerung« im Dossier Frankreich der Bundeszentrale für Politische Bildung, 29.9.2015, http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/212844/ portraet-karfa-diallo.
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einem dreiseitigen Brief, in dem er seine Vorbehalte gegenüber einem solchen Vorgehen ausdrückte. Er war der Ansicht, dass dieses eher zur Verschleierung der Stadtvergangenheit beitragen würde. Aber er erkannte an: »[L]a signalétique historique à Nantes doit sans doute encore progresser. […] A cet effet j’entends mettre en place dans la Ville, autour du Mémorial des abolitions, une signalétique historique sur les principaux lieux emblématiques du passé négrier mais aussi dans les rues qui rappellent par leurs noms ce sombre ‚commerce‹, pour construire ainsi un véritable parcours urbain autour des traces multiples de l’histoire négrière à Nantes.«184 In Bordeaux war die Offenheit des Bürgermeisters für das Anliegen dagegen sehr begrenzt. »La réponse d’Alain Juppé est sans appel: ›Tout ça est absurde. Je ne vais pas m’engager là-dessus. Quand s’arrêtera la repentance?‹.« 185 Obwohl der Initiator der Aktion inzwischen selbst von der Forderung abgerückt ist, blieb das Verhältnis zur Kommunalverwaltung seiner Heimatstadt auch in der Folgezeit angespannt.186 Hiervon ließ der aus Senegal stammende Karfa Diallo sich allerdings nicht beirren, schließlich gab es auch auf nationaler und internationaler Ebene Projekte voranzutreiben. So setzte sich der Jurist unter anderem für die Anerkennung des Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein und konzentrierte sich dabei insbesondere auf sein Herkunftsland. Im Februar 2010 traf er in dieser Frage sogar mit Präsident Abdoulaye Wade zusammen. Nur einige Wochen später verabschiedete Senegal als zweiter Staat weltweit ein entsprechendes Gesetz.187 Im gleichen Jahr wandte sich Diallo auch an andere Länder, deren Geschäftsleute seinerzeit am Handel mit afrikanischen Sklavinnen und Sklaven beteiligt gewesen waren. »Pour sortir de l’amnésie européenne […] la Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs, lance une Campagne européenne pour déclarer la Traite des Noirs Crime contre l’Humanité auprès des Chefs d’États du Portugal, de la Hollande, de l’Espagne, du Danemark et de l’Angleterre.«188 Das Hauptanliegen der Stiftung war freilich die Einrichtung eines zentralen Gedenkorts zur Geschichte der Sklaverei in Frankreich, und sie brachte hierfür den Standort Bordeaux in das geschichtspolitische Spiel ein. »A l’occasion des élections présidentielles 2012, la Fondation du Mémorial de la Traite des Noirs interpelle les candidats, par une lettre ouverte, autour de deux engagements pour la justice mémo-
184 Brief von Jean-Marc Ayrault an Karfa Diallo, Nantes, 18.9.2009, www.fondationdumemo rialdelatraitedesnoirs.com/JMAyrault.pdf. 185 So Juppé gegenüber AFP, hier zit. n. Brosset, Thomas: »›L’Aimable Nanette‹ naviguait en eaux troubles«, in: Sud Ouest (La Rochelle) vom 23.9.2009. 186 »Le travail de mémoire peut se passer de noms et je pense désormais que c’est une erreur de vouloir débaptiser les rues portant des noms de ›négriers‹. En revanche, on peut sortir les victimes de l’ombre«, so Diallo im Interview mit Darfay, Catherine: »Esclavage, le longue travail des mémoires«, in: Sud-Ouest (Bordeaux) vom 4.5.2016, verfügbar auch unter http://www.memoiresetpartages.com/2016/05/05/1977. 187 Vgl. hierzu die Pressemitteilungen der Stiftung unter www.fondationdumemorialdelatrai tedesnoirs.com/communiques.html. 188 Fondation du mémorial de la traite des noirs: Plaidoyer européen pour déclarer la traite des noirs crime contre l’humanité, Pressemitteilung vom 4. Mai. 2011, ebd.
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rielle, le respect de la loi, la lutte contre le racisme et la cohésion nationale: 1- débaptiser les rues de négriers, 2- édifier un mémorial national.«189 Die Antwort des am Ende siegreichen Kandidaten François Hollande war unverbindlich formuliert, aber grundsätzlich positiv: »[J]e veillerai avec attention à votre demande de création d’un Centre national de recherche sur la traite des Noirs.«190 Angesichts der hochkarätigen Unterstützung, die Diallo für seine Organisation hatte gewinnen können, kann die freundliche Rückmeldung auf die Anfrage kaum überraschen. Zu den Sympathisantinnen und Sympathisanten zählten neben den bereits genannten Personen unter anderem Régis Debray, der Erzbischof von Bordeaux, der Generalsekretär der afrikanischen Union Alpha Oumar Konaré und Youssou N’Dour, aber auch Claude Ribbe, Marcel Dorigny, Pascal Blanchard, Patrick Karam, Louis Sala-Molins und Ali Moussa Iye – Personen, welche die Erinnerung an die Sklaverei in der französischen Öffentlichkeit bereits zuvor führend vertreten hatten. Das Projekt war außerdem von Beginn an mit dem UNESCO-Projekt Slave Route verbunden und somit auf dem geschichtspolitischen Feld gut aufgestellt.191 Auch die auf der Homepage präsentierten Pläne für die Einrichtung des Mémorial sprachen für die Qualität und die Quantität der von Diallo und seinen Mitstreiter/-innen investierten Arbeit. Das Gebäude sollte in Bordeaux im Quartier des Bassins à flot im Nordosten der Innenstadt als eine Verlängerung des Quai des Chartrons errichtet werden. In der angestrebten Lage direkt am Flussufer wies das Projekt eine Parallele zum Mémorial in Nantes auf. Die Dimensionen waren allerdings bescheidener, der veranschlagte Finanzierungsrahmen belief sich auf rund 3 Millionen Euro.192 Der Einsatz für die Umsetzung der Pläne geriet jedoch ins Stocken, und die Eröffnung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage in Nantes machte die Realisierung nicht wahrscheinlicher. Daher leitete Karfa Diallo seine Energien in das Projekt »Mémoire et partages« um. »Également implantée à Dakar, la nouvelle structure s’intéresse désormais à bien d’autres sujets mémoriels comme les tirailleurs sénégalais.«193 Auch den erinnerungskulturellen Blickwinkel, unter dem der Sklavenhandel in Frankreich bislang überwiegend betrachtet wird, hält Diallo für zu eng. »Je ne suis pas Antillais, donc pas descendant d’esclaves. Qui sait si mes ancêtres sénégalais n’ont pas été négriers. […] Tout cela montre combien le problème est complexe. Or, cette histoire a toujours été traitée du seul point de vue émotionnel et occidental. [...] Même la loi Taubira ne parle que de l’esclavage occidental.«194 Zwei andere perspektivische Erweiterungen prägten in jüngster Zeit das Wirken in Bordeaux. Erstens gelang es hier,
189 Fondation du mémorial de la traite des noirs: Pressemitteilung zu den französischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012, ebd. 190 François Hollande zit. n. N.N.: »Repères. Esclavage«, in: Libération vom 24.5.2012. Gegenüber der ersten Forderung zeigte Hollande sich vorsichtig, aber prinzipiell offen. 191 Vgl. www.fondationdumemorialdelatraitedesnoirs.com/projets.html. 192 Ebd. 193 Darfay, Catherine: »Esclavage, le longue travail des mémoires«, in: Sud-Ouest (Bordeaux) vom 4.5.2016, verfügbar unter http://www.memoiresetpartages.com/2016/05/05/1977. 194 Ebd.
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eine Kooperation mit Akteur/-innen aus einer Gruppe zu lancieren, die geschichtspolitisch bislang kaum hervorgetreten ist: Die Nachkommen der Sklavenhändler.195 Bezeichnend ist dabei, dass die Konfrontation mit der Vergangenheit nicht von Gesprächen innerhalb der Familie angestoßen wurde, sondern durch den systematisch aufgebauten Druck von außen. »Je n’ai découvert cette problématique que par mes enfants qui avaient consulté la notice Wikipedia consacrée à ma famille«, erklärte Pierre de Bethmann, der daraufhin beschloss, dem Schweigen ein Ende zu setzen.196 Auf noch unangenehmere Weise wurde die Auseinandersetzung mit der Geschichte an Axelle Balguerie herangetragen: »[J]’ai commencé à en entendre parler à l’extérieur, et j’ai récemment été l’objet de mises en cause que j’ai trouvées vraiment violentes.«197 Im Gegensatz zu einem derart konfrontativen Vorgehen wollte Karfa Diallo sich zweitens gezielt für einen friedlichen und versöhnlichen Dialog einsetzen. Sein Mittel der Wahl war hierbei der sprichwörtliche Blick über den eigenen Tellerrand: »En partant de la traite des Noirs, de dialoguer avec d’autres mémoires (la Shoah, le Rwanda, la Palestine, la Bosnie, etc.) dans le sens d’un partage pour une fraternité vraie.«198 In diesem Geist stand auch eine weitere bemerkenswerte Initiative, die aus dem Umfeld der französischen Verbände hervorging. Im Mai 2014 fanden sich die Vertreter/-innen von zwei Organisation zusammen, um ihrerseits ein klares Zeichen zu setzen, »un cinglant démenti à ceux qui tentent d’opposer les mémoires« – allen voran Dieudonné M’Bala M’Bala. »[L]e Crif [...] et le Crefom [...] ont signé ensemble [...] un mémorandum ›pour lutter contre le racisme et l’antisémitisme et pour étendre la diffusion de la mémoire de la Shoah et de l’esclavage‹. Concrètement, les deux organisations s’engagent à soutenir un projet de Mémorial sur l’esclavage en région parisienne, en coopération avec le Mémorial de la Shoah.«199
Es handelt sich um die einzige Verbindlichkeit dieser Art, die der CRIF bislang eingegangen ist, und um eine der ersten offiziellen Handlungen des CREFOM, der erst kurz zuvor unter der Führung von Patrick Karam gegründet worden war. Dies spricht für die Bedeutung und die Dringlichkeit, die beide Parteien einem solchen Schritt beimaßen. »Les deux conseils souhaitent ainsi mener ›des actions communes pour lutter
195 Vgl. hierzu Araujo, Ana Lucia: »Transnational Memory of Slave Merchants. Making the Perpetrators Visible in the Public Space«, in: Dies. (Hg.), Politics of Memory. Making Slavery Visible in the Public Space, New York/Abingdon: Routledge 2012, S. 15-35. 196 Darfay, Catherine: »Esclavage, le longue travail des mémoires«, in: Sud-Ouest (Bordeaux) vom 4.5.2016. 197 Ebd. 198 So das erklärte Ziel der »Schule der Erinnerungen« von »Mémoires et partages«, http://www.memoiresetpartages.com/page-d-exemple. 199 Geraud, Alice: »Esclavage et Shoah veulent faire mémoires communes«, in: Libération vom 6.5.2014. Die Abmachung umfasste einen regelmäßigen Austausch über den Bedarf und die Möglichkeiten koordinierter Interventionen zur Verteidigung des Andenkens an die Opfer der Geschichte. Einmal im Jahr sollen zu diesem Zweck auch persönliche Treffen abgehalten werden.
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contre le révisionnisme, que ce soit la négation de la Shoah ou la contestation de l’esclavage comme crime contre l’humanité‹.«200 Den Hintergrund bildeten ein akuter rassistischer Ausfall gegenüber Justizministerin Taubira sowie die Weigerung der Gemeinde Villers-Cotterêts (Aisne), den nationalen Gedenktag am 10. Mai offiziell zu begehen. Für den neu gewählten Bürgermeister Franck Biffaut stellte die Erinnerung an den Sklavenhandel den Ausdruck einer »autoculpabilisation permanente« der französischen Nation dar, an der er sich als Mitglied des FN nicht beteiligen wollte.201 Auch wenn die Institutionalisierung des Gedenkens umstritten blieb, haben sich die Wochen im Monat Mai in Frankreich als ein Zeitraum etabliert, der die Kräfte für einschlägige geschichtspolitische Initiativen auch jenseits der jährlichen Routine bündelt und fokussiert. Aus dem Umfeld des CM98 erfolgte 2016 der Anstoß zur Gründung einer weiteren Stiftung, die den bezeichnenden Namen »Sklaverei und Versöhnung« trägt. »[A]u cœur de la période traditionnellement propice aux commémorations liées aux victimes de l’esclavage et à son abolition, des descendants d’esclaves, de colons, et d’engagés indiens ont décidé de s’engager dans une démarche déterminée de Réconciliation.«202 Beteiligt sind neben Serge Romana und seiner Frau vor allem Geschäftsleute aus den Überseedepartements, aber auch ein afrikanischer Aristokrat. Die »Fondation Esclavage et Reconciliation« knüpft an die bisherige Arbeit des CM98 an, hat sich jedoch ein weiteres Ziel gesetzt, das der personellen Zusammensetzung entspricht: »promouvoir un tourisme mémoriel entre les départements d’Outre-mer, l’Hexagone et l’Afrique«.203 Am 23. Mai kündigte die Stiftung darüber hinaus ein besonderes Schwerpunktprojekt an, dem sie ihre frisch gebündelten Energien künftig widmen wollte. Dass es sich hierbei um die Einrichtung eines »Mémorial national des victimes de la traite négrière et de l’esclavage colonial« in Paris handelt, dürfte an dieser Stelle keine Überraschung mehr hervorrufen. Der geschichtspolitische Zug von Serge Romana und seinen Mitstreiter/-innen erfolgte nur wenige Tage vor der präsidialen Ankündigung zur Einrichtung einer hochoffiziellen Fondation pour la mémoire de l’esclavage, de la traite et des abolitions. Dies zeigt, dass die französischen Vereine nach wie vor großen Wert auf eine proaktive Haltung legen. Sie haben nicht die Absicht, die Erinnerung an die Sklaverei der Organisation durch die Regierung und ihrem Beratungskomitee zu überlassen und vertrauen – wie die fortgesetzten Appelle an eben diese Gestaltungsmacht dennoch klar verdeutlichen – ebenso wenig auf eine sukzessive soziale Selbstregulation, in der die dezentrale Arbeit von Pädagogen, Wissenschaftlerinnen und Medienschaffenden im Zentrum stehen würde. Unbedingt zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die lange Geschichte der gespannten Beziehungen zwischen dem politischen Paris und den Überseedepartements, die von Misstrauen geprägt sind. Die gezielte Einflussnahme ist aber nicht nur Ausdruck eines Unwillens, sich auf die Kompetenz und die Eigeninitiative der Regierenden im Umgang mit der Geschichte zu verlassen. Tatsächlich gab es
200 Ebd. 201 Ebd. 202 Vgl. die Presseerklärung vom 5. Mai 2016, Création de la fondation Esclavage et Réconciliation; http://23mai.cm98.fr/communique-de-presse-creation-de-la-fondation-esclavage -et-reconciliation. 203 Ebd.
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in Frankreich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg immer wieder Anlässe, die auf einen aktiven erinnerungskulturellen Revisionismus oder eine politische Blockade der neu aufgenommenen Ansätze hindeuteten. Die Ursprünge der Frontstellung reichen in das Jahr 1998 zurück, in dem der Versuch der erinnerungskulturellen Sammlung vor allem die bestehende Spaltung hervortreten ließ. In Nantes reichten die Probleme von der anfänglichen Unterstützungsverweigerung der Stadtverwaltung über die Vandalisierung der ersten Statue am Quai de la Fosse bis hin zum Streit um die Finanzierung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage, dem die konservative Regierung unter Staatspräsident Sarkozy ihre Anerkennung versagte. Auf nationaler Ebene sorgte das von der UMP trotz aller Proteste unterstützte Gesetz vom 23. Februar 2005 in dieser Hinsicht für die massivste Schockwelle. Die Rhetorik von Nicolas Sarkozy, der sich insbesondere im Präsidentschaftswahlkampf wiederholt und mit Nachdruck gegen eine historisch begründete Pose der nationalen »Reue« aussprach, kann vor diesem Hintergrund nicht als vertrauensbildende Maßnahme betrachtet werden. Die wiederholten öffentlichen Attacken auf Christiane Taubira bzw. die mit ihrem Namen verbundene parlamentarische Grundsatzentscheidung sorgte ebenso für Befürchtungen und Frustrationen wie die zumindest von einzelnen Mitgliedern des FN an den Tag gelegte Verweigerungshaltung und der ausbleibende Erfolg im Kampf um ein Sklaverei- bzw. Kolonialmuseum. Die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich gegen eine Verdrängung der Erinnerung aus dem öffentlichen Raum einsetzten, fühlten sich hierdurch sowohl bestätigt als auch herausgefordert. Abgeleitet wurden aus dieser Situation vereinzelt extreme Ansprüche, wie das Beispiel des Präsidenten des Centre d’Information, Formation, Recherche et Développement pour les Originaires d’Outre-Mer (CIFORDOM) zeigen kann, dessen Sohn Stéphane Pocrain zur Führungsriege des CRAN gehört. »M. José Pentoscrope considère qu’il faut fixer par voie législative un temps d’antenne réservé sur les chaînes publiques à l’histoire de l’esclavage et de la colonisation.«204 In Haltungen wie dieser spiegelt sich der Wunsch nach einer rigorosen staatlichen Ordnung der Erinnerung, der in Großbritannien deutlich schwächer ausgeprägt war. Bezeichnend ist allerdings auch, dass die von Präsident Hollande verkündete Absicht, die Überlegungen für das Museumsprojekt im Rahmen der Fondation pour la mémoire de l’esclavage, de la traite et des abolitions wieder aufzunehmen, von Patrick Lozès umgehend als »Sieg« für die Vereinsarbeit verbucht wurde.205 In der Tat hatten die Vereine ebenso wie der CPMHE über Jahre hinweg kontinuierlich an den Plan erinnert, wofür der nationale Gedenktag stets den besten Anlass bot. Auch am 10. Mai
204 So einer der Vorschläge, die aus der Veranstaltung zur Frage der »Mémoires croisées« hervorgingen, die am 9. Mai 2012 unter maßgeblicher Beteiligung des CPMHE im französischen Senat ausgerichtet wurde (siehe hierzu das Kapitel Die Aushandlung der Erinnerung), vgl. Larcher, Serge: Mémoires croisées. Rencontre du 9 mai 2012, Rapport d’information fait au nom de la Délégation sénatoriale à l’outre-mer 609 (2011-2012), 22.6.2012, https://www.senat.fr/notice-rapport/2011/r11-609-notice.html, S. 68 (Zusammenfassung der Vorschläge durch Françoise Vergès). 205 Lozès, Patrick: Refonder la journée de la mémoire de l’esclavage est devenu indispensable, Blog-Eintrag, 10.5.2016, http://www.huffingtonpost.fr/patrick-lozes/journee-commemora tion-esclavage_b_9868198.html.
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2016 verfasste Louis-Georges Tin als amtierender Vorsitzender des CRAN einen Artikel für Le Monde, in dem er die Einrichtung eines Museums in der Hauptstadt einforderte. Als Ko-Autor hatte er Alain Jakubowicz mit ins Boot geholt, den Vorsitzenden der LICRA und ehemaligen Präsidenten des CRIF. Jakubowicz war als Anwalt an den Prozessen gegen Barbie, Touvier und Papon beteiligt und hatte wichtige Funktionen für den Mémorial des enfants d’Izieu und den Centre d’histoire de la résistance et de la déportation in Lyon innegehabt; er kann also als Führungsfigur jüdischer Geschichtspolitik in Frankreich betrachtet werden. Für die beiden Verfasser stellte die Eröffnung des Mémorial ACTe in Guadeloupe keinen adäquaten Ersatz für ein hauptstädtisches Sklavereimuseum dar, zumal sie sich auf den äußerst kritischen Standpunkt stellten: »[L]a plupart de nos concitoyens ignorent presque tout de l’histoire de l’esclavage colonial. Malgré les avancées liées à la loi Taubira [...] le déficit de culture générale dans ce domaine demeure frappant.«206 Auch Lozès kritisierte die staatliche Geschichtspolitik anlässlich der zehnten Journée des mémoires, de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions scharf, wobei er den Bruch zwischen dem offiziellen Gedenken und den Veranstaltungen der erinnerungskulturell engagierten Vereine besonders hervorhob. »Il est indigne de notre pays que depuis 10 ans, aucune manifestation culturelle d’envergure nationale ne permette en cette occasion de rassembler en un même lieu une célébration officielle et une action populaire«.207 Den politisch Verantwortlichen attestierte er vor allem eine Hinhaltetaktik sowie einen »service minimum à l’indispensable rassemblement des Français à travers les questions mémorielles.« Die Bewertung der Arbeit in den Assoziationen fiel dagegen deutlich positiver aus: »C’est contraint d’apporter des réponses aux émeutes de 2005, c’est sous la pression positive d’individus ainsi que d’associations qui ont réussi à imposer la question noire dans le débat public, que Jacques Chirac a repris l’une des propositions phare de la loi adoptée à l’unanimité par le Sénat le 10 mai 2001«.208 Für einen derart offenen Machtkampf um die Gestaltung der historischen Erinnerung lassen sich in den britischen Geschichtsdebatten keine Anhaltspunkte finden. Eine tragende Rolle spielte in Frankreich dabei die Beziehung zu den Überseedepartements und den von hier in die Metropole übergesiedelten Bürger/-innen. Aufgrund ihres postkolonialen Sonderstatus begaben sich die geschichtspolitischen Aktivistinnen und Aktivisten mit einem in mehrfacher Hinsicht überlegenen Anspruch auf das Feld der öffentlichen Debatte. Dies betrifft nicht nur den hohen Organisationgrad und die formale politische Repräsentation, sondern auch die Frage der symbolischen Zugehörigkeit. Im Vereinigten Königreich konnte die neue Sensibilität für das Thema Sklavenhandel als Zeichen einer Offenheit gegenüber Menschen dargestellt werden, die im Zuge jüngerer Immigrationsprozesse auch ihre »eigene« Kultur und Geschichte mit ins Land gebracht hatten. Die bisherige Einseitigkeit der Erinnerung mochte so vergleichsweise weniger gravierend erscheinen und die Erweiterung des historischen 206 Tin, Louis-Georges/Jakubowicz, Alain: »Pour l’ouverture d’un musée de l’esclavage en métropole«, in: Le Monde vom 10.5.2016. 207 Lozès, Patrick: Refonder la journée de la mémoire de l’esclavage est devenu indispensable, Blog von Patrick Lozès, 10.5.2016, http://www.huffingtonpost.fr/patrick-lozes/journeecommemoration-esclavage_b_9868198.html. 208 Ebd.
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Horizonts konnte als Aushängeschild einer neuen, nach innen »multikulturell«, nach außen global ausgerichteten Offenheit dienen. Dies passte gut zum Selbstverständnis von New Labour und spielte geschichtspolitisch folglich vor allem der Regierung in die Hände. In Frankreich dagegen musste die im Vergleich noch geringere Sichtbarkeit der Sklaverei in der öffentlichen Erinnerungskultur als grundsätzlich kompromittierend für das bisherige historische Selbstverständnis der Nation, auch und gerade in ihrer republikanischen Gestalt, erscheinen. Die staatlichen Autoritäten standen daher unter einem besonderen Druck, die Erinnerung an den Sklavenhandel im Zentrum des nationalen Geschichtsbewusstseins als solchem zu positionieren. Die Ausgangsposition der Domiens war so nicht nur gegenüber britischen Aktivistinnen und Aktivisten privilegiert, sondern auch im Verhältnis zu aus dem (afrikanischen) Ausland Eingewanderten. Die rhetorische Verwertung ihrer besonderen, historisch gewachsenen und politisch sanktionierten Bindung an die französische Republik stellte eine naheliegende Option zur Abgrenzung und Verteidigung des relativen Vorteils dar. In Krisenzeiten, in denen sich die Konkurrenz um materielle und symbolische Ressourcen verschärft, sind Diskriminierungen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt so verbreitet wie folgenreich für die Betroffenen. Auch wenn die Diskriminierungserfahrungen der aus den DOM in den kontinentaleuropäischen Teil des Landes übergesiedelten Bürger/-innen sich partiell mit denen vieler Immigrantinnen und Immigranten überschneiden, ist die Solidarisierung seitens der relativ Privilegierten keine selbstverständliche Reaktion. Verbreitet war auch die Abgrenzung: »Je ne trouve pas de logement. Je ne comprends pas pourquoi je suis discriminée. Je suis antillaise, pas africaine.«209 Im Kampf um öffentliche Sichtbarkeit und positive Repräsentation hatten die Domiens die Chancen und Risiken einer Blockbildung gegeneinander abzuwägen. Letztere stiegen dabei auch im Angesicht der nach und nach erzielten geschichtspolitischen Erfolge, die vor allem auf den Einsatz von (selbsternannten oder gewählten) Vertreter/-innen der karibischen bzw. karibischstämmigen Bevölkerung zurückzuführen waren. »D’autres enjeux, comme la question de l’accès à la citoyenneté, les sanspapiers, le développement des pays africains peuvent alors émerger, avec le risque de noyer les questions mises en avant par les populations antillaises.«210 Umgekehrt war es ein logisches Interesse der besonders Marginalisierten bzw. ihrer schmalen, aber wachsenden Elite, den Schulterschluss zu suchen oder gegenüber politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern ggf. den entsprechenden Anschein zu suggerieren. In Frankreich bot sich hierfür das Feld der postkolonialen Erinnerungskultur, das zeitgleich und mit erkennbaren Fortschritten von unterschiedlichen Seiten ausgebaut wurde, in besonderem Maße an. Die Position der Domiens konnte dabei auch taktisch changieren. »[L]a stratégie de présentation de soi […] oscille entre une mise en avant d’une identité ethnique ou raciale permettant de rendre le groupe spécifique et le rappel de la citoyenneté française comme marqueur identitaire principal«, schrieb Audrey Célestine über die einschlägigen Vereine.211 Eine solche Doppelposition ließ sich mit der Erinnerung an die Sklaverei geschichtspolitisch unterfüttern, die unter den gegeben Umständen Anknüpfungspunkte für beide Richtungen bereithielt. Bis in die 1990er 209 »Une jeune antillaise, récemment arrivée dans l’Hexagone«, zit. n. F. Durpaire: France blanche, colère noire, S. 39. 210 A. Célestine: Mobilisations et identité. 211 Ebd.
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Jahre hinein waren Geschichte und Erinnerung eher trennende als verbindende Faktoren für Menschen afrikanischer und afrokaribischer Herkunft in Frankreich. Dies entsprach einer aktuellen Situation, die sich durch unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen auszeichnete und in der soziale Kontakte sich, wie im Zuge von Migrationen allgemein üblich, zunächst auf Personen der gleichen regional-kulturellen Herkunft konzentrierte.212 Aktiv war unter diesen Umständen nicht zuletzt ein Klischeebild: Die Menschenhändler, welche die Vorfahrinnen und Vorfahren der heutigen afroamerikanischen und afrokaribischen Bevölkerung in die Sklaverei verkauften, waren »Afrikaner«. »In short, the Afro-Caribbean transfers the burden of slavery to the African, not to the European, and this point of view emphasizes a radical break with Africa«213 – und betont, so ließe sich hinzufügen, die Nähe zu Europa bzw. der französischen Republik und der mit ihr verbundenen Erwartungen an eine steigende Lebensqualität. Diese Hoffnungen erfüllten sich jedoch in vielen Fälle nur sehr bedingt. Der Umstand, dass der Verweis auf die Rolle afrikanischer Sklavenhändler in den medial vermittelten Kontroversen des Untersuchungszeitraums oft dazu eingesetzt wurde, um die die geschichtspolitische Position eines vermeintlich »schwarzen« Gegenübers zu untergraben, ist vor allem bezeichnend für die in der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung dominante Perspektive. Es war in erster Linie der Blick der erinnerungskulturellen Mehrheit, der sich auch weiterhin von der ursprünglich kolonialrassistischen Konstruktion eines »weißen« Wir und eines »schwarzen« Anderen leiten ließ. Einen auch im wörtlichen Sinne anschaulichen Beleg hierfür lieferte die Ausstrahlung von Archivbildern einer geschichtspolitischen Demonstration der Domiens zur Illustration eines Fernsehbeitrags über die Gründung des CRAN. Im Inneren des erinnerungskulturellen Bewegungszentrums spielte die faktisch nicht aufzulösende und von außen bezeichnenderweise oft gar nicht wahrgenommene Frage, ob eine Person als »noir/-e«, »africain/-e« oder »descendant/-e d’esclaves« diskriminiert wurde, eine alles andere als nebensächliche Rolle. Dies schloss situative Positionierungen gegenüber einer als belastend erlebten Einschränkung durch pauschalisierende Vorurteile nicht aus. Die Annäherung stützte sich nicht zuletzt auf die erinnerte Geschichte, die nun im Sinne einer gemeinsamen Erfahrung neu gedeutet wurde. »›La mémoire commune de la souffrance du peuple noir‹ est sans doute le premier dénominateur commun.«214 Im engeren geschichtspolitischen Kontext waren die Referenzen »noir« und »descendant d’esclaves« dennoch nicht deckungsgleich, sondern häufig konkurrierende Optionen. Insbesondere im Bereich des organisierten Aktivismus verlief ein deutlicher, wenn auch bei weitem kein glatter Bruch zwischen einer exklusiv auf die Geschichte der DOM und ihr Verhältnis zur Nation konzentrierten Strömung und breiter angelegten Sammlungsversuchen mit einem stärkeren afrikanischen Element. Obwohl mit Louis-Georges Tin ein Mann aus Martinique als führender öffentlicher Sprecher des CRAN auftrat, engagierten sich in dem neuen Verband nur relativ wenige 212 Bazenguissa-Ganga, Rémy: »›Paint It Black‹. How Africans and Afro-Caribbeans became ›Black‹ in France«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. 145-172. 213 Ebd., S. 155. 214 R. Senghor: Surgissement d’une ›question noire‹, S. 10.
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Französinnen und Franzosen mit einer persönlichen Verbindung zu den Überseedepartements. Er sammelte vor allem aus Afrika Eingewanderte, die er erstmals herkunftsübergreifend organisierte.215 Die Mitgliedschaft in der Vereinigung ist weder formal noch informell eine Frage der Hautfarbe; als solche wird von den Mitgliedern allerdings die Problematik betrachtet, zu deren Sichtbarmachung und Bekämpfung sie sich zusammengeschlossen haben. »The CRAN […] contends that apart from the use of the word ›diversity‹ there are categories based on a shared experience of discrimination. The CRAN […] unites ›Blacks‹ because ›Blacks‹ share a common specific experience.«216 Eine solche »dünne« Definition der Selbstidentifikation217 war im republikanischen Kontext zunächst der einzig strategisch valide Standpunkt. »Cependant, en quelques semaines, le discours change de manière notable. Alors que des associations sont déjà largement mobilisées sur l’enjeu de mémoire de l’esclavage, le CRAN décide d’organiser lui-même un certain nombre d’évènements lors de la première commémoration nationale de l’abolition de l’esclavage, le 10 mai 2006.«218 Hiermit verlieh die Verbandsführung um Patrick Lozès dem Sammlungskonzept eine zusätzliche Dichte: »De l’usage de ›Noir‹ comme dénominateur commun a minima, on passe à la définition d’une histoire commune à tous les Noirs de France.«219 Der CRAN betrat mit dieser Ausrichtung auch ein Feld, das im Hinblick auf die angestrebte politische und mediale Wirkung zwar vielversprechend erscheinen musste, aber seit Jahren vor allem von Französinnen und Franzosen aus den Überseedepartements bearbeitet worden war. »Ce passage d’une définition ›raciale‹ par défaut à une identité collective définie positivement par les enjeux mémoriels notamment provoque des réactions très négatives de la part de plusieurs associations antillaises.«220 Zu ihnen gehörten nicht zuletzt der Collectif DOM und der CM98. Patrick Karam hob den Widerstand der Domiens gegen ihre Gleichsetzung mit Menschen afrikanischer Herkunft hervor, obwohl er anerkannte: »C’est vrai que ça change un peu pour les deuxième et troisième générations installées en métropole. Mais les Antillais sont ulcérés de voir les Africains récupérer la problématique de l’esclavage.«221 Die Reaktionen folgten einer doppelten Delegitimierungstaktik. Auf der einen Seite zielten sie auf die Basis der politischen Mobilisierung, die der CRAN mit seinem geschichtspolitischen Zug zu erweitern suchte, und setzten dabei auf demonstrative Konformität mit dem universellen Credo der Republik. »Ces deux associations affirment leurs différences avec le CRAN précisément à partir du refus de s’en remettre à tout référentiel racial, quitte à
215 Vgl. ebd., S. 283 f. 216 Lozès, Patrick: »The Invention of Blacks in France«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. 103-109, hier S. 105, Hervorhebungen im Original. Vgl. auch Lozès, Patrick: Nous les Noirs de France, Paris: Danger Public 2007. 217 Vgl. P. Ndiaye: Condition noire, z.B. S. 27. 218 A. Célestine: Mobilisations et identité. 219 Ebd. 220 Ebd. Vgl. auch Y. Lopez: Questions noires. 221 Patrick Karam zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 281.
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reconfigurer l’histoire de l’esclavage où la racialisation des rapports sociaux fut pourtant la clé de voute de l’édifice social.«222 Auf der anderen Seite wurden die eigenen Ränge geschlossen, um die rund um die Geschichte der Sklaverei und des Sklavenhandels im Aufbau befindlichen Erinnerungsorte zu verteidigen. Die auftretenden Rivalitäten konnten dabei auch als Ansporn wirken und die Auseinandersetzung mit dem Thema in Bewegung halten. Denn tatsächlich orientierte auch der Collectif DOM seine geschichtspolitische Aktivität teilweise am Kriterium der Hautfarbe. Mit einer vom MRAP vor Gericht gebrachten Klage gegen den Lebensmittelkonzern Nutrimaine engagierte sich der Verband 2011 für die Eliminierung eines rassistischen Klischeebildes, das aus der franko-afrikanischen Geschichte hervorgegangen war. Das Unternehmen hatte gegen eine 2006 geschlossene gütliche Einigung mit dem Kollektiv verstoßen, den Slogan »Y’a bon« der Marke »Banania« endgültig aus dem kommerziellen Verkehr zu ziehen.223 Zwar ließe sich argumentieren, dass Karam, Ribbe und ihre Mitstreiter/-innen mit dieser Aktion gegen den Ausdruck eines Rassismus vorgehen wollten, unter denen auch viele der »descendants d’esclaves« zu leiden haben – »[c]ombien d’enfants noirs [sic] ont été traités de ›Y’a bon Banania‹ dans la cour de l’école?«224 Die geschichtspolitische Intervention könnte allerdings auch als Versuch gewertet werden, das eigene geschichtspolitische Aktionsgebiet zu erweitern, um die Position des CRAN zu schwächen. Für das offizielle Selbstverständnis des Collectif DOM sind Hautfarben aber grundsätzlich unbedeutend. Der Verband beruft sich stattdessen auf die Vertretung regionalspezifischer politischer Interessen, und mit Patrick Karam hatte jahrelang ein Franzose libanesischer Abstammung den Vorsitz inne. Dies entspricht der sehr gemischten Bevölkerungszusammensetzung der Überseedepartements.225 Auch die Formulierung der Loi Taubira zeigt das Bestreben, neben den »schwarzen« Sklavinnen und Sklaven weitere Personengruppen zu berücksichtigen, die unter französischer Kolonialherrschaft als rechtlose Arbeiter/-innen ausgebeutet wurden und deren Nachkommen heute in den DOM leben. Der CM98 bezieht ebenfalls eine Position, die sich klar von der des CRAN unterscheidet. »Pour Serge Romana, le problème n’est pas celui de la couleur
222 C. Chivallon: L’esclavage, du souvenir à la mémoire, S. 35. 223 Bei Banania handelt es sich um ein Schokoladengetränk, das seit der Zwischenkriegszeit mit dem Bild eines Tirailleur Sénégalais und dem Spruch »Y’a bon« beworben wurde, der auf das oft schlechte Französisch der Kolonialsoldaten anspielt. Von vielen Französinnen und Franzosen durchaus als Sympathieträger wahrgenommen, erregte die Werbefigur schon die Wut von Léopold Sédar Senghor. Nutrimaine verwendete den Slogan bereits nicht mehr, es waren Lizenznehmer, die nostalgische Artikel wie z.B. Tassen mit der Abbildung vertrieben. Vor diesem Hintergrund sagte sich der Konzern recht rasch von Banania los, vgl. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 65, 269 f. 224 Chain, Juliette: »Le slogan ›Y’a bon Banania‹ devant le tribunal«, in: Le Figaro vom 24.3.2011. 225 In den DOM leben neben Menschen afrikanischer und europäischer Abstammung auch viele Menschen mit einem chinesischen oder indischen Familienhintergrund, deren Vorfahrinnen und Vorfahren nicht selten als Zwangsarbeiter/-innen dorthin kamen. In letzter Zeit wandern auch verstärkt Menschen aus den Nachbarländern (illegal) ein.
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de peau, mais celui de la parentalité au sein des population qui portent la mémoire de l’esclavage.«226 Die organisierte Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel, wie sie mit Unterstützung der republikanischen Institutionen öffentlich inszeniert wurde, orientierte sich überwiegend an karibischen Perspektiven. Dies galt auch und gerade für Initiativen, an denen staatsunabhängige Assoziationen einen starken Anteil hatten. Die Veranstaltungen zum 23. Mai als Tag des Opfergedenkens wurden von kreolischen Slogans und an den Interessen der DOM orientierten Sponsoren dominiert. Eine afrikanische Beteiligung ist dennoch erkennbar. Für die Feier, die im Jahr 2013 in SaintDenis organisiert wurden, engagierten sich beispielsweise auch in Frankreich organisierte Haratin und Soninke mit familiären Wurzeln in Westafrika. Diese Gruppen stehen allerdings in einer besonderen Verbindung zur innerafrikanischen Geschichte der Versklavung, und sie könnten das Label »descendants d’esclaves« im Sinne des CM98 für sich reklamieren. Eine eigenständige Bedeutung der Hautfarbe mit ihren sozialen Folgen für afroamerikanische, afrokaribische und afrikanische Menschen wollte Romana nicht gelten lassen: »Nous, Antillais et Guyanais, n’appartenons pas à une communauté noire, mais à une communauté de Français descendants d’esclaves, ni blancs, ni noirs.«227 In diesem komplexen Spannungsfeld agierte auch der CPMHE. Die zwölf Ursprungsmitglieder ernannte die Regierung auf der Grundlage von drei unterschiedlichen Kriterien, denen jeweils vier Personen zugeordnet wurden. Ausschlaggebend waren entweder die auf dem Gebiet der Erforschung des Sklavenhandels oder der Sklaverei geleistete wissenschaftliche Arbeit, die »acitivité associative pour la défense de la mémoire des esclaves« oder eine nicht näher spezifizierte besondere Kenntnis der französischen Überseegebiete. Die explizite Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure an der Ausarbeitung geschichtspolitischer Leitlinien ist bemerkenswert und wohl vor allem ein Zugeständnis an den Organisationsgrad, der durch die Mobilisierung rund um den 150. Jahrestag des Emanzipationsdekrets befördert worden war. Die Vorbereitung und Durchführung des Jubiläums hatte 1998 in den Händen eines temporären Regierungsgremiums gelegen. Dieses hatte sich zwar geschichtswissenschaftlich beraten lassen, eine breite Konsultation aber eben nicht zur Grundlage seines Handelns gemacht. Es wäre zu weit gegriffen, die Einrichtung des CPME als eine Demokratisierung der französischen Geschichtspolitik zu bezeichnen. Dennoch bestätigte seine Zusammensetzung – zunächst – eine anerkannte Diversifikation des Feldes und die Bedeutung von Aushandlungsprozessen. Nach dem Auslaufen des ersten Mandats wurde der CPME durch den CPMHE abgelöst. Dem Namen nach war das Gremium nun also nicht mehr nur für die Erinnerung, sondern auch für alle die Geschichte von Sklavenhandel und Sklaverei betreffenden Fragen zuständig. Die Umbenennung spiegelte eine Verstärkung der wissenschaftlichen Ausrichtung. Die Mitgliederzahl blieb bestehen, allerdings wurde der Personalstab mit Ausnahme von Präsidentin Vergès komplett erneuert. Die Beteiligung der Vereine wurde als solche
226 F. Durpaire: France blanche, colère noire, S. 201. 227 Aufruf »Non à la racialisation des conflits politiques« des CM98, hier zit. n. ebd., S. 200.
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gestrichen und die Zusammensetzung des Komitees damit durchweg professionalisiert.228 Besonders unter Françoise Vergès war die Arbeit des Komitees geprägt von einem offensiv verfolgten Bestreben, den eigenen Einflussbereich auszuweiten. Anknüpfend an die verbreitete Vorstellung von der guerre de mémoires bzw. fracture coloniale sollte dabei eine stärker integrative Betrachtung der historischen Erinnerung(en) in der postkolonialen Nation zum Tragen kommen. Für den Versuch, einen kolonialhistorischen Kompetenzkern auf höchster politischer Ebene zu etablieren, schien der Boden dabei durchaus gut vorbereitet. Besonders die Kontroversen um den Algerienkrieg mit ihrer Vielzahl erinnerungskultureller Stakeholder hatten ein Spaltungspotential zutage gefördert, das geschichtspolitisch schwer zu bändigen war. Im Jahr 2011 gelang dem Komitee ein erster großer Schritt in Richtung einer offiziellen Bestätigung seiner Ambitionen: »Marie-Luce Penchard, ministre déléguée chargée de l’Outre-mer, a confié au Comité une mission sur la mémoire des expositions ethnographiques et coloniales, entérinant ainsi un état de fait: le Comité est la seule instance officielle établie auprès du gouvernement, et composée de personnalités qualifiées, en mesure de faire des préconisations concernant le traitement dans l’espace public de mémoires issues de la colonisation.«229
Mit dem Bericht griff die Arbeit des CPMHE im Rahmen eines offiziellen Auftrags erstmals ganz explizit über die Geschichte der kolonialen Sklaverei hinaus. Hintergrund war die Kontroverse, die sich an der im Frühjahr des Année des outre-mers ausgerichteten Ausstellung »Un jardin en outre-mer« entzündet hatte. Als Ort war ausgerechnet der Jardin d’acclimatation in Paris ausgewählt worden, in dem zwischen 1877 und 1931 ethnographische Veranstaltungen stattgefunden hatten, unter anderem im Zuge der großen Kolonialausstellung von 1931. In den »zoos humains« wurden den Französinnen und Franzosen Bevölkerungsgruppen aus den Kolonien als fremdartige Wilde präsentiert. Die zu diesem Zweck ins Land gebrachten Menschen waren dabei oft Misshandlungen ausgesetzt, sogar Todesfälle sind belegt.230 Der Rückgriff auf dieses Veranstaltungsgelände für eine Ausstellung zu den Überseegebieten im Jahr 2011 hatte insbesondere einige Kaliña (Galibis) in Guayana empört, deren Vorfahrinnen und Vorfahren als Individuen und ethnische Gruppe von dieser Geschichte direkt betroffen gewesen waren. »C’est Christiane Taubira, députée de la Guyane, qui a déclenché la polémique en mars. Elle s’était indignée que le Jardin d’acclimatation accueille une 228 Décret du 8 mai 2009 portant nomination des membres du Comité pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage (NOR: IOCO0910414D), JORF (Lois et Décrets) 108/2009, S. 7855, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000020592 607. Mit Greg Germain war allerdings einer der führenden Organisatoren des Marsches vom 23. Mai weiterhin am Komitee beteiligt. 229 CPMHE: Avis au Gouvernement, S. 20. Die Ergebnisse sind nachzulesen in CPMHE: Rapport de la Mission sur la mémoire des expositions ethnographiques et coloniales, November 2011, www.cpmhe.fr/IMG/pdf/CPMHE__RAPPORT_DE_LA_MISSION_ SUR _LES_E XPOSITION _ETHNOGRAPHIQUES-2.pdf. 230 Vgl. v.a. Bancel, Nicolas (Hg.): Zoos humains. Au temps des exhibitions humaines, Paris: La Découverte 2004.
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telle manifestation. Dans un courrier adressé à la ministre, la parlementaire indiquait avoir été alertée par le maire de la commune d’Awalwa-Yalimapo.«231 Wieder einmal zeigten sich auch Vertreter/-innen der Geschichtswissenschaft und namentlich Nicolas Bancel aktiv, der die Ausstellung nicht nur demonstrativ boykottierte, sondern auch dafür Sorge trug, den Boykott über die Zeitung Le Monde publik zu machen.232 Seinen Artikel nutzte er dazu, einer inzwischen altbekannten geschichtspolitischen Forderung Nachdruck zu verleihen: »[D]e toute évidence, si, dans ce pays un musée de l’esclavage, de la colonisation ou des mondes ultramarins existait (comme le souhaitait dès 1993 le grand écrivain Edouard Glissant) ce scandale eut pu être évité.«233 Das Ziel der Mission, mit der Penchard den CPMHE betraute, lautete daher: »proposer des actions fortes et symboliques soulignant l’engagement de la République dans l’inscription de cette histoire et pour l’apaisement des mémoires.«234 In der Wahl seiner Methoden und Mittel frei, nahm das Komitee seine Chance wahr, geschichtspolitisches Terrain zumindest im Rahmen des Berichts umfänglich zu besetzen. So befasst sich das 130 Seiten lange Dokument ausführlich auch mit der brisanten Frage der menschlichen Überreste kolonialer Provenienz in den Magazinen französischer Museen. Die kleine Sonderkommission unter Leitung von Vergès führte zahlreiche Interviews mit Mitgliedern politischer und wissenschaftlicher Einrichtungen sowie Vertreterinnen und Vertretern von ehemals kolonisierten Volksgruppen in Guayana durch. Neben diesen nehmen auch die Kanaken aus dem Überseegebiet Neukaledonien, die ihrerseits als »Menschenfresser« vor dem französischen Publikum ausgestellt worden waren, einen wichtigen Platz in der Analyse ein. Es traten in diesem Zusammenhang also Gruppen auf den Plan, die in den vor allem auf den Algerienkrieg und den Sklavenhandel fokussierten erinnerungskulturellen Debatten bislang keine große Rolle gespielt hatten. Die Delegierten des CPMHE kooperierten zudem mit Christian Kert, dem konservativen Abgeordneten, der seinerzeit die parlamentarische Berichterstattung zum Gesetz vom 23. Februar 2005 übernommen hatte. Denn zwischen Kanaken und rapatriés, Kaliña und harkis sah die Kommission eine entscheidende Gemeinsamkeit: »[N]ous avons été frappés de constater à quel point, en France, aujourd’hui, plusieurs catégories de la population emploient des mots semblables pour exprimer le sentiment que la société continue de les ignorer. Ils sont en quête de leur ›juste place‹ dans la conscience collective de la France, dans un récit partagé de son histoire, et plus largement dans l’histoire du monde.«235
Entsprechend anspruchsvoll waren die Erwartungen an die Regierung: »Les pouvoirs publics ne peuvent poursuivre une politique du coup par coup, qui fragmente inévitablement l’histoire. [...]. [L]a réponse aux demandes d’inscription dans l’espace public 231 Boishue, Pierre de: »Polémique au Jardin d’acclimatation«, in: Le Figaro vom 14.4.2011. 232 Vgl. Bancel, Nicolas: »L’exposition des Outre-mer au Jardin d’acclimatation est un scandale«, in: Le Monde vom 29.3.2012; Boishue, Pierre de: »Polémique au Jardin d’acclimatation«, in: Le Figaro vom 14.4.2011. 233 Bancel, Nicolas: »L’exposition des Outre-mer au Jardin d’acclimatation est un scandale«, in: Le Monde vom 29.3.2012. 234 Brief von Marie-Luce Penchard an Françoise Vergès vom 7. April 2011, publiziert in CPMHE: Rapport (November 2011), S. 5 f. 235 Ebd., S. 20.
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de l’histoire de la colonisation doit aller au-delà de la multiplication des stèles et des monuments pour favoriser une approche inclusive.«236 Anlässlich des nächsten nationalen Gedenktags an die Sklaverei fand unter der Leitung von Serge Larcher und Françoise Vergès eine groß angelegte Veranstaltung im französischen Senat statt. Unter dem Titel »Mémoires croisées« widmete sie sich der Frage der historischen Erinnerung unter breitem postkolonialen Blickwinkel.237 Neben Christiane Taubira, Karfa Diallo, Serge Romana und Pascal Blanchard nahmen unter anderem auch Benjamin Stora, Lilian Thuram sowie Fatima Besnaci-Lancou als Vorsitzende der »Association harkis et droits de l’homme« an den am »runden Tisch« geführten Gesprächen teil. Neben der Integration der Träger/-innen von unterschiedlichen Erinnerungen an den Algerienkrieg wurde darauf geachtet, im Sinne des Konzepts der »fracture coloniale« Personen einzubeziehen, die als Vertreter/-innen der »quartiers populaires« auftraten. Als eine entscheidende Legitimationsbasis für die herausgehobene Bedeutung der geschichtspolitischen Arbeit stand die Verbindung von sozialer und erinnerungskultureller Problematik also auch weiterhin im Vordergrund. »Croiser les mémoires, c’est donc faire œuvre salutaire en combattant l’ignorance, terreau de la peur et de la fragmentation de la société«, wie Larcher es formulierte. Seiner Position fügte Vergès in demonstrativ republikanischer Manier ihre eigene Begründung für die Notwendigkeit des konsequenten nationalen Dialogs hinzu: »Pour dépasser une fragmentation, une segmentation qui est le produit d’une gestion libérale, d’un multiculturalisme qui s’inspire du modèle des expositions coloniales – à chaque territoire, son pavillon, à chaque mémoire, son monument – et écarte les échanges«.238 Mindestens ebenso deutlich wurde dieser Ansatz in einem CPMHE-Bericht, der vom Februar 2012 datiert. In ihm legte das Komitee im Auftrag des Kulturministeriums und des Ministeriums für die Überseegebiete Vorschläge zu seiner eigenen Reform vor.239 Es kann nicht überraschen, dass der CPMHE auch diesen Anlass nutzte, um an der Ausweitung seines Einflusses und seiner materiellen Basis zu arbeiten. Der von Françoise Vergès verfasste und von den anderen Mitgliedern des Komitees lediglich bestätigte Bericht steht ganz unter dem Motto »Vers une nouvelle étape«. Im Hinblick auf die bisherige Aufgabe zieht er die Bilanz: »La mission sur l’esclavage colonial et ses héritages n’est pas achevée, mais elle ne saurait être exclusive, sauf à prolonger cette fragmentation mémorielle dans une France qui a peur de l’avenir parce qu’elle occulte une part de son histoire.«240 Notwendig sei daher eine Umgestaltung 236 Ebd., S. 32 f. 237 Vgl. Larcher, Serge: Mémoires croisées. Rencontre du 9 mai 2012, Rapport d’information fait au nom de la Délégation sénatoriale à l’outre-mer 609 (2011-2012), 22.6. 2012, https://www.senat.fr/notice-rapport/2011/r11-609-notice.html. 238 Vergès, Françoise: »Introduction«, in: Ebd., S. 11-14, hier S. 12. 239 CPMHE: Pour une réforme du Comité de la mémoire et l’histoire de l’esclavage. Avis au gouvernement remis à la ministre chargée de l’Outre-mer et au ministre de la Culture et de la communication, Februar 2012, www.comite-memoire-esclavage.fr/IMG/pdf/AVIS_ AU_GOUVERNEMENT_-_VERS_UNE_NOUVELLE_ETAPE_-_16_FEVRIER_20122.pdf. Vgl. auch Mitterand, Frédéric/Penchard, Marie-Luce: Brief an Françoise Vergès, Paris, 15.2.2012, www.comite-memoire-esclavage.fr/IMG/pdf/Lettre_de_Mission_avenir _CPMHE_-_PENCHARD_-_MITTERRAND_120215.pdf. 240 CPMHE: Avis au Gouvernement, S. 25.
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des CPMHE zum »Comité national des mémoires et de l’histoire de l’esclavage et de la colonisation«. Um nicht zu weit von der ursprünglich aus der Loi Taubira abgeleiteten und damit gesetzlich verankerten Aufgabe abzuweichen, argumentierte Vergès stellenweise mit Vorsicht. So versicherte sie: »Cet élargissement de fait du champ de notre Comité ne signifie en rien la mise au second plan de sa vocation première qui est de considérer les mémoires et l’histoire de la traite négrière, de l’esclavage et de leurs abolitions«.241 Vorerst scheint der Vorstoß allerdings im Sande verlaufen zu sein. Zwar wurde eine der zentralen Forderungen für die Zukunft des Beratungsgremiums erfüllt. »[L]e Comité devrait prendre le titre de ›comité national‹ afin de mieux signifier son ancrage dans la loi et son rôle dans la société.«242 Darüber hinaus brachte die erste Neukonstitution unter der sozialistischen Regierung allerdings keine wesentlichen Umstrukturierungen mit sich.243 Die Institutionalisierung der Erinnerungsarbeit im politischen Machtzentrum der französischen Republik verstärkte auch den Einfluss von zwei charismatischen und ambitionierten, dabei keineswegs unumstrittenen Persönlichkeiten, die sich auf ihre jeweils eigene Art energisch für die geschichtspolitische Entwicklung in Frankreich einsetzten. Françoise Vergès verkörpert insbesondere die Überschneidungsfläche von offiziellem Politikbetrieb und geschichtspolitischem Aktivismus, die in Frankreich sehr breit ausfällt. Dass die Universitätsdozentin versucht haben soll, ihre Arbeit im CPMHE zum politischen Sprungbrett für einen Quereinstieg in das erste Kabinett unter François Hollande auszubauen, erscheint geradezu wie ein Sinnbild für diese Anordnung.244 Vergès ist die Tochter einer der einflussreichsten Familien von La Réunion. Zu den descendants d’esclaves kann sie dagegen nicht gezählt werden: Ihre Mutter stammt aus der Region Île-de-France, eine Großmutter aus Vietnam, weitere Vorfahren väterlicherseits sollen zur Gruppe der Sklaven- und Plantagenbesitzer auf La Réunion gehört haben.245 Ihr Vater Paul Vergès, der im Herbst 2016 in hohem Alter 241 Ebd., S. 20. 242 Ebd., S. 26. 243 Das Nachfolgedekret erhöhte die Zahl der mitwirkenden Personen von 12 auf 15. Verstärkt wurde außerdem die Verzahnung der Zusammenarbeit zwischen Komitee und Ministerien, eine Maßnahme, hinter der auch die Ambition einer stärkeren Kontrolle durch die Regierung stehen könnte. »Enfin, il prévoit la participation, à titre consultatif, de représentants des ministres contresignataires du décret du 6 mai 2009 (affaires étrangères, éducation nationale, intérieur, défense, culture et communication, enseignement supérieur et recherche et outre-mer) auxquels sont désormais également associés des représentants des ministres de la justice et chargé de la ville.« Décret n° 2013-382 du 6 mai 2013 modifiant le décret n° 2009-506 du 6 mai 2009 relatif au Comité pour la mémoire et l’histoire de l’esclavage, JORF (Lois et Décrets) 106/2013, S. 7784, https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte. do?cidTexte=JORFTEXT000027393556&categorieLien=id. 244 Zu den Gerüchten vgl. N.N.: »On parle de Françoise Vergès à la délégation interministérielle pour l’égalité des chances des Français d’Outre-mer«, 25.6.2012, http://www.info reunion.net/On-parle-de-Francoise-Verges-a-la-delegation-interministerielle-pour-l-egali te-des-chances-des-Francais-d-Outre-mer_a3350.html. 245 Marie Hermelinde Million des Marquets, die Großmutter von Raymond Vergès (Vater der Zwillinge Paul und Jacques) soll zum Zeitpunkt der Emanzipation 1848 Besitzerin von 121 Sklavinnen und Sklaven gewesen sein, vgl. z.B. Favre Saint-Leu, Daniel: »Qui veut
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verstarb, war Mitbegründer der kommunistischen Partei der Insel. Er prägte unter anderem als Präsident des Regionalrates über Jahre hinweg die politischen Geschicke des Departements im Indischen Ozean. Weiterhin erwähnenswert erscheint die Arbeit, die der Bruder ihres Vaters auf dem Feld der Vergangenheitsaufarbeitung leistete: Als Jurist übernahm Jacques Vergès mehrfach die Rolle des Verteidigers von politisch hochrangigen Angeklagten, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und/oder Kriegsverbrechen vor Gericht standen, unter ihnen Klaus Barbie.246 Christiane Taubira verlieh dem Gedächtnis der descendants d’esclaves ein Gesicht und eine Stimme, die im Parlament, in der Regierung und in den Medien gehört wurde. Ihre exponierte Position machte sie wiederholt zur Zielscheibe für Angriffe politischer Gegner/-innen. Nicht nur von vielen Französinnen und Franzosen aus den überseeischen Departements erhielt sie bei öffentlichen Auftritten aber auch ausnehmend großen Beifall. Ob Bernie Grant in Großbritannien ein realistischer Anwärter auf eine vergleichbare Position gewesen wäre, erscheint zweifelhaft. »In many ways a firebrand activist at heart, Grant courted controversy all his life and evoked mixed emotions.«247 In Auseinandersetzungen mit dem politischen und medialen Mainstream, an dessen Rändern er sich geschickt zu bewegen verstand, erwarb er sich das Image eines »African rebel« und »peoples [sic] champion«.248 Das Ansehen des Gewerkschaftsaktivisten, der im britischen Parlament einen »Black Caucus« nach amerikanischem Vorbild etablierte, und sein Einfluss auf viele »schwarze« Britinnen und Briten sowie ihr politisches Geschichtsbewusstsein sollte nicht unterschätzt werden. Sein Tod im April 2000 ist als schwerer Schlag nicht nur für ARM UK zu werten, der inzwischen als Organisation selbst im Internet praktisch nicht mehr existent scheint. »Bernie will be remembered as a hugely popular man of the people that every black man and woman should aspire to emulate.«249 Der Parlamentarier war eine Inspiration für andere radikale geschichtspolitische Akteurinnen und Akteure. Damit hinterließ er »a great legacy to live up to« 250 für diejenigen, die sich als Träger/-innen seines politischen Erbes verstehen. Seine politische Position und den durch sie gesicherten Zugang zu den Medien setzte Grant auch zur Unterstützung eines kontinuierlichen geschichtspolitischen Engagements ein. »One of the first things Bernie Grant did was organize a protest at the British Museum over the many artefacts they had plundered from Africa. He called for precious and sacred artefacts to be returned to their rightful owners.«251 Teil des Erfolgsrezepts war in diesem Zusammenhang die Verbindung von historischer Erinnerung
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cacher des Million...«, in: Le Quotidien de la Réunion et d l’océan indien vom 1.5.2009, http://www.lequotidien.re/opinion/le-courrier-des-lecteurs/39269-qui-veut-cacher-des-mil lion.html. Die Medien verliehen Jacques Vergès, der im August 2013 im Alter von 88 Jahren in Paris verstarb, für diese Arbeit den Spitznamen »Anwalt des Teufels«, vgl. z.B. Bacqué, Raphaëlle: »Les adieux à Jacques Vergès, ›ni sage ni saint‹«, in: Le Monde vom 22.8.2013. Kurzbiographie von Bernie Grant, www.100greatblackbritons.com/bios/bernie_grant. html. Ligali Organisation: No apology. Lee Jasper, zit. n. www.100greatblackbritons.com/bios/bernie_grant.html. Ligali Organisation: Heritage Lottery to fund events on abolishment of slavery, 7.2.2006, www.ligali.org/article.php?id=403. S. Small: Slavery, Colonialism and Museums, S. 122.
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und gegenwärtigen Prioritäten der Unterstützer/-innen, wie Mitstreiter Stephen Small beschreibt: »I was attracted by Bernie Grant’s activism and the way he linked Museums, Reparations and more mainstream priorities in the Black community, like employment, education and policing.«252 »Bernie Grant was one of 3 Black politicians elected to parliament in 1987, along with Diane Abbott and Paul Boateng. All three were members of the Labour Party and represented constituencies in London.«253 Die Nähe seinen Wählerinnen und Wählern nicht zu verlieren, war Grant ein wichtigeres Ziel als politische Gefälligkeit. Die Verbindung zu eben dieser Basis aufrechtzuerhalten, gelang seinem Nachfolger in der parlamentarischen Vertretung von Tottenham nur bedingt. »Culture Minister, David Lammy, faces the most criticism for ›undermining and betraying the lifetime work‹ of Elder Bernie Grant, the first African British MP to speak up on the issue of reparations and justice for African people throughout the world.«254 Grants früher Tod hat auf der Ebene der Parlamentspolitik also eine personelle Lücke hinterlassen, die trotz des einschlägigen Engagements von Diane Abbott255 bislang nicht wieder ausgefüllt wurde. Der Aufstieg von David Lammy zum Mitglied in der Regierung von Tony Blair hatte in diesem Zusammenhang auch Nachteile. Denn Bernie Grants Stärke war provokantes Auftreten, über das sich ein Regierungsmitglied nicht produzieren kann. Tatsächlich verspielte Lammy gerade durch seine prominente Aktivität an vorderster Front für die Organisation des Bicentenary einen Teil des Vertrauensbonus, den seine Herkunft und Hautfarbe ihm möglicherweise zunächst eingebracht hatten. Es ist jedoch keineswegs offensichtlich, wie er sich vor dem Hintergrund des direkten Vergleichs mit Grant und angesichts der gespaltenen Erinnerungslandschaft in einer Weise hätte positionieren können, die ihm die Kritik von panafrikanischer Seite erspart hätte. Ungeklärt bleiben muss zudem die Frage, welche Rolle Bernie Grant als eine Schlüsselfigur zwischen politischem Establishment und den von offiziellen Entscheidungsprozessen enttäuschten und entfremdeten Trägern einer marginalisierten Erinnerungskultur im Rahmen des Gedenkjahres 2007 hätte einnehmen können und wollen. Die politische Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit hat sich in Frankreich im Verlauf der letzten Jahrzehnte auch auf parlamentarischer Ebene fest etabliert, wie die Vielzahl entsprechender Debatten, Kommissionen und Beschlüsse belegt. Die externe Expertise von Historikern stellte in diesem Zusammenhang einen wichtigen und erwünschten Beitrag zu dem Dialog dar, der sich personell und institutionell über die Grenzen des klassischen Politikbereichs hinaus ausdehnte. Die Einbindung in die Netzwerke von Wissenschaftlerinnen und Intellektuellen, die nicht nur interessiert waren, sondern zum Teil politisch engagiert auftraten, war auch eine Stärke des CPMHE. Zwar verfassten britische Historiker/-innen ebenfalls Kommentare zur Geschichtspolitik in ihrem Land. Mit der aktiven Einmischung der französischen Akademiker/-innen, die oft in kollektiven Zusammenschlüssen konkrete Forderungen erhoben, lassen sich diese Aktivitäten allerdings nicht vergleichen. »The sheer presence of intellectualism in French public life never ceases to impress when compared to other 252 253 254 255
Ebd. Ebd., S. 121. Ligali Organisation: No apology. Vgl. Shepherd, Verene: »David Cameron, you still owe us for slavery«, in: The Guardian vom 30.9.2015.
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countries, such as Britain, where the intellectual class is well nigh irrelevant in public political discussions«.256 Die Kontroverse um die »zoos humains« und ihre Folgen haben gezeigt, welches Echo auch einzelne Stimmen erzielen konnten, wenn sie auf die dem aufgeheizten Klima innewohnenden Möglichkeiten setzten. Die Folgen der französischen Ausgangsbedingungen und Entwicklungsstränge lassen sich anhand der Kontroverse um die Zukunft des Hôtel de la Marine illustrieren, die sich im Jahr 2010 öffentlich entfaltete. An ihr wird darüber hinaus die erinnerungskulturelle Polarisierung erkennbar, die gerade in Nicolas Sarkozys Amtszeit als Staatspräsident hervortrat. In dem denkmalgeschützten Gebäude am Place de la Concorde in Paris residierte seit 1789 das französische Marineministerium. Im Zuge der Umstrukturierung, die sich durch die Einrichtung des »Hexagone Balard« ergab, das seit 2015 Einrichtungen aus den Bereichen Militär, Sicherheit, Rüstung und Verteidigung im 15. Arrondissement der Hauptstadt zusammenfasst, wurde auch der Hôtel de la Marine für eine neue Nutzung frei. Nun handelt es sich hierbei allerdings nicht um ein beliebiges Verwaltungsgebäude: »Cette maison de famille de l’Etat est depuis 250 ans témoin des heurs et malheurs de la nation. Vol des diamants de la couronne, élaboration du discours de Monge sur l’entrée de la France en République (1792), signature du procès-verbal de l’exécution de Louis XVI, décrets abolissant l’esclavage, blockhaus en sous-sol de l’occupant allemand, centre opérationnel de la marine des années 2000: la bâtisse raconte la France.«257
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich im Jahr 2010 eine emotionale Diskussion um die künftige Verwendung des Baus. Erst Anfang 2012 fand der Streit nach zwei Untersuchungsberichten und einer Intervention des Präsidenten sein Ende. Gemäß der Empfehlung einer von Valéry Giscard d’Estaing geleiteten Kommission entschied Nicolas Sarkozy, das Gebäude in öffentlicher Hand zu belassen. Die Nutzung wurde zu einem Teil dem Louvre, zum anderen Teil privaten Unternehmen übergeben, in der Hoffnung, dass sich die zu eröffnende Ausstellungsfläche mithilfe der Mieteinnahmen selbst finanzieren würde. In den Hinterzimmern der Regierung waren vorher allerdings ganz andere Möglichkeiten diskutiert worden. »Hervé Morin, alors ministre de la Défense, machinait dans les coulisses l’attribution de ce palais royal au financier Alexandre Allard.«258 Dessen elitäres Projekt zielte darauf ab, das öffentliche Gebäude in ein Haus der Kunst und ihres Mäzenatentums umzuwandeln, »la ›Villa Médicis du XXIe siècle‹, couplée à une résidence hôtelière de grand luxe«.259 Als Informationen über die Verhandlungen im Sommer 2010 an die Öffentlichkeit drangen, stieß der Gedanke auf großen Widerstand: »Ce projet, qui consiste à relooker cette maison pour l’adapter
256 A. Favell: Philosophies of Integration, S. XVI. 257 Evin, Florence: »Les défenseurs du patrimoine redoutent la privatisation de l’Hôtel de la marine«, in: Le Monde vom 20.6.2010. 258 Noce, Vincent: »L’hôtel de la Marine rebondit au Carrousel«, in: Libération vom 11.7.2011. 259 Evin, Florence: »Les défenseurs du patrimoine redoutent la privatisation de l’Hôtel de la marine«, in: Le Monde vom 20.6.2010.
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à des fonctions commerciales pour lesquelles elle n’est pas faite, est un crime patrimonial.«260 Zur Frage, was das Gedächtnis von Staat und Nation konkret ausmachen sollte, traten dabei sehr unterschiedliche, bisweilen gegensätzliche Auffassungen zutage. Denn die Debatte erhielt zusätzliche Brisanz durch eine erneute Mobilisierung von Historikerinnen und Historikern, die auch dieses Mal vom bereits vertrauten Mittel des öffentlichen Kollektivaufrufs Gebrauch machten. Die persönliche Beteiligung und die politisch motivierten Fronten erinnerten dabei stark an die Konfrontationen des Jahres 2005. Am 10. Januar 2011 publizierte zunächst eine Gruppe von Intellektuellen, unter ihnen Pierre Nora, einen Appell in der Zeitung Le Monde.261 In ihm sprachen sie sich vor allem gegen die Kommerzialisierung des Gebäudes unter der Ägide von Alexandre Allard aus. Etwas verhaltener regten sie zudem die Einrichtung eines Museums im Hôtel de la Marine an – ein Vorschlag, der angesichts der Geschichtsträchtigkeit des Bauwerks grundsätzlich nahe lag. Dabei ging es allerdings um ein besonderes Projekt, nämlich das »Haus der Geschichte Frankreichs«, das nicht zuletzt von Präsident Nicolas Sarkozy persönlich unterstützt wurde. Aufgrund ihrer Ausrichtung auf die »nationale Identität« waren die entsprechenden Pläne ihrerseits bereits seit längerem ein Gegenstand der öffentlichen Kritik. »[L]a conception d’une histoire de France convoquée à des fins édifiantes – pour ›renforcer l’identité qui est la nôtre‹, selon les termes employés par M. Sarkozy –, semble pour nombre d’historiens totalement anachronique.«262 Mit der Amtsübernahme von François Hollande wurde das Projekt nach jahrelangen Vorarbeiten schließlich begraben. Die Stellungnahme zur Zukunft des Hôtel de la Marine provozierte eine zweite Gruppe von Intellektuellen zu einem Gegenaufruf, der wenige Tage später in derselben Zeitung erschien.263 Unter den Unterzeichnenden befanden sich einige der Hauptgegner/-innen des Artikels 4 der Loi Mekachera, unter anderem die Historiker Pascal 260 Olivier de Rohan vom Verein Sauvegarde de l’art français zit. n. Evin, Florence: »Trésor d’Etat, l’hôtel de la Marine, à Paris, est à louer meublé, au plus offrant«, in: Le Monde vom 23.12.2010. 261 Debray, Régis u.a.: Sauvons l’hôtel de la Marine à Paris! Appel au président de la République à ne pas brader un lieu chargé d’histoire, 10.1.2011. Unterzeichnet wurde der Appell außerdem von Alain Decaux, Jean-Noël Jeanneney, Jacques Le Goff, Pierre Nora, Mona Ozouf, Michel Winock. 262 Wieder, Thomas: »Nicolas Sarkozy, professeur d’histoire«, in: Le Monde vom 24.1.2009. Vgl. auch Offenstadt, Nicolas: »Brauchen wir ein Haus der Geschichte Frankreichs? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung«, in: Frankreich-Jahrbuch 2010, S. 55-74. 263 Bancel, Nicolas u.a.: »Faire de l’hôtel de la Marine un musée de l’esclavage«, in: Le Monde vom 19.1.2011. Unterzeichnet wurde der Appell außerdem von Pascal Blanchard, Ahmed Boubeker, Esther Benbassa, Catherine Coquery-Vidrovitch, Marcel Dorigny, Benoît Falaize, Yvan Gastaut, Gilles Manceron, Pap Ndiaye, Benjamin Stora, Françoise Vergès. Die jeweiligen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der beiden Aufrufe sollten nicht pauschal mit einer Befürwortung oder Gegnerschaft mit Blick auf das Museumsprojekt von Nicolas Sarkozy gleichgesetzt werden. Gerade Pierre Nora, aber auch Jacques Le Goff und Mona Ozouf gehörten zu den schärfsten Kritikerinnen und Kritikern. Anders als etwa Benjamin Stora verweigerten sie ihre Beteiligung am comité d’orientation scientifique unter der Leitung von Jean-Pierre Rioux (vgl. z.B. Wieder, Thomas: »Maison de l’histoire de
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Blanchard, Nicolas Bancel, Gilles Manceron und Benjamin Stora, ebenso die Präsidentin des CPMHE. Auch diese Gruppe sprach sich gegen die Einrichtung eines »supermarché de luxe«264 aus. Der kurz zuvor in Le Monde veröffentlichte Appell hatte aber ebenfalls ihren Ärger erregt. »Des historiens ont demandé [...] que soit installée la Maison de l’histoire de France [...] dans ce bâtiment, en rappelant les grands faits historiques liés au bâtiment... mais en oubliant au passage le passé lié à l’esclavage et à la colonisation de ce lieu. Curieuse omission pour de grands historiens... Comme s’il y avait une ›bonne‹ et une ›mauvaise‹ histoire de France.«265
Gewissermaßen als Korrektiv stellte der Text nun gerade die kolonial geprägte Geschichte des Gebäudes in den Vordergrund, in dem unter anderem 1848 das Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien unterzeichnet wurde. »En outre, c’est dans ce bâtiment, qui fut celui du ministère de la marine, que furent élaborées et conduites les conquêtes coloniales du Second Empire et de la République.«266 Vor diesem Hintergrund forderten die Wissenschaftler/-innen mehr als die Überschrift ihres Aufrufs – »Faire de l’hôtel de la Marine un musée de l’esclavage« – zunächst vermuten ließ: »D’autres historiens et chercheurs en appellent ici au ministre de la culture, au maire de Paris et au président de la région pour sauvegarder ce patrimoine national et faire entrer le passé colonial dans l’esprit de nos contemporains en installant place de la Concorde un ›musée de l’esclavage, de la colonisation et de l’outre-mer‹ (Mecom).«267 Die Verantwortung für das Museum sollten der französische Staat, die Region Île-de-France und die Stadt Paris gemeinsam übernehmen. »[C]e musée porté par la République et installé au cœur de la capitale serait le signe que nous sommes enfin entrés dans le temps du postcolonial en France.«268 Auch ein
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France. Nomination du comité scientifique«, in: Le Monde vom 11.1.2011). Die Thematisierung des Museumsprojekts im Rahmen ihres Appells in Le Monde dürfte daher taktisch motiviert auf die Bewahrung des öffentlichen Charakter des historischen Gebäudes ausgerichtet gewesen sein. Bancel, Nicolas u.a.: »Faire de l’hôtel de la Marine un musée de l’esclavage«, in: Le Monde vom 19.1.2011. Ebd. Debray und die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des ersten Appells umrissen die Geschichte des Hôtel de la Marine folgendermaßen: »C’est là, dans cet hôtel construit par Gabriel et Soufflot pour Louis XV, et qui avait toujours appartenu à la Couronne, qu’ont eu lieu les premières émeutes populaires à la veille du 14 juillet 1789 ; là que s’était installé le secrétaire d’Etat à la Marine quand Louis XVI et le gouvernement avaient dû quitter Versailles à la fin de 1789, pour rejoindre les Tuileries. C’est là que, devant cette façade aux magnifiques péristyles ironiquement dédiés à la magnificence et à la félicité publiques, Louis XVI et Marie-Antoinette, mais aussi tant d’autres acteurs célèbres ou anonymes de la Révolution, ont été guillotinés.«, Debray, Régis u.a.: Sauvons l’hôtel de la Marine à Paris! Appel au président de la Ré-publique à ne pas brader un lieu chargé d’histoire, 10.1.2011. Bancel, Nicolas u.a.: »Faire de l’hôtel de la Marine un musée de l’esclavage«, in: Le Monde vom 19.1.2011. Ebd. Ebd.
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weiterer Versuch des CPMHE, einen sprichwörtlichen Fuß in die Tür des historischen Gebäudes bzw. vielmehr seinen Innenhof zu setzen, blieb ohne Erfolg. »[Le] Comité avait proposé, en vain, que la stèle rendant hommage aux esclaves des colonies françaises [...] fût apposée dans la cour intérieure de l’Hôtel de la Marine.«269 Das doppelte Denkmal im Jardin du Luxembourg entsprach also nicht eigentlich seinen Absichten; Ziel war es vielmehr gewesen, die Entkopplung des Gedenkens an Sklaverei und Sklavenhandel von dem mäßig erfolgreichen Standort voranzutreiben. Angesichts der Belegung des Kolonialpalastes an der Porte Dorée durch das 2007 eröffnete nationale Immigrationsmuseum wurde die Anbindung an einen baulichen Erinnerungsort gesucht, der die Geschichte nicht nur konkretisiert hätte, sondern ggf. auch eine museale Einrichtung hätte aufnehmen können. Es ist daher nicht ohne Bedeutung, dass die Stiftung zur Geschichte der Sklaverei nach neuesten Plänen von Emmanuel Macron ihren Sitz im Hôtel de la Marine nehmen könnte, der 2020 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein soll. Im Vereinigten Königreich ließ sich dagegen ein Zusammenfließen der Kräfte von zentralen Akteurinnen und Akteuren beobachten, für welches das französische Fallbeispiel keinen Vergleich bereithält. Der von William Wilberforce personifizierte Abolitionismus wurde verbreitet als Ausdruck christlicher Überzeugungen wahrgenommen und dargestellt. Bei aller Kritik an hergebrachten Perspektiven scheint diese Verbindung auch weiterhin eine gewisse Gültigkeit für sich beanspruchen zu können, und hier unterschied sich die britische Geschichtspolitik merklich von der im laizistischen Frankreich betriebenen. Mit der Church of England betrat ein institutionelles Schwergewicht das Feld der Erinnerung, und an die Seite der christlichen Prägung des abolitionistischen Diskurses trat die aktive Rolle der Kirche im Rahmen des Bicentenary. Durch den offiziellen Gedenkgottesdienst in Westminster Abbey erhielten die britischen Feierlichkeiten eine dezidiert religiöse Färbung. Zusätzlich hervorgehoben wurde diese von einem Walk of Witness durch London, organisiert vom Committee for Minority Ethnic Anglican Concerns (CMEAC). Der Einschlag entsprach zunächst der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat in Großbritannien. Zudem passte die spirituelle Einfärbung des Gedenkens zur Bedeutung der Religion für die Geschichte der britischen Abolitionsbewegung – und für den amtierenden Regierungschef. Tony Blair gilt als der britische Premierminister, der von allen Amtsträgern des 20. Jahrhunderts vielleicht am stärksten von seinem christlichen Glauben geprägt war. 270 Die Church of England stellte einen gut vernetzten und zugleich im engen Sinne des Wortes »nationalen« Akteur dar, der zumindest in keiner offenkundigen Weise an parteipolitischen Grabenkämpfen beteiligt war. Das Engagement unabhängiger Christinnen und Christen gegen den transatlantischen Sklavenhandel war zwar seinerzeit ausgeprägter als das der etablierten Kirche(n); gleichwohl kann der inhaltliche Einschlag als historisch durchaus angemessen betrachtet werden, zumal die Veranstaltungen explizit konfessionsübergreifend gehalten waren. Das Einwirken der anglikanischen Kirche war zwar generell ebenfalls dazu geeignet, einen engen Fokus auf die Abolitionsbewegung und ihre ethischen Beweggründe 269 CPMHE: Avis au Gouvernement, S. 23. 270 Vgl. hierzu auch S. Auffret: Great expectations. Kurz vor Weihnachten 2007, nicht zufällig nach dem Ende seiner Amtszeit, wechselte Blair zum römisch-katholischen Glauben, dem er schon zuvor über seine Ehefrau nahestand.
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zu unterstützen; schließlich konnte die christliche Botschaft auf diesem Wege als eine Botschaft der Befreiung und der Mitmenschlichkeit vermittelt werden. Es verlieh dem Gedenken aber auch einen sakralen Ton, in dem Themen wie Schuld, Bekenntnis, Reue und Vergebung mitschwangen. Diese Haltung mag politisch nicht allgemein willkommen gewesen sein, sie lagerte die emotions- und tendenziell konfliktbesetzten Inhalte aber immerhin in einen anderen, auf einem spirituellen Grundvokabular basierenden Kontext aus. »[P]ositive and celebratory« – das war die Grundstimmung des Jubiläumsjahres 2007, die auch die Pressberichterstattung prägte. »There were, however, some articles that did address issues of complicity and guilt; however, these were largely framed within a religious perspective«.271 Faktisch ergab sich hier eine Art erinnerungskulturelle Arbeitsteilung, die ohne explizite Absprachen auf eine Ergänzung hinauslief. Für eine effektive Anfechtung dieser Konstellation hätte es wohl einer mit französischen Verhältnissen vergleichbaren Mobilisierung bedurft. Die Antwort auf die Frage, wie eine geschichtspolitische Bewegung »von unten« den starken britischen Abolitionsmythos zugunsten alternativer Themenschwerpunkte hätte aushebeln können, erscheint alles andere als einfach. Die britischen Aktivistinnen und Aktivisten stützten sich – ihren internationalen Verbindungen entsprechend stark – auf die Forderung einer offiziellen Entschuldigung sowie auch materieller Reparationen, die in Frankreich vor dem Hintergrund der Verabschiedung der Loi Taubira eine im Vergleich untergeordnete Rolle spielte. Als taktisch klügste Option erscheint diese Fokussierung unter den gegebenen Umständen nicht.
PERSPEKTIVEN DER ERINNERUNG Die Geschichtsdebatten um den transatlantischen Sklavenhandel sind in vielerlei Hinsicht als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses über rassistische Diskriminierung, ihre Ursachen und ihre Folgen zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer ungleich erlebten Gegenwart führte nicht zuletzt zu Missverständnissen in Bezug auf das Verhältnis der kolonialen Sklaverei zu aktuellen Problematiken. So sah Bhikhu Parekh die Notwendigkeit zur Klarstellung: »It cannot be stressed too strongly that all racisms have in common that they arose and developed, and are nowadays maintained in the context of unequal power relations. Slavery was not born of racism […]. Rather, racism was the consequence of slavery.«272 Ein Umgang mit Geschichte, der sich im Hinblick auf die besonderen Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe gestaltete, wurde dabei auf der einen Seite begrüßt. »It’s good to hear about the introduction of study into slavery in the school curriculum and its direct and indirect impact on our economy, culture and psyche«, kommentierte etwa der Verfasser eines Leserbriefes an den Guardian und fuhr mit der Begründung fort: »We may get somewhere in realising the potential of those ›difficult black kids‹.«273 Sie stieß auf der anderen Seite aber auch auf berechtigte Kritik:
271 E. Waterton/R. Wilson: Talking the Talk, S. 290. 272 B. Parekh: Future of Multi-Ethnic Britain, S. 73. 273 Guy Farrar in einem Brief zum Thema »Reasons for black pupils’ underachievement«, in: The Guardian vom 7.9.2008.
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»The problem is that such an approach can ghettoise history and limit its ambit to a woolly empathy. Moreover, it can lead to assumptions as sexist and racist as the ones the progressives wish to overthrow: that women are interested only in ›herstory‹, that anyone with African or Caribbean ancestry will be interested only in black people’s lives.«274
Hier stellte sich also das Problem, von der Forderung der nationalen Anerkennung der Geschichte zu einer Anerkennung der Geschichte als die gesamte Nation betreffend zu gelangen. »En effet, s’il est tout à fait légitime et honorable que des groupes et des individus s’identifient de manière intime à cette histoire, il est important de rappeler qu’elle a si profondément marqué la France et l’Europe, leur modernité, leur droit, leur culture«275 und, so ließe sich hinzufügen, auch internationale Wirtschaftsbeziehungen. Die Spannung, die zwischen nationalen bzw. universellen Ansprüchen der Erinnerung und der besonderen Beziehung eines Teils der postkolonialen Bevölkerung zur Geschichte des Sklavenhandels bestand, war nicht leicht auszutarieren. Dies gilt insbesondere für den französisch-republikanischen Kontext. Mit Blick auf das Jubiläum von 1998 erläuterte der erste Bericht des CPME: »Il s’est ensuivi une opposition toujours actuelle des deux mémoires: mémoire de l’esclavage et mémoire de l’abolition – la première associée aux sociétés issues de l’esclavage, la seconde généralement à la France métropolitaine.«276 Die schrittweise Überwindung dieser Gegensätze musste nach Auffassung des Komitees das oberste Ziel staatlicher Geschichtspolitik sein. »[I]l faut créer l’espace commun où dialoguent ces mémoires en vue d’une synthèse partagée.«277 Zum Abbau der Differenzen sollte die Verbreitung und Verbreiterung von Geschichtskenntnissen beitragen. Denn, so der Bericht weiter, »[l]a faible connaissance de l’histoire a par ailleurs entraîné des phénomènes de mythes compensatoires et, dans certains cas, d’une ›ethnicisation‹ de la mémoire.«278 Der Komplex der Fragen von Präsentation und Repräsentation der Geschichte muss an dieser Stelle um eine weitere ergänzt werden: Wie kann die Sklaverei in einer Weise erinnert werden, die auch »weißen« Menschen eine sinnstiftende persönliche Identifikation ermöglicht, ohne dass sie sich entweder auf einen Platz auf der historischen Anklagebank verwiesen sehen oder aber die unter den gegebenen Umständen mit politischer Bedeutung aufgeladenen Gruppengrenzen verletzen? Das Prinzip der persönlichen Abstammung der »descendants d’esclaves« von den »slave ancestors« sollte nicht buchstabengetreu ausgelegt werden. Dennoch lag die Idee einer in die Sklavenplantagen zurückführenden Linie für Angehörige afrokaribischer Familien sehr nahe. Die Konturen der oft als »afrikanische Diaspora« bezeichneten Bevölkerungsgruppe lassen sich im westlichen Atlantikraum bis heute nachvollziehen und zu einem großen Teil relativ geradlinig auf die Geschichte der Zwangsmigration durch den Sklavenhandel zurückführen. Dies gilt insbesondere für die kleinen Territorien der Karibik mit ihrer besonders intensiven Prägung durch die koloniale 274 Fraser, Rebecca: »Making a present of the past. Children get plenty of exposure to history, but in a haphazard way«, in: The Daily Telegraph vom 13.12.2003. 275 Vergès, Françoise: L’homme prédateur. Ce que nous enseigne l’esclavage sur notre temps, Paris: Albin Michel 2011, S. 83. 276 CPME: Rapport (2005), S. 13. 277 Ebd., S. 23. 278 Ebd., S. 24.
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Sklaverei. In einem übertragenen Sinne »gebar« diese Geschichte damit auch die Nationen der Region sowie die französischen Überseedepartements in ihrer Spezifik, die sich unabhängig von der Sklaverei schlicht nicht denken lässt. Dieser fundamentale Unterschied stellte eine Verständigungshürde im Hinblick auf die Relevanz der historischen Erinnerung dar. »For Britain, slavery is a single, if embarrassing chapter in a long history. For the people of Jamaica, Barbados, Trinidad, Guyana and the other former ›sugar islands‹, slavery was the force that brought their nations into existence and its legacy is everywhere.«279 Das gleiche gilt mittelbar für die afrokaribischen »communities« in Großbritannien und Frankreich in ihrem erinnerungskulturellen Verhältnis zur Nation sowie den Mitbürgerinnen und Mitbürgern. »Trevor Phillips, head of the Commission for Equality and Human Rights, put it pithily when he […] said: ›If it were not for the monstrous crime of transatlantic slavery, Trevor Phillips would not be my name. The furthest back that my family can trace its ancestry is about 150 years.‹«280 Nun dürfte es für die meisten Menschen in Westeuropa, die ihre Herkunft nicht auf besonders elitäre, traditionsbewusste Kreise zurückführen können, ebenfalls schwierig sein, ihre Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg nachzuzeichnen; viele wissen wenig über die eigenen Urgroßeltern. Entsprechende Nachforschungsversuche können mehr oder weniger große Erfolgsaussichten haben und mehr oder weniger unerwartete Erkenntnisse hervorbringen. Das Interesse an ihnen ist nicht in jedem Fall groß, schließlich hält die Nation als eine Art historische Ersatzfamilie ein vorgefertigtes Orientierungsund Identifikationsangebot bereit. Dieses wird auf unterschiedlichen Vermittlungswegen permanent verfügbar gemacht. Die Bedingungen sind damit andere als im Falle der Menschen, die von den aus Afrika in die Plantagen transportierten Sklavinnen und Sklaven abstammen. Zumindest ein Teil ihrer Familiengeschichte bleibt aufgrund der Zwangsmigration unwiederbringlich abgetrennt, die Quellensituation stellt sich auch für die Zeit danach ungünstig dar. Der Mangel an rekonstruierbarer und konstruierter Geschichte lenkt die Aufmerksamkeit auf den Ursprung dieser Situation und weckt in vielen Fällen das Bedürfnis nach einer als authentisch empfundenen, »eigenen« Geschichte, die gemessen am gegenwärtigen Erfahrungshorizont sinnstiftend wirken konnte. Die Selbsteinordnung in eine »weiße« Geschichte wurde dagegen in der Regel nicht bewusst und persönlich, sondern im quasi automatisch erfolgenden Rückgriff auf die epochenübergreifende Makrogeschichte der nationalen Wir-Gruppe vorgenommen. Nationale Gründungsmythen wurden unter diesen Umständen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu einem exklusiven Narrativ an. Denn so unsicher die genaue Herkunft im Einzelfall auch sein mag, die schlichte Anbindung an eine Idee, wie sie etwa in Frankreich mit der Formel »Nos ancêtres les Gaulois« verbunden wird, stößt im postkolonialen Rahmen rasch an die Grenzen ihrer Überzeugungskraft. 281 Vor dem 279 Olusoga, David: »Why has a memorial to slaves quietly been dropped? For 13 years, Memorial 2007 has been raising money for the project in Hyde Park rose gardens, but the government has refused to help«, in: The Guardian vom 4.10.2015. 280 Zit. n. Woods, Richard/Booth, Robert: »Forgive but don’t forget«, in: The Sunday Times vom 18.3.2007. 281 Kritisch zur Konstruktion des Mythos der gallischen Vorfahren vgl. Citron, Suzanne: Le mythe national. L’histoire de France en question, Paris: Éditions de l’Atelier 1987.
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speziellen Hintergrund der britischen Geschichte zeigte sich Tony Blair bemüht, das Image der »nation of nations« auf zeitgemäße Weise zu aktualisieren. Die Ursprünge projizierte er dabei zwar ebenfalls weit in die Geschichte zurück, darüber hinaus betonte er aber vor allem eine Konstruktion in chronologischen Etappen. Mehrere Wellen der Invasion und Einwanderung führten die britischen Inseln in einer scheinbar gleichmäßigen Entwicklung bis ins postkoloniale Zeitalter: »Blood alone does not define our national identity. How can we separate out the Celtic, the Roman, the Saxon, the Norman, the Huguenot, the Jewish, the Asian and the Caribbean and all the other nations that have come and settled here? Why should we want to? It is precisely this rich mix that has made all of us what we are today.«282 Den höchst unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Immigrations- und Besiedlungsphasen schenkt die hier präsentierte Hybridität (zu) wenig Beachtung. Auf Ablehnung stieß ein solches Nationsverständnis bei einem Publikum, das Bestätigung in der ideologischen Eindeutigkeit rechtsnationalistischer, xenophober Agenden suchte. Darüber hinaus schienen aber auch Akzeptanzgrenzen anderer Art auf: Im Namenswechsel eines Kwame Kwei-Armah etwa drückt sich nicht nur die Identifikation mit den Opfern einer vehement verurteilten historischen Unterdrückung aus, es handelt sich hierbei auch um ein Zeichen der bewussten Desidentifikation. Der Autor unterstrich mit dem Schritt seine als Befreiung betrachtete Distanzierung von einer kulturellen Traditionslinie, die er angesichts der Gewaltförmigkeit des ursprünglichen Kontakts und ihrer diskursiven Fortsetzung in rassistischem Gedankengut für sich als »falsch« empfand.283 Hieran anknüpfend lassen sich weitere zentrale Bruchlinien in den Geschichtsdebatten ausmachen, an denen sich zentrale Spannungen konzentrierten, die das historische und kulturelle, aber auch das politische Konstrukt der »Nation« inzwischen umgeben. Auf der einen Seite stand ein erinnerungskulturelles Verständnis von Geschichte, das sich auf die eher abstrakt konstruierte nationale Gemeinschaft bezog; die hierin enthaltene ethnische Komponente wurde dabei oft unterschätzt oder als solche gar nicht wahrgenommen. Auf der anderen Seite kam ein historisches Identifikationsmuster zum Tragen, das auf der Selbstzuordnung zu einer in diesem Kontext minoritären und systematisch marginalisierten Abstammungsgruppe basierte. Der Ursprungsidee des Begriffes »natio«, der sich vom lateinischen Wort für »geboren werden« ableitet, steht dieses Muster streng genommen näher. In gewisser Weise deuten sich hier auch die Strukturen eines »Erinnerungsmilieus« nach Halbwachs bzw. Nora an, dessen Bedeutung in westeuropäischen Staaten wie Frankreich und Großbritannien von institutionalisierten Formen der historischen Erinnerung abgelöst oder zumindest stark überlagert worden sein sollte. Die beiden Grundformen der kollektiven Erinnerung mussten sich nicht gegenseitig ausschließen, wie sich etwa an der insbesondere in Frankreich oft expliziten Forderung nach einem Platz für die »descendants d’esclaves« innerhalb der »mémoire nationale« zeigte. Der situativ willkürliche Umgang mit den geschichtspolitisch schlecht aufeinander abgestimmten Registern war allerdings konfliktträchtig. Die Geschichtsdebatten nahmen dabei bisweilen die Form eines 282 T. Blair: Britain speech. 283 Vgl. Kwei-Armah, Kwame: »From Ian to Kwame. Why slavery made me change my name: Leading actor and playwright Kwame Kwei-Armah tells how he reclaimed his own identity – and why the 200th anniversary of the abolition law is so important«, in: The Observer vom 25.3.2007.
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»dialogue de sourds« an, in der die Diskutierenden nicht den Eindruck erweckten, sich mit dem unterschiedlichen Aufbau ihrer Argumente auseinandersetzen zu wollen. Gründungsmythen dienen nicht zuletzt dazu, den eigentlichen Mangel der zu begründenden Gemeinschaft an gemeinsamen genealogischen Ursprüngen und geteilter sozialer Bestimmung zu kaschieren, wenn nicht mittelfristig auf ideologischem Wege aufzulösen. Seine Wirkung in den Köpfen der Bürger/-innen moderner Nationalstaaten hat der Ansatz zumindest nicht gänzlich verfehlt: Viele der an den Geschichtsdebatten Beteiligten begriffen sich folglich als »britisch« oder »französisch«, und das hiermit verbundene vorkonstruierte Identifikationsangebot auf kollektiver Basis blieb nicht selten unhinterfragt. Dies trat nicht zuletzt anhand von Definitionen der jeweils »eigenen« Geschichte hervor. Deren Fundament wurde intellektuell nicht unbedingt explizit gemacht – getreu der von dem neokonservativen Historiker Andrew Roberts ausgegebenen Devise: »We [sic] know in our hearts what Britain means«.284 Die unübersichtliche politisch-ethnische Gemengelage, welche die Debatten um die Sklaverei auszeichneten, lässt sich daher auch an Aussagen britischer und französischer Politiker/ -innen ablesen, die sich selbst, ihr Amt und ihre Mitmenschen in historischen WirGruppen verorteten. Die oft zitierte Ansicht von Tony Blair etwa – »It is only right we recognise the active role Britain played in the slave trade«285 – macht in dieser Hinsicht zunächst eine eher verhaltene Andeutung. Die Position wird allerdings klarer, wenn man einen weiteren Satz aus dem für die New Nation verfassten Artikel hinzuzieht: »We need to respond to the problems of Africa and the challenges facing the African and Caribbean diaspora today.«286 Das Subjekt, an dessen Handlungseinsatz hier appelliert wird, gehört nicht zur afrikanischen oder afrokaribischen Diaspora, und das bedeutet nicht zuletzt: »wir« sind nicht »schwarz«. Die besagten Herausforderungen sind, auch wenn sie im Sinne der Betroffenen konfrontiert werden sollen, nicht eigentlich »unsere«.287 Ob Blair hier für sich und seine Überzeugungen oder vor allem im Sinne der seinem Publikum unterstellten Erwartungen spricht, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls werden die besonderen Kollektivbeziehungen zu bestimmten Strängen der Geschichte und bestimmten Teilen der aus ihr hervorgegangenen Gegenwart im Artikel vorausgesetzt; die historische Nation erscheint wie ein altes und sich selbst dabei selbstverständliches »Wir«. Als Stellvertreter des Premierministers erkannte John Prescott an: »[S]lavery did not end when we passed that legislation in 1807.«288 Möglicherweise posierte der Minister hier als Mitglied einer politisch traditionsbewussten britischen Staatsführung. 284 Roberts, Andrew: »We know in our hearts what Britain means«, in: The Daily Telegraph vom 15.10.2000. Nicht nur die Überschrift spricht Bände über die starke affektive Komponente von Nationalismus: Sätze wie »No two people feel exactly the same about Britishness, but most of us know what we mean by it« zeigen, dass intersubjektiv nachvollziehbare Argumente in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle spielen müssen. 285 Blair, Tony: »The shame of slavery«, in: New Nation vom 27.11.2006. 286 Ebd. 287 Hier klingt eine verbreitete Haltung an, die sich, oft mit bestem Willen, gegen rassistische Denkmuster positioniert, rassistische Diskriminierung dabei aber nicht als ein gesamtgesellschaftliches Problem, sondern lediglich als persönlichen Angriff auf die direkten Opfer begreift. 288 HMG: Bicentenary, S. 29.
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Mit größerer Wahrscheinlichkeit stand hinter dem agierenden »Wir« allerdings die Nation an sich, eine historische Gemeinschaft gebürtiger Britinnen und Briten, zu der die auf der anderen Seite des Atlantiks versklavten Menschen nicht gehörten – weshalb die Position ihrer Nachfahren in diesem Rahmen zum Gegenstand der kollektiven Aushandlung geworden ist. Wie rasch die pauschale Selbstidentifikation mit dem Narrativ der Nationalgeschichte dabei klare Exklusionsmechanismen hervorrufen konnte, belegen einige der negativen Reaktionen auf den Parekh-Bericht, die insbesondere von politisch konservativer Seite geäußert wurden. Gerald Howarth, Parlamentsabgeordneter und innenpolitischer Experte der Tory-Partei, zeigte sich empört über die Studie, die angesichts der jüngeren Entwicklung des Einwanderungslandes Großbritannien eine Revision der Nationalgeschichte empfahl: »It is an extraordinary affront to the 94 per cent of the population which is not from ethnic minorities. The native British must stand up for ourselves.«289 Der Daily Telegraph titelte in diesem Zusammenhang »Straw wants to rewrite our history«, und als Kommentator bezog Andrew Roberts explizit Stellung gegen die Regierung, der er eine nationale Identitätskrise unterstellte: »The rest of us simply know what Britishness is. […] The irrational, inherited ancient Britain is a far more real entity than any invented ›Cool‹ construct that New Labour might try to impose.«290 Den Reflexionen des insgesamt über 300 Seiten umfassenden Berichts zur »Zukunft des multiethnischen Großbritanniens« stellte Roberts ein sehr einfaches Geschichtsbild gegenüber: »Although the country only became the United Kingdom officially in 1801, England, Scotland and Wales were united under the same crown when James VI of Scotland also became James I of England in 1603. Since then we have had nearly four centuries of generally very successful political development, and one century, between 1815 and 1914, of untarnishable world-dominating glory.«291
Die ruhmreiche, allen Britinnen und Briten gemeinsame Geschichte umfasste dabei nicht nur kriegerische Auseinandersetzungen mit nach Hegemonie strebenden europäischen Mächten, sondern auch ein starkes imperiales Moment: »In the past two centuries alone the Union flag has flown over Napoleon’s Paris and Hitler’s Berlin (and even Washington DC). It has flown from Everest’s summit, from the Royal Navy ships that ended the slave trade, and over the parliament that brought representative government to the rest of the world.«292 Die als die eigene betrachtete Geschichte ist also auch die des Marineeinsatzes gegen den transatlantischen Sklavenhandel – die wesentlich längere der kolonialen Sklaverei dagegen dem Anschein nach nicht. In Frankreich verboten das kommunikationspolitische Debakel von 1998 und die Nationalität der Überseegebiete ähnlich simple historische Standortbestimmungen. Daraus lässt sich nicht unbedingt auf ein grundsätzlich anderes, stärker postkolonial 289 Zit. n. Johnston, Philip: »Straw wants to rewrite our history«, in: The Daily Telegraph vom 10.10.2000. 290 Roberts, Andrew: »We know in our hearts what Britain means«, in: The Daily Telegraph vom 15.10.2000. 291 Ebd. 292 Ebd.
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und postnational reflektiertes Geschichtsbild schließen. Die Wortwahl konnte im Einzelfall auch taktisch begründet sein und resultierte im Übrigen aus den Anforderungen des politischen Diskurses der »einen und unteilbaren Republik«. Auffällig waren die intensiven Beschwörungen nicht nur der Einigkeit, sondern einer nationalen Einheit in eben diesem republikanischen Sinn. So begann Jacques Chirac seine offizielle Rede zur Journée des mémoires am 10. Mai 2006 mit den Worten: »Cette première journée à la mémoire [sic] de l’esclavage et de ses abolitions constitue une étape très importante pour notre pays. D’autant plus importante que, depuis toujours, l’Outre-Mer a partie liée avec la République et participe à la nature même de notre identité française.« Und er schloss sie mit dem nationalistischen Fazit: »C’est l’affirmation nécessaire d’une mémoire de l’esclavage partagée par tous les Français. Quelle que soit notre origine, nous sommes tous réunis par une identité majeure: l’amour de la France, la fierté de vivre ici, le sentiment de la communauté nationale, le respect des lois de la République.«293 Wie diese »geteilte« Erinnerung jenseits des gut gemeinten Appells in der Praxis aussehen könnte, blieb jedoch eine weitgehend offene Frage – erst recht, wenn ein Teil der Bevölkerung aufgrund von Marginalisierungserfahrungen am »Gefühl der nationalen Gemeinschaft« nur eingeschränkt teilhaben konnte. Eine ähnlich pauschal argumentierte Mischung aus historischer Nivellierung und politischem Wunschdenken tritt aus dem ersten Redetext hervor, den Nicolas Sarkozy als Präsident zum besagten Anlass im Jardin du Luxembourg vortrug. »La période coloniale et l’abolition de l’esclavage sont souvent vécues comme des histoires extérieures, j’allais dire périphériques. Elles font pourtant intrinsèquement partie de l’histoire de France. […] De cette histoire sont nées des cultures, des cultures au pluriel, qui font partie de notre culture commune, au singulier. Et parce que les Français l’auront comprise, cette histoire, alors, elle deviendra notre histoire commune. L’histoire de tous les Français, pas simplement l’histoire d’une partie d’entre eux.«294
Dieser Aufruf wiederum stand im direkten Widerspruch zu der immer noch verbreiteten Ansicht, dass es sich bei der Sklaverei um ein Kapitel der Vergangenheit handelt, das in Großbritannien als »Black History« bezeichnet würde und von einigen geschichtspolitischen Akteurinnen und Akteuren mit einem spezifischen Anspruch belegt wurde. In Redepassagen wie den zitierten spiegelt sich auf der einen Seite die demonstrative Offenheit für einen neuen Pluralismus, auf der anderen Seite das politisch motivierte Festhalten an »der« nationalen Geschichte und Kultur (im Singular). Mit Blick auf das historische Vermächtnis des Sklavenhandels konnte diese Pose unter den gegebenen Umständen nur bedingt überzeugen, auch deshalb, weil sie für viele Französinnen und Franzosen in dieser Form inakzeptabel war. Zwar hatten unterschiedliche ethnische und soziale Gruppen des historischen Frankreichs Anteil an der Geschichte der Sklaverei – dieser war allerdings von so fundamental unterschiedlicher Art, dass eine im eigentlichen Sinne gemeinsame Geschichte geradezu undenkbar erscheinen konnte. Das Versklavtsein selbst war eben doch nicht mehr und nicht weniger
293 J. Chirac: Déclaration, 10.5.2006. 294 N. Sarkozy: Déclaration, 10.5.2008.
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als »l’histoire d’une partie d’entre eux« – genauso wie das Betroffensein von rassistischer Diskriminierung, das oft als zentrale Folge der Geschichte betrachtet wurde, keine national gemeinschaftliche Erfahrung darstellt. Auch wenn der Begriff vereinzelt fiel, spielte die Beziehung zu den »Vorfahren« jenseits der Bevölkerungsteile, die ihre Familiengeschichte auf die transatlantische Zwangsmigration zurückführten, eine weniger prominente und vor allem in sich anders angelegte Rolle. Denn die Geschichtsdebatten wandten sich nur selten historischen Verantwortlichkeiten in einem konkreteren, fein kalibrierten Rahmen zu. Ausnahmefälle traten vor allem dann auf, wenn historische Fakten mit einer lokal oder national berühmten Persönlichkeit in Verbindung gebracht werden konnten. Dies gilt etwa für Bristols in Verruf geratenen Lokalhelden Edward Colston (1636-1721), der sich als spendabler kommunaler Wohltäter ebenso wie als Sklavenhändler betätigt hatte, und an den heute unter anderem die nach ihm benannte Konzerthalle im Stadtzentrum erinnert.295 Aufmerksamkeit erregten auch die Nachforschungen des University College London, die belegten, welche einflussreichen Familien in Großbritannien von den im Zuge der Sklavenemanzipation ausgezahlten Entschädigungen profitiert hatten – unter anderem die von David Cameron und die seiner Ehefrau. 296 Tatsächlich waren die meisten Einwohner/-innen der beiden Untersuchungsländer im 18. und 19. Jahrhundert aber nicht selbst in das Geschäft des Sklavenhandels involviert und besaßen keine mit Sklavenarbeit bewirtschafteten Plantagen. Umso ferner liegt die Geschichte ihren heute lebenden Nachfahren. Das Räsonnement, das auf der einen Seite der Debatte als Mittel zur Unterstreichung von persönlicher und politischer Relevanz der Erinnerung zum Einsatz kam, wurde auf der anderen Seite allenfalls in diametral entgegengesetzter Absicht angewandt. Auf diese Weise mischte sich auch der für seine provokativen Stellungnahmen bekannte BBC-Moderator Jeremy Paxman in die laufende Diskussion ein. »Why, demanded Jeremy Paxman recently, should he feel ›guilty‹ about the slave trade, given that he wasn’t alive then and that his ›ancestors were peasants‹?«297 Für Pierre de Bethmann aus Nantes, der zu den Franzosen gehört, die ihre Familiengeschichte in direkte Verbindung zum Sklavenhandel setzen konnten, greift dieses Argument zu kurz. »Si vous comptez trois enfants en moyenne par génération, une personne de l’époque donne environ 20 000 descendants près de 300 ans plus tard. Et si vous multipliez ce résultat par le nombre d’acteurs directement ou indirectement concernés au XVIIIe
295 Die Worte, die den Sockel des 1895 zu Colstons Ehren errichteten Standbilds zieren, ergänzte eine unbekannte Person gut hundert Jahre später mit dem handgeschriebenen Hinweis »slave trader«. Vgl. Gibbs, Geoffrey: »Slavery tars city’s ›wise son‹. Bristol is being reminded of its role in an evil trade«, in: The Guardian vom 7.2.1998. 296 Vgl. Hall, Catherine: »Britain’s debt to slavery. Today the records that show how much the trade in humans benefited the UK will be made public«, in: The Guardian vom 27.2.2013; Jones, Sam: »Follow the money. Investigators trace forgotten story of Britain’s slave trade«, in: The Guardian vom 27.8.2013. 297 Ebd.
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siècle, bien peu de gens peuvent s’estimer hors du champ de la réflexion aujourd’hui.«298 Auch aus Leserbriefen trat allerdings immer wieder die Perspektive hervor, die einen Schnitt zwischen die »eigene« Geschichte und die Geschichte der Sklavenhandelsnation setzte. Diejenigen, die vor allem Aufmerksamkeit auf eine aktuelle Konfliktkonstellation lenken und eine historische Tiefendimension derselben vermitteln wollten, konnte diese Position nicht überzeugen: »[T]here’s a lot of cynical people out there […], for example, those that state ›My grandfather had nothing to do with slavery‹. If you understand white privilege and race and ethnicity, if you have a white skin and you look white, then you’ve got a better life chance than people of colour. That’s the social reality of our world.«299
Oder, wie Trevor Phillips es kurz und treffend ausdrückte: »None of us here dug the well, but we still drink from it each day.«300 Dass ein Verständnis für die Bedeutung von »white privilege« nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte, belegt unter anderem ein Brief an den Daily Telegraph. Der Auszug ist besonders deshalb interessant, weil die Folgen der erwähnten Vermischung unterschiedlicher Argumentationsregister an diesem Beispiel sehr auffallend hervortreten. »We in Britain whose ancestors were not involved with the slave trade – probably the majority – can hold our heads high in the knowledge that a past British government and the efforts of the Royal Navy took a stand for the first time in history against slavery and stopped the abominable sea trade«, resümierte der Zeitungsleser seinen Standpunkt. 301 Die Auseinandersetzung mit der historischen Verantwortung und den langfristigen Folgen der Geschichte wird durch den Verweis auf die angenommene Unschuld der Vorfahren abgelehnt. Über einen allgemein relativierenden Einschub hinaus, der ebenfalls auf die soziale Untereinheit der Familie beschränkt bleibt – »several individual family fortunes were made from the evil of the slave trade« –, wird dieser Aspekt nicht weiter vertieft. Die positive Leistung der nationalstaatlichen Institutionen wird dagegen als Quelle des kollektiven Stolzes für alle Britinnen und Briten reklamiert, ohne die Frage nach der konkreten Rolle der Vorfahren oder der Bevölkerungsmehrheit noch einmal zu stellen. Genau diese selektive Haltung kritisierte Toyin Agbetu in einem seiner Online-Beiträge; der qualitativen Differenz zwischen den Registern geschichtspolitischer Ordnung schenkte er dabei aber ebenfalls keine Beachtung: »Many europeans willingly accept their inheritance of ›white‹ privilege which propagates racist anti-African ideology and maintains the socio-political inequality that oppresses Africans and 298 Zit. n. Darfay, Catherine: »Esclavage, le longue travail des mémoires«, in: Sud-Ouest (Bordeaux) vom 4.5.2016, verfügbar auch unter http://www.memoiresetpartages.com/2016/05/ 05/1977. 299 M. Christian: Age of Slave Apologies. 300 Phillips, Trevor: Understanding the Lessons of the Killing of Anthony Walker, 61. Vortrag im Rahmen der Roscoe Lecture Series der John-Moores-Universität Liverpool, 17.1.2007, http://itunesu.ljmu.ac.uk/roscoe/trevor_phillips.mp3. 301 Leserbrief von Alec Ryder zum Thema »Proud British stand against slave trade«, in: The Daily Telegraph vom 21.10.2006.
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other non european groups across the world. Hypocritically, whilst they personally accept the benefits of their slaver ancestors [sic] they simultaneously refuse to take responsibility of their slavers misdeeds.«302
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Konstruktion von Kontinuität: Welche Teile der Geschichte sollen für das chronologisch aufgebaute Verlaufsnarrativ der historischen Erinnerung relevant sein? Welche Teile werden nachgeordnet, um Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden? In Aussagen zur Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel finden sich sehr unterschiedliche Positionierungen zum historischen Fortschritt. Den klassischen Emanzipationsnarrativen verleiht diese Idee ihren eigentlichen Sinn, in einer auf das Fortbestehen von Rassismus ausgerichteten Deutung spielt sie dagegen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Eine sehr viel größere Relevanz kommt im zweiten Fall der Einordnung in den größeren Rahmen einer kolonialen und postkolonialen Geschichte zu, die im Angesicht der verbreiteten Feierstimmung des Bicentenary auch einen gewissen Sarkasmus hervorrufen konnte: »Having used it to justify the slave trade, Europeans moved on in the 19th century to employ racism to defend imperialism. The joys of progress, huh.«303 Mit deutlichen Worten beschrieb der Soziologe Stephen Small als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des ISM die erinnerungskulturelle Kluft: »To most white people, slavery and colonialism are just a part of a distant memory of nothing in particular. […] To black people, though, slavery and colonialism reiterate themselves in our everyday lives, and evoke poignant and immediate memories of suffering, brutalisation and terror. For black people, Western nations [sic] […] have discriminated against black people ever since, and are unrepentant about any of it.«304
In der wiederum erkennbaren Gleichbehandlung von auf sehr unterschiedliche Weise konstruierten Wir-Gruppen trifft sich eine vordergründig genetische Abstammungslinie mit einer folgenreichen politischen Kontinuität. Es kann nicht überraschen, dass auch Toyin Agbetu in der britischen Abolitions- und Emanzipationsgesetzgebung keinen entscheidenden historischen Wendepunkt erkennen konnte. Aus seiner Sicht dauerte der von ihm und anderen als »Maafa« bezeichnete Prozess weiterhin an: »[T]he death, destruction and violent rape of African culture, resources and people in the name of enslavement, apartheid, colonialism and neocolonialism remain an ongoing holocaust faced by millions of African people worldwide«.305 Am anderen Ende des Deutungsspektrums stand eine vereinfachende Fortschrittsgläubigkeit, die von der Annahme eines radikalen historischen Bruchs ausging. Diese legte bezeichnenderweise Gérard Larcher an den Tag, der an der Koordination der 302 Ligali Organisation: Addressing Maafa denial and slavery apologists – Part 3, 28.12.2006, http://www.ligali.org/article.php?id=600, Schreibfehler im Original. 303 McLeane, Gareth: »Watch this«, in: The Guardian vom 28.3.2007 (Kommentar zur BBCProduktion »Racism. A History«). 304 Small, Stephen: »The General Legacy of the Atlantic Slave Trade«, in: Anthony Tibbles (Hg.), Transatlantic Slavery. Against Human Dignity, Liverpool: Liverpool University Press ²2005 [1994], S. 119-124, hier S. 120. 305 Ebd., S. 119.
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französischen Gedenkfeierlichkeiten von 1998 führend beteiligt war. Mit großem Pathos verkündete er zu diesem Anlass im Senat: »Ils étaient des esclaves, ils deviennent libres. Ils étaient sans droits, ils deviennent juridiquement égaux à leurs maîtres.«306 Der Verweis auf die »juristische« Gleichheit belegt, dass auch dem konservativen Politiker bewusst war, dass die historischen Verhältnisse tatsächlich komplexer waren. Dennoch kam er in der historischen Bilanz zu dem eindeutigen Schluss: »[L]e 27 avril 1848 est une date majeure dans l’histoire de notre pays tant il est rare qu’un acte politique apporte la preuve qu’entre les mains du législateur le droit est une arme qui affranchit, qui garantit, qui protège. 1848 symbolise une victoire éclatante«.307 Diese Sorglosigkeit im Umgang mit der Geschichte fand sich nicht bei allen Senatorinnen und Senatoren, die an der Debatte teilnahmen, auch wenn das Abolitionsdekret sehr umfassend gewürdigt wurde. Die Ausführungen von Jean-Jack Queyranne, Staatssekretär für die Belange der Überseegebiete und Mitglied des PS, wirkten dabei wie eine direkt an die Beschwörung des Triumphs anknüpfende Ergänzung zu Larchers Ansprache: »Rappelons-nous aussi que l’accession des esclaves à la citoyenneté, le fait donc que les anciens esclaves et les maîtres deviennent égaux en droits, ne signifie pas pour autant que cette égalité soit réalisée dans les faits. [...] Un siècle et demi après l’abolition, force est de reconnaître que se sont perpétuées certaines des formes anciennes de la domination. Aujourd’hui encore, la couleur de la peau reste, outre-mer comme ici, un indice, voire un facteur, de la position de l’individu dans l’échelle sociale.«308
Auch der Fortbestand, wenn nicht die erneute Ausbreitung ausbeutender Arbeitsverhältnisse konnte zu einem Argument werden, das den erinnerungskulturellen Überschwang dämpfte. Die erinnerungskulturellen Folgen der jeweiligen Standpunkte sind weitreichend: Die Erinnerung an die Sklaverei als Mittel zur Austreibung eines sehr gegenwärtigen Spuks erscheint wesentlich dringlicher als der kontemplative Rückblick auf eine im eigentlichen Sinne vergangene Geschichte, die schließlich ein gutes Ende nahm. Im ersten Fall folgt der Umgang mit der Vergangenheit einem unmittelbaren Zweck, namentlich der Dekonstruktion eines historischen Überlegenheitsmythos, der auch aktuelle Ausdrucksformen von Rassismus kaschiert oder aktiv unterstützt. »Seule [l’]étude scientifique peut chasser […] ces mythes qui contribuent justement à faire de l’abolition une avancée humaine renforçant la bonne conscience occidentale, comme si la page de l’hégémonie était définitivement tournée«, schrieb Olivier Barlet für das französische Magazin Africultures.309 Aber auch geschichtspolitische Initiativen erhielten, einmal in diesen Zusammenhang gesetzt, eine über ihre vergangenheitsbezogene Symbolik hinausgreifende Bedeutung. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf Forderungen 306 307 308 309
Gérard Larcher, Senatsdebatte »Hommage solonnel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. Ebd. Jean-Jacques Queyranne, ebd. Olivier Barlet zit. n. G. Faes/S. Smith: Noir et français, S. 119. Der Kommentar stammt aus dem damals noch jungen Magazin der Assoziation Africultures. Die Redaktion definiert sich zwar in ihrer Selbstdarstellung nicht explizit als panafrikanisch, sie setzt sich aber intensiv für einen Austausch zwischen Afrika und der afrikanischen Diaspora ein.
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nach offiziellen Gesten, die auf die eine oder andere Weise als Wiedergutmachung verstanden werden konnten. Dass Tony Blair auf solche Erwartungen zumindest reagierte, war für einige Britinnen und Briten allerdings so unverständlich wie überflüssig. Sie teilten die Meinung eines Zeitungslesers, der an die Redaktion des Daily Telegraph schrieb: »An intelligent government should resolve today’s problems before wasting meaningless words on historical actions taken under very different circumstances.«310 Der Sinn für Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die dazu führten, dass manche Menschen die von der Geschichte geschaffenen Probleme als bis heute ungelöst und dringend behandlungsbedürftig wahrnahmen, fehlt in der zitierten Zuschrift völlig. Die historische Erinnerung geht in diesem Fall primär von einem Bruch mit der Vergangenheit und einer qualitativen Weiterentwicklung sowie einer entsprechenden persönlichen Nicht-Betroffenheit aus. Der Rückblick von einer Gegenwart, die als von Rassismus geprägt und dadurch als fundamental ungerecht und oft leidvoll empfunden wurde, warf dagegen vielmehr die Frage auf: »[W]hy is slavery so often discussed as something disconnected from the present?«311 In verlängerter Perspektive betrifft dies wiederum auch die Reparationsdiskussion. Lord Chesham hielt angesichts der historischen Langzeitentwicklung die Entscheidung über Geber und Empfänger von entsprechenden Leistungen für komplex und daher problematisch. Er ging aber noch einen Schritt weiter, indem er die Legitimationsbasis der Entschädigungsforderungen an sich negierte: »The case for reparations for slavery rests on the premise that the effects of slavery are still being felt on Africans now living in Africa and the Diaspora. There is no evidence of that.«312 Dass die Gestalterinnen und Gestalter des offiziellen Gedenkens nicht unbedingt die Absicht hatten, eine diesbezüglich unzweideutige Position zu beziehen, lässt sich aus einer Broschüre herauslesen, die das DCMS unter Labour-Minister David Lammy zur inhaltlichen Vorbereitung des Bicentenary 2007 drucken ließ. Bezüglich der Nachwirkungen des Sklavenhandels wird mit großer Zurückhaltung formuliert: »[T]here is a strong view held by many people that the repercussions of the slave trade and slavery resonate down through the centuries – in Africa, the United States, the Caribbean and South America and here in the United Kingdom. It is argued that some of those aftereffects include racism, poverty and conflict in Africa and the Caribbean, inequality, and complex cultural legacies.«313
Von einer Übernahme der zitierten Sichtweise kann keine Rede sein. An dieser Stelle stoßen sowohl die Perspektive der identitären Abgrenzung als auch die der geschichtspolitischen Offenheit für die parallele bzw. dialogische Existenz unterschiedlicher Vergangenheitsbilder an ihre jeweils eigenen Grenzen. Denn um dem öffentlichen Gedenken eine gemeinsam geteilte Bedeutung zu verleihen, muss in Bezug auf diesen 310 Leserbrief von Colin Kempson zum Thema »Britain should not apologise for slave trade 200 years ago«, in: The Daily Telegraph vom 23.9.2006. 311 Kuratorin Zoé Whitley zit. n. Pitman, Joanna: »It’s still a buyers’ market«, in: The Times vom 21.2.2007. 312 Lord Chesham, House of Lords, 14.3.1996, C. 1057. 313 DCMS: Reflecting on the past, S. 7.
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kritischen Punkt ein gewisses Mindestmaß an Einigkeit bestehen. Eine Verständigung über die Geschichte ist andernfalls schon deshalb nicht möglich, weil eine konsensfähige Deutung der Gegenwart als Grundvoraussetzung fehlt. Den Ausschlag für die Deutung der Geschichte gab also die rückblickend vom eigenen Standpunkt aus gezogene Bilanz. Und schließlich hing die Interpretation der Geschichte eben auch davon ab, welche Position eine Person in der bestehenden Ordnung einnahm und wie sehr sie sich mit den herrschenden Verhältnissen positiv identifizieren konnte. Dies gilt auch für Zusammenhänge, in denen die Einordnung in die Nation nicht im Mittelpunkt stand. Interpretationen, die den Unterschied zwischen Freiheit in der Gegenwart und Sklaverei in der Vergangenheit betonten, blendeten oft aus, wie viele Menschen sich auch heutzutage in verschiedenen Lebens- und Arbeitsverhältnissen als Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung fühlen. Durch neue Formen der Mobilität von Personen und Kapital sind auch Formen der Prekarisierung und der Abhängigkeit auf neue Weise flexibel geworden. Menschen mit einem »afrikanischen« Erscheinungsbild sind in ganz unterschiedlichen Kontexten und Ausmaßen, jedoch im nationalen wie internationalen Vergleich insgesamt besonders häufig und stark von dieser Entwicklung betroffen. Bei der postkolonialen Geschichte als Fortschrittsgeschichte handelt es sich folglich um die Universalisierung einer bestimmten, privilegierten Erfahrung, die aber mit dem vorläufigen Endpunkt der relevanten Menschheitsgeschichte als solcher gleichgesetzt wird. Andere Geschichten stellen nicht mehr und nicht weniger als historische »Kollateralschäden« einer insgesamt schließlich doch positiven Entwicklung dar. Der Ansatz fand sich nicht nur in den Arbeiten von Niall Ferguson, der das britische Empire summa summarum folgendermaßen in die Weltgeschichte einordnete: »[N]o organisation in history has done more to promote the free movement of goods, capital and labour than the British Empire in the 19th and early 20th centuries. And no organisation has done more to impose Western norms of law, order and governance around the world. […] Prima facie, there therefore seems a plausible case that empire enhanced global welfare – in other words, was a Good Thing.«314
Der Preis, den einige Menschen für den gestiegenen Wohlstand zahlten, fällt hier ebenso aus dem Blick wie die Möglichkeit, dass ein materiell gleichwertiges oder besseres »Ergebnis« auf anderen, in moralischer Hinsicht überlegenen Wegen hätte erreicht werden können. So argumentiert etwa Daniel Butt: »[M]odern-day communities should ask themselves whether they are better off, and others are worse off, than they would have been had the historic productive interaction between them been consensual and cooperative in character.«315 Dass Butt sich auf der Basis dieser kontrafaktischen Überlegungen für die Leistung von Reparationen ausspricht, mag ein Grund dafür sein, dass diese Richtung des Denkens seltener eingeschlagen wurde als der Weg der historischen Bilanzziehung in Wirtschaftszahlen. Für den Guardian schrieb der New Labour nahe stehende Journalist Martin Kettle: »The story of empire is not one of unalloyed shame. […] [T]hese ancestors of ours [sic] initiated a historical process which
314 N. Ferguson: Empire, S. XX. 315 D. Butt: Repairing Historical Wrongs and the End of Empire, S. 239.
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has been to the net benefit of humankind rather than to its net loss.«316 Schon das quantifizierende Vokabular deutet einen bestimmten Blickwinkel an. Der Nutzen des materiellen Wohlstandswachstums, auf das Kettle anspielt, ist allerdings ungleich verteilt. Die Entwicklung drängte und drängt rund um den Globus einen Teil der Weltbevölkerung an den Rand der Aufwärtsentwicklung oder schließt sie hiervon gar völlig aus – und das obwohl ihre Arbeitskraft zugleich in den Dienst der entsprechenden Warenproduktion und Profitgenerierung gestellt wird. Die unausgesprochene historische Perspektivität, die Kettles Artikel bestimmt, adressierte die Literaturwissenschaftlerin Priyamvada Gopal in einem Kommentar. Die Auffassung, dass, »shameful horrors aside«, die Gesamtbilanz des mit Sklaverei und Genozid einhergehenden Kolonialismus eine für die Menschheit positive sei, bezeichnete sie als Geschichtsklitterung – »[u]nless, of course, one defines humankind as essentially European.«317 Die Grenzen zwischen einer rein historischen Argumentation und einer Anklage bzw. Rechtfertigung aktueller Muster der Macht- und Wohlstandsverteilung werden in diesem Zusammenhang leicht durchlässig. Eine im positiven Sinne offene erinnerungskulturelle Auseinandersetzung stieß vor allem dann auf Grenzen, wenn es nicht nur um die Missbilligung rassistischer Diskriminierung und sozialer Benachteiligung – damals wie heute – gehen sollte. Als besonders problematisch stellte sich die Thematisierung der anderen Seite der Medaille dar: ein ererbtes, im historischen Unrecht der Sklaverei wurzelndes Kollektivprivileg. Dies ließ sich bereits an der Polarisierung der Meinungen ablesen, die seinerzeit von den Thesen ausgelöst wurden, die Eric Williams und Walter Rodney in vertraten. Der materielle Fortschritt in der Neuzeit wurde hier kausal an die systematische Ausbeutung von afrikanischen Menschen und Ressourcen geknüpft. »William’s analysis challenges not only particularly but also generally those who assume or advocate that the history of capitalist development demonstrates its universal and positive character.«318 In der alternativen Deutung ist die Unterdrückung nicht bloß der bedauerliche, aber letztlich logische Ausdruck eines historischen Entwicklungsvorsprungs in einer eben stets von Eigeninteressen motivierten Menschheitsgeschichte. Vielmehr ist dieser Vorsprung selbst zu einem bedeutenden Teil das Ergebnis eines destruktiven Raubbaus an den menschlichen Körpern, kulturellen Werten und ökonomischen wie ökologischen Lebensgrundlagen nicht-europäischer Gesellschaften. Nicht nur vor dem Hintergrund der Reparationsdiskussion ist dieser Aspekt politisch sensibel. »[T]he rise of Western nations, Britain, and the United States in particular, as the industrial supremos of the world, is explicable to them simply in terms of English innate genius. Poverty and
316 Kettle, Martin: »The story of empire is not one of unalloyed shame«, in: The Guardian vom 31.3.2007. Bezeichnend ist auch eine weitere von Kettles zentralen Schlussfolgerungen: »Despite the horrors of slavery, the building of the United States remains the greatest achievement of the past four centuries«. 317 Gopal, Priyamvada: »It is contradictory to condemn slavery and yet celebrate the empire«, in: The Guardian vom 2.4.2007. 318 Miles, Robert: »Review. British Capitalism and Caribbean Slavery. The Legacy of Eric Williams by Barbara L. Solow, Stanley L. Engerman«, in: Social History 15/2 (1990), S. 253-256, hier S. 253.
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penury in Africa, and racial inequality in the West, is explained in terms of black inability, incompetence or laziness.«319 Über die Hervorhebung der Geschichte der Sklaverei sollten solche Positionen widerlegt und rassistische Denkmuster dekonstruiert werden. Die Unterstreichung der Spezifität von Opfern und Tätern der ausbeuterischen Unterdrückung war dabei ein Mittel zu diesem Zweck. Angesichts der oft großen Zahl von Themen und Aspekten, die im Rahmen der öffentlichen Erinnerung an die Sklaverei berührt wurden, waren auch kritische Perspektiven kein Tabu. Dies zeigte etwa die Ausstellung »A Respectable Trade?« in der inzwischen offiziell anerkannten »Fair Trade City« Bristol: »The exhibition […] looks at many facets of the trade on which Bristol’s wealth was founded, including the damage caused to rich African cultures and the legacy of Caribbean poverty and underdevelopment it left in its wake.«320 Der Regelfall waren sie deswegen aber nicht. In der Ausstellung im Musée de l’Aquitaine erfolgte beispielsweise eine Gegenüberstellung von unterschiedlichen Aspekten der transatlantischen Geschichte im 18. Jahrhundert, die eher eine irritierende Gleichzeitigkeit von ungleichartigen Phänomenen als eine kausale Verbindung nahelegte. Gerade beiläufige Formulierungen lassen erkennen, dass die Positiventwicklung auf der einen und die menschenverachtende Ausbeutung auf der anderen Seite des Ozeans oft als historisches Paradox wahrgenommen wurde. So folgte in einem »Black Gold« betitelten Kommentar zur Neueröffnung der Walker Art Gallery in Liverpool auf eine Beschreibung der Entwicklung des Sklavenhandelshafen die Feststellung: »And yet Liverpool in the 18th century became a centre of enlightened culture, rational, forward-looking, a thriving art centre.« 321 Und während Rassismus und Diskriminierung zumindest als Diskussionsthemen ihren Platz im politischen Mainstream gefunden haben, konnten sich die akademischen Ansätze der Critical Whiteness bislang in keinem vergleichbaren Maß durchsetzen. Vor diesem Hintergrund wurde die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels zu einer Arena, in der oft mehr über die Gräben als über sie hinweg kommuniziert wurde. Geschichtspolitische Initiativen und Rituale mussten sich mit dieser Spannung in der einen oder anderen Weise auseinandersetzen. Einen besonderen, aber in der Debatte weitgehend isolierten Ansatzpunkt wählte das Denkmal Gilt of Cain. Die Gestaltung des Gedenkorts in London näherte die Geschichte des Sklavenhandels an ein hochaktuelles Narrativ an, in dem die finanzkapitalistisch angetriebene Entwicklung der Ausbeutungsbeziehungen im Vordergrund steht. Es ist an dieser Stelle allerdings bemerkenswert, dass einige der zentralen Akteurinnen und Akteure in beiden Untersuchungsländern am Rande ihrer geschichtspolitischen Arbeit Äußerungen machten, welche die von Sissay/Visocchi angedeutete Richtung der Kritik noch schärfer herausarbeiteten. Die entsprechenden Positionierungen traten vor allem im späteren Untersuchungszeitraum zutage, in dem sich eine erdbebenartige Erschütterung im Finanzsystem des internationalen Wirtschaftsraumes ausbreitete. Sie ging vom Handeln einiger Finanzdienstleister aus, deren Niederlassungen unter anderem in der City of London 319 S. Small: General Legacy of the Atlantic Slave Trade, S. 120. 320 Gibbs, Geoffrey: »Pero the slave builds bridge across centuries for Bristol«, in: The Guardian vom 15.3.1999. 321 Jones, Jonathan: »Black gold: An ace collection with a bloody history attached: Jonathan Jones visits Liverpool’s new, improved Walker Art Gallery«, in: The Guardian vom 7.2.2002.
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westlich des Fencourt konzentriert sind, wo sich auch die Banken befinden, die seinerzeit vom transatlantischen Sklavenhandel profitierten und nun in eine zum Teil tiefe Krise stürzten. In einem Interview strich Toyin Agbetu den Status der Privilegiertheit heraus, den viele Menschen heute genießen – aus seiner Sicht zulasten einer noch größeren Zahl von Afrikanerinnen und Afrikanern. »It means that they can go to a local supermarket and obtain produce 24/7 from countries where there is famine […]. The aggressive colonialism of capitalist globalization continues to disproportionately devour their natural resources as a direct consequence of their spoils of war in a tragic history.«322 In der Kritik standen also die globalen Auswirkungen bestimmter Ausprägungen eines Wirtschaftssystems, das sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zahlreicher Begrenzungen entledigte und Produktions-, Finanz-, Handels- und Konsumkreisläufe weiter beschleunigte. »Hier, on avait besoin du sucre produit par les esclaves. Aujourd’hui on utilise des téléphones portables dont des éléments sont le fruit du travail forcé. Pourquoi, cela estil possible?«, fragte Françoise Vergès anlässlich der Eröffnung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage.323 In ihrem wenig später veröffentlichten Buch mit dem sprechenden Untertitel »Ce que nous enseigne l’esclavage sur notre temps« schlug sie selbst eine Antwort vor. Die entscheidende Parallele bzw. Kontinuitätslinie zwischen der Ära der kolonialen Sklaverei und späteren Zeiten bis zur heutigen sah die Politologin in den Folgen einer sich globalisierenden »économie prédatrice«. »Des éléments s’enchaînent dans un engrenage apparemment ›inévitable‹: un produit de consommation massive, la nécessité de le produire à grande échelle et à moindre coûts, des investissements toujours plus importants, de grands intérêts, économiques, financiers et culturels en jeu, la ›naturalisation‹ d’un système qui légitime la prédation et produit de fortes inégalités. Sans tomber dans un déterminisme naïf, nous pouvons nous interroger sur les ressemblances entre une économie de l’esclavage et des formes économiques contemporaines«.324
In anderem Stil, aber in der Sache ähnlich, drückte sich Christiane Taubira aus, als sie schrieb: »What do we want to shout at the world? That its order is disorder. That it will remain so as long as a tiny financial elite is able to speculate on the common good of all life on this Earth«. 325 Und, so ließen sich die Worte mit dem bereits 1998 von Hélène Luc formulierten Satz ergänzen: »[D]e notre point de vue, ce désordre mondial 322 T. Agbetu: Restoring the Pan-African Perspective, S. 72. 323 Zit. n. Gambert, Philippe: »L’inauguration, par Christiane Taubira et Lilian Thuram notamment, du Mémorial de labolition de l’esclavage le 25 mars prochain sera précédée de rencontres qui traiteront de l’esclavage hier et aujourd’hui«, in: Ouest-France (Nantes) vom 13.3.2012. 324 F. Vergès: L’homme prédateur, S. 28. Vgl. auch Dies.: Les pratiques d’esclavage contemporain s’inscrivent-elles dans la continuité de l’esclavage colonial ou la comparaison estelle impossible?, http://www.esclavagemoderne.org/011-613-Francoise-Verges.html. 325 Taubira, Christiane: »Black… A Color? A Kaleidoscope!«, in: Trica Danielle Keaton/T. Denean Sharpley-Whiting/Tyler Stovall (Hg.), Black France / France Noire. The History and Politics of Blackness, Durham, NC: Duke University Press 2012, S. ix-xiv, hier S. x. Vgl. auch Taubira, Christiane: Egalité pour les exclus. Le politique face à l’histoire et à la mémoire coloniale, Paris: Temps présent 2009.
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d’aujourd’hui ne saurait être plus ›naturel‹ ni plus fatal que celui d’il y a cent cinquante ans.«326 An dieser Stelle gewinnt das aktuelle Unbehagen durch den Blick in den Spiegel der historischen Erinnerung politische Kontur. »Until the 19th century, slavery was considered by many to be an acceptable part of the economic system and the fabric of this country«, erklärte David Lammy in einer die Vorbereitungen für das Bicentenary 2007 begleitenden Unterhausdebatte. »Indeed at some time or another much of the country was intimately connected with slavery and its products. Every spoonful of sugar or coffee and every bale of cotton was closely connected with the slave trade.«327 Auch Stephen Small prangerte eine globale Struktur der Ausbeutung sowohl von Menschen als auch von ihrer natürlichen Umwelt an und berief sich dabei nicht nur zum Zweck des Vergleichs auf die Geschichte. »Transnational companies exploit cheap labour and lax environmental regulation, even using vulnerable populations to offload tobacco and alcohol, and to dispose of chemical and industrial waste. In those areas exploited and abandoned by the nations which profited from the Atlantic slave trade economies continue that the World Bank, under the control of Europeans and Americans, is a more powerful dictate to their essential policies than any indigenous head of state.«328
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte verändert den Blick auf die Gegenwart ebenso wie die Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse sich auf das Urteil über die vergangenen auswirkt. Politisch aktuelle Argumente können genutzt werden, um ein im Kern erinnerungskulturelles Anliegen voranzubringen – oder umgekehrt. In welchem Verhältnis politische Grundhaltung und geschichtspolitisches Engagement in diesen Fällen standen, wie sich die beiden Aspekte gegenseitig verstärkten oder beeinflussten, könnten nur die zitierten Personen selbst genau beantworten. Das Thema »fair trade« tauchte bisweilen im Radius der Geschichtsdebatten auf, vor allem in Großbritannien, wo die zivilgesellschaftliche Konsumpolitik mit dem abolitionistischen Zuckerboykott über ein historisches Vorbild mit Pioniercharakter verfügte. Eine Leitperspektive für das Gedenkjahr selbst entwickelte sich aus diesen Überlegungen nicht. Der eigentliche Fokus der politischen Bezüge lag auf humanitären Aktionen, Rassismus und Antidiskriminierung sowie auf dem der historischen Opfererinnerung generell zugeschriebenen Wert für die staatsbürgerliche Bildung. Die Schwierigkeiten, den moralischen und den (wirtschafts-)politischen Appell unter den gegebenen erinnerungskulturellen Rahmenbedingungen zusammen zu bringen, kann 326 Hélène Luc, Senatsdebatte »Hommage solennel à Victor Schœlcher«, 28.4.1998. 327 David Lammy, Parliamentary Under-Secretary for Culture, Media and Sport der LabourRegierung, House of Commons, 13.12.2005, C. 411WH. 328 S. Small: General Legacy of the Slave Trade, S. 119. Die Ausweitung der sozialen Frage auf den Umgang mit natürlichen Ressourcen verfolgten auch Unterstützerinnen und Unterstützer des Afrikan Remembrance Day. Sie fordern nicht nur jährlich erneut historische Reparationen von der britischen Regierung. Im Jahr 2016 formulierten sie eine Petition an Premierministerin Theresa May, in der sie gegen einen laufenden »Ecocide« – nicht zu verwechseln mit Dreschers Begriff des »Econocide« – protestierten. Vgl. Stop the Maangamizi. We charge Genocide/Ecocide, https://www.change.org/p/stop-the-maangamiziwe-charge-genocide-ecocide.
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ein Zitat von Elizabeth Kowaleski Wallace belegen. Sie schrieb zur Bedeutung der historischen Erinnerung: »What we can learn from the legacy of the slave trade is the necessity of continual self-examination: where might we otherwise be currently complicit with invisible or hidden social injustice? […] I propose here that one goal of commemorating the African holocaust might be to situate moral agents – individuals who learn from historical trauma how personal choices have invisible repercussions on a global scale and who become both more self-reflective and politically proactive as a result.«329
An dieser Stelle drängt sich zum einen die Frage auf, ob im hypermediatisierten 21. Jahrhundert noch mit derselben Berechtigung von »unsichtbarer« Ungerechtigkeit gesprochen werden kann wie vor 200 Jahren. Zudem scheint genau das Problem hindurch, das Christopher L. Brown bei seinen historischen Forschungen zur britischen Antisklaverei-Bewegung antrieb: die Klärung der Voraussetzungen, unter denen ein über lange Zeit passives moralisches Unbehagen zur Motivation für aktiv eingreifendes politisches Handeln werden kann.330 Die Arbeitsgruppe, die sich um das schließlich nicht realisierte Memorial 2007 formierte, besetzte dabei eine Schnittstelle der Bedeutungsebenen. Das in der City of London zum Jubiläum des Slave Trade Abolition Act errichtete Denkmal Gilt of Cain präsentiert eine Geschichte, die sehr viel stärker vom Handel ausgeht als von den Sklavinnen und Sklaven selbst. Ihr fehlt daher der persönliche Identifikationswert, den viele Menschen in der Vergangenheit suchten, um ihrer eigenen Erfahrung in den bestehenden Strukturen historisch verständlich zu machen. Das für den Hyde Park entworfene Denkmal für die versklavten Afrikaner/-innen und ihre Nachkommen wählte einen diesbezüglich komplementären Ansatz; aus diesem Grund kann Gilt of Cain das Projekt auch weder in Form noch Inhalt ersetzen. Der für den Entwurf verantwortliche Bildhauer Les Johnson hat in Großbritannien unter anderem das Denkmal für die Arbeiter der London Docklands und das walisische National Mining Memorial in Senghenydd realisiert, das den Arbeitern im Kohlebergbau und insbesondere den Opfern der zahlreichen Grubenunglücke gewidmet ist. Diese Projekte dürften der Auffassung von Geschichte und Erinnerung entsprechen, die auch ISM-Leiter David Fleming bei seiner Arbeit antrieb: »I got it into my head that I could use my history qualifications to empower working class people.«331 Die Idee, ein Denkmal mit der Bedeutung auf-
329 E. Kowaleski Wallace: British Slave Trade and Public Memory, S. 7, 27. 330 Vgl. C. Brown: Moral Capital. Die Bedeutung des moralischen Empfindens für den britischen Abolitionismus veranschlagt Brown grundsätzlich hoch, als Erkärung für das Entstehen einer politischen Bewegung gegen Sklaverei und Sklavenhandel reicht ihm dies jedoch nicht aus. »The morality of the slave system had troubled men and women for decades, but no one in Britain had attempted to overthrow it.« (S. 24). In seiner Arbeit widmet sich Brown daher der Frage, wie sich der Übergang vom bloßen Gefühl zur konkreten Handlung gestaltete. Den entscheidenden Impuls lieferte ihm zufolge die identitäre Krise Großbritanniens nach dem Verlust der 13 Kolonien in Nordamerika. 331 Fleming, David: Democratic Museum. The Importance of Broadening Audiences, veröffentlicht auf der Webseite des Think Tank »Museum ID«, http://www.museum-id.
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zuladen, dass die Menschen der Gegenwart den Sklavinnen und Sklaven ihre Ehrerbietung für die historische Arbeitsleistung zugunsten eines materiellen Fortschritts schuldig seien, bleibt im erinnerungskulturellen Kontext originell. Solange die Geschichte der Sklaverei auch und vor allem ein Vehikel darstellt, um die ungleiche Verteilung des generierten Wohlstands zu verhandeln, dürften ihrem Sammlungspotential jedoch spezifische Grenzen gesetzt sein. Den Versuch, die aus der Asymmetrie des historischen Erbes resultierende erinnerungskulturelle Kluft auf dem Wege der empathischen Offenheit zu überwinden, machte Andrew Hawkins – und wurde von den Menschen, die sich sicher auf der einen Seite derselben situierten, prompt sanktioniert. Sein Beispiel zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei weitreichende Konsequenzen für die eigene historische Selbstverortung haben kann, sowohl auf der persönlichen Ebene als auch in Bezug auf das Verhältnis zur Nation und ihrer Geschichte. Die Erfahrung in Gambia, die – und das scheint in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung – die emotionale und spirituelle Kontaktaufnahme zu erinnerungskulturell grundlegend anders geprägten Menschen umfasste, hat Hawkins tief beeindruckt. Durch sie verlernte er einen Teil der erlernten und national gerahmten Selbstverständlichkeit seines unbewussten (Er-)Lebens in der Siegergeschichte – und dies durchaus nicht nur im Hinblick auf die Sklaverei im engen Sinne. »Having a debate about slavery reparations or apologies at all is, in one sense, the luxury of history’s victors. In Africa and elsewhere, many descendants of Atlantic slaves have no choice but to remember what happened to their ancestors.«332 Dies begann der Sohn eines Elektrikers und Enkel eines Postboten auf der Afrikareise für sich zu begreifen, die er auf den Spuren seines entfernteren adligen Vorfahren Sir John Hawkins unternahm. »It was one of the most memorable things I have ever done. You see just how deep the wounds left by the slave trade really are. As someone with family links to the slave traders, it was a very difficult thing to see the consequences of their actions.«333 Nachdem die Aktualität der Vergangenheit und die für viele Menschen schmerzhafte Erinnerung von außen an ihn herangetragen worden waren, entwickelte der Jugendarbeiter, befeuert durch die familiäre Verbindung, einen eigenen Bezug zum Sklavenhandel als Teil der Geschichte seiner Nation und ihrer internationalen Beziehungen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sein Verhältnis zu dem Thema als auf spezifische Weise durchschnittlich betrachtet werden. Anstöße, es sich persönlich zu eigen zu machen, gab das Umfeld kaum. »Andrew Hawkins grew up in Cornwall and Canada in the 70s and 80s. He never knew that his ancestor Sir John Hawkins, the Elizabethan naval hero, businessman and pirate, was also the first British slave trader […]. His understanding of the slave trade was as limited as most Britons’.«334 Er selbst kommentierte: »I saw Roots on TV in the 70s. I remember one history lesson at school, a diagram of the slave boats. That’s it.«335 Diese knappe Situationsbeschreibung ist nicht
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com/idea-detail.asp?id=484. Bei dem Text handelt es sich um eine überarbeitete Fassung von Flemings Keynote Speech, Museums Association Conference, 6.10.2008. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006. Zit. n. Kirby, Terry: »Slave trader’s descendant begs forgiveness in Africa«, in: The Independent vom 22.6.2006. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006. Zit. n. ebd.
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nur deshalb symptomatisch, weil es sich bei »Roots« um eine in den USA für ein afroamerikanisches Publikum produzierte Serie handelt. »Famous, moneyed, and blueblooded British profiteers of the ›business‹ have, in fact, been remembered for many other things they did and were in history, while their involvement in slavery has been blanked out.«336 Auch die historische Figur John Hawkins war keineswegs vergessen, weder in seiner Familie noch in seinem Land. Allerdings waren es gerade die als erinnerungswürdig ausgewählten Aspekte der Person, die seine Aktivität im Sklavenhandel überdeckten. Auch dieser Handel war nicht völlig aus der für seinen entfernten Nachfahren wahrnehmbaren Geschichte getilgt worden. Die über Schulunterricht und Medien konsumierte Information lieferte aber keine Anhaltspunkte für eine relevante Verbindung mit der – persönlich wie national betrachtet – »eigenen« Geschichte. Die Herstellung und Verarbeitung neuer Verknüpfungen, die dieses Bild ins Wanken brachten, gestaltete sich für Andrew Hawkins durchaus fordernd. »I’m still processing what I went through in the Gambia«, gestand er noch mit zeitlichem Abstand zum Ereignis.337 Entsprechend folgenreich scheint dieser Prozess für ihn und sein historisches (Selbst-)Verständnis gewesen zu sein. »In the past, he says, he ›couldn’t connect‹ with friends who saw political issues in everything. Now he can. ›Me and my brother went round a National Trust house. He said, ›Isn’t it lovely?‹ I said, ›I’m not sure. Isn’t this a celebration of the class system?‹«338 Andrew Hawkins dürfte damit nun zur wachsenden Schar derjenigen gehören, für die der Konsum von »Heritage« mit einem gewissen Gefühl der Entfremdung verbunden ist, »whispering in the ear of a slightly irritated companion about the omissions and great acts of forgetting on display«, wie Roshi Naidoo 2005 schrieb. »Trips to Britain stately homes, for example, can often raise the following questions: where is the context for the artefacts on display? Why the reluctance to account for colonial relations which led to their acquisitions? Why is there no attempt to acknowledge the perniciousness of monarchy and the social inequalities it naturalises?«339
Eines dieser Häuser, Clevedon Court in der Nähe von Bristol, gehörte bis 1960 der Familie von Julia Elton. Ihre adligen Vorfahren waren im 18. Jahrhundert ebenfalls in den Sklavenhandel involviert und erwirtschafteten aus diesem und aus anderen Geschäften großen Reichtum. »In the 19th century they were rich as Croesus.«340 Hohe persönliche Ausgaben und die fortschreitende Globalisierung des Freihandels führten mittelfristig jedoch zum – relativen – sozialen Abstieg. Aufgrund von Steuerschulden fiel das Landhaus schließlich an den National Trust. Gegenüber dem Guardian erklärte Elton ihre persönliche Haltung zu den historisch entfernten Mitgliedern der Familie, die beträchtlichen Einfluss in der Society of Merchant Venturers ausübten, wie folgt: »You could argue that they were giving an economic opportunity to the local peas-
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B. Korte/E.U. Pirker: Black History – White History, S. 72. Zit. n. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006. Zit. n. ebd. R. Naidoo: Nevermind the Buzzwords, S. 36. Julia Elton zit n. Beckett, Andy: »Heirs to the slavers«, in: The Guardian vom 2.12.2006.
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antry. And they were exploiting the economic circumstances of their times. All businessmen do.«341 Der von Hawkins so intensiv verspürte Moralkonflikt schien sich der Schwester des aktuellen Baronets nicht aufzudrängen. Das Urteil über das Entschuldigungsritual in Gambia fiel dagegen deutlich aus. »I thought the apology was absolutely nauseating. […] You could rationally say the whole of Britain’s modern wealth is based on the trade. What are we going to do – tear down all our buildings?«342 Diesen Weg wird der National Trust unter seinem aktuellen Vorsitzenden Tim Parker nicht einschlagen. Der den Standpunkten von Hawkins und Elton gemeinsamen Dimension der historischen Deutung stimmt aber auch er grundsätzlich zu. »Everything we have that is beautiful was almost certainly built by the exploitation of someone else. […] Everything that required immense amounts of work was built on someone being paid very little by someone who usually had a lot.«343 Als Absolvent der London Business School, der Führungsfunktionen in einer ganzen Reihe von internationalen Großunternehmen ausgeübt hat, dürfte Parker wissen, wovon er spricht; Gewerkschaftsaktivisten/-innen haben ihm den wenig noblen Titel »Prince of Darkness« verliehen. Mit Blick auf die dunklen Seiten der Vergangenheit zog Großbritanniens einflussreichster Denkmalpfleger für sich selbst den Schluss: »They’re all dead. We can’t change that.«344 Auch in diesen Fällen könnte über die aktiven Wechselwirkungen zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdeutung im Detail allenfalls spekuliert werden. Vor dem Hintergrund der laufenden erinnerungskulturellen Entwicklung gilt Parker als »surprisingly frank about how his vast organisation owns homes, treasures and land all over the country that were built or bought with the profits of the slave trade or the exploitation of workers.«345 Die Integration dieser Geschichte in das Vermittlungskonzept der von ihm geleiteten Organisation stellt gerade aufgrund ihrer Allgegenwart ein aufwendiges Unterfangen dar. »But Tim Parker believes it is worth doing, because the National Trust has a part to play in helping all of us – including recent arrivals to this country – understand where we are and what has gone on before.«346 Zu seinem Engagement im National Trust zählte wie selbstverständlich auch der Einsatz für mehr »Diversität« des Personals. Die Haltung stieß auf die ungeteilte Zustimmung des Journalisten Cole Moreton, der sich in seinen Veröffentlichungen unter anderem mit dem Zusammenhang von nationaler und religiöser Identität in Großbritannien befasst hat: 341 Zit. n. ebd. 342 Zit. n. ebd. Abgerundet wird die von Elton präsentierte Sichtweise mit Argumenten, wie sie in ähnlicher Art bereits von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zur Legitimation des Sklavenhandels herangezogen wurden: »This is probably wildly politically incorrect – and I’m not saying we didn’t treat slaves disgustingly – but what would have happened to the Africans if they’d stayed in Africa? If you had to choose between living in Darfur and living in America, which would you choose? And actually you could argue that most working-class people in England in the 18th century lived in effectively slave-like conditions.« 343 Zit. n. Moreton, Cole: »The Prince of Darkness sheds light on the past. National Trust chairman Tim Parker says organisation must be more diverse – but not Disneyfied«, in: The Independent vom 13.2.2016. 344 Zit. n. ebd. 345 Ebd. 346 Ebd.
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»This is a kind of progressive nationalism that believes we can best grow as a society and learn from incoming cultures if we understand our own, come to terms with it and celebrate the best of it wholeheartedly. He may say there’s no right history, but no organisation does more than the National Trust to express its own coherent view of who we are and what we believe in.«347
Das 2016 formulierte Lob nimmt nicht nur Töne aus Tony Blairs 20 Jahre zuvor geführter Wahlkampagne auf, sondern bestätigt auch die anhaltende Deutungsmacht der im Rahmen des Bicentenary 2007 in den Vordergrund gerückten Perspektiven. Wendet man sich von der symbolträchtigen nationalen Ebene ab und stärker regionalen bzw. lokalen Kontexten zu, so tritt der Aspekt des gezielten Tourismusmarketings besonders klar hervor. Um das inzwischen vorherrschende Verhältnis zur Geschichte des Sklavenhandels abschließend abzustecken, ist die Betrachtung dieses Feldes so unumgänglich wie aufschlussreich, nicht zuletzt deshalb, weil sich hier zugleich nationale und internationale Perspektiven überschnitten. Jean-Marc Ayraults konservativer Vorgänger im Bürgermeisteramt von Nantes, Michel Chauty (RPR), hatte 1985 noch einen Imageschaden seiner Stadt durch eine umfassende öffentliche Thematisierung des Sklavenhandels befürchtet. Ein gutes Vierteljahrhundert später zeigte sich die Kommune dagegen stolz auf die Veränderung im Umgang mit der Geschichte und auf ihr international einzigartiges Monument. »Tout le monde (ou presque) se félicite aujourd’hui de la construction du Mémorial.«348 Eine Rolle spielte hierbei nicht zuletzt die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt im Vergleich zu anderen ehemaligen Häfen des transatlantischen Sklavenhandels. »Nantes est une ville résolument pionnière. Elle regarde courageusement son passé négrier les yeux dans les yeux. [...] Elle conserve beaucoup d’avance sur des villes comme Bordeaux ou Le Havre qui refuse tout devoir de mémoire.«349 Alte Abwehrmechanismen greifen allerdings inzwischen nicht mehr wie früher, und auch Städte wie Bordeaux und La Rochelle haben die geschichtspolitische Verarbeitung der Sklavereigeschichte aufgenommen. Wenn Nantes im Vergleich dennoch mit einem markanten Großprojekt hervorsticht, so erscheint dies der historischen Rolle des Hafens für den transatlantischen Sklavenhandel, zumindest im nationalen Rahmen, letztlich angemessen. Als bezeichnend für das geschichtspolitische Umdenken zu Beginn des 21. Jahrhunderts können allerdings auch Befürchtungen betrachtet werden, dass der Mémorial de l’abolition de l’esclavage zu Ungunsten der historischen Auseinandersetzung vor allem als touristisches Marketinginstrument fungieren würde. Tatsächlich war das Vorgehen der lokalen Autoritäten besonders in Nantes und in Liverpool in eine Politik der urbanen Erneuerung eingebettet, die in den vom industriellen Niedergang getroffenen Kommunen durchaus positive Entwicklungen anstoßen konnte. Liverpool ist in dieser Hinsicht beispielhaft. »It is [...] a city that embodies the tragedy of post-war decline. Heavy industry has dwindled, the port is a shadow of its
347 Ebd. 348 Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 349 So Jean-Marc Ayrault kurz vor seinem Wechsel vom Amt des Bürgermeisters in das Amt des Premierministers, zit. n. N.N.: »›Nantes est pionnière, mais...‹ Trois questions à JeanMarc Ayrault«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012.
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former self.«350 Der Niedergang brachte neben einer ausgeprägten Nostalgie für die goldenen Jahre der Beatles auch Bitterkeit und Konflikte mit sich. Eine Folge der hohen Erwerbslosigkeit, von der sich insbesondere Immigrantinnen und Immigranten sowie Angehörige ethnischer Minderheiten betroffen sahen, waren die »Toxteth Riots« von 1981. Nach dieser Erschütterung begann die Kommune, gezielt in die Grundlagen für eine umfassende wirtschaftliche, aber auch moralisch verstandene Erneuerung zu investieren. Da die Industriearbeitsplätze von den lokalen Autoritäten nicht zurück an den Ort zu holen waren, setzten diese nicht zuletzt auf den Ausbau der kulturellen Infrastruktur und die Förderung entsprechender Bauvorhaben. Die betont zeitgemäßen Projekte sollten Bürgerinnen und Bürger, Touristinnen und Touristen gleichermaßen von den Potentialen und Zukunftsperspektiven der Stadt überzeugen. Weder die überdurchschnittlich hohe Erwerbslosenquote noch die resultierenden sozialen Probleme konnten damit aus der Welt geschafft werden, und einige überhöhte Erwartungen scheiterten auf halber Strecke. Dennoch: »Liverpool is on the up. Kick-started by Michael Heseltine’s Merseyside Development Corporation in the early 1990s, property prices are rocketing and business is returning.«351 Die Umstrukturierung des Gebäudekomplexes am Albert Dock nimmt einen wichtigen Platz in diesem Zusammenhang ein. Hier befindet sich nicht nur das relativ neue ISM, sondern auch ein älterer Meilenstein der Entwicklung, das Kunstmuseum Tate Liverpool. »Opened in 1988, it stands as a manifestation of the city’s post-Toxteth rebirth, and people are hugely proud of it.«352 Als eine weitere Stadt, die ihren Aufstieg der Hochzeit der westeuropäischen Kolonialimperien zu verdanken hatte, verfolgte auch Bristol eine Politik der städtischen Regeneration. Es passt in das Bild des wieder erwachenden kommunalen Selbstbewusstseins und der mit ihm verbundenen Ambitionen, dass Liverpool und Bristol zeitgleich den Titel der europäischen Kulturhauptstadt anstrebten. Auch lokale Geschichte musste im Rahmen des Wettbewerbs in die Waagschale geworfen werden. Unter den nun geltenden Bedingungen der aktuellen erinnerungskulturellen Trends war die Rolle der Häfen für den transatlantischen Sklavenhandel nicht nur schwer zu ignorieren, sie konnte als unterstützender Faktor in Betracht gezogen werden. Tatsächlich wurde die Konfrontation der lange Zeit eher beschämt verschwiegenen Vergangenheit bisweilen zu einer Art Imperativ erhoben: »If Bristol is to be a future European capital of culture, it will have to come to terms with a past rooted in slavery.«353 Für das in seiner Bewerbung schließlich erfolgreiche Liverpool stellte die europäische Auszeichnung eine zusätzliche Motivation für die Ausweitung der Ausstellung im Merseyside Maritime Museum dar: »Liverpool is to become European Capital of Culture in 2008, and it was felt that something extra should be done – and, in any event, it was felt that the slavery
350 Christiansen, Rupert: »In search of a new identity. Its dramatic setting and rich heritage make Liverpool a spectacular choice for European City of Culture«, in: The Daily Telegraph vom 30.12.2003. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Hunt, Tristram: »Built with blood money«, in: The Guardian vom 25.2.2003.
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museum should be widened in scope.«354 Zudem zeigte sich nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern interessanterweise gerade an der lokalen Geschichtspolitik oft besonders deutlich: »[P]oliticians, governments and social agents act ›as if the whole world is watching us‹.«355 Nantes musste in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls seinen Bedeutungsverlust als industriell geprägter Wirtschaftsstandort verarbeiten. »En effet, lorsque Nantes a connu, dans les années 1980, une situation de crise identitaire liée au passage d’une économie portuaire à une économie tertiaire.«356 Ein Prestigeprojekt des Neuanfangs war die Umgestaltung der Île-de-Nantes zu einem modernen Kultur- und Freizeitzentrum. Der Name des Quai des Antilles und ein zum Kunstobjekt umfunktionierter Kran erinnern hier an die ältere und jüngere Vergangenheit des Güterhafens. Im Umfeld der ehemaligen Docks haben sich inzwischen Gastronomiebetriebe und nicht zuletzt das weltberühmte Straßentheaterensemble »Compagnie La Machine« niedergelassen, dessen motorisierter »Elefant« zu einer Art Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Auf einer anderen Reputationsebene, aber gleichfalls auf der Loire-Insel ist der neue Justizpalast angesiedelt. Über die nach Victor Schœlcher benannte Fußgängerbrücke ist der imposante Neubau mit dem Gelände des Mémorial de l’abolition de l’esclavage am gegenüberliegenden Flussufer verbunden. Für den von Jean-Marc Ayrault initiierten »récit de rupture« spielt das Monument eine wichtige Rolle, denn das Vorgehen setzte nicht zuletzt auf ein neues Verhältnis zur Vergangenheit, die zuvor von Hafen und Handel geprägt gewesen war. »Ce processus de reconstruction de l’identité urbaine passe par l’invention d’une nouvelle narration: un récit qui change le rapport à l’histoire en réinterprétant les espaces légendaires.«357 Vor diesem Hintergrund kann auch der Enthusiasmus nicht erstaunen, mit dem die Geburtsstadt von William Wilberforce die Gelegenheiten des Bicentenary für sich zu nutzen versuchte. »The city of Hull has been holding its breath for a generation. Ever since the demise of the fishing industry, the community has been seeking a new identity, new industries to stimulate growth, indeed anything to make this once great city bold and proud again.«358 Zumindest im Hinblick auf die kurzfristige Wirkung ging die Rechnung auf: »Hull tourism received a boost […] with events to mark the 200th anniversary of the Bill to abolish the slave trade.«359 Die Feier der kollektiv beanspruchten abolitionistischen Tradition blieb in diesem Fall aufgrund der weitgehend fehlenden direkten Verbindung der Stadtgeschichte mit dem Sklavenhandel besonders stark im Vordergrund. Dennoch wies die Neugestaltung des Museums in Wilberforce House in Richtung einer gewissen Ausbalancierung des triumphalistischen Geschichtsbildes. »That museum will provide Hull with a fresh opportunity to promote its pioneering and compassionate image on a national and international stage because
354 355 356 357 358
Baroness Hooper, House of Lords, 10.5.2007, C. 1547. A. Assmann/S. Conrad: Introduction (Memory in a Global Age), S. 7 E. Chérel: Mémorial, S. 84. Ebd. Dawe, Tony: »A city that is becoming bold and proud again«, in: The Times vom 18.2.2005. 359 Dawe, Tony: »Mystery tour has turned magical for city’s visitors«, in: The Times vom 25.4.2008.
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2007 will mark the 200th anniversary of the abolition of the British slave trade.«360 Und auch die Stadtverwaltung von Bordeaux fand schließlich ihre Gründe, das Thema Sklavenhandel geschichtspolitisch anzugehen: »La période du projet muséographique va changer les choses, en rendant évidente la ›belle coïncidence‹ qui se présente et qui permet ›d’enterrer le mémorial de Karfa Diallo‹. Bordeaux en 2006-2007, prépare sa candidature au titre de ›Capitale européenne de la culture 2013‹ et cherche à puiser son inspiration auprès de villes qui ont connu cette expérience.«361
Im Hinblick auf die bestehenden Möglichkeiten der Touristenattraktion ist das von Weingütern umgebene Bordeaux mit seinem als Weltkulturerbe geltenden Altstadtkern grundsätzlich anders aufgestellt als Städte wie Nantes oder Liverpool. »Nantes, sortie défigurée par les bombardements de la Seconde Guerre mondiale, a perdu l’essentiel de ses quartiers historiques et des hôtels particuliers du XVIIIe.«362 Es ist denkbar, dass die Kommune auch deshalb ihrer Vergangenheit als Sklavenhandelshafen mit größerer geschichtspolitischer Entschlossenheit begegnete. Der Mut zur Geschichte stellt sich hier als ein Alleinstellungsmerkmal dar, das unter den gegebenen Umständen inzwischen mehr Chancen als Risiken birgt. So ist der Einsatz für die Erinnerung auch in Nantes als essentiell positiv besetztes Element in kollektive und individuelle Selbstbilder aufgenommen geworden. Yvon Chotard lobte als Präsident des Vereins Les Anneaux de la Mémoire zugleich die Stadt und seine eigene Rolle für den langen und nicht immer einfachen Weg bis zur Eröffnung des Mémorial: »Nantes a acquis une nouvelle image: celle d’une ville militante de la mémoire et de l’Histoire et notre association est fière d’avoir contribué à cette victoire de Nantes sur elle-même.«363 Aus Sätzen wie diesem spricht eine offensiv vertretene Überzeugung vom Sinn der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sklavenhandels, die auch zur Abgrenzung vom politischen Gegner verwendet werden konnte. So bestätigte der damalige Bürgermeister Jean-Marc Ayrault den von Chotard in Anspruch genommenen Grund zum Stolz, fügte aber – genauso wenig überraschend – noch einen Seitenhieb auf die amtierende Regierung hinzu: »Les Nantais peuvent être fiers de cette histoire qu’ils assument. [...] Nous avons surmonté tant de difficultés – le gouvernement ne fut pas à nos côtés – tant de débats.«364 Gerade der Kampf gegen Widerstände und die investierten Mühen wurden hier zur moralischen Auszeichnung erhoben. Das Projekt zur Einrichtung eines internationalen Sklaverei-Museums begründete David Fleming folgendermaßen: »We believe the new museum will demonstrate that Liverpool is a grown up city with a mature view of itself and its history.«365 Solche
360 Dawe, Tony: »A city that is becoming bold and proud again«, in: The Times vom 18.2.2005. 361 R. Hourcade: Ports négriers, S. 440. 362 Ebd., S. 191. 363 Bigorgne, Joël/Gambert, Philippe/Tigoé, Yasmine: »Le passé esclavagiste provoque encore des remous«, in: Ouest-France (Nantes) vom 22.3.2012. 364 Jean-Marc Ayrault zit. n. M.G.: »›Un lieu d’apaisement pour construire un avenir serein‹«, in: Ouest-France (Nantes) vom 26.3.2012. 365 D. Fleming: Liverpool, European Capital of… the Transatlantic Slave Trade.
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Ziele stoßen heutzutage auf internationale Anerkennung, die sich nicht nur in den Besucherzahlen des Museums äußerte. Ein Journalist machte sich zum Sprachrohr einer verbreiteten Grundhaltung, als er erklärte: »It’s a noble thing that this city preserves the memory not just of its past triumphs but its past crimes.«366 Aufschlussreich im Hinblick auf den Lohn solcher Bemühungen ist nicht zuletzt ihr Vorbildcharakter im Wettbewerb um materielle und immaterielle Marketingressourcen. Und so regte der Erfolg von Liverpool umgehend Überlegungen zur Weiterentwicklung der städtischen Erinnerung an anderen Orten an: »If Liverpool can grow in dignity by commemorating the slave trade, so can Manchester by commemorating Peterloo.«367 Besonders deutlich zeigte sich das Potential, das der Geschichte der Sklaverei inzwischen zugeschrieben wird, anhand eines ebenfalls eher unbescheidenen Appells von Tristram Hunt: »In its bid to be capital of culture, Bristol should […] pledge to construct a massive Museum of Slavery. A world-leading, powerfully emotive visitor centre and research site modelled on the Holocaust Museum in Washington DC.«368 Der Verweis auf die USA, wo ein Großteil des mit dem Sklavenhandel in Verbindung stehenden Tourismus seinen Ursprung hat, die Forderung nach einem nationalen Sklavereimuseum als solchem bislang aber noch unerfüllt bleibt, fällt an dieser Stelle kaum zufällig. Gleiches gilt für die Erwähnung des Holocausts und damit letztlich der deutschen Geschichte. Äußerst bemerkenswert ist in diesem Bezug ein Leserbrief, der unter dem vielsagenden Titel »No shame in discussing the past, no matter how dark« in einer westenglischen Regionalzeitung veröffentlicht wurde. Zum Maßstab wurde die Stadt Berlin als historischer Schauplatz gleich mehrerer belastender Kapitel deutscher Vergangenheit erhoben. »It raises the wider question of how to honour the memory of […] victims without exploiting it. […] I’ve just got back from three days in Berlin, where they’ve got it down to a fine art. There, city-break visitors pour their Euros into the pockets of guides and businesses whose job is nothing less than to revisit Germany’s historic horrors.«369 Seine streng rationalisierende Grundhaltung führt den Autor zu einer positiven Bilanz der Aktivitäten. »The city is cashing in on its past, and exorcising it at the same time. This is how we’ve moved on, it tells its visitors, as you are led from the site of Hitler’s bunker to bits of the Berlin Wall and then onto the uber-cool monuments to the new German tolerance – squatter communes, radical art and gay rights.«370 Der Vergleich ließ das britische Verhältnis zur nationalen Geschichte eher verstaubt erscheinen:
366 Jones, Jonathan: »Dungeon masters. Liverpool’s slavery exhibit has some appalling sights. Ghana’s barracks for the human cargo are worse«, in: The Guardian vom 30.6.2005. 367 Als Massaker von Peterloo ging die militärische Zerschlagung einer Großdemonstration für eine Ausweitung des Wahlrechts und der parlamentarischen Repräsentation ein, bei der am 16. August 1819 in Manchester fünfzehn Menschen getötet wurden. Zur Erinnerung an das Ereignis, die zeitgleich mit dem Gedenken an den Sklavenhandel diskutiert wurde, vgl. Wainwright, Martin: »Battle for the memory of Peterloo. Campaigners demand fitting tribute«, in: The Guardian vom 13.8.2007. 368 Hunt, Tristram: »Built with blood money«, in: The Guardian vom 25.2.2003. 369 Leserbrief von Rob Campbell zum Thema »No shame in discussing the past, no matter how dark«, in: Western Daily Press vom 29.3.2012. 370 Ebd.
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»[T]he billboards were advertising holidays in Britain, with pictures of pretty castles and friendly hills. It’s lovely here but we’ve got our horrors too, right here in the West, notably Bristol’s role in the slave-trading triangle. Rather than hide it, or wish it hadn’t happened, or get involved in ritual rows over whether guilt can be inherited, why not package it up and sell it?«371
Schließlich funktioniert dies an anderen Orten auch. »Bristol could certainly make more of it. The slave forts of Ghana are already major tourist attractions for tourists on the West African circuit. Why not sell the other piece in the jigsaw, the West’s murky past in slavery, and make it a model of how to move on with justice and dignity?«372 Der Brief des britischen Zeitungslesers lässt insbesondere die Spannung zwischen einer gewaltreichen Geschichte und ihrer inzwischen potentiell gewinnbringenden Vermarktung hervortreten. Hierbei handelt sich um einen wichtigen, in der breiten Öffentlichkeit aber eher selten reflektierten Aspekt, den der Verfasser präzise im internationalen kulturellen Kontext verortet. Die Geschichte des Sklavenhandels sollte allerdings eine besondere Sensibilität für das oft problematische Verhältnis von Wirtschaft und Moral nahelegen. Der Versuch, beide Bereiche zu vereinen, spiegelt sich in Tristram Hunts Ideen zu dem großen Sklavereimuseum, das er der potentiellen Kulturhauptstadt Bristol empfahl: »The museum could attract thousands of tourists as well as engage elements of the city’s traditionally disenfranchised St Paul’s community.«373 Auf welche Weise diese Einbindung erfolgen sollte und ob dabei auch an den Transfer von finanziellen Einnahmen gedacht war, führte er allerdings nicht aus.
371 Ebd. 372 Ebd. 373 Hunt, Tristram: »Built with blood money«, in: The Guardian vom 25.2.2003.
Fazit
Die in den vorangehenden Kapiteln geschilderte Entwicklung beschreibt eine Wende im Umgang mit der Geschichte von Sklaverei und Sklavenhandel in der britischen und französischen Öffentlichkeit. Besonders deutlich machte sie sich auf der im weitesten Sinne politischen Ebene bemerkbar. Gerade der Blick auf die für das historische Selbstverständnis traditionell zentralen Vermittlungsinstitutionen zeigt, dass es in beiden Ländern inzwischen schwierig geworden ist, dieses Kapitel der Geschichte bewusst oder unbewusst zu marginalisieren. Eine nachlässige Behandlung, wie sie sich etwa im Rahmen des Jubiläums der Französischen Revolution 1989 noch gezeigt hat, erscheint mittlerweile geradezu undenkbar. Vielmehr waren sowohl die französische als auch die britische Regierung in jüngerer Zeit zu jedem gegebenen Anlass bemüht, einen entsprechenden Eindruck gar nicht erst aufkommen zu lassen. In gewisser Weise hat sich der transatlantische Sklavenhandel in beiden Untersuchungsländern als Erinnerungsort etabliert. Hierbei ist freilich sowohl die andauernde Umstrittenheit des Themas als auch die hierarchische Beziehung zu anderen Elementen der historischen Erinnerung zu beachten, die über einen langfristig verankerten Platz im nationalen Gedächtnis verfügen. Ihren sichtbarsten materiellen Niederschlag findet die Relevanz, die der Geschichte inzwischen beigemessen wird, in den neuen Denkmälern und Museen bzw. permanenten Ausstellungen. Diese waren zugleich eine Folge und ein Faktor der um sich greifenden Neubewertung. Mit der Einrichtung des International Slavery Museum in Liverpool schien Großbritannien einen entscheidenden geschichtspolitischen Schritt gewagt und einen Vorsprung gegenüber dem französischen Nachbarn erreicht zu haben. »De fait, il y a en France 12 000 musées, 12 musées du sabot, mais 0 musée de l’esclavage et de la colonisation. Il y a certes quelques salles dans les musées de Nantes et de Bordeaux, et il y a aussi le Memorial Acte en Guadeloupe, mais la plupart des Français ne pourront s’y rendre.«1 Auch die Integration von zwei vergleichsweise großen Dauerausstellungen in die Londoner Museumslandschaft bedeutet eine sichtbare Präsenz des historischen Themas, die das unscheinbare und insgesamt auf wenig Gegenliebe stoßende Nationaldenkmal in Paris nicht aufwiegen kann. Die starke, in eine gezielte kulturpolitische Linie eingeordnete Dynamik der britischen Museen, die sich im Zuge des Bicentenary 2007 landesweit entfaltete, steht somit in einem gewissen Kontrast zu den französischen Verhältnissen. Im National Maritime Museum wird der 1
Tin, Louis-Georges/Jakubowicz, Alain: »Pour l’ouverture d’un musée de l’esclavage en métropole«, in: Le Monde vom 10.5.2016.
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Sklavenhandel makroperspektivisch in die chronologische Linie der länger andauernden und geographisch weiter ausgreifenden Geschichte eines Seeimperiums eingeordnet.2 In der Ausstellung »London, Sugar and Slavery« können konsumkritische Akzente erkannt werden. Das International Slavery Museum rückt das emotionale Engagement und den Kampf gegen alte und neue Formen der Unterdrückung in den Vordergrund. Diese Vielseitigkeit der Darstellung fehlt in Frankreich, wo auch die Frage der demographischen Folgen von Sklavenhandel und Migration mit größerer Zurückhaltung aufgegriffen wurde. Der Unterschied zwischen der britischen und französischen Situation tritt umso deutlicher hervor, wenn der Musée du Quai Branly mit seiner weitgehend ahistorischen Ausrichtung in die Betrachtung miteinbezogen wird. Das Pariser Prestigemuseum bot der Auseinandersetzung mit der kolonialen Sklaverei zwar wiederholt ein Forum, so beispielsweise im Zuge einer Vortragsreihe zur Weltgeschichte der Sklaverei. Die Thematisierung bleibt hier jedoch abhängig von immer neu zu verhandelnden Programmentscheidungen, und die koloniale Geschichte des Landes hat in dem auf Kunst, Kultur und Ästhetik abzielenden Konzept eine problematische bis prekäre Position inne. Die Forderung eines eigenen Sklaverei- oder Kolonialmuseums bleibt daher in Frankreich weiterhin zentral, die verhaltene Aktivität der Regierungen bezeichnend. Der mit privatem Einsatz bewerkstelligte Aufbau, die Schließung und die unrühmliche Liquidation des British Empire and Commonwealth Museum sowie die globalen Budgetkürzungen, mit denen auch das Personal des ISM zu kämpfen hat, schmälern allerdings auch die britische Bilanz. Ohne die vollständige Realisierung der geplanten Erweiterung fällt das Liverpooler Museum hinter den ursprünglich propagierten Zielen und Erwartungen zurück. Es sieht sich nicht zuletzt in seiner typisch britischen Ambition, gezielt »community outreach work« zu betreiben, eingeschränkt. Nach dem Abflauen der Nachwirkungen des britischen Gedenkjahres 2007 und mit der Eröffnung des Mémorial de l’abolition de l’esclavage in Nantes verschiebt sich der Gesamteindruck einer systematisch betriebenen Erinnerungsarbeit zugunsten Frankreichs. Bemerkenswert ist dabei, dass trotz der Unterschiedlichkeit der Form Ähnlichkeit zwischen den beiden Prestigeprojekten in den ehemals größten Sklavenhandelshäfen des jeweiligen Landes besteht – und dies durchaus nicht zufällig, da das ISM in einigen Hinsichten als direktes Vorbild für den Mémorial diente.3 Sowohl das Museum in Liverpool als auch der Gedenkort in Nantes changieren zwischen lokalen, nationalen und globalen Bezügen. Die Präsentation ist in beiden Fällen weit gefasst, um am Ende die Emanzipation im Sinne des fortschreitenden Kampfes für Freiheits-, Bürger- und Menschenrechte, aber auch die diesbezüglich fortbestehenden Defizite in den Vordergrund zu rücken. Eine weitere Parallele ist daher die enge Verbindung von Geschichte und Gegenwart, die unterschiedliche Epochen sowie verschiedene Formen von Sklaverei, Zwangsarbeit und Ausbeutung in einer schließlich zukunftsgewandten,
2
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Der aus dem maritimen Schwerpunkt des Museums resultierende Fokus auf den Seehandel kann dennoch einschränkend wirken, wie John Beech in seiner Kritik der Ausstellung ausführt: »It effectively defines slavery as essentially the slave trade, and thus locates it firmly in the past, something temporally distant which has only limited implications for present-day Britain.«, J. Beech: A Step Forwards? Vgl. R. Hourcade: Ports négriers, S. 115.
Fazit | 479
dabei aber nicht eindeutig postkolonialen Perspektive verschmelzen lässt. Die sich abzeichnende Lokalisierung von Verantwortlichkeiten ruht auf einer unzweifelhaften historischen Basis, welche die Glaubwürdigkeit der genannten Einrichtungen unterstützt. Diese haben sich in einer Umgebung etabliert, in der interessierte Gruppen und politische Vertreter/-innen relativ unvermittelte Kontakte pflegten. Vor Ort lassen sich die geschichtspolitischen Initiativen auf beiden Seiten relativ direkt in politischen oder sozialen Einfluss ummünzen, der sich nicht auf die Ebene des bloßen Prestigegewinns beschränken muss. Gleiches gilt für Teile der Region Île-de-France mit ihren vielen Einwohnerinnen und Einwohnern afrokaribischer Herkunft. Hier scheint mit den beiden Denkmaleinweihungen im Jahr 2013 ein weiterer räumlicher Schwerpunkt zu entstehen, der in diesem Fall stärker auf den Verlauf der jüngeren Migrationsgeschichte als auf die Geschichte des Sklavenhandels selbst zurückzuführen ist. In der Herausbildung von lokalen Zentren der Erinnerung spiegelt sich somit auch eine als Klientelpolitik betriebene Geschichtspolitik wider. Die Schlüsselposition, die der transatlantische Sklavenhandel in einem wesentlich weiter gespannten Netz wirtschaftlicher Verflechtungen einnahm, bildet sich im Rahmen dieser Entwicklung nicht adäquat ab. Vielmehr stützt sie die Tendenz von Teilen der britischen und französischen Bevölkerung, sich auch weiterhin im Grunde unbeteiligt zu fühlen. Die »Nation« kann sich eines Teils der Verantwortung entledigen, die in den Hafenstädten angesichts des unzweideutigen historischen Hintergrunds nach einigem Zögern eine Flucht nach vorn ausgelöst hat. Die betreffenden Städte verfügen zum einen über weniger Anziehungskraft als die hauptstädtischen Kulturmetropolen, suchten zum anderen aber nach Möglichkeiten, der vom industriellen Niedergang ausgelösten Strukturkrise auf zeitgemäße Weise zu begegnen. Im Rahmen eines auf die Touristenattraktion ausgelegten Konzepts wurde der Sklavenhandel hier auch zum Gegenstand des eklektischen Geschichtskonsums einer Zielgruppe, der im Zweifelsfall ein eher bildungsbürgerlicher Hintergrund unterstellt werden kann. Im Hinblick auf die Orte der Erinnerung sind zudem die unterschiedlichen historischen Voraussetzungen von Interesse, welche die Situation in den Hauptstädten der beiden betrachteten Länder prägten. Die Metropolen London und Paris haben eine ebenso große wie facettenreiche historische Bedeutung und verfügen über ein entsprechend reiches kulturelles Erbe. Der Sklavenhandel als lediglich ein Teil der umfangreichen Stadtgeschichte nimmt eine weniger exponierte Stellung ein, als dies in Liverpool, Nantes oder Bristol der Fall ist. In London profitieren insbesondere das Denkmal Gilt of Cain und die Ausstellung im Museum of Docklands am Canary Wharf von der Bindung an einen definierten, historisch »authentischen« Ort. Eine vergleichbar klare Anbindung lässt sich in der weniger direkt in den Sklavenhandel involvierten französischen Hauptstadt schwerer etablieren. In Paris stützt sich die öffentliche Präsentation der Sklavereigeschichte in erster Linie auf die formale Hauptstadtrolle mit dem Sitz der Nationalversammlung und des Senats sowie, hiermit verbunden, auf den politisch propagierten Anspruch der gesamtnationalen Relevanz der Erinnerung. In räumlichmateriellen Kontexten wie diesen wirkte sich gerade die herausragend starke Involvierung Großbritanniens in den transatlantischen Menschenhandel paradoxerweise wie eine Art Standortvorteil für die Etablierung der Erinnerung an die koloniale Sklaverei aus. Wie auch immer ihre Bedeutung konkret bewertet wird, die Rolle britischer Händler, Reeder, Plantagenbesitzer und Investoren hat nachhaltige Spuren hinterlassen. Sie
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herunterzuspielen, wäre ein kühnes argumentatives Manöver. Hierauf reagierte der einflussreiche National Trust mit der Arbeit an einer ausgewogeneren Präsentation der Geschichte der von ihm landesweit verwalteten Herrenhäuser. Und schließlich konzentriert sich auch die anhaltende, durch eine breite akademische Forschung unterfütterte Debatte um die ökonomische Bedeutung des Sklavenhandels in erster Linie auf den britischen Fall – auch wenn sich die Perspektive hiervon ausgehend rasch auf die Frage nach der Grundlage für den historisch bemerkenswerten »Aufstieg des Westens« und der kapitalistischen Wirtschaftsform ausdehnt. Das Denkmal Gilt of Cain setzt diesbezüglich einen Aspekt in Szene, der vor dem Hintergrund aktueller Politikthemen auf zunehmendes Interesse bei kritischen Expertinnen und Experten stieß, in der Geschichtspolitik aber insgesamt unterbelichtet blieb. Die frühen Wurzeln des europäischen Finanzkapitalismus lassen sich durch die Präsentation historischer Artefakte oder durch konkrete Bildlichkeit nur schwer kommunizieren. Auch wenn das eigentliche Thema des Gedenkorts die Abschaffung des Sklavenhandels ist, umgeht das Konzept die für das Vereinigte Königreich charakteristische Tendenz zu einer an Parlament und Personen orientierten Whig History. Jedoch füllt die in sich komplexe Skulptur am Fen Court die besagte gedankliche Lücke in der erinnerungskulturellen Diskussion allenfalls inhaltlich. In einer unscheinbaren Gasse im Schatten der Hochhaustürme, leicht abseits vom Geschäftsalltag der City of London und außerhalb der touristischen Zentren der Stadt, hat die Botschaft es schwer, ein größeres Publikum zu erreichen. Jahre nach der Einweihung von Le cri, l’écrit im Jardin du Luxembourg und trotz (oder gerade wegen) seiner Funktion als räumlicher Orientierungspunkt der hochoffiziellen Zeremonien scheint jedoch auch das französische Nationaldenkmal die Rolle eines erinnerungskulturellen Ankers nicht unbedingt zu erfüllen. »The UK lacks a national memorial, but its city memorial has a dynamism that Hyber’s piece distinctly lacks.«4 Insgesamt bleibt die räumliche Verankerung der Erinnerung an die Sklaverei im westeuropäischen Kontext eine Herausforderung. Der Idee eines »living momument« entspricht bezeichnenderweise eher das unscheinbare und abgelegene Grab des jungen Afrikaners »Sambo« in Lancashire, ein in jüngerer Zeit durch lokales Engagement wiederbelebter Ort des geschichtsbezogenen Totengedenkens. 5 In der Nähe des Dorfes Sunderland Point an der nordenglischen Küste wurde um das Jahr 1736 herum ein Junge beerdigt, der vermutlich als Sklave aus der Karibik nach England gekommen war. An »Sambos Grab« liegen nicht nur von Schulkindern des Dorfes bunt bemalte Steine, sondern oft auch frische Blumen. »The grave has become alive with colour and resembles African and African-American graves with their relics of the dead placed over the body.«6 Es steht zu vermuten, dass die kleinen Andenken als Zeichen der emotionalen Sympathie nicht allein für den an dieser Stelle beigesetzten Jungen bestimmt sind, sondern stellvertretend auch für die vielen Namenlosen niedergelegt werden, die nie bestattet wurden oder deren Begräbnisplätze heute nicht mehr auffindbar sind. »Without memorial sites, memorialization is problematic, especially in such a contested terrain as Britain’s slave past, and Sambo’s grave gives all Lancastrians an opportunity to remember 4 5 6
A. Rice: Creating Memorials, Building Identities, S. 27. Ebd., S. 32 ff. und A. Rice: Radical Narratives of the Black Atlantic, S. 213 ff. Ebd., S. 215.
Fazit | 481
without being guided by museum curators or politicians on the make. […] Erected not by civic guilt or sustained by false ideologies of slave-freeing British imperium, it takes on a life of its own, sustained by what Pierre Nora would call our ›commemorative vigilance‹«.7
Bei dem Mémorial de l’abolition de l’esclavage in Nantes und dem Mémorial ACTe in Guadeloupe handelt es sich dagegen um Großprojekte der Erinnerungsarbeit, deren Umsetzung die materielle Gedenklandschaft nachhaltig verändert hat. Wenn die Auseinandersetzung mit der Sklaverei in Frankreich geschichtspolitisch fester und konsequenter etabliert scheint, so liegt dies aber auch an einer Reihe von auf anderen Ebenen angesiedelten Initiativen. Diese trugen das Thema ins Zentrum der nationalen Politik, wo vor allem der Staatspräsident sowie zudem das Parlament aktive geschichtspolitische Gestaltungsmacht ausüben. Eine entscheidende Basis hierfür legte die Loi Taubira. Die Verabschiedung des Gesetzes, dessen erster Artikel die koloniale Sklaverei und den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte, knüpfte an frühere französische Gesetze mit Geschichtsbezug an. Der Text rückte den Gedanken der systematischen politischen Gestaltung historischer Erinnerung aber noch weiter in den Vordergrund. Die Einrichtung des Komitees für die Geschichte der Sklaverei und ihre Erinnerung sowie der Gedenktag am 10. Mai, der inzwischen traditionell mit einem Beitrag des Präsidenten als höchstem Vertreter der französischen Republik begangen wird, prägten die weitere Entwicklung. Sollten sich die von François Hollande angekündigten Pläne zur Einrichtung eines Museums in der Hauptstadt konkretisieren, kann mit Fug und Recht davon gesprochen werden, dass das Thema einen festen Platz in der französischen Geschichtspolitik erlangt hat. Zugleich stellt sich dieses Feld in Frankreich als besonders umkämpft und polarisiert dar. Immer wieder nahmen die Kollisionen unterschiedlicher Ansichten und Akteursgruppen die Züge systematischer Konfrontationen an, in denen Ziele und Standpunkte vehement gegeneinander verteidigt wurden. Petitionen und Medienskandale waren ebenso an der Tagesordnung wie der offene Konkurrenzkampf verschiedener Assoziationen um geschichtspolitische Einflussnahme und Deutungsmacht. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg spielten zudem Positionierungen eine Rolle, die auf einen aktiven erinnerungskulturellen Revisionismus oder eine politische Blockade der neu aufgenommenen Ansätze hindeuteten. Auf nationaler Ebene steht hierfür sinnbildlich das Gesetz vom 23. Februar 2005, das von der konservativen Parlamentsmehrheit trotz ausufernder Proteste verteidigt wurde. Aber auch der Streit um die Finanzierung des Mémorial de l’abolition de l’eclavage, dem die Regierung unter Präsident Sarkozy ihre Anerkennung vorenthielt, zeugt von einem alles andere als reibungslosen Prozessverlauf. Selbst die Loi Taubira als ein parteiübergreifend anerkannter und damit letztlich unumstößlicher Meilenstein der Entwicklung kann nicht als vollständig gefeit gegen revisionistische Attacken gelten, und die Planungen für das vom CPME bereits 2004 geforderte Sklaverei-Museum machen seit über einem Jahrzehnt keine substantiellen Fortschritte. Die in Frankreich auf bestimmten Ebenen markant hervortretende Entwicklung der Geschichtspolitik kann zudem nicht ohne weiteres auf das breitere Feld der Erinnerungskultur übertragen werden, auch wenn verschiedene zivilgesellschaftliche Ver-
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Ebd., S. 216.
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bände sich ebenfalls für die Erinnerung an den Sklavenhandel einsetzten. Die Mobilisierung der Eliten und Vereine sollte nicht mit gesellschaftlicher Breitenwirkung verwechselt werden, sie kann diese nicht ersetzen und bisweilen sogar behindern. »La commémoration n’est pas popularisée, voilà le problème. On parle à la place des gens, on leur vole la parole. C’est une commémoration d’intellectuels et de sociologues. Sans fibre populaire. Sans esprit de célébration collective.«8 Nicht nur der CPMHE äußerte sich wiederholt kritisch über die Bemühungen der verantwortlichen politischen und medialen Eliten um eine Erweiterung der erinnerungskulturellen Basis der Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolitions am 10. Mai. Bezeichnend für die französischen Gedenkveranstaltungen ist daher die nach wie vor ausbleibende Sammlung: Auf der einen Seite steht die eingezäunte, ohne Einladung nicht zugängliche Zeremonie im Jardin du Luxembourg, auf der anderen Seite stehen populärkulturell orientierte Veranstaltungen wie die am 23. Mai, die sich gezielt an ein afrokaribisches, in Teilen auch afrikanisches Publikum richten. Die jeweils gesetzten inhaltlichen Akzente unterscheiden sich bisweilen deutlich. Und die breitere, nicht spezifisch interessierte Öffentlichkeit scheint das Gedenken nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis zu nehmen. Als »Ur-Katastrophe« der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der Sklaverei in den französischen Kolonien kann dabei die offizielle Inszenierung des 150. Jahrestags der Emanzipation im Jahr 1998 bezeichnet werden. Auf der Basis der sozialpolitischen und erinnerungskulturellen Entwicklung der vorangegangenen Jahre stieß die republikanische Narrativierung auf einen Widerspruch, der sich in kollektiv organisierter Form sichtbar machte und der bis heute nachwirkt. Mit dem Ereignis betrat das gerade erst an die Macht gekommene Linksbündnis unter Lionel zwar geschichtspolitisches Neuland, die Ausrichtung war aber unter den gegebenen Umständen nicht dazu geeignet, dem angestauten erinnerungskulturellen Unmut seine widerständige Spitze zu nehmen. Als dagegen die Labour-Regierung das Thema Sklavenhandel ein knappes Jahrzehnt später in Angriff nahm, ging sie in eine geschichtspolitische Offensive, die ihresgleichen sucht. Das mit Bedacht inszenierte Jubiläum 2007 sticht deutlich aus einer Entwicklung hervor, die lediglich über einen begrenzten Zeitraum hinweg im Fokus des öffentlichen Interesses stand. Dem 200. Jahrestag der Abschaffung des britischen Sklavenhandels wurde ein ganzes Gedenkjahr mit klar erkennbaren Höhepunkten gewidmet. Die Planung war langfristig angelegt, und auch wenn Kritik an der Verteilung der Gelder geäußert wurde, konnte die Regierung die Gesamtsumme der investierten Finanzmittel demonstrativ ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Dass es auf diese Weise gelingen würde, allgemeine Zustimmung zu erzielen, war nicht zu erwarten; der Versuch, aus der internationalen Diskussion inzwischen bekannte Klippen zu umschiffen, trat jedoch deutlich hervor. Verfechter/-innen eines eher traditionell nationalistischen Geschichtsbildes erhielten die Möglichkeit, sich mit dem Jubiläum zu identifizieren, das mit vielen Lobeshymnen auf die Freiheit begangen
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Diese Feststellung, die ein martinikanischer Schüler im Vorbereitungskurs für die Aufnahme an der ENS bereits 1998 traf, kann im Hinblick auf die aktuellen Gedenkzeremonien durchaus übernommen werden, »Jean« zit. n. Cojean, Annick: »L’héritage de l’esclavage aux Antilles. A Fort-de-France, les élèves d’une classe d’hypokhâgne ont accepté d’évoquer l’esclavage et ses séquelles«, in: Le Monde vom 24.4.1998.
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wurde. Elemente wie der kirchlich organisierte, aber in das offizielle Programm aufgenommene March of Witness und die Eröffnung des ISM am 23. August setzten aber inhaltlich ausgleichende Akzente. Trotz aller Differenzen, die das Bicentenary begleiteten, konnte das Kabinett mit einiger Mühe und einem gewissen Erfolg zumindest dem Verdacht einer grundsätzlichen Verdrängungs- oder Verzögerungstaktik entgegenwirken. Ähnliches lässt sich auch im Hinblick auf die Kooperation zwischen national und lokal verankerten Entscheidungsträgerinnen und -trägern sagen, die sich im französischen Fall des Mémorial in Nantes letztlich kompromisslos gegenüberstanden. Die britische Labour-Regierung zeigte sich durchaus bereit, dezentralen Entwicklungslogiken bis zu einem gewissen Grad ihren Lauf zu lassen, auch wenn der lenkende Einfluss finanzieller Instrumente im Rahmen des Bicentenary nicht unterschätzt werden sollte. Vor diesem Hintergrund konnte sich etwa die anglikanische Kirche als staatsnahes Organ mit geschichtspolitischem Eigeninteresse am Thema als weitgehend kooperativer, bisweilen aber auch proaktiv und provokativ handelnder Akteur etablieren. Der britische Wandlungsprozess zeichnete sich außerdem durch weniger markant ausgeprägte Höhe- und Tiefpunkte der Debatte aus, stellt sich im Vergleich zum französischen Fall also als eher evolutionär denn aktiv umkämpft dar. Hieraus ergab sich ein gewisser Freiraum für Initiativen, die den Anspruch hatten, über klassische Topoi hinauszugreifen. Die vergleichsweise wenig kommentierte Errichtung eines Denkmals wie Gilt of Cain hätte in Paris, so darf vermutet werden, deutlich höhere Wellen geschlagen. Auch aus diesem Grunde scheint eine Umsetzung der ambitionierten Pläne für das französische Zentrum zur Sklaverei-Geschichte mit einem großen geschichtspolitischen Risiko behaftet. Der 10. Mai lässt den diesbezüglichen geschichtspolitischen Druck periodisch ansteigen. Dass kritische Stimmen zumeist um den Gedenktag herum versuchten, sich Gehör zu verschaffen, spricht für die Rolle der Journée des mémoires als Fokalisationspunkt für die andauernde Auseinandersetzung um die Gestaltung der öffentlichen Erinnerung an Sklaverei und Emanzipation. Der britische Gedenktag ist zum einen sehr viel niedrigschwelliger angesiedelt, er ordnet sich zum anderen weniger deutlich in eine explizit auf die Nation ausgerichtete Geschichtspolitik ein. Beide Tendenzen spiegeln sich auf formaler wie inhaltlicher Ebene in der Wahl des von der UNESCO propagierten 23. August als Gedenkdatum, das keinen starken Bezug zur britischen Geschichte aufweist. Durch die feierliche Eröffnung des ISM gehörte der Tag zu den herausragenden Momenten des Jubiläumsjahres 2007. Der Premierminister begab sich zu diesem Anlass allerdings nicht von der Hauptstadt ins nordenglische Liverpool. Überhaupt wurde der 23. August auf den höchsten politischen Ebenen mit wenig Eigeninitiative verbunden. Vor dem Hintergrund bereits bestehender Organisationsstrukturen und vorformatierter Perspektiven dürfte dies weder als notwendig noch als fruchtbar im Sinne einer nationalen geschichtspolitischen Linie betrachtet worden sein. Die Begehung dieses Tages kann in einem mehr oder weniger offenen Austausch zwischen lokalen und internationalen Initiativen erfolgen, der nicht zwingend von zentralstaatlichen Steuerungsversuchen eingehegt oder von hoher nationalpolitischer Präsenz aufgewertet wird. Am Profil des Gedenkdatums wie auch des Sklavereimuseums in Liverpool zeigt sich ein geschichtspolitischer Blick, der sich häufig von innen nach außen richtete und die Nation als global geschichtsmächtige Akteurin in einen größeren historischen Rah-
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men hineinprojizierte. Für das Vereinigte Königreich stellen die ehemaligen Sklavenkolonien inzwischen Ausland dar. Die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zwang daher nicht im selben Maße wie in Frankreich zur Konfrontation mit dem von machtvollen Widersprüchen geprägten Verhältnis von Nationalismus und Kolonialismus. Vielmehr konnte der geschichtspolitische Wandel, durchaus im Sinne von New Labour, als in vermeintlich guter britischer Tradition stehende Weltoffenheit präsentiert werden. Die Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der die Erinnerung sich in den internationalen Kontext einordnete, rührte aber auch aus der nach wie vor stark beanspruchten Rolle eines globalhistorischen Wegbereiters für Freiheit und Emanzipation. Und schließlich entsprach diese Orientierung den Leitprinzipien der aktuellen Außenpolitik, die insbesondere in der Amtszeit von Tony Blair interventionistisch ausgerichtet war. Eine scheinbar naheliegende Verschränkung von Geschichte und Gegenwart ergab sich hier über den – für das 18. und 19. Jahrhundert freilich anachronistischen – Gedanken der »humanitären« Intervention und des internationalen Einsatzes für die Menschenrechte. In Frankreich tauchte dieser Aspekt erst vor dem Hintergrund des militärischen Eingreifens in Mali an prominenter Stelle auf. Bei seiner Rede anlässlich des Gedenkens am 10. Mai 2016 setzte François Hollande äußerst aktuelle Akzente, indem er erklärte: »Je pense à ces jeunes filles, notamment celles qui avaient été enlevées par les terroristes de Boko Haram, puis monnayées et mariées de force. Je pense aussi aux femmes, aux hommes, aux innocents que Daech opprime et exploite et je pense également aux migrants aux prises avec les trafiquants.«9 Im Vergleich zu anderen umkämpften Gebieten der Erinnerungskultur liegt der transatlantische Sklavenhandel zeitlich relativ weit zurück; eine durch biographische Erinnerung bestehende persönliche Verbindung ist ausgeschlossen. Dennoch versetzte die Auseinandersetzung mit diesem Teil der Vergangenheit viele Gemüter in erkennbar starke und erkennbar politisch motivierte Schwingungen. Hieran zeigte sich eine besondere Verbindung der Geschichte zu gegenwärtig akuten Konflikten. Hoffnungen und Befürchtungen im Hinblick auf die (Des-)Integration der Gesellschaft bzw. der Nation und die von ihnen angetriebenen impliziten oder expliziten Identitätskonstruktionen spielten in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite stand eine mittlerweile als explizit positiv begriffene sozialkulturelle »Diversität«, die historisch nicht nur erklärt, sondern geschichtspolitisch auch affirmativ bestätigt werden sollte. Die Entwicklung eines zu dieser Gegenwart der postkolonialen Nation passenden Geschichtsbildes wurde von den Trägerinnen und Trägern kulturell bislang marginalisierter Erinnerungen eingefordert, sie spiegelte aber zudem ein gesellschaftliches und regierungspolitisches Interesse wider, das nicht unterschätzt werden sollte. Auf der anderen Seite war die besagte Vielfalt zugleich der Ausgangspunkt für eine vehemente und äußerst spannungsgeladene Debatte um Formen der Benachteiligung, Diskriminierung, Intoleranz und auch Gewalt mit ethnischer Komponente. Die nationalstaatlich verfassten Gesellschaften und ihre Regierenden standen folglich vor der Herausforderung, geschichtspolitisch eine Atmosphäre zu gestalten, die zumindest einer Dämpfung der bestehenden Spannungen – deren strukturelle Ursachen sich nicht einfach aus der Welt schaffen ließen – zuträglich sein sollte. Es galt die Grenzen zu 9
F. Hollande: Discours, 10.5.2016. Mit dem aus dem Arabischen hergeleiteten Akronym DAECH wird in Frankreich die Organisation bezeichnet, die in Deutschland meist »Islamischer Staat« (IS) genannt wird.
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definieren, innerhalb derer individuelle und kollektive Vielfalt gelebt und gewürdigt werden konnte, ohne den notwendigen Basiszusammenhalt der Gesellschaft zu gefährden. Diese Grenzen wurden in erster Linie national verhandelt, sie umschlossen das Hoheitsgebiet der »imaginierten Gemeinschaft« (B. Anderson), die nach historischer Orientierung strebte. Bestimmt wurde die allgemeine Situation durch die Verschärfung des innen- und außenpolitischen Klimas nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und die Furcht vor einem »clash of civilizations«, in der sich auch die Verunsicherung durch den Verlust der kolonial begründeten (west-)europäischen Hegemonie spiegelte. Klassische nationalistische bzw. republikanische Perspektiven konnten in diesem Zusammenhang neuen Auftrieb erhalten. In einem intellektuellen Umfeld, in dem Vorstellungen von multiplen, hybriden und flexiblen Identitäten ebenso Fuß gefasst hatten wie die Idee der »imaginierten Gemeinschaften«, wurde die Nationalidentität aber auch als dezidiert inklusive, zeitgemäße und vor allem formbare kulturelle Ressource beschworen. Politisch korrekt eingesetzt, sollte sie wichtige gesellschaftliche Bindungen erneuern und verstärken helfen, die als verloren oder zumindest als im Niedergang befindlich betrachtet wurden. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur hatten hierbei eine wichtige Rolle zu spielen. Denn der Wunsch, die Stabilität der »nationalen Gemeinschaft« zu befördern und der Glaube, dass die Konstruktion eines gemeinsamen historischen Gedächtnisses hierzu entscheidend beitragen könne, war ebenso verbreitet wie die Vorstellung, dass das Fehlen eines verbindenden, möglicherweise auch verbindlichen Geschichtsbildes als Faktor der sozialen Desintegration wirken würde. In besonderem Maße gilt dies für Frankreich, wo die Doktrin des republikanischen Universalismus und die seine diskursive Hegemonie ursprünglich abstützende Idee des »roman national« spürbar fortwirkten. Mit dem fest gefügten und wenig flexiblen Konstrukt der »Republik« verfügt das nationale Selbstverständnis in Frankreich über einen vergleichsweise harten, aber auch abstrakten Kern, auf den sowohl geschichtspolitisch konservative als auch reformbemühte und radikale Kräfte sich in der einen oder anderen Weise bezogen – dabei allerdings nicht unbedingt über dasselbe sprachen. Zusätzliches Eskalationspotential resultierte aus dem Umstand, dass Reformansätze rasch als Angriff auf die klar ausbuchstabierten Werte des Republikanismus ausgelegt werden konnten, dessen realpolitische Potentiale und Defizite auch anhand kolonialhistorischer Beispiele diskutiert wurden. Im Vereinigten Königreich richtete sich der Blick weniger auf die Erweiterung denn auf die Einhegung des Raumes, der dem Ausdruck identitärer Differenzen in der Gesellschaft nach offiziellem Verständnis eingeräumt werden sollte: Verhandelt wurden hier die Grenzen eines plakativen Multikulturalismus der »community of communities«. Die von diesen Entwicklungen angestoßene Introspektion suchte im Zuge einer offiziellen Distanzierung von jüngeren Leitlinien der Kultur- und Sozialpolitik nach Orientierung in der Geschichte. Dabei war der Sinn für den Zweck und den Gehalt der propagierten Britishness, die der »community cohesion« dienen sollte, durchaus nicht selbstverständlich verbreitet. Der explizit nationale Charakter der in diesem Zusammenhang betonten »Werte« konnte als selbstevident postuliert oder pauschal abgelehnt werden; die historischen Ableitungen dienten oft dazu, zwischen beiden Positionen im Sinne der politischen Ansätze von New Labour zu vermitteln. Die Menschen, die in Großbritannien und Frankreich als Nachkommen afrikanischer Sklavinnen und Sklaven in das Bewusstsein der Öffentlichkeit eintraten, nahmen
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dabei eine prekäre Position am Schnittpunkt mehrerer Diskussionsfelder ein, in denen sie eine Rolle spielten, ohne im eigentlichen Zentrum zu stehen. Das Spezifische an dieser Position war also gerade ihre tendenzielle Unschärfe. Jenseits und unabhängig von allen soziokulturellen Attributen setzt sich die als »schwarz« gelesene und sich zum Teil als »schwarz« begreifende Bevölkerung aus besonders sichtbaren Trägerinnen und Trägern einer Diversität zusammen, die für sich genommen keine spezifische soziale oder kulturelle Aussage macht. Im Aushandlungsprozess um die Chancen und Grenzen der Vielfalt, der angesichts der Unumkehrbarkeit der sozialen Transformation geführt und politisch kanalisiert werden musste, konnte sie somit als Projektionsfläche dienen. Dies war auch und gerade dann der Fall, wenn Diversität zum Gegenstand eines gezielten Positivmarketings werden sollte, das konfliktlastige Themen, wie etwa die Rolle des Islam in westeuropäischen Gesellschaften, vermeiden wollte, um bestehenden Ressentiments nicht in die Hände zu spielen. Die betreffenden Personen gingen nicht in der von Medien und Politik am stärksten problematisierten Gruppe auf, die mit Begriffen wie »illegale Einwanderung« und »Islamismus« verbunden wurde. Allerdings beförderten Ähnlichkeiten der aktuellen Lebenssituation kulturelle Überschneidungstendenzen besonders am unteren Ende der sozialen Hierarchien. Und schließlich wurde unter dem Vorzeichen xenophober und rassistischer Vorurteile oft nicht zwischen Menschen unterschieden, die jenseits ihrer dunklen Hautfarbe an sich wenig gemeinsam hatten. Insgesamt ergab sich hieraus eine gewisse Offenheit für Assoziationen, Ausdeutungen und Instrumentalisierungen, die das historische Thema und die mit ihm verbundenen Implikationen vielseitig nutzbar und intensiv umstritten machten. Auch die in der besagten Bevölkerungsgruppe verorteten Akteurinnen und Akteure selbst konnten in diesem Zusammenhang entweder Allianzen suchen oder nach Abgrenzung streben, um ihren Interessen Richtung und Nachdruck zu verleihen. Die Geschichte war in diesem Zusammenhang ein wichtiges Werkzeug zur Erzeugung, Hervorhebung oder Einebnung von Homo- bzw. Heterogenität, das mal mehr, mal weniger bewusst eingesetzt wurde. Zentral war in diesem Zusammenhang nicht nur die Verhandlung von Täter-OpferKonstellationen, sondern auch die Entscheidung darüber, welchen Personen(-gruppen) positiv gestaltende Akteursmacht zugestanden wurde. Diese Problematik ergab sich aus der Spannung zwischen Unterdrückungs- und Freiheitsnarrativ, die der Geschichte der vor gut 150 Jahren offiziell abgeschafften Sklaverei auf spezifische Weise inhärent ist. Vor diesem Hintergrund stellte Agency einen besonders relevanten und sensiblen Punkt sowohl in den geschichts- als auch in den aktualitätsbezogenen Debatten dar. Die Konsequenzen sind demnach doppelt signifikant, denn sie beziehen sich auf die Bewertung der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart in ihrer gegenseitigen Verschränkung. Die entsprechenden Rollen und Figuren wurden in Abhängigkeit von Herkunft und Hautfarbe unterschiedlichen historischen Lagern zugeordnet, deren kollektive Beziehung geschichtspolitisch auszuhandeln war. Folglich griffen auch die historische, politische und erinnerungskulturelle Ebene an dieser Stelle eng ineinander. Zu beachten ist, dass es hierbei nicht nur um den Verlust der anderen, sondern mehr oder weniger explizit auch um das Privileg der einen ging – eine Perspektive, die der Mehrheitsmeinung aus einer Minderheitenposition heraus besonders schwer nahezubringen ist. Die Schärfe des politischen Anschnitts erhöhte sich mit dem Wechsel von einer opfer- auf eine täterzentrierte Perspektive.
Fazit | 487
Der Konflikt um Agency begann bei der Anerkennung der Sklavinnen und Sklaven als handelnde Subjekte der Menschheit und ihrer Geschichte und reichte von dort bis zur Frage des spezifischen Charakters der nationalen bzw. westeuropäischen Vergangenheit in einem globalhistorischen Rahmen. Folgenreich war dabei die Konstruktion bestimmter narrativer Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte konnte im Modus der negativen Kontinuität oder des positiven Fortschritts erzählt werden – und zwar mit unterschiedlichen personellen Besetzungen. Auf der einen Seite standen Versuche, die genuinen Besonderheiten der europäisch-neuzeitlichen Kolonialsklaverei als solcher und namentlich die in diesem Zusammenhang zum Tragen kommenden Täter- und Opferrollen zu unterstreichen. Auf der anderen Seite standen Interpretationen, die »Sklaverei« als Konstante der Menschheitsgeschichte etablieren und das in dieser Hinsicht emanzipatorische Wirken der Kolonialmächte zur eigentlichen Essenz des zu Erinnernden erklären wollten. Diese Deutung stieß auf Widerstand in emanzipatorischen Selbstbefreiungsnarrativen. Jede Zuweisung von positiv oder negativ besetzter Handlungsmacht konnte in diesem Zusammenhang durch eine gedankliche Verlängerung des Arguments in Resonanz mit der Reparationsfrage treten. Umkämpft war aber auch ein privilegierter Zugang zum diskutierten Teil der Vergangenheit und davon ausgehend ein vorrangiges oder gar exklusives Deutungs- und Verfügungsrecht über diesen Strang der Geschichte. Mitsprache in geschichtspolitischen Kontexten wurde eingefordert, aber trotz oder gerade wegen der Konfliktlastigkeit des Themas auch bewusst ermöglicht. Die Anpassung des geschichtspolitischen Angebots reagierte somit zwar auf eine spezifische Nachfrage, die auch als solche wahrgenommen wurde. Dennoch konnten die Ergebnisse nicht alle Erwartungen befriedigen – und dies durchaus nicht nur im Hinblick auf die omnipräsente, aber selten im Hinblick auf eine konkrete Lösung diskutierte Reparationsfrage. Häufig prägten gerade stark polarisierende Stellungnahmen das allgemeine Diskussionsklima, sowohl aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die sie anzogen, als auch aufgrund der gleichfalls vehementen Abwehrreaktionen, die sie auslösten. Sie warfen damit ihre Schatten von den Rändern bis in die Mitte der verbal ausgetragenen Konflikte. Unter den jeweiligen nationalen Bedingungen führte die Auseinandersetzung mit dieser Problemlage in den Untersuchungsländern auf spezifischen Wegen unterschiedliche Ergebnisse herbei. In Großbritannien stellte die Verabschiedung des Slave Trade Abolition Act den entscheidenden Fokus dar. In der vorherrschenden, 2007 in wesentlichen Punkten bestätigten erinnerungskulturellen Deutung stellte das Verbot des transatlantischen Menschenhandels einen moralischen Wendepunkt dar, durch den Großbritannien im politischen Kampf mit sich selbst vom historischen Irrtum der Sklaverei zu seiner eigentlich freiheitlichen Bestimmung (zurück) fand. Die herausragende Rolle britischer Händler und Financiers für den Sklavenhandel erfuhr in der Folgezeit durch den ebenso herausragenden Einsatz gegen den Sklavenhandel anderer Staaten eine gewisse Absolution. Diese mit nationalen und religiösen Motiven aufgeladene Geschichte war in weiten Teilen bereits von Akteuren geschrieben worden, die mit der Abolitionsbewegung in direkter Verbindung standen, unter ihnen Thomas Clarkson und die Brüder Wilberforce. Die schon in den Jahren vor dem Bicentenary 2007 spürbare öffentliche Präsenz dieses Narrativs zeigt zum einen, dass die erinnerungskulturelle Bedeutung des Abolitionismus auf Basis einer früh erfolgreich angelegten Tradierung ausgeprägter war als in Frankreich. Ablesen lässt sich hieran zum zweiten,
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dass die angelegten Motive in positive Resonanz mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen Klima traten. Gegen Ende einer langen Periode der konservativen Regierung des Landes verschaffte sich diskursiv und zunehmend auch politisch ein Drang nach Reform und Wandel Luft, der nicht zuletzt das Feld moralischer und kultureller Werte berührte. An diese Stimmung knüpfte die Labour-Partei unter Tony Blair an, die mit der Zeit ein spezifisches Eigeninteresse an der britischen Vergangenheit entwickelte. Das zunächst demonstrative, durch die Betonung nationaler »Werte« später eingeschränkte Bekenntnis von New Labour zu einer durchaus nicht spannungsfreien multikulturellen Gegenwart sollte mit einer passenden Geschichte untermauert werden. Freilich musste der etablierte Abolitionsmythos eine zeitgemäße Überarbeitung erhalten, die zudem den Regierungsvorstellungen von einem progressiven Patriotismus als politischer Ressource entsprechen sollte. Als reines »Wilberfest« hätte das Bicentenary 2007 nicht nur seine geschichtspolitische Wirkung verfehlt, sondern im schlechtesten Fall auch eine Protestbewegung wie 1998 in Frankreich hervorgerufen. Als geschichtspolitisch besonders nützlich erwies sich in diesem Zusammenhang die soziale Breite der politischen Bewegung, die in Großbritannien mit innovativen Propagandainstrumenten und groß angelegten Petitionskampagnen gegen den Sklavenhandel und später die Sklaverei mobil gemacht hatte. Von offizieller Seite betont wurde der (proto-)demokratische Charakter dieser Mobilisierung, die auch und gerade auf dem Engagement von Personengruppen basierte, die vom Einfluss auf die zeitgenössische Politik ansonsten weitgehend ausgeschlossen blieben. Eine herausgehobene Rolle für die entsprechende Kommunikation spielte folglich das Handeln von Frauen und insbesondere afrikanischen Akteuren, die seinerzeit in Großbritannien für abolitionistisches Gedankengut eingetreten waren – und nun an der Seite von Clarkson und Wilberforce als den Mitgliedern der Londoner SEAST gleichrangige Aktivisten auftraten. Die umstandslose Integration in den Nationalmythos machte vor allem Olaudah Equiano zur Zusatzbesetzung mit leicht verständlicher Rollendefinition in einem weitgehend vertrauten historischen Drama. Er wurde dabei zugleich zum Kronzeugen für die vermeintlich typisch britische Tradition der Toleranz und aktiven Wertschätzung der Menschenrechte. Die Abolitionsbewegung wurde so zu einem multiethnischen Projekt stilisiert, für dessen Realisierung Menschen unterschiedlicher Herkunft nicht gegeneinander, sondern Seite an Seite gekämpft hatten. Der Fokus schloss Themen wie den gewaltsamen Widerstand der in den Kolonien Versklavten nicht von vornherein, zumeist aber vom Hauptstrang der Erzählung aus. Die Moral der Geschichte basierte auf der Inszenierung eines sehr britischen, mit politischen Mitteln zum Erfolg geführten Kampfes, der unterschiedliche soziale Gruppen auf breiter Basis vereinte. Diese Geschichte sollte auch in Gegenwart und Zukunft als Vorbild für zivilgesellschaftliches Reformengagement in der Art von »Make Poverty History« dienen können, das aus regierungspolitischer Sicht respektabel und erwünscht war. Diese Perspektive setzte sich fort, um darüber hinaus die aktuelle britische Außenpolitik historisch legitimierend zu erfassen. Hier sollte sich die Solidarität mit den Unterdrückten nicht nur in der Leistung von Entwicklungshilfe, sondern ggf. auch in Form eines militärischen Engagements ausdrücken. So blieb die Strahlkraft des Abolitionsmythos nicht zuletzt in Verbindung mit einer außenpolitischen bzw. globalhistorischen Perspektive weiterhin stark.
Fazit | 489
Diesem geschichtspolitischen Management des Bicentenary kamen die Anknüpfungsmöglichkeiten für gesellschaftlich und erinnerungskulturell traditionell stark aufgestellte Handlungsträger entgegen. Trotz des Wandels der äußeren Umstände lässt sich in der britischen Geschichte eine relativ klare institutionelle Kontinuität ausmachen, die von der Gründung der SEAST bis zum Einsatz von Nichtregierungsorganisationen gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in heutiger Zeit reicht. Zu den entsprechenden Stakeholdern, die ein eigenes Interesse mit der Fortführung bestehender Erinnerungsstränge verbanden, gehörten zunächst das Parlament, dann aber auch das Militär und die Anglikanische Kirche sowie schließlich ASI. Im Verhältnis zur hochoffiziellen Geschichtspolitik waren die Interessen nicht immer konfliktfrei ausgerichtet, trugen im Großen und Ganzen aber doch zur (Re-)Stabilisierung der erinnerungskulturellen Elite bei. Hierfür bezeichnend ist die Kritik, die Rowan Williams historisch zu unterstreichen suchte: »The Archbishop of Canterbury is to criticise politicians for failing to give a moral lead, and urge them to emulate William Wilberforce to rebuild the battered reputation of parliament.«10 (Selbst-)Kritik war und wurde angebracht; dass sie den Tenor des Jubiläums bestimmen würde, war im gegebenen geschichtspolitischen Rahmen aber nicht zu erwarten. Vielmehr leisteten die skizzierten Konturen der britischen Vergangenheit einer Erinnerung Vorschub, in der sich die Überzeugungen und die Leistungen einiger Bürger/-innen durch ihre rhetorische Popularisierung und Institutionalisierung tendenziell auf die historische Nation als solche übertrugen. Die Rolle von Akteurinnen und Akteuren, deren Handeln in die entgegengesetzte Richtung strebte, trat dagegen in den Hintergrund. Gleiches gilt für die Entwicklung struktureller Rahmenbedingungen, die den Lauf der Geschichte prägte. Die Masse der Menschen, die von der Sklaverei in den britischen Kolonien betroffen war und ihr Leben als mehr oder weniger »durchschnittliche« Plantagenarbeiter/-innen fristeten, wurde von dem auf diese Weise vorgeprägten Blick auch weiterhin nur am Rande erfasst. Nicht ihr Handeln, sondern der philanthropische Einsatz für ein an ihrer Stelle für sie definiertes Wohlergehen stand im geschichtspolitischen Rampenlicht. Da die eigentliche Abschaffung der Sklaverei weder in der Metropole noch in den britischen Kolonien mit größeren Gewaltausbrüchen verbunden war, schien zugleich die evolutionäre Kontinuität als grundlegendes Muster einer britischen Fortschrittsgeschichte bestätigt. Die historische Chronologie wies die nötigen Ansatzpunkte für narrative Elemente auf, anhand derer sich eine bis zu einem gewissen Grade schlüssige Erzählung mit einer scheinbar geradlinigen Handlungslogik konstruieren ließ. Auch wenn das Set der diese Handlung tragenden Personen an die geschichtspolitische Bedarfslage angepasst werden musste – und bis zu einem gewissen Grade konnte – veränderte sich an der Grundlinie oft auffällig wenig. Zwar trat die demonstrative Anerkennung der destruktiven Tragweite der langen und folgenreichen Geschichte der kolonialen Sklaverei als ergänzende und im Hinblick auf aktuelle Verhältnisse mahnende Reflexion hinzu. Insgesamt war die britische Geschichtspolitik aber nicht zuletzt darauf ausgelegt, problematische Themen, welche die ethnische Spaltung der Geschichte stärker in den Vordergrund gerückt hätten, aus dem Zentrum des Gedenkens zu evakuieren.
10 Morgan, Christopher: »Archbishop tells MPs to rediscover their moral mission«, in: The Sunday Times vom 22.4.2007.
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Dieser Versuch war an bestimmte historische Voraussetzungen gebunden, namentlich an die Existenz einer breiten und international profilierten politischen Bewegung, die sich mit Ausdauer und modern anmutenden Mitteln gegen die Fortsetzung des Sklavenhandels und schließlich der Sklaverei eingesetzt hat. Sowohl die nationalhistorische Entwicklung als auch die ihr entsprechende Quellenlage boten verhältnismäßig günstige Ausgangsbedingungen für den Versuch, dem zentralen Erinnerungskonflikt mit einem personenzentrierten Ansatz zu begegnen. Die relative Dominanz der auch von traditionellen Motiven geprägten Geschichtskommunikation ist allerdings zu einem wesentlichen Anteil darauf zurückzuführen, dass das entsprechend vorselektierte historische Material den aktuellen politischen Legitimationsbedürfnissen und dem von ihnen ausgehenden Selektionsdruck entgegenkam. Das heißt nicht zuletzt auch: Die Geschichte der britischen Sklaverei könnte unter anderen Umständen und bei stärkerer Betonung der ihr inhärenten Widersprüchlichkeiten anders erinnert werden, als dies dem medial vermittelten Gesamteindruck nach zu schließen der vorherrschende Fall war. Die kritischen Widersprüche lagen im britischen Fall insgesamt aber weniger offen als im französischen. In Frankreich sorgte vor allem der massive Bruch in der narrativen Chronologie, den die historisch unübersichtlichen Ereignisse in den Jahren 1794 bis 1804 mit sich brachten, für eine erhebliche erinnerungskulturelle Herausforderung. Die geschichtspolitische Bearbeitung derselben gestaltete sich umso schwieriger, weil an dieser Stelle die haitianische Revolution als aufstrebendes Zentrum einer radikalen transatlantischen Erinnerung und wesentliche Elemente der französisch-republikanischen Erinnerungslandschaft aufeinanderprallten. Die politische Zerrissenheit der französischen Geschichte warf ein notwendigerweise scharfes Licht auf die historische Tatsache, dass die Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur Gegner/-innen, sondern auch viele mehr oder weniger aktive Befürworter/-innen hatte – und dass der Kreis dieser Personen weit über die selbst an Gewalthandlungen beteiligten Sklavenhändler und Plantagenmanager hinausging. Vor dem Hintergrund der Sklavenaufstände, die von Martinique auf Guadeloupe ausstrahlten, stellte sich die Emanzipation von 1848 gleichfalls als umkämpftes erinnerungskulturelles Terrain dar. Dies gilt in wiederum verstärktem Maße vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Entwicklung der historischen Erinnerung in den Überseedepartements der Entwicklung in der Metropole um mehrere Schritte voraus war. Als die Geschichte von Sklaverei und Abolition 1998 zum ersten Mal in den Fokus einer gesamtnationalen Geschichtspolitik rückte, hatten sich bereits selbstbewusste Kontrapunkte ausgebildet, von denen ausgehend der einseitigen Glorifizierung der Republik eine klare Absage erteilt wurde. Die in diesem Jahr aufgebrochenen Fronten haben sich bis heute nur unvollständig geschlossen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die erste große Mobilisierung zugleich auch die Basis für einen bis heute fortwirkenden geschichtspolitischen Aktivismus mit festen personellen und organisatorischen Strukturen legte, der im Vereinigten Königreich kein Gegenstück findet. Im Jahr 2005 verdichtete sich diese Situation noch einmal massiv. Die Organisation des 150. Jahrestags der Emanzipation in den französischen Kolonien war nicht in der Lage gewesen, die erinnerungskulturelle Unruhe zu befrieden; vielmehr hatte die inhaltliche Ausrichtung die descendants d’esclaves in anhaltende geschichtspolitische Alarmbereitschaft versetzt. Die Verabschiedung des Gesetzes vom 23. Februar 2005 und seine Verteidigung durch die parlamentarische Mehrheit wirkten dann wie ein Ruf zu den Waffen. Diesen beantworteten neben den einschlägig
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aktiven Verbänden auch französische Intellektuelle, deren Beitrag zur öffentlichen Debatte auf einer einflussreichen Tradition gesellschaftspolitischen Engagements fußte. Mit dem CM98, dem CRAN, den Indigènes de la République, aber auch dem CVUH und schließlich dem CREFOM betraten im Verlauf des Untersuchungszeitraums neue Akteure das Feld, während bestehende Assoziationen wie der Collectif DOM die historische Erinnerung als politisch wirksame Ressource in den Vordergrund ihrer Aktivitäten rückten. Diese war umso wertvoller, als sie dazu dienen konnte, im Rahmen einer hochproblematischen Diskussion um postkolonialen Rassismus in der französischen Gesellschaft Abgrenzungen, Allianzen und spezifische Formen der Anerkennung auszuhandeln, ohne direkten Bezug auf weitgehend tabuisierte ethnische Kategorien zu nehmen. Eine Rolle spielte hierbei nicht nur die in dieser Hinsicht relativ unflexible Doktrin des republikanischen Universalismus, sondern auch die Spaltung der »schwarzen« Bevölkerung in Personen mit einem inländischen und einem ausländischen Migrationshintergrund. Das Zusammenführen und Austarieren unterschiedlicher Perspektiven in einer offiziellen Geschichtspolitik stellte vor diesem Hintergrund eine besondere Herausforderung dar. Denn auf dem eng vernetzten und von zahlreichen kollektiven Akteuren besetzten Feld barg nahezu jede Positionierung ein relativ hohes Konfliktpotential. In der französischen Geschichte, aus der kein mit dem britischen vergleichbarer Abolitionsmythos hervorgegangen ist, fanden die Aktivistinnen und Aktivisten Ansatzpunkte, um klassische erinnerungskulturelle Motive zu hinterfragen, anzugreifen oder umzudeuten. Das offensive Vorgehen alarmierte seinerseits die Gegner/-innen des erinnerungskulturellen Trends, zumal sich an den Rändern der Debatte extreme Tendenzen abzeichneten, deren Einfluss durch die starke Mediatisierung größer erscheinen konnte, als er tatsächlich war. Die Loi Taubira hatte in Form und Inhalt noch einen gewissen republikanischen Konsens für sich verbuchen können. Die Angriffe auf Olivier Pétré-Grenouilleau und die Parallelisierung von Napoleon und Hitler, mittels derer Claude Ribbe die Geschichte eines vom französischen Staat organisierten Völkermords konstruierte, ließen die geschichtspolitische rote Linie dann aber mit großen Schritten hinter sich. In einer intellektuell bereits entsprechend aufgeladenen Atmosphäre erkannten Kritiker/-innen hier die Konturen der »Opferkonkurrenz« und des »Erinnerungskriegs«. Mittelfristig, so die Befürchtung, würde der entsprechende geschichtspolitische Egoismus keinen erinnerungskulturellen Stein auf dem anderen lassen und den »roman national« als entscheidende Stütze des Republikanismus in ein narratives Trümmerfeld verwandeln. Dabei schien ein dringender Bedarf an wirksamen Mitteln und Wegen der nationalen Einigung zu bestehen, schließlich geisterte das Gespenst des communautarisme nicht nur durch die erinnerungskulturelle Debatte. Tatsächlich gaben die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Intoleranz und Feindseligkeit, die das soziale Klima des Untersuchungszeitraumes beeinträchtigten, mehr als einen Anlass zur Beunruhigung. Das ohnehin unklar abgegrenzte Feld zwischen erinnerungskultureller und gesellschaftlicher Spaltung besetzte vor allem Dieudonné M’Bala M’Bala. Im Kampf um die Anerkennung afrikanischer Opfer der Geschichte verletzte er nicht nur das Andenken an die jüdischen, sondern er mobilisierte mittels der Erinnerung an die Sklaverei auch alte antisemitische Verschwörungstheorien auf – in Frankreich – neue Weise. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu den Kontroversen um den »neuen Antisemitismus« und den »anti-weißen Rassis-
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mus«... ein abschüssiger Weg, der nach Auffassung einiger Intellektueller, die ihrerseits extremen Thesen zuneigten, in Richtung einer Apokalypse der westlichen Zivilisation verlief. Im Licht der Eskalation erhielt die öffentliche Erinnerung an die Kolonialgeschichte eine neue politische Bedeutung, namentlich die eines Instruments zur Einhegung von (realen oder imaginierten) Tendenzen des communautarisme. Vor diesem Hintergrund stellte die koloniale Sklaverei ein äußerst sensibles Terrain für die offizielle Geschichtspolitik dar, ihr kam aber zugleich auch eine besondere Relevanz zu. Es kann daher vermutet werden, dass die Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel im engen Sinne von der gespannten Debattenlage in gewisser Weise auch profitieren konnte. Aus Sicht der französischen Autoritäten musste eine postkoloniale Geschichtspolitik, die einen relativ engen Fokus auf die chronologisch relativ weit zurückliegende Geschichte der Sklaverei legte, als die im Zweifelsfall klügere Option erscheinen. Jenseits tat sich ein Minenfeld auf, dass die Indigènes de la République mit ihrem Gründungsaufruf geradezu exemplarisch abgesteckt hatten, auch wenn dieser Text die französische Rolle in Ruanda noch ausließ. Die Deutungen, die sich rund um die Vorstadtunruhen entfalteten und sich schließlich in der These der »fracture coloniale« verdichteten, hatten sehr eindrücklich bewiesen, welche Brisanz ein Zusammentreffen unterschiedlicher Ebenen der postkolonial gefärbten Konflikte zu erzeugen vermochte. Ein nicht unwesentlicher Teil der Dynamik ergab sich aber aus Spannungen und Wechselwirkungen im Bereich der historischen Erinnerung selbst. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Suche nach öffentlicher Anerkennung für die Geschichte des Sklavenhandels mehr oder weniger zwangsläufig zu inhaltlichen Reibungen mit dem Gedenken an die Opfer des Holocaust führen musste. Schließlich war diese gerade erst in den Vordergrund der Geschichtspolitik getreten, und die deutende Verarbeitung der französischen Täterrolle in ihrer Beziehung zu älteren erinnerungskulturellen Topoi gestaltete sich oft noch schwierig. Der im engsten Sinne nationale Rahmen, in dem die metropolitane Version der Geschichte und die in den ehemaligen Plantagenkolonien geprägte Erinnerung aufeinandertrafen, verlieh dem Aushandlungsprozess einen besonderen und die Diskussion in vielen Fällen verschärfenden Charakter. Während die Theorie der republikanischen Doktrin eine unvoreingenommene Begegnung auf Augenhöhe verlangte, beschränkte sie zugleich den Raum für den Ausdruck expliziter erinnerungskultureller Partikularismen innerhalb des national konzipierten Rahmens. Vor diesem Hintergrund schien die Nation in der Erinnerung anhand einer vornehmlich ethnischen Konfliktlinie gespalten – ein Zustand, der im Sinne des republikanischen Glaubens an die Notwendigkeit eines integrativ wirkenden »roman national« ebenso schwer zu akzeptieren wie zu verarbeiten war. Der geschichtspolitische Erwartungs- und Handlungsdruck auf die Regierung war entsprechend groß. Das eng mit gut aufgestellten Akteuren besetzte Feld und die spezifischen Fallstricke der Geschichte begrenzten zugleich aber ihre aktive Gestaltungsfreiheit – zumal auch der CPMHE nicht die Intention hatte, als bloßes Vermittlungsinstrument einer Erinnerung zu fungieren, die in erster Linie präsidialen, regierungs- oder parteipolitischen Zielen genügen sollte. Die Wege durch das historisch, erinnerungskulturell und geschichtspolitisch zerklüftete Feld waren in der Folge alles andere als geradlinig, und am Ende stand auch eine Reihe von Kompromissen, Widersprüchen und nebeneinander existierenden Deutungssträngen.
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Allerdings kann dies als durchaus typisch für die französische Geschichtspolitik bezeichnet werden: Auch zum Gedenken an den Algerienkrieg existieren mehrere, mit unterschiedlichen erinnerungskulturellen Botschaften besetzte Daten nebeneinander, die sich jeweils verschiedenen Zielgruppen zuwenden, zugleich aber in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Bei seinem Versuch, diese Vielfalt der Erinnerungen geschichtspolitisch zu vereinheitlichen, stieß zuletzt François Hollande auf Widerstände.11 Dass die inzwischen herausgearbeiteten Formen des offiziellen Gedenkens an die koloniale Sklaverei eher die Regel denn die Ausnahme darstellen, zeigt auch der Blick auf die Entwicklung der Holocaust-Erinnerung in Frankreich: »[L]e sens de la commémoration de la rafle du ›vel d’hiv‹ est redéfini par trois fois: une première fois par le décret de 1993 qui institue une ›Journée nationale des persécutions racistes et antisémites commise sous l’autorité de fait dite ›gouvernement de l’État français‹ 1940-1944‹, puis par le discours de Jacques Chirac, devenu président de la République, qui convoque le 16 juillet 1995 l’idée de ›faute collective‹ et, enfin, par la loi du 10 juillet 2000 qui rebaptise la cérémonie ›Journée nationale à la mémoire des victimes des crimes racistes et antisémites de l’État français et d’hommage aux ›justes‹ de France‹. De la même façon l’esclavage et ses abolitions sont l’objet de l’attention de l’assemblée par trois fois en 20 ans en 1982, 1998 et 2001.«12
In diesem Fall steht derzeit zudem der halboffizielle Gedenktag an die Opfer der Sklaverei neben der explizit national konzipierten Journée des mémoires de la traite, de l’esclavage et de leurs abolition, deren vorrangige Gedenkinhalte weder durch die Denomination noch durch das gewählte Datum geklärt werden. Angesichts der engen Bindung des 23. Mai an die inzwischen fest etablierte erinnerungskulturelle Bewegung der descendants d’esclaves hat das Opfergedenken zwar politische Anerkennung erringen können, es wurde hiermit aber zugleich auch in einen Kontext ausgelagert, der sich faktisch durch eine gewisse ethnische Exklusivität auszeichnet. Zur Orientierung im Hinblick auf die Geschichte der Sklaverei konnten die französischen Autoritäten sich anders als die britischen nicht auf einen elaborierten Abolitionsmythos stützen, dessen Material sich mit ein wenig Umarbeitung zur Wiederverwendung im Dienst aktueller Politikziele angeboten hätte; und nur in einem solchen Rahmen kann das Herbeizitieren einer Person wie Olaudah Equiano (im Idealfall) seine erwünschte Wirkung entfalten. Für die Rolle, die der afrikanische Abolitionist in der britischen Erinnerung einnahm, fand sich in der überlieferten französischen Geschichte keine adäquate Entsprechung. Die bleibende narrative Lücke wurde mehr schlecht als recht mit revolutionären Kämpfern wie Toussaint-Louverture und Louis Delgrès gefüllt. Die Momente der offenen und gewaltsamen Konfrontation, die oft zur historischen Ausgestaltung ethnisch und oppositionell konnotierter Identitätsentwürfe herangezogen wurden, ließen sich so aber nicht vom Hauptstrom der historischen Erzählung isolieren. Im Ergebnis zeichnete sich die französische Geschichtspolitik daher oft durch einen im Vergleich zur britischen deutlichen Mangel an historischer Konkretion aus. Erinnerungskulturelle Ehre wurde der Republik, ihrer Ideologie und ihren Institutionen 11 Vgl. z.B. AFP/Le Monde: »Hollande reconnaît la répression du 17 octobre 1961, critiques à droite«, in: Le Monde vom 17.10.2012. 12 P. Garcia: France 2005.
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zuteil. Während in Großbritannien ein historisches Vorbild propagiert wurde, das immerhin einen Teilausschnitt der historischen Realität aufgriff, sollten sich die Französinnen und Franzosen vor allem mit dem geschichtsmächtigen Geist des Republikanismus identifizieren. Eine zweite Variante des geschichtspolitischen Vorgehens stellte die Verlagerung des erinnerungskulturellen Dialogs auf spätere Kapitel der Beziehungsgeschichte zwischen der französischen Republik und ihren überseeischen Territorien dar. Hier konnten mit Aimé Césaire oder Gaston Monnerville Akteure aufgerufen werden, die für eine Kooperation in parlamentspolitisch geprägten Zusammenhängen und einen überzeugten, national gefärbten Republikanismus stehen sollten. Schließlich führte das Zusammenwirken der Faktoren auch dazu, dass in Frankreich die Erinnerung selbst in ihrer sozialen Bedeutung zu einem zentralen Fixpunkt der (Selbst-)Reflexionen wurde, die im Rahmen der Debatten um die koloniale Sklaverei angestellt wurden. In der Tendenz seit langem angelegt, trat die »mémoire« – hier im Gegensatz zur »histoire« verstanden – zunehmend ins Zentrum des Gedenkens. Die Überwindung von Verdrängen und Vergessen knüpfte an einen bereits bestehenden Topos an, der sich – ausgehend von der öffentlichen Verarbeitung der Deportationen in nationalsozialistische Vernichtungslager – im erinnerungskulturellen Kontext verbreitet hat. Sein Erfolg liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die These geschichtspolitisches Potential freisetzte, das unterschiedlich genutzt werden konnte: Auf der einen Seite eignete sie sich dazu, geschichtspolitische Forderungen zu unterstreichen, auf der anderen Seite erhöhte sich die symbolische Bedeutung des geschichtspolitischen Handelns staatlicher Akteurinnen und Akteure. Der neuen gesellschaftlichen und politischen Anerkennung für die descendants d’esclaves konnte unter diesen Umständen die Qualität eines historischen Wendepunkts in einer langen Geschichte der Unterdrückung zugeschrieben werden. Das Gesetz, mit dem die Republik den transatlantischen Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte, stand in diesem Kontext für eine erinnerungskulturelle Einigkeit, die faktisch nicht gegeben war. Dabei machte sich auch der Versuch bemerkbar, die französische Erinnerungsarbeit an internationale Anstrengungen zur Aufarbeitung der folgenreichen Geschichte anzuknüpfen und dem Land auf diesem Wege seine in den Jahren nach 1794 historisch verspielte positive Pionierrolle in der Erinnerungskultur zurückzugeben. An dieser Stelle trat die Erinnerung an den Sklavenhandel in eine sehr spezifische Resonanz mit anderen Kapiteln der französischen Nationalgeschichte. Dies betraf zum einen die Erinnerung an die Shoah. Auch und gerade vor dem Hintergrund der massiven Polemik um Opferkonkurrenz und Antisemitismus lassen sich deutliche, auf der Ebene der Zivilgesellschaft organisierte und politisch unterstützte Bemühungen ausmachen, die historischen Stränge anhand des »devoir de mémoire« zu einem konstruktiven »Knoten der Erinnerung« (M. Rothberg) zu verflechten. Allerdings war dieses Erinnern in einer bestimmten Hinsicht eher uni- denn multidirektional. Es stand deutlich im Zeichen des Universalismus der Menschenrechte, der sowohl im Fall der Shoah als auch im Fall der Sklaverei auf fundamentale Weise verletzt wurde, und das heißt auch: im Zeichen der vom Holocaust-Gedenken vorgeprägten Opfererinnerung. Dieser Blickwinkel deckt sich mit der Verurteilung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne der Loi Taubira; über den Kolonialismus als asymmetrische Machtstruktur zum Zweck der Ausbeutung von menschlichen und natürlichen Ressourcen hatte die auf diese Weise erinnerte Geschichte allerdings wenig zu sagen. Gleiches gilt für
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den Kampf um historische Handlungsmacht, die als solche weitgehend ausgeklammert blieb. Die besagte Resonanz betraf zum zweiten aber auch andere Kapitel der französischen Kolonialgeschichte, die zeitgleich diskutiert und von einer in dieselbe Richtung verlaufenden Dynamik erfasst wurde. Insbesondere die geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg zeichnet sich durch die geschichtspolitische Arbeit an einer Erinnerung aus, die insofern multiperspektivisch ist, als sie Leidenserfahrungen unterschiedlicher Opfergruppen anerkennt – diese dabei aber oft vom Kontext der kolonialen Machtasymmetrie abstrahiert. Vor allem der von Françoise Vergès verfasste Bericht zur Reform des CPMHE ist geprägt von der auch im Sinne einer Ausweitung des eigenen Einflusses verfolgte Ambition, unterschiedliche Stränge der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung anhand der in Frankreich besonderen Bedeutung der »mémoire(s)« zu einer umfassenden Problematik zu verschmelzen. Inwieweit diese als »postkolonial« zu bezeichnen ist, hängt allerdings auch davon ab, inwieweit die Themen einen spezifischen Modus der Erinnerung prägen und welche Aspekte einer unteilbaren Gegenwart auf diesem Weg als »postkolonial« erfasst werden. Das sich in der Summe abzeichnende Bild von der postkolonialen Nation unterscheidet sich dennoch von dem, das aus den britischen Geschichtsdebatten hervortrat. In Frankreich flossen die Diskussionen um die Sklaverei mit einer größeren erinnerungskulturellen Strömung zusammen, die triumphalistische Deutungen bis zu einem gewissen Grad zurückdrängte und unterschiedliche Aspekte einer gewaltreichen Kolonialgeschichte zumindest punktuell miteinander in Verbindung treten ließ. Die Ansätze zur national introspektiven Gewissensprüfung, wie sie die öffentliche Meinung in Frankreich spalteten, waren in Großbritannien schwächer ausgeprägt. Hier machte sich stattdessen ein nach außen gerichteter Blick deutlicher bemerkbar. Er resultierte vor allem aus der von der Labour-Regierung verfolgten interventionistischen Außenpolitik und den sie umgebenden Auseinandersetzungen, deren Argumente bisweilen offen neoimperialistische Züge annahmen. Dass aus diesen Bedingungen in vielen Fällen keine kritische Einordnung des Sklavenhandels in einen größeren kolonialhistorischen Kontext hervorging, ist der massiven Betonung sowohl gegenwärtiger als auch vergangener Ziele als »humanitär« im Sinne des Einsatzes gegen die Missachtung von Menschenrechten zuzuschreiben. Um das gewünschte Endergebnis hervorbringen zu können, mussten sich die Diskrepanzen in den vorherrschenden Deutungsmustern von Geschichte und Gegenwart in Grenzen halten; die positiven Lesarten bedingten sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit gegenseitig und ließen daher wenig Raum für eine differenziertere Auseinandersetzung. Gerade Schwächen und Schattenseiten der von Großbritannien international verfolgten Kampagne gegen den Sklavenhandel, ihre Folgen für afrikanische Wirtschaftsräume und ihre enge Beziehung zur Ausbreitung kolonialistischer Machtstrukturen passten schlecht in diesen Rahmen und ließen entscheidende Verbindungslinien zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart in den Hintergrund treten. Nicht zuletzt war die aktuelle Kriegssituation dazu angetan, eine vorauseilende erinnerungskulturelle Verteidigungshaltung zu befördern. Denn unter Umständen, die eine Bedrohung für den inneren und äußeren Frieden hervorbrachten, konnte eine kritische Geschichtsdeutung als ideologisch motivierter Angriff gewertet werden. Nicht nur das historische Image der Nation schien auf dem Spiel zu stehen, sondern auch das
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eines geographischen und politischen Raumes, der heute seltener als früher, aber bisweilen wieder als »christliches Abendland« verstanden wird – und insbesondere vor dem Hintergrund der von Tony Blair militärisch unterstützten Politik der zweiten Bush-Administration verstanden wurde. Der Tendenz zum Schließen der erinnerungskulturellen Reihen um den positiven Nationalmythos war umso schwieriger entgegenzuwirken, als bereits die Whig History mit ähnlichen Mustern gearbeitet hatte, die entsprechend tief verwurzelt waren, und im Zuge populärer Interpretationen der Geschichte der Weltkriege eher eine Reaktualisierung denn eine Schwächung erfahren hatten. Der auf die starke britische Abolitionsbewegung gerichtete geschichtspolitische Fokus, das vom Zweiten Weltkrieg geprägte historische Selbstverständnis und die Verhandlung der aktuellen Weltrolle des Landes griffen hier in folgenreicher und sich gegenseitig tendenziell verstärkender Form ineinander. Zwar musste die Erinnerung nun auch die Anerkennung der Opferperspektive umfassen. Narrativ war das Ergebnis aber oft eine in ihrer Komplexität stark reduzierte Geschichte im Modus des zu vollendenden Fortschritts, die das progressive Image einer liberalen Vorbildnation transportierte. Trotz neuer geschichtspolitischer Funktionen war dieses um einen Kern bewährter Erinnerungsmythen angeordnet, die auf den zweiten Blick weniger neu und weniger postkolonial erscheinen als auf den ersten. Die aktuellen Umstände, unter denen die Debatten um die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels in Großbritannien und Frankreich geführt wurden, waren auf notwendige Weise folgenreich für die geschichtspolitischen Ergebnisse und Deutungen, die aus diesen Debatten hervorgingen. Auf politischer Ebene wirkte ein Interpretationsdruck, der auch die historische Problematik in einen Bereich drängte, der von den Themen Rassismus, Nationalidentität und »Diversität« auf nicht immer adäquate und bisweilen in die Irre führende Weise begrenzt wurde. »[T]he act of commemoration can be seen to plug into a much bigger, and ongoing, identity crisis that has emerged in response to the perceived failure of British multiculturalism«13 bzw., im französischen Fall, als Reaktion auf die offenbar gewordenen Unzulänglichkeiten des republikanischen Integrationsmodells. Ebenso wenig wie Intoleranz und Rassismus die eigentlichen Triebkräfte hinter dem global ausgreifenden System der kolonialen Ausbeutung von Menschen und Ressourcen waren, lassen sich heutige Ausdrucksformen von Rassismus durch die bloße Beschwörung von positiv besetzten Werteinstellungen wie Toleranz auf der einen, Leistungs- und Anpassungsbereitschaft auf der anderen Seite bekämpfen. »Locating racial differences or racism outside of historical processes, as an explanation for human action, rather than something needing to be explained, as some sort of epiphenomenon or essence, or in the abstract and disembodied realm of ›attitudes‹ and atavisms, is both to abdicate the historian’s responsibility to explain through the analysis of historical evidence, and to despair of remedies for racism, racial conflict, and racial subordination.«14
13 Waterton, Emma: »The Burden of Knowing Versus the Privilege of Unknowing«, in: Laurajane Smith u.a. (Hg.), Representing Enslavement and Abolition in Museums. Ambiguous Engagements, New York, NY/Abingdon: Routledge 2011, S. 23-43, hier S. 37. 14 L. Tabili: Race is a Relationship, S. 129.
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Auf der erinnerungskulturellen Ebene war mit dem Gedenken an die Opfer des Nazi-Holocaust ein Rahmen vorgeprägt, der den spezifischen Fragen, welche die Geschichte der kolonialen Sklaverei aufwirft, in vielerlei Hinsicht ebenfalls unangemessen war. Die Sklaverei wurde neben der Shoah zu einem besonders bedeutsamen Beispiel für die gravierenden Folgen, die rassistische Ideologien in der Vergangenheit nach sich gezogen haben. Die Geschichte war damit eine Mahnung zu besonderer Wachsamkeit, die es im Gedächtnis zu behalten galt; eine spezifische Kontinuitätslinie zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart arbeitete dieser Blickwinkel allerdings nicht heraus. Der Frage nach den Konditionen des »versklavten Mensch-Seins« stellt sich diese Perspektive ebenso wenig. »Aujourd’hui, les récits des esclaves demeurent souvent inaudibles, car un certain discours humanitaire les maintient dans le domaine de la pitié. […] Qualifiées de ›victimes‹, [ces personnes] se voient proposer que des prises en charge qui les privent de leur capacité d’agir.«15 Die doppelte Deutungsrahmung erzeugte dabei auch einen blinden Fleck in den sich wechselseitig reflektierenden Bildern von Geschichte und Gegenwart: Sie lenkte den Blick auf das destruktive Potential von Rassismus, ohne in gleichem Maße sein Potential zur Reproduktion einer spezifischen, historisch wandelbaren Machtstruktur zu thematisieren. »The inconvenient truth that not only did slavery create massive pain, suffering and misfortune for black people but also enormous gains, financially, socially and politically for the white traders without any apparent moral qualms – these people, it should be remembered, resisted strongly the pressure that abolitionists brought to bear – is still not recognised fully in the presentations of today.«16
Dass die Moral der Geschichte sich vor allem die Ökonomie und die Ökonomie der Macht zu ersparen sucht, erscheint im Hinblick auf gegenwärtige Verhältnisse denkwürdig. Letztere wurden auch im Rahmen der öffentlich geführten Debatten um den transatlantischen Sklavenhandel immer wieder thematisiert. Insbesondere Politikerinnen und Politiker beteiligten sich dabei an der rhetorischen Gleichsetzung der kolonialen Sklaverei mit heutigen Formen der Ausbeutung und des Menschenhandels. Als lebendige Avatare der versklavten Afrikaner/-innen traten hierbei sehr unterschiedliche Personengruppen auf; es konnte sich ohne erkennbare Differenzierung um Kinder auf einer westafrikanischen Kakaoplantage, Arbeiter/-innen in einer indonesischen Textilfabrik oder zur Prostitution gezwungene Frauen aus der Ukraine handeln. Der konkrete Zusammenhang der angeführten Beispiele zur Geschichte der kolonialen Sklaverei wurde dabei in der Regel nicht näher erläutert. In einem Fall wie dem der Zwangsprostituierten aus Osteuropa, die in der medialen Berichterstattung ausgesprochen häufig Erwähnung fanden, lässt er sich auch nicht ohne Weiteres herstellen. Der Umweg über die Analyse sozioökonomischer und ideologischer Strukturen, die verschiedene Praktiken der gewaltsamen Ausbeutung, Diskriminierung und Kommerzialisierung generieren und stabilisieren, erscheint hier dringend erforderlich. Die Regierungsbroschüre zum Bicentenary 2007 schlug stattdessen den auch sprachlich kürzeren Weg der direkten emotionalen Ansprache ein: »The link [...] is one of human 15 F. Vergès: L’Homme prédateur, S. 196. 16 J. Beech: A Step Forwards?
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suffering. Suffering that is separated by two centuries, but united by a practice of unspeakable cruelty: slavery.«17 Diese Art der Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit führt vor allem dazu, dass beide sich an einem kritischen Punkt, an dem sie einander erhellen könnten, gegenseitig verzerren. Der schützende Schatten legt sich dabei vor allem über die Handlungsfreiheit der Täter/-innen und Profitierenden, damals wie heute. Sowohl Rassismus als auch Ausbeutungsverhältnisse, denen gegenwärtig in erster Linie Frauen und Kinder unterworfen sind, (re-)produzieren die Ohnmacht ihrer Opfer. Diese kann ohne einen expliziten relationalen Bezug zu der im Gegenzug anwachsenden Macht allerdings weder sinnvoll gedacht noch bekämpft werden. Die Freiheit, sich dieser Macht zu erwehren, kann weder stellvertretend noch außerhalb von kollektiven Strukturen ausgeübt werden, die bestimmten Formen der Handlungsfreiheit effektive Grenzen setzen. »Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die eines anderen anfängt«, besagt das geflügelte Wort im Sinne eines aufgeklärten Liberalismus. »Die Freiheit eines jenen fängt dort an, wo die eines anderen aufhört«, lautet eine weniger populäre Variante, die dem Gedankengang eine andere Richtung verleiht. Genau an diesem Punkt kann die Erinnerung an die »Befreiung« der Sklavinnen und Sklaven die Macht der Geschichte als Orientierung für die Zukunftsgestaltung in der Gegenwart beschneiden. Auch und gerade die Geschichte des Kampfes gegen Sklavenhandel und Sklaverei wirft mehr Fragen zur Rolle der Moral und des Mitgefühls als Basis eines universellen »universe of obligation« auf, als sie beantwortet.
17 DCMS: Reflecting on the past, S. 9.
V Quellen und Literatur
Quellen
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