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German Pages 244 Year 2014
Yuan Xue Über den Körper hinaus
Lettre
Für meine Mutter
Yuan Xue wurde im Juli 2013 im Fach Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert.
Yuan Xue
Über den Körper hinaus Geschlechterkonstruktionen im europäischen Roman seit Ende der 1990er Jahre
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Inhalt 1. E INLEITUNG UND Z IEL DER STUDIE | 7
1.1 Hauptfragestellungen der Studie | 9 1.2 Zum Forschungsansatz | 12 1.3 Eigene Methodik zur Untersuchung | 14 1.4 Zur Textauswahl | 16 2. IST ALLES NUR D ISKURS ? | 19
2.1 Butlers Kritik am Dualismus der Geschlechterdifferenz und an der Heteronormativität | 19 2.2 Körper und Subjekt in der »linguistischen Wende« der Geschlechterforschung | 21 2.3 Die Geschlechterforschung der Postmoderne | 34 3. EINE VORSTELLUNG DER URSZENE UND DIE PERFORMANZ | 39
3.1 Das trianguläre Begehren und das mimetische Prinzip | 39 3.2 Eric Gans: Die Urszene, eine Hypothese des Kulturursprungs | 41 3.3 Raoul Eshelmans Rahmenbildung: Erstellung eines abgeschlossenen Freiraums | 44 4. NEUE ANALYSEKATEGORIE DER KONSTRUKTION VON SUBJEKT UND K ÖRPER | 49
4.1 Das ostensive Körperzeichen | 49 4.2 Zentrierung des Anderen | 51 4.3 Zwei Modelle der Raumkonstruktionen | 54 4.4 Transzendenz, Rahmenbildung und Subjektivierung | 55 4.5 Überleitung zur Hauptanalyse | 60
5. TOMBOY (1998): EIN BEISPIEL POSTMODERNER POPLITERATUR | 63
5.1 Meineckes Autorpoetik als DJ: Handlung oder Theorie? | 65 5.2 Die Verwischung von Geschlechtergrenzen | 68 6. ZENTRIERUNG DES ANDEREN | 73
6.1 Ulrike Draesner: Mitgift (2002) | 73 6.2 Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht (2009) | 94 6.3 Fazit | 115
7. ARCHETYPISCHE ABBILDER ALS EINHEIT DES GESCHLECHTLICHEN | 117
7.1 Olga Tokarczuk: House of Day, House of Night (1998) | 118 7.2 Dubravka Ugrešić: Baba Jaga legt ein Ei (2008) | 131 7.3 Johanna Sinisalo: Troll, eine Liebesgeschichte (2000) | 151 7.4 Thomas Meinecke: Jungfrau (2008) | 167 7.5 Fazit | 183 8. AUSBRUCH AUS DEM RAHMEN | 187
8.1 Svealena Kutschke: Etwas Kleines gut versiegeln (2009) | 187 8.2 Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel (2005) | 202 8.3 Fazit | 222 9. SCHLUSS | 223 L ITERATUR | 233
1. Einleitung und Ziel der Studie
Diese Studie befasst sich mit dem Themenkomplex der neuen Geschlechterkonstruktionen ab Ende der 1990er Jahre in ausgewählten europäischen Romanen und Erzählungen. Allen hierfür analysierten Werken ist es gemein, dass sie die literarische Ausgestaltung verschiedener Arten von Sexualität jenseits der Heterosexualität thematisieren. Dazu werden geschlechtlich uneindeutige Figuren in den Mittelpunkt der Erzählungen gestellt. Anhand deutscher, polnischer, kroatischer, finnischer und französischer zeitgenössischer Romane wird untersucht, ob und wie neue Konstruktionskonzepte von Körper und Subjekt entfaltet werden, die sich von den bisher vorherrschenden poststrukturalistischen Denkmodi, insbesondere im Bereich Gender, unterscheiden. Den Schwerpunkt der Studiebildet somit die Erforschung zeitgenössischer Literatur, die sich in zentralen Analysekategorien von der poststrukturalistischen Literatur unterscheidet. Nach eingehender Analyse aktueller Literatur ist es Ziel der Dissertation, eine angemessene Lesart und Interpretationsweise für diese neuartigen literarischen Erscheinungen zu entwerfen. Vom Jahr 1968 an entwickeln sich in Europa vielfältige Subkulturen, mit denen sich nicht nur Popliteratur-Autoren, sondern auch Autoren der Hochkultur auf eine geist- und erkenntnisreiche Art und Weise auseinandersetzten. Französische Theoretiker des Poststrukturalismus wie Jacques Derrida (1930-2004), Michel Foucault (1926-1984) und Jacques Lacan (1901-1981) begreifen die Vorstellung einer eindeutigen Wahrheit, die Annahme einer metaphysischen Einheit und das Konzept eines kohärenten Subjekts als Irrtum und bieten damit einen fruchtbaren theoretischen Boden für neuere literarische Schreibweisen und Inhalte.1 Durch die
1 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 38.
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Poststrukturalistinnen2 der sogenannten »linguistischen Wende«3 (engl.: linguistic turn) werden die Konzepte der Postmoderne im Bereich der »gender studies« wesentlich bereichert. Die »gender studies« fokussieren eine neue Bestimmung der Wechselwirkung von Gender, Rasse und Klasse in der heutigen Zeit. Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva sind wichtige Vertreterinnen der postfeministischen Theorie, auf deren Basis Butler ihre Kritik an heterosexuellen Normen entwickelt. 4 In Anlehnung an die Foucault’sche Diskurstheorie und die
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Vgl. Weber, Ingeborg: »Poststrukturalismus und ecriture feminine: Von der Entzauberung der Aufklärung«, in: Ingeborg Weber (Hg.), Weiblichkeit und weibliches Schreiben: Poststruktualismus. Weibliche Ästhetik kulturelles Selbstverständnis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 20f und Dornhof, Dorothea: »Postmoderne« in: Christina v. Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Stuttgart: UTB 2009, S. 285-308, S. 293. Zu den wichtigen feministischen LiteraturwissenschaftlerInnen zählen beispielsweise die französischen Poststrukturalistinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva. Sie setzen sich vor allem mit der Lacan’schen Psychoanalyse auseinander, welche das Weibliche an der männlichen Norm misst und als mangelhaft definiert. Ausgangspunkt dieser literaturtheoretischen Diskussion über die »weibliche Ästhetik« im Rahmen vom Feminismus ist die Feststellung, dass die bestehenden ästhetischen Formen von Männern geprägt sind. Weibliche Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen sind in der männlichen Dominanz weder beinhaltet noch ausgedrückt, daher sollten Frauen eigene Schreibweisen schaffen, die ein erhöhtes Maß an sprachlicher Reflexion voraussetzen.
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Nünning, Ansgar: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorien, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2008, S.424, »[D]er Begriff [linguistic turn] bezeichnet eine Reihe von sehr unterschiedlichen Entwicklungen im abendländischen Denken des 20. Jh.s. Allen gemeinsam ist eine grundlegende Skepsis gegenüber der Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit. Diese Sicht wird durch die Auffassung von Sprache als unhintergehbare Bedingung des Denkens ersetzt. Danach ist alle menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert; Wirklichkeit jenseits von Sprache ist nicht existent oder zumindest unerreichbar. Wichtigste Folgen sind, daß Reflexion des Denkens, bes. die Philosophie, damit zur Sprachkritik wird und dass Reflexion sprachlicher Formen, auch der Lit., nur unter den Bedingungen des reflektierten Gegenstandes, eben der Sprache, geschehen kann.«
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Vgl. Trumann, Andrea: Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus, Stuttgart: Schmetterling 2002, S.130f. Der Hintergrund für Butlers Kritik lässt sich auf die zunehmende Vielfalt der Behandlung der Geschlechterfrage in Kultur und Gesellschaft nach den 1980er Jahren zurückführen. Judith
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Sprechakttheorie5 von John Austin hinterfragt Butler die vorherrschende Identitätspolitik unter dem Regime der heterosexuellen Matrix. 6 Ihre Gedanken ähneln den Denkfiguren vieler zeitgenössischer Geschlechtstheoretiker und gehen einher mit einer Entwicklung hin zu mehr Individualisierung und liberalen Vorstellungen. Zudem stellen Butlers Theorien einen Schnittpunkt dar, an dem viele Denkströmungen wie etwa Feminismus, Dekonstruktion, Psychoanalyse, Diskurstheorie und Sprechakttheorie zusammenkommen. Mit ihrem radikalen dekonstruktivistischen Gestus zieht die Poststrukturalistin allerdings auch Kritik auf sich.
1.1 H AUPTFRAGESTELLUNGEN
DER
S TUDIE
Butlers Kernthesen der »Materialisierung des Körpers« und die daraus abgeleitete Subjekttheorie sind nicht nur ein Streitpunkt vieler zeitgenössischer Theoretiker, sondern nähren auch eine anhaltende Debatte in der Geschlechtsforschungsdiskussion. Überdies gelten Butlers »gender studies« seit deren Entstehung in den 1990er Jahren als eine aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs nicht mehr wegzudenkende Disziplin, besonders, was die Interpretation der Darstellung des
Butlers Anliegen liegt darin, mittels Geschlechterforschung die Vorstellung einer einheitlichen, auf biologischen Voraussetzungen gründenden, geschlechtlichen Identität zurückzuweisen. 5 Die philosophischen Werke von John Austin distanzieren sich dadurch von zeitgenössischen Theorien, dass die Handlung als Folge einer sprachlichen Äußerung gesehen wird und deshalb nahezu gleichzeitig mit ihr vollzogen wird. Solche Äußerungen definiert Austin als performativ. Sybille Krämer bezeichnet Austin als den »Begründer einer Theorie des Sprechhandelns« (Krämer, Sybille: »John L. Austin. Performative und konstatierende Äußerungen: Warum läßt Austin diese Unterscheidung zusammenbrechen?«, in Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20 Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 135.) Daraus baut Butler ihr performatives Verständnis des Diskurses auf. 6 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. aus dem Engl. v. Kathrina Menka, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 219f, »Es geht darum, ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der Geschlechter-Intelligibilität zu charakterisieren, das folgendes unterstellt: Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muß es ein festes Geschlecht geben, das durch eine feste Geschlechtsidentität zum Ausdruck gebracht wird, die durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.«
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Geschlechts in der Literatur betrifft.7 Darauf aufbauend stellt meine Studie insbesondere ihre viel kritisierte These des materiellen Körpers und des diskursiv bestimmten Subjekts in den Mittelpunkt der Untersuchung. Aufgrund der Tatsache, dass die Thematik nach 1997 in keinem größeren theoretischen Werk Butlers systematisch aufgearbeitet wurde, möchte ich mich auf literarische Werke beziehen, bei denen eine Untersuchung anhand der Butler’schen Theorien sowohl möglich als auch sinnvoll erscheint.8 Die Romane, deren Analyse im Hauptteil der Studie erfolgen wird, stammen daher allesamt aus dem europäischen Kulturraum ab 1998. Natürlich versuchen nicht alle hier angeführten Romane sich bewusst mit den Butler’schen Theorien auseinanderzusetzen oder sie gar zu widerlegen. Doch der gesellschaftliche und kulturelle Wandel, der in diesen Jahren im Bereich Gender stattgefunden hat, kommt in meiner Literaturauswahl eindeutig zum Ausdruck. Darüber hinaus zeigt sich eine Übertragung naturwissenschaftlich-medizinischer Erkenntnisse im Bereich Gender auf die neue Literatur, welche das moderne Menschenbild grundlegend veränderten und zu einem neuen Verständnis von Geschlecht und Identität führten.9 Es muss jedoch an dieser Stelle festgehalten werden, dass es trotz der ausführlichen Auseinandersetzung mit Butler in der Studie nicht um eine grundlegende Kritik an ihren Texten oder um eine Aufarbeitung der 7
Insbesondere setzen sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Butlers Kernbegriff der »Performativität« auseinander, und untersuchen seine Anwendbarkeit auf zeitgenössische Literatur. Um ein paar Bespiele zu nennen: Bierschenk, Iris: Kreuz und Queer. Queere Erzählungstruktur in der schwedischen allalderslitteratur, Hamburg: Dr. Kovač 2010; Kremer, Christian: Milieu und Performativität: deutsche Gegenwartsprosa von John von Düffel, Georg M. Oswald und Kathrin Röggla, Marburg: Tectum 2008 und Stritzke, Nadyne: Subversive literarische Performativität. Die narrative Inszenierung von Geschlechtsidentitäten in englisch- und deutschsprachigen Gegenwartsromanen, Trier: Wissenschaftsverlag 2011.
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Butler formulierte bereits in Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1991) eine Auseinandersetzung mit vielen wichtigen Themen wie der Identitätspolitik des Feminismus, der Materialität der Körper und der Performativität. 1997 veröffentlichte sie The Psychic life of Power: Theories in Subjection, in dem sie das Entstehen von Bewusstsein und Subjektivität systematisch und im Detail thematisiert. Zuvor behandelte sie Themen wie Materialität des Körpers in Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex (1993) und Performativität in Excitable Speech: A Politics of the Performative (1997).
9 Nachdem im Jahr 1997 das Schaf Dolly als erstes Lebewesen geklont wurde, zeigte sich die Literaturwelt zunehmend davon beeinflusst. Die bahnbrechenden Ergebnisse in den Bereichen der Genetik und Gentechnologie zogen das Interesse öffentlicher Diskussionen und literarischer Werke auf sich.
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Rezeption Butlers geht. Vielmehr dient dies lediglich als Vorlage, gegen welche die neuartigen Elemente in der zeitgenössischen Literatur kontrastiv herausgestellt werden sollen. Diese Elemente stehen sowohl im Kontrast zur allgemeinen Vorgehensweise des Poststrukturalismus, als auch zu den spezifisch Butler’schen Methoden. Für manche Kritiker liegt in der Rezeption von Unbehagen der Geschlechter das größte Problem darin, dass sich der materielle Körper mitsamt seinen Erfahrungen und Empfindungen gemäß der Butler’schen Sichtweise im Diskurs aufzulösen scheint.10 Die Materialität des Körpers wird nämlich als produktive Wirkung von Macht aufgefasst. Genau an diesem Kritikpunkt setzt die zeitgenössische Literatur an. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche neuartigen Konstruktionen des Geschlechtskörpers und der Sexualität jenseits des Diskurseffekts in aktuellen Romanen entfaltet werden, und inwiefern diese eine neue Lesart und Interpretationsweise von Gender und Sex fordern. Ausgehend von der Grundannahme eines durch den Diskurs konstruierten Körpers in der heterosexuellen Matrix dekonstruiert Butler sowohl die biologische Bestimmung der Geschlechtsidentität, als auch die davon abhängige geschlechtliche Binarität von Mann und Frau. Des Weiteren dekonstruiert sie ein einheitliches und kohärentes Geschlechtssubjekt, indem sie dieses vielmehr als eine Unterordnung unter die vorherrschende Heteronormativität betrachtet. Es stellt sich nun die Frage, wie ein diskursiv produziertes Subjekt gegen das Diskursive subversiv und handlungsfähig sein kann. 11 Viele Autoren und Autorinnen in Europa befassen sich seit Ende der 1990er Jahre mit dem Thema der Geschlechtervielfalt und begeben sich dabei in die Nähe poststrukturalistischer Theorien. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Roman Tomboy (1998) von Thomas Meinecke,12 in welchen er die Lektüre der Gendertheorien
10 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. aus dem Engl. v. Katrin Wördemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S.9ff. Butler verfeinert in ihrem nächsten Werk Körper von Gewicht die These, dass die Materialität des Körpers in einen Macht regulierendem Prozess einbezogen wird. Sie verneint nicht die Natursubstanz des Körpers, sondern hinterfragt im Grunde genommen nur die Normen, die den Geschlechtskörper produzieren. 11 Vgl. Benhabib, die dieses zentrale Problem bei Butler aufgreift und sich der Frage widmet: »Wie kann man von einem Diskurs konstituiert sein, ohne von ihm determiniert zu werden?« (Benhabib, Seyla: »Subjektivität, Geschichtsschreibung und Politik«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser [Hg.], Der Streit um Differenz Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 109.) 12 Vgl. T. Ernst: Popliteratur, S. 21.
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Butlers und deren französischer Fundamente einbindet.13 Ausgehend davon beschäftigt sich die Studie mit der Frage, ob in europäischen Gegenwartsromanen auch Versuche gemacht werden, die über Butlers poststrukturalistische Thesen hinausgehen. Dies kann zum Beispiel dann gegeben sein, wenn ein einheitlicher, feststehender und dingbezogener statt eines fragmentierten, differentiellen und diskursiv bestimmten Körpers konstruiert wird und dem Subjekt eine Möglichkeit der Handlungsfähigkeit eingeräumt wird. Dieser Sachverhalt ließ sich tatsächlich in der von mir ausgewählten Literatur beobachten. Interessant ist schließlich die Frage, inwieweit Butlers Methode der Subjektivation auf die zeitgenössische Literatur, in der neue Einheitsideen der Körperkonstruktion entstehen und das autonome Subjekt zurückkehrt, überhaupt noch anwendbar ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern stattdessen alternative Analyseansätze dafür verwendet werden könnten. Mögliche Antworten auf diese Fragen sollen gegen Ende meiner Arbeit ausführlich dargestellt werden.
1.2 Z UM F ORSCHUNGSANSATZ Zunehmend beginnen Theoretiker und Theoretikerinnen 14 , über eine aufkommende Epoche nach der Postmoderne zu sprechen. Bemühungen, den Poststrukturalismus zu hinterfragen und auf seine Anwendbarkeit hin kritisch zu prüfen, werden durch eine theoretische Wende deutlich. Butlers Hinwendung zum Begriff der »Performativität« in ihrem Werk Haß spricht lässt sich auf eine neue theoretische Wende zurückführen, die in der Kulturwissenschaft »Performative Wende« (engl.: performative turn) genannt wird.15 Die Forschung der 1990er Jahre wendet
13 Eine nähere Analyse von Tomboy anhand der Butler’schen subversiven Strategie wird in Kap. 5 vorgenommen. Bekannte Beispiele im englischsprachigen Raum sind Leslie Feinbergs Stone Butch Blues (1993), Jackie Kays Trumpet (1998) und Jeffrey Eugenides’ MiddleVex (2002). 14 Generell wurde die Literatur nach der Postmoderne im deutschsprachigen Raum bisher kaum untersucht. Auch, wie sich die poststrukturalistische Gender Theorie auf europäische Gegenwartsromane auswirkt, ist wenig erforscht. Bedeutend ist die Anwendung der Bulter’schen »Performativität« auf die Narratologie in der diesbezüglichen Literatur. 15 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Reinbek 2006, S.104. Die »performative Wende« bildete einen Meilenstein in den kulturwissenschaftlichen Forschungen. Hier liegt der Fokus auf Ausdrucksdimensionen bzw. auf den Aufführungs-, Darstellungs- und Inszenierungsaspekten der Kunst bis hin zu den Inszenierungskulturen von Politik und Alltagsleben. Auch
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sich vom vorherigen Fokus auf das Text- und Zeichensystem ab und zeigt stattdessen mehr Interesse an der Inszenierung und Aufführung von Handlungen. Diese werden anhand der Sprechakttheorien von Austin untersucht und beschrieben. 16 Dabei werden die performativen Äußerungen so betrachtet, als dass sie beim Sprechen selbst inszeniert und in den sozialen Kontext eingebunden werden. Überschneidungen zwischen den Performanzbegriffen bei Butler und Austin liegen in der von beiden geteilten Grundannahme, dass der performative Sprechakt durch das bloße Äußern materielle Wirksamkeit erlangt und dabei das Subjekt durch Anrede ins Dasein ruft. Performanz bei Butler kann in zwei Bedeutungsspannen begriffen werden. Erstens wird unter Performanz eine einmalige individuelle Handlung (engl.: performance) verstanden, die durch eine Sprechhandlung ausgelöst und darstellend realisiert wird; zweitens ist Performativität (engl.: performativity), im Sinne einer ständigen zitatförmigen Wiederholung des Diskursiven zu verstehen. Zum einen kennzeichnet die Performativität den diskursiven Aspekt von Sprechakten, während zum anderen die Performanz als darstellend charakterisiert ist.17 Somit werden als Performanz keine rein sprachlichen Ereignisse mehr verstanden, die aber dennoch vom gesellschaftlich-kulturellen Kontext dingfest gemacht werden.18 Der amerikanische Romanist, Kulturkritiker und Ethnologe Eric Gans formuliert die kulturelle Hypothese eines minimalen Prinzips, das er als »Urszene« erfasst (siehe hierzu 3.2). Mit dieser Urszene beschreibt er modellhaft die Entstehung von Sprache und menschlicher Kultur, indem man sich von Gewalt mithilfe der Repräsentation abgrenzt. Sein Werk Generative Anthropology kennzeichnet einen Wandel in der akademischen Welt. Nachdem sich das Interesse der Literaturwissenschaft lange Zeit nur auf das postmoderne Zeichensystem konzentriert hat, liegt der Fokus bei Gans auf einem anthropologischen Erklärungsmodell, das sich zwar aus postmodernen und poststrukturalistischen Diskursen herauskristallisiert, sich zugleich aber deutlich von ihnen distanziert. Gans interessiert ein einheitlicher Subjekt-Ding-Bezug des Zeichens (vgl. 3.2 u. 4.1). Dabei verfolgt Gans, wie aus der Beziehung zwischen einem Subjekt und einem zentrierten Objekt ein ostensives Zeichen entsteht, welches dingbezogen ist und deshalb einheitlich bezeichnet wird. Dieses ganzheitliche Zeichen, das auf eine vorsprachliche Situation die Vergegenwärtigung der Ritualanalysen aus dem klassischen Feld der Symbolischen Ethnologie von Viktor Turner gehört zu einer wichtigen Strömung der performativen Theorieentwicklung. 16 Vgl. Müller, Anna-Lisa: Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler, Marburg: Tectum 2009, S. 109f. 17 Vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 110f. 18 Vgl. S. Krämer: Sprache und Sprechakt, S. 143.
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hindeutet und keine Bedeutung im herkömmlichen Sinn hat, verabschiedet sich vom poststrukturalistischen sprachtheoretischen Zeichensystem. Die Verortung des Performanz-Begriffes in der generativen Anthropologie wird durch den Performatismus des Münchener Literaturwissenschaftlers Raoul Eshelman umgesetzt (vgl. 3.3). An die »Urszene« von Gans anschließend entwickelt Eshelman sein Konzept der »doppelten Rahmung«. Auch für Eshelman ist ein ganzheitliches, performativ begründetes Zeichen von Hauptinteresse.19 Ein innerer (semiotischer) und ein äußerer (auktorialer) Rahmen werden derart verschränkt, dass die Darstellung (Performanz) einer Figur vorbildlich auf andere Figuren wirkt. Zudem veranlasst diese zentrale Performanz andere Figuren durch ästhetische Mittel oder schöne Erlebnisse zur Nachahmung. Die Überzeugung findet ausschließlich auf einer ästhetischen Ebene statt und ist somit nicht rational oder kognitiv nachvollziehbar.20 Eshelmans Performanz dient weder der Verfremdung, noch der Kontextualisierung des Subjekts, sondern dessen Erhalt. Das heißt, das Subjekt wird als ganzheitlicher, nicht hinterfragbarer Zeichenträger für einen Rezipienten verbindlich gesetzt.21
1.3 E IGENE M ETHODIK
ZUR
U NTERSUCHUNG
Die Hauptthesen dieser Forschungsarbeit lassen sich in der Auseinandersetzung mit den zwei oben genannten Fragestellungen hinsichtlich der Körper und Subjektbildung von Butler formulieren (vgl. 1.1): Erstens wird der andersartige Körper anhand der vorgeführten Literaturbeispiele als das einheitliche und dingbezogene Zeichen im Zentrum der Erzählung konstruiert; zweitens subjektivieren sich die Figuren in der Wechselwirkung von Repräsentation, Rahmenbildung und Transzendenz, anstatt diskursiven Bestimmungen zu unterliegen. Um diese zwei Thesen beweisen zu können, wird hier die methodische Vorgehensweise in vier Kategorien grob erläutert, die in erster Linie mittels der theoretischen Ansätze von Gans und Eshelman entwickelt werden. Im Folgenden wird erklärt, warum die vier von mir entworfenen Analysekategorien im Zusammenhang stehen. Das ostensive Körperzeichen, das für die Un-
19 Vgl. Eshelman, Raoul: »Der Performatismus oder das Ende der Postmoderne. Ein Versuch«, in Wiener Slawistischer Almanach 46 (2000), S. 151. 20 Eshelman, Raoul: Performatism or The End of Postmodernism, Aurora/Colorado: The Davies Group Publishers 2008, S. 37. 21 Vgl. Eshelman: Ende der Postmoderne, S.150.
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tersuchung der neuen gender-orientierten Literatur stellvertretend ist, wird auf Basis von Gans’ostensiven Zeichen entwickelt. Für die Konzeption der Rahmenkonstruktion werden die Hauptthesen von Gans’ »Urszene« und Eshelmans »doppelter Rahmung« in die Arbeit übernommen. Die Idee der »Zentrierung des Anderen« in der Postmoderne wird bei Gans angedeutet und von Eshelman ausgeführt. Dabei wird Eshelmans Erklärungsmodell auf die Erzähltextanalyse der genderorientierten Literatur erweitert. Marina Ludwigs anthropologische Erläuterung der zwei Transzendenzbegriffe Heideggers, die an die Rahmenkonstruktionen anknüpfen, wird in das neu entworfene Erklärungsmodell einbezogen. Das theoretische Instrumentarium zur Analyse der Subjekt- und der Körperkonstruktion in der neueren Literatur, das in Rekurs auf Gans und Eshelman entwickelt wird, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Grundlegend ist ein ostensives Körperzeichen, das immer auf geschlechtlich uneindeutige Körper bezogen ist. Das ostensive Zeichen formt in der Erzählung ein mimetisches Zentrum bzw. den inneren Rahmen und wird zur Projektionsfläche der Figuren. Die Zentrierung geschlechtlich uneindeutiger Körper oder Figuren unterscheidet sich von der marginalisierten Positionierung von Randgängern in der Postmoderne. Das Subjekt, das in der Postmoderne in die Irre geführt wird, findet in meinen Beispielen sein dingliches Zentrum bzw. das ostensive Zeichen, das nun als Ursprung dient. Auf der Figurenebene ermöglichen die Protagonisten und Protagonistinnen durch bewusste oder unbewusste Setzung und Identifikation eines ostensiven Zeichens (d.h. durch Repräsentation im Sinne von Gans) die Entstehung eines persönlichen Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Entscheidend ist auch die Funktion der zwei Rahmen. Oft gibt es in den Romanen einen inhaltlichen (mythologischen, religiösen oder diskursiven) oder formalen (narratologischen) Außenrahmen und einen semiotischen Innenrahmen. Die zwei Rahmen gelangen miteinander in Einklang, so dass innerhalb dieser stimmigen Rahmenbedingung ein zumindest zeitweilig festgelegtes und konstantes Subjekt konstruiert wird. Das Subjekt bildet sich dadurch heraus, dass es das ins Zentrum gesetzte ostensive Zeichen nachahmt und sich damit identifiziert. Dies geht oft mit einer transzendenten Erfahrung einher, z.B. einer Übereinstimmung mit dem Göttlichen oder einem auktorialen Erzähler. Nicht zuletzt ist das Streben der Figur nach einer Überwindung des Selbst und der es einschränkenden Rahmen wesentlich: sie kann durch äußere Schranken eingegrenzt sein, die sie überschreitet und somit erfolgreich eine Restriktion überwindet. Gerade durch einen solchen Ausbruch aus der Begrenzung, die einst durch den Handlungsrahmen vorgegeben war, entsteht ein handlungsfähiges Subjekt. 22 22 Vgl. 2.2.3 Nach Butler ist das Subjekt nur dann handlungsfähig, wenn diskursive Bedingungen suspendiert und erneuert werden.
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Diese vier Aspekte, also ostensives Zeichen, Zentrierung des Anderen, Rahmenkonstruktion und Transzendenz werden in den folgenden theoretischen Kapiteln ausführlicher besprochen. Da die generative Anthropologie von Gans und der Performatismus von Eshelman mit der beschriebenen performativen Wende auf verwandte Weise zusammenfallen und allesamt ein neues Erklärungsmodell für Literatur, Filme und Architektur anstreben, ist es erforderlich, Gans’ wie auch Eshelmans theoretische Ansätze heranzuziehen. Mithilfe dieser Theorien versuche ich, neu konstruierte Körper und Subjekte in der zeitgenössischen Literatur zu identifizieren und zu analysieren. Die Untersuchung wird vornehmlich in drei Typologien aufgeteilt, mithilfe derer ich unterschiedliche Figurationen von Geschlechtskörper und -subjekt kategorisiere.
1.4 Z UR T EXTAUSWAHL Die drei Typen eines einheitlich konstruierten Geschlechtssubjekts lassen sich in die folgenden Kapitel einordnen: »Zentrierung des Anderen«, »Archetypische Abbilder als Einheit« und »Ausbruch aus dem Rahmen«. In der ersten Gruppe handelt es sich um die Zentrierung von Geschlechtsrandgängern, welche sich nun als Identifikationsfiguren entpuppen und den als geschlechtlich »normal« beschriebenen Protagonisten und Protagonistinnen zu einer Wiederherstellung der körperlichen Einheit und des sprachlichen Vermögens verhelfen. In der zweiten Gruppe wird eine Identifikation mit archetypischen Figuren vollzogen, deren Ursprung in Mythen, Märchen und in religiösen Abbildern zu finden ist. Solche christlich gefärbten Abbilder bergen eine gewisse Andersartigkeit in sich, bringen die geschlechtlich uneindeutigen Figuren zur positiven Aufarbeitung ihrer existenziellen Krise und tragen dadurch zu einer Versöhnung ihrer Konflikte bei. In der dritten Gruppe geht es vor allem um eine normative Einschränkung des Subjekts, welches dem Unendlichen oder Sakralen in der Natur begegnet und schließlich durch dessen Einwirkung sich selbst und die ihm auferlegten Rahmen transzendieren kann. Die Gemeinsamkeit der drei Kategorien liegt in der Zentrierung der Andersartigkeit. Jedoch sind die Schwerpunkte in diesen drei Gruppen von unterschiedlicher Ausprägung: In der ersten und dritten Gruppe entpuppen sich Menschen mit ihrer uneindeutigen Körpergestaltung als Zeichenträger; in der zweiten Gruppe stehen religiös Ausgestoßene im mimetischen Zentrum. So fungiert in der ersten und dritten Kategorie der äußere Rahmen oft als Einschränkung der Existenz für die Figuren. In der zweiten Gruppe wirkt der äußere Rahmen hingegen als eine auktoriale Instanz mit positivem Einfluss, die zur Bestätigung der inneren Rahmen
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dient. Dementsprechend erleben die Figuren in der ersten und dritten Typologie Subjektivierung durch den Ausbruch aus dem sie behindernden Rahmen. Die Subjektivierung der Figuren in der zweiten Typologie findet durch ihre Erlebnisse mit einem Göttlichen bzw. Transzendenten oder ihre positive Identifikation mit archetypischen Abbildern statt.
2. Ist alles nur Diskurs?
Die Postfeministen und Postfeministinnen werden oftmals mit dem übergreifenden postmodernen Motto – »Alles ist Text«1– assoziiert. Das Geschlecht als Gegebenes, Naturhaftes, An-Sich-Seiendes etc. erweist sich als gesellschaftlich-kulturelle Konstruktion und menschliche Interpretation. Körper, Sex und Biologie werden in der postfeministischen Theorie entnaturalisiert und als Effekte von Diskursen definiert.2 In den nachfolgenden Kapiteln wird ausgeführt, wie das postmoderne Verständnis von Körperlichkeit vornehmlich anhand der Butler’schen Gendertheorien und deren Kritik entstand und sich entwickelte.
2.1 B UTLERS K RITIK AM D UALISMUS DER G ESCHLECHTERDIFFERENZ UND AN DER H ETERONORMATIVITÄT Das Begriffspaar Gender, im Sinne eines kulturellen Geschlechts und Sex als das biologische Geschlecht wurde Ende der 1960er in die amerikanische feministische Debatte eingeführt. Dieses Konzept entzieht sich der Grundlage des Essentialismus, indem es einen Gegenpol zu jener Position bildet, die davon ausgeht, dass
1 Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. aus dem Franz. v. Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S.274, »Es gibt kein Außerhalb des Textes [il n’y a pas de hors-texte].« 2
Vgl. Ludewig, Karin: Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler, Frankfurt/New York: Campus 2002, S. 38.
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Gender aus Sex resultiert. 1975 brachte Cayle Rubin dieses Konzept als Organisationsprinzip der Gesellschaft ins Blickfeld der Geschlechterforschung.3 Andrea Mainhofer sieht eine Trennung zwischen Sex und Gender problematisch, deren Abgrenzung sich nach wie vor aus der Begründung der körperlichen Unterschiede zweier Geschlechter ergibt.4 In Unbehagen der Geschlechter beschäftigt Butler sich in erster Linie mit der Fragestellung, was Weiblichkeit eigentlich ausmacht, und versucht eine Definition zu finden, die nicht auf die Negation von Männlichkeit hinausläuft. Dazu hinterfragt Butler die Trennung zwischen Gender und Sex5. Eine festgelegte, ontologisch orientierte Einheit der Frau sei illusionär. Butler kritisiert die Annahme, dass Gender auf der Grundlage von Sex entsteht. Der Begriff Gender wird dazu gebraucht, Sex als vordiskursive Größe zu konstruieren. Ihrer Meinung nach stimmt die soziale Geschlechtsidentität nicht notwendigerweise mit der biologischen Ausstattung überein. Da sowohl Gender als auch Sex kulturell und gesellschaftlich konstruiert werden, hält Butler die Trennung von Sex und Gender für hinfällig.6 Eine neue Definition von Gender erweist sich in diesem Zusammenhang als notwendig: Butler fasst Gender als einen Akt auf, welcher den kausalen Zusammenhang von Sex, Gender und Sexualität aufsprengt und auf eine neue Konstruktion hinweist, die sich keiner heterosexuellen Ordnung verpflichtet. Des Weiteren ist sie der Meinung, dass Sex eine veränderbare und historische Variable ist, die eine erzwungene Form von Begehren, also Heterosexualität, hervorbringt. 7 Butler unterläuft damit die biologische Bestimmung der Geschlechtsidentität und stellt den Geschlechterdualismus in der heterosexuellen Hegemonie in Frage. Die daraus abgeleitete Pluralisierung der Begehren dekonstruiert die kulturelle 3
Vgl. Wartenpfuhl, Brigit: Dekonstruktion von Geschlechtsidentität – Transversale Differenz. Eine theoretisch-systematische Grundlegung, Leske/Budrich: Opalden 2000, S. 18f.
4
Vgl. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a. M.: Ulrike Helmer 1995, S.19f.
5
Der Feminismus geht von einer Diskontinuität von Sex und Gender aus und argumentiert, dass die soziale Geschlechtsidentität mit der biologischen Ausstattung nicht übereinstimmen muss. Die Trennung zwischen Gender und Sex, die in der feministischen Bewegung fortschrittlich war, stellt sich als Hindernis für den Feminismus und die Anforderung nach Gleichstellung geschlechtlicher Randgänger heraus. Butler stellt daher die bisherige Repräsentationspolitik der Frauen infrage, lässt in ihrer Analyse kulturell verdrängte homosexuelle Begehren zu Tage treten und kritisiert die heterosexuelle Matrix, der sich geschlechtliche Randgänger unterordnen müssen.
6
Vgl. J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 8ff.
7
Ebd., S. 22f.
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Konstruktion von Mann und Frau samt einer einheitlichen und voneinander abgrenzbaren Geschlechtsidentität. Butlers Dekonstruktionsversuch zielt ab auf die Abschaffung der geschlechtlichen Hierarchie sowie auf die Gleichberechtigung von Menschen mit abweichenden Geschlechtsidentitäten.8
2.2 K ÖRPER UND S UBJEKT IN DER » LINGUISTISCHEN W ENDE « DER G ESCHLECHTERFORSCHUNG 2.2.1 Diskurse: Foucault und Butler In diesem Kapitel werde ich den Begriff »Diskurs« anhand von Foucault und Butler definieren, deren Konzeptionierungen sich voneinander unterscheiden. Der von Foucault neu konzipierte Begriff »Diskurs«9 bildet seit seiner Entstehung den Mittelpunkt des Poststrukturalismus.10 Dabei grenzt sich Foucaults Diskurs von
8 9
Vgl. Bublitz, Hannelore: Judith Butler. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, 53. Im deutschsprachigen Raum ist der Diskursbegriff des Philosophen Jürgen Habermas nicht weniger geachtet als der Foucaults. Habermas, dessen Gedanken in Einklang mit der Dialektik der Aufklärung stehen, setzt auf die Vernunft und appelliert an ethische Prinzipien. In Strukturwandel der Öffentlichkeit beschreibt er die Machtkonstruktion durch Elitebildung vom 18. Jahrhundert bis heute und verweist dabei auf »eine prozedurale Fassung der Volkssouveränität als Inbegriff der Bedingungen für die Ermöglichung eines diskursförmigen Prozesses der öffentlichen Kommunikation.« (Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990ĭ S. 44) Im Vergleich zu postmodernen Ansätzen bewertet er den Diskurs als einen »Schauplatz kommunikativer Rationalität« (Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns [Bd. 1], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 114). Also stützt sich der Diskurs auf die Verständigung zwischen den Menschen. Der historische und kontingente Diskurs im Foucault’schen Sinne garantiert hingegen keine Wiedererkennung des Menschen in der Geschichte. Die diskursiven Elemente gehen immer auf eine bestimmte Ordnung und Konfiguration zurück, die diskontinuierlich und jedem Sinn äußerlich sind.
10 Vgl. Weedon, Chris: Wissen und Erfahrung. Feministische Praxis und Poststrukturalistische Theorie, übers. aus dem Engl. v. Elke Hentschel, Zürich: eFeF-Verlag 1990, S. 35. Allgemein ist der »Diskurs« aus einer poststrukturalistischen Perspektive ein Ort, an dem die soziale Realität sprachlich und begrifflich organisiert wird. Die Funktionsweisen der Institutionen, die unsere Wahrnehmung steuern, sind sprach-ähnlich angelegt.
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der sogenannten »linguistischen Wende« 11 ab. Der Diskurs bei Foucault ist weder ein sprachwissenschaftlich fundierter Oberbegriff für gesprochene oder schriftliche Textformen, noch ein Verfahren der progressiven Wahrheitsfindung, wie Habermas es darstellt, sondern eine epochal und wissenschaftlich charakterisierende Ordnung des Denk- und Sagbaren. 12 Foucault zufolge liegt das Ziel der Diskursanalyse darin, Diskurse als »Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«13. Für Foucaults Konzept des Diskurses spielt Macht eine entscheidende Rolle. 14 Er liefert zahlreiche detaillierte historische Untersuchungen über die Art und Weise, wie Macht in der Gesellschaft wirkt. Dabei geht es ihm vor allem um die Interaktion zwischen Institutionen und Individuen. Darüber hinaus legt er bestimmte Einzelheiten in verschiedenen Diskursfeldern offen: Die diskursiven
11 Vgl. Sarasin, Philipp: Michel Foucault. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S.107. Foucault unterscheidet seine Diskursanalyse von der Sprachanalyse: Die linguistischen Forschungen legen den Fokus auf das Potenzial der Sinnvielfalt der Aussagen, wohingegen der Foucault’sche Diskurs die Frage untersucht: »[W]ie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?« 12 Vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 26. 13 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, aus dem Franz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S74. Siehe auch Butler, Judith: »Für ein sorgfältiges Lesen«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser (Hg.), Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 129. Daran schließt Butler ihr Verständnis der Produktivität des Diskurses an: »Diskurs ist […], wie bestimmte diskursive Formen Objekte und Subjekte in ihrer Intelligibilität ausdrücken. In diesem Sinne benutze ich das Wort Diskurs nicht in seiner alltagssprachlichen Bedeutung, sondern ich beziehe mich damit auf Foucault. Ein Diskurs stellt nicht einfach vorhandene Praktiken und Beziehungen dar, sondern er tritt in ihre Ausdrucksformen ein und ist in diesem Sinne produktiv.« 14 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, übers. aus dem Franz. v. Ulrich Raulff/Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 113f. »Die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern«
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Konstruktionen von Wahnsinn, Klinik, Strafe und Sexualität werden in ihrem kulturhistorischen Kontext analysiert. Foucault ist interessiert an den einzelnen Formen der Herrschaft und ihrer Beteiligung an einer Etablierung und Stabilisierung von Machtbeziehungen. Sowohl die epochale Wissenskonstellation, als auch die sozialen Praktiken in Wechselwirkung mit der Macht gehören zur Foucault’schen Konzeption von »Diskurs«15. Methodologisch geht Foucault mittels einer »Analyse von Aussagen« und »realisierte[r] sprachliche[r] Performanzen«16 vor. Seine Diskursanalyse befasst sich insbesondere mit der Untersuchung des Gesagten in der Realität, das zum Aussagemuster wird. Foucaults Diskurs operiert in Zusammenwirkung mit Macht und ihrer Legitimation in bestimmten zeit-räumlichen Rahmen.17 Zusammenfassend ist das Aussagesystem ein Geflecht wissenschaftlichen Sprechens, das »institutionellen, politischen und ökonomischen« Machtverhältnissen unterworfen ist und eine einheitliche Praxis aufzubringen vermag. 18 Für Foucault sind nicht die Subjekte Urheber eines Diskurses, sondern gewisse Ordnungsbedingungen, die nicht auf das Bewusstsein oder die Reflexivität der Menschen zurückgeführt werden können.19 Der Diskurs ist auch nicht einfach eine Summe des real Gesagten, sondern der archivierten Regeln, die das Erscheinen von einzelnen Aussagen determinieren.20 Als Hauptvertreterin der »linguistischen Wende« in der Geschlechterforschung verortet Butler viele zeitgenössische theoretische Strömungen in der Foucault’schen Diskurstheorie, in der die Sprache als Konstruktionsweise gesellschaftlicher Realität fungiert.21 Hierin besteht nach der Ansicht von Müller der wesentliche Unterschied zwischen den zwei Arten des Diskurses: Foucault macht auf das Macht-vermittelte Aussagesystem aufmerksam, das von »diskursspezifischen Regeln« strukturiert wird. Solche Regeln realisieren sich mithilfe der Subjekte in der sprachlichen Äußerung. Foucaults Diskurs ist insofern produktiv, als er »die sozial-historischen Gegenstände« hervorbringt. Butlers Forschungen über Diskurse stützen sich auf die Sprache bzw. »Begriffe und Bezeichnungen, die die
15 Vgl. C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 138f. 16 M. Foucault: Archäologie, S. 159. 17 Vgl. P. Sarasin: Einführung, S. 106f. 18 Ebd., S.103. 19 Vgl. ebd., S. 107. 20 Ebd., S. 110. Wichtig für die Entstehung der Foucault’schen Diskurse sind insbesondere seine Werke Die Ordnung des Diskurses und Die Archäologie des Wissens (vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 26f). 21 Vgl. Villa, Paula-Irene: Judith Butler, Frankfurt/New York: Campus 2003, S. 19.
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Kategorien der Identitäten stabilisieren und destabilisieren können.« Butler geht es um »ein diskursives Verständnis der Sprache«22. »Die Identität als Praxis, und zwar als Bezeichnungspraxis zu verstehen, bedeutet, die kulturell intelligiblen Subjekte als Effekte eines regelgebundenen Diskurses zu begreifen, der sich in die durchgängigen und mundanen Bezeichnungsakte des sprachlichen Lebens einschreibt [Herv. i.O.].«23
Von dieser Annahme ausgehend, bezieht Butlers Diskurs sich auf die Art und Weise, wie bestimmte Ausdrucksformen der menschlichen Kommunikation innerhalb der gegebenen Diskurse akzeptiert werden. Durch Praktiken der Bedeutungszuweisung steuern die Diskurse, welche Äußerungen innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen des Denkens vorkommen und wie diese verbreitet werden. Ein Diskurs ist für sie produktiv, weil dieser die Machtverhältnisse in die »Ausdrucksformen« der Individuen einschreibt. 24 Wichtig sind deshalb nicht so sehr »die individuellen Äußerungen, sondern stärker die Mechanismen, nach denen Sprache operiert und Wirklichkeit erzeugt.«25 2.2.2 Körper und Sprache Der heterosexuelle Gender-Diskurs erlaubt ausschließlich den beiden Kategorien Mann und Frau einen Sinn. Ein drittes Geschlecht außerhalb des heterosexuellen Diskurses ist nicht legitim und daher nicht erkennbar oder lebbar. Die scheinbare Wirklichkeit Mann/Frau im Machtsystem der Zwangsheterosexualität und des Phallogozentrismus26 sind in bestimmter Weise konfiguriert, wie Butler es ausdrückt. Andersartige Geschlechter werden ausgegrenzt und tabuisiert. Sie finden keinen Platz im Dispositiv (d.h. in der Verschränkung von Macht und Diskurs) und bleiben unerkennbar. Auf welche Weise funktioniert die Konfiguration der Geschlechteridentität? In welchem Verhältnis steht die diskursive Produktivität zum Sprechen und zur Sprache? Butlers Antworten darauf finden sich zunächst in Louis Althussers
22 A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 30. 23 J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 212. 24 J. Butler: Ein sorgfältiges Lesen, S. 129. 25 A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 29. 26 Vgl. D. Dornhof: Postmoderne, S. 293. »Phallogozentrismus« heißt die Unterordnung des Weiblichen unter männlichen Ordnung als Voraussetzung des Funktionierens des abendländischen Denkens.
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Sprechakttheorie. Durch Aussagen wie »Es ist ein Junge« oder »Es ist ein Mädchen« bei der Geburt eines Kindes wird den Körpern ein Geschlechtszeichen beigemessen. In Körper von Gewicht betrachtet Butler die Sprache als einen Ort, an dem Diskurs und Anrufung (franz.: interpellation) zugunsten der gesellschaftlichen und kulturellen Zuschreibung zusammenspielen. Mittels des Prozesses der Anrufung konstruieren Diskurse konkrete und materialistische Wirklichkeiten. 27 Der Körper wird dadurch intelligibel, dass er durch eine Anrufung konstituiert und zugänglich wird. Ein Diskurs wird dadurch materialisiert, dass der Sprecher Sprechakte vollzieht. Das Sprechen lässt sich jedoch nicht vom Sprecher determinieren, sondern gerät jenseits der Absicht der Sprechenden außer Kontrolle. 28 Neben der sprachlichen Zuschreibung der Geschlechtsidentität wird der Körper als diskursiver Effekt »ständig wiederholende[r] und zitierende[r] Praxis« 29 materialisiert. Zudem setzt Butler sich mit der Dekonstruktion der Begriffe »Körper« und »Materialität« auseinander, um den Körper von seiner Naturgegebenheit zu befreien. Das heißt nicht, 27 Vgl. Villa, Paula-Irene: »(De)konstruktion und Diskurs-Genealogie: Zur Position und Rezeption von Judith Butler«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empire, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 149. 28 Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. aus dem Engl. v. Katrin Wördemann/Markus Krist, Berlin: Berlin Verlag 1998, S.29 und vgl. Villa: Dekonstruktion, S.148. 29 Villa, Paula-Irene: Post – Ismen: Geschlecht in Postmoderne und (De)Konstruktion«, in: Sylvia Marlene Wilz (Hg.) Geschlechtdifferenzen–Geschlechterdifferenzierung. Ein Überblick über gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 224. Siehe hierzu auch H. Bublitz, Einführung, S. 39. Bublitz argumentiert in ihrer renommierten Einführung zu Butler, dass Butlers Konzept der Materialität auf den radikalen linguistischen Konstruktivismus rekurriert. Bublitz zufolge verzichtet Butler auf ein Denkmodell, das seit langem in der Geschlechterforschung herrscht, nämlich die Opposition von Natur und Kultur. Das Natürliche, die vermeintlich außerdiskursive Größe, die der Kultur unterliegt, ist von Macht beschrieben und durchdrungen. Butler ihrerseits betont die Verwischung beider Oppositionen und deutet auf die soziale Konstruktion der Natur hin, durch die das Natürliche vom Sozialen absorbiert wird und in Form des Kulturellen erscheint. »Der Naturkörper ist von Anfang an ein Sozialkörper.« (ebd.) Ähnlich sieht Paula-Irene Villa Butlers konstruktivistische Position im Widerspruch zu ihrer durchaus dekonstruktiven Haltung (P.I. Villa: Geschlecht in Postmoderne, S. 223f). Die Versprachlichung der Naturkörper bleibt nach wie vor das größte Hindernis in der Rezeption der Butler’schen Theorien.
26 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »sie [Körper und Materialität] zu verneinen oder abzulehnen. Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe, dass man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie verschiebt bzw. aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrumente der Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden.« 30
Durch diese dekonstruktivistische Methode, die mit Sinnverschiebung, Entkontextualisierung und performativer Wiederholung arbeitet, vermag ein Individuum, sich der Macht zu widersetzen. Auf Butlers »Performativität« gehe ich in 2.3 vertieft ein. Einen realen, reinen und unkonstruierten Körper gebe es nicht, so Butler.31 Das bedeutet erstens, dass es jenseits der Sprache bzw. des Diskurses keinen objektiven Zugang zum Körper gibt. Es ist unmöglich, den Körper jenseits des Diskursiven unmittelbar zu fassen, denn »dieser Zugang zum Körper ist, egal, ob als Labormessung, Philosophie oder eigene Körpererfahrung, eben immer ein sozialer und ein sprachlicher Zugang.«32 Zweitens ist der vordiskursive Körper, der als naturgegeben erscheint, gerade so eine vom Diskurs produzierte Illusion. Die materielle Realität lässt sich zwar nicht allein auf Diskurse reduzieren, aber es gibt keine Materialität, die nicht von Diskursen durchdrungen ist. Das Verhältnis zwischen Körper und Diskurs wird ambivalent, da Butler weder die Materialität des Körpers negieren, noch voraussetzen will.33 »Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper wird immer als vorgängig gesetzt oder signifiziert. Diese Signifikation produziert als einen Effekt ihrer eigenen Verfahrensweise den gleichen Körper, den sie nichtsdestoweniger zugleich als denjenigen vorzufinden beansprucht, der ihrer eigenen Aktion vorhergeht [Herv. i.O.].«34
Aus dieser sprach-diskurstheoretischen Sicht ist der Körper die Wirkung der Zeichenordnung. So kann sich selbst der Körper nicht der postmodernen Kritik entziehen und wird reduziert auf das Produkt von »endlosen, instabilen Regressionen diskursiver Kräfte« wie Raoul Eshelman es beschreibt.35
30 J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 52. 31 Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, S. 33. 32 P. I. Villa: Judith Butler, S. 89. 33 Ebd., 92. 34 J. Butler: Körper von Gewicht, S.56. 35 R. Eshelman: Performatism, S. 23f, meine Übersetzung.
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2.2.3 Butlers postsouveränes Subjekt Butlers »Subjektivation« richtet sich im Grunde genommen an Althusser und Foucault aus. Ein vordiskursives Außen, wo sich ein vermeintlich »natürliches« Subjekt befinden könnte, ist für Foucault unmöglich. So hält auch Butler ein Subjekt ohne diskursive Konstruktion für undenkbar. Somit dekonstruiert Butler in Das Unbehagen der Geschlechter das autonom und bewusst handelnde Subjekt im Sinne von René Descartes, indem das Subjekt seine Identität durch die Zuschreibung von Geschlechterkategorien gewinnt. Darum geht es im Folgenden: In Das Unbehagen der Geschlechter ist Subjektbildung stark an die Bildung von Geschlechtsidentität gekoppelt.36 Das bedeutet also, dass Identität immer auf eine bestimmte geschlechtliche Zuordnung verweist, die der gesellschaftlichen Norm entspricht. Folglich ordnet sich das Subjekt in die zwei vorgegebenen geschlechtlichen Kategorien Mann/Frau ein. Butler bezeichnet die gültigen Geschlechtsidentitäten als »intelligibel« 37, um damit kohärente und kontinuierliche Verhältnisse zwischen Sex (siehe oben), Gender und Begehren zu beschreiben. Die Kontinuität zwischen den eben genannten Faktoren im Rahmen einer institutionellen Heterosexualität ist grundlegend, um dem Individuum eine feststehende Identität zuzusprechen.38 Diejenigen, die geschlechtlich und sexuell uneindeutig sind, besitzen keine intelligible Identität und sind daher laut Butler keine erkennbaren Subjekte. Wie in Das Unbehagen der Geschlechter, ist das Subjekt auch in Körper von Gewicht poststrukturalistisch angelegt. Die Subjektbildung durchläuft einen fortdauernden Prozess innerhalb des Diskursiven, der nie vollendet wird. »[…] Das ›Ich‹ entsteht vielmehr nur dadurch, indem es gerufen wird, benannt wird, angerufen wird, um den Althusserschen Ausdruck zu verwenden, und diese diskursive Konstituierung erfolgt, bevor das ›Ich‹ da ist; es ist die transitive Anführung des ›Ich‹. […] die Unmöglichkeit eines völligen Wiedererkennens, d.h., die Unmöglichkeit, den Namen, von dem jemandes soziale Identität inauguriert und mobilisiert wird, jemals ganz auszufüllen, impliziert überdies die Instabilität und Unvollständigkeit der Subjektbildung.« 39
Während der Diskurs in zwei Frühwerken Butlers eine wichtige Rolle bei der Hervorbringung und Reglementierung des Subjekts spielt, wird in Macht der Psyche 36 Vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S: 36. 37 Vgl. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 38f. 38 Ebd., S. 22. 39 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 310.
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von Seiten des Subjekts der Prozess des Unterworfenwerdens mithilfe der psychischen Dimension erläutert.40 Für Butler ist die Subjektivation ein »Prozess des Unterworfenwerdens«41durch Macht und zugleich Subjektwerdung. Die Subjektivationsprozesse innerhalb des heterosexuellen Regimes erweisen sich insofern als normativ, als die Subjektivierung zugleich die Identifizierung mit einer bestehenden Subjektposition ist, die durch den Ausschluss im Sinne Foucaults bestimmt wird. Heteronormative Gesetze erzwingen normgerechte Körper, indem sie zugleich andere ausschließen. 42 Diese Subjektposition in der symbolischen Ordnung wird überdies auf Kosten der Verwerfung der unnennbaren und unerkennbaren bzw. nicht intelligiblen Geschlechteraspekte etabliert. Oftmals wird die Verwerfung potenzieller Subjektpositionen und Identitäten erzwungen, wodurch das Individuum immer einen Teil von sich aufgeben muss. 43 Darüber hinaus ist die Verwerfung »keine einzelne Handlung, sondern der wiederholte Effekt einer Struktur«44. Homosexuelle Identitäten etablieren sich z.B. durch die wiederholte Verwerfung der heterosexuellen Identität. Insbesondere werden Foucaults Konzept der »produktiven Kapazität« und die Ausschlussfunktion des Diskurses als theoretische Grundlage übernommen. 45 Foucaults Diskurse formen Butler zufolge die körperliche Materialität von außen, sodass keine psychischen Aspekte dafür nötig sind.46 Butlers eigenes Verständnis von Diskursen ist hingegen, dass diese auch das Innere des Subjekts
40 Vgl. P. I. Villa: Judith Butler, S. 41 u. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 69. 41 J. Butler: Psyche der Macht, S. 8. 42 Vgl. Hark, Sabine: »Queer Studies« in Christina v. Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Stuttgart: UTB 2009, S. 301. 43 Vgl. P. I. Villa: Geschlecht in Postmoderne, S. 219. 44 J. Butler: Haß spricht, S. 196. 45 Vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S 71. 46 Ebd., S. 69. Vgl. auch C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 144. Weedon betrachtet Foucaults Subjektivität als »die Ansammlung von bewusster und unbewusster Erinnerung, von Subjektpositionen und den psychischen und emotionalen Strukturen.« Zudem lässt sich unter Butlers Einbezug der psychischen Dimension bestimmen, auf welche Art und Weise das Subjekt sich gegen Macht wendet – mit anderen Worten, wie sich das Widerstandsvermögen des Subjekts anhand der gesellschaftspolitischen Praxis ergibt, das der Emanzipationsbestrebung verpflichtet ist. Der Einbezug der Psyche kann deshalb als eine Ergänzung Butlers zur rein sprachphilosophischen Theoriebildung von Althusser angesehen werden, wie dies stets auch in Körper von Gewicht zum Vorschein kommt.
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durchdringen. 47 Butler entfaltet eine psychische Dimension des Subjekts angesichts der Macht. In Anlehnung an Foucault hebt Butler die produktive Kapazität der Macht hervor, die die Wechselwirkung zwischen Macht und Subjekt und damit den Kernpunkt der Machtbeziehung betrifft. Butler richtet ihr theoretisches System ausgehend von dieser Grundannahme der Produktivität der Diskurse aus, das sie in ihrem Werk Körper von Gewicht ausführt. Die reflexiven Instanzen und das Widerstandsvermögen des Subjekts sind in Macht der Psyche als Wirkung von Diskursen erfasst. Um gegen die Unterordnung unter die Macht rebellieren zu können, muss deren Existenz vorausgesetzt werden. Das Subjekt nimmt deshalb im Verlauf der Unterwerfung vorerst eine passive Position ein. »Was hat es also zu bedeuten, daß das von manchen als Voraussetzung der Handlungsfähigkeit verteidigte Subjekt zugleich als Effekt der Unterwerfung zu verstehen ist? Auf folgendes wird damit verwiesen: Im Akt der Opposition gegen die Unterordnung wiederholt das Subjekt seine Unterwerfung (ein Begriff, der sich sowohl in der Psychoanalyse wie bei Foucault findet). […] Eine auf das Subjekt ausgeübte Macht, ist die Unterwerfung doch eine vom Subjekt angenommene Macht, eine Annahme, die das Instrument des Werdens dieses Subjekts ausmacht [Herv. i.O.].«48
Die Wechselbeziehung zwischen Macht und Subjekt wird desgleichen zweideutig bestimmt: Die Macht bringt ein handelndes Subjekt hervor, das wiederum das Machtverhältnis inszeniert.49 Macht und Subjekt lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden.50 Butler stellt fest, dass »das Subjekt nicht mit dem Individuum
47 J. Butler: Psyche der Macht, S. 8f. 48 J. Butler: Psyche der Macht, S.16. 49 Ebd., S. 19. 50 Siehe hierzu ebd., S. 20. Die Verschränkung zwischen den beiden scheint widersprüchlich zu sein, denn »[d]ie Macht ist dem Subjekt äußerlich, und sie ist zugleich der Ort des Subjekts selbst.« »Das heißt nun nicht, das Subjekt ließe sich auf die Macht zurückzuführen, der es seine Entstehung verdankt, genausowenig, wie sich die Macht auf das Subjekt reduzieren lässt [Herv. i.O.]« (ebd.). Einerseits lässt das Subjekt sich unvollständig von der Macht determinieren. Anderseits erlangt das Subjekt durch die performative Wiederholung aber eine Möglichkeit, von der Norm abzuweichen und der Macht zu widersprechen. Das Subjekt determiniert die Macht auch nicht, da es nur ein Ort der Wiederholung der Macht und der Verfestigung der Norm ist (vgl. ebd., S. 22). Ohne das Subjekt wird Macht nicht artikuliert und ausgeführt. Macht geht vom Subjekt aus, wirkt auf andere Subjekte und beeinflusst wiederum den Diskurs. So stehen Macht und Subjekt in einem zirkulären Verhältnis zueinander.
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gleichzusetzen, sondern vielmehr als eine sprachliche Kategorie aufzufassen« ist.51 »Individuen besetzen die Stelle des Subjekts, den Ort des Subjekts (als welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.«52
Auf der Suche nach seiner sozialen Existenz könne das Individuum nicht anders, als sich an Namen, Begriffe, Bezeichnungen und Kategorien zu wenden, aus denen sich ein formbares und reglementierbares Subjekt ergibt. Dies führe unvermeidlich zu einer Totalisierung der Identitäten, solange die Benennungen nicht alle Merkmale der angerufenen Personen oder Gruppen umfassen können. Hierfür zitiert Butler Althussers Subjektivation, die auf »eine Verkennung, eine falsche und vorläufige Totalisierung [Herv. i.O.]«53 verweist. »Je spezifischer Identitäten werden, desto mehr wird eine Identität eben durch diese Besonderheit totalisiert.«54 Die vielfältigen und unterschiedlichen Charakterzüge des Subjekts werden aufgrund einer einheitlichen Namensverleihung mehr oder weniger überblendet. Hier taucht das Paradox der Butler’schen Subjektbildung auf: Einerseits fällt einem Individuum durch die Verwerfung und Unterwerfung eine intelligible Subjektposition innerhalb der symbolischen Ordnung zu; andererseits soll das Subjekt für das Ziel der Emanzipation Handlungsfähigkeit in Anspruch nehmen, um kritisch und widerständig gegenüber der Macht zu agieren. Wie können diese beiden, auf den ersten Blick gegensätzlichen Positionen, in Übereinstimmung gebracht werden? Butler geht davon aus, dass das handelnde Subjekt immer »genau an solchen Schnittpunkten [entsteht], wo der Diskurs sich erneuert«55. Schwindet die Souveränität des Subjekts, setzt dessen Handlungsmacht dort ein.56 Somit entwirft Butler eine neue Art des Subjekts, nämlich ein »postsouveränes Subjekt«, das seine Abhängigkeit und Verquickung mit Machtverhältnissen und Diskursen zur
51 Ebd., S. 15. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 106. 54 Ebd., S. 96. 55 J. Butler: ein sorgfältiges Lesen, S. 125. 56 J. Butler: Haß spricht, S. 29.
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Kenntnis nimmt und mit Ordnungsprinzipien kreativ und subversiv umgeht.57 Das Potenzial des Widerstands liegt genau in der Bewusstwerdung der eigenen Unterwerfung gegenüber der Macht. Um es konkret auszudrücken, die Handlungsfähigkeit des Subjekts besteht in der »Verweigerung von vereindeutigenden und totalisierenden Anrufungen oder (im) ironische(n) Umgang mit ihnen«58. Ein Individuum unterwirft sich dem herrschenden Diskurs, zugleich wird es durch die Möglichkeit zur Performativität dazu ermächtigt, diesem zu widerstehen. 2.2.4 »Performativität«: Wie wendet man sich gegen Macht in der Postmoderne? Wann und wo erneuert sich der Diskurs, der das handelnde Subjekt unterwirft und hervorruft? Die Antwort darauf kann nicht allein in einer reinen Diskursanalyse der Subjektbildung lokalisiert werden, sondern es müssen auch die Gedanken von Derrida, die sich auf Austins Sprechakttheorie beziehen, herangezogen werden. Das Konzept der Performativität wird von Butler in Das Unbehagen der Geschlechter eingeführt, insbesondere in Körper von Gewicht ausgearbeitet und wesentlich in Haß Spricht vertieft. Der Begriff »Performativität« verweist auf sich immer wiederholende regulierbare Sprechakte, um so den Mechanismus der körperlichen Materialisierung und der Subjektbildung zu beschreiben. Im Dienst ihrer Theoriebildung greift Butler in Haß spricht auf die Theorie von Austin59 zurück, indem sie das Subjekt durch die performative Äußerung bestimmt. 60 In einer Zusammenstellung seiner Vorlesungen und Vorträge, die 1962 unter dem Titel How to do Things with Words erschien, definiert Austin performative Äußerungen61 als
57 Ebd., S. 198. 58 P. I. Villa: Geschlecht in Postmoderne, S. 221. 59 Siehe hierzu Butler: Haß spricht, S. 51f. Der genaue Unterschied zwischen den Sprechakttheorien von Althusser und Austin wird von Butler in Hass spricht beschrieben. 60 Vgl. ebd., S. 41ff. 61 Austin unterscheidet dabei zwei Formen der performativen Sprechakte, die Butler in Haß spricht in Betracht zieht. Die illokutionären Sprechakte tun das, was sie sagen im Augenblick der Äußerungen. Die perlokutionären Sprechakte führen zu bestimmten Wirkungen, die mit dem Sprechakt nicht zeitlich zusammenfallen (J. Butler: Haß spricht, S. 11). Während illokutionäre Akte konventionell angelegt sind, stützten sich perlokutionäre Sprechakte auf Konsequenzen (Ebd., S. 31). Die sofortige Durchführung der illokutionären Sprechakte setzt einen autorisierten Sprecher voraus, der imstande ist, eine »Konvention« aufzurufen. Die Äußerungen sind konventionell bzw. rituell und zeremoniell. Wenn die performativen Äußerungen die Form eines Rituals haben, sind sie
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Sprechakte, die bestimmte Handlungen und Wirklichkeit im Ereignis des Äußerns hervorbringen.62 Drei wesentlichen Merkmale bestimmen den performativen Sprechakt, wie Butler ihn begreift: die vorläufig feststehende Geschichtlichkeit, die funktionale Ritualisierung und die Wiederholbarkeit der Äußerungen.63 Ein performativer Sprechakt weist immer auf eine vergangene effektive Äußerung hin, welche »diskursive Gesten der Macht wiederholt und nachahmt«.64 Eine performative Äußerung ist deswegen erfolgreich, weil »die (Sprech-)Handlung frühere (Sprech-)Handlungen echogleich wiedergibt und die Kraft der Autorität durch die Wiederholungen oder durch das Zitieren einer Reihe vorgängiger autoritativer Praktiken akkumuliert [Herv. i.O.]«65. Eine performative Äußerung gelingt auch dann, wenn eine Kette von Effekten daraus abgeleitet wird, so Butler. 66 Jeder Sprechakt lässt sich auf sprachliche und außersprachliche Konventionen zurückführen, deren Widerstand sich aus »einer letztendlich unkontrollierbaren und endlosen Wiederholungskette der Sprache« ergibt 67. Die Grundlage für ihre Anknüpfung an Austin bildet Butlers Annahme, dass der performative Sprechakt durch das bloße Äußern eine materielle Wirksamkeit erlangt. Das heißt, die Anrede ruft das Subjekt ins Dasein. Der Status des Subjekts ist die sprachliche Angelegenheit des Individuums, dessen Existenz diskursiv bedingt wird.68 Butler positioniert sich somit gegen eine ontologische Annahme des Subjekts. »Die Ablösung des Sprechaktes vom souveränen Subjekt begründet einen anderen Begriff der Handlungsmacht und letztlich der Verantwortung, der stärker in Rechnung stellt, daß
in bestimmten Zeiträumen wiederholbar, sodass sie ihr Wirkungsfeld aufrechterhalten. Darüber hinaus beschränken die Äußerungen sich nicht auf einen ritualisierten Augenblick. »Er [Der ritualisierte Augenblick] überschreitet sich selbst in die Vergangenheit und die Zukunft, insofern er ein Effekt vorgängiger und zukünftiger Beschwörungen der Konvention ist, die den einzelnen Fall der Äußerung konstituieren und sich ihm zugleich entziehen« (Ebd., S. 12). 62 Beispiele für performative Äußerungen sind autorisierende Aussagen beim Vollzug einer Taufe, einer Hochzeit oder eines Gerichtsurteils. 63 Vgl. J. Butler: Haß spricht, S. 11f. 64 J. Butler, Körper von Gewischt, S. 309. 65 Ebd., S. 311. 66 J. Butler: Haß spricht, S. 31. 67 Vgl. P. I. Villa: Geschlecht in Postmoderne, S. 216. 68 Vgl. P. I. Villa: Judith Butler, S. 42.
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die Sprache das Subjekt konstituiert und daß sich das, was das Subjekt erschafft, zugleich von etwas anderem herleitet.«69
In Anlehnung an Derrida modifiziert Butler die Sprechakte von Austin. Sie begreift performative Äußerungen als eine Praxis des zitatförmigen Verbiegens, wodurch diese sich dem ursprungsgebenden Subjekt entziehen und den Naturalisierungsprozess der Diskurse verschleiern. »Die Performativität ist demzufolge kein einmaliger ›Akt‹, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.«70
Die zitatförmige Wiederholung innerhalb hegemonialer Machtbeziehungen stabilisiert einerseits diejenigen Normen, durch die der Anschein eines souveränen Subjekts erweckt wird; anderseits bringt sie gleichzeitig deren Subversion und Veränderung mit sich. In ihrer Wechselwirkung konstruieren die wiederholenden diskursiven Sprechakte einen Mechanismus, der keinen Urheber benötigt. Butler legt eine subversive und kreative Umgangsweise mit dem Geschlecht 71 dar. Unter expliziter Bezugnahme auf Derrida betont Butler, Wiederholung sei immer eine »Reiteration«72. Derrida geht davon aus, dass Handlungen im Verfahren der Wiederholung iterierbar 73 (franz.: itérabilité) sind. Das heißt, Handlungen können niemals vollständig identisch wiederholt werden. Es finden unaufhörlich Abweichungen und Abwandlungen statt. Die Wiederholungen sind nicht nur potenziell kreativ, sondern auch subversiv, da die performativen Sprechakte die
69 J. Butler: Haß spricht, S. 29. 70 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 36. 71 Vgl. P. I. Villa: Geschlecht in Postmoderne, S. 221. 72 J. Butler: Haß spricht, S. 208. 73 Vgl. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, übers. aus dem Franz. v. Gerhard Ahrens, in: Peter Engelman (Hg.), Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 298. »Die Iterabilität verändert und kontaminiert auf parasitäre Art gerade das, was sie identifiziert und wiederholt; sie bewirkt, daß man (immer schon, auch) etwas anderes sagen will, als man sagen will, etwas anderes sagt, als man sagt und sagen möchte, etwas anders versteht...usw. [Herv. i.O.]« (zitiert nach Zima, Peter v.: Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübinger und Basel: A. Francke 1994, S. 60; Derrida, Jacques: »Limited Inc a b c... «, übers aus dem Franz v. Werner Rappl, in: Peter Engelmann [Hg.] Limites Inc., Wien: Passagen 1990, S. 120.)
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Möglichkeiten ihres Scheiterns und somit Widerstand gegenüber der Macht in sich tragen.74
2.3 D IE G ESCHLECHTERFORSCHUNG
DER
P OSTMODERNE
Unter dem Begriff »Poststrukturalismus« versammeln sich unterschiedliche theoretische Ansätze. Ihm gehören sowohl Derridas Dekonstruktion und Foucaults Diskurstheorie, als auch die Althussers Ideologietheorie an.75 Im Gegensatz zur Saussure’schen strukturalistischen Erfassung der Sprache, ist Sprache im Poststrukturalismus weniger als »ein positives Faktum«76 erfasst, sondern vielmehr als variierende Größe, die Widersprüche enthält.77 Grundlegend für den Poststrukturalismus ist die Überzeugung, dass Sprache die Gesellschaft organisiert, aber auch das Potenzial besitzt, deren bestehende sozialpolitische Konstellation infrage zu stellen. In der Dekonstruktion werden der traditionellen Annahme vom feststehenden Sinn eines sprachlichen Zeichens Sinnvielfalt und -verschiebung gegenüber
74 Siehe auch Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 216, »Die kritische Aufgabe besteht […] darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen, […] und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, […] und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen.« Butler beschäftigt sich in Haß spricht mit der Fragestellung, warum bestimmte Äußerungen, Namen, Bezeichnungen und Kategorisierungen verletzen können und wie sich solche Verletzungen herausbilden. Dafür zieht sie das Beispiel von US-amerikanischen Institutionen heran, die bestimmte Äußerungen aus dem öffentlichen Leben verbieten. Paradoxerweise dienen solche Verbote jedoch gerade der Stabilisierung jener Äußerungen. Butler erarbeitet hauptsächlich in Auseinandersetzung mit Derrida eine Möglichkeit, die verletzenden Äußerungen umzudeuten und zu widerlegen. In Haß spricht geht es also um die Funktion der performativen Sprechakte im gesellschaftlichen und kulturellen Leben. 75 Vgl. C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 25. 76 Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. aus dem Franz. v. Herman Lommel, Berlin: Walter de Gruyter 1967, S.144. 77 Vgl. C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 39f.
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gestellt. Die Feststellung, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht fest und beständig ist, sondern Veränderungen und sogar Selbstwidersprüche durchmacht, rückt im Poststrukturalismus in den Mittelpunkt.78 Innerhalb poststrukturalistischer Denkweisen wird auch Subjektivität vor allem auf sprachliche Prozesse zurückgeführt. Das schon von Anfang an fremdbestimmte Subjekt wird zum Schauplatz, auf dem sich Uneinheitlichkeit, Widersprüchlichkeit und Variabilität abspielen.79 Butler, die sich selbst als Poststrukturalistin bezeichnet, ist an den Mechaniken von Machtausübung interessiert, bei welchen sowohl der Begriffsapparat, als auch jede einzelne Subjektposition von Macht durchdrungen werden.80 Die Postmoderne lässt sich nach Prischt nicht wirklich »zeitlich, räumlich oder funktional«81 definieren: »Streng genommen kann man gar nicht sagen, dass es ›die Postmoderne‹ gibt. Allenfalls lässt sich sagen, dass ›Postmoderne‹ der Name einer vielstimmigen und durchaus dissonanten Auseinandersetzung darüber ist, ob und wie das ›Projekt Moderne‹ in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft fortzusetzen sei und wie in diesem Zusammenhang die gegenwärtige Gesellschaftsentwicklung einzuschätzen ist.«82
78 »[D]ie Vieldeutigkeit der Sprache und die Unmöglichkeit, eine Bedeutung ein für allemal festzulegen, sind Grundprinzipien des Poststrukturalismus.« (C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 111) 79 Derrida ist der Erste, der den Logozentrismus dekonstruiert, welcher dem Zeichen einen eindeutig festgelegten Sinn zuschreibt. Im Anschluss an Saussures Fokussierung auf Sprache befasst Derrida sich mit Schreiben und Textualität. (vgl. C. Weedon: Wissen und Erfahrung, S. 39) Während Derrida die abendländische Metaphysik mithilfe sprachlicher Verschiebung des Sinns kritisiert, hinterfragt Foucault diese mithilfe einer Beschreibung der Deontologisierungs- und Denaturalisierungsprozesse. Allerdings grenzt sich Derridas Dekonstruktion Bublitz zufolge dadurch von der genealogisch-historischen Perspektive im Sinne Foucaults ab, dass sie den Gegenstand vollständig auflöst und eine »Leerstelle« an die bestehende Stelle setzt, die historisch-gesellschaftlich gefüllt werden muss (vgl. H. Bublitz: Einführung, S. 44f). 80 Vgl. J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 36. 81 Vgl. Pritsch, Sylvia: Rhetorik des Subjekts. Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen, Bielefeld: Transcript 2008, S. 69. 82 Originalzitat aus Knapp, Gudrun-Axeli: »Postmoderne Theorie oder Theorie der Postmoderne. Anmerkungen aus feministischer Sicht«, in: Gudrun Axeli Knapp (Hg.), Kurskorrekturen: Feminismus zwischen Kritischer Theorie und Postmoderne, Frankfurt. a. M.: Campus 1998, S. 27, zitiert nach Pritsch, Sylvia: Rhetorik des Subjekts. Zur
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Ob Postmoderne ästhetisch-ideologisch angelegt 83 oder als Begriff für eine historische Epoche zu fassen ist,84 bleibt also kontrovers.85 Grundsätzlich grenzt sich Butler von der Idee einer »Postmoderne« ab und bezeichnet sich selbst maßgeblich als Poststrukturalistin 86 . Im Anschluss an Jane Flax’ Thesen in Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the contemporary West bringt Benhabib eine feministische Skepsis gegenüber der Postmoderne zum Ausdruck. Sie ist der Meinung, der Feminismus sei mit der Postmoderne unvereinbar, und deren Bündnis daher fragwürdig. Für sie behindere es das »Emanzipationsideal« der Frauenbewegung im Großen und Ganzen.87 Die Diskussion um den Tod des Subjekts ist von zentraler Bedeutung in der feministischen und in der Genderforschung der Postmoderne. Die spezifisch feministische Auffassung der postmodernen Verkündung vom »Tod des Menschen«
textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen, Bielefeld: Transcript 2008, S. 67. 83 Originalzitat aus Hutcheon, Linda: The Politics of Postmodernism, London/New York: Routledge 1989, S. 168, zitiert nach S. Prischt: Rhetorik des Subjekts, S. 62. 84 Originalzitat aus Milich, Klaus J.: »Feminismus und Postmoderne. Zur Notwendigkeit einer Kulturhistorischen Verortung«, in: Antje Hornscheidt/Gabriele Jähnert/Annette Schlichter (Hg.), Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne, Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 1998, S.47f, zitiert nach S. Prischt: Rhetorik des Subjekts, S. 65. 85 Benhabib betont das produktive Vermögen der Begriffe der Postmoderne und des Feminismus, welche sich nicht als »deskriptive[...] Kategorien«, sondern als »konstitutive und evaluative Begriffe« herausstellen (Benhabib, Seyla »Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser (Hg.), Der Streit um Differenz Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 9. Die Absage an semantische Einheit, die mit einer negativen Bedeutung von Totalität einhergeht, erweist sich als ein bedeutendes Merkmal der Postmoderne (vgl. S. Prischt: Rhetorik des Subjekts, S. 58). Der modernen Gewalt von Totalität und Autorität stellt Lyotard die Tendenz zum Heterogenen und zum Pluralismus entgegen, auf welcher seine Bestimmung der Postmoderne basiert (vgl. ebd., S. 59). 86 J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 36. Die Postmoderne und der Poststrukturalismus haben insofern eine eindeutige Gemeinsamkeit, als in beiden Strömungen die Sprache bei der Konstituierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine wichtige Rolle spielt. Das Subjekt ist daher dem Signifikanten unterworfen; es ist kein Urheber von Bedeutungen mehr (vgl. D. Dornhof: Postmoderne, S. 291). 87 Vgl. S. Benhabib: Feminismus und Postmoderne, S. 13.
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stützt sich sowohl auf die »Entmystifizierung des männlichen Subjekts der Vernunft«, als auch auf die Grundannahme einer pluralistischen Geschlechtsidentität mitsamt den geschlechtlichen Praktiken.88 Im Anschluss daran unterscheidet Benhabib eine schwache von einer starken Version vom »Tod des Menschen«. Butlers Subjektentwurf, wie Benhabib andeutet, gehört zu der sogenannten starken Version, die sich mit folgendem Zitat von Flax am besten zusammenfassen lässt: »Der Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette der Bezeichnung, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache darstellt.«89 Mit der Auflösung des Subjekts in der Bezeichnungskette verschwinden die damit verbundenen Konzepte »Intentionalität, Verantwortlichkeit, [und] Selbstreflexivität«, so Benhabib.90 All dies stehe dem Ziel der feministischen Bewegung entgegen. »Das situierte, geschlechtlich bestimmte (gendered) Subjekt strebt auch dann noch nach Autonomie, wenn es heteronom bestimmt ist. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie denn das Projekt weiblicher Emanzipation ohne ein solches regulatives Prinzip der Handlungsfähigkeit, der Autonomie und Ichidentität überhaupt denkbar wäre.«91
Benhabib hält es für besonders problematisch, dass die Autonomie des Subjekts auf eine rein sprachliche Illusion reduziert wird. Butler zufolge soll die diskursive Konstitution des Subjekts nicht mit der diskursiven Determination des Subjekts gleichgesetzt werden. Das Subjekt wird hier weder als einziger Ursprung, noch als bloßer Effekt des Diskurses aufgefasst. Innerhalb und unter Einfluss von äußerlichen Machtgefügen, hat es dennoch die positive Möglichkeit, eigene Umdeutungen einzubringen und produktiv zu machen.92 Butlers Aufweichen des kohärenten Subjekts liegt nicht in der Verneinung seiner Existenz, sondern vielmehr im Hinterfragen einer bereits vordiskursiv vorhandenen Geschlechtsidentität.
88 Ebd., S. 11. 89 Ebd., S. 13. 90 Ebd. 91 S. Benhabib: Feminismus und Postmoderne, S. 14. 92 Vgl. J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 45. »Dieses Subjekt ist also weder ein Ursprung noch ein bloßes Produkt, sondern die stets vorhandene Möglichkeit eines bestimmten Prozesses der Umdeutung (resignifying process), der zwar durch andere Machtmechanismen umgeleitet oder abgebrochen werden kann, jedoch stets die der Macht eignende Möglichkeit selbst darstellt, umgearbeitet zu werden.«
38 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »[D]ie Dekonstruktion beinhaltet lediglich, dass wir alle Bedingungen an das, worauf sich der Terminus ›Subjekt‹ bezieht, suspendieren und dass wir die sprachlichen Funktionen betrachten, in denen es bei der Festigung und Verschleierung von Autorität dient. Dekonstruieren meint nicht verneinen oder abtun, sondern in Frage stellen und – vielleicht ist dies der wichtige Aspekt – einen Begriff wie das ›Subjekt‹ für eine Wieder-Verwendung oder einen Wieder-Ersatz öffnen, die bislang noch nicht autorisiert werden.« 93
Im Anschluss an ihr Hinterfragen des handlungsfähigen Bewusstseins-Subjekts im Sinne von Descartes prägt Butler ihr Konzept eines eigenständigen Subjekts, das konstitutiv durch performative Kräfte des Diskurses hervorgebracht wird. Butler hält die feministische Handlungsfähigkeit des Subjekts nur dann für möglich, wenn die Kategorie »Frau« von »ihrem feststehenden Referenten«94 befreit wird, damit eine Umdeutung und Neukonstitution dieser Kategorie stattfinden kann. Zudem muss ein »neu[er] Schauplatz politischen Protestes« bereitgestellt werden, indem neue Bedingungen und Möglichkeiten für das handlungsfähige Subjekt des Feminismus geschaffen werde.95
93 J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 48. 94 Ebd., S. 50. 95 Ebd., S. 51.
3. Eine Vorstellung der Urszene und die Performanz
3.1 D AS
TRIANGULÄRE B EGEHREN UND DAS MIMETISCHE P RINZIP
Der französische Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe René Girard entwickelte eine Mimesis- und Opfertheorie, in der an zentraler Position die Idee eines Sündenbocks steht. Die Ermordung eines Sündenbocks durch ein gesellschaftliches Kollektiv wird als Ausgangspunkt von Zivilisation angesehen. Dabei legt Girards Kulturtheorie ihren Fokus nicht auf mimetische Effekte bei einzelnen Personen, sondern auf größere Gruppen und die Gesellschaft. Nach Girard imitiert der Mensch immer das Begehren anderer, da er von sich selbst aus kein eigenes Begehren entwickelt. Somit fasst Girard diese Nachahmung des Begehrens anderer als trianguläres Begehren (franz.: Le désir triangulaire).1 Im System des triangulären Begehrens stellt Girard das Begehren nicht nur als Hauptantriebskraft des Menschen, sondern auch als eine spontane Kraft dar, die »Subjekt und Objekt miteinander verbindet«. Zum Subjekt-Objekt-Verhältnis kommt noch ein Mittler hinzu, der auf »Subjekt und Objekt zugleich ausstrahlt«2. Mithilfe der Funktion des Mittlers erklärt Girard die Wechselwirkung des Dreiecks: Erst wenn ein Dritter bzw. der sogenannte »Mittler« das Objekt begehrt, wird das Begehren im ersten Subjekt erregt. Das Interesse des Mittlers macht das Objekt begehrenswert für das
1
Vgl. Palaver, Wolfgang: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster: Tauer 2003, S. 58.
2
Girard, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, übers. aus dem Franz v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster, Hamberg/London: Thaur 1999, S. 12.
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Subjekt.3 Der Wunsch und das Verhalten des Mittlers werden mimetisch nachgeahmt. Damit wird ein identisches zweites Begehren erzeugt. 4 Es entstehen negative Gefühle wie Eifersucht, Neid und Hass, wenn der Zugriff auf ein Objekt durch den Mittler verhindert wird.5 Aus der Rivalität zwischen Subjekt und Mittler ergibt sich eine Spirale der Gewalt, in der die gegenseitige Nachahmung die Gewalt zwischen beiden eskalieren lässt, während das Objekt keine Rolle mehr spielt. Die mimetische Rivalität entsteht also, wenn jeder versucht, einen anderen der Krise 6 zu beschuldigen. In Girards Modell der Zivilisationsgründung7 wird das mimetische Prinzip der Gewaltverschiebung beschrieben: Durch die Nachahmung von Gewalt werden Streitereien auf das Kollektiv ausgedehnt. Als Konsequenz wählt das Kollektiv ein Opfer aus, stellt dies ins Zentrum und ermordet es, in der Hoffnung, dass dieser gewaltsame Akt die Konflikte auflöst. Obwohl immer ein Rückfall in die Gewalt stattfinden kann, dient der gemeinsame Mord am Sündenbock als ein Ritual, in dem das Kollektiv beschwichtigt wird. Der Sündenbock wird zuletzt wie ein Gott verehrt, da er die ganze Gemeinschaft durch seinen Tod an ihrer eigenen Vernichtung hinderte. Durch die Beschreibung der Opferrituale verbindet Girard den profanen Bereich mit einem sakralen Bereich der Gemeinschaft. Die kulturellen Institutionen und Formen, die solche Riten aufrechterhalten und zu Regeln machen, werden zur Religion. Religion entwächst also in diesem Modell einem kulturellen Bedürfnis, in dessen Zentrum die Vermeidung von Gewalt steht, und nicht der Sehnsucht nach einer höheren Macht. Dieser alte Mechanismus wohnt jeder Reli-
3
Ebd., S. 16.
4
Vgl. E. Girard: Figuren des Begehrens, S. 15, »Es handelt sich also sehr wohl um die Nachahmung dieses eingebildeten Begehrens, ja sogar um eine peinliche genaue Nachahmung, hängt doch im Fall des kopierten Begehrens alles, auch dessen Intensität, von dem zum Vorbild genommenen Begehren ab.«
5
Ebd., S. 20ff.
6 Girard prägt den Begriff mimetische Krise (franz.: crise mimétique), mit welchem er die Mechanik der Begierde und der Krisenauflösung in der Gruppe beschreibt. Die Mimesis, die die geistige und körperliche Nähe unter Menschen schafft und somit räumliche Distanz verringert, breitet sich seuchenartig aus (vgl. W. Palaver: mimetische Theorie, S. 184f). 7 Die geistigen Anknüpfungen Girards an Literatur und Religion lassen sich auf seine Auseinandersetzung mit großen Werken der europäischen Literatur von Fjodor M. Dostojewski, Marcel Proust und Friedrich Nietzsche zurückführen (ebd. W. Palaver: mimetische Theorie, S. 39ff).
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gion inne und stellt sicher, dass die Gemeinschaft angesichts von Konflikten zusammenhält. Die Religion etabliert Normen und Gesetze, indem solche Rituale immer wiederholt werden. Allerdings wird der reinigende Opferkult problematisch, wenn er die »Existenzmöglichkeit von menschlichen Gesellschaften« aufs Spiel setzt. Das passiert, wenn die Religion sich nicht an neue Bedingungen anzupassen vermag. Alle kulturellen Aktivitäten wie Mythen, Riten und Tabus sind mit diesem Gründungsmord verwurzelt.8
3.2 E RIC G ANS : D IE U RSZENE , K ULTURURSPRUNGS
EINE
H YPOTHESE
DES
Die Generative Anthropologie, eine anthropologisch fundierte Theorie der Kulturentwicklung, wurde ca. 1980 vom amerikanischen Romanisten, Sprachphilosophen und Kulturkritiker Eric Gans entwickelt. Er beschreibt die Kulturentwicklung von der Antike bis zur Gegenwart und geht davon aus, Kulturgeschichte lasse sich auf bestimmte, epochenspezifische Szenen zurückführen. Gans stützt seine Prognose der Urszene9(engl.: the original scene) auf das Modell der triangulären Mimesis von René Girard, die in eine zirkuläre, kollektive Szene erweitert wird. Mimetische Rivalität, die auf der Jagd nach einem gemeinsam begehrten Gegenstand (einem Tier) entsteht, stellt für die Menschen eine noch größere Gefahr dar als die Naturkräfte. Die Nachahmung der sogenannten »Aneignungsgeste« (engl.: the appropriative gesture)10 mündet häufig in eine Gewaltspirale. Während der Jagd macht ein Urmensch eine Geste, um eine Intentionalität
8
Vgl. W. Palaver: mimetische Theorie, S. 204.
9
In Totem und Tabu entwirft Freud eine Urszene, die sich von Gans’ Konzept unterscheidet. Freud legt mehr Wert auf die Rolle des Mittlers, da sich das Alpha-Männchen einer Horde seinem Konzept nach im mimetischen Zentrum befindet. Das Freud’sche Modell sei Gans zufolge nicht auf viele Situationen übertragbar, da das Alpha-Männchen nicht immer anwesend sei (vgl. E. Gans: Signs of Paradox, S. 32 f).
10 E. Gans: Signs of Paradox, S. 21. »Intentionalität« sollte als eine phänomenologische Einstellung oder Ausrichtung gelesen werden, die sich auf einen Gegenstand richtet. An einer anderen Stelle beschreibt Gans ausführlich diese Intention bei der Entstehung des Zeichens: »The sign begins as the same physical action as the aborted gesture of appropriation, but the intended deferral of the horizontal interaction with its object allows it vertically to intend this object in the phenomenological sense, to take it as its theme.« (Ebd., S. 22, meine Hervorhebung)
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anzuzeigen, die auf die Aneignung eines Gegenstandes ausgerichtet ist. Ein anderer Urmensch ahmt ihn nach und verfolgt unbewusst diese Geste, da er das Objekt auch begehrt. Zieht der erste Urmensch zunehmend durch diese Geste die Aufmerksamkeit der anderen auf sich und das Objekt, steigt die Rivalität der Horde gegen ihn. Es ist deutlich, dass keiner das Objekt allein besitzen kann, ohne in einen tödlichen Konflikt mit den anderen zu geraten. Die Geste wird dann zum Zeichen, wenn der Urmensch seine Aktion der Aneignung abbricht, um Gewalt zu vermeiden: »The original sign is an aborted gesture of appropriation transformed into a gesture of representation out of fear of mimetic rivalry of the others«11. So beschreibt Gans den Moment der Transformation der Geste ins Zeichen: »The sign emerges as a turning away from the other as model to the object of desire as model. In the transformation of the mimetic relationship wrought by language, the subject displaces the intention of his gesture from unconsciously imitating the other to (thematically) imitating the object.« 12
Während der Mittler bei Girard das mimetische Vorbild wird, steht bei Gans das Objekt im Zentrum der Nachahmung, denn »the more closely I imitate my model’s goal-directed action, the more I share the goal of this action, which is not located in the action itself but precisely in its external object«13. Letztendlich imitiert der Urmensch das Objekt nicht, sondern repräsentiert es, indem er dessen Form imitiert.14 Dieses davon abgeleitete Zeichen, das Gans das »ostensive Zeichen« nennt, richtet sich auf das Objekt, das nun das »center of a scene« 15 bildet. Dieses repräsentierende Zeichen verbreitet sich schnell unter den Urmenschen, da ein anderer Urmensch leichter nachzuahmen ist, als das Objekt zu repräsentieren. Im Vergleich zur Aneignungsgeste verschiebt das Zeichen den direkten Zugang zum Objekt.16 So kann eine blutige Auseinandersetzung vorläufig aufgeschoben werden.
11 E. Gans: Signs of Paradox, S. 17. 12 Ebd., S. 21. 13 E. Girard: Figuren des Begehrens, S. 12 u. E. Gans: Signs of Paradox, S. 23. 14 Vgl. E. Gans: Signs of Paradox, S. 25 u. 33. Gans sieht den Unterschied zwischen Imitation und Repräsentation darin bestehen: »The mimetic crisis leads to stasis precisely because prehuman imitation is nonreflexive; the subject has no knowledge of itself imitating another. In contrast, my representation of the object is a conscious thematization.« (Ebd., S. 25) 15 E. Gans: Signs of Paradox, S. 24. 16 Vgl. ebd., S. 34.
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Die Einigung von Urmenschen auf dieses Zeichen kann zwar die Konflikte nicht endgültig aufheben, aber sie bildet vorübergehend eine Gemeinschaft aufgrund einer kollektiven Performanz des Zeichens. Die Gemeinschaft beruhigt sich, und die Konflikte lösen sich kurzfristig auf. Gelingt dies nicht, und das Subjekt realisiert, dass es den begehrten Gegenstand niemals besitzen kann, sondern lediglich davon abgeschirmt wird, kann es zu erneuten Unruhen kommen. Der Ausweg aus der mimetischen Krise ist für Gans daher weniger der Mord an einem Sündenbock im Sinne von Girard, als die Einigung auf ein ostensives Zeichen: »The subject persuades the other to imitate his use of the sign by emphasizing not the sacrality of the object but the appropriateness of his own gesture«17. Einerseits verweist das Zeichen lediglich auf den sich im Mittelpunkt befindenden Gegenstand, andererseits ist das Zeichen ungenügend funktional und daher in gewisser Hinsicht paradox, weil es das Objekt zwar repräsentieren, es aber nicht realisieren kann. Gans geht von der poststrukturalistischen Fokussierung auf den Diskurs bzw. die Zeichenkette über zu einer Beschäftigung mit Interaktion zwischen den Menschen und verankert die »différance« von Derrida in einem anthropologischen bzw. ontologischen Erklärungszusammenhang. Gans hat Derridas Kritik an der »Metaphorik der Präsenz«, die sich im Aufschubprinzip (différance) der Sprache manifestiert, in seiner hypothetischen Urszene als erkenntnistheoretische Grundlage zum Einsatz gebracht.18 Im Aufschub der ursprünglichen dinglichen Konflikte kann das ostensive Zeichen weder das Begehren direkt befriedigen, noch Konflikte endgültig aufheben. Deswegen muss das Zeichen ständig eingesetzt werden oder es müssen neue Zeichen erfunden werden, um den Urmenschen von der Gewalt abzubringen. Hypothetisch beschreibt die Urszene den Ursprung von Sprache und Kultur: Sprache entsteht erst dann, wenn die einfachere Kommunikation mit ostensiven Zeichen daran gescheitert ist, die Menschen vor der Selbstzerstörung zu retten. Daraus erfolgt der Erhalt des Subjekts in dieser Zeichengemeinschaft, welches sich nicht mehr im Dickicht der Zeichenspuren verliert, sondern sich auf ein semiotisch ganzheitliches Konstrukt stützt. 19 »The scene of mutual communication of the sign, whether between two beings or ten thousand, is determined by the active stasis of sign production. What is centrally present to me is not myself nor even the other participants but the central, sacred object of desire. The 17 Ebd. 18 Vgl. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 149 u. E. Gans: Signs of Paradox, S. 29ff. Die Urszene stellt die Präsenz wieder her, indem diese nicht nur das Ergebnis der Sprache bzw. der Schrift, wie Derrida es beschreibt, sondern vielmehr den Produktionsprozess der Sprache darstellt. 19 Vgl. E. Gans: Signs of Paradox, S. 30f u. R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 152.
44 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS signing self defers its self-presence through identification with the object as its giver of form; this deferral of self-identity breaks the paralysis caused by mimetic paradox.«20
Das ostensive Zeichen ist insofern ganzheitlich, als es auf einen Verschluss in der Relation von Zeichen und Ding verweist und keine Bedeutung im herkömmlichen Sinne trägt. Das Zeichen und das Ding sind ausschließlich in Bezug zueinander zu verstehen. Zwischen dem Zeichen und dem Ding entsteht somit ein abgeschlossener Raum, bei dem der Verweis auf das eine immer auf das andere zurückgeführt wird.
3.3 R AOUL E SHELMANS R AHMENBILDUNG: 21 E RSTELLUNG EINES ABGESCHLOSSENEN F REIRAUMS Eshelman entwirft in Performatism, or the End of Postmodernism den Begriff »Performatismus«, mit welchem er den Übergang in eine neue Zeit nach dem Ende der Postmoderne durch die Analyse von Literatur, Filmen und Architektur zu beschreiben sucht. Eshelmans Hauptanliegen besteht darin, zu zeigen, dass postmoderne Theorien für die Erfassung von jüngeren kulturellen Phänomenen nicht mehr ausreichen. Anhand von Beispielen aus der zeitgenössischen Literatur und Kunst definiert er eine neue Ästhetik der performatistischen Einheit22. Dafür greift er auf die generative Anthropologie von Eric Gans zurück und begreift Gans’ »Urszene« als einheitliches Konstrukt. Eshelmans Konzept der Rahmenbildung stützt sich zu-
20 E. Gans: Signs of Paradox, S. 32. 21 Die zeitgenössischen Philosophen und Kulturwissenschaftler Erving Goffman und Peter Sloterdijk legen in ihren Theorien großen Wert auf Rahmenbildung. Die Gemeinsamkeit ihrer jeweiligen Modelle ist die Infragestellung der Verwischung der Grenze und ihre Hervorhebung der Grenzziehung. Erving Goffmans »frame analysis« befasst sich mit einer mikroanalytischen Untersuchung menschlicher Kommunikation und ritualisierter Szenen. Seine Vorstellung von »primary framework« ist generativ, auf diesem basieren weitere komplexe Rahmen (vgl. R. Eshelman: Performatism, S. 10 u. 21f). Sloterdijk führt in seinen drei Bänden Blase (1998), Sphäre (1999) und Schäume (2004) eine Philosophie des Raums ein, mit der er aufzeigen möchte, wie die Ideologiegeschichte des Menschen als Versuch betrachtet werden kann, die verschiedenen Räume, die sie einrichten und in denen sie leben, zu verstehen. 22 Die performatistische Einheit setzt sich der postmodernen Fragmentierung entgegen.
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nächst auf die Urszene, dabei distanziert er sich jedoch von Gans’ Universalisierung der Urszene und verzichtet auf deren politisch geprägte Sichtweise. Vielmehr nimmt er eine maßgeblich ästhetisch und historisch interessierte Position ein. Eshelman schlägt vier wesentliche Kategorien vor, deren Betrachtung und Analyse sein Interpretationsmodell anleiten: »The term (performatism) refers to a strong performance, which is to say a successful, convincing, or moving attempt by an opaque subject to transcend what I call a double frame. Performatism as I understand it can be defined in terms of four basic categories: ostensivity (a specific type of monist semiotics); double framing (a specific way of creating aesthetic closure); opaque or dense subjectivity; and a theist or authorial mode of organizing temporal and spatial relations [Herv. i.O.].«23
Ein »opakes« Subjekt charakterisiert Eshelman als einfältig, ambivalent und oft von der Außenwelt abgetrennt.24 Entscheidend für den Performatismus ist, ob der äußere Rahmen mit dem inneren Rahmen bzw. einer Urszene verbindlich verknüpft wird, sodass eine ästhetische Verklammung entsteht. Der innere Rahmen verweist auf das Zeichen, während der Äußere auf menschlichen Beschränkungen beruht und sich an ein unbekanntes transzendentes Außen anschließt. Durch eine Reihe von ästhetischen, dogmatischen oder rituellen Mitteln wird ein Rezipient unter durch das Werk selbst gesetzten Rahmenbedingungen gezwungen, an diese zu glauben. Der äußere Rahmen entpuppt sich sehr häufig als eine auktoriale Stimme25 oder eine gottähnliche Figur (ein theistischer Plot). Hierbei handelt es sich tatsächlich um Glauben im emphatischen Sinne, nicht etwa um Überzeugung auf kognitiver Ebene. Unter dem Zwang des Außenrahmens kehrt der Rezipient wieder zum Innenrahmen zurück, oftmals zu einer anderen Figur, einem Zeichen, einer Szene oder einer weiteren Handlung, um den Zusammenhang zwischen beiden Rahmen zu bestätigen. »The coercive frame cuts us off, at least temporarily, from the context around it and forces us back into the work. Once we are inside, we are made to identify with some person, act
23 R. Eshelman: Performatism: xiif. 24 Siehe hierzu auch R. Eshelman: Performatism, S. 8f: »This opacity is, admittedly, ambivalent, since it achieves a closed unity at the expense of participation in a viable social environment of some kind. Moreover, the closed, opaque runs risk of incurring the enmity of its surrounding by virtue of its very singularity and inscrutability.« 25 Anhand eines Beispiels in Kap. 7.2 wird der »auktoriale Ich/Wir-Erzähler« ausführlich erläutert.
46 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS or situation in a way that is plausible only within the confines of the work as a whole. […] On the one hand, you’re practically forced to identify with something implausible or unbelievable within the frame – to believe in spite of yourself – but on the other, you still feel the coercive force causing the identification to take place, and intellectually you remain aware of the particularity of the argument at hand [Herv. i.O.].«26
In der Postmoderne ist die Konstruktion des Subjekts nie vollendet, dieses ist kontinuierlich Umdeutungsprozessen innerhalb der Machtverhältnisse ausgesetzt. 27 Das performatistische Subjekt dagegen, das sich zwischen dem Innen- und Außenrahmen eines Werks bewegt, muss sich innerhalb dieser verbindlichen Rahmenbildung zwangsläufig mit einer Figur, einer Aktion oder einer Handlung identifizieren. Aus dieser Rahmenbildung ergibt sich das Subjekt, das nun nicht mehr variabel, sondern unter bestimmten textinternen Voraussetzungen feststehend ist. »Mit anderen Worten: Zeit und Raum werden einander solange angepasst, bis eine ganzheitliche, subjektdienliche Lösung gefunden wird, bis Wunschvorstellung und Ausführung des Wunsches zusammenfallen. Das Handeln des Subjekts wird nicht mehr durch die aleatorischen, letzten Endes unkontrollierbaren Äquivalenzen unter den Zeichen bestimmt, sondern durch die Manipulation transzendentaler Rahmenbedingungen durch ein mit auktorialen Vollmächten ausgestattetes Subjekt.«28
Während das Subjekt der Postmoderne auf der Suche nach der eigenen Identität ständig sein Scheitern erfährt, wird das performative Subjekt hingegen zum »nicht mehr hinterfragbaren Zeichenträger«29. Hinzu kommt für Eshelman »Reduktion« als entscheidendes Merkmal der performatistischen Subjektbildung. Das heißt, ein Subjekt setzt sich oder wird gesetzt als in sich abgeschlossene Einheit. Folglich schirmt es sich bewusst oder unbewusst von gesellschaftlichen oder moralischen
26 R. Eshelman: Performatism, S. 2f. 27 In Rekurs auf die wegweisende Schrift »Against Theory« von Knapp und Michaels argumentiert Eshelman für eine Einheit von Urheber, Zeichen und Rezipient, die weitreichende Konsequenzen für die Subjektbildung jenseits der poststrukturalistischen Modi hat. (Vgl. R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 150f.) 28 Ebd., S. 157. 29 R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 150. Unter Rückgriff auf Derridas »différance« erklärt Eshelman, weshalb die Sinnsuche des Subjekts in der Postmoderne scheitert: »jede Formsetzung knüpft an frühere Sinnzusammenhänge an; jede Annäherung an einen Ursprung führt zurück zum fremden Zeichen.«
U RSZENE UND P ERFORMANZ | 47
Verpflichtungen und Anforderungen ab.30 Dieses performative Subjekt, sei es reduziert, abgetrennt oder opak, steckt »einen ganzheitlichen abgegrenzten Raum innerhalb eines diffusen Kontextes« ab, welcher mit dem so konstituierten Subjekt nichts oder nur wenig anfangen kann. »Die ganzheitliche Subjektsetzung kann allerdings nur gelingen, wenn das Subjekt keine semantisch differenzierte Fläche bietet, die sich im umliegenden Kontext aufsagen und zerstäuben lässt. Aus diesem Grund erscheint das neue Subjekt dem Rezipienten stets als reduziert und massiv – als simpel und gewissermaßen identisch mit den von ihm vertretenen Sachverhalten. Diese abgeschloßene, simple Ganzheit erhält eine eigentümliche, im Grunde fast nur mit theologischen Mitteln zu definierende Potenz. Denn mit ihr entsteht eine Zufluchtszone, ein geschützter, quasi sakraler Ort, an den sich all das wieder sammelt, was Postmoderne und Poststrukturalismus endgültig aufgelöst wähnten: das Telos, der Autor, der Glaube, die Liebe, das Dogma und vieles, vieles mehr [Herv. i.O.].«31
Es ist die Aufgabe des performativen Subjekts, »to transcend the frame and return to unify with the creator by imitating his perfection in some particular way.«32 Das Subjekt erlebt in dem Moment eine Transzendenz, wenn es an der göttlichen Ordnung teilhat oder über die ihm auferlegten Rahmen hinausgeht. Das Subjekt wird, oft durch Selbstüberwindung oder Selbstopferung, zur Identifikationsfigur seiner Mitmenschen. »This identification can appear in a multitude of guises, but the structure of the ostensive scene suggests two basic possibilities: the subject can be involved in a sacrificial act that transcends the narrow frame of the self and invites emulation by others, or the subject can transcend itself and enter into a reconciliatory amatory, or erotic relationship with another subject who reciprocates that move in some way. This singular, identificatory performance, in turn, invites others to emulate it at a later point in time and under different circumstances.«33
Mit dieser knappen Beschreibung des Performatismus beschränke ich mich auf dessen Grundzüge. Es lassen sich an dieser Stelle nicht alle Merkmale ausführlich darstellen. Für die Analyse einzelner Textstellen werden an späteren Stellen dieser Studie weitere Aspekte im Detail herangezogen. Im folgenden Kapitel werde ich mithilfe von Gans’ ostensivem Zeichen und Eshelmans »doppelten Rahmen« mein 30 Vgl. R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 154. 31 R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 150. 32 R. Eshelman: Performatism, S. 13. 33 Ebd., S. 9.
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eigenes Konzept vorstellen, das anstrebt, Entwicklungen und Themen zeitgenössischer Literatur herauszuarbeiten und kritisch zu reflektieren. Im Folgenden wird erklärt, inwiefern das ostensive Zeichen und der Performatismus als theoretische Grundlage für ein neues Konzept des Körpers und des Subjekts jenseits der Diskurseffekte geeignet sind.
4. Neue Analysekategorie der Konstruktion von Subjekt und Körper
4.1 D AS
OSTENSIVE
K ÖRPERZEICHEN
Um ein neues Konzept des Körpers mittels des ostensiven Zeichens vorzustellen, möchte ich zunächst noch auf Butlers Verständnis des Zeichens hinweisen, dass sie hauptsächlich im Aufsatz »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der Postmoderne« erläutert. Butler argumentiert für eine klare Trennung von Signifikat und Referenten des Begriffes »Frau«, so dass der Körper als ontologischer Referent suspendiert wird. Das heißt, wenn man die Kategorie Frau von ihrem feststehenden Referenten befreit, werden Möglichkeiten für neue Konfigurationen dieses Begriffs eröffnet.1 Eine Verwechslung des Signifikaten mit dem Referenten ruft hingegen Essentialismus hervor, indem sich die Geschlechtsidentität als das Signifikat lediglich auf die Natur der Frau stützt. »Im Grunde hat man das Signifikat mit dem Referenten verwechselt, insofern man annahm, daß bestimmte Bedeutungen der realen Natur der Frauen selbst innewohnen. Wenn wir nun Referenten erneut als Signifikat begreifen und die Kategorie ›Frau(en)‹ zu einem Schauplatz möglicher Umdeutung erklären und damit retten, erweitern sich die Möglichkeiten dessen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, und zugleich werden die Bedingungen und Möglichkeiten für einen erweiterten Sinn von Handlungsfähigkeit geschaffen.«2
Auf Basis dieses Verständnisses von Zeichen wirft Butler ihre zentrale Fragestellung in Körper von Gewicht auf, nämlich wie sich die Materialität des Körpers mit der Performativität verknüpfen lässt.3 In Butlers Dekonstruktion geht es also nicht um die Verleugnung körperlicher Realität, wie in 2.2.2 ausgeführt wird, sondern 1
Vgl. J. Butler: Kontingente Grundlagen, S. 50.
2
Ebd., S. 50.
3
Vgl. A.L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 56 u. 64.
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um subversive, zitatförmige Wiederholungen und eine daraus erfolgende Entkontextualisierung des »als Instrument der Unterdrückung« verwendeten Begriffs »Frau«4. Eine dekonstruktive Kritik an der Materialität der Körper verhilft Butler zufolge zur Befreiung der Materialität »aus ihrem metaphysischen Gehäuse«5. Der sprachliche Bezeichnungsakt ist performativ und produktiv, so dass die scheinbar faktische Materialität des Körpers erst von der Sprache erzeugt wird. 6 Darauf basiert auch die sogenannten »queer theories«, die von der Grundannahme ausgehen, dass Sex und Gender ein Zeichensystem sind. Der einheitliche Ding-Zeichen-Bezug des ostensiven Zeichens verhilft zu einem neuen Konzept von Körper und Geschlecht. Während sich der postmoderne Körper in der Zeichenkette auflöst, vermag das ostensive Zeichen zwischen dem materiellen Ding (oder Körper) und dem Zeichen zu vermitteln. Körper und Zeichen als neu konstruierte Einheit ermöglichen ein daraus abgeleitetes Erklärungsmodell im Kontext der Geschlechterforschung, das sich eindeutig von vorherrschenden poststrukturalischen Prinzipien distanziert. Indem der naturalisierte Körper als illusionär, gespalten und fließend wahrgenommen wird, wird das Geschlechtssubjekt im poststrukturalistischen Verständnis von der normativen dualistischen Bestimmung entkoppelt. Im Gegensatz dazu stellt der Versuch, mittels des ostensiven Zeichens den Körper wieder zu »verdinglichen«, eine neue Möglichkeit dar: Hierbei erweist sich das ostensive Zeichen für die Figuren als Projektionsfläche der gewünschten Form ihres Körpers. Außerdem üben die im Zentrum stehenden Zeichenträger positiven Einfluss auf andere Figuren aus und werden oftmals sogar zu Identifikationsfiguren. Im Unterschied zur Marginalisierung des nicht intelligiblen Individuums in der Postmoderne werden die Außenseiter und die Andersartigkeit in der neueren Literatur zum mimetischen Zentrum. Die Zentrierung des Anderen stellt einen Versuch dar, möglichst viele Geschlechtsidentitäten und sexuelle Praktiken ins identifikatorische Potenzial einzuschließen, ohne dabei ein hegemoniales Zentrum vorauszusetzen.7 Die Emanzipation der literarisch dargestellten Figuren mit diversen geschlechtlichen Problemen kann auf eine Weise thematisiert werden, die sich von der Darstellung im Poststrukturalismus klar unterscheidet. Dabei nehmen die Figuren angesichts eines zentrierten, nicht heterosexuell bestimmten Objekts eine aktive Haltung ein. Das Subjekt nach Butler kann nur durch Unterordnung und
4
Ebd., S. 52.
5
Ebd.
6
Vgl. Ebd.
7
R. Eshelman: Performatism, S. 28.
N EUE K ONSTRUKTION VON S UBJEKT UND K ÖRPER | 51
Unterwerfung eine Subjektposition innerhalb der heterosexuellen Matrix bekommen. Statt einer feststehenden Form des Körpers und dem Begehren zu entsagen, ist das eingerahmte Subjekt wieder stark ding- und körperbezogen. Durch die Zeichensetzung bildet das Subjekt »abgeschlossene, performativ gesetzte Eigenkontexte, die sich der Auflösung in umliegenden Kontexten verwehren«8. Das Subjekt formt sich nicht mehr durch das Ausgeschlossensein und Unterworfensein gegenüber der Heteronormativität, sondern durch einen positiven Bezug zum begehrten oder gewünschten Körper, welcher nun zentriert wird. Das ostensive Körperzeichen fungiert in einigen meiner Beispiele als Mittelpunkt der Szene, aus der heraus der innere Rahmen entsteht.
4.2 Z ENTRIERUNG
DES
ANDEREN
Das Subjekt, das Butler zufolge der »heterosexuellen Matrix« unterliegt, 9 wird diskursiv gesteuert und ist abhängig von den sexuellen Normen. Möglichkeiten der Selbst-Überwindung und Transzendenz im Rahmen der Diskurse erweisen sich daher als illusionär. Zudem werden uneindeutige Geschlechtskörper marginalisiert, weil sie innerhalb des heteronormativen Diskurses keinen Ort für sich beanspruchen können. Sie werden ermordet, im wörtlichen oder metaphysischen Sinne und fallen der heterosexuellen Hegemonie zum Opfer. Eine zentrierte Subjektposition geschlechtlicher Randgänger ist im Sinne von Butler nicht möglich.10 Laut Gans ist die Urszene so strukturiert, dass sich zwischen der Peripherie und dem Objekt im Mittelpunkt eine Opposition bildet.11 In Rekurs auf ein derart charakterisiertes Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt erläutert Eshelman detailliert, was für eine Sonderstellung das Opfer gegenüber dem hegemonialen Zentrum erhält:
8
R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 153.
9
Die heterosexuelle Matrix, die selbst ein Ergebnis ständig wiederholter performativer Akte ist, erhält die Einheit von Geschlecht, Identität und Sexualität aufrecht. Dieses Konzept kann als einer der zentralen Beiträge Butlers sowohl für die »gender studies«, als auch für die »queer studies« gesehen werden (vgl. S. Hark: Queer Studies, S. 313).
10 Siehe auch S. Hark: Queer Studies, S. 310 f. »Als regulative Praxis und als gesellschaftliches Ordnungsprinzip positioniert sie [Sexualität] Individuen an der sozialen Peripherie oder im Zentrum; platziert sie in einer bestimmten und bestimmenden Relation zu einer Bandbreite von Formen sozialer Kontrolle, die vom Ein- bzw. Ausschluss aus Bürgerrechten bis zu verbaler Verhöhnung und physischer Gewalt reichen.« 11 Vgl. E. Gans: Signs of Paradox, S. 9.
52 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »In postmodernism, the victim is always the peripheralized other of a hegemonial, oppressive center; the victim more or less automatically acquires moral and epistemological superiority by virtue of its decentered, peripatetic status as the near helpless target of whatever force the center exerts on it. In performatism, victims are once more centered; that is, we are made to focus on them as objects of positive identification rather than as markers of endlessly receding alterity and resistance.«12
In meinen Beispielen werden vornehmlich die zwei eng zueinander stehenden Methoden Nachahmung und Glaube zum Einsatz gebracht, um eine Figur, ein Zeichen oder eine Handlung ins Zentrum einer Szene zu setzen. 4.2.1 Nachahmung Ästhetische Identifikation vollzieht sich durch Setzung eines ostensiven Zeichens.13 Das begehrte Objekt ist im Zentrum einer Urszene verankert. Bei diesem Objekt kann es sich sowohl um Menschen, als auch um Tiere und Gegenstände handeln. Das so konstruierte Zentrum wird zu einer Projektionsfläche, auf welche die Figuren in der Literatur je nach Perspektive und Disposition ihre Begehren projizieren. Der von der Norm abweichende Geschlechtskörper ist zentriert und erscheint begehrenswert. Durch die Zentrierung des Anderen – eine Position, die sich von derjenigen marginalisierter Randgänger in der Postmoderne grundlegend unterscheidet – wird dessen Alterität und Differenz hervorgehoben. Uneindeutige Geschlechtskörper, die an heterosexuellen Normen gemessen Fremdkörper darstellen, befinden sich zwar in der Mitte der Szene. Auf sie entlädt sich aber wegen ihres Andersseins und ihrer Abnormität in vielen Fällen das Ressentiment des Kollektivs, besonders dann, wenn sie mit gesellschaftlichen Normen und Konventionen zusammenprallen. Nichtsdestoweniger wird die zum Vorbild erhobene Performanz des geschlechtlichen Norm-Überschreiters von anderen Personen nachgeahmt. Das performative Prinzip, das zunächst nur für den Einzelnen gilt, wird in solchen Fällen auf das Kollektiv oder zumindest auf andere, nahestehende Subjekte übertragen.14 Auch wenn dieses ins Zentrum gesetzte Subjekt später getötet oder geopfert wird, ahmen andere Subjekte sein Beispiel nach und erzeugen
12 R. Eshelman: Performatism, S. 17. 13 Vgl. R. Eshelman: Der Performatismus, S. 54 14 Vgl. R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 153.
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dadurch gegenüber dem diskursiven Kontext »weitere Freiräume« bzw. Eigenkontexte.15 4.2.2 Glaube »Gott ist tot, und es fällt dem Menschen zu, seine Stelle einzunehmen.«16 Girards Theorie der Religion, so Palaver, hat sich in seinem späteren Werk weiterentwickelt. Durch den Einbezug mythischer Texte aus archaischen Kulturen berücksichtigt er insbesondere die Entstehung von Religionen. Dort geht er über die Einsicht, dass der Mensch nach dem Tod Gottes zur Vergöttlichung seiner Mitmenschen tendiert, hinaus.17 Innerhalb der doppelten Rahmenbildung ist die Erhöhung eines Individuums zur gottähnlichen Figur möglich, wenn die »von ihm ausgehenden Glaubensakte nicht einem institutionell, sondern einem ästhetisch vermittelten Transzendenzerlebnis« 18 dienen. Ein performatistisches Kunstwerk »will den Zuschauer zu einem ästhetisch vermittelten, ding- oder personenbezogenen Glaubenserlebnis hinführen«19. Im Sinne von Eshelman erlebt das Individuum auf ästhetischer Ebene eine objektive, privilegierte und positive Erfahrung. Statt sich dem Zweifel in endlosen kognitiven Kontexten hinzugeben, kann es sich so für etwas Schönes, Erhabenes und Transzendentes entscheiden.20 »The ultimate frame of reference is performative, and not epistemological: it applies only within the confines of the particular text at hand. The point of the text is not to have us grasp
15 R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 155 u. Vgl. E. Gans: Signs of Paradox, S. 7. »Sacrificial ritual and its derivative structures then commemorate no specific event; they are all ideological operations serving to impose closure on open-ended forms of interaction. Since they are preceded by no real event, we should say rather that they invent closure, presence and so on.« 16 R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 64. 17 Vgl. W. Palaver: mimetische Theorie, S. 51. 18 R. Eshelman: Der Performatismus, S. 53. 19 Ebd., S. 54. 20 Vgl. R. Eshelman: Performatism, S. 37; siehe auch ebd., S. 235: »The ultimate source of our pleasure in the formal finality of aesthetic representation is not our cognitive faculties but our intuition that the community shared participation in this finality or representational intentionality will protect us from the mimetic violence. The aesthetic performs a function analogous to that attributed by Durkheim to religious ritual: it reinforces our solidarity with the sacred center and, through its mediation, with our fellow members of the human community.«
54 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS a trace of truth by relating something in the text to something outside of it, but rather to make us believe and experience beauty within its own closed space.« 21
In einer so eingerahmten Situation übertrumpft der Glaube die Kognition: Durch die Performanz werden die Figuren oder die Leser zur Identifikation und schließlich zum Glauben gebracht und nehmen moralische oder ideologische Positionen an, die sie sonst unter normalen Umständen von der Hand weisen würden. In den in der Studie untersuchten Werken ereignen sich Glaubensakte im Zusammenhang mit der Zeichensetzung, einer Rahmenbildung und transzendenten Erfahrung.
4.3 Z WEI M ODELLE DER R AUMKONSTRUKTIONEN Die Rahmenbildung zählt für Eshelman zu den Mechanismen, die in performativen Kunstwerken einen zentralen Stellenwert besitzen. Ich erkenne darin eine performative Strategie, die auch für eine neue Konstruktion der Subjektivierung genutzt werden kann. Insgesamt gesehen lässt sich feststellen, dass Rahmenbildung, Transzendenz und Subjektivierung in den herangezogenen Werken in einem untrennbaren Zusammenhang stehen. Die Bildung des Subjekts in der Postmoderne ist ein immerwährender und nie endender Prozess. Poststrukturalistische Betrachtungsweisen erlauben keine einheitliche Subjektdefinition bezüglich Sexualität, Geschlechtsidentität und Herkunft. Durch die performatistische Rahmenbildung hingegen werden die zwei Rahmen inhaltlich und formal so angepasst, dass körperliche Charakteristika oder sexuelle Akte und das Subjekt selbst vorübergehend feststehend und stabil sind. Oft bildet eine auktoriale Instanz den äußeren Rahmen, so dass sich die Figuren mit dem eingesetzten ostensiven Zeichen bzw. dem inneren Rahmen identifizieren müssen. Als innerer Rahmen werden entweder eine Figur, eine Handlung, ein Zeichen oder eine Szene aufgefasst. Die zwei Rahmen werden so eingesetzt und zusammengefügt, dass ein begrenzter Freiraum zwischen den beiden hervorgebracht wird und ein auf das zentrierte Objekt ausgerichtetes Subjekt entsteht. Innerhalb dieses bestimmten Freiraums werden die Protagonistinnen dazu gebracht, sich mit einer Körpergestaltung oder einer bestimmten sexuellen Neigung zu identifizieren. Ein abgeschlossener Schutzraum kann aber auch zum Einsturz gebracht werden, wenn dieser als eine Einschränkung wahrgenommen wird und das Subjekt dagegen mittels eigener Anstrengungen Widerstand leistet.
21 R. Eshelman: Performatism, S. 56, meine Hervorhebung.
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Eine weitere Funktion der Rahmenbildung ist die der Grenzziehung. Dabei ist die Grenze zwischen Ich und Welt, Körper und Geist, Sprache und Materialität gemeint, die in der Postmoderne durch einen verwischten Zustand charakterisiert ist. In der zeitgenössischen Literatur, die in dieser Arbeit analysiert wird, ist eine erkennbare Unterscheidbarkeit der Ebenen und eine Grenzziehung allerdings wiederhergestellt.
4.4 T RANSZENDENZ , R AHMENBILDUNG UND S UBJEKTIVIERUNG Um die transzendente Erfahrung der Figuren in meinen Bespielen präziser zu definieren, beziehe ich mich auf Marina Ludwigs’ 22 Erläuterungen der zwei Transzendenzbegriffe von Martin Heidegger. Ludwigs ist daran gelegen, die Anwendung der Transzendenzbegriffe Heideggers zu präzisieren und zu erweitern. Ihr Beitrag zur Definition der Transzendenzbegriffe ist für die konzeptionierten zwei obigen Formen der Rahmenbildung geeignet, worauf in diesem Kapitel später eingegangen wird. Die anthropologisch geprägten Erläuterungen Ludwigs’ lassen sich in das bisher im Ansatz entwickelte, generativ anthropologisch und performatistisch angelegte Interpretationsmodell einbinden. Des Weiteren akzentuiert Ludwigs’ Weiterführung der theologischen Transzendenz von Heidegger keineswegs ausschließlich das Erlebnis einer womöglich bestimmten Gotteserfahrung. Da die Idee von »Gott« streng christlich gesehen im heutigen kulturellen und religiösen Leben eine Abschwächung erfahren hat, ist Ludwigs’ generativ anthropologisch erklärtes Modell der Transzendenz für die Untersuchung hilfreich. Zunächst ist allerdings eine Erläuterung von Heideggers Transzendenzverständnis vonnöten. Heideggers Transzendenz kann ganz allgemein in zwei Bedeutungsebenen aufgefasst werden: Neben einer theologischen Erfahrungskomponente sieht Heidegger insbesondere auch eine erkenntnistheoretische Transzendenzerfahrung als gegeben an. Die theologische bezieht sich auf die Erfahrung von Unbedingtem und Göttlichem, welches außerhalb der persönlichen Reichweite liegt. Mit der erkenntnistheoretischen beschreibt er eine Bewegung des Subjekts von innen nach außen bzw. eine absolute Überwindung der einschränkenden Rahmen des Selbst.
22 Im Folgenden stütze ich mich auf den anthropologischen Aspekt von Ludwigs’ Begriff der Transzendenz.
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Die erste, theologische Transzendenz ist das Unbedingte, Absolute und Überschwängliche, das nach Heidegger hauptsächlich als das Göttliche im christlichen Sinn verstanden wird. Das Unbedingte bezeichnet hier »die unendliche Verschiedenheit von Geschaffenem und Schöpfer«. 23 Dies ist der Gegenbegriff zur Kontingenz, unter welcher Heidegger das Bedingte und Erreichbare versteht. »Transzendenz in der Gegenorientierung zu Kontingenz. Das Kontingente ist das, was uns berührt, was uns direkt betrifft, womit wir selbst gleichgestellt sind, was unserer Art und unseres Stammes bzw. darunter ist. Das Transzendente dagegen ist, was über all das hinausliegt als das, was jenes bedingt: das Unbedingte, aber zugleich eigentlich Unerreichbare: das Überschwängliche. Transzendenz ist das Überschreiten im Sinne des Hinausliegens über das bedingte Seiende.«24
Nach Ludwigs können wir uns die Dinge, die bei uns zu transzendenten Erfahrungen führen, zwar vorstellen, sie liegen aber zeitlich und räumlich außerhalb unserer Reichweite.25 Angesichts der Entwicklung von Technik und Wissenschaft verändert sich die Definition des Bedingten und Unbedingten. Während die Welt der Kontingenz größer wird, verkleinert sich das Unerreichbare bzw. das Unbedingte entsprechend.26 Um sich dem Unerreichbaren annähern zu können, braucht man das Vermögen, die Distanz zwischen dem Ich und dem Unerreichbaren unterscheiden und auf dieser Grundlage eine Aussage über die Möglichkeit und das Ergebnis der Annäherung treffen zu können. Um diesen ersten Begriff der Transzendenz anthropologisch zu begründen, verbindet Ludwigs ihn mit einem kinästhetischen Sinn und verweist damit auf ein dynamisches Bewusstsein unserer körperlichen
23 Heidegger, Martin: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1978, S. 206. 24 Ebd. 25 Vgl. Ludwigs, Marina: »Three Gaps of Representation / Three Meanings of Transcendence«, in Anthropoetics 15, Nr. 2 (Spring, 2010). (Siehe http://www.anthropoetics.ucla.edu/ap1502/1502ludwigs.htm) 26 »[T]he phenomenological horizon of reachability is something that is steadily expanded with the progress of technology and its attendant growing arsenal of prosthetic devices, from (in a literal sense) mechanical arms, to airplanes, to telephones.« (M. Ludwigs: Three Gaps of Representation)
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Bewegung 27 und der körperlichen Orientierung. 28 Insbesondere die räumliche Wahrnehmung eines entfernten Objekts und die Vorstellung einer Handlung an einem entfernten Ort verleihen dem Menschen eine deutlich verbesserte Fähigkeit zur Visualisierung und Verräumlichung. Diese führen zum Phänomen der sogenannten freistehenden Kognition (engl.: detached cognition), die die menschliche Fähigkeit bezeichnet, das Ergebnis einer Handlung zu prognostizieren und diese kausal zu verfolgen, wie etwa die Gedanken von der aktuellen Situation abzulenken und auf ein Objekt in der Ferne oder in der Zukunft zu projizieren. Infolgedessen sind Menschen nur aufgrund ihrer entwickelten Kapazitäten für freistehende Repräsentation (engl.: detached representation) in der Lage, im Voraus zu denken und zu planen.29 Zu diesen Fähigkeiten gehören die vorausschauende Planung wie auch die fortgeschrittene Visualisierung der zukünftigen Folgen einer Handlung und die Konzeptualisierung von Möglichkeiten. Heideggers zweite Form von Transzendenz präzisiert die Beziehung zwischen dem Inneren und Äußeren des Subjekts bzw. der Immanenz und der Transzendenz. »[D]as Transzendente im Unterschied zum Immanenten. Dieses ist das Inbleibende, gemeint ist: was im Subjekt, innerhalb einer Seele, des Bewusstseins verbleibt, – das Transzendente ist dann, was nicht darin verbleibt, sondern was draußen ist: das außerhalb der
27 Sowohl artspezifische Merkmale der Körper, als auch die Anpassung an sogenannte ballistische Bewegungen beeinflussen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit (siehe auch M. Ludwigs: Three Gaps of Representation): »Sheets-Johnstone invites us to consider the difference between modern man and the Neanderthal. The latter’s short, powerful, and stocky body is better adapted to thrusting and bludgeoning movements, while the former’s lighter body with longer distal limb segments is more suitable for kicking or hurling projectiles.« 28 Siehe auch (M. Ludwigs: Three Gaps of Representation): »For Maxine Sheets-Johnstone, the kinesthetic sense of self-movement, which allows us to localize our movements and perceive their qualia is the main faculty that accounts for our notion of agency and our awareness of ourselves as free agents. This kinesthetic dimension of our existence is not incidental but definitive for who we are – animate (animated) forms engaged in self-movement.« 29 Siehe hierzu auch (M. Ludwigs: Three Gaps of Representation): »Gärdenfors’s example is keeping the fire alive, which presupposes several crucial instances of foresight and preparatory arrangements. The fire-keeper must have an understanding that nights are colder than days, that fire keeps one warm, that fire needs fuel, that fuel must be gathered in advance. Being more advanced on the evolutionary scale, this ability to anticipate and plan is enhanced and translated into an ability to make tools.«
58 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS Seele und des Bewusstseins Liegende. Was so außerhalb der Schranken und der Umfassungsmauer des Bewußtseins liegt, hat also, wenn man vom innersten Hof dieses Bewußtseins aus spricht, die Umfassungsmauer überstiegen und steht draußen. Das Subjekt wird hier gleichsam als eine Kapsel vorgestellt, mit einem Inneren, einer Kapselwand und einem Außerhalb ihrer. Freilich wird nicht die grobe Meinung vertreten, das Bewußtsein sei in der Tat eine Kapsel, aber was in der Analogie wesentlich ist und was eben zu diesem Begriff des Transzendenten gehört: eine Schranke zwischen Innen und Außen muß überschritten werden.«30
Das Subjekt ist nach Heidegger also kapselähnlich strukturiert. Da das Bewusstsein des Subjekts immer eingeschränkt ist, ist es nicht möglich, sich untereinander reibungslos zu verstehen. Eine Schranke zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Bewusstseins kann dadurch überschritten werden, dass das eingeschränkte Innere des Subjekts zunächst entschränkt wird.31 Das heißt, die Schranke oder der Rahmen ist vorausgesetzt, so dass das Subjekt diese durch ein Überspringen oder Durchdringen überwinden kann. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Subjektivität oder die Transzendenz zuerst kommt. Für Heidegger ist es das Letztere. 32 Dieser Begriff der Transzendenz ist für ihn erkenntnistheoretisch, da die Transzendenz das Subjekt zum Erlangen von Kenntnissen führt. Darauf aufbauend skizziert Ludwigs die Kommunikationsweise der Subjekte in ihrem kapselähnlichen Dasein. »[I]nsofar as we picture the world is an aggregate of adjacent or nested boxes, we need to have a model of how communication between these boxes is possible in some causal form of signal-sending. This line of questioning leads us towards a theory of knowledge. This is why Heidegger terms this conception of transcendence – the transcendence that is the opposite of immanence – epistemological.«33
Die Urmenschen entwickeln während der Sprachbildung eine menschliche Fähigkeit, Gedanken zu unterstellen und Emotionen und Intentionalität 34 auf andere zu 30 M. Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe, S. 204f. 31 Vgl. ebd. 205. 32 Vgl. Ebd., S. 206. 33 M. Ludwigs: Three Gaps of Representation. 34 Vgl. Mackinlay, Shane: Interpreting Excess: Jean-Luc Marion, Saturated Phenomena and Hermeneutics, New York: Fordham University Press 2010, S. 4. Der Phänomenologe Edmund Husserl widmet sich der Fragestellung, wie man Wissen über transzendente Objekte erlangen kann. Dazu zieht er das Konzept der Intentionalität heran: demnach intendiert jeder Denkakt etwas, das heißt also, er ist auf etwas gerichtet, das außerhalb des Denkens selbst liegt.
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übertragen, was der Biologe Peter Gärdenfors als »Theory of mind« bezeichnet. Anderseits weist diese »Theory of mind« auf die menschliche Fähigkeit zur Täuschung hin, die erst auf einer höheren Stufe kognitiver Entwicklung der Menschen vorkommt. Diese Fähigkeit, andere vorsätzlich zu täuschen, setzt eine Lücke in unsere nahtlose Wahrnehmung der Umwelt und unterbricht die Kontinuität unsere Kognition. Gerade dadurch ruft sie allerdings auch Misstrauen hervor, welches aus der Kenntnis widerstreitender Intentionalitäten hervorgeht. Der unendliche und unmögliche Abstand zwischen unserem Geist und dem der anderen bringt die zweite Art der Transzendenz hervor – um Kommunikation mit anderen zu vollziehen und Kenntnisse zu erlangen, muss das Subjekt sich von seinem Inneren nach Außen bewegen. Im Wechselspiel von Aufwand und Widerstand ist das kapselähnliche Subjekt imstande, das Selbst und seine Einschränkung zu überwinden. »I would like to call an effort/resistance schema, where resistance is understood as an attunement or sensitivity to the outside world, which is given to us as something permanent, something that stands in our way and resists our efforts to disturb or modify it. In fact, the notions of effort and resistance are cognitively indissociable from each other, since without the experience of the resisting milieu (including the experience of our own body perceived as a resisting object that is difficult to move), an effort would not feel like an effort, and a desire to achieve a goal that this effort was designed to bring about would not register as a desire, which has a built-in idea of a distance between a conception and its fulfillment.« 35
Ein kommunikationsfähiges Individuum sollte nicht nur für seine körperliche Eigenbewegung, sondern auch für ein Feedback und die dynamischen Veränderungen der Umwelt sowie für Bewegungen der anderen rezeptiv sein. In der Wechselwirkung von Aufwand und Widerstand wird die Distanz zwischen Wunschvorstellung und Wunscherfüllung verkürzt. Durch Akte der körperlichen und geistigen Anstrengung engagieren wir uns auf zielorientierte Weise und unternehmen den Versuch, einem gewünschten Ergebnis näher zu kommen oder es hervorzurufen. Wir gewinnen den Status des handelnden Subjekts dadurch, dass wir durch Planung unser Ziels erreichen können. Aber das Ergebnis der Planung ist nicht garantiert, weil das täuschende Subjekt, die widerstehende Welt oder störende Objekte nicht völlig zu begreifen sind. Die erste Transzendenz (die theologische Transzendenz) orientiert sich an der Projektion auf zukünftige und entfernte Dinge. Die zweite Transzendenz (die erkenntnistheoretische Transzendenz) setzt ihren Schwerpunkt auf die Interaktion des Subjekts mit der Außenwelt und den anderen.
35 M. Ludwigs: Three Gaps of Representation.
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Auf Basis der vorgestellten Transzendenzdefinitionen sollen die zwei oben genannten Formen der Rahmenkonstruktion, die mit der Subjektivierung in Zusammenhang stehen, noch einmal erläutert werden. Bei der ersten Transzendenz stehen Subjekt und Rahmen im Verhältnis einer dynamischen Wechselwirkung, die durch die Annäherungsversuche des Subjekts ständigen Veränderungen unterliegt. Eine zielbewusste Bewegung zum Unbedingten und die darauf gerichtete Projektion ermöglichen diese Transzendenz. Die Projektion der Figuren auf das Objekt im Zentrum, das unerreichbar und begehrenswert ist, kann daher als transzendente Erfahrungen interpretiert werden. Das absolute Unerreichbare bzw. Gott gehört auch zur ersten Transzendenz. Nach Eshelman erlebt das Subjekt in dem Moment die Transzendenz, da es an der göttlichen Ordnung teilhat.36 Bei der zweiten Transzendenz ist die Erhaltung der Subjektivität nur unter Zugrundelegung einer bestimmten Rahmenauffassung denkbar. Solche Rahmen wirken aber hindernd und müssen überwunden werden. Im Wechselspiel von Aufwand und Widerstand gelangt das Subjekt zu seiner persönlichen Identitätserkenntnis und vollführt dadurch eine positive Selbstentwicklung. Das Konzept der Performanz hängt eng mit der Rahmenbildung und der transzendentalen Erfahrung des Subjekts zusammen. Eine Performanz des Subjekts ist dann gelungen, wenn das Glaubensmuster eines Individuums sich derart verändert hat, dass es beginnt, seinen neuen Glauben auf die Realität zu projizieren und es dadurch sogar schafft, die Glaubensmuster anderer Figuren zu beeinflussen.
4.5 Ü BERLEITUNG
ZUR
H AUPTANALYSE
Bei der folgenden Analyse verschiedener literarischer Werke kommen die vorgestellten, vier neuen Analysekategorien in unterschiedlichem Ausmaß zur Anwendung. Die drei Typologien besitzen somit in den ausgewählten Fallbeispielen eine jeweils unterschiedliche Priorität. In der ersten Typologie ist die Anwendung der Zentrierung des Anderen und des ostensiven Körperzeichens von Bedeutung. In der zweiten Typologie zeigen sich die doppelten Rahmen und das ostensive Zei-
36 R. Eshelman: Performatism, S. 13, siehe auch R. Eshelman: Ende der Postmoderne. Eshelman zufolge verweist die Transzendenz nicht unbedingt auf eine institutionelle Religion, sondern auf ein Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Rahmen. Das in der Postmoderne ausgemusterte Subjekt setzt sich wieder in Szene, indem es zu einer höheren Ebene übergeht (vertikal), oder auf einen anderen Rahmen ausweicht (horizontal) oder sich erfolgreich an den Rahmen anpasst (holistisch).
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chen für die Analyse als besonders erkenntnisbringend; in der letzten Gruppe tragen die Rahmenbildungen und transzendente Erfahrungen zu einer vertieften Analyse hinsichtlich der Subjektivierung der jeweiligen Figuren bei. In der anschließenden Analyse des Romans Tomboy von Thomas Meinecke wird zunächst aufgezeigt, wie der Autor die poststrukturalistische Theorie auf die Figurenkonstellation der Erzählung anwendet und inwiefern Meineckes Tomboy als ein typisch postmodernes Beispiel der gender-orientierten Literatur betrachtet werden kann.
5. Tomboy (1998): Ein Beispiel postmoderner Popliteratur
Thomas Ernst bezeichnet die »Popliteratur« als einen Versuch im 20. Jahrhundert, die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur1 aufzuheben. Popliteratur stammt somit keineswegs nur aus Unterschichten und Subkulturen, sondern auch von bürgerlichen Trend- und Life-style-Autoren wie beispielsweise Michel Houellebecq. Seit den 60ern wurde »Pop« ein Zauberwort der radikalen Gesellschaftskritik. Die Volkskultur und Alltagsgestaltung im Pop sind seitdem wichtige Untersuchungsgegenstände der linken kulturwissenschaftlichen Analyse. 2 Eine wichtige Thematik der Popliteratur ist nach Ernst das Leben gesellschaftlicher Außenseiter. Unter Rückgriff auf neue Medien, Phänomene der Popkultur und fremde ausländische Kultur gewinnt die Popliteratur zunächst eine jüngere Leserschaft. Zunehmend steht sie auch unter den Einflüssen von Geschichte, Politik und Theoriedebatten. 3 Als DJ und Musiker ist der deutsche Autor Thomas Meinecke ein Grenzgänger zwischen den Medien Literatur und Musik.4 Nach seinem Studium der Theater-,
1 Vgl. Diederichsen, Diedrich: »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«, in: Marcel Hartges/Martin Lüdke/Delf Schmidt (Hg.), Pop, Technik, Poesie, Rowohlt Literaturmagazin Nr. 37, Reinbek: Rowohlt 1996, S. 39. Diedrich Diederichsen fasst die Gemeinsamkeiten der Popkultur, -kunst und -literatur zusammen. Das wichtigste Merkmal von Pop ist die Grenzüberschreitung der Klassen, Ethnien oder Kulturen. Pop ist deshalb eine Transformation im Sinne der dynamischen Bewegung, in der neue kulturelle Themen und ihre sozialen Kontexte sich gegenseitig gestalten. Die gesellschaftlichen Entwicklungen (sexuelle Befreiung, linke Politik, neo-religiöse und millenaristische Heilsvorstellungen) finden oft Ausdruck in Popkunst und -literatur. 2
D. Diederichsen: Pop, S. 39.
3
Vgl. T. Ernst: Popliteratur, S. 9.
4
Vgl. Feiereisen, Florence, Der Text als Soundtrack – Der Autor als DJ. Postmoderne und postkoloniale Samples bei Thomas Meinecke, Würzburg: Königshausen &
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Literatur- und Kommunikationswissenschaft in München war er von 1978 bis 1986 Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift Mode & Verzweiflung. Seitdem erschienen im Suhrkamp-Verlag die Erzählung Holz (1988) und die Romane The Church of John F. Kennedy (1996), Tomboy (1998), Hellblau (2001), Musik (2004) und Jungfrau (2008) sowie seine letzte Publikation Lookalikes (2011). Seine Romane befassen sich mit den vielseitigen Identitäten moderner Menschen, die sich anhand von Rasse, Geschlecht, Nationalität oder Religion in verschiedenen Gruppen manifestieren. Nach der Publikation von Tomboy gewinnt Meinecke in Deutschland an Popularität. Seine »Position zwischen Belletristik und wissenschaftlichem Schreiben« trägt zu seinem Ruhm als einer der wichtigen deutschen Vertreter der »Culture Study« bei.5 Immer wieder wird er zu mit diesem Thema verwandten Veranstaltungen, Vorträgen und Diskussion im In- und Ausland eingeladen.6 In Folge des Erscheinens von Tomboy wird Meinecke 1999 zum »meistinterviewten Autor der Saison« 7 und als »Pop-Star« apostrophiert. 8 Neben den zwei Autoren Andreas Neumeister und Rainald Goetz vom Suhrkampverlag geht Meinecke als »Standardbeispiel für die Pop-Literatur der Neunzigerjahre« in die deutsche Literaturgeschichte ein.9 Politisch verortet sich Meinecke als ein fortschrittlich orientierter Linker: »Ich bin immer sehr für Veränderung und auch für Irrtümer, anstatt Dinge einfach nur zu bewahren.«10 Er sieht sich in Opposition zu den 68ern und praktiziert gemäß eigener Angaben eine konservative Lebensweise.11
Neumann 2011, S. 14 u. 17. Siehe hierzu auch Picandet, Katharina (2010) Zitatromane der Gegenwart: Georg Schmid Roman trouvé – Marcel Beyer Das Menschenfleisch – Thomas Meinecke Hellblau, Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 241. Meinecke gehört der Band Freiwillige Selbstkontrolle an, die sich in den 1980er Jahren mit den Beteiligten der Zeitschrift Mode & Verzweiflung formte. Seine Konzerte werden teilweise vom Publikum als eine Art Lesung betrachtet. Zu seinen Lesungen bringt er auch gerne einen Stapel Schallplatten mit und lässt Musik und Text zusammenspielen. 5
F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 13.
6
Ebd.
7
K. Picandet: Zitatromane, S. 243, Fußnote 701.
8
Ebd., S. 244.
9
Vgl. ebd.
10 Hartwig, Ina: »Sind Sie konservativ?«, in: Frankfurt Rundschau, Nr. 154, 6. Juli (2005). 11 Vgl. F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S.16: »Wir hatten in Hamburg bereits in den mittleren siebzigern Lehrer, die durch ›68‹ gegangen waren, so dass wir im Unterricht Jerry Rubin lasen oder Günter Amendts Sexfront, und die Lehrer wollten unbedingt von uns geduzt werden. Ich erinnere mich, wie ich im Philosophieunterricht Nietzsche lesen
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In seinen Romanen schafft Meinecke Figuren, die sich nicht auf feststehende Identitäten reduzieren lassen oder aus diesen ausbrechen: In The Church of John F. Kennedy werden kurz nach Ende des Kalten Krieges die nationalstaatlichen Grenzen der Weltkarte allmählich unklar und mit den Begriffen Nation und Rasse die ersten anthropologischen Identitätskategorien angegriffen. In Hellblau handelt es sich vornehmlich um die Dekonstruktion von ethnisch festgesetzten Identitäten.
5.1 M EINECKES AUTORPOETIK ALS DJ: H ANDLUNG ODER T HEORIE ? In den früheren Romanen Tomboy, Hellblau und Musik spielt die Handlung im herkömmlichen Sinn keine wichtige Rolle. Stattdessen tritt die Theorie in Form der Erzählung in den Vordergrund. Die Handlung seines Romans soll sich auf das Notwendigste beschränken.12 Damit meint Meinecke: »Handlung in der Literatur dient der Ablenkung vom Text, von seinem Gehalt, auch seiner Funktion. Handlung erzählt nicht vom Narrativen des Texts, sondern sie gaukelt der Leserin […] vor, dass hier etwas passiert. Dass nicht von Sprache und ihrer Konstruiertheit die Rede ist, was ja das eigentlich Tolle an Texten ist (dessen Äquivalent besonderes die Musik in ihrer sozusagen konkreten Abstraktheit super zu leisten vermag).«13
Im Gegensatz zum narrativen Plot wertet Meinecke Sprache und Musik auf. Nach Feiereisen besitzt Tomboy zwar eine Handlung,14 aber diese ist keine klassische Handlung, die mit Spannungsbögen und einem klaren Ende versehen wird. Von einer solchen nimmt Meinecke bewusst Abstand.15 In Hellblau kehrt Meinecke zu
wollte, das war schon so ein konservativer Affekt; und nach dem Abitur hab ich mir meterweise Ernst Jünger gekauft.« ( I. Hartwig: Sind Sie konservativ) 12 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 301. 13 Meinecke, Thomas: »Ich als Text«, in neue deutsche Literatur, 48.Jg., 532. Heft, Juli/August 2000, S. 35. 14 Feiereisen zufolge haben Vivian und ihre Freunde nicht nur eine Stimme, sondern handeln auch, können also »ihre Theorieüberlegungen performativ in die Praxis« überführen (F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 105). 15 Vgl. Mazenauer, Beat: »Auf der Suche nach dem Queer-Potential. Amerika und das Pop-Konzept in den Romanen von Thomas Meinecke«, in Jochen Vogt/Alexander Stephan (Hg.), Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, München: Fink 2006, S. 388)
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diesem handlungsarmen Stil zurück, dem konventionelle Spannungsbögen oder ein Erkenntnisgewinn der Akteure weitgehend fehlen. Im strengen Sinn gibt es in Hellblau auch keine kausalen und finalen zusammenhängenden diskursiven und narrativen Ereignisse,16 sondern nur eine zufällige »Geschehnisabfolge«, die auf keine Schlussfolgerung abzielt.17 Es ist mithin das Hauptanliegen von Meinecke, Diskurse in die wissenschaftliche Untersuchung der Romanfiguren zu transportieren und zwar durch Ergänzung, Erweiterung und Verknüpfung der »Assoziationen, Querverweise und Kommentare der anderen Figuren«18. Folglich setzen in Hellblau die Figuren sich nicht reflektierend mit den Diskursen auseinander, ihre Rolle wird auf bloße Sprecher und Verbreiter von Information reduziert.19 Hiermit wird die Grenze zwischen Diskurs und Fiktion verwischt,20 was mit Meineckes These der »erzählten Theorie«21 in Einklang steht, wie von ihm im Gespräch mit Stüttgen zum Ausdruck gebracht. Meineckes belletristische Literatur trägt zu neuen Methoden und Sichtweisen bei, die keine klare Grenze zwischen Theorien und Fiktion kenntlich machen. »Das macht dann Mut, von der Belletristik kommend, Theorie zu erzählen, Gedanken als Handlung zu nehmen, Worte als Taten. Ich glaube, dass es ganz deutlich zu beobachten ist, dass etwa in bohemistischen Zusammenhängen Theorie gelesen wird, mit Lust, mit Spaß am Denken.«22
16 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck 2005, S. 109f. Die Definition des Begriffs »Handlung« stützt sich auf die Unterscheidung zwischen Handlung (Geschehen) und Plot (Geschichte). 17 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 284f. u. S. 297. 18 Ebd., S. 285. 19 Siehe hierzu auch K. Picandet: Zitatromane, S. 284f. »[D]ie Figuren vertreten nicht verschiedene Positionen zu einer philosophischen Frage, sie sind keine Antagonisten, die die Dinge unterschiedlich beurteilen. Thesen und Positionen werden nicht bewertet, indem die Figuren, die sie äußern, ironisiert werden oder im Gegenteil besonders sympathisch erscheinen.« 20 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 295. 21 F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 89. 22 Stüttgen, Tim: »Hauptsache Groove«, in Jungle World. Die linke Wochenzeitung, Nr. 38, 8.September (2004). (http://jungle-world.com/artikel/2004/37/13660.html), zitiert nach F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 89.
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Sein Interesse an Theorie erläutert er an anderer Stelle: »Ich will überhaupt keine Fiktion. Ich will null Ausgedachtes. Nicht das Originelle. Nicht die Erfindung. […] Grundsätzlich: Sogenannte Wissenschaft ist mir Fiktion genug«23. Die Figuren fungieren z.B. in Tomboy als bloßes »Anschauungsmaterial für die Genderdiskurse«, die über keine festen Wesenszüge verfügen müssen. 24 In diesem Sinne ist die Figurenentwicklung oft maßgeblich funktional eingesetzt. 25 Auch in Hellblau gibt es keine zentrale »Identifikationsfigur« im narratologischen Sinn.26 Durch diesen Stil präsentiert uns Meinecke fremdbestimmte Identitäten, die noch dazu eher gleiten, als sich zu entwickeln, und sich schließlich in den vorgegebenen Diskursen auflösen (siehe die Beispiele in der folgenden Analyse). Ein Grund für die Hervorhebung wissenschaftlicher Themen (z.B. theoretische Ansätze, Zitate und Figurendiskussionen über Theorien) gegenüber der Fiktion lässt sich auf Meineckes Autorpoetik zurückführen. Sein künstlerisches Selbstverständnis als Autor und zugleich DJ wird in seinem Vortrag »Ich als Text« deutlich, den er im Jahr 2000 auf dem Symposion der Deutschen Literaturkonferenz in Leipzig zum Thema »Literatur und Generation, Vom Jungsein und Älterwerden der Dichter« hielt. Hinsichtlich der DJ-Kultur in der Postmoderne basiert das »Sample« auf einem Muster bzw. handelt es sich um »zitierfähige[s] Ausgangsmaterial«, das vom DJ aufgenommen und in einen neuen Kontext eingebettet wird. Im Sample ist die Unterscheidung zwischen Original (Song) und Kopie (Cover) verwischt oder gar verschwunden. »Das Sample wird aus dem Kontext entfernt, besteht aber auch als eigenes Objekt, das sich seinen eigenen Kontext schafft, bevor es in einen Kontext gemixt wird.« 27 In gewissem Sinne beurteilt ein DJ somit sein Material nicht, sondern gliedert und präsentiert es bloß.28 23 F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 89. Ursprünglich wurde dieses Zitat von Mazenauer zitiert (B. Mazenauer: Auf der Suche nach dem Queer-Potential: S. 388). 24 Vgl. F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 99. 25 Siehe z. B. Meinecke, Thomas: Tomboy, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000., S. 149ff u. 194ff 26 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 297. 27 F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 27. 28 Siehe auch K. Picandet: Zitatromane, S. 312. Dies hängt mit Meineckes postmodernem Schreibstil zusammen, mit dem er die narrative Kausalität und die Autorintention auf das Geringste reduziert, um damit »einen Freiraum für die Auslegung durch den Leser« zu lassen. Es ist Meineckes Absicht, die einzelnen Diskursstränge durch Assoziationen, Querverweise Kommentare zu ergänzen, ohne diese kausal narrativ zum Ende zu führen (vgl. ebd., S. 285); siehe hierzu T. Meinecke: Ich als Text, S. 187: »Ich habe gelernt, meine Texte nicht als Autor, sondern gleichsam als Leser zu schreiben. Den Prozeß meines Lesens schriftlich wiederzugeben. Gefundenes Material, das ich nicht einmal
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Im folgenden Kap. 5.2 gehe ich auf die Gestaltung der Figuren in Tomboy ein, deren permanente Wandlung den geschlechtsspezifischen Dualismus entkräftet. Die Gender-Theorie als Lektüre und Diskussion steht bei Tomboy im Vordergrund. Insbesondere tauchen Butlers Gedanken sowohl in der Magisterarbeit der Figur Vivian, als auch in den Arbeiten ihrer Freunde auf. Mithin kann man Tomboy als »postmoderne Inszenierung [...] von Gender in der Literatur«29 bewerten.
5.2 D IE V ERWISCHUNG VON G ESCHLECHTERGRENZEN In Meineckes Roman Tomboy wird die Auseinandersetzung der modernen Gesellschaft mit vielen Spielarten von Sexualität jenseits der Heterosexualität verhandelt. Es wird vorgeführt, dass Individuen über weit mehr als nur eine Identität verfügen und sich ständig auf verschiedenen Feldern gesellschaftlicher Rollenzuschreibung bewegen. Die Protagonistinnen in Tomboy wohnen in Süddeutschland, im RheinNeckar-Dreieck um Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg. Die Geschichte handelt von intellektuellen Studenten und Doktoranden und spielt sich zwischen den universitären Unterkünften und dem Campus ab. Die Hauptprotagonistin, die Deutsch-Amerikanerin Vivian Atkinson, schreibt ihre Magisterarbeit über geschlechtliche Polarität. Alle ihre Freundinnen setzen sich mit der modernen Geschlechterforschung auseinander, ziehen renommierte Wissenschaftler wie Judith Butler, Jacques Lacan, Donald Haraway, Sigmund Freud, Silvia Bovenschen, Otto Weiniger, Wilhelm Fließ, Lucy Iregaray sowie Daniel Boyarin heran und beschäftigen sich mit dem Thema der Konstruktion von Geschlecht und Subjekt. Die höchste Verehrung zollen Vivian und ihre Freunde Judith Butler, die im Roman zu einer Lesung in München eingeladen wird. Dabei schämt Hans sich für seine vergleichsweise weniger männlichen Mitmenschen, die die Veranstaltung besuchen, während Vivian »das Herz bis zum Hals« 30 schlägt, als die Amerikanerin nur ein paar Meter vor ihr ans Mikrophon tritt. Butlers Hauptthesen über Konstruktion von Körper und Subjekt in Gender Trouble werden im Roman immer miteinbezo-
richtig verstanden haben muß, über das ich nicht Herr und Meister bin, durch mich hindurchfließen zu lassen. Und an andere Lesende weiterzureichen.« 29 Breger, Claudia: »Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes«, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, Tübingen Stauffenberg 2000, S. 97. 30 T. Meinecke: Tomboy, S. 87.
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gen, um Aussagen über den Sinngehalt des Frau-Seins und der Weiblichkeit treffen zu können. Tatsächlich sind alle wichtigen Figuren in Tomboy entweder Frauen oder Figuren, die sich als Frau geben.31 Um Meineckes literarische Umsetzung von Butlers Idee der subversiven Akte im Roman zu verdeutlichen, wird im Folgenden zunächst ein theoretischer Bezug zu Butlers Theorie hergestellt. In knapper Form wird die wichtigste Strategie gegen die heterosexuelle Hegemonie in Butlers Modell erläutert, um für die weitere Untersuchung der Subjekt- und Körperbildung einen Ausgangspunkt zu schaffen. Eine detaillierte Erläuterung findet sich in Kap. 2. In Tomboy bestehen die am häufigsten verwendeten Mittel zur Subversion der Figuren erstens in der Absage an eine totalisierende Feststellung der Identität und einer rebellische Haltung gegen die heterosexuelle Rollenzuschreibung durch Ausschluss und Anrufung; zweitens, in der Dekonstruktion der Naturalisierung des Körpers durch Performativität bzw. wiederholte Sprechakte; drittens, in der Dekonstruktion der heterosexuell bestimmten Kontinuität von Begehren, Sex und Gender; viertens, in der Geschlechterkonstruktion durch Geschlechtsparodie mittels Gesten, Verhaltensweisen, Verkleidungen, Schminken etc. Ich werde im vorliegenden Kapitel veranschaulichen, wie die Hauptfigur Vivian in Tomboy sowohl wissenschaftlich, als auch im Bereich der eigenen Identitätsstiftung poststrukturalistische Theorien erforscht und in die Praxis umsetzt. Die Charakterisierung der Studentinnen, die in Tomboy auftauchen, bleibt unabgeschlossen. Die Persönlichkeit der jeweiligen Figuren wird zwar erwähnt, großteils kommt jedoch nur ihr Aussehen zur Sprache. Die Darstellung der Wesenszüge ist sehr knapp gehalten. Des Weiteren fallen den Figuren im Roman keine festen Identitäten zu. Insbesondere sind die Protagonistinnen Vivian, Korinna und Hans als wandelbar charakterisiert. Die wenigen noch erkennbaren Charakterzüge scheinen sich in Allgemeinheit oder Ambivalenz aufzulösen: Vivian, Hans und Korinna sind miteinander verschmolzen und lassen sich nur durch ihr Äußeres auseinander halten. Gegen Ende des Romans werden sie nur noch die »Krocketspielerinnen und der Krocketspieler« 32 genannt. Vivian ist sich sogar nicht mehr sicher, ob sie denn überhaupt ein Geschlecht besitzt und wenn ja, welches.33 Dabei fällt es ihnen nach wie vor schwer, sich selbst eine einwandfreie und klar definierbare Identität zuzuweisen. Eine selbstbestimmte und feste Identität erweist sich somit im Roman als illusionär. Rollenzuschreibungen durch Labels wie »Bubikopf« oder »Krocketschläger« 34 sind nur eine Zeit lang gültig und 31 Vgl. Ebd., S. 65. 32 T. Meinecke: Tomboy, S. 237. 33 Vgl. Ebd., S. 239. 34 Vgl. Ebd., S.70.
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ebenso wandelbar wie die stets wechselnde Frisur von Vivian. Instabilität, Variabilität und Unabgeschlossenheit sind Merkmale, die sich von einer vollendeten und auf Einheit zielenden Identitätsstiftung distanzieren. Ähnlich mehrdeutig ist Vivians nationale Identität: »Angeblich führte auch die Zweisprachigkeit unmittelbar in die Transsexualität. Hatte sich Vivian als Tochter einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters deshalb einst den Busen abgebunden.«35 Vivian lehnt zwar eine operative Geschlechtsumwandlung ab, bezeichnet sich aber gern als Jungen. Aufgrund ihres jungenhaften Auftretens wird sie in der Schule »Tomboy« genannt, wodurch die Androgynität der weiblichen Anatomie akzentuiert wird: »Ganz ähnlich der Begriff Tomboy, mit dem mich meine Eltern in jungen Jahren so oft belegt, ab und zu auch beschimpft haben und der doch in keinem Fall auf Jungen angewendet gehört.«36 Vivians geschlechtliche Uneindeutigkeit, die mit dem Kosenamen »Tomboy« bezeichnet wird, führt zu ständigen Konflikten mit ihrem Elternhaus. Jeden Tag muss die Mutter ihre Tochter zu mädchenhaftem Lächeln und folglich zum Erhalt ihrer Weiblichkeit auffordern.37 Das Benehmen der Eltern entspricht Butlers Beschreibung performativer Sprechakte, die als wichtige Strategie der Konstruktion von Geschlecht gelten: Werde ein Mädchen! Die Anrufung von Mädchenhaftigkeit bzw. Frau-Sein in Vivian Atkinson erfolgt aus der von Butler angenommenen Zwangsheterosexualität. Den gesellschaftlichen Konventionen und den elterlichen Erziehungsweisen begegnet Vivian rebellisch. Die Verweigerung einer eindeutigen sozialen Geschlechtsidentität ist in Tomboy die zentrale Thematik. Des Weiteren wird die Diskontinuität von Begehren, Gender und Sex eines Individuums vielfältig dargestellt. Die lesbische Doktorandin Frauke Stöver ist kein intelligibles Subjekt, weil sie mit einem (biologischen) Mann ins Bett geht, der sich als Frau bezeichnet. Sie ist mit der transsexuellen Angela zusammen, aber insgeheim begehrt sie immer noch Vivian. Diese lernt später die Transsexuelle Angela Guida kennen, die nach außen hin zwar Frau, anatomisch jedoch männlich ist. Angela versucht, Geschlechtsidentität vornehmlich durch Kleidung, Gesten und Verhaltensweisen etc. frauenhaft zu konstruieren. Sie akzeptiert ihre »Intersexualität«. Später identifiziert sie sich mit ihrer männlichen Seite und nennt sich kurzfristig wieder Angelo.38 Ihre Geschlechtsidentität ist also in einem fortdauernden Prozess und scheint keine Festigkeit zu erlagen. Die sexuelle Präferenz der Figuren in Tomboy – auch die der heterosexuellen Vivian – bleibt ungewiss und
35 Ebd., S. 27f. 36 Ebd., S. 59. 37 Vgl. ebd. 58. 38 Vgl. Ebd., S. 205.
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sehr flexibel und orientiert sich nicht mehr an einem gegengeschlechtlichen Begehren. In Tomboy werden Körperlichkeit und Identitätsstiftung spielerisch verhandelt, Verkleidungen, Haarschnitt und Make-Up bieten Möglichkeiten zur Geschlechtsparodie. Vivians Akt des »Busen-Abbindens« und ihre Kurzhaarfrisur markieren eine performative Auflehnung gegen die Normen. So versucht sie denn auch, einer heterosexuell ausgerichteten Entwicklung nach der Pubertät, die von der Gesellschaft erwartet wird, zu entgehen. Sie lehnt es deshalb ab, einen Büstenhalter zu tragen, und verweigert somit eine totalisierte Identität als Frau. Überdies widersetzt sie sich der kulturellen Kodierung und positioniert sich somit bewusst außerhalb der heterosexuellen Matrix. Einen Höhepunkt der Geschlechterparodie bildet das »Krocket-Spiel« im Garten: »Eines ziemlich durchwachsenen Tages im späteren November spielten Korinna, Vivian und Hans Krocket im Garten hinter dem Haus; Korinna hatte das Spiel unter Heiners alten Sachen im Keller entdeckt, und Vivian sollte endlich einmal vom Flüssigkristall loskommen, in welchen sie während der letzten Wochen fast einhundert druckreife Seiten ihrer ohnehin schon als viel zu umfangreich erachteten Magisterarbeit gehauen hatte. Zu Versaces Disco Dirndl hatte sie sich eine Pelzstola Mutter Kohns um die Schultern gelegt, ihre Strumpfhose war blickdicht. Hans trug Heiners gräßliche, selbstredend weiße Lederjacke über dem mittlerweile gründlich gewaschenen Overall und hatte sich, wie einst als kleiner Junge, die Fingernägel blau lackiert. Korinna in einem synthetischen Teddybärenkostüm ohne Kopf; angeblich ein Mitbringsel ihres Vaters aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, das ihr bislang immer bei weitem zu groß gewesen sei.«39
Solche modischen Praktiken veranschaulichen den parodistischen Charakter der Butler’schen Performanz. Im Bärenkostüm ohne Kopf manifestiert sich ein dezentralisiertes und fragmentiertes Ganzes. Dabei weiß keine der Protagonistinnen mehr, welche Identität sie durch das eigene Outfit überhaupt repräsentieren soll. Die Arbitrarität der Kleidung geht mit der Flexibilität der Identität einher, die sich in diesem Beispiel noch in Form eines Kostüms ausdrückt, später im Roman aber etwas anders dargestellt wird. Die Figuren versuchen, Erscheinungsbilder außerhalb jeder heterosexuellen Norm auszuprobieren. Durch die Haltung, jede feststehende Identität abzuwehren, grenzen sich Vivian und ihre Freunde von einheitli-
39 Ebd., S. 235.
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chen Bildern der Zweigeschlechtlichkeit ab. Im Vergleich zu Butlers Geschlechterparodie in Unbehagen der Geschlechter40 gehen Vivian und ihre Freunde noch weiter, indem sie für ihre Imitation keine definierte Geschlechtsidentität, weder Mann/Frau noch Hetero-/Homosexualität, als Vorbild benötigen. Die Geschlechterrollen werden vervielfacht, und Geschlechtsidentität geht somit über eine Binarität hinaus, sich der Pluralisierung zuwendend. Die Romane von Meinecke leiten eine Dekonstruktion der Identitätskategorien ein, anhand seiner Protagonistinnen stellen sich Multikulturalität und Pluralisierung der Identitäten im deutschsprachigen Raum dar. Tomboy vermittelt zwischen Gender-Theorie und Pop-Kultur und gilt als Meilenstein in diesbezüglicher Literatur im deutschsprachigen Raum. Die Grenzverwischung sowohl zwischen einzelnen Literaturgenres, als auch zwischen Identitäten ist ein wichtiges Merkmal der Popliteratur, welches Meinecke häufig einsetzt. Sein persönlicher Schreibstil zeichnet sich durch die Bevorzugung theoretischer Diskurse vor der Handlung aus, was einen Einfluss des Poststrukturalismus kennzeichnet. Nach Picandet findet sich die Überschreitung von Poststrukturalismus und Postmoderne genau in der Popliteratur. Zudem wurde postmoderne Literatur im deutschsprachigen Raum oft mit der früheren Popliteratur gleichgesetzt, die sich durch einen spielerischen Umgang mit Zitaten aus Hoch- und Popkultur und den Anspruch auf eine möglichst unmittelbare Gegenwärtigkeit auszeichnet.41 Es gibt in Meineckes Romanen oft kaum Handlung im Sinne eines deutlichen Anfangs und akzentuierten Endes. Die Identitätsfindung seiner Figuren ist unabgeschlossen und fortdauernd. Durch subversive Strategien im Alltag setzen die Figuren in Tomboy sich gegen die hegemoniale Macht der Heterosexualität ein.
40 Nach Butler »Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz [Herv. i.O.].« (J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 202) In Bezug auf diese Stelle ist die Meinung von Landweer insofern derjenigen Butlers entgegengesetzt, als »sowohl Travestie als auch Transsexualität die zwei Kernkategorien des Geschlechts (Frau/Mann) voraussetzen und bestätigen.« (Landweer, Hilge: »Jenseits des Geschlechts: Zum Phänomen der theoretischen und politischen Fehleinschätzung von Travestie und Transsexualität«, in Katharina Pühl [Hg.], Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 140). 41 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 311 f.
6. Zentrierung des Anderen
Geschlechtlich uneindeutige Nebenfiguren treten in den folgenden Beispielen nicht mehr als Opfer einer hegemonialen Macht auf, sondern als vorbildliche Zeichenträger zur Nachahmung. Sie werden ins Zentrum der Erzählung gestellt und dienen den Hauptprotagonistinnen als Identifikationsfiguren. Trotz ihrer geschlechtlichen Ambivalenz beharren diese positiven oder negativen Projektionsträger auf einem »wahren« Selbst und versuchen, es allmählich zu festigen. Die Hauptprotagonistinnen grenzen sich bewusst oder unbewusst von ihren sozialen Kontexten ab. Sie verlieren ihre weiblichen Attribute und werden vorübergehend zu androgynen Wesen: aufgrund einer psychisch verursachten Essstörung in einem Fall, wegen einer schweren Gehirnblutung im anderen Fall. Durch die Identifikation mit ihrem jeweiligen Projektionsträger schaffen es die scheinbar »intelligiblen« Figuren, ihren traumatischen Erlebnissen zu entkommen.
6.1 U LRIKE D RAESNER : M ITGIFT (2002) Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Oxford. Sie promovierte 1992 mit einer Arbeit zu Wolfram von Eschenbachs Parzival. Danach stieg sie aber aus der wissenschaftlichen Laufbahn aus und lebt heute als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin in Berlin. 1995 erschien ihr erstes Buch, der Gedichtband gedächtnisschleifen. Für ihre Essays, Lyrikbände und Romane hat Draesner zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Förderpreis zum Leonce-und-Lena Preis 1995, den Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur 1997, den HölderlinFörderpreis 2001, den Preis der Literaturhäuser 2002 und den Drostepreis der Stadt Meersburg 2006.
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Die Handlung, die sich in die fünf Kapitel »Fliegen«, »Essen«, »Zündeln«, »Zögern« und »Lieben« gliedert, beginnt mit der Darstellung der Hauptprotagonistin Aloe, die als Fotografin tätig ist. Aloe schildert die Kindheit mit ihrer Schwester Anita, einem Hermaphroditen. Anita wird von klein auf gezwungen, eine weibliche Rolle anzunehmen ohne dass sie selbst nach ihrer geschlechtlichen Identität gefragt wird. Aloe fühlt sich gegenüber ihrer Schwester gespalten? und kann ihre eigene Normalität nicht akzeptieren: Schon seit ihrer Kindheit zieht die »kranke« aber wunderhübsche Schwester mehr Aufmerksamkeit auf sich. Aloe will deshalb auch eine doppelte Identität annehmen und lehnt ebenfalls eine eindeutige Zuschreibung ihrer Geschlechtsidentität ab. Erst nach dem tragischen Tod Anitas kann die an Magersucht leidende Aloe endlich ihr Selbst akzeptieren, ohne sich einen anderen Körper zu wünschen und beginnt eine neue Phase der Selbstsuche. 6.1.1 Der Perfektionsdrang der Menschen Vor einer genauen Analyse möchte ich zunächst einen kleinen Überblick über die Behandlung von Zweigeschlechtlichkeit in Mythologie, Psychologie und Philosophie geben. In den Schriften von Platon, Carl.G.Jung und Butler erfährt das Thema der Androgynität des Menschen großes Interesse, deshalb möchte ich anhand dieser Autoren im Folgenden einen Wandel in der Darstellung der Androgynität aufzeigen. In vielen Mythen der abendländischen Kultur werden Androgynie und der Hermaphroditismus 1 als »ideale Vervollkommnung der Menschheit im Zustand der Transzendenz« dargestellt.2 Das Androgyne wird als »die gesündeste Form der Selbstverwirklichung und Erfüllung« betrachtet.3 In dieser Vorstellung wird durch die Versöhnung mit der eigenen inneren gegen-geschlechtlichen Energie die
1 Garber unterscheidet diese zwei Begriffen: »Man könnte daher sagen, der Hermanphrodit verkörpere das biologisch-anatomische Geschlecht, der Androgyne die Geschlechtsidentität […].« (Garber, Marjorie: Die Vielfalt des Begehrens: Bisexualität von der Antike bis heute [Vice versa], übers. aus dem Engl. v. Christiana Goldmann /Christa Erbacher v. Grumbkow, Frankfurt a. M.: Fischer 2000, S. 250). 2 3
M. Garber: Die Vielfalt des Begehrens, S. 249. Zitiert nach M. Garber: Die Vielfalt des Begehrens, S. 274f. Für die geschlechtliche Randgänger kann der Begriff von Androgynie als Fundament ihres persönlichen und genealogischen Selbstverständnisses dienen (vgl. ebd., S. 274).
Z ENTRIERUNG
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Ganzheit des Selbst erreicht. Interessant ist das platonische Bild eines »dritten Geschlechts«, welches die beiden Geschlechter miteinander vereint. Die Kugelmenschen mit dem »mann-weiblichen« Geschlecht werden als kräftig und gewalttätig beschrieben. Platons Mythologie beschreibt ihren Versuch, sich einen Aufgang zum Himmel zu schaffen, um dort Zeus und die Götter herauszufordern. Zur Strafe wird der Kugelmensch von Zeus entzwei geschnitten und sucht seitdem seine zweite Hälfte, da er »nichts getrennt von ihr tun« kann und nach einer erneuten Vereinigung strebt. »Das Begehren und de[n] Drang nach dem Ganzen« nannte Platon den Eros, der Menschen zusammen führt und »die Natur des Menschen« heilt. 4 Für den Schweizer Psychologen Jung bedeutet Zweigeschlechtlichkeit transzendente Einheit und Ganzheit. Jung geht davon aus, dass der Mensch in seiner Natur Männliches und Weibliches vereinigt. Er nennt die unbewusste weibliche Seite im Mann »Anima« und die entsprechende männliche Seite in der Frau »Animus«. Mit diesem Begriffspaar Jungs geht die Annahme einher, dass beide Geschlechter sowohl maskuline als auch feminine Anteile und Eigenschaften besitzen. Die Bewusstwerdung der gegengeschlechtlichen Teile in der eigenen Person führe zur Perfektion des Selbst, so Jung. In den oben beschriebenen Modellen zielen die zwei voneinander abgetrennten männlichen und weiblichen Teile der Menschen auf die Wiedererlangung einer Ganzheit ab.5 Die zeitgenössische Diskussion um das Androgyne gewann ab den 1970er Jahren zunehmend an Popularität. In Zusammenhang mit der Emanzipationsbewegung ist der Begriff Androgynie als Attribut für Frauen insofern ergiebig, als er feste Abgrenzungen zwischen Mann und Frau hinterfragt. Um die Jahrhundertwende trägt die Thematisierung von Androgynität in der feministischen Literatur auch dazu bei, die Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen der Frauen derart zu konstruieren, dass diese den männlichen Erfolgsprinzipien entsprechen. 6 Die sogenannte »androgyne Revolution« 7 wurde aus den USA in den deutschen Massenmedien bereitwillig aufgenommen und ins Bewusstsein befördert.
4
Vgl. Platon: Symposion, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2002, S. 51ff.
5 Vgl. Jung, Carl. G: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Zürich/Stuttgart: Rascher 1962, S. 409 u. M. Garber: Die Vielfalt des Begehrens, S. 254ff. 6 Vgl. Rigler, Christine: Ich und die Medien: Neue Literatur von Frauen, Innsbruck: Studienverlag 2005, S. 133. 7
Siehe auch Bock, Ulla: »Androgynie: Von Einheit und Vollkommenheit zu Vielfalt und Differenz«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empire, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 103: »Die oberflächliche, mediengelenkte Beschäftigung mit dem
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Das Androgynie-Motiv bietet die Grundlage für ein postmodernes Menschenbild, bei dem die Grenze zwischen männlich und weiblich unklar und fließend wird.8 Jedoch ist der Begriff der Androgynie innerhalb des Poststrukturalismus nicht als eine harmonierende, sondern diskontinuierliche und widersprüchliche Gestalt zu fassen.9 Zusammenfassend lässt sich also anhand der drei genannten theoretischen Positionen ein Wandel in der Darstellung der Androgynität aufzeigen: weg von der harmonisierenden Vollkommenheit, hin zu ihrer widersprüchlichen Gestaltung. In Das Unbehagen der Geschlechter setzt Butler sich mit Foucaults Untersuchung der Tagebücher 10 des Hermaphroditen Herculine Barbin auseinander, der im 19. Jahrhundert in Frankreich lebte. Foucault stellt sich eingangs die Frage, ob ein »wahres Geschlecht« überhaupt nötig sei.11 Gemäß Butler wollte Foucault mit dieser Untersuchung zeigen, wie ein intersexuell betrachteter Körper die normative sexuelle Bestimmung und somit den geschlechtlichen Dualismus widerlegt. Nach Ansicht Butlers romantisiert Foucault Herculine in ihrer »Welt der Lüste« als eine intersexuelle Form der Nicht-Identität.12 Diese Sexualität vor dem Gesetz bzw. vor dem Diskurs war für Herculine, so Foucault, ein »glücklicher Limbus«. 13 Butler widerspricht allerdings dieser Darstellung Foucaults. Sie ist der Meinung, dass er die Sexualität im Fall von Herculine Barbin naturalisiere. Ihrer eigenen Betrachtungsweise nach existiert hingegen keine Sexualität, die sich nicht der Macht unterstellt und den Diskursen völlig äußerlich ist. Auch die Foucault’sche
Thema [der androgynen Revolution] hat jedoch vor allem so schillernde Figuren wie David Bowie, Madonna, Michael Jackson, Boy George und k.d. Lang ins Licht gerückt und damit wohl eher der Lust nach Anschauung von Abweichung und Erotik Genüge getan, als ein Bewusstsein davon geschaffen, dass in jedem Menschen die Grenzen dessen, was wir mit weiblich und männlich bezeichnen, fließend sind [Herv. i.O.].« 8
Vgl. Ebd., S. 103f.
9
Vgl. Ebd., S. 106.
10 Siehe hierzu auch Butler: Unbehagen der Geschlechter, S.: 147f. In den Tagebüchern wird erzählt, dass Herculine zunächst bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wird. Zunächst als Mädchen aufgewachsen, wird ihm später seine Eigenart bewusst: Herculine hat nämlich ein Geschlechtsorgan, das entweder als kleiner Penis oder als vergrößerte Klitoris zu identifizieren ist. Danach wird Herculine dazu gezwungen, einen operativen Wechsel des Geschlechts vorzunehmen und sich als Mann zu geben. Herculine beging 1868 aus Verzweiflung und einer Identitätskrise heraus Selbstmord. 11 J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 142. 12 Ebd., S.143. 13 Ebd.
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Formulierung der Nicht-Identität als glücklichem Zwischenraum hält sie für problematisch. Die beiden Wissenschaftler sind jedoch insofern der gleichen Meinung, als der Hermaphroditismus Herculines ein freies Spiel der sexuellen Attribute erlaubt und somit Überschreitungen der sexuellen Norm ermöglicht:
»Außerdem
bildet Herculines Sexualität einen Komplex von Übertretungen der Ge-
schlechtsidentität (gender transgressions), die gerade die Unterscheidung zwischen heterosexuellem und lesbischem erotischen Austausch anfechten und die Punkte ihres ambivalenten Überscheidens und ihrer Redistribution hervorheben.«14
Genau wie Herculine Barbin hat die Figur Anita in Mitgift ein dem Penis ähnliches Geschlechtsorgan, welches ihr Schicksal grundlegend verändert. In der folgenden Analyse wird veranschaulicht, wie die Androgynität bzw. der Hermaphroditismus in Draesners Roman dargestellt wird und inwiefern ihre Darstellung sich von den obigen Modellen unterscheidet oder mit diesen übereinstimmt. 6.1.2 Kommunikationsversagen und Krisenkette Die Protagonistin Aloe, eine ehrgeizige Kunsthistorikerin, beschließt, sich einer strengen Abmagerungskur zu unterziehen. Eine genaue Motivation dafür kann sie selbst nicht nennen, vermutlich will sie damit um die Gunst ihres Freundes Lukas buhlen. Allerdings hängt ihre gestörte Identifizierung mit dem eigenen Körper auch mit dem Kommunikationsversagen mit Lukas zusammen: Das Zusammenleben mit ihm lindert nicht ihre »Einsamkeitsgefühle«15, sondern verstärkt diese eher noch. Es fällt ihr schwer, ihre Gefühle mit Lukas zu teilen: »Was ihr so zusetzte, sagte sie später, wie man hinterher mit Erklärungen kommt, war, daß alle Probleme, die sie mit sich allein gehabt hatte, Einsamkeitsgefühle, gelegentliche Schübe von Traurigkeit und Verlassenheit, durch das Zusammenleben nicht verschwanden. Im Gegenteil.«16
Sie weiß zudem nicht, welchen Wert sie auf ihr Körpergewicht legen soll, dem inzwischen eine entscheidende Rolle in der Beziehung zuzukommen scheint. Der
14 Ebd., S.151. 15 Draesner, Ulrike: Mitgift, München: Luchterhand Literaturverlag 2005, S. 71. 16 Ebd.
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Verlust von sieben Kilo »Zusatzgewicht« im Abmagerungsverfahren, der offensichtlich zum »Aufflackern« ihres sexuellen Lebens beiträgt, verwirrt sie. 17 Von nun an bezweifelt sie Lukas’ Liebe zu ihr und ihr Selbstwert wird erschüttert. Zufällig enthüllt sich Lukas’ sexuelle Vorliebe, als sie durch seine Schubladen geht: Sie findet einige pornografische Postkarten, die hermaphroditische Frauen zeigen. In einer »starken, selbst-gewissen« Körperhaltung drängen sie dem Betrachter ihre Genitalien auf. Dies löst eine Identitätskrise bei Aloe aus, die zwangsläufig an ihre geschlechtlich uneindeutige Schwester Anita denkt, welche eben auch das »abstrakte« Genital besitzt.18 Schon seit langem fehlen Aloe die »richtigen Worte«, um über ihre Schwester zu reden.19 Anita, die Aloe zwangsläufig an ihre traumatischen Kindheitserlebnisse erinnert, tritt in ihrer Beziehung zu Lukas als Störfaktor auf. Aloes Versuch, Abstand von ihrer Schwester zu nehmen, schlägt fehl. »Natürlich hängt alles ordentlich aneinander, eines am anderen, wie es sich gehört. Lange Zeit hat Aloe geglaubt: ich beobachtete es nur, das berührt mich nicht. Lange Zeit hat sie geglaubt, in Sicherheit zu sein. Wie ein gigantischer Magnet ist Anita in ihrem Leben gestanden, und sie, Aloe hat Teilchen gespielt und ständig versucht, die Ladung zu wechseln. Mal angezogen, mal abgestoßen. Sie hat beobachtet, ja, und was sie sah, hat auf sie abgefärbt.« 20
Nicht nur fungiert Anita in Aloes Leben wie ein Magnet, der sie anzieht und abstößt und sie noch immer in ihrer Selbstbestimmung zu gefährden droht. Sie steht zudem als begehrtes Objekt im Brennpunkt der Auseinandersetzungen mit ihrem Freund Lukas. Das Familientreffen in Aloes Elternhaus treibt den Konflikt auf die Spitze. Hier taucht die Schwester Anita zum ersten Mal in der Erzählung auf. Als Kind musste Aloe die Brillanz und Schönheit ihrer Schwester neidisch aushalten. Das Wunderkind Anita geht mit ihrem Studium und ihrer Karriere in jedem Lebensschnitt mit erstaunlicher Leichtigkeit und Souveränität um. Der überschäumende Stolz ihrer Mutter, der sich ausschließlich auf Anita richtet, verunsichert und ärgert Aloe. Was Aloe besonders verletzt, ist das gute Verhältnis zwischen Anita und Lukas. Es löst starke Verzweiflung in Aloe aus: Sogar als sexuelles
17 Ebd., S. 73. 18 Vgl. Ebd., S. 36 u. 81. 19 Ebd., S. 73. 20 Ebd., S. 66.
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Objekt empfindet sie sich weniger attraktiv als ihre hermaphroditische Schwester.21 Keiner beachtet Aloe, die langsam aufhört zu essen und in Stummheit verfällt. Um die Dynamik dieser Personenkonstellation nachvollziehen zu können, ist René Girards System des triangulären Begehrens für die Interpretation hilfreich. Girard geht davon aus, dass das Begehren eine der Hauptantriebskräfte der Menschen ist. Das Begehren bindet Subjekt und Objekt durch das Setzen eines Dritten – eines Mittlers – spontan aneinander. Der das Objekt begehrende Mittler wird mimetisch nachgeahmt. Eine mimetische Kettenreaktion wird zum Ausgangspunkt von Rivalität, die negative Gefühlen wie Eifersucht, Neid und Hass hervorruft.22 Im Fall von Mitgift ist das Dreieck durch Lukas, Anita und Aloe konstituiert. Lukas fungiert hier als Mittler. Er hält die androgyne Anita äußerlich und sexuell für sehr anziehend.23 Aloe begehrt nicht im strengen Sinne ihre Schwester, will aber deren Androgynität besitzen. Aloe als ein begehrendes Subjekt gerät deshalb mit ihrer Schwester in einen imaginären Kampf um Lukas, weil sie gegenüber ihrer Schwester ihre eigene Attraktivität beweisen möchte. Anita, die Zeichenträgerin der Androgynität, wird durch die autodiegetische Erzählerin Aloe zu ihrer Projektionsfläche gemacht. Die Wahrnehmung der hermaphroditischen Anita wird durch Aloes kunstwissenschaftliche Perspektive als »ästhetische Überformung dieses Blicks«24 gefasst. In den folgenden zwei Kapiteln werden die Ästhetisierung und Ambivalenz der Figur Anita allein aus Aloes Perspektive nachgezeichnet. Aus dieser Schilderung wird deutlich, wie Anita sowohl Bewunderung als auch Groll in Aloe weckt. 6.1.3 Schwesternkonflikt und Kindheitstrauma »Anita war ein Monster, von Anfang an.«25 Monströs ist die intersexuelle Schwester, zumal sie der einzige Grund einer fast routinierten Strafe zu sein scheint: Immer wenn Aloe als Kind Streit mit Anita hat und nicht mehr beruhigt werden kann,
21 Vgl. Ebd., S. 99. 22 Vgl. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 12f. 23 Vgl. U. Draesner: Mitgift, S. 104. 24 Vgl. Nieberle, Sigrid u. Strowick, Elisabeth: »Narrating Gender« in: Sigrid Nie berle/Elisabeth Strowick (Hg.), Narration und Geschlecht: Texte, Medien, Episteme, Köln: Böhlau 2006, S. 16. 25 U. Draesner: Mitgift, S. 163.
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wird sie von der Mutter zur Strafe ins Wohnzimmer gesperrt. Zunehmend gewinnt die »kranke« Anita an Kraft und wirft einen grotesken Schatten auf Aloes Leben: »Und Anita grinste. Wie eine Schlingpflanze wuchs sie am Riffelglas der Wohnzimmertür hoch und begann ihre verrenkten Bewegungen, ihren Schattentanz, bei dem sie sich bog wie ein hohles Gras, ein Schlinggewächs in blinder Sehnsucht und Gier, ein Körper, der in stummen Verrenkungen schreitet.«26
Aloes Magersucht richtet sich nicht nur am Schönheitswahn und Perfektionsdrang der dargestellten Zeit aus, sondern entsteht vor allem aus dem Neid auf ihre hermaphroditische Schwester. Das zentrale Motiv der Androgynität findet in Mitgift eine vielfältige, aber durchweg exzessive Darstellung. Die Autorin verleiht der hermaphroditischen Anita eine beinahe übermenschliche Vollkommenheit: »Anita, der feminine Knabe aus einem frühen Raffaelbild, nein: Giottos Madonna, die in den Uffizien hing, eine Maestà mit leicht geöffneten Lippen, feiner langen Nase und einem Gesicht wie aus Ebenholz und Milch, so gerade geschnitten, so symmetrisch und durchwirkt – so androgyn.«27
Anitas Schönheit vereinigt sowohl männliche als auch weibliche Attribute: »Ihre Schönheit zeigte, was der Mensch ist – Mann und Frau und immer etwas von beidem, zerbrechlich in seiner Zufälligkeit, verletzlich in seiner Lebendigkeit, tollköpfig und wunderbar – Anitas Schönheit wies beständig darauf hin, denn sie war immer da. Egal, wie es Anita ging, egal, wie man herzog über sie, Anita war graziös und souverän in einem, es flog ihr zu. Sie gab die Prinzessin im Schlamm; sie tat es mit Anmut und natürlicher Würde.«28
Nicht nur Anitas äußerliche Schönheit, sondern auch ihr Talent und ihre Brillanz in vielen Bereichen treiben Aloe fast in den Wahnsinn. Aloe fühlt sich ihrer Schwester gegenüber zerrissen und kann ihre eigene Normalität, die sie als Mittelmäßigkeit empfindet, nicht mehr akzeptieren: Aloe will deshalb auch eine »doppelte« Identität besitzen, denn »durch Anita schien ein unheimliches Versprechen menschlicher Ganzheit hindurch.«29
26 Ebd., S. 171. 27 Ebd., S. 97. 28 Ebd., S. 217. 29 Ebd., S. 229.
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Aloes zwanghafter Versuch, sich durch eine streng geregelte Abmagerungskur an die rätselhafte Perfektion ihrer Schwester anzunähern, richtet sie fast zugrunde. Sie wird ins Krankenhaus gebracht und dort informiert, dass die Magersucht zu einer »Überproduktion von Androgenen« geführt habe, also einer Verstärkung ihrer männlichen Hormone.30 In ihrem vorläufig androgyn gewordenen Körperzustand fühlt Aloe nicht die erwünschte Vollkommenheit, sondern eine »Spaltung« 31. Aloes Magersucht spiegelt in erster Linie psychische Bedrängnis wider, die sich auf ihre »halb bewusste«32 Ablehnung der normativ eindeutigen Geschlechtsidentität zurückführen lässt. Erst in Folge ihrer Magersucht wird Aloe bewusst, dass die Nachahmung ihrer Schwester illusionär und sinnlos ist.33 Aloe, die in unüberwindbar scheinender Feindschaft mit ihrer Schwester gefangen gehalten wird, verschafft sich durch ihre Abmagerungskur zuerst eine Schutzzone. Es gelingt ihr schließlich, sich ihre Sehnsüchte zu Bewusstsein zu bringen und als handelndes Subjekt dem Familientrauma und der rivalisierenden Position zu ihrer Schwester zu entkommen. Danach beginnt für sie eine neue Phase der Selbstfindung, welche durch eine aktive Verarbeitung der Vergangenheit gekennzeichnet ist. In Erinnerung an den Schwesternkonflikt schildert Aloe ihr Leben in einem gedanklichen Strudel von Gegenwart und Vergangenheit. 6.1.4 Heteronormativität und Normeinschreibung Die kulturelle und gesellschaftliche Einschreibung der Geschlechter bleibt eine wichtige Thematik in Anitas Leben. Für die Eltern ist es anfangs nicht leicht, sich mit der Tatsache abzufinden, dass ihre Tochter intersexuell ist. Die Intersexualität wird zum kollektiven Tabu der Familie. Zugunsten der Behandlung Anitas pendelt die Familie zwischen Haus und Krankenhaus hin und her. Als Kind wird Anita dazu gezwungen, ihre weibliche Seite mit medizinischen Methoden zu beleben, ohne dass es jemals eine Diskussion über ihre geschlechtliche Identität gibt. Anitas körperliche »Verrenkung«34 – eine zum Penis vergrößerte Klitoris mit Harnausgang – lässt sich kaum in die Normalität einordnen. Sie lebt in einem Staat von Männern und Frauen, wo der normierte Dualismus der Geschlechtlichkeit am stärksten in Erscheinung tritt. In mehreren Stufen wird sie »zurechtoperiert«. Ihre
30 Ebd., S. 153. 31 Ebd., S. 153. 32 Ebd., S. 154. 33 Vgl. ebd., S. 159. 34 Ebd., S. 105.
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künstliche »Normalität« muss durch wiederholte chirurgische Eingriffe und Hormonbehandlungen beibehalten werden. Körperlich wird sie danach zur Frau und eindeutig in ihrer Geschlechtsidentität, sodass sie gemäß dem Wunsch ihrer Eltern zu einem »sagenhaften«, vorzeigbaren Mädchen wird, das »sich im Brennpunkt zu befinden scheint, inmitten aller der Strahlen, die die Linse bündelte[...]«35. Der Elternwunsch spielt in Anitas Geschlechtskonstruktion eine entscheidende Rolle. Anita wird zur Frau gemacht und in Übereinstimmung mit einem bürgerlichen Frauenideal geformt. Obgleich ihre »provokante« Schönheit eine androgyne Aura besitzt, tritt sie in der Öffentlichkeit durchaus als perfektes Vorbild für das weibliche Geschlecht auf. Anita, wenn sie auch in den Augen ihrer Schwester graziös und souverän erscheint, wird bei jeder Gelegenheit ihrer Selbstbestimmung beraubt. So hat sie bei ihrer Hormonbehandlung zur Frau nie ein Mitspracherecht. Ihre verborgene Männlichkeit wird verdrängt, bis sie eines Tages ihrer sozialen Rolle überdrüssig wird und beschließt, ihr androgynes Wesen wiederzubeleben – woran ihre Familie zugrunde gehen wird. Anita lehnt an diesem Punkt eine Fremddetermination ihres Körpers von Außen ab und will durch einen Akt der Selbstbestimmung den eigenen Körper zurückerobern. Unter vollständiger Verweigerung ihrer Rolle als Frau und Mutter versucht Anita, ihren Körper nun männlich zu gestalten, damit sie nicht »an einer Hälfte von [ihr] vorbei« 36 lebt. Durch die Einnahme männlicher Hormone und die Konstruktion eines künstlichen Penis wird dieser Prozess vervollständigt. Dabei handelt es nicht um eine einfache Rückverwandlung in den ursprünglichen Körperzustand, sondern vielmehr um einen radikal emanzipatorischen Gestus des geschlechtlichen Selbstverständnisses.37 Anitas Entscheidung lässt sich in der sogenannten »gehirnlichen Buchung« begründen, die nicht »wegoperier[t] oder durch eine nachträgliche Einnahme geschlechtsvereindeutigender Hormone hinweg[ge]husch[t]« werden kann. So erläutert Anita ihre Beweggründe mit einer spezifischen Geschlechtsprägung im Kopf, die »bei einem Hermaphroditen nicht weiblich oder männlich, sondern hermaphroditisch ausfalle«38. Im Gespräch mit Aloe setzt Anita sich eindeutig den postmodernen Gender-Theorien entgegen:
35 Ebd., S. 167. 36 Ebd., S. 359. 37 Vgl. Gatani, Stepanie »Hybride Körper. Zur Dekonstruktion der Geschlechtsidentität in Ulrike Draesners Mitgift«, in: Stephane Catani/Friedheim Max (Hg.), Familien, Geschlechter und Macht. Beziehungen im Werk Ulrike Draesners, Göttingen: Wallstein 2008, S. 86f. 38 U. Draesner: Mitgift, S. 359.
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»[…] Ich kenne das auch alles, die neuen Authentizitätsauffassungen und Körpertheorien, Butler, Foucault, Barthes, den ganzen postmodernen Auf- und Abwasch. Soll die Theorie sich nur in ihren Schleifen drehen, das macht ja Spaß, für sich genommen. Aber mir geht es, ganz einfach, Lollo, um mein alltägliches Leben.« 39
Ein postmodernes körperliches und geschlechtliches Selbstverständnis wird insofern infrage gestellt, als die Theorien nicht einfach dem Alltagsleben der Menschen aufgedrängt werden können. Bei all ihrer rationalen Überzeugungskraft sind die theoretischen Ansätze im tatsächlichen gesellschaftlichen Leben nicht ausreichend. Anitas Ehemann Walter, der offensichtlich das weibliche Erscheinungsbild Anitas liebt und nun nicht mehr in der Lage ist, die scheinbar perfekte Familie mit Anita aufrechtzuerhalten, kommt mit der neuen Situation nicht zurecht. Nach einem Streit erschießt er sie und anschließend auch sich selbst. Der Mord an Anita als Fremdkörper im Mittelpunkt der Gewalt markiert das Scheitern ihrer Überwindung der Geschlechtsnormen. Ihre Träume von Vollkommenheit werden nicht erfüllt. Anita als intersexuelle Person gilt im Sinne Butlers nicht als ein sozial »intelligibles Subjekt«. Ihr Ringen um einen »lebbaren« Körper und somit eine funktionale Identität ist tatsächlich außerhalb des Gesetzes zu verorten: Als intersexuelles Subjekt, die sich aufgrund ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit in der »Zone der Unbewohnbakeit« befindet, kann sie sich keinen Platz im deutschen Rechtssystem schaffen.40 Im Vergleich zu ihrer intersexuellen Schwester schlägt Aloe einen anderen Weg der Selbstsuche ein. Im nächsten Kapitel wird detailliert behandelt, wie Aloe sich bewusst von der Außenwelt abschirmt und sich nicht mehr fremdsteuern lässt.
39 Ebd., S.359. 40 Siehe auch S. Catani: Hybride Körper, S. 82. Catani zieht mehrere deutsche rechtliche Bestimmungen hinsichtlich der Intersexualität heran, um zu zeigen, auf welche Art und Weise intersexuelle Personen vom Gesetz ausgeschlossen werden. Ihnen, so Catani, kann damit »kein legitimer Ort zugewiesen werden«. Siehe auch: »Gemäß § 21 des geltenden Personenstandsgesetzes (PstG) ist das Geschlecht eines Kindes unmittelbar nach der Geburt in das Geburtenbuch einzutragen, dabei muss es entweder als Knabe oder Mädchen bezeichnet werden. Jenseits dieser Geschlechter-Binarität existieren keine alternativen juristischen Einschreibungsverfahren. […] Aus psychiatrischer und sexualmedizinischer Sicht ist die Vereindeutigung des Geschlechts bei Säuglingen und Kleinkindern jedenfalls empfehlenswert, um eine ungestörte psychische Identitätsentwicklung zu ermöglichen.« (ebd.)
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6.1.5 Sprachlosigkeit als Sackgasse der Interpretation Aloe kann mit niemandem über ihre Gefühle und ihre traumatischen Kindheitserfahrungen reden. Auch als Lukas’ Mutter sich Sorgen um sie macht, kommt es nicht zum Gespräch. Stattdessen »unterhält ihr Körper eine besondere Verbindung zum Verdrängten«41. Wo die Sprache fehlschlägt, das Verdrängte zum Ausdruck zu bringen, übernimmt der Körper die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung. 42 Um ihrer Abhängigkeit von der Außenwelt entgegenzuwirken, »den Stoffwechsel des Lebendigen« auf das Geringste zu reduzieren, beginnt sie ihre Abmagerungskur.43 Je mehr sie sich von den anderen entfremdet, desto weniger isst sie und versinkt in noch härteres Abmagern, bis der Körper in ihrer Wahrnehmung verschwindet und sie einen Stillstand erlangt. »Bei ihr kam der ganze Körper in Aktion, und das Abnehmen wurde das genau richtige Ventil für einen Druck, von dem sie gar nicht gewußt hatte, daß er in ihr steckte.«44 »Wer keinen Körper hatte, brauchte keine Zeit, um sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen.«45
Für Aloe fließen paradoxerweise zwei Prozesse während der Abmagerung zusammen, die nur scheinbar irrelevant sind. Zum einen bemüht sie sich, die androgyne Schönheit ihrer Schwester durch Abmagerung nachzuahmen und löst unerwartet eine »Vermännlichung« aus. Diese Abmagerung führt jedoch eher zur »Spaltung« ihres Wesens und ermöglicht in ihrer Folge eine tatsächliche, funktionale Selbstsuche. 46 Zum anderen verschließt sie sich gegenüber der Außenwelt, um so durch eine vorläufige Verweigerung sprachlicher Kommunikation einen neuen Kanal für ein tieferes Verständnis ihres Selbst zu schaffen. Mit ihrem Körper als Mittler vollzieht sie ihre Suche nach einem Sinn auf Kosten ihres Gewichts und ihrer physischen Gesundheit. Beide Prozesse, die während der Abmagerung ablaufen, führen
41 U. Draesner: Mitgift, S. 71. 42 Vgl. Stopfer, Andrea: »Die Darstellungen von Magersucht in Magern und Mitgift von Ulrike Draesner im Vergleich«, in: Andrea Bartl (Hg.), Transitträume. Beiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur, Augsburg: Wißner 2009, S. 351. 43 U. Draesner: Mitgift, S. 79. 44 Ebd., S. 71. 45 Ebd., S. 146. 46 Ebd., S. 153.
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zur Konzentration auf den eigenen Körper und eröffnen zudem eine neue Phase der Selbstsuche, durch die sie zuletzt zu ihrer eignen Sprache bzw. einer tatsächlichen Selbsterkenntnis kommt. So begründet der Therapeut Aloes Magersucht mit der Suche ihres Körpers nach einer Sprache. 47 Aloe erlebt dabei keinen Sprachverlust im strengen Sinne: Sie spricht zwar noch mit anderen, verzichtet aber auf einen funktionalen Gedankenaustausch. Ihre Sinnstiftung hängt viel mehr von der Eigendynamik ihres Körpers ab, als von der sprachlichen Kommunikation im gesellschaftlich-kulturellen Kontext. Aloes Zugewinn an Selbstbewusstsein wird von authentischen Körperempfindungen wie Temperatursenkung, Hunger, Verlust der Regelblutung und etc. begleitet. »Wäre ihr bloß nicht kalt. Könnte sie nur schlafen. Doch wer wenig ißt, braucht weniger Schlaf. […] Sie las nach. Mindestens 31 Grad Zehentemperatur, Relikt aus der Steinzeit, Körper signalisiert sonst Erfrierungsgefahr. Sie fluchte: diese atavistischen Tricks. Auch dass ihr Körper die Periode eingestellt hatte, war eine Finte ganz nach seinem Geschmack.«48
Während ihres Gewichtsverlustes gewinnt Aloe eine Art Souveränität und sogar triumphierende Freude. In herausforderndem Ton erwidert sie einen Flirt auf der Straße mit der Gegenfrage: »Ich bin krank, siehst du das nicht?« Sie selbst aber erschrickt, da sie sich eigentlich gar nicht krank fühlt: »Sie, krank? Im Gegenteil, wie ein Dschinn war sie aus der Museumsflasche geschossen, ein Wirbel über die Stadt!« 49 Im Gegenteil findet sie an der Abmagerungskur sogar Vergnügen und fühlt sich stolz und erfüllt wie nie zuvor. »Sie gefiel sich besser als je zuvor, sie war unzufriedener mit sich als je zuvor, sie trieb das Sich-Gefallen weiter als je zuvor, um zufriedener zu werden als je gedacht.« 50 »Eine normale Krankheit machte keinen Spaß. Diese schon. Machte Spaß und Angst, macht krank und half.«51
47 Vgl. Ebd., S. 154. 48 Ebd., S. 91f. 49 Ebd., S. 91. 50 Ebd., S. 86. 51 Ebd., S. 153.
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Daraufhin lernt sie ihr Selbst besser kennen und entdeckt die Freude an der Selbstbefriedigung, ohne ihre Lust auf körperliche Nähe und sexuellen Verkehr mit anderen zu lenken. Die Magersucht ist für sie keine Krankheit, sondern ein Weg zu sich selbst, ein Fluchtweg aus ihrem Trauma mithilfe einer Abschirmung von der Außenwelt. Ohne jegliche tiefgründige sprachliche und körperliche Kommunikation ist sie in sich verschlossen: »Aber sie wollte wirklich nicht, fühlt sich geschlossen wie eine Lychee, wenig Fleisch, dann ein fester und undurchdringlicher Kern.« 52 Aloe ist daher ein reduziertes Subjekt im Sinne von Eshelman, das die Entfremdung von Menschen genießt und auf der Suche nach ihrem Selbst eine Schutzzone bildet, das es kurzfristig von der diskursiven Macht – den Zuschreibungen von ihrer Familie und ihrem Umfeld – ausschließt. Allerdings zieht sie wegen ihrer Einzigartigkeit und Unergründlichkeit viele Missverständnisse und Ärger auf sich, die am Ende dazu führen, dass ihre Beziehung mit Lukas in die Brüche geht. Bis zum Mord an Anita ist ihr Freiraum wieder zusammengebrochen, im Dienst einer weiteren Stufe der Selbsterkenntnis. Identitätslosigkeit mitsamt Ess- und Sprachstörung ist eine wichtige Thematik der Frauenliteratur seit den 1970er Jahren. 53 Hier wird auch oft die Idee einer eigenen Sprache der Frauen verhandelt, die im Gegensatz zur väterlichen Ordnung steht. Die an Lacan orientierten Kritiken am Patriarchat stützen sich auf die Annahme, dass der weibliche Körper als Träger der mütterlichen Ordnung gegenüber der symbolischen Ordnung subversiv ist und das Unbewusste zum Ausdruck bringt. Die weibliche Sprache, die mit der mütterlichen Ordnung verbunden ist, wird zu Mittel und Zweck der Frauenemanzipation.54 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob sich Aloes Selbstfindung in den Feminismus einordnen lässt. In gewissem Maße wird Aloe zum Objekt männlicher Begierde degradiert. Sie scheint nicht imstande zu sein, ihre körperlichen Bedürfnisse klar zu artikulieren. Die Schwangerschaft als eindeutiger Beweis für ihre Weiblichkeit verschafft ihre vo-
52 Ebd., S. 82. 53 Vgl. C. Rigler: Ich und Medien, S. 125f. Zu bedeutenden Bespielen im deutschsprachigen Raum zählen Der Ruf des Muschelhorns von Zoë Jenny (2002) und Lügen und Schweigen von Katrin Dorn (2000). Die stumme Protagonistin Eliza in Der Ruf des Muschelhorns wird von ihrem Adoptivvater, einem Logopäden, sprachlich gefördert und währenddessen sexuell missbraucht. In Lügen und Schweigen wird die Sprechoder Ausdruckshemmung der Blumenverkäuferin Vera mit dem Tod ihres Vaters geheilt. 54 Vgl. I. Weber: Poststrukturalismus, S. 15ff.
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rübergehend Geborgenheit; das Kind wird zum Mittel, Liebe von Lukas zu erlangen und die emotionale Bindung zu ihm zu stärken. Als das Kind stirbt, betrachtet Aloe das als ein unseliges Zeichen für die Aussicht ihrer Beziehung. 55 Allerdings zeigt sich ein Merkmal in Aloes Selbstfindung, das sich deutlich von postfeministischen Ansätzen unterscheidet. Wie bereits detailliert dargestellt, wird in Mitgift der hermaphroditische Körper Anitas zum Anlass der Selbstfindung Aloes: »Eine Herausforderung, eine Mission, das war Anita für mich.«56 Aloes Selbstsuche ist körperbezogen: Anitas Körper als Mitgift, wie mit dem Titel des Buchs angedeutet wird, ist für sie selbst wie auch für Aloe Gift und Gabe gleichermaßen. Diese Körperlichkeit vermag Aloe von den Fesseln des normativen Frau-Seins sowie vom »wohlgeordneten Glaskastenleben«57zu befreien. »- Mitgift, wiederholte Lukas, was für ein komisches Wort. Die Portion, die du abbekommst von deinen lieben Vorfahren. Eigentlich ein Geschenk, oder...? - … und ein bißchen Gift …, Aloe schnalzte mit der Zunge. Unser Erdkundelehrer sagte immer, eine gewisse Portion Dreck braucht der Mensch, sonst ist das ungesund.«58
Aloe leidet gegenüber ihrer intersexuellen Schwester unter starken Minderwertigkeitsgefühlen, nicht nur, weil diese perfekt ist: »Sie war normal, aber wie sah das aus neben dieser Schwester? Ein Freak hat immer Feinde und Bewunderer, Leute, die ihn eklig finden, und die Leute, die ihn verehren. Aber als Schwester des Freaks, als Schatten einer Besonderheit, ist man nichts. Dorthin hatte der Satz des Therapeuten in der Magersuchtsklinik getroffen, Aloe müsse lernen, ihr eigenes Normalsein anzunehmen.«59
Die Beurteilung von Normalem und Abnormalem wird umgewertet. Aloe als »normale« Frau setzt sich eher dem eigenschaftslosen Normalsein als der patriarchalen Unterdrückung entgegen.
55 U. Draesner: Mitgift, S. 311. 56 Ebd., S. 110. 57 Ebd., S. 191. 58 Ebd., S. 46. 59 Ebd., S. 218.
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6.1.6 Die Mimesis des ostensiven Körperzeichens Anita kann als Sündenbock gesehen werden, deren Ermordung den Familienkonflikten ein Ende setzt. Zugleich ist sie zentriert und sogar sakralisiert, weil sie zwar die Schuld des Kollektivs auf sich nimmt, aber an Kraft gewinnt, die sich auf andere ausdehnt und zu anderen vordringt. »Alle, die mit ihr zu tun hatten, spürten es. Spürten, wie es einem geht, wenn ein anderer etwas Verlockendes und Geheimnisvolles an sich trägt, was man selbst nicht hat. Anita war von ihnen getrennt, sie saß in ihrer Mitte, aber wie ohne Stuhl. Verzaubert und Zauberin zugleich; Strahlemädchen und Sündenbock.«60
In der Postmoderne wäre Anita als Randgängerin eher der Peripherie verhaftet geblieben (vgl. 4.2). Doch in Mitgift wird sie mit ihrem substanziellen Körperteil zentriert, was eigentlich auf eine Position verweist, die nicht postmodern gedacht werden kann. Das neue Modell vom Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum erlaubt eine positive Identifikation mit Menschen mit Behinderung 61 oder geschlechtlich Marginalisierten. Zuletzt wird Anita ermordet, weil sie die vorherrschenden Familien- und Geschlechternormen gefährdet. Ihre »Perfektion« wird nur so lange bewundert und geduldet, wie sie ihr normatives Frau-Sein noch bewahrt. Sobald sie ihre Identität durch eine selbstbestimmte und dabei abweichende Körperprägung behaupten will, wird sie vom wütenden Kollektiv ermordet. Weder die Familie noch ihr Ehemann können mit ihrer sich gegen die herrschenden Normen auflehnenden Entscheidung umgehen.
60 Ebd., S. 228f. 61 Siehe auch Eshelman, Raoul: »Transcendence and the Aesthetics of Disability: The Case of The Curious Incident of the Dog in the Night-Time«, in: Anthropoetics 15, Nr. 1(2009 Fall). (http://www.anthropoetics.ucla.edu/ap1501/1501eshelman.htm) Er erläutert dies in diesem Aufsatz wie folgt: »Disabled bodies provide a particularly strong example of embodiment as mimesis because they resist standard ideas about the body and push back when confronted by language that would try to misrepresent their realism. […] By carrying the private, peripheral experience of the disabled into the public, central realm while sabotaging any spontaneous identification with form, these works can truly be said to deconstruct prevailing norms, shaking the illusions of the prevailing ideology of ableness and strengthen the identity of disabled inasmuch as they wish to define themselves as an oppressed, peripheral minority.«
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Inwiefern bildet Anita einen ästhetischen Fokus der Identifikation und fungiert als ein mimetisches Vorbild für ihre Schwester? Wie bereits ausgeführt, möchte Aloe androgyn sein, da diese Eigenschaft in ihren Augen der rätselhaften Perfektion Anitas zugrunde liegt. Abgesehen von einigen Ausnahmen konzentriert sich die Erzählperspektive ausschließlich auf Aloe, sodass aus Anita narrativ eine Projektionsfläche gemacht wird. Anitas »immer zum Phantasieren missbraucht[er]« 62 Körper wird zum ostensive Zeichen gemacht und als solches ins Zentrum der Erzählung gestellt. Zuletzt redet Anita mit Aloe offen über ihre gemeinsame Vergangenheit und es kommt nach jahrelangen Missverständnissen endlich zur Versöhnung zwischen den Schwestern. Hier äußert sich Anita das erste Mal selbst zu der Situation: »Ihr hattet immer etwas Hysterisches an euch, wenn es um mich ging. Panisch und blind. Als weckte ich eure schlimmsten Alpträume auf.«63 Im Rückblick auf die Vergangenheit wird Aloe bewusst, dass sie ihre Schwester missversteht und für ihre eigenen Projektionen missbraucht. Nachdem Aloe ihre Geschichte Lukas geschildert hat, erwidert dieser auf das lange verborgene Familiengeheimnis in ironischem Ton: »[…] Da war ein Faktum – Anita geboren mit einer vergrößerten Klitoris, also gut, einer penisartig vergrößerten, dennoch: nur ein Stückchen Fleisch, eine Fehlbildung der Scheide – und ihr habt eine unglaubliche Geschichte darum gebaut. So viel geschwiegen, bis das kleine Faktum immer mehr daran angelagert hat, und jetzt ist es eine riesige Blase, die euch alle noch immer umgibt, auch dich, meine Liebe. Die Böhmsche Böhm’sche? Familientragödie.«64
»Dies Stückchen Fleisch« wird als ein Katalysator ins Zentrum gestellt und löst die Krisenkette zwischen intelligiblen und somit legitimen und abweichenden Geschlechtern aus. Jede betroffene Person wird letztendlich in einen gewaltigen Strudel einer Serie tragischer Ereignisse hineingezogen. Hier kann man natürlich auf eine poststrukturalistische Interpretationsweise rekurrieren, wie Catani in ihrem Aufsatz anhand der Butler’schen Diskurstheorie ausführt. Demgemäß werde »dieses Stückchen Fleisch« als »Effekt gesellschaftlicher Machtverhältnisse« durch »Bilder, Imaginationen und Interpretationen« 65 produziert. Allerdings verfehlt
62 U. Draesner: Mitgift, S. 270. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 214. 65 S. Catani: Hybride Körper, S. 93.
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Catanis Interpretation die Komplexität der Wechselwirkung zwischen Menschen, deren Schicksale an Anita als zentrale Zeichenträgerin gebunden sind. Darüber hinaus werden mit diesem Ansatz tiefere Textebenen im Roman wie auch die Funktion der minimalen Einheit der Geschlechtskonstruktion bzw. der andersartigen Körpergestaltung von Anita außer Acht gelassen. 6.1.7 Die Ästhetik des Körpers Teilweise gefühlvoll, teilweise verbittert erzählt Aloe die Geschichte ihrer Schwester. Das Auseinanderleben der beiden Schwestern verhindert Aloes direkte Wahrnehmung von Anita und erzeugt folglich eine ästhetische Distanz zu ihr. Dies entspricht der Beschreibung der Ästhetik des ostensiven Zeichens von Gans,66 die Eshelman als »performative tautology« präziser definiert. »The work is constructed in such a way that its main argumentative premise shifts back and forth between these two venues; the logic of one arguments the other in a circular, closed way. The result is a performative tautology that allows the endless circulation of cognitively dubious, but formally irrefutable metaphysical figures within its boundaries. These metaphysical figures are in turn valid only within the frame of a particular work; their patent constructedness reinforces the set-apartness or givenness of the work itself and coercively establishes its status as aesthetic– as a realm of objective, privileged, and positive experience [Herv. i.O.].«67
Aloes Aufmerksamkeit oszilliert zwischen Androgynität und Anitas Körperprägung, ohne sich wirklich auf ein Objekt der Aufmerksamkeit fokussieren zu kön-
66 Gans zufolge generiert sich die ästhetische Freude am Zeichen sich in erster Linie infolge der unvollständigen Repräsentation und somit der vorläufigen Linderung des »originalen Ressentiments«. Das Zeichen bietet einen imaginären, aber nicht ausreichenden Ersatz für den zentralen Referenten an: Es bleibt nur Ersatz und kann den Appetit der Urmenschen nicht stillen. Daher lässt sich das Subjekt auf eine Oszillation ein, bei der einerseits eine konkrete Vorstellung des Dings durch das Zeichen behindert ist; anderseits stellt das Zeichen dem Subjekt eine vorläufige, jedoch unvollkommene Befriedigung bereit. Im ästhetischen Moment der Urszene wird die Aufmerksamkeit nicht auf das Zeichen oder den zentralen Referenten allein gelegt, sondern auf deren Verbindung im Signifikationsprozess (vgl. 1993, S. 117f). 67 R. Eshelman: Performatism, S. 37.
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nen. Anita als Zeichenträger verkörpert Vollkommenheit und stahlt eine als unwiderstehlich charakterisierte Anziehungskraft aus. Ihre mythologische Vollkommenheit wird bildhaft durch eine Unterwasser-Aufnahme zum Ausdruck gebracht, welche immer wieder im Traum Aloes auftaucht.68 Im Gegensatz dazu spiegeln sich Aloes Angst und ihre innere Unruhe in der Darstellung von Anitas Schatten, die bizarren Schlingpflanzen zu ähneln scheinen.69 Während der Magersucht bewegt sich das Anita-Bild zwischen zwei Polen, die je nach Aloes Projektionen variieren. Aloe bezweifelt, ob sich Anitas Vollkommenheit überhaupt auf das fehlerhafte »Stückchen Fleisch« zurückführen lasse, welches aus medizinischer Sicht als eine pathologische Fehlbildung betrachtet wird. Aloes Wahrnehmung von Anita wird daher durch dieses vermeintlich abnormale und verformte Körperteil verhindert. Außerdem führt Aloes Nachahmung ihrer Schwester zu einem androgynen Körperzustand, der jedoch keineswegs mit Vollkommenheit einhergeht, sondern ein allmähliches Abgleiten in die Männlichkeit hervorruft. Entsprechend schwelgt sie in Träumen, Fantasien und Erinnerungen in verschiedenen Selbstbildern. Einmal identifiziert sie sich während ihrer Magersucht mit dem weiblichen sexuellen Objekt in der Mythologie: »Helene war ihr Skelett. Das begehrte Objekt, sie liebt sich als Helene.«70 Ein anderes Mal träumt sie von der Verwandlung in einen Löwen, ein Kraft, Spannung und Anmut symbolisierendes Männlichkeitsidol. 71 Dann wieder fühlt sie sich neutral, wie »Neutrale Neutren«72. Diese variable Wahrnehmung ihres Selbst endet erst, nachdem ihr bewusst wird, dass sie die Perfektion ihrer Schwester nicht durch Abmagerung erreichen kann.73 Dies kennzeichnet das Ende von Aloes ästhetischer Identifikation mit ihrer Schwester. Ihre Selbsterkenntnis entsteht dann aus einer mutigen Konfrontation mit sich selbst, anderen Menschen und der Welt.
68 U. Draesner: Mitgift, S. 10, 14 u. 16. 69 Ebd., S. 163. 70 Ebd., S. 92. 71 Ebd., S. 90 u. 91. 72 Ebd., S. 83. 73 Ebd., S. 161.
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»[…] gegen sich selbst und für sich selbst, weil Krieg eben doch von Kriegen kam und man nichts beobachten konnte, ohne selbst davon ergriffen zu werden. Aloe fühlte sich aufgewühlt, ein Rudel Elektronen, das nur in rasender Bewegung ein Atom ergab, eine zerklüftete Einheit.« 74
Ein neuartiges Geschlechterrollenverständnis in Anknüpfung an das ostensive Körperzeichen stellt eine Interpretationsmethode bereit, mit welcher das veränderte Verhältnis zwischen Zeichen und Körper, Peripherie und Zentrum, Subjekt und Objekt genauer definiert werden kann. Aloes Subjektbildung ist, wie in 6.1.4 ausgeführt wurde, stark ding- und körperbezogen, was ihr die Chance gibt, sich von den normativen Kontexten zu distanzieren. Dieser stabile Subjekt-Körper-Bezug stellt einen Gegenpol zur alten semantischen Grundlage der poststrukturalistischen Interpretationsweise dar, die die Referenten zugunsten des fließenden Begehrens auflöst.75 Eshelman schlägt daher eine Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Gender und Sex vor: »For once you kiss the corporeal world goodbye – once you start constructing gender relations willy-nilly without regard for their genetic or material substrate – there’s no reason why you shouldn’t go one step further and reconstruct these relations as monist ones that once more include the body within them.«76
Seiner Ansicht nach bestätigt eine starke Bezugnahme auf den Körper keinesfalls den heterosexuellen Denkmodus, sondern ermöglicht gerade dessen Überwindung. Dieses Interpretationsmodell erlaubt eine Identifizierung mit einer Art von Sexualität und Begehren, ohne auf die Referenten zu verzichten. Es geht im Roman Mitgift zuletzt um die Rückkehr von Liebe, Wärme und Verständnis zwischen Menschen. Ein optimistischer Ausgang für die Liebe zwischen Lukas und Aloe findet sich in ihren Berufen: Als Astrophysiker möchte Lukas in den Orbit, um die Erde einmal von oben anzuschauen. Er entwickelt ein Modell des Universums, welches durch eine vierdimensionale Kugel dargestellt
74 Ebd., S. 216. 75 Die Geschlechtsidentität entsteht und wird verfestigt nach Butler durch die Performativität unter Heteronormativität, welche das tabuisierte aber wahre Begehren unterdrückt. Eine Ausführung zu Butlers Zeichenverständnis findet sich in Kap. 4.1. 76 R. Eshelman: Performatism: 28.
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werden soll.77 Poetisch und bildhaft werden Zeit und Raum im Universum repräsentiert: Die Entfernung zwischen Planeten kann durch einen Winkel gemessen und bestimmt werden.78 Ein äußerer Rahmen, der sich aus Lukas’ Untersuchung der Planeten im Universum ergibt, stellt eine Parallele zur Wechselwirkung zwischen Aloe und der Zeichenträgerin Anita dar. Das Wechselverhältnis von Planeten besteht »aus nichts anderem als aus Bewegungen von Körpern um Körper« 79, die einander anziehen und abstoßen, genau wie die Beziehungen zwischen Aloe und Anita und Lukas und Aloe beschrieben wurden. Die Galaxie wird im Innersten durch eine geheimnisvolle, nicht näher identifizierte Masse zusammengehalten. 80 Ein solcher innerer Zusammenhalt soll Lukas zufolge auch das Verhältnis zwischen Menschen bestimmen. Aloe als Kunsthistorikerin und Fotografin lässt sich von »ein[em] fein[en] uralt[en] Funkeln am Himmel«81 faszinieren und versucht, das Vergängliche und Schöne durch die Fotografie festzuhalten. Nach der Trennung von Aloe entdeckt Lukas mit zwei anderen deutschen Wissenschaftlern in seinem Observatorium in Chile einen neuen Planet im Kuiper-Gürtel. Er nennt in einem Artikel diesen Planeten »a giant new world«82. Als Aloe diese Nachricht in der Zeitung liest, erinnert sie sich an Lukas Vorstellung des Universums als eine vierdimensionalen Kugel. Das Universum ist für Aloe aber eher »etwas Unvorstellbares«83. »Eine Galaxienkarte des dunklen Universums wird als Nebenprodukt der eigentlichen Frage nach der Gestalt des Alls entstehen – an den Grenzen dessen, was vorstellbar ist: nein: ein Stückchen über sie hinausgeschoben, so dass etwas bislang Unvorstellbares erscheint.«84
Dieses »Stückchen« im Universum, das an den zentrierten andersartigen Körper Anitas erinnert, bringt Aloe nun zum Erlebnis des Unbedingten, welches jenseits ihrer Reichweite liegt. Hier ergibt insofern ein transzendenter Moment und somit die Selbstentwicklung, als Aloe ihre eigene Geschichte auf das Unvorstellbare im Universum projiziert und dann ihre Selbstzweifel überwindet. Dadurch bestärkt
77 Vgl. U. Draesner: Mitgift, S. 130 u. 161. 78 Vgl. Ebd., S. 174. 79 Ebd., S. 38. 80 Vgl. Ebd., S. 140. 81 Ebd., S. 144. 82 Ebd., S. 239. 83 Ebd., S. 240. 84 Ebd.
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sie ihre Liebe zu Lukas. Angesichts einer möglichen neuen Nähe zwischen ihr und Lukas fühlt Aloe sich »blühend« und freut sich bereits auf seine Rückkehr nach einer Forschungsreise und ein Wiedersehen mit ihm. Darüber hinaus kann sie letztendlich über den tragischen Tod Anitas und ihre gemeinsame Vergangenheit mit Lukas und Anita hinweg kommen. 85 Der Anblick eines Teebeutels im Wasser spiegelt in diesem Moment ihre seelische Ruhe wider. Ihr zuvor angespannter Körper und ihr zusammengezogenes Inneres sind nun entspannt: »Das Wasser kühlt ab, Aloe hält den Teebeutel in die Tasse, schaut zu, wie der Aufguß sich langsam grün färbt, wie die Blätter quellen.«86 Ob die beiden letztendlich wieder zueinander finden, bleibt offen. Der Roman schließt am Flughafen, wo Aloe auf Lukas wartet, der nach einem langen Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkehrt. Das offene Ende lässt den Leser über ein mögliches »Happy End« zwischen Aloe und Lukas spekulieren.
6.2 K ATHRIN S CHMIDT: D U STIRBST
NICHT
(2009)
Kathrin Schmidt wurde 1958 in Gotha geboren und studierte nach dem Abitur Psychologie an der Universität Jena. Im Anschluss an ihr Diplomstudium war sie von 1981 bis 1982 als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Leipzig tätig, danach als Kinderpsychologin am Kreiskrankenhaus Rüdersdorf sowie beim Kinder-und-Jugend-Gesundheitsschutz Berlin-Marzahn. Für ihre Gedichte und Romane erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Leonce und Lena-Preis der Stadt Darmstadt 1993. Ihr 1998 erschienener Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition wurde mit dem Heimito-von-Doderer-Preis und dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Für ihren Roman Du stirbst nicht87 erhielt Kathrin Schmidt 2009 den Deutschen Buchpreis.
85 Ebd., S. 241. 86 Ebd. 87 »Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom
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In Schmidts Buch Du stirbst nicht gliedert sich die Handlung in die sechs Kapitel »Wimpernschläge«, »Schattenrisse«, »Silhouetten«, »Lektionen«, »Nervaturen« »Reflexe« und schließlich »Du. Und Du.«. Die Protagonistin Helene kämpft mit den Folgen einer Hirnblutung. Der Roman handelt von ihrem Erwachen aus dem Koma und von ihrer schmerzhaften Rückeroberung körperlicher und sprachlicher Fähigkeiten. Dabei wird ihr entscheidende Unterstützung von Seiten der transsexuellen Viola zuteil. Durch deren Hilfe gelingt es Helene, ihre seelische und körperliche Fragmentierung schrittweise zu überwinden. Viola stirbt am Ende des Romans, nachdem sie die Konflikte zwischen ihrer Geschlechtsrolle und ihrer Familienrolle versöhnen konnte. Die Rekonstruktion der Erinnerungen an Viola löst Helenes Existenzproblematik auf und verhilft ihr letztendlich zu einer positiven Wertschätzung ihres eigenen Lebens. 6.2.1 Sprachzerfall, körperliche Gebrechen und Identitätsverlust In diesem Kapitel soll untersucht werden, inwiefern von einer eingeschränkten, vorsprachlichen Welt der Protagonistin Helene Wesendahls gesprochen werden kann. Nach einer Gehirnoperation sind Helenes Geisteszustand und ihre Subjektivität stark eingeschränkt. Verschiedene Sprach- und Körperbehinderungen Helenes sowie ihre Versuche, Bruchstücke ihrer Erinnerung wieder zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen, werden mit erzählerischen Perspektivwechseln bildhaft geschildert. Als Helene aus dem Koma erwacht, hat sie die Erinnerung an alles Vorhergehende verloren. Ohne Sprachvermögen und Gedächtnis scheint sie zeitweilig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch ihre schwere Hirnblutung wird zum Anlass einer komplexen Reflexion über die Wechselwirkungen von Sprache, Körper und Identität. In einer Reihe traumatischer Szenarien, die im ersten Kapitel dargestellt werden, taucht Helene schrittweise in eine neue Lebensphase ein. Ein auktorialer Erzähler berichtet über Helenes Behandlungsprozess, während sie im Koma liegt. Oft wird ihre Erfahrung durch die erlebte Rede in der dritten Person vermittelt, besonders dann, wenn sie aus einem Zustand des Unbewussten erwacht und dabei die Außenwelt nur verzerrt wahrnimmt. Helene erlebt es als überaus bedrückend, dass sie nicht in der Lage ist, ihr Sprachvermögen wieder in den Griff
Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt.« (Begründung der Jury des Deutschen Buchpreises 2009, zitiert von: www.deutscher-buchpreis.de)
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zu bekommen. Sie behält manchmal gerade ein einziges Wort im Kopf, nur um es zu vergessen oder fehlerhaft auszusprechen. »Es scheint, als ob noch vor der Übersetzung ins gesprochene Wort der Bauplan der Rede einstürzte und sie unmöglich macht. So, dass sie gar keinen Plan mehr davon hat, wovon die Rede hätte sein müssen. Sobald sich auch nur eine kleine Aufregung einmischt, fällt das Wortkartenhaus zusammen.«88
Unter großen Bemühungen ringt sie um das Aussprechen von Sätzen in der richtigen Reihenfolge. 89 Die Sprache ist für sie wie »ein schlafendes Tier«, das schwerfällig und abgestumpft bleibt. »Jedes Wort muss sie hervorsuchen und im Stillen aussprechen, bevor sie es laut sagt.« 90 Um komplexere Sätze zu verstehen, braucht sie noch mehr Zeit. Manchmal entfallen ihr mit dem aktuellen Geschehen nicht in konkretem Zusammenhang stehende, abstrakte Fremdwörter. 91 Helene, die Schriftstellerin von Beruf ist, kann sie sich nun das Verfassen von Lyrik und den spielerischen Umgang mit Sprache gar nicht mehr vorstellen. Dies ist ein Gedanke, der bei ihr Existenzängste hervorruft: »Zwischen einem möglichen Gedicht und Helene Wesendahl gähnt ein Loch. Ein schwarzes.« 92 Wie »Fledermäuse durch die Dämmerung«, versucht Helene sich langsam dem Licht zu nähern.93 So bildet sich in Schmidts Roman ein vorsprachlicher und diffuser Raum heraus, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint und der die Protagonistin zum Ausbruch aus der Gefangenschaft zwingt. Um zu überleben, gibt es für die Hauptprotagonistin keine andere Möglichkeit als einen harten und unumgehbaren Kampf um ein Dasein außerhalb der Dunkelheit zu führen. Durch ihre zeitweiligen Sprach- und Körperbehinderungen wird Helene zu einem reduzierten Subjekt. Nur durch Gesten und Körperkontakt ist ihr die alltägliche Kommunikation möglich, da ihr Sprachvermögen zwangsweise auf elementare Strukturen heruntergestuft wurde. Zugleich verfällt Helene einem »Gefühlschaos« und verliert die Kontrolle über ihre Emotionen. 94 Zudem wird sie von Angstanfällen und Depressionen
88 Schmidt, Kathrin: Du stirbst nicht, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 79. 89 Vgl. ebd., S. 28. 90 Ebd., S. 78. 91 Ebd., S. 116. 92 Ebd., S. 42. 93 Ebd., S. 300. 94 Ebd., S. 81.
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heimgesucht.95 Ohne ersichtlichen Grund überkommen sie Trauer und das spontane Bedürfnis, unaufhörlich zu weinen. 96 Der Roman beschreibt verschiedene Formen der Aphasie, Erinnerungslücken und körperlicher Behinderungen. Schwere Krankheiten wie epileptische Anfälle und Hirnaneurysma entfalten zwar zunächst demütigende Auswirkungen auf Helene, durch die ihre normale Welt und ihr gewohntes Leben gestört und bedroht werden. Letztendlich besitzen die Schicksalsschläge aber auch eine reinigende Funktion und führen dazu, dass Helene ihre Lebensgeister auf neue Art wiederentdecken und wieder erwecken kann. 6.2.2 Grenzziehung zwischen Sprache und Körper Die im Roman vorkommende Grenzziehung unterscheidet sich von der in der Postmoderne charakteristischen Grenzüberschreitung.97 In der folgenden Untersuchung wird gezeigt, inwiefern Helenes bewusste Ablehnung von Sprache als Haltung verstanden werden kann, die diese Grenze wiederzugewinnen und neu aufzubauen versucht. Zwar möchte sich Helene gegen invasiven und zuweilen sogar brutalen medizinischen Behandlungen wehren, dies bleibt aber ohne Erfolg: Medizinische Geräte wie Schläuche und eine Magensonde werden ihr gelegt. Dadurch werden ihre Körperfunktionen unterstützt, aber zugleich auch starke Schmerzen und Blutungen verursacht. Nach einem Versuch, sich von den Schläuchen an ihren Armen und am Bauch zu befreien, wird sie zur Strafe ohne Decke am Bettrand festgebunden. Sprachlos und kraftlos liegt sie im Bett und kann die ihr jeweils schlecht bzw. gut gesinnte Krankenschwester ausschließlich an der Haarfarbe erkennen. »Nein. Sie mag die Blonde nicht. Die Blonde mag sie nicht. Sie mag die junge Frau, die so unentwegt redet. Dunkle Haare hat die. Wenn sie kommt, geht die Angst. Mit der Blonden kommt sie wieder. Kommen und Gehen.«98
95 Ebd., S. 34. 96 Ebd., S. 68. 97 Siehe hierzu Eshelman: Ende der Postmoderne: 167: »Dagegen meine ich, dass in der neuen Epoche nicht das böse Prinzip der fortwährend, ziellosen Grenzüberschreitung dominant ist, sondern die Grenzziehung [Herv. i.O.].« Jenseits der Verwischung aller Grenzen in der Postmoderne wird hier eine Grenze wiederhergestellt. 98 K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 14.
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Das menschliche Dasein wird in Helenes Welt nun auf Geburtsdaten, Krankheitsbezeichnung und Haarfarben reduziert. Unabänderlich versinkt Helene in eine vereinfachte und brüchige Welt voller Zeichen, deren Bedeutungen für sie schwer zu verstehen sind. Sie tauscht kein Wort mit anderen Patienten aus. Die Menschen kommen und betätigen sich an ihr, ohne dass sie daran die geringste Mitsprache hat. Nur körperliche Kontakte wie Geschlechtsverkehr und Berührungen können dabei behilflich sein, eine klare Grenze zwischen Körper und Sprache zu ziehen. Einmal ist Helene beispielsweise unsicher, ob sie tatsächlich mit ihrem Ehemann Matthes geschlafen oder nur davon geträumt hat. Die Spuren des sexuellen Verkehrs sowie Reste von Körperflüssigkeit stellen sich als explizite Beweise dafür dar, dass »sie nun Traum und Realität in unterschiedliche Laden packen kann«99. Als ihre Behandlungen scheitern und Helene in eine schlimme Depression verfällt, tritt die transsexuelle Pflegerin Viola wie ein Funken Hoffnung in ihr Leben. »Der Jemand fasst jetzt über seinen und über ihren Kopf hinweg und legt seine Hand auf ihre Stirn, dass sie zittern muss über die weiche Berührung, sie spürt den sanften Druck mit aller Deutlichkeit auch auf den von der Operation gefühllosen Knochenpartien, und langsam lehnt sie sich tiefer zurück und löst die fest verschlungenen Hände, dass das rechte Bein kraftlos auf die Matratze fällt. […] Sie weiß, wer der Jemand ist. Die Jemand, wenn sie es richtiger sagen soll. Viola heißt sie.«100
Violas »weiche« und »sanfte« Berührung bringt die Lebenskraft in Helene zurück und verschlägt »ihr für den Rest des Tages die Sprache«101. Helene verspürt in Violas kühlem und hochnäsigem Lächeln eine Wärme wie bei »ein[em] plötzliche[n] Strahlen« der Sonne »im grauen Novemberanfang«102. Viola scheint nun wieder zusammensetzen zu können, was auseinanderzubrechen drohte. Sie bringt Helenes Genesung wieder in Gang, indem sie zunächst durch Körperkontakt seelische Nähe zu ihr herstellt. Nach dem Kennenlernen Violas scheint Helene gegenüber ihrem Ehemann Matthes für kurze Zeit redegewandter zu sein: Die Worte
99
Ebd., S. 59.
100 Ebd., S. 125. 101 Ebd., S. 128. 102 Ebd., S. 129.
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stürzen wie »nackte Lemminge«103ganz von selbst aus ihrem Mund. Für Helene bringt das zwanghafte Gespräch mit ihrem Mann jedoch nicht das erhoffte Verständnis hervor, sondern verstärkt die Distanz zwischen den beiden. »Eine natürlich anmutende Grenze ist zwischen Matthes und Viola gezogen, und diese Grenze verläuft mitten durch sie hindurch – wenn sie die Augen schließt, schmerzt es entlang der Linie.«104
Helene zieht eine klare Grenze zwischen Matthes und Viola, die symbolisch als Trennlinie zwischen Sprache und Körper zu verstehen ist. In ihrer momentanen Genesungsphase zieht sie den Körperkontakt der sprachlichen Kommunikation vor und fühlt sich von Viola besser unterstützt als von ihrem Mann. Therapien mit Bezeichnungen wie »Ergo, Physio, Logo, Psycho« 105 hält sie anfangs für reine Zeitverschwendung. Die Ergotherapeutin vermag ihr zwar bei einer Reihe von alltäglichen Aktivitäten wie Zähneputzen und Anziehen zu helfen, zeigt dabei aber keinerlei Verständnis für ihre emotionalen Probleme. Insbesondere ist sie nicht bereit, mit der Logopädin kooperativ zusammenarbeiten. Ihre Weigerung entsteht aus der Überzeugung heraus, dass diese ihr Sprachvermögen nicht dadurch rekonstruieren kann, indem sie den Fokus ausschließlich auf Sprache legt: »Die Frau wollte von ihr nur Dinge, die sie konnte. Was sie nicht konnte, kam nicht zur Sprache [Herv. i.O.].«106 Von der Psychologin, die »seltsam dümmlich« wirkt, fühlt sich Helene schlecht behandelt, da die Psychologin an einem anamnestischen Gespräch über die Vorgeschichte ihrer Krankheit keinerlei Interesse hat.107 Dies ist vor allem auf die Wahrnehmung Helenes zurückzuführen, die die Psychologin als zu zielbewusst und daher Patienten gegenüber gleichgültig sieht. Woran es diesen professionellen Therapien nach dem Empfinden Helenes mangelt, ist bei Violas Behandlung hingegen vorhanden. Der Körperkontakt zu ihr bringt Helene dazu, ihre Genesung endlich aus eigener Initiative anzugehen. Genau wie Viola lässt Helene sich oft von ihren Gefühlen leiten. Jenseits der poststrukturalistischen Leseart vom »Diskurseffekt der Körper« ist die körperliche Erfahrung in diesem Roman einerseits dafür da, wieder eine genaue Grenzziehung zwischen Wachen und Träumen
103 Ebd., S. 130. 104 Ebd., S. 130. 105 Ebd., S. 48. 106 Ebd., S. 136. 107 Ebd., S. 154.
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sowie insbesondere zwischen Sprache und Körper vorzunehmen; anderseits auch, um eine neue Kommunikationsweise hervorzubringen, bei der sich die Protagonistin von Sprache zeitweilig abwendet. 6.2.3 Versöhnung von Geschlechter- und Familienrolle In diesem Kapitel wird dargestellt, wie Viola sich als transsexuelle Frau herausstellt und wie sie zur Identifikationsfigur von Helene wird: Helene projiziert, je nach Phase ihrer Selbstsuche, ihre Sehnsüchte auf die Zeichenträgerin Viola. Des Weiteren wird untersucht, wie Viola an ihrem Lebensende durch Liebe und die Anerkennung ihrer Familienrolle Erlösung findet. Irgendetwas an Viola verwirrt Helene zutiefst und bringt sie gleichzeitig dazu, sich in sie zu verlieben. Helenes Verwirrung ist zunächst durch die Komplexität der Gestalt Violas gegeben. Auf den ersten Blick hält Helene Viola für einen Mann. Tatsächlich lebt die transsexuelle Viola trotz der Geschlechtsumwandlung in eine Frau eher in einem männlichen aussehenden Körper und spricht mit einer männlichen Stimme. Doch durch ihre künstlichen Brüste glaubt Helene Violas Geschlecht verifizieren zu können. Viola ist alles andere als schön, so wird ihr Aussehen von Helene als eine »unangenehme Konstellation« 108 bezeichnet. Violas von Akne gezeichnetes, problematisches Hautbild und ihr stechender Blick spiegeln ihre inneren Konflikte und Anstrengungen wider. Trotzdem fühlt sich Helene gerade von Violas scheinbarer Widersprüchlichkeit, die sich in Form einer reservierten Kühle gepaart mit seelischer Warmherzigkeit manifestiert, verzaubert. Gegenüber Viola empfindet Helene einen Gefühlskomplex von Scham, Schuld und Mitleid: »Innerhalb dieser Gefühlstriade war Helene, als müsste sie unmerklich verschwinden, um nicht in deren Kämpfe verwickelt zu werden.«109 »Helene hatte es schließlich bei Maljutka Malysch belassen, zweideutig war’s, eben so, wie Viola ihr wirklich erschien, stückweis Mann, stückweis Frau, je nachdem, je nach Lage, je nach Gusto, je nach Wunsch. Und gewünscht hatte sie sich?« 110
Helene verleiht Viola den russisch kodierten Kosenamen Maljutka Malysch (auf Russisch »Mädchen« und »Junge«), der auf ihre unbewusste Sehnsucht nach der
108 Ebd., S. 134. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 148.
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ehemaligen DDR zurückzuführen ist. Viola wird daher zu ihrer Identifikationsfigur, auf die Helene »je nach Lage, je nach Gusto, je nach Wunsch« 111ihre Sehnsüchte projiziert. Nach der Verleihung jenes Namens träumt Helene eine Nacht von einer Maljutka Malysch, die sich nun männlich gibt und in hervorragendem Russisch ein Gespräch mit Wladimir Putin führt. Helene fällt dieser Name auch deshalb ein, weil er Violas polarisierte Geschlechtlichkeit beschreibt. Sie sieht die weibliche und männliche Seite Violas als gleichgewichtig. 112 Helene zuliebe akzeptiert Viola den Namen und verwendet ihn in ihren Emails an sie. Aber Viola ist sich durchaus bewusst, dass ihr Dasein eher von Konflikten als von einer inneren Balance bestimmt ist. Sie bezeichnet sich daher als eine seltsame Übereinkunft von »Pat und Patachon«113, womit sie ihre kontrastreiche und sehr unterschiedliche Körpergestaltung beschreibt. Am Anfang fasziniert Helene der »Kerl in Viola«, dessen »breites Kreuz« ihr Schutz verspricht. 114 Im instabilen Gesundheitszustand sucht Helene Vertrauen und Wärme bei Viola. Aber weil sie Violas Wesen nicht richtig versteht, wirkt diese Sicherheit, die Viola verkörpert, auf Helene zunächst rätselhaft und bedrohlich. »[…] es bleibt dabei: kein Zuname für die Violaperson, deren Existenz zwar sicher, deren Verbleib aber ein Rätsel für Helene ist. Die Sicherheit dehnt sich aus, sie schwimmt im blinden Fleck, ohne einen Haltepunkt zum Ausruhen, zum Verschnaufen zu haben. So wird sie bedrohlich, Helene will ihr entkommen und sich aufrappeln, in den Rollstuhl, aber die Hand ist zu fahrig, als dass sie ihn neben das Bett ziehen könnte, und in dem Moment, da sie darüber heulen und schreien möchte, rückt sie an: die Erinnerung.«115
Die Erinnerung an den ersten Kuss von Viola stellt die innere Ruhe Helenes wieder her: »Kein Geräusch durchkreuzt den Moment, der sich dehnt wie vordem die
111
Ebd., S. 210f.
112
Ebd., S. 149.
113
K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 151. Pat & Patachon war ein dänisches Komikerduo der Stummfilmzeit, es wurde verkörpert von Carl Schenstrøm (1881–1942) als Pat und Harald Madsen (1890–1949) als Patachon. Zwischen 1921 und 1940 drehten die beiden etwa 55 Filme. Der Ausdruck »wie Pat und Patachon« bezeichnet scherzhaft das ungeschickt wirkende Nebeneinander zweier Personen mit sehr verschiedenem Körperbau. (Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Pat_%26_Patachon)
114
K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 202.
115
Ebd., S. 143f.
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Unsicherheit, und als sie sich voneinander lösen, ist Helene auf eine ruhige Weise entrückt.«116 Eine weitere Identifizierung mit Viola geschieht dadurch, dass bei Helene nach einem Hirnaneurysma ihre Regelblutung ausbleibt. Fortan fehlt ihr ein bedeutendes Merkmal, über das sie einen wichtigen Teil ihrer Weiblichkeit definierte. Genau wie Viola ist sie unfruchtbar geworden: »Von Maljutka Malysch [Viola], muss sie plötzlich denken, hätte sie ohnehin kein Kind bekommen können.«117 Letztendlich bemerkt Helene aber, dass »es gerade Maljutkas stacheliges, widerborstiges Wesen gewesen war, das sie gereizt hatte, bis aufs Blut sozusagen, nicht etwa ihre schlecht zu versteckende Männlichkeit oder der breite, ausufernde Schritt, den sie zeigte, wenn es ihr nicht darauf ankam [Herv. i.O.]«118. Die Anerkennung von »Maljutkas stachelige[m], widerborstige[m] Wesen« verhilft Helene, eine neue Phase der Selbstsuche zu beginnen, in der sie den Mut sammelt, aus der gewohnten Geborgenheit auszubrechen.119 Darauf gehe ich in 6.2.4 vertieft ein. Viola war ehemals ein Mann namens Viktor, der mit seiner Rolle nicht mehr umgehen konnte. In einer Email an Helene beschreibt Viola ihre Auseinandersetzung mit der Außenwelt nach der Geschlechtsumwandlung. Viola will sich zwar nach außen als Frau geben, wird aber nicht zu einer »richtigen« Frau. Viola entspricht insofern nicht dem gängigen Rollenverständnis, als dass ihr männliches Aussehen und Verhalten trotz der Operation nicht in Einklang mit ihrem Frau-Sein stehen. Folglich wird sie arbeitslos und isoliert, da ihre Existenz in der Tat die geschlechtliche Konformität zwischen Sein und Schein aufzuheben droht. »Auch Dein Gefühl kriegt mich innen und außen wie in Sinn und Form oder Gehalt und Gestalt nicht zusammen, und da ich Dich besser kennenlernte, als ich damals ahnte, weiß ich, daß Du nichts anderes tatest, als Deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, und mir nicht etwa ein Bein stelltest, um zu beobachten, wie ich nach dem Fall aussehen würde.«120
Viola ist klar, dass Helene ihr gespaltenes Dasein weder erkennen noch zusammenfügen kann. Ihre Liebe zueinander, die sich hauptsächlich in Emails auslebt, zerbricht schließlich an der Distanz zwischen Violas Selbsterkenntnis und der
116 Ebd., S. 144. 117 Ebd., S. 209. 118 Ebd., S. 282. 119 Ebd., S. 282. 120 Ebd., S. 151.
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fremden Wahrnehmung Helenes von Viola oder einfach am Missverständnis zwischen den beiden. Helene liebt zunächst die männliche Seite von Viola, welche Viola selbst jedoch verweigern will. Nach ihrem letzten Treffen stellt Helene fest, dass Viola »kein besserer Kerl als Matthes« ist, was ihrer emotionalen Bindung einen Riss zufügt.121 Bei ihrer Selbstsuche ist Viola auf sich selbst gestellt. Auch ihre finanzielle Lage bereitet ihr Probleme: Viola kann es sich nicht leisten, andauernde Behandlungen infolge ihrer operativen Geschlechtsumwandlung fortzusetzen. So hatte Viola zwar eine Hormontherapie aufgenommen, diese reicht allerdings noch nicht aus, um vollständig Brüste zu entwickeln und ihre Stimme zu verweiblichen. Dass sie immer noch wie ein Mann aussieht und wirkt, führt zu einer drastischen Spaltung zwischen Sein und Schein. Das Beibehalten des konstruierten Frau-Seins geht auf Kosten ihrer »körperlichen Unversehrtheit«122. Gesetze und Konventionen sprechen gegen ihre »unnatürliche« Erscheinung. Brüste, Make-up und Kleider – die Teil einer geschlechtlichen Parodie sind – bilden bloß ein unvollkommenes Scheinbild einer Frau. Selbst wenn es ihr tatsächlich gelingen würde, sich als eine »perfekte« Frau darzustellen, wäre eine grundlegende Verwandlung in eine biologische Frau nicht einmal im Zeitalter der medizinischen Hochtechnologie vollständig möglich.123 Da sie daran scheitert, in Familie und Gesellschaft als weiblich akzeptiert zu werden, geraten Gender, Sex und ihr geschlechtliches Rollenverständnis in einen Konflikt, der ihr Leben auf negative Weise beeinflusst. Viola erweitert das traditionelle Frauenbild, da sie außerhalb der herkömmlichen geschlechtsspezifischen Opposition von Männlichem und Weiblichem lebt. Damit begründet sie eine alternative Weiblichkeit: Sie ist weder »Neutrum« noch ein »kastrierter Kerl«124, sondern eine androgyne Frau. Nur wenn sie sich mit ihrem androgynen Selbst abfindet, ist sie imstande, ihre Auseinandersetzung mit der zugewiesenen Geschlechtsrolle zu gewinnen. Ihre Erlösung besteht darin, den Widerspruch zwischen ihrer Geschlechtsrolle (die einer Frau mit männlich aussehendem Körper) und ihrer sozialen Rolle (diejenige eines Vaters zweier Söhne) zeitweilig in Einklang zu bringen. Eines Tages beginnt Viola, eine Geschichte über ihre beiden Söhne zu erzählen. Nach ihrer Geschlechtsumwandlung hatte sie Angst vor der Begegnung mit ihrer Exfrau und vor allem mit
121 Ebd., S. 206. 122 Ebd., S. 175. 123 Ebd., S. 238. 124 Vgl. Ebd., S. 281.
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ihren Söhnen. Für ihre Exfrau sei sie so gut wie gestorben, befürchtet Viola. Zuletzt lädt Viola ihre zwei Söhne zu ihrem achtzehnten Geburtstag zu sich ein. Beim Zusammentreffen mit den Söhnen herrscht eine liebevolle und verständnisvolle Stimmung. Viola schildert das in ihrer letzten Email an Helene: »Ach, war das schön! Anfangs scheu, öffneten sie sich schneller, als ich in meinen kühnsten Träumen gehofft hatte, sie sprachen und sprachen und sprachen, als müssten sie ihre Kindheit neu erfinden im Augenblick der Volljährigkeit. Zwei hübsche Burschen sind das, lang und schlank, mit halblangem lockigem Haar und Brille.«125
Überglücklich und erfüllt stirbt Viola unerwartet an einem Herzversagen, nachdem ihre Söhne nach Frankreich gereist sind. Ohne jede Anstrengung schien Viola »sanft entschlafen«126 zu sein. Die detaillierte Schilderung dieses Treffens erfährt Helene erst in einer Email nach Violas Tod. Viola findet Harmonie und Erfüllung in der Anerkennung ihrer Familienrolle als Vater und Mutter zugleich. Schließlich stellt sie fest, dass sie »kein singuläres Neutrum« ist, sondern »eine Mutter mit Vaterliebe«127. 6.2.4 Ausbruch aus der Geborgenheit Hier soll ausgeführt werden, wie Helene durch eine Identifizierung mit Viola als ihrer Projektionsfigur die scheinbare Sicherheit auf weltanschaulicher und persönlicher Ebene ablehnt. Diese Sicherheit entsteht zwar anfangs durch den Abwehrmechanismus, birgt aber Gefahren und Instabilität in sich. Eher sucht Helene nach mehr Vertrauen zwischen Menschen. Dabei gelingt es der Protagonistin, mehrmals aus ihrer eingeschränkten Existenz auszubrechen. Im Roman werden die Einstürze der Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 beschrieben und die Reaktion der Welt auf dieses Ereignis. Das Gefühl der Sicherheit entblößt sich als eine Illusion, der Schutzraum des Westens ist angreifbar geworden. Auch Helene spürt diese Gefahr, die sie mit einem »Riss in der Kugel« beschreibt, die zuvor fugenlos abgeschlossen zu sein schien.
125 Ebd., S. 301f. 126 Ebd., S. 235. 127 Ebd., S. 302.
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»Auf einmal bemerkt sie die gläserne Kugel um sich herum. An einer Stelle, einem winzigen Punkt nur, hat es eine kräftige Ranke geschafft, das Glas zum Splittern zu bringen und dieses Loch hat sie eben die einstürzenden Türme sehen können.«128
Die Anschläge des 11. Septembers haben weitreichende Folgen: Der Konflikt zwischen der Supermacht USA und anderen, unberechenbaren Kräften in der Welt gewinnt an Schärfe. Dabei steigen die Unsicherheit des Individuums und des Kollektivs hinsichtlich der zukünftigen Entwicklungen in der Welt. Grund dafür scheint die andauernde Pluralisierung zu sein, die zugleich mehr Freiheit, aber auch ein höheres Maß an Unsicherheit und Entfremdung bedeuten kann. Dies suggeriert zumindest der Roman. In Anbetracht der einstürzenden Türme verspürt Helene eine Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit. Die aufgrund ihrer Behinderungen verschlossene Umgebung im Krankenhaus erscheint ihr nun wie ein »Schonraum«, in dem sie in einer vorläufigen Geborgenheit leben kann, da es keine Verbindung zum Rest der Welt zu geben scheint. Während ihrer Zeit im Krankenhaus besitzt sie deshalb nur eine eindimensionale Perspektive, weil sie nicht dazu in der Lage ist, die wilde und komplexe Außenwelt unmittelbar zu betrachten: »Sie kann es nicht fassen, dass es die Welt gibt da draußen, sie hat bis heute Kanäle in die Vergangenheit zu graben versucht, die doch immer nur eigene Vergangenheit gewesen war, hatte den Film zu rekonstruieren versucht, dessen Hauptheldin sie immer noch ist, und hatte dabei einfach nicht gesehen, wie abgeschirmt sie hier existierte, in welchem verdammten Schonraum! Hatte in die Wolken gesehen als in eine Glocke, die sich über sie spannte und an den Horizonten zu Ende ging, und die Katzen, die seither ihren Weg gekreuzt hatten im Krankenhausgelände, waren ohne Linien geblieben zu den in den Wäldern lebenden wilden, die sie früher immer mitgedacht hatte, und die Haferflocken im Müsli waren einfach aus der Tüte gefallen und der Laptop vom Himmel und der Stift aus der Federtasche [Herv. i.O.].«129
Diese vermeintliche Sicherheit im abgeschlossenen Raum des Krankenhauses birgt jedoch möglicherweise noch größere Gefahren in sich. Helene wird zunehmend bewusst, dass die Beziehung zwischen Matthes und ihr mit einer beiderseitigen Orientierungs- und Identitätslosigkeit einherging. Die gemeinsame Verschmelzung infolge eines zwanzigjährigen Familienlebens führt zu einem Verlust der eigenen Persönlichkeit. Obwohl die Entkoppelung von ihrem Ehemann eine
128 Ebd., S. 123. 129 Ebd., S. 123f.
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schmerzhafte Angelegenheit ist, schafft sie es doch, aus dem geradezu zwanghaft gewordenen Bund und insbesondere der gegenseitigen Kontrolle zu entkommen: »Vielmehr sahen sie sich irgendwie außerstande, die Leine, an der sie einander führten, auch nur für einen Moment loszulassen, weil sie die Orientierungslosigkeit fürchteten, die sich (sie dachten: zweifellos!) dann einstellen würde. Dabei hatte sich die Leine zwar ausgeleiert, war nicht mehr knapp armlang wie in ihren ersten Jahren (sie reichte jetzt im Normalzustand vom Doppelbett über die Treppe in Matthes’ Dachzimmer und verlängerte sich während seiner oder ihrer Abwesenheiten vom Haus), aber sie spürten sie ständig, sie war ihnen heilig, die Fessel. Gab Sicherheit, Zutrauen, war wechselseitige Bürgerschaft, ohne die sich ihre Existenz einfach nicht mehr definieren wollte.«130
Das Sicherheitsgefühl, das gerade aus dieser unsichtbaren Leine entsteht, wird für Helene wiederum zur Fessel ihrer Existenz. Menschen werden einander gleichgültig in der Abschirmung der Gewohnheit, denn äußerliche Verbundenheit verschleiert oft eine innerliche Trennung. Es war Viola, die Helene zunächst aus der Todesnähe und schließlich aus dieser Scheingeborgenheit herausgeführt hat. Auch Helenes Bereitschaft, Viola zu helfen, machte die beiden voneinander abhängig: »Später dann lässt man um der Gewohnheiten willen davon ab, den anderen überhaupt zu bemerken, während er an der Leine turnt und verlernt, sich selbst als Zentrum seines Bewegungskreises zu sehen. Dessen Radius bestimmt sowieso der andere. In dieser geheuchelten Sicherheit hatten sie sich beide befunden, und es war Maljuka gewesen, die ihr den Garaus gemacht hatte mit ihrem für Helene gefährlichen, spröden Charme. Ihrer betörenden Unschärfe, die eine nicht weniger betörende Klarheit im Schlepptau hatte. Sie hatte sich nicht begierig in eine Beziehung gestürzt, war aber doch überrollt worden, auch von Maljukas Beklommenheit, ihrem Dilemma, aus dem sie ihr aufhelfen wollte, so oder so [Herv. i.O.].«131
An dieser Stelle drückt Helene implizit ihr Verständnis für die Sehnsucht nach Sicherheit aus. An einer anderen Stelle vergleicht Helene die Intimität, die sie mit Matthes hat mit derjenigen, die sie mit Viola teilt: »Sie kannte Viola erst seit einem Jahr, Matthes seit sechsundzwanzig... Das Gefühl der Vertrautheit hingegen, das sie mit Matthes teilt, hat sie in ihrem Verhältnis zu Maljutka Malysch
130 Ebd., S. 316. 131 Ebd., S. 328f.
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nicht auffinden können. Noch etwas, was sie nicht so einfach zusammenkriegt: Vertrautheit mit einem Menschen hängt offenbar nicht davon ab, wie viel man über ihn weiß.«132
Statt Sicherheit verbindet Helene und Viola ein »Riss«133 miteinander. Der »Riss«, wie oben dargestellt, steht als ein Signal für den Kollaps des Sicherheitssystems in Kontrast zu der scheinbaren, aber prekären Sicherheit auf persönlicher und nationaler Ebene. Genau der Riss ist es auch, durch den Helene eine Chance bekommt, sich von den gegebenen Beschränkungen zu befreien und die Außenwelt aktiv zu konfrontieren. 6.2.5 Lenz, die Leerstelle und Gott Das im Kapitel »Reflexe« häufig vorkommende Lenz-Motiv entfaltet sich auf mehreren Ebenen. In diesem Kapitel soll es vornehmlich um die Reflexion Helenes über Violas Tod gehen und die Frage gestellt werden, ob eine mögliche LenzFigur im Roman identifiziert werden kann. Von dieser Thematik ausgehend stellt sich eine weitere Frage, die für meine Untersuchung von großer Bedeutung ist: Gibt es in Schmidts Roman eine Figur, die göttliche Züge besitzt, oder sind Figuren wie Lenz letztendlich eher dem Atheismus zuzuordnen? Wenn man auf den bereits dargestellten Inhalt zurückblickt, gewinnt die Gestaltung der Protagonistinnen gegen Ende des Buches immer klarere Konturen. Ich möchte an dieser Stelle eine kontrastierende Analyse zunächst von Lenz und Helene und dann von Lenz und Viola herausarbeiten. Im Roman trifft Helene das erste Mal auf Büchners Lenz, als ihr Kindheitsfreund Pietro bei einem Besuch sein neues Theaterprojekt vorstellt, in dem Büchners Erzählung in voller Länge rezitiert wird. Dafür bittet er Helene um einen kurzen Text über Lenz als Einführung für seine Zuschauer. Er weiß jedoch nicht, dass Helene kurz zuvor einen Sprachverlust erlitten hat. Nach Violas Tod versucht Helene, wieder zu schreiben. Immer wieder verfällt sie ins »Leere«, insbesondere dann, wenn sie zu viel schreibt und deshalb sehr erschöpft ist. Um ihr Sprachvermögen wiederzuerobern, stellt Helene sich selbst auf die Probe.
132 Ebd., S. 215. 133 Vgl. Ebd., S. 190.
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»Den entstehenden Zustand der Leere kennt sie inzwischen zu gut, es ist, als ob die bewusste Gehirnaktivität tatsächlich zum Erliegen kommt, sie meint, an nichts denken, aber auch nichts evozieren zu können.«134 »Dass man ihrem Lächeln Weisheit unterstellen könnte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen angesichts der Zustände der Leere, von denen sie heimgesucht wird.«135 »Und Flips erzählt gern, eine Hand bleibt am Lenkrad, die andere untermalt, was er sagt. Währenddessen verliert sie sich in einem Zustand der Leere. Ist schließlich verwundert, als das Auto in der Arberstraße hält.«136 »Die hier zitierten drei Stellen zeigen, dass Helenes Leere auf ein psychisches und physisches Unvermögen verweist. Ähnlich wie Helene leidet auch Büchners Figur Lenz an psychischen Störungen und Krankheiten, die in ihm ein Gefühl der Leere verursachen. Anders als bei jenem zielt die Leidensgeschichte von Helene jedoch auf eine Wiederherstellung ihres Körpers und eine Übersteigung des Selbst ab. Im Unterschied zu Lenz, der sich später dem Atheismus zuwendet, verliert Helene nie ihre Bindung an die katholische Kirche und steht in einer freundschaftlichen Beziehung zu ihrem Pfarrer Wittusch, den sie seit ihrer Kindheit kennt und von dem sie getauft wurde.« 137
Meines Erachtens bestehen zwischen Viola und Lenz trotzdem einige Ähnlichkeiten: Genau wie Lenz als Grenzgänger138 versucht Viola, einen persönlichen Rettungsakt durchzuführen. Der psychisch kranke Lenz ist auf eine experimentelle Weise auf der Suche nach etwas, das ihn vom Leiden erlöst und seinem Leben Sinn gibt. Er will den Pfarrer Oberlin im Bergdorf Waldbach besuchen. Während seiner Wanderung durch die winterliche Landschaft erfährt er einen Orientierungsverlust, Angstanfälle und Ohnmacht. Weder die Integration in die christlichen Gemeinschaft des Dorfes, noch Pfarrer Oberlins christlich motivierte Hilfeversuche können dem Leidenden helfen. Später versucht Lenz, ein sterbendes
134 Ebd., S. 252. 135 Ebd., S. 256. 136 Ebd., S. 265. 137 Ebd., S. 65. 138 Siehe hierzu auch Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchner. Biographie, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1993, S. 499. Durch die komplexe Konstellation seiner Figur wird Lenz »zur Fallstudie eines künstlerischen, psychischen und damit auch sozialen Grenzgängers« im deutschsprachigen Raum.
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Mädchen wieder ins Leben zu rufen, um einen Beweis für die Existenz Gottes zu finden. Lenzens Suche nach dem Sinn des Lebens ist nicht konfliktfrei: Auf verschiedene Art und Weise experimentiert er mit dem Pfarrer Oberlin, mit Gott und mit einem Mädchen. Lenz spielt die Rolle des Erlösers, der ein totes Mädchen durch eine »Christustat, jedoch ohne Christuskraft«139 wieder zum Leben zu erwecken versucht. All diese Aktivitäten erlösen ihn aber nicht. Nachdem sein Rettungsversuch scheitert, glaubt er nicht mehr an der Existenz eines liebevollen Gottes und wird zuletzt zum Atheisten. Die Parallelen zwischen Schmidts Roman und Lenz lassen sich an folgender Stelle nachvollziehen: »Es ist schön zu merken, dass das Leben sie wieder eingeholt, sie nicht entlassen hat wegen fehlender Teilnahme. Vielmehr hat das Leben die fehlende Teilnahme zum Anlass genommen, sich in Erinnerung zu bringen, im wahrsten Sinne des Wortes, und während sie jetzt, hier, auf dem EEG-Stuhl liegt, die Hände einer fremden Frau [Viola] mit ihrem Kopf beschäftigt, fühlt sie auf einmal die Existenz dieser Frau geradezu davon abhängen, dass Leuten wie ihr etwas zustößt. Dass Leute wie ihr ein Riemengerüst auf den Kopf gesetzt und nach einem Herd gefahndet wird. Die Ärzte verdanken ihre Existenz der der Schadhaften, für die sie zuweilen mehr Spott und Häme als Respekt übrighaben, während umgekehrt der Respekt, den die Schadhaften Ärzten gegenüber zeigen, in Ehrfurcht oder blinden Gehorsam ausartet. Seltsam, wie die Welt eingerichtet ist [Herv. i.O.].«140
Anders als die angesehenen, aber kühlen Ärzte bemitleidet die geschlechtliche Grenzgängerin Viola die Menschen. Zudem gibt Viola Helene und den anderen »schadhaften« Leuten Lebenskraft. Insgesamt kann Viola so als Teil einer quasi göttlichen Ordnung gesehen werden, da sie im Krankenhaus und auch anderswo aus reiner Nächstenliebe immer um Unterstützung für ihre Mitmenschen bemüht ist. Damit besteht ein klarer Unterschied zu Lenzens eher religiös motivierten Rettungsversuchen des Mädchens. Lenz will die Existenz Gottes beweisen und sich selbst vom Leiden befreien. Entsprechend finden wir in Helenes Text über Lenz eine Interpretation zum Verhältnis zwischen Lenz und Gott, welches eine mögliche Parallele zur Romanfigur Viola herstellt.
139 Wiese, Benno v.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, Stuttgart: Metzler 1978, S. 119. 140 K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 119f.
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»Ein Verrückt-Werden, weil er [Lenz] deutlich spürt, dass seines Lebens Zweck im AugApfel der Realität ganz ohne einen Gott auskommt und er doch mit Gottesaugen nach seinem Lebenszweck zu suchen gezwungen scheint.«141
Nachdem Lenzens Suche nach dem Gottesbeweis und dem Sinn seines Lebens gescheitert ist, fühlt er sich noch immer von dieser Gottlosigkeit gefoltert, weil er, wie im Zitat durch Helene angedeutet wird, noch immer mit Gottesaugen nach dem Lebenszweck sucht. Die Leugnung der Existenz Gottes bedeutet gleichsam die Sinnlosigkeit seines Lebens. Er empfindet danach sein Scheitern als einen Sieg der Hölle und erfährt existentielle Leere.142 Diese Leere besteht für Lenz darin, dass »kein Hass, keine Liebe und keine Hoffnung«143 mehr in ihm bestehen. Die Leere, die er spürt, ist die völlige Abwesenheit eines liebevollen Schöpfergottes, der die Menschen vom Leiden erlösen soll.144 Im Gegensatz dazu hat Viola Helene gerettet. Die erfolgreiche Rettung zielte nicht etwa darauf ab, die Existenz eines transzendenten Gottes zu beweisen, sondern praktizierte lediglich das Gebot der Nächstenliebe. Viola erlebt im Todesmoment eine Erfüllung, weil sie sich sowohl von ihren Söhnen als auch von Helene geliebt fühlt. Sie erlöst sich durch Harmonie, Familienliebe und letztlich sogar mithilfe der Vision einer neu geschaffenen Ordnung (dies wird in 6.2.6 detaillierter analysiert). Auch Helenes Leere füllt sich allmählich. Ihre Leere hat zunächst eine Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglicht, was überhaupt erst die notwendige Voraussetzung für eine Neubestimmung
141 Ebd., S. 345. 142 Siehe hierzu Büchner, Georg: »Lenz«, in: Hubert Gersch (Hg.), Georg Büchner. Lenz, Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 2005, S. 5-31, S. 31: »Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Anderen taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last – So lebte er hin.« 143 G. Büchner: Lenz, S.27. 144 Walser, Matin: Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe. Prosa, Aufsätze, Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 191. Eine Anmerkung von Martin Walser ist für die Interpretation dieser Gotteslosigkeit von Interesse: »Gott ist tot. Er teilt uns mit, woran Gott stirbt. Jeder Gott. Er stirbt daran, dass er nicht hilft.« Gott existiert nur dann, wenn Er Menschen hilft. Lenz verweigert dabei nicht Gott per se, sondern nur den Gott, der nicht helfen kann.
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ihrer Lebenseinstellung war.145 Letztendlich erleben die zwei Protagonistinnen in Schmidts Roman eine positive Subjektivierung: Viola vollendet sich in der Vorstellung einer harmonischen Familienliebe und ist eine Figur, die göttliche Züge besitzt. Auch Helenes fragmentierte Welt setzt sich schrittweise wieder zusammen. 6.2.6 Wiederherstellung einer Einheit In diesem Schlusskapitel wird untersucht, wie das persönliche und nationale Schicksal im Roman miteinander verwoben sind, inwieweit die beiden Realitäten Ähnlichkeiten besitzen und jeweils eine harmonische Einheit besteht. Nach ihrer Hirnblutung verbringt Helene viel Zeit damit, ihre Vergangenheit – beginnend in ihrer Kindheit bis zum früheren Leben in Ostdeutschland – unter einem allmählich erwachenden Sprachbewusstsein aufzuarbeiten. Die Neuentdeckung ihrer Vergangenheit und darin relevanter Lebensstationen, wie die Ehe mit Matthes, die Geburt ihrer Kinder und der persönlichen und politischen Wende, sind eine wichtige Thematik im Roman: »Wieder und wieder setzt sie das Vergangene rückwärts neu zusammen, mit den kleinen und größeren Stücken, die sie hervorkamt. So ungefähr.«146 Die Vereinigung zwischen Ost- und Westdeutschland ging nicht ganz reibungslos und konfliktfrei vonstatten, hatte aber letztendlich die nationale Einheit zum Ziel. Helene, Matthes, samt ihrer fünf Kinder und ihres gesamten Freundeskreises stellen in gewisser Weise ein positives Sinnbild für den nationalen Zusammenhalt dar. Jedoch wird Helenes Zusammenhalt mit Matthes durch das Auftreten Violas geschwächt, gewinnt aber gegen Ende des Romans wieder deutlich an Bindekraft. »Der Fernseher läuft. Noch immer Überflutungen in Deutschland. Vor sechzehn Jahren, muss sie auf einmal denken, gab es zwar sie und Matthes und drei ihrer fünf und zwei weitere Mattheskinder und Heidrun und deren beide Töchter und Matthes’ Geschiedene und die Väter ihrer eigenen Söhne, aber es gab dieses Gebilde nicht, das sich nun Deutschland nennt. Wo Ost und West sich sehr unmittelbar miteinander vermengen und auf diese Weise einen westöstlichen Mischpuffer bilden sollen zwischen dem richtigen Osten und dem tatsächlichen Westen.«147
145 Siehe hierzu Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 154: »Die Leerstellen, die psychologischer oder ritueller Art sein können, ermöglichen eine den unmittelbaren Kontext transzendierende, bisweilen auch ganzheitliche Perspektive [...].« 146
K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 111.
147
Ebd., S. 99.
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Die Gemeinsamkeit zwischen der »Blutüberschwemmung« 148 im Gehirn und der »Überflutung«149 als Naturkatastrophe ist im Roman geschickt inszeniert. Beides bringt große Schäden, wobei die Blutüberschwemmung Erinnerungen auslöscht und das Hochwasser die Landschaft zerstört. Beides ermöglicht außerdem nach der Zerstörung die Entstehung einer neuen Ordnung aus dem Chaos. Helenes vorläufiger Identitätsverlust fällt vor allem mit der Entfremdung von ihrem Selbstbild zusammen. Wie ein neugieriges Kind fixiert sie ein Schwarzweißbild von sich, als würde sie eine fremde Person betrachten. Der Verlust des Selbstbilds ist für Helene wie eine Art »Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt«150. Die Spaltung der körperlichen Wahrnehmung in zwei aufgetrennte Hälfen ist eindrucksvoll beschrieben: Auf der linken Kopfhälfte fehlen noch die Haare,151 während die rechte Gesichtshälfte »gelähmt« und die linke Körperseite »starr und steif«152 ist. »Auf der linken Schädelhälfte fehlen die Haare. Nein, das stimmt nicht ganz. Zwei, drei Millimeter sticht das neue Haar hervor. Eine feine rote Linie zieht sich vom Haaransatz in der Stirn in hohem Bogen bis vors Ohr.«153
Helene kann deshalb nur mit Kopftuch ausgehen und mit halbem Gesicht lächeln.154 Generell kommt sie leichter mit der linken Seite des Körpers zurecht, die sie »Liebe« nennt, wohingegen die rechte Seite für »Männer« stehen soll. Wie setzen sich diese bruchstückhaften Teile zusammen? Den Prozess der Rekonstruktion im Gehirn beschreibt Helene metaphorisch: Durch das Putzen der Fenster gelangt sie schrittweise zu einer klarer werdenden Außensicht; durch die Wiedereroberung des Zimmers errichtet sie eine einheitliche Ordnung im Haus. »Im Kopf putzt sie Fenster. Geht in ihrem Haus in der Arberstraße von Zimmer zu Zimmer mit dem blauen Eimer in der Hand, öffnet die Fenster, wäscht sie erst von außen, dann von innen mit warmem Essigwasser ab. Poliert sie trocken mit alten Windeln. […] Warum putzt sie im Kopf Fenster? Sucht sie die klare Aussicht, die ihr sonst fehlt? Von den Fenstern des
148 Ebd., S. 103. 149 Ebd., S. 68 u. 99. 150 Ebd., S. 13. 151 Ebd., S. 31. 152 Ebd., S. 46. 153 Ebd., S. 30f. 154 Ebd., S. 34.
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Hauses kann sie nicht in die Ferne sehen.[...] Bisher war sie manches Mal in Gedanken von unten nach oben gewandert in ihrem Haus und wieder zurück, aber nie hatte sie etwas anderes getan, als sich die Zimmer zurückzuerobern, die Möbel, die Bücher, die Teppiche, die Bilder. Heute putzt sie Fenster – das ist, beschließt sie, der Beginn der Heimkehr.«155
Die Möbel müssen ins Haus eingeräumt werden, damit alles wieder ordentlich funktionieren kann. Die Körperfunktionen, das Sprachvermögen und das Gedächtnis sollen auch wieder hergestellt werden, sodass das Leben wieder auf dem richtigen Weg ist. Trotzdem ist es für Helene zurzeit noch unmöglich, zu arbeiten. Sie kann keine Gedichte schreiben, da dafür ein voll funktionierendes Zusammenspiel von Körper und Geist notwendig ist: »Sie erinnert sich, früher beim Lesen oder Hören guter Gedichte körperliche Empfindungen gehabt zu haben, die mit Geisteszuständen einhergehen, zu denen ihr einfach nichts einfallen will.« 156 Durch den Abschluss des Lenz-Textes, der Helenes seelische und körperliche Heilung kennzeichnet, kann sie eine Wiederbelebung ihrer Karriere als Schriftstellerin initiieren. Sie verlässt das Krankenhaus und beginnt ihr neues Leben. Die Erinnerung an die Liebe zu Viola wird erst durch eine Diskette wachgerufen, auf der Violas letzte Emails an Helene gespeichert sind. Da Helene ihre Emails von Matthes auf eine Diskette kopieren lässt und erst nachträglich liest, erreichen diese sie stets verzögert. Die sonst in der virtuellen Welt verloren gegangenen Spuren eines Lebens werden gewissermaßen zur Reliquie. Mithilfe des Laptops will Helene noch einmal den Versuch unternehmen, in die Erinnerungen an Viola einzutauchen.157 Bei der Lektüre von Violas Emails erfährt sie folgendes: Vor dem Besuch ihrer beiden Söhne versucht Viola, in ihrer Wohnung eine »Renovierungsaktion« durchzuführen,158 um eine »neue, ungewohnte« Ordnung in ihrem Zimmer herzustellen.159 Sie wischt dabei »alle verräterischen Spuren« ihres »Tuns und Lassens« weg. Das Auslöschen aller Differenzen (Spuren) kann als das Beibehalten der totalisierenden Ordnung gelesen werden. Genau hier beginnt Violas Rebellion, als ihr bewusst wird, dass sie selbst »an der [alten und totalisierenden] Ordnung in diesem Raum [...] wie an einem Krückstock«160 festhält.
155 Ebd., S. 221f. 156 Ebd., S. 250. 157 Ebd., S. 292. 158 Ebd., S. 299. 159 Ebd., S. 297. 160 Ebd., S. 297
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»Vermutlich muss ich die Vasen und Tässchen und Schächtelchen und Statuetten rausschmeißen, sie fühlen sich alle zusammen wie ein Fremdkörper an. Im Moment koste ich dieses Gefühl noch aus, es ist mir völlig neu, mich den geordneten Dingen in meinem Zimmer unterzumischen und etwas zu haben, was so gänzlich entgegensteht. Man sieht viel besser, wie die anderen Dinge und man selbst zueinanderpassen, wenn da etwas ist, was die Eintracht stört. Du aber bist in Gedanken immer auch hier, ich sehe Dich nicht nur, wenn ich die Augen schließe, Du passt so gut in diesen neu gewonnenen Raum, dass Du gar nicht herkommen musst, um das zu beweisen. Ich bin dabei, mich mit Dir ohne Dich einzurichten, ich danke Dir für die Ordnung, die Du meinem Leben gegeben hast.«161
Viola beschließt also, die »Fremdkörper« 162 nicht wegzuräumen, die vorher unpassend und störend erschienen. In ihrer Performanz innerhalb dieses gegebenen Rahmens entscheidet nur Viola, wer oder was zu ihrer Ordnung passt. Auch Helene ist nur ein Gast, deren Meinung dazu nicht wirklich berücksichtigt wird: »Ich bin dabei, mich mit Dir ohne Dich einzurichten.« 163 Das Aufräumen der Wohnung stellt sich meines Erachtens als eine Parallele zu Violas Verständnis der Geschlechterrolle dar. Diese Stelle kann daher so interpretiert werden, dass die Hierarchie von Heterosexualität und Transsexualität hier temporär zum Einsturz gebracht wird. Auf einmal fühlt sich die intelligible Helene nach dem Tod von Viola »selbst wie der Fremdkörper in dieser rechtschaffen geradlinigen Anordnung, wie der Nippes in Maljutkas beschriebenem Terrakotta-Zimmer.«164 Diese Identifikation kann auf zwei Ebenen verstanden werden: Einerseits setzt Helenes Regelblutung aus und sie wird selbst zum androgynen Wesen, einem Fremdkörper; anderseits ist sie als eine »normal« erscheinende Frau für die Ordnung jenseits der Heteronormativität, die Viola hier geschaffen hat, genauso unpassend wie Viola in einer Welt, in der heterosexuelle Normen noch dominant sind. Im Roman Du stirbst nicht ist die Frage nach dem Subjektstatus eines »Fremdkörpers«, der nicht intelligibel im Sinne Butlers ist, dem damit kein lebbarer Ort zugewiesen werden
161 Ebd., S. 297f; meine Hervorhebung. 162 Siehe hierzu Eshelman: Ende der Postmoderne: S. 155: »Das performative Subjekt, das einen ganzheitlichen, abgegrenzten Raum innerhalb eines diffusen Kontextes absteckt, muss in Kauf nehmen, dass sich der ganze Unmut des Kontextes gegen den ›Fremdkörper‹ in ihrer Mitte entlädt. Dagegen lässt sich seine performative ›Botschaft‹ ausbreiten, wenn sich andere Subjekte von seinem Beispiel anstecken lassen und weitere Freiräume anlegen.« 163
K. Schmidt: Du stirbst nicht, S. 297.
164
Ebd., S. 298.
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kann, von zentralem Stellenwert. Aber diese typisch postmoderne Position der Randgänger wird dadurch verändert, dass jene geschlechtlich uneindeutige Personen ins Zentrum einer neu geschaffenen Ordnung gesetzt werden. Dadurch gewinnt ein vorher marginalisiertes Individuum an Souveränität; der geschlechtlich normale Mensch bekommt hingegen Minderwertigkeitsgefühle.
6.3 FAZIT In beiden hier ausgeführten Beispielen bewirkt die absichtliche oder unabsichtliche Abwendung von Sprache eine negative Rahmenbildung, durch welche die Existenz der Hauptprotagonistinnen auf das Notwendigste reduziert wird. Das Krankenhaus fungiert in diesem Kontext als Zufluchtsort, wo die Figuren zunächst in sich abgeschlossen bleiben. Aloe verzichtet auf Sprache, um eine Suche nach authentischen menschlichen Beziehungen durchzuführen. Die Verschränkung von Magersucht und Sprachverlust während ihrer Selbstsuche ermöglicht eine Konzentration auf den eigenen Körper und eine neue Phase der Selbstsuche, die durch aktive Konfrontation mit der Wirklichkeit gekennzeichnet wird. Auch Helene lehnt zunächst Sprache in Form einer Sprachtherapie ab, da diese ihr gefühllos erscheint. Beide Protagonistinnen schotten sich vorläufig von der Sprache ab. Helene zieht außerdem körperlichen Kontakten als Kommunikationsweise vor und zeichnet damit eine klare Grenze zwischen Körper und Sprache. Die beiden Hauptprotagonistinnen konzentrieren sich also auf den eigenen Körper, um wiederum eine eigene Sprache zu finden. Sowohl Aloe als auch Helene hinterfragen ihre Geschlechtsidentität und übertragen ihr latentes Begehren auf Projektionsfiguren, um dadurch die gewünschte Form des Geschlechtskörpers zu erlangen oder ihre Sexualität ausüben zu können. Die Darstellung der Androgynität im erweiterten Sinne ist in beiden Romanen facettenreich. Anitas vergrößerte Klitoris wird zum Auslöser einer Krise. Die darauf folgende mimetische Gewalt weitet sich im Kollektiv auf umgebende Personen aus. Androgyne Figuren, die zentral in der Erzählung sind, lösen bei den weiblichen Figuren einen Prozess der Selbsterkennung aus. Die vorläufige Identifikation mit ihrer Schwester, die sich letztendlich als unerreichbar und illusionär erweist, treibt Aloe auf die weitere Suche nach ihrem Selbst. Nach dem Tod Violas bezeichnet Helene sich selbst als Fremdkörper bzw. als androgynes Wesen. Nach der im Roman dargestellten Phase der Identifikation mit geschlechtlich uneindeutigen Figuren kehren die Hauptprotagonistinnen wieder zu einem normalen, bürgerlichen Leben zurück: Aloe erwartet nach einer langen Trennung das
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Zusammentreffen mit ihrem Freund Lukas am Flughafen; Helene lebt nach dem Tod von Viola als Familienmutter und Ehefrau weiter. Die Identifikation der Hauptprotagonistinnen, die entweder als gescheitert oder gelungen angesehen werden kann, führt zur positiven Selbstentwicklung und letztlich zu einer authentischen Selbsterkenntnis. Mit Ludwigs Modell erlebt Aloe Transzendenz, als sie dem Unbedingten im Universum begegnet und ihre Existenznot zuletzt überwindet. Helene transzendiert sich selbst und ihre Beschränkungen insofern, als sie ihrem prekären gesundheitlichen Zustand entwächst und zu guter Letzt das Sprach- und Körpervermögen zurückerlangt. Viola verkörpert selbst Transzendenz, da sie durch ihre Nächstenliebe und die Schaffung einer neuen Ordnung zu einer gottähnlichen Figur wird. Sie besitzt das Vermögen, Harmonie wiederherzustellen und zusammenzubringen, was auseinanderfällt.
7. Archetypische Abbilder als Einheit des Geschlechtlichen
Bei den in dieser Gruppe zusammengeführten Beispielen handelt es sich um Romane, in denen europäische Archetypen aufgegriffen werden. Diese Archetypen werden verwendet, um Einheitsideen von Geschlechtlichkeit darzustellen. Sei es die Jungfrau, ein Troll oder die mythische slawische Greisin Baba Jaga: Sie alle stellen sich als ein Exempel dar, an dem der Widerstreit zwischen geschlechtlichen Randgängern und der christlichen Kirche aufgelöst werden soll, indem das Göttliche mit dem Irdischen zur Versöhnung gebracht wird. In den folgenden vier Beispielen bilden die neu konstruierten archetypischen Abbilder in erster Linie die Außenrahmen, welche die Protagonistinnen dazu zwingen, in die Innenrahmen zurückzukehren und die Verbindlichkeit beider Rahmen zu bekräftigen. In der ausgewählten Literatur kommt jeweils eine archetypische Gestalt 1 vor, deren Ursprung sich in Mythen, Märchen und religiösen Abbildern findet. Solche Gestalten 1 Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875 – 1961), einer der bekanntesten Schüler von Sigmund Freud, der Freunds Theorie erweitert, vertritt die Ansicht, dass das Unbewusste nicht nur individuell geprägt wird, sondern durch bestimmte archaische, universelle und ererbte Vorstellungen, die von allen Menschen geteilt werden. Hierfür prägte er den Begriff des ,,kollektiven Unbewussten« (Jung, Carl. G. Archetypen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, S. 7). Das kollektive Bewusstsein findet seinen Ausdruck in so genannten Archetypen, die sowohl im Form von den Mythen und Märchen, als auch in Träumen und Phantasien auftauchen (vgl. ebd., S. 10-11). Die Archetypen entstehen ursprünglich aus dem Unbewussten der primitiven Menschen, das auf die unfassbare, gewaltige Natur projiziert wird und werden dann zu »ewigen Bildern« erhoben (Ebd., S. 10). Des Weiteren behauptet Jung, dass Archetypen sich in keinen bestimmten Bildern darstellen, sondern »als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen« (Ebd., S. 51).
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nehmen entweder weibliche oder androgyne Züge an und rücken in meiner Auswahl manchmal auch ins Zentrum der Erzählung, indem sie als Projektionsflächen der Figuren in deren Träumen, Ängsten, Sehnsüchten, Phantasien und Erinnerungen auftauchen und ihnen zu einer Transzendenz verhelfen.
7.1 O LGA TOKARCZUK : H OUSE H OUSE OF N IGHT (1998)
OF
D AY,
Olga Tokarczuk wurde 1962 in Sulechow geboren und studierte an der Universität Warschau Psychologie. Sie ist eine der bekanntesten polnischen Autorinnen. Ihre Bücher sind bei der Kritik sowie bei Lesern gleichermaßen erfolgreich. Ihr Romandebüt Die Reise der Buchmenschen (Prodroz ludzi ksiegi) erschien 1993 und wurde von der Gesellschaft der polnischen Buchverlage als bestes Prosadebüt der Jahre 1992 und 1993 ausgezeichnet. Ihre Lebenserfahrungen im Grenzgebiet unter dem Einfluss der drei Nationen Polen, Deutschland und Tschechien hinterlassen ihre Spuren in dem 1995 erschienen Roman E.E.. Auch der 1998 erschienene Roman House of Day, House of Night (Dom dzienny, dom nocny),2 der im vorliegenden Kapitel dieser Studie untersucht wird, beschäftigt sich thematisch mit der Situation im nationalen Zwischenraum. Für ihren dritten Roman Ur und andere Zeiten (Prawiek i inne czasy, 1996) erhielt Tokarczuk den NIKE Preis. Auch in Deutschland ist die Autorin seit Erscheinen des Romans Ur und andere Zeiten und des Erzählbandes Der Schrank (Szafa, 1997) bekannt. Der Roman House of Day, House of Night erzählt eine Reihe von Geschichten, die sich alle in der Nähe von Nowa Ruda (Schlesien) an der tschechischen Grenze abspielen. Ein großer Teil dieses Romans behandelt die Erlebnisse der Ich-Erzählerin, die in einem Haus im Grenzort wohnt. Solche Geschichte und Erlebnisse verweben sich gleichsam mit zahlreichen Träumen der Ich Erzählerin. Die scheinbar separaten Aufzeichnungen über das Dorfleben sowie Anekdoten, Legenden, Erinnerungen bis hin zu Kochrezepten in Kapiteln verschiedener Länge werden von dem gemeinsamen Ort bzw. der Umgebung Nowa Rudas wie von einem unsichtbaren Faden zusammengehalten. Trotz aller Unterschiede bilden die Abschnitte somit eine inhaltliche und strukturelle Einheit. Zufällig fällt der Ich-Erzählerin bei einem Ausflug eine Statue der Heiligen Kümmernis auf. Aus Neugier versucht sie, mehr über die Heilige zu erfahren und findet im Souvenirladen eine kleine Broschüre über sie, in der es keine genauen
2
Vgl. Meer, Evelyn: Die Dezentralisierungstendenz in der polnischen Prosa nach 1989, (siehe http://epub.uni-regensburg.de/10465/1/PromotionDV2.pdf, 2006, S.46).
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Informationen über Erscheinungsjahr und Autor gibt. Diese vom Mönch Paschalis niedergeschriebene Geschichte der Heiligen Kümmernis besteht aus fünfzehn kleinen Kapiteln inklusive einem Vorwort und einem Nachwort. Kümmernis’ Auseinandersetzung mit ihrem patriarchalischen Vater steht im Vordergrund der Geschichte. In einem anderen Handlungsstrang wird die Lebensgeschichte des Mönches Paschalis erzählt, des Verfassers der Heiligenlegende. Paschalis wurde von Schuldgefühlen zur Niederschrift der Legende motiviert: nach dem Tod des Bruders Celestyen, mit dem er eine verborgene homosexuelle Beziehung hatte, flieht er aus dem Kloster, um so auch den Erinnerungen an Celestyn zu entkommen. Auf der Suche nach Vergebung seiner Sünden wird er in einem Nonnenkloster zu einem Bild der Kümmernis geführt. Die Brüste der Jungfrau im Gemälde bilden sowohl in der Legende der Heiligen als auch in der Geschichte um Paschalis ein transzendentes Zentrum. 7.1.1 Die Kümmernis in der Religion Das Motiv der Zweigeschlechtlichkeit kommt in allen Kulturen und Religionen weltweit vor, nur im Christentum ist dieses Motiv nicht anzutreffen. Das Bild der bärtigen Heiligen am Kreuz ist daher aus Sicht der christlichen Religion eine befremdliche Vorstellung. Seit der Entstehung und Verbreitung ihres Kults im 14. Jahrhundert in Europa wurde die Heilige Kümmernis (Wilgefortis) nie offiziell von der Kirche als Heilige anerkannt. Ihre Legende wurde 1583 ins Martyrologium Romanum aufgenommen. Ihre Verehrung in unterschiedlichen Gebieten geschah sowohl im Verbogenen als auch öffentlich.3 Die Kümmernis verweist auf eine vorchristliche Gottheit, deren Name sowie ihre Bezeichnungen in verschiedenen Zeiten variieren. Es ist umstritten, ob sie aus religiöser Sicht Keuschheit und Martyrium symbolisiert, oder eher »ein fernes, jenseitiges und göttliches Faszinosum« in der mythologischen Schule darstellt.4 Bemerkenswert ist, dass die Heilige als eine »Volksheilige« bezeichnet wird, an die sich bestimmte Menschengruppen mit ihren persönlichen Sorgen wenden. Im Fall der Heiligen Kümmernis sind das wohl gerade diejenigen Personen, die von geschlechtlichen Normen abweichen. Solche Projektionen auf Heilige korrespondieren also nicht mit rigiden religiösen Meinungen; sie stehen teilweise sogar im Gegensatz zu traditionellen Glaubensvorstellungen.
3
Vgl. Schweizer-Vüllers, Regine: Die Heilige am Kreuz. Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit, Bern: Peter Lang 1997, S. 78, 85 u. 87.
4
Ebd, S. 89.
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7.1.2 Ein ostensives Körperzeichen: Die jungfräulichen Brüste und der Bart Christi Die unschuldige, wunderschöne Wilgefortis wird von ihrem Vater als nicht wünschenswert angesehen: Der kriegerische Baron möchte lieber einen Sohn. Er nimmt jedoch die Schönheit und den Reiz seiner jüngsten Tochter wahr und will sicherstellen, dass ihre Unschuld nicht befleckt wird. Um ihre Unschuld zu bewahren, bringt er sie in ein Nonnenkloster. Dort absolviert sie eine religiöse Bildung und beschließt, Gott zu dienen und sich als Nonne ausschließlich mit ihm zu verbünden. Ihre geistige Schönheit, so heißt es in der Legende, strahlt nun von innen heraus und bestärkt ihre äußerliche Schönheit. Auf Wunsch ihres Vaters soll sie ihr geistliches Leben beenden und mit einem Ritter die Ehe eingehen. Aus Liebe zu Christus verweigert sie sich dieser Heirat. Während ihrer Flucht vor dem wütenden Vater in die Berge wird sie von ihrem Entschluss immer überzeugter. »Father, restrain your anger, your son-in-law is Jesus Christ«, behauptet sie.5 In ihrer Not fleht sie schließlich Gott an, dass er ihr einen Bart wachsen lassen soll, damit niemand sie mehr begehrt.6 Dies führt jedoch zu ihrem Tod: Sie wird auf Befehl ihres Vaters gekreuzigt, was sich als eine Parallele zur Passion Christi darstellt. Im Vergleich zur traditionellen Heiligenikonographie wird jedoch die fiktive Heilige Kümmernis mit einer gewissen Sinnlichkeit versehen, indem ihre Brüste besondere Aufmerksamkeit erhalten. In den folgenden zwei Zitaten im Roman kommt die Schönheit der weiblichen Körperlichkeit besonders zum Ausdruck: »Her face was covered with a silky beard and her hair fell flowing to her shoulders. From the tattered bodice of her dress there protruded two naked, girlish breasts. The gaze of her dark, but gentle eyes moved across the faces of the inquisitive onlookers and finally came to rest on the baron. The harlots began to make the sign of the cross and knelt down one after another. Kummernis, or whoever it was, raised her hands, as if to enfold them all to her breast. In a quiet voice she said: My Lord has delivered me from myself and has bestowed His face on me.«7
5
Tokarczuk, Olga: House of Day, House of Night, übers. aus dem Poln. v. Antonia LloydJohns, Evanston/Illinois: Northwestern University Press 2003, S. 61.
6
Vgl. Ebd., S. 62.
7
Ebd., S. 63.
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»On the first night the Devil came to Kummernis in the form of an infant. When she stopped praying for a moment, she found a cradle by the wall, and in it a tiny child, whining helplessly. […] The devil tried to tear himself away, but he couldn’t, so he decided to change his shape again. But the force radiating from the breast of the saint was so powerful that it stupefied the Devil and weakened him. He realized that he was contending with a being as powerful as he, maybe even more powerful because of her union with the Lord.«8
An diesen Stellen scheint die detaillierte Inszenierung des unbekleideten jungfräulichen Körpers nicht zum religiösen Ritual zu passen, in dem Gott seine Macht und Anwesenheit spüren lässt und Wilgefortis mit bösen Mächten konfrontiert wird. Das erste Beispiel beschreibt die Verwandlung der Heiligen Kümmernis in eine Inkarnation Gottes, als ihr Vater sie in Gefangenschaft bringt. Ihre Sehnsucht nach einer Vereinigung mit Gott geht durch die Verleihung des Gottesgesichts in Erfüllung. In der zweiten zitierten Stelle versucht der Dämon, Wilgefortis durch Mutterschaft in ein normales Eheleben zurückzuziehen. Die mädchenhaften Brüste, eigentlich Attribute der Sanftmut und mütterlichen Liebe, werden hier als eine Waffe gegen die patriarchalische und dämonische Macht eingesetzt, als die Heilige in diesen zwei Szenen die herkömmliche Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter in der Gesellschaft ablehnt. Explizit androgyne Darstellungen, wie die Verbindung von Schnurrbart und Brüsten in diesem Fall, sind eher selten und deshalb besonders auffällig. Die Geschlechtsdifferenz polarisiert den Körper, wobei die weiblichen Züge von Wilgefortis deutliches Übergewicht gewinnen. Andreas Kraß verwendet das FramingModell des amerikanischen Soziologen Erving Goffman, um die Wirkung der heteronormativen Geschlechtsordnung in Kunstwerken zu analysieren. Der Schnurrbart als ein typisierter Signifikant von Männlichkeit, das auf einen eindeutig weiblichen Körper projiziert wird, erzeugt aber einen Effekt der Transitivität, sodass es für den Zuschauer sehr deutlich wird, dass es sich hier eigentlich um eine Frau handelt.9 Im Unterschied zur Verwischung von Grenzen in der Postmoderne wird hier eine klare Grenze zwischen der Opposition Mann/Frau gezogen, indem Weiblichkeit durch die Einsetzung eines männlichen Attributs gerade hervorgehoben wird. Die zwei gegensätzlichen Komponenten von Geschlechtlichkeit vereinigen sich in einem Leib und werden zu einem verdichteten Körperzeichen. Dieses Zei-
8
Ebd., S. 64.
9 Vgl. Kraß, Andreas: »Der Andy Warhol Code Framing/Queering, Original/Kopie, Krisch/Camp«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer Studies in Deutschland Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforchung, Berlin: Trafo Wissenschaftsverlag 2009, S. 167ff.
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chen findet sich später auf einem Gemälde im Nonnenkloster und verhilft der Figur zur Selbsterkennung. Im Folgenden soll die Wechselwirkung zwischen dem ostensiven Zeichen und der Identitätssuche des Hauptprotagonisten Paschalis auf einer anderen Erzählebene untersucht werden. Paschalis war vor seinem Rückzug ins Kloster der zweite Sohn einer großen Bauernfamilie, bevor Bruder Celestyn, der Schatzmeister im Kloster, ihm Fürsorge verspricht und ihn zu seinem Geliebten macht. »I like you, you have a true vocation for the monastic life, and that is rare in our turbulent, heretical times. Perhaps one day you will become an abbot. But for now I shall take care of you.«10
Halb freiwillig, halb gezwungen gerät er in eine homosexuelle Beziehung mit dem Bruder Celestyn, im Zuge derer er widersprüchliche Gefühle entwickelt. Celestyn ist für ihn wie ein Vater, ein Geliebter und ein Freund zugleich.11 Nachdem Celestyn verstorben ist, verfällt Paschalis’ aus zwei Gründen in Schuldgefühle. Er fühlt sich aufgrund seiner homosexuellen Beziehung mit Celestyn sündig, wenngleich dieser ihn immer wieder von der Reinheit ihrer Beziehung überzeugt; die zweite Ursache seines Schuldgefühls ist seine immer klarer werdende Sehnsucht, eine Frau zu sein, was nach der Meinung Celestyns durchaus eine Sünde ist. Dieser Komplex von Schulgefühlen verfolgt Paschalis. Angesichts dessen will er aus dem Kloster fliehen, um Erlösung aus seiner Existenzkrise zu finden. Die Gelegenheit dazu bekommt er, als er zum Nonnenkloster gesendet wird, nachdem er wegen eines schweren Fiebers ins Koma fällt. Im Nonnenkloster begegnet ihm die Priorin, die seiner Mutter ähnelt. Paschalis gesteht ihr seine Beziehung zu Celestyn und seinen Wunsch, eine Frau zu sein. Die Priorin versucht, ihn aus seinem Dilemma zu helfen und führt ihn zum Gemälde der Heiligen Kümmernis. Ihm fällt dann Folgendes auf: »The entire altar was a large oil painting of a cross with a body crucified upon it. [...] He couldn’t tear his gaze from the two smooth, white female breasts that, exposed by the figure’s outstretched arms, seemed to him the central point of the painting. But there was something more bizarre, something impossible to accept and Paschalis began to tremble – the female body on the cross was crowned with the face of Christ, a man with a youthful, reddish growth of beard.«12
10 O. Tokarczuk: House, S. 76. 11 Ebd., S. 79. 12 Ebd., S. 85, meine Hervorhebung.
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Diese Stelle erinnert an eine Passage in der parallelen Geschichte von der Kümmernis, nämlich an die Beschreibung der weißen, jungen Brüste, die hier im Zentrum eines Gemäldes stehen. In diesem Moment findet eine intuitive Projektion auf das Gemälde der Heiligen statt, auf das eine nächste Phase der Subjektivierung durch das ostensive Zeichen erfolgt. Er kann sich nicht von den weiblichen Merkmalen der Heiligen losreißen. Im Christentum ist die Vereinigung mit Gott – die »coincidentia oppositorum« – das große Ziel des gläubigen Menschen. Auf diesen ersten Blick nimmt Paschalis die Ikone der Heiligen jedoch nicht als menschliche Vereinigung mit Gott wahr, wie es vielleicht Gläubige oft tun würden. Dem transsexuellen Paschalis ist sehr wohl bewusst, dass es sich auf dem Gemälde um eine Frau handelt. Er sieht die Heilige in der Darstellung ihrer doppelten Geschlechtlichkeit als ein Ebenbild von sich selbst an. Er selbst ist zugleich Frau und androgynes Wesen. »His teeth were shattering, not because of the early morning chill, but from the apprehension that he was kneeling before a creature like himself, similar to him in some way, although it was patently unnatural. The eyes of Christ gazed at him meekly and with a sadness that could only be the flip side of love. […] ›It’s a woman‹, said Paschalis quitely.«13
Während die Frau in der Trinität von der christlichen Kirche ausgeschlossen wird, lässt das Syzygiemotiv des Mann-Weiblichen sich auf die Ikone der Heiligen projizieren. Die Gottheit erscheint im Roman doppelt, als Jesus Christus und als die Jungfrau zugleich. Somit vertritt die Kümmernis ein Götterpaar, 14 das zugleich eine Wiederherstellung der platonischen Vollkommenheit suggeriert. Dies fasst auch die Möglichkeit der Integration des Körperlichen in der christlichen Kirche in den Blick: Die Kümmernis am Kreuz kann als ein zweigeschlechtlicher Hermaphrodit verstanden werden, die eine Brücke über die Kluft zwischen dem Männlichen und Weiblichen wie auch dem Göttlichen und Irdischen schlägt. Dieses ostensive Zeichen ist deshalb ein sakrales Zeichen 15 im Sinne von Gans, in 13 Ebd., S. 85. 14 Siehe C. G. Jung Archetypen, S. 65. Das Götterpaar ist eng mit den Elternimagines assoziiert, da nach Jung »die Beziehung zu den Eltern als die eigentliche Ursache für die Entstehung religiöser Ideen überhaupt« angesehen werden kann. 15 Siehe auch E. Gans: Signs of Paradox, S. 24. Das Sakrale entsteht nach Gans in dem Moment, wenn der Urmensch das Objekt nicht mehr repräsentiert, sondern das repräsentierende Zeichen bzw. die Geste der Repräsentation vom Mittler imitiert (vgl. 3.2). Nun wird das Ding so wahrgenommen, dass es den Zugang zum imitierten Zeichen erschwert.
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dem das Objekt (d.h. Brüste der Jungfrau) so wahrgenommen wird, dass es den Zugang zum Zeichen erschwert. Die sinnlichen Brüste der Jungfrau im Mittelpunkt, die dem Mönch zunächst ungewöhnlich und bizarr vorkommen und somit die Wahrnehmung des Göttlichen verhindern, werden zuletzt Anlass seiner Selbstfindung. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Erläuterung des ostensiven Zeichens für die Interpretation der oben genannten Textstelle hilfreich. Das ostensive Zeichen stellt sich sowohl in der Legende der Heiligen als auch in Paschalis’ Geschichte als ein transzendentes Zentrum heraus. Es lassen sich dabei zwei unterschiedliche Funktionen dieses Zentrums erkennen: eine subversive, durch welche die mittelalterliche, patriarchalische Ordnung von der femininen Macht herausgefordert wird; des Weiteren eine eher konstruktive, durch welche sich eine Projektionsfläche für Geschlechtsrandgänger entfaltet und die Barriere zum Göttlichen für sie aufhebt. Mit Rückgriff auf das ostensive Körperzeichen der Jungfrau findet im Roman eine Identifizierung des Protagonisten mit der hermaphroditischen Heiligen statt. Im folgenden Kapitel möchte ich mehrere Textstellen genau untersuchen, die als Außenrahmen fungieren und dabei in Einklang mit dem inneren, semiotischen Rahmen stehen. Diese Rahmenbildung ermöglicht einen Vollzug des Transzendenzstrebens der Figur Paschalis. 7.1.3 Der Außenrahmen und die Erzielung der Einheit Wie bereits ausgeführt, bildet Transzendenz ein wichtiges Moment, in dem ein performatistischer Held den ihn bestimmenden Rahmen überwindet. Darin liegt ein wesentliches Kriterium für die epochale Zuordnung eines Werkes. »Wird das Transzendenzstreben eines Helden als Betrug entlarvt oder nachhaltig ironisiert, so befindet man sich noch im sattsam bekannten Modus der Postmoderne.« 16 Entscheidend für den Performatismus ist, ob der äußere Rahmen sich mit dem inneren semiotischen Rahmen verbindlich verknüpfen kann. Der äußere Rahmen, der formal wie auch inhaltlich gefasst werden kann, geht auf Auktorialität oder einen theistisch angelegten Plot zurück. 17 Es ist eine Aufgabe der Protagonisten, »to transcend the frame and return to unify with the creator by imitating his perfection in some particular way.«18 Im Folgenden wird untersucht, welche Plots im Roman als äußere Rahmen angesehen werden können. 16 R. Eshelman: Der Performatismus, S. 54. 17 Unter Theismus versteht Eshelman den Glauben, dass es einen persönlichen Schöpfergott außerhalb der Welt gibt, der über die unterlegenen Menschen herrscht (vgl. R. Eshelman: Performatism, S. 13f). 18 R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 13.
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Sowohl die Ich-Erzählerin als auch die Heilige Kümmernis in ihrer Geschichte vermitteln eine ganzheitliche Sicht auf ihre Welt. Die auktoriale Ich-Erzählerin fasst am Anfang des Buches das Dorf im Grenzgebiet aus der Vogelperspektive in den Blick. »The first night I had a dream. I dreamed I was pure sight, without a body or a name. I was suspended high above the valley at some undefined point from which I could see everything [...] Under the roof of the house I could see the bodies of people asleep, and their stillness, too, was only superficial – their hearts were beating gently, their blood was rippling in their veins, I could even see their dreams, fragments of images flashing inside their heads.«19
Die Erzählerin scheint imstande zu sein, sich zwischen Traum und Wirklichkeit zu bewegen, sich der Geschichte des Ortes und der Landschaft unmittelbar anzunähern und unbegrenzt über Raum und Zeit zu verfügen. 20 Sie sammelt Träume, durch die einzelne Leute miteinander in Berührung kommen. »The group of people I joined on the internet have shown me that nothing connects us in the same way as dreams. We all dream the same things in a peculiarly similar, muddled way. These dreams are both our personal property, and everyone else’s.«21
Diese Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin aus einer geradezu übermenschlichen Höhe beginnen im Sommer und enden im Spätherbst. Immer wieder kehrt sie zum Haus in der Nähe der Grenze zu Tschechien zurück, das zum zentralen Ort für die Erzählung wird. Das von der Ich-Erzählerin vermittelte Bild von träumenden Menschen taucht in der Geschichte der Heiligen wieder auf. Die Legende von der Heiligen Kümmernis auf einer intradiegetischen Ebene ist ein Schnittpunkt vieler kleiner Geschichten, die im polnisch-deutschen und tschechischen Grenzgebiet (Nowa Ruda) spielen. In diesen Geschichten kommen mythologische, historische und persönliche Dispositionen zusammen, und der Komplex von Sprache, Konfession und Nation schreibt sich in die Innenwelt der Menschen ein. Die dort lebenden kleinen Leute, die andauernd von finsterem Wetter und schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht werden, empfinden den alten Heiligenkult als eine Erlösung für ihrer Existenzproblematik. Auf der Basis der Geschichte der Heiligen Kümmernis bildet sich ein Zentrum heraus. Die Heilige erzählt auf einer Binnenebene im Roman
19 O. Tokarczuk: House, S. 1. 20 Ebd., S. 1f. 21 Ebd., S. 89.
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als Ich-Erzählerin von einer außerkörperlichen Erfahrung vom Gericht Gottes am Rand der Welt: »After a while, from an even greater height, I saw the whole world; it was slightly convex and steeped in darkness; only from somewhere beyond its limits did long rays of sunlight illuminate it, casting black shadows into the darkness. [...] And as soon as I thought about the light, I saw it – at first it was pale as a narcissus, weak as mist, but it began to grow steadily stronger and I was afraid I would be blinded by it. I realized that this must be heaven and God. […] I realized that it was Judgement Day and the angels were already starting to scroll up the furthest edges of the world, as if they were the fringes of an enormous carpet. […] Some people were already waking up, rubbing their eyes and staring into the sky.«22
Die Kümmernis vermittelt ihre eigenartige Vision als Umkehrung von Traum und Realität. Ihr wird dann bewusst, dass sie »destined to witness the end« ist und somit dem Jüngsten Gericht beiwohnen soll. Manche Menschen leben nach Ansicht der Heiligen Kümmernis eigentlich in ihren Träumen. Wenn sie daraus erwachen, müssen sie ihren Tod ins Auge fassen, welcher das Ende des Traums kennzeichnet. Das Aufwachen aus einem Traum bedeutet auch den Beginn des eigentlichen Lebens. »And I realized that our Judgement will be an awakening, for throughout our lives we are just dreaming, imagine that we are alive. [...] we do not know what we shall awaken to – hell fire or eternal life in the light.«23 »[O]ur World is populated by the sleeping, who have died and are dreaming that they are alive. That is why there are more and more people in the world, for it is populated by the sleeping dead who keep growing in number, while the real people living for the first time are few. In all this confusion none of us knows or can possibly know if he is someone who is only dreaming life, or really living it.«24
In dieser Konzeption fungiert die Grenze von Traum und Wirklichkeit als eine Begrenzung, die die Träumenden von den wirklich Lebenden unterscheidet. Die Träumenden müssen irgendwann über diese Grenze hinausgehen und sich dem Jüngsten Gericht stellen.
22 Ebd., S.135f. 23 Ebd., S.137. 24 Ebd. 137f.
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7.1.3 Transzendenz: Ausbruch aus der begrenzten Existenz Im Roman wird ein dingliches Zeichen vom jungfräulichen Körper in Szene gesetzt, das Paschalis zur Subjektivierung treibt. Statt der erzwungenen kognitiven Unterwerfung unter patriarchalische und heteronormative Normen tritt nun der Glaube bzw. eine gefühlsmäßige Identifizierung mit Kümmernis an diese Stelle. Paschalis lässt sich nicht kognitiv überzeugen, sondern verfolgt dieses Zeichen intuitiv. Das Subjekt konstruiert sich durch eine Performanz, in der es sich auf zwei verschiedene Weisen zur Identifikationsfigur anderer Subjekte erhebt. »This identification can appear in a multitude of guises, but the structure of the ostensive scene suggests two basic possibilities: the subject can be involved in a sacrificial act that transcends the narrow frame of the self and invites emulation by others, or the subject can transcend itself and enter into the reconciliatory amatory, or erotic relationship with another subject who reciprocates that move in some way. This singular, identificatory performance, in turn, invites others to emulate it at a later point in time and under different circumstances.«25
Im Folgenden wird untersucht, wie Paschalis durch den Vollzug einer Performanz sich und den ihm auferlegten normativen Rahmen überwindet. Drei Mal versucht er, aus Beschränkungen auszubrechen, die in jeder Lebensstufe wechselnde Prioritäten beanspruchen. Er wurde als Mann geboren und unterliegt im Kloster dem Patriarchat. Celestyn, der im Roman eine diskursive Autorität innehat, scheint der einzige zu sein, bei dem Paschalis über seine ungewöhnliche sexuelle Neigung Erkundigungen einziehen kann. Paschalis’ Vorstellung, eine Frau zu sein, hat ihn so entzückt, dass er sein eigenes sexuelles Dasein hinterfragt. 26 Aber Bruder Celestyns tiefe Verachtung für Frauen und den weiblichen Körper versetzen ihn ständig in Aufruhr. Als er Celestyn offenbart, dass er lieber eine Frau wäre, empört Celestyn sich darüber mit einer misogynen Aussage: »We should regard being a woman as a kind of deformity, although this deformity is a part of nature.«27 Somit geht Celestyn seiner eigentlichen Schuld aus dem Weg, indem er behauptet, dass eine homosexuelle Beziehung im Kloster nicht sündiger als der Geschlechtsverkehr mit einer Frau sei.28
25 R. Eshelman: Performatism, S. 9. 26 O. Tokarczuk: House, S. 77. 27 Ebd., S. 77. 28 Ebd., S. 78.
128 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »One day Paschalis asked the wise Brother Celestyn about sin. ›Tell me, is this a mortal sin? Surely we’re not only breaking our vows of chastity, but also the laws of nature...‹ ›What would you know about nature?‹ said Celestyn angrily and sat up in bed, lowering his bare feet to the cold stone floor. […] ›All the great philosophers and fathers of the Church have said that woman is the source of all evil, it was because of her that Adam committed the original sin, and because of her Our Lord died on the cross. She was created for temptation, but foolish are those who succumb to her. Remember that the body of a woman is a sack of dung and each month nature herself reminds us of this by staining her with unclean blood.‹«29
Von ihm hört er, dass der Geschlechtsverkehr mit dem unreinen weiblichen Körper eine Sünde sei. Die gleichgeschlechtliche Beziehung zu Paschalis sei jedoch keine Sünde. Hinzu kommt, dass Paschalis sich als männlicher Priester in der oberen Schicht der Gesellschaftshierarchie befindet und ihm so nach seiner Logik Herrschaft über das verachtete weibliche Geschlecht zusteht. Gegenüber dieser religiösen Autorität verspürt Paschalis immer mehr Schuldgefühle30 und unterdrückt seine als Frau identifizierte Seite. Aus der Befürchtung, eine Sünde zu begehen, verliert Paschalis seine Handlungsfähigkeit. Aber je mehr er von dieser Furcht besessen wird, desto weniger ist er imstande, über die misogynen Aussagen von Celestyn nachzudenken oder sich gegen diese zu wenden. Die Besonderheit des Gemäldes von der Kümmernis kann er zunächst nicht zur Sprache bringen. Aber er kann nicht leugnen, dass in seiner Wahrnehmung in ihren Brüsten etwas Triebhaftes steckt. »Gradually the saint’s fair, naked breasts started to arouse desire in ihm. He dreamed of nestling his face between them. Sometimes he dreamed of something more painful too, something to do with Celestyn, which he knew to be sinful and forbidden, and he would test out these fantasies on himself at night, cuddling up to the coarse blanket and investigating his own hesitant body.« 31
29 Ebd., S. 77. 30 Butler stellt heraus, weshalb das Individuum durch die Annahme von Schuld und Gewissen Identität gewinnt. Das Gewissen hängt von der Rückwendung bzw. der Selbstreflexion des Subjekts ab. Die Stimmen der gesetzlichen, religiösen und ideologischen Autoritäten äußern sich insbesondere durch das Verbot und das Tabu. Der Eintritt des Subjekts in die Sprache bedeutet in gleicher Weise die Übernahme von Schuld. Mit dem Fokus auf das Gegenspiel von Schuld und Gewissen geht Butler der Funktion der Diskurse in der Subjektbildung nach (vgl. 2001: 11 u. 109). 31 O. Tokarczuk: House, S. 102.
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Die Anerkennung seines Begehrens steht immer im Kontrast zur Annäherung an die Göttlichkeit. So tritt er in eine weitere Entwicklungsstufe ein, in der er sich mit seinem eigenen Begehren konfrontieren muss. Durch das Niederschreiben der Biographie der Kümmernis in einem abgelegenen Studio vollendet Paschalis schrittweise ein individuelles Gottesbild. Dieses löst sich von jenem Gottesverständnis und damit verbundenen Heiligenbild ab, das der durch die Kirche vermittelten Darstellungsnorm von Heiligen entspricht. Statt dass wie in der kirchlichen Darstellung den Heiligen lediglich eine geistige und heroische Befolgung christlicher Tugenden nachgesagt wird, wird die Kümmernis eher sinnlich und zugleich göttlich dargestellt. Paschalis sehnt sich nach Rom, um den Papst dort seine angefertigte Biographie der Kümmernis begutachten zu lassen. Ihm liegt viel an einer Anerkennung seiner weiblichen Seite durch den Papst. Danach will er wieder zum Nonnenkloster zurückkehren und ein religiöses Leben führen. »That evening Paschalis imagined the scene in Rome in detail. The Pope – who now resembles Celestyn – is moved by his work and his long journey. He lays his hand on Paschalis’s head, for which the bishops and kings envy the young monk. Then he turns to all those rulers, rich men and commoners gathered at his court and declares: Henceforth Paschalis is a woman! On the return Jouney Paschalis’s body changes at every mile. His breasts grow, his skin becomes smooth, and finally one night his male genitalia vanish irretrievably, as if pulled out by the roots. All that is left is an opening that leads mysteriously into the depths of his body.«32
Paschalis macht sich auf die Suche nach der Anerkennung der Heiligen und somit indirekt auch seinem eigenen Frau-Sein. Er geht zunächst nach Glatz, um dort seine Manuskripte über die Heilige begutachten zu lassen. Im Vergleich zum sublimierten Märtyrertod in der Tradition der christlichen weiblichen Heiligen, scheint dem Bischof in Glatz die Zusammenstellung des nackten jungfräulichen Körpers mit dem Gottesgesicht hier absurd und unangemessen. Für die Reinheit der Religion und gegen die Tendenzen zu Säkularisierung oder gar Personalisierung der religiösen Ikone setzt sich der Bischof mit Entschlossenheit ein: »People have lost their fear of God and seem to think they can dictate the conditions to God themselves and drag the faith into their own earthly, human complaints.« 33 Der Bischof weist Paschalis’ Bitte um Anerkennung zurück, ohne jedoch den eigentlichen Grund dafür zu eröffnen: Ihn beunruhigt die explizite Sinnlichkeit der jungfräulichen Büste. 32 Ebd., S. 105. 33 Ebd., S. 169.
130 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »›But there is something unhealthy, I would say sacrilegious, in this naked body on the cross. The cross brings to the mind the Saviour, the Son of God. But here are naked breasts, the face of Our Lord above naked breasts.‹« 34
Nachdem der Bischof die Anerkennung der Heiligen Kümmernis abgelehnt hat, scheitert Paschalis’ Selbstsuche insofern, als die Anerkennung seines Frau-Seins ebenso unmöglich ist. Wenngleich seine weibliche Seite nicht von der religiösen Autorität anerkannt wird, sind zwei weibliche Figuren davon fest überzeugt: Vor seiner Reise findet die alte Priorin, dass Paschalis nun wie ein Mädchen aussieht, und würde ihn als Tochter adoptieren, wenn sie keine Priorin wäre, sondern ein weltliches Leben führen würde. Die Prostituierte Katka, die inzwischen mit ihm befreundet ist, hält ihn für eine hübsche Frau und versucht, ihn weiblich zu kleiden. Paschalis trottet später durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin er will. Es scheint keinen Ort für eine verwirrte Seele zu geben, die sich in ihrem eigenen Körper nicht wohlfühlen kann. Zuletzt schließt sich Paschalis an die eigenartige Vision des Jüngsten Gerichts von Kümmernis an und fragt sich, ob er »verkehrt« erschaffen wurde und deswegen ein Ausgestoßener sei oder ob er nur in den Augen der Menschen verkehrt sei, aber nicht vor Gott. »He realized that he must create himself over again, this time out of nothing, because what he had been until now was based on the one single misgiving that he had not been created properly, or perhaps that he had been created in such a makeshift way that he must destroy himself and arise again.«35
Auf diese Frage bietet der Roman zwar keine konkrete Antwort an, aber der Leser lässt sich von der Handlung weiter führen und kann daraus eigene Schlussfolgerungen ziehen. Im Roman werden nämlich zwei Schlussversionen zur Auswahl gestellt. Eine offizielle Version archiviert den Suizid Paschalis’. Da er seine Erlösung nicht mehr in der immanenten Welt findet, muss er auf seinen materiellen Körper verzichten. Dieser war ein Hindernis auf seinem Weg zum Göttlichen, nur wenn er ihn aufgibt, kann er sich Gott annähern. Wie die gekreuzigte Kümmernis wünscht er sich das Jüngste Gericht, um aus seinem Traum zu erwachen und die Widersprüchlichkeit der Schöpfung Gottes zu entschlüsseln. »If He wants us to find peace, he thought, if He wants us to withdraw from the world and to elevate our souls to a spiritual, rather than a material plane, if He opens the gates of eternal
34 Ebd., S. 170. 35 Ebd., S. 225.
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life before us, if He allows His Son to die and found sense in it, and if death is the most perfect peace, then indeed it must be the most divine of all God’s creations.«36
Sein Selbstmord stellt sich als ein Akt der Selbstaufopferung heraus, denn »[…] a person can offer nothing dearer to God than his own death.«37 Darüber hinaus erscheint sein Selbstmord als geradezu logisch zwingendes Resultat seiner Identifikation mit Kümmernis. Hierbei handelt es sich natürlich um eine umstrittene Interpretation von Selbstmord, da dieser im christlichen Kontext eine schwere Sünde gegenüber Gott ist. Die andere Version stammt von einem Professor von Goetzen, einem Abkömmling preußischer Adeliger, der im Zuge einer wissenschaftlichen Untersuchung ebenfalls auf die Spur der Heiligen Kümmernis kam. Allerdings zeichnet er in seiner Version keinen Selbstmord von Paschalis auf. Der Leser, der von Paschalis’ Überzeugung inspiriert und berührt ist, wird sicherlich der zweiten Version gegenüber der ersten den Vorzug geben. Die Gültigkeit der zweiten Version wird von einer auktorialen Stimme bestätigt: »There is nothing about Paschalis’s death in this version, but how could there be? The person telling the story is always alive, in a way immortal – he’s beyond the reach of time.«38 Paschalis, dessen Niederschrift der Kümmernis andere Personen zur Inspiration, zum Nachdenken und zur Erlösung bringt, wird als Geschichtsschreiber verewigt und ist zeitlos. In dieser Hinsicht trägt er zur »Perfektion der Welt als Ganzes« bei.39
7.2 D UBRAVKA UGREŠIĆ: B ABA J AGA LEGT
EIN
E I (2008)
Die Autorin Dubravka Ugrešić40 wurde im ehemaligen Jugoslawien in Kroatien geboren. Sie studierte Komparatistik und russische Sprache und Literatur an der Universität Zagreb und lehrte anschließend dort Literaturtheorie. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1991 nahm sie eine anti-nationalistische Haltung an und schrieb über den kroatischen und serbischen Nationalismus und die Kriminalität des Krieges. Aufgrund anhaltender medialer Anfeindungen verließ sie ihre
36 Ebd., S. 227. 37 Ebd., S. 227. 38 Ebd., S. 228. 39 R. Eshelman: Performatism, S. 18. 40 Biographische Informationen werden aus dem Englischen von Dubravka Ugrešićs’ Homepage übersetzt.
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Heimat im Jahr 1993. Sie verfolgt heute erfolgreich parallele Karrieren als Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Dubravka Ugrešić war bereits im ehemaligen Jugoslawien für ihre Romane und Kurzgeschichten bekannt, zu denen unter anderen Pose for Prose (Poza za prozu, 1978) und Steffie Speck in the Jaws of Life (Stefica Cvek u raljama Zivota, 1981) gehören. Für ihren Roman Fording the Stream of Conciousness (Forsiranje romana Reke, 1988) erhielt Ugrešić als erste Frau den NIN-Preis für den besten Roman des Jahres. In Dubravka Ugrešićs Roman Baba Jaga legt ein Ei geht es um die böse und hässliche Greisin Baba Jaga, die zu den ältesten archetypischen Bildern in der Geschichte der Menschheit gehört. Im slawischen Kulturraum ist der Mythos von Baba Jaga tief verwurzelt. Sie stellt in osteuropäischen Mythen ein zweigeschlechtliches Wesen dar. Ugrešićs Roman ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil befasst sich mit der autobiographisch angelegten Geschichte einer kroatischen Schriftstellerin, die in Zagreb ihre altersschwache Mutter versorgt. Daran anschließend beginnt der Hauptteil des Buches, eine Novelle in sechs Teilen. In der Novelle steht die Figur Baba Jaga im Zentrum; sie wird von drei unfruchtbaren alten Frauen Pupa, Beba und Kukla in der Wirklichkeit verkörpert. Der Leser erfährt dann im dritten Teil des Buches mit dem Titel »Baba Jaga für Anfänger« Details über Geschichte und Quellen dieser mythischen Gestalt. In diesem Teil wird ein Forschungsbericht über die gesellschaftlichen, kulturellen und mythologischen Ursprünge von Baba Jaga präsentiert. Die Verbindung mit den zwei vorhergehenden Teilen wird in diesem Sachtext durch die Figur der Dozentin Dr. Aba Bagay hergestellt, die eine für den Leser erkennbare Parallele zu einer Figur aus dem ersten Teil darstellt, nämlich der Slawistikstudentin Aba. 7.2.1 Baba Jaga in slawischen Mythologien Im dritten Teil »Wer viel weiß, wird bald alt« lässt die Wissenschaftlerin Dr. Bagay, die als Freundin der Familie schon im ersten Teil auftaucht, den Leser an der Lehrstunde »Baba Jaga für Anfänger« teilnehmen. Sie stellt ein Profil von Baba Jaga zusammen und weist auf zahlreiche Forschungsquellen hin, die die Vielfalt dieser Gestalt in der slawischen Mythologie umfassen. In kleinen Kapiteln und daran anschließenden Anmerkungen liefert sie eine interessante, durch zahlreiche Märchenzitate gespickte Analyse der Baba Jaga. An dieser Stelle möchte ich diese Informationen zur Gestalt Baba Jagas grob zusammenfassen, um ein gutes Verständnis der Analyse vom Hauptteil des Romans im vorliegenden Kapitel zu gewährleisten.
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Dr. Aba Bagay filtert die folkloristischen Ursprünge der Baba Jaga aus slawischen Märchen heraus. Ihre ursprüngliche Position einer abgewerteten Muttergöttin lässt sich in allen Kulturen finden. Ob als Mutter Erde, als Totengöttin oder als Herrscherin über Vögel, Baba Jaga nimmt vorwiegend weibliche Züge an. Überdies ist sie ein anthropomorphes Wesen, eine Zauberin, die für Übelkeit, Schaudern, Albtraum und Krankheit steht. Darüber hinaus ist sie »die Herrscherin über die Waldtierwelt und das Totenreich sowie die Priesterin der Irritation«41. Baba Jaga kann man sich daher als eine hybridisierte Gestalt mit ambivalentem Geschlecht vorstellen. Im slawischen Sprachraum wie auch in vielen anderen Sprachen heißt »Baba« Oma und alte Frau oder bezeichnet ein älteres männliches Familienmitglied, ist also auf zwei Geschlechter übertragbar.42 Als mythologische Gestalt einer geschlechtlich ambivalenten Hexe ist Baba Jaga daher sehr häufig eine hässliche und diskriminierte Figur. 43 Als Rivalin der slawischen Göttin Mokosch verwandelt sich Baba Jaga in einen Androgyn, der dann zur Göttin der Vögel und Schlangen mutiert. Baba Jagas Gestalt ist insofern für das Thema Geschlechtlichkeit von Relevanz, als ihr oft die Rolle einer Vermittlerin zwischen den Geschlechtern zufällt. Sie ist weder Mann noch Frau, kann aber als Projektionsfläche beider Geschlechter dienen. 44 Insgesamt ist Baba Jaga in der Lage, menschliche Schicksale zu manipulieren. Als Göttin kann sie sowohl die Menschenwelt als auch die Tierwelt beherrschen. Sie ist weder gut noch schlecht, geistert durch die zwei Welten Leben und Tod und verfügt über übernatürliche Kräfte. In der vorliegenden Analyse des Hauptteils werden Hinweise aus Dr. Aba Bagays Forschungsbeitrag herangezogen, die an späterer Stelle für die Textinterpretation von Interesse sein werden. 7.2.2 Die Kausalität der Ereigniskette: Personenkonstellation im Grand Hotel N. Dieser Hauptteil »in sechs Tagen« (inkl. Epilog), der wie ein Roman angelegt ist, ist der längste Teil und das Kernstück des Buches. Ein geldgieriger und reicher amerikanischer Unternehmer, ein verrückter Arzt und seine beiden Gehilfinnen, ein pensionierter Rechtsanwalt und ein Masseur sind die menschlichen Vertreter des mythologischen Umfelds der Baba Jaga, die hier in Gestalt von Pupa, Beba
41 Ugrešić, Dubravka: Baba Jaga liegt ein Ei, übers. aus dem Kroat. v. Mirjana/Klaus Wittmann, Berlin: Berlin Verlag 2008, S.265. 42 Vgl. Ebd., S. 259 ff. 43 Ebd., S. 273. 44 Ebd., S. 296.
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und Kukla erscheint. Das Hotel N. ist ein minimales Abbild der Wirklichkeit. In diesem Kapitel wird also gezeigt, wie die typisierten Vertreter im Bereich von Wissenschaft und Wirtschaft die älteren Frauen zu Außenseitern in der Jugend verehrenden Gesellschaft machen und dieses Außenseitertum wiederum ausnutzen und davon profitieren. Am ersten Tag fahren die drei Freundinnen von Zagreb aus gemeinsam in ein tschechisches Kurbad. Sie verabreden sich im Hotel N. und checken ein, ohne das Abreisedaten einzutragen. Ihre Absicht hinter dem Aufenthalt bleibt unbekannt. Bei Pupa im Rollstuhl ist »nur schwer ein menschliches Wesen zu erkennen«, aber »ihre blauen Augen strahlten einen lebhaften Glanz aus«. Kukla hält sich für ihr Alter sehr aufrecht und ist groß gewachsen. Im Verhältnis zu ihrer kleinen Körpergröße hat Beba üppige, auffällige Brüste, von denen sie mit goldenen Schmuckstücken abzulenken versucht. Der Empfangschef Pavel Zunas hält sich für besonders begabt und glaubt, sofort erkennen zu können, zu welcher sozialen Schicht ein Mensch gehört. Ihm fällt auf den ersten Blick etwas Sonderbares an den drei älteren Gästen auf, das seiner Einschätzung widerspricht: Sie haben zwei der teuersten Suites im Hotel reserviert, ohne jedoch mit Kreditkarte zu bezahlen. Er weiß nicht, dass die drei Frauen keine Rückreise planen und auch nicht, dass sie gar nicht beabsichtigen, für das Hotelzimmer zahlen. Der Grund dafür wird an sechs aufeinander folgenden Tagen enthüllt, in denen das Schicksal der drei Frauen sich zeigt.45 Ebenfalls zu Gast im Hotel ist der Amerikaner Mr. Shake, ein Geschäftsmann, der in jeder Situation nur seinen Profit sucht. Er gehört »zu den unzähligen Stars und Sternchen, Künstlern und Künstlerinnen, Popsängern und sängerinnen, Nebelverkäufern und Schwindlern, zu jenen Gurus, die uns tagtäglich ein X für ein U vormachen, zu jenen Propheten, Betrügern und »Designern« unseres Lebens, in deren Gewalt wir uns freiwillig begeben.«46
Seine aktuelle Beschäftigung ist es, Produkte zu verkaufen, mit denen er seine Kunden davon zu überzeugen versucht, dass sie »eine Metamorphose vom Frosch zum Prinz«47erleben können. Genauer gesagt, der Körper soll durch seine Produkte dem Schönheitsideal gemäß geformt werden. »Die Werbesprüche für seine Produkte enthielten Ausdrücke wie nutrition, transformation, form, re-reform, shape, re-shape, model, remodel, tone and tighten und suggerierten damit, 45 Vgl. D. Ugrešić: Baba Jaga, S. 93f. 46 Ebd., S.101f. 47 Ebd., S. 101.
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der menschliche Körper sei ein Haufen Legosteine und könne also zum liebsten Spielzeug seines Besitzers werden [Herv. i.O.].«48
Der Körper ist für Shake der letzte Zufluchtsort nach dem Untergang aller Ideologie, auf den Menschen ihre Wünsche, Träume und Sehnsüchte projizieren können. Außerdem bildet dieser die einzige Projektionsfläche der menschlichen Obsession, die man scheinbar selbst kontrollieren und formen kann. Mit den fantasievollen Namen für seine Produkte gelingt es Mr Shake, die Vorstellungskraft eines jeden im Roman anzuregen. Um sein Imperium zu erweitern, möchte er den attraktiven Masseur des hoteleigenen Wellnesscenters als Werbefigur gewinnen. Dieses ideale »Maskottchen« stimmt mit seiner Werbekampagne des postkommunistischen Markts dermaßen überein, dass er den festen Plan hat, aus ihm einen Superstar zu machen. »Ebendeshalb war er hier, er hoffte, mit einem Schlag mehrere Fliegen zu treffen: seine Nerven zu beruhigen und nebenbei den postkommunistischen Markt zu sondieren; zu prüfen, ob er hier Chancen hatte, und wenn ja, die vom Bier benebelten, vom Rauchen vergilbten und vom Alkohol aufgedunsenen ›Ostler‹ dazu zu bringen, ihre Körper marktkompatibel zu gestalten.«49
Shakes Unzufriedenheit richtet sich auf seine übergewichtige Tochter, da er sie als nicht passend für eine Welt ansieht, in der »das geringste Übergewicht«50 über den Lebensweg entscheidet. Die veralteten und übergewichtigen »Fremdkörper« sind der Welt nicht mehr angehörig, wenn sie sich nicht in schöne, junge Körper verwandeln können. Da er soviel Wert auf eine schöne Figur legt, träumt er bei der Begegnung mit der großen schlanken Kukla sofort von einem Zusammenleben mit ihr. Das Wellnesscenter, der höchste Punkt der Hierarchie im Grand Hotel N., wird von Dr. Topolanek regiert. Er weiß genau, wie man »in dem allgemeinen Übergangsgerangel auch ein Stück vom Kuchen« ergattert. Nach der samtenen Revolution sieht er in den von Armut heimgesuchten Russen seine Chance, neue »Okkupation mit Geldschein« zu betreiben.51 Auch das Versprechen an seine potenziellen Kunden, ihr Leben zu verlängern, macht ihn reich. Darum gelingt es ihm, »weitaus größere Einnahmen als das Hotel« zu erzielen.
48 Ebd., S. 102f. 49 Ebd., S. 104. 50 Ebd., S. 160. 51 Ebd., S. 108.
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Das ganze Geschehen wird von Arnoš Kozeny, einem Rechtsanwalt im Ruhestand, beobachtet. Für Kozeny ist das Grand Hotel N. eine Metapher für menschliche Kommunikation, in dem jede Geste, jede Bewegung und jedes Symbol auf bestimmte Art und Weise zusammenhängen. Zudem ist sein Hotelzimmer ein Schauplatz, an dem sich Geschichte abspielt. Er stellt im Roman eine der Gottesfiguren im Hotel dar, da er die Geschichte und Motivation der Gäste im Hotel entschlüsseln kann. Mittlerweile steht er in einer sehr nahen Beziehung zu den drei Greisinnen. Pupa, die älteste Baba Jaga in der Novelle, taucht bereits im ersten Teil des Buches als Nebenfigur auf. Sie ist eng mit der Mutter der Schriftstellerin befreundet. Halbblind sieht sie »die Welt nur noch in vagen Umrissen«. Der große Pelzstiefel, den sie als Fußwärmer verwendet, ist inzwischen »mit ihr zusammengewachsen« und ist zur »natürlichen Fortsetzung ihres Körpers« 52 geworden. Sie lebt hartnäckig allein, ohne zu ihrer Tochter oder in ein Altenheim ziehen zu wollen. In der Novelle plant Pupa vor der Reise ins Grand Hotel N. einen Selbstmord, in dem sie »wohlriechend und fein«53 sterben kann. Sie hinterlässt ihren zwei Freundinnen Beba und Kulka all ihr Erbe. »Die alte Hexe«, wie sie immer genannt wird, legt letztendlich »goldene Eier«54 für ihre Freunde, die Großzügigkeit symbolisieren. Pupa spielt Schicksal mit ihren zwei alten Freundinnen, indem sie durch ihren kalkulierten Plan deren Leben in eine positive Richtung lenken möchte. Durch ihre Performanz vermittelt sie Liebe und Toleranz. Somit vollendet sich ihr Leben in Frieden und Erfüllung. Pupa ist diejenige, die ein durchdachtes Kammerspiel arrangiert, in dem jede Figur sich in die kausale Kette der Ereignisse einfügt. Jede Figur, die am ersten Tag der Reise auftaucht und in diesem Kapitel geschildert wird, fungiert als Schlüsselperson für einen Erzählstrang, der letztendlich zu einer gelungenen Performanz Pupas beiträgt. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Handlungsstränge unter dieser Rahmenbildung zusammenhängen und sich abspielen.
52 Ebd., S. 27. 53 Ebd., S. 237. 54 Ebd., S. 220.
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7.2.3 Die Hexe55 Baba Jaga als Randgängerin Pupa, eine 88-jährige Greisin, zieht es vor, alleine zu altern, ohne ihrer einzigen Tochter ihren prekären Gesundheitszustand mitzuteilen. Während des Aufenthalts im Grand Hotel N. verbringt Pupa die meiste Zeit dösend in ihrem Rollstuhl und öffnet ihre Augen nur, um »die Lage zu prüfen«56. Pupa stirbt am Beckenrand eines Pools, als sie entdeckt wird wirkt sie, als sei sie nur eingeschlafen. Es wird im Roman nicht verraten, ob sie sich selbst das Leben genommen hat oder wegen eines Unfalls ums Leben gekommen ist. Allerdings wird ihr Wunsch, friedlich zu sterben, erfüllt. Mittels einer obszönen Geste gibt sie im Todesmoment ein letztes Zeichen, dessen Bedeutung es für ihre Freunde und den Leser zu entschlüsseln gilt. »Auch die erhobene rechte Hand mit dem eindeutig unanständigen Zeichen blieb in der Stellung, in der Pupa von der Liege in der Form eines waagerechten S aus den letzten Gruß an ihre Freundinnen oder an die Welt, wer weiß das schon, geschickt hatte.«57
Im Buch ist an dieser Stelle noch nicht klar, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Es wird die Vermutung aufgestellt, dass Pupa auf der Suche nach einem der beiden silbernen Ohrringe, die sie von ihrem Sohn Aron geschenkt bekam, im Pool ertrunken ist. Im Fortgang der Handlung kommt die Lebensgeschichte von Pupa langsam ans Licht. Beba bricht in der Badewanne des Hotelzimmers in Tränen aus, als sie ihren Erinnerungen nachgeht: sie denkt an ihr Leben nach dem Zerfall des Landes und ihre jahrelange Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Als der Staat auseinanderfällt, verliert sie ihre bescheidenen Ersparnisse. Das einzige, was sie noch 55 Siehe hierzu D. Ugrešić: Baba Jaga, S.272f. Die Gestaltung der Hexe als Randfigur in der abendländischen Kultur lässt sich auf die sogenannte Hexenverfolgung in Europa im 16. und 17. Jahrhundert zurückführen. Die Hexenverfolgung dauerte vier Jahrhunderte: »Die erste Inquisition begann Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts, als Papst Gregor IX. seine Leute in die ketzerischen Gebiete entsandte, bevor er die Ausübung der inquisitorischen Tätigkeit offiziell den Dominikanern übertrug (1235). [...] Man schätzt, dass in der Zeit zwischen 1550 und 1650 in Europa etwa hunderttausend Hexen verbrannt wurden, die genaue Zahl ist allerdings nicht bekannt. […] Viele Frauen verloren ihr Leben auch außerhalb des Systems der Inquisition. Vollstrecker waren ihre Nachbarn, Dorfbewohner, die nicht so sehr von christlichem Gehorsam als von dem lokalen Glauben und Aberglauben geleitet wurden.« 56 Ebd., S. 105. 57 Ebd., S. 192f.
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besitzt, ist eine vierzig Quadratmeter kleine Wohnung, die ihr nach der harten Arbeit im Krankenhaus zugeteilt wurde. Beba versucht, »mit ihrem Körper Frieden zu schließen, mit dem sie schon allzu lange in gegenseitiger Feinschaft lebte« 58. Durch unkontrollierbare Gewichtszunahme übernimmt ihr »böser« Körper die Herrschaft. »Als sie sich dann eines Tages im Spiegel betrachtete, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass sie sich in einem Körper befand, der nicht der ihre war, in einem Körper, den sie fortan wie eine Strafe würde erdulden müssen. Bebas weder zu kleine noch zu große Brüste wurden zunächst groß, dann üppig und dann so gewaltig, dass es ihr häufig erging wie heute Morgen nach der Massage, als ihr ein russischer Rüpel in Begleitung von zwei ebensolchen Kumpanen zurief: Aj, mamaaaa, titki kak u gipopotama! Er war überzeugt, das ›Nilpferd‹ würde seine Worte nicht verstehen. Aber Beba verstand, denn Beleidigung brauchen keine Übersetzung.«59
Ihr Leben lang gelingt es Beba nicht, »kritische Blicke von ihrem Busen abzulenken«.60 Ein Korsett, große Ohrringe, lange auffällige Schals, riesige Broschen und dicke Ringe können ihre Brüste nicht verstecken. Sie fühlt sich dadurch belastet und verunsichert. Nicht die Sprache, sondern der Modus der Anrede verletzt sie: Schamgefühl für ihre die üppigen Brüste kommt auf, auch wenn sie die Anrufung »Nilpferd« in der Fremdsprache gar nicht versteht. Das Übergewicht, die zunehmend gealterten Körperteile und pflegebedürftigen Zähne sieht sie als Rache ihres Körpers an.61 »Ja, allmählich kriegte sie das Aussehen, vor dem es ihr schon immer gegraut hatte: das Aussehen jener alten Frauen mit kurzem gebleichten Haar, deren Gesichter auf billigen Sonnenbänken gegerbt wurden, an deren Händen mit geschwollenen Adern und Altersflecken auffällige Moderinge und Strassarmbänder steckten. Und was sollte man von den Ohren sagen, von diesen jämmerlichen Ohren, die von den schweren Ohrringen immer länger wurden.«62
Die Sexualität älterer Frauen wird im Roman auf spezifische Weise thematisiert: alte Frauen werden einem dritten, quasi geschlechtslosen Geschlecht zugeordnet. Sie werden oft früher als Männer als asexuell angesehen, da angenommen wird, 58 Ebd., S. 112. 59 Ebd., S. 130. 60 Ebd., S. 130. 61 Vgl. ebd. 131. 62 Ebd., S. 131.
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dass sich in den Wechseljahren wegen einer hormonellen Umstellung eine körperliche Veränderung vollzieht, die zu sexueller Unlust führt. Der Grund der sexuellen Entwertung der Frau liegt im sozialen Kontext: Sorgen von Frauen um ihre abnehmende äußerliche Attraktivität und diverse Erkrankungen gehen oft mit gesellschaftlichen Vorurteilen einher. Dies wird als Erklärung dafür herangezogen, dass das Wellnesscenter im Grand Hotel N. eine unvergleichbar hohe Stellung genießt und mehr weibliche Kunden hat. Denn dort wird den älteren Frauen versprochen, den unvermeidlichen Alterungsprozess aufhalten zu können, sodass sie ihre sexuelle Anziehungskraft zurückgewinnen. Das Thema »Altern« ist im Roman eines der Leitmotive. Daneben spielen noch Schönheitswahn, Körperkult und das traditionelle Selbstverständnis als Mutter eine Rolle. Während einerseits die medizinischen Standards in der modernen Gesellschaft immer weiter entwickelt sind, gibt es immer mehr soziale Situationen, in denen ältere Menschen auf vielen Ebenen ausgeschlossen und marginalisiert werden. Sie werden oftmals nicht als vollwertige Subjekte in der Gesellschaft angesehen. »Die heutigen Menschen aber, die sich heuchlerisch über die Rohheit früherer Sitten entrüsten, terrorisieren kaltblütig ihre Alten. Sie sind weder fähig, sie zu töten noch sich mit ihnen zu befassen, sie gründen keine ordentlichen Institutionen, die sich um sie kümmern, organisieren keine ordentlichen Pflegedienste für sie.«63
Kukla werden in ihrem Leben verschiedene Frauenrollen zugeteilt. »Sie war eine perfekte Beweis-Frau, Hilfs-Frau, Masken-Frau. Sie war allerdings mit dieser Rolle einverstanden, erhob keine Ansprüche, fiel durch nichts auf.«64 Sie ist auch deswegen als Ehepartnerin besonderes wünschenswert, weil sie »weiblich, aber nicht aufreizend, bis zum gewissen Grad offen, freundlich, aber nicht übertrieben freundlich ist«65. Ohne ausgeprägte Charakterzüge kann sie fast jede ideale Frauenolle spielen, außer die, einfach sie selbst zu sein. Männer sehen sie auch als Beschützerin, weil ihr in ihrem Eheleben immer Rollen wie »die Krankenschwester, die Mutter, die Amazonin, die Ersatzfrau und vieles andere mehr«66 zufallen. Nach dem Tod ihres dritten Ehemanns bekommt sie die Gelegenheit, sich solchen Rollenzuschreibungen, die sie als nur Ehefrau sehen, zu entziehen: Ein junger Mann sucht sie auf, der sich als Verehrer ihres verstorbenen Ehemanns, des bekannten Autors Bojan Kovač, vorstellt. Das Material, das er bisher gefunden hat,
63 Ebd., S. 127. 64 Ebd., S. 172. 65 Ebd., S. 172 66 Ebd., S. 173.
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befriedigt nicht seine Neugier, noch mehr über den großen Schriftsteller zu erfahren. Kulka entschließt sich, dem Wunsch des jungen Manns entgegenzukommen. Unter dem Namen ihres Ehemanns gelingt es ihr, jedoch ohne seinen Stil nachzuahmen, einen »Bojan Kovač Roman« zu erschaffen. Bei diesem soll es sich um ein bisher unpubliziertes Buch von Bojan Kovač selbst handeln. Kulkas Buch mit dem Titel Wüstenrose erzielt großen Erfolg und geht in die kroatische Literaturgeschichte ein. Kulka, die eigentliche Autorin des Buchs, bleibt jedoch unbekannt, während ihr Ehemann einen Status als »kroatischer Klassiker« erhält und somit »ein zweites Leben«67 erwirbt. Der metaphorischen Wüstenrose getreu erblüht Kulka nur im Schatten und lebt fern von den Lichtern der literarischen Bühne. Die Selbstsuche Kulkas scheitert deshalb, weil sie ohne richtigen Namen – in diesem Fall ist ihre Namenlosigkeit auf die Autorschaft bezogen – und somit ohne Identität nur im Schatten ihres berühmten Mannes lebt. 7.2.4 Baba Jaga als Herrscherin an der Grenze zwischen Toten und Lebenden Das mentale und emotionale Territorium einer alten Frau ist immer kleiner geworden, wenngleich alles dort »wie in einem Kästchen« sehr geordnet ist. In diesem Kästchen tummeln sich nur noch die engen und geliebten Freunde und Verwandten.68 In der Stadt Varna hat die Mutter der Schriftstellerin im ersten Teil des Romans ihre Kindheit und Jugend verbracht. Nur denjenigen, die mit ihr an dieser Vergangenheit teilhatten, erlaubt sie, in ihre Nähe zu kommen. 69 Genau wie manche Frauen, die ihr Leben ihren Kindern und der Familie widmen, lebt Pupa in ihren letzten Lebensjahren einsam und verlassen. Auch Bebas geringe Rente reicht gerade für den Unterhalt ihrer kleinen Wohnung, in der ihr kümmerliches Leben abläuft. Die Baba Jaga-Figuren verlieren ihre Verbindungen mit der Außenwelt und werden im Sinne von Eshelman reduziert und abgetrennt. Im Gegensatz zu ihrer begrenzten Lebensumgebung besitzen alle drei Baba Jaga-Figuren eine übernatürliche Kraft, die sich entweder zerstörerisch oder schöpferisch auf die Welt bezieht: Ihre Taten bereiten den anderen das Glück, zu dem sie sich selbst nicht verhelfen können. Shakes Tod ist auf eine zerstörende Macht von Kulka und Beba zurückzuführen. Auf dem Golfplatz trifft in der Ball von Kulka mit voller Wucht in den offenen Mund und bringt ihn gleich ums Leben. Kulka besitzt magische Kraft, sodass
67 Ebd., S. 174. 68 Ebd., S. 47. 69 Ebd., S. 47
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sie manchmal Dinge beeinflusst, hervorbringt und zerstört. Um die negative und tödliche Wirkung ihrer Macht zu vermeiden, lernt sie bewusst »behutsam wie auf Eiern, schweigend und leise wie ein Schatten durch die Welt zu gehen«70. Alle ihre drei Ehemänner sind kurz nach der Hochzeit erkrankt oder verunglückt und früh verstorben. Mit sechzig Jahren ist sie bereits zum dritten Mal Witwe: »Kulka selbst sah die Dinge folgendermaßen: Die Schicksalsgöttinnen hatten ihr ein Los zugeteilt, das auf einem ›schlechten Witz‹ gründete, und sie tat alles, damit dieser Witz nie an die Öffentlichkeit kam. Sie hatte drei Ehemänner zu Grabe getragen und war im fast wörtlichen Sinne Jungfrau geblieben. Sie quälte sich, unterschätzte sich, empfand sich als ›Totengräberin‹. Ihr schien, dass alles, was sie berührte, zu Stein wurde oder bereits tot war.«71
Dasselbe Schicksal ereilt Shake, dessen Zuneigung zu Kulka ihn tötet. Beba hat die übernatürliche Gabe, Glückszahlen zu erraten. Aus diesem Grund wird sie von ihrem Freund verprügelt, der immer mehr Voraussagen für Gewinnspiele von ihr verlangt. Im Hotel N. wird Beba beim Geldwechseln in ein Roulettespiel hineingezogen und gewinnt dabei eine halbe Million Euro. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürt sie die Macht des Gelds und gerät gleich in Unruhe, da sie nicht weiß, wie sie mit so viel Geld umgehen soll. Das Geld wird später dazu verwendet, Pupas Stiefelschuhe angemessen zu bestatten. Bis dahin wird die Kette der Ereignisse kausal abgeschlossen. Vier Hauptfiguren im Roman – die drei geschlechtslosen Baba Jaga-Figuren und der impotente Masseur – sind Personen, die mehr oder weniger von der Gesellschaft ausgemustert werden. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen, aber sind durch extreme außergewöhnliche Fähigkeiten in der Lage, anderen zu helfen oder aber andere unabsichtlich zu töten. 7.2.5 Einfältige Subjektivität und das Unvermögen der Sprache Der aus Sarajevo stammende Mevludin bezeichnet sich als »bosnischen Eintopf« unterschiedlicher Herkünfte: sein Vater ist Moslem, seine Mutter ist halb Kroatin, halb Slowenin. Mevludin kam als Flüchtling ins Hotel, wo er Masseur wurde. Seine gemischte Herkunft verleiht ihm ein exotisches, orientalisches Aussehen, das bei weiblichen Kunden sehr beliebt ist. Er ist nicht nur wegen seines attraktiven Äußeren beliebt, sondern auch wegen seiner »außergewöhnlichen Potenz«, die ihn zum Sexidol des Hotels macht, ihm selbst allerdings vielmehr zur Last fällt. 70 Ebd., S. 162. 71 Ebd., S. 173.
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Die Bombardierung Bosniens durch die NATO verursachte die größte Qual seines Lebens: Die Explosion einer Granate löste eine Dauererektion aus, welche seinen Penis in einen dauerhaften angespannten Zustand versetzt und ihn dadurch aber sexuell dysfunktional macht. Seitdem versteckt er seinen körperlichen Makel mit einer Pluderhose und wartet darauf, dass sein Leiden verschwindet. Mevludins Leben wird von Paradoxen geprägt: Gerade seine Dauererektion erzeugt den Eindruck, dass er potent und somit begehrenswert sei, während sein dadurch verursachtes persönliches Leiden, bzw. seine Impotenz, zur Potenz seiner Mitmenschen wird. Er besitzt außerdem »goldene Hände«72, die durch seine zauberhaften und verständnisvollen Berührungen das Leben der anderen wundersam beeinflussen können. Shake beschließt, Mevludins »Potenz« auszunutzen und einen Star aus ihm zu machen. Aus mehreren Gründen möchte Shake dem jungen Mann für seine neue Werbung 7000 Dollar pro Fotoaufnahmestunde anbieten: »Der junge Mann kam aus Bosnien, und das sollte man ausnutzen. Havel und die Tschechen sagten dem durchschnittlichen Amerikaner nichts mehr, während Sarajevo noch immer einen Klang hatte. Genauer gesagt, Mr. Shake setzte auf diesen Klang.«73
Mevludin lehnt allerdings das Angebot ab, da er Shake für noch »schlimmer als die NATO«74 hält. Stattdessen gibt er vor, kein Englisch zu verstehen und macht deutlich, dass er unabhängig von der Höhe des Verdienstes an keiner Karriere in Hollywood interessiert sei. Darüber hinaus nimmt Mevludin eine unkooperative Haltung gegenüber der amerikanischen Konsumkultur ein. Mevludin nennt sich einen »Dummkopf«75, der nicht sein eigenes Potenzial profitabel machen will. Mevludin lehnt die englische Sprache und Ideologie der Konsumgesellschaft komplett ab und versinkt in Erinnerung an seine Heimat. Er reduziert bewusst seine Existenz auf das Notwendigste im Hotel N. und wartet auf seelische und körperliche Heilung. Schließlich erlöst ihn ein chinesisches Mädchen, dem er zufällig beim Hotelbrunnen begegnet. Das Mädchen ist durch eine mysteriöse Fähigkeit in der Lage, ihn von seinem Leiden zu befreien.76 Das Mädchen Wawa stellt sich als die Enkelin von Beba heraus: Bebas homosexueller Sohn Filip, der an HIV verstorben ist, war der Adoptivvater von Wawa. Diese wird im Hotel N. untergebracht, da der Partner von Filip sich weigert, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Beba ist die 72 Ebd., S. 187. 73 Ebd., S. 135. 74 Ebd., S. 131. 75 Ebd., S. 120. 76 Ebd., S. 178.
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einzige, die sich dem Kind verpflichtet fühlt und zustimmt, sich um sie zu kümmern. Als Mevludin dem Mädchen eines Tages ein Ei zum Frühstück reicht – mittlerweile sind die beiden zueinander hingezogen und befreundet – tut er so, als gebe er ihr sein Herz in die Hand. Mit der halb ironischen, halb ernsten Aussage »Here’s my heart on a silver platter.« geschieht im gleichen Augenblick ein Wunder, denn Mevludin spürt plötzlich, dass seine Erektion endlich nachlässt. »Als hätte sich etwas Schweres von ihm gelöst und wäre unhörbar zu Boden geglitten. Melvo [Mevludin] wusste genau, was geschehen war. So wie die verfluchte Granate ihn verhext hatte, hatte ihn dieses Mädchen mit dem Ei in der Hand enthext.« 77
Wawa kann kaum Englisch. Durch ihr junges Alter begrifft sie die Welt noch nicht. Sie weiß nicht ganz, was für eine Bedeutung der Tod ihres Adoptivvaters hat und was auf sie zukommen wird. Sie spielt und lächelt so unbeschwert, weil ihr menschliches Leid noch fremd ist. Sie besitzt die magische Fähigkeit, Leiden und Krankheiten heilen zu können. Die zuvor belastete emotionale Verbindung zwischen Sohn und Mutter wird durch sie wiederhergestellt. Sie bringt nicht nur der Mutter seelische Heilung, sondern fungiert auch als Mittlerin zwischen Leben und Tod. Baba Jagas sind keine besonders erfolgreichen Mütter im Leben. Sie leiden oft an dem Versagen der Mutterrolle. Pupa musste aus politischen Gründen ihre Kinder aus erster Ehe verlassen und hat ständig Streit mit ihrer Tochter aus zweiter Ehe. Aus einem ungewissen Grund ist Kulka auch nach drei Ehen noch Jungfrau, hat also keine Kinder.78 Beba sieht sich als Mörderin ihres Sohnes: Vor vielen Jahren entdeckte sie ihren Sohn Filip mit einem Mann im Bett und trieb ihn wütend aus dem Haus. Hätte sie damals mehr Verständnis für seine homosexuelle Neigung aufgebracht, wäre er vielleicht noch am Leben.79 Mit Hilfe von Wawa erhält Beba nun eine Chance, auf die Vergangenheit mit ihrem Sohn zurückzublicken und über das Verhältnis mit ihm, der noch immer der wichtigste Mensch in ihrem Leben ist, nachzudenken. Daraufhin erfährt das feenhafte Mädchen fremder Abstammung die vorbehaltlose Zuneigung der drei alten Frauen. Mit dem Erbe, das die verstorbene Pupa ihnen hinterlassen hat, planen Beba und Kulka, das Mädchen gemeinsam großzuziehen. Kulka überlegt, wie sie ihr als Tante etwas beibringen kann, »was sie keine Schule der Welt lehrte«80. Beba will nun mehr Geld in ihre Gesundheit investieren, damit sie sich in Zukunft besser um Wawa kümmern kann. 77 Ebd., S. 177 f. 78 Ebd., S. 171. 79 Ebd., S. 233. 80 Ebd., S. 246.
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Daraufhin steht Beba endlich in Kooperation mit ihrem Körper, um dieses gemeinsame Ziel zu erlangen. Sie verspürt plötzlich »eine große Dankbarkeit gegenüber ihrem Sohn«, da er ihr Wawa geschenkt hat.81 »Sie mit ihren guten Erbanlagen würde sicher noch eine ganze Weile auf dieser Welt bleiben und mit einer neuen, wunderschönen und einzigen Aufgabe beschäftigt sein – mit Wawa!«82
Wegen Wawa planen die zwei älteren Frauen ihr Leben völlig neu. Außerhalb der diffusen und diskursiven Welt schafft Wawa einen Ort um sich, in dem nur Ruhe, Gelassenheit und Freude herrschen. Wawa besitzt zwar keine sprachliche Überzeugungskraft, aber sie vermag Menschen zum Glauben zu bringen. Mevludin hängt gefühlsmäßig an Wawa und fühlt sich zu ihr hingezogen. Beba glaubt, in Wawas Gesicht die Züge ihres verstorbenen Sohns zu erkennen, ungeachtet der Tatsache, dass zwischen ihnen keine Blutverwandtschaft besteht. Zudem hat Wawa für ihre Herkunft außergewöhnlich grüne Augen, die »wie zwei kleine Bergseen«83 leuchten und »etwas zusammengewachsene Augenbrauen«84. Dank dieser Ambivalenz ihres Äußeren und ihrer Herkunft stellt sie für die übrigen Figuren eine Projektionsfläche dar. Der neu gewachsene Glaube der Figuren, der sie aus der Existenzkrise hinausführt, scheint in Wawa angesiedelt zu sein. Bevor das Mädchen zu sprechen lernt, bleibt es eine in sich geschlossene und stabile Einheit. Doch durch ihre Einfachheit erhält sie eine zentrale Stellung inmitten der verwickelten Handlungen und Figuren. Mithilfe von Wawa gewinnt Mevludin sein Sprachvermögen für Englisch zurück, das er nur mit ihr übt. Trotz seiner Vertrautheit mit den Kriegsnachrichten englischer Sender stellt er sich vor Mr. Shake taub, da ihn dessen Sprache an seine Kriegserlebnisse erinnert. Sein Sprachvermögen für Englisch wird also eine Zeit lang reduziert, um jegliche Verknüpfung mit dieser Erinnerung zu vermeiden. »[...] There has been no let-up in the fighting in Bosnia. Heavy shelling continued throughout the night. Mevludin wusste vieles, er wusste, was peace negotiations und was ceasefire bedeutet, er wusste, was ceasefire appears to be holding ist. Er wusste ferner, was sporadic gunfire, progress toward a settlement, wail of sirens of ambulances, horror of the early morning blast heißt, er verstand a pool of blood, explosion, reminder of horror und viele,
81 Ebd., S. 247. 82 Ebd., S. 246. 83 Ebd., S. 178. 84 Ebd., S. 226.
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viele andere Dinge mehr. Daher konnte er zu dem Mädchen sagen: ›Stay calm and tense [Herv. i.O.].‹«85
Erst die Liebe zu Wawa ruft seine Bereitschaft zur Kommunikation wach, selbst wenn diese hauptsächlich über sinngemäß nicht zusammenhängende Wörter verläuft: Wawa spricht kaum, und er will bevorzugt Bosnisch sprechen. 86 Um seine Liebe zu dem Mädchen auszudrücken, lernt Mevludin die Namen der Süßspeisen auf der Speisekarte auswendig. Er geht davon aus, dass er durch die schön klingenden und süß gemeinten Worte dem Mädchen zeigen kann, wie viel ihm an ihr liegt. »›You are my peach melba, my cream alpine, my blueberry anglaise, my floating island, my chocolate éclairs, my choux chantilly, my kirsch buchette... you are my kirsch puff...‹ ›What!?‹, fragt das Mädchen und lachte vergnügt.«87
Arnoš Kozeny, der inzwischen mit Mevludin befreundet ist, vergleicht die eigenartige Kommunikationsweise zwischen den beiden mit der von Vögeln. Durch in diesem Fall fast sinnlose Gespräche tauschen die beiden ihre Liebesgefühle aus. So entsteht eine »Verliebtheit« zwischen zwei voneinander sehr unterschiedlichen Menschen, dies aber ganz ohne Sprache im herkömmlichen Sinn. »›[...] dass Sie kein Englisch können, ist nur von Vorteil. Sprächen Sie es, könnten Sie Fehler machen. So aber ist es egal, was Sie ihr erzählen, ob Sie ihr chemische Formeln oder Automobilteile aufsagen. In der ersten Phase der Verliebtheit sprechen die Paare ja nicht. Sie zwitschern.‹ ›Wie Vögel !?‹ ›Richtig, wie Vögel, mein Freund‹, sagte Arnoš Kozeny und fügte geheimnisvoll hinzu: ›Sie zwitschern nicht nur, sie lassen auch Federn fliegen.‹«88
Gegen Ende der Novelle sitzen Mevludin und Wawa auf einer Bank im Park des kleinen schönen Orts unter einem großen Kastanienbaum. Dieser Ort sieht aus wie ein »ungewöhnliches rituelles Feld, dessen heidnische Signale ein Rätsel« 89 bleiben. Ein normaler Ort im Alltagsleben wird deshalb zum Ritual, weil dieser durch
85 Ebd., S. 175. 86 Ebd., S. 222. 87 Ebd., S. 238. 88 Ebd., S. 239. 89 Ebd., S. 238.
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rätselhafte »Signale« bzw. Zeichen mit dem Sakralen in Verbindung gesetzt wird. Hier finden die zwei Geliebten nicht nur eine gemeinsame ostensive »Sprache«. 90 Mevludin, Wawa und die durch die Luft fliegenden Federn bilden zusammen eine Szene, die an die Beschreibung der Urszene von Gans erinnert. »Vertieft in ihr Liebesgezwitscher, merkten die beiden nicht, dass ein leichter Wind aufkam und die auf dem grünen Rasen um sie herum verstreuten Vogelfedern aufwirbelte. Die Krone der alten Kastanie rauschte, die Federn segelten durch die Luft...«91
Vorher stellt Mevludins Penis in der Dauererektion ein Hindernis für den Empfang des Schönen und des Positiven im Leben dar und blockiert zunächst die Erfahrung des Göttlichen. Er bewundert Wawa und kommentiert ihre Schönheit: »Du bist schön wie ein Wachtelei.«92 Obwohl sie zart und schön ist, ist Wawa dennoch fähig, Mevludin Lebensmut zu verleihen. Außerdem verweisen die alten Federn in dieser Szene, die die Vögel beim Wechsel ihres Federkleids hinterlassen, auf eine Verwandlung und somit einen neuen Anfang im Leben. Die Federn, die durch die immanente, reale Welt und die potentiell transzendente Außenwelt geistern, deuten eine menschliche Bindung an die Göttlichkeit an. Durch diese Zeichen und Einrahmung transzendiert Mevludin zuletzt die Beschränktheit seines Selbst und findet Erlösung von seinem persönlichen Leiden. 7.2.6 Der auktoriale Erzähler Der auktoriale Wir-Erzähler, eine Offstimme im Roman, spielt die Rolle des Übersetzers, der bei der fast unmöglichen sprachlichen Kommunikation zwischen den Figuren und dem Leser vermittelt. »Hier sollten wir anmerken, dass wir das ganze Gespräch in eine für alle verständliche Sprache übersetzen mussten, denn die Elefantenbeinige und die Flinke sprachen Tschechisch, Kulka und Beba Kroatisch. Kulka versuchte zwar, ihr vergessenes Russisch zu aktivieren, aber aus ihrem Mund kam nur ein Kroatisch mit russischem Anklang. Die Elefantenbeinige
90 Eshelman bezeichnet eine solche Sprache, die nicht auf Bedeutung hinweist, als »performative Sprache«. Dabei sei der Rahmen entscheidend, »der Adressat und Adressant auferlegt worden ist (oder dem sich Adressat und Adressant unterwerfen) und der deren Differenzen überbrückt (R. Eshelman: Ende der Postmoderne, S. 165). 91 D. Ugrešić: Baba Jaga, S.240. 92 Ebd., S. 243.
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und die Flinke reagieren sogar darauf allergisch. Offenbar hatten sie von Russen die Nase voll. «93
Hier wird auf extradiegetischer Ebene ein Rahmen gebildet, in dem der Erzähler kommentierend in die Geschichte eingreift: »Und wir? Wir ziehen weiter. Den Damen wünschen wir eine gute Nacht, bleiben aber selber wach, auf die Fortsetzung der Erzählung bedacht...«94 Immer wieder erinnert der Erzähler den Leser an den Unterschied zwischen Realität und Fiktion in Anmerkungen wie »Das Leben hat uns oft empört, die Erzählung meidet alles, was stört [.]«, und »Sind wir im Leben scharf auf Gewinn, hat die Erzählung nur ihr Ende im Sinn.«95 Am Ende des Epilogs versucht der Erzähler selbst diesen Unterschied aufzuheben, indem er zur Figur seiner Erzählung wird und mit seinen »Schauspieler[n]« den Schluss der Erzählung feiert. Der Erzähler tritt nun als eine Figur in der erzählten Welt auf, nimmt vom Leser Abschied und tröstet diejenigen Leser, die sich von der harten Realität der alten Frauen betroffen fühlen. »Alle setzen sich fröhlich zum Schmaus, und damit ist das Märchen aus! Wir waren dabei und tranken Wein, mit Pupa ein Maß, mit Kulka ein Glas, mit Beba als Bowle, und wünschen allen viel Glück vom Scheitel bis zur Sohle. Wir hatten dabei viel Spaß und haben Wein getrunken von jedem Fass. Und falls ihr’s nicht glaubt, zeigen wir Euch gern unsere Zunge-sie immer noch nass!«96
Der Erzähler teilt dem Leser mit, dass es sich um einen »Auftrag« gehandelt hat: »Und wir? Wir haben unseren Auftrag erledigt: Er war bitter, süß und sauer, wenn auch von kurzer Dauer.«97 Es bleibt im Roman ungewiss, um was für einen Auftrag es geht und von wem der Auftrag vergeben wurde. Aber der »Auftrag« an sich deutet die Existenz eines Auftraggebers an, der den Erzähler zum Einsatz gebracht hat, die Lebensgeschichte der drei Baba Jagas zu inszenieren. Der auktoriale Erzähler erfüllt hier als wichtiges Mittel im Performatismus den Zweck der Rahmenbildung. Ein paar Mal reden die Figuren über das Drehbuch des Lebens, das ebenfalls eine auktoriale Instanz impliziert. Solche auktorialen Instanzen sind nicht irreführend wie in der Postmoderne, sondern verhelfen den Lesern durch den Verweis auf die Rahmenbildung zum Verständnis des Kontextes. 93 Ebd., S. 196. 94 Ebd., S. 111. 95 Ebd., S. 199. 96 Ebd., S. 248. 97 Ebd., S. 248.
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Im nächsten Abschnitt meiner Untersuchung wird ein weiterer theistischer Plot unter die Lupe genommen, mit dem die ganze Geschichte sich als in sich geschlossen darstellt. 7.2.7 »Nur alte Hexen legen goldene Eier!« Auf dem Weg nach Prag, wo Pupas Leichnam im Krematorium verbrannt werden soll, entdecken Beba und Kukla in einer Kunstgalerie ein gigantisches Ei aus Holz mit paradiesischen Motiven aus der Pflanzen- und Tierwelt. Das Ei wird vom Künstler Karel Gott handgefertigt. Er kreiert die Eier, die entweder unverkäuflich oder kostspielig sind. Die handgefertigten Eier, teilweise Ostereier, symbolisieren somit Auferstehung im biblischen Sinne. Auch im Nachnamen »Gott« ist eine Bindung zu Gott angedeutet. Beba überredet Herrn Gott zum Verkauf des gigantischen Eies und verwendet es als Behälter für den Pelzstiefel Pupas, den sie zum Andenken an ihre verstorbene Freundin und später zum Spielzeug von Wawa macht. Sie nennt es MutterEi: diese Bezeichnung kann mit den paradiesischen Motiven auf dem Ei in Verbindung gebracht werden, die auf den menschlichen Ursprung verweisen. Durch ihren Kauf dieses Mutter-Eies setzt Beba ein weiteres ostensives Zeichen in Szene. In Rekurs auf ein russisches Märchen sprechen Beba, Arno š und Kukla über Liebe: Das Leben ist eine einzige Suche nach Liebe, die sich zuletzt im Ei verstecken soll. Nur diejenigen, die lange genug danach suchen, können sie zuletzt finden. Der Prozess der Liebessuche verläuft vom äußeren Rahmen zu einem inneren Kern. »›Kennen Sie nicht das russische Märchen? Iwan verliebt sich in eine Jungfrau, aber um ihre Liebe zu gewinnen, muss er herausfinden, wo sie verborgen ist. So geht er über sieben Berge und sieben Täler und kommt an einen Ozean. An dessen anderem Ufer steht eine Eiche, auf der Eiche ist eine Truhe, in der Truhe eine Hase, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei. Und in dem Ei ist die Liebe des Mädchens. Die Jungfrau muss das Ei aufessen, dann entflammt ihre Liebe zu Iwan.‹ ›Dieses Märchen besagt doch, dass es keine Liebe gibt, denn niemand hat die Kraft und die Zeit, diesen ganzen Weg zu schaffen‹, sagte Beba.«98
In derselben Nacht träumt Beba von einem goldenen Ei, in dem ein nackter Jüngling in Fötusstellung wie in einer Gebärmutter liegt. 99 Es handelt sich um ihren Sohn Filip. Dessen wiederhergestellte Unschuld im Ei ruft Bebas Mutterliebe wach. Sie wurde lange von Schuldgefühlen geplagt. Nun bricht sie im Traum in 98
Ebd., S. 140.
99
Ebd., S. 212.
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Tränen aus, da sie zuletzt mithilfe dieses Traums ihre Erlösung findet. Ihre Mutterliebe hat den Sohn Filip nicht erreicht, nun soll sie auf das Mädchen Wawa übertragen werden. Beba findet in der Fürsorge für ihre Adoptivenkelin einen neuen Lebenssinn. Obwohl sich ihr homosexueller Sohn nicht in konventionellem Sinn reproduziert hat, legt er somit gleichsam ein Ei für seine Mutter, welches eine Fortsetzung seines Lebens bedeutet. Ein junger Mann, der am vierten Tag auftaucht, stellt sich als Pupas Enkel David heraus. Im Auftrag der Großmutter bringt der junge Rechtsanwalt nicht nur Wawa zu Beba ins Hotel, sondern verkündet zudem das Testament seiner Großmutter. Pupa hat ihr Haus verkauft und hinterlässt ihren Freundinnen genug Geld, um ein sorgloses und ruhiges Leben führen zu können. Schon vor der Reise unterschrieb sie alle das Erbe betreffenden Dokumente. An diesem Punkt im Roman wird klar, dass die alte Hexe Pupa wie die Autorin eines Drehbuches die sechs Tage Reise im Hotel vorgeplant hat. Pupa legt insofern goldene Eier ins Leben ihrer Freundinnen, als sie Liebe vermittelt, die in ihrem Verständnis Hingabe, Toleranz und Großzügigkeit bedeutet.100 Durch diese Performanz gelingt es Pupa, ihre am Leben verzweifelten Freundinnen positiv zu beeinflussen und ihnen eine schöne Zukunftsvision für ein neues Leben zu bereiten. Alle Faktoren spielen zusammen, um ein positives Ereignis zu erzielen. »David dachte über das Zusammentreffen so vieler Umstände nach, über Asjas, Pupas, Kulkas und Bebas Leben, über den Zufall, der ihn zur Bebas Sohn Filip geführt hatte, und auch über sein eigenes Leben. Alles fügte sich ineinander wie ein Puzzle. Er dachte über Pupa nach. Die meisten Menschen leben völlig planlos in den Tag hinein, aber wenigstens den berühmten metaphorischen Ausstieg aus dem Zug müsste man rechtzeitig planen und dafür sorgen, dass er angemessen verläuft. Für die Ankunft auf dieser Welt sind wir nicht verantwortlich, für den Abschied aber vielleicht doch. Pupa hatte der Billardkugel ihres Lebens, die sich zunächst in die vorgesehene Richtung, zu den Enkeln, Zoranas und Asjas Kindern, hin bewegte, im letzten Augenblick einen Stoß versetzt (woran auch David seinen Anteil hatte), nun rollte sie dorthin, wo niemand es erwartet hätte und was noch wichtig war, wo sie mit ihrem Treffer intensivere und nützlichere Wirkung erzielte, zu Kulka, Beba und Wawa.«101
Nach dieser Analyse ist eine differenziertere Einschätzung des Zeichens möglich, das Pupa in ihrem Tod konstituiert. Ihre Geste ist als Signal der Empörung über die die Alten verachtende Gesellschaft zu deuten. Oder ermutigt »die alte Hexe« Pupa ihre Freundinnen durch ihre Performanz zur weiteren Suche nach Liebe? 100 Vgl. ebd., S. 220. 101 Ebd., S. 245.
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Eine ästhetische Oszillation des ostensiven Zeichens entsteht genau dadurch, dass eine kognitive Beurteilung des Signifikaten nicht möglich ist. Die Unentschlossenheit führt den Leser schließlich auf den äußeren Rahmen und die Planung von Pupa zurück. Das Wellnesscenter fungiert in der Novelle als hegemoniales Zentrum, das sowohl patriarchalische als auch heterosexuelle Ordnungen und Regeln im Hotel aufrecht erhält. Die zwei Krankenschwestern sprechen das Wort »Wellnesscenter« mit solcher Ehrfurcht aus, als ob es »ein göttliches Gesetz« 102 wäre. Sie weigern sich erbarmungslos, Pupas Leichnam länger im Wellnesscenter zu behalten. Als Dr. Topolanek morgens mit diesen Frauen im Bett erwacht, verspürt er einen heftigen Schmerz im Kreuz, für den ein Hexenschuss der Grund ist. Er setzt dieses Wort spontan mit einer Vergeltung der verstorbenen »Hexe« Pupa in Verbindung. Der Hexenschuss taucht auch so plötzlich auf, dass ihm schon der Gedanke kommt, dass Pupa auferstanden ist und mit Pfeil und Bogen auf ihn zielt. Seine zwei Bettgenossinnen reagieren auf seinen Schmerz gleichgültig und schlafen sofort wieder ein. Daraus muss Dr. Topolanek eine Lehre ziehen: Auch er ist vor Alterungserscheinungen nicht geschützt, und im fortgeschrittenen Alter kann auch ihm ungerechte Behandlung widerfahren. Pupa, die in ihren Konturen einem alten Vogel gleicht, präsentiert sich im Roman als eine hybride Gestalt zwischen Tier und Mensch. Gefasst und anmutig reicht Pupa Mevludin, wie eine uralte weibliche Gottheit, ihre einer Vogelkralle ähnelnde Hand. Mevludin, wie »ein Held aus Tausendundeiner Nacht«, starrt voll Ehrfurcht die Alte auf ihrer Liege an, die ihn an »ein heiliges Huhn«103 erinnert. Wie die geschlechtslose Baba Jaga wurde Mevludin, dessen Leben von einer Granate im Krieg grundlegend verändert wurde, vorläufig asexuell. Sie finden ihre Erlösung in dieser weiblichen Gegenwelt, die durch Zeichen wie Vögel, Federn und Eier entsteht. In dieser konfliktfreien, unzerstörten und harmonierenden Welt finden die unterschiedlichen Menschen ihre Erlösung. Im Vorwort des Buches wird die kommende Zeit der Baba Jaga ankündigt. Für einen kurzen Augenblick wandeln sich die alten Frauen im Alltag von Beschützten zu Herrscherinnen. »Zunächst sind sie unsichtbar. Aber plötzlich fallen sie ins Auge. Sie schleppen sich in der Weltgeschichte umher wie Heerscharen gealterter Engel. Eine kommt auf Sie zu. Schaut Sie mit wässrig blauen, weit aufgerissenen Augen an und formuliert ihre Bitte in einem zugleich stolzen und unterwürfigen Ton. [...]Plötzlich überkommt Sie Mitgefühl mit dem vergreisten Geschöpf, voller Rührung vollbringen Sie eine gute Tat, sind ob Ihrer Beschützerrolle ergriffen und zufrieden. [...]Wenn Sie jetzt nachgeben, den Augenblick verpassen, ein Wort 102 Ebd., S. 196. 103 Ebd., S. 185.
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zu viel wechseln, begeben Sie sich unter deren Herrschaft. Sie schlittern in eine Welt, die zu betreten Sie nicht vorhatten, denn ihre Zeit ist noch nicht gekommen, Ihre Stunde hat bei Gott noch nicht geschlagen.«104
Rund um das Mutter-Ei wird ein neues Zentrum etabliert, das den Beginn der neuen Zeit der uralten Muttergöttin einleitet. Dieses Zentrum, das durch die Entkräftung der bösen Chefs des hegemonialen Zentrums entsteht, verspricht Liebe, Toleranz und Harmonie. Das Ei, das Hoffnung und Fruchtbarkeit enthält, wird auch zum transzendentalen Zentrum für die Figuren, die daran glauben. Die wichtigen Figuren erhalten am Ende dieses Märchens eine positive Neudefinition ihrer Lebenseinstellung: »Das Leben war ein unendlich großer Garten voll versteckter Ostereier.« 105
7.3 J OHANNA S INISALO : T ROLL , EINE L IEBESGESCHICHTE (2000) Johanna Sinisalo wurde 1958 im finnischen Lappland geboren. Schon vor ihrem literarischen Debüt wurde sie als Autorin von Science-Fiction und Fantasy-Geschichten sowie als Drehbuchautorin und Comic-Texterin bekannt. Sie studierte Komparatistik und Theaterwissenschaft an der Universität Tampere. Im Jahr der Publikation gewann Troll, eine Liebesgeschichte (Ennen päivänlaskua ei voi) den Finlandia-Preis für Literatur, einen der renommiertesten Literaturpreise Finnlands. Seitdem hat sie mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter The James Tiptree Jr. Award 2004, einen Literaturpreis, der jedes Jahr für Werke der Science-Fiction oder Fantasy vergeben wird, die Geschlechterrollen untersuchen und erweitern. Der Hauptprotagonist Mikael Hartikainen in Troll, eine Liebesgeschichte lebt in einer finnischen Großstadt und hat häufige Alkoholexzesse. Eines Abends findet er vor seiner Haustür ein seltsames Wesen und trägt das verletzte Geschöpf, einen Troll, nach Hause. In kurzen Kapiteln erzählt die Autorin Johanna Sinisalo aus jeweils wechselnder Sicht eines fünfköpfigen Figurenensembles eine Geschichte unwiderstehlichen Begehrens. Die Geschichte vom Troll wird um die Zentralperspektive des Hauptprotagonisten Angel (der Spitzname der Figur Mikael) arrangiert. Im Hauptteil wird aus wechselnden Ich-Perspektiven die Geschichten der fünf Figuren erzählt. Dabei wird unterschiedliches Material mit den
104 Ebd., S. 9, Meine Hervorhebung. 105 Ebd., S. 247.
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erzählten Handlungen verknüpft: Ausschnitte aus Mythen und Märchen, erfundene wissenschaftliche Aufsätze, Internetseiten, Erzählungen, Gedichte und Zeitungsartikel werden für die Beschreibung des Trolls kombiniert. 7.3.1 Der Troll: ein reales Wesen in der Fiktion Trolle sind skandinavische Fabeltiere, die nur in der Folklore und in Märchen vorkommen. In der finnischen Mythologie gehört der Troll zu den Tierdämonen. Als Vertreter der bösen Kräfte des Totenreichs wird der Troll wie andere Tierdämonen verehrt und angebetet.106 In der fiktionalen Welt des Romans stellt sich heraus, dass Trolle eine existierende und anerkannte Tierart sind. Der Hauptprotagonist Mikael trifft auf solch einen Troll und informiert sich im Internet über den Ursprung und die physischen Merkmale des Tiers.107 Mit schätzungsweise 400 Exemplaren gilt der Troll im Roman als bedrohte Art in Finnland.108 Außerdem wird im Roman geschildert, dass Trolle zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland mit Fallen gefangen wurden.109 Durch weitere Nachforschungen erweitern sich Mikaels Kenntnisse über den Troll im Verlauf des Romans. Er findet mehr über die Essgewohnheiten und die Lebensweise des Tiers heraus. Der Troll wird im Roman als Säugetierart »Katzen-Affe« wissenschaftlich klassifiziert. Die Informationen, die Mikael sammelt, werden mit realen Zitaten zum Troll aus Erzählungen, Märchen, Gedichten und Sachbüchern verquickt, deren Quellen auf der letzten Seite des Buchs teilweise angegeben werden. Dies bewirkt eine facettenreiche Darstellung des Trolls. Die bedeutende erste Entdeckung des Trolls wird oft mit der Entdeckung real existierender Tiere wie Okapis, Komodowaranen und Pandas verglichen. Dieser Vergleich mit anderen seltenen Tierarten dient im Roman zur Schwächung der fiktionalen Grenzen.110 Trolle seien einerseits geräuschlose Nachttiere; anderseits besäßen sie das Vermögen, sich vor Feinden zu verstecken und zu schützen. Im Roman wird so begründet, warum der Troll als reale Kreatur nur selten entdeckt und bisher kaum photographiert wurde. Durch diese Kombination von Informationen wird versucht, ein Fabelwesen ins Leben zu rufen.
106 Vgl. Sinisalo, Johanna: Troll: Eine Liebesgeschichte, übers. aus dem Finn. v. Angela Plöger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S.30. 107 Ebd., S. 19f. 108 Ebd., S. 30. 109 Vgl. Ebd., S. 50. 110 Vgl. Ebd., S. 24.
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Die Entstehungsgeschichte der Trolle wird zudem christlich gefärbt. 111 Trolle seien als überflüssige und unerwünschte Kinder von Adam und Eva geboren. Sie seien demnach Vertreter einer degradierten menschlichen Rasse, die sich unter der Erde versteckt hält und die Dunkelheit der Oberfläche vorzieht. Bei Tageslicht verwandeln sich die Trolle in Steine, die erst in der Dunkelheit wieder lebendig werden. Die Trolle als Gottes Schöpfung haben, nach der skandinavischen Auffassung, gegen Gottes Willen verstoßen und werden schließlich zu Dienern des Teufels.112 Wenn Satan auf die Erde zurückkommt, so die Mythen, wird der Troll an seiner Seite sein.113 Der Troll ist somit zwar göttlichen Ursprungs, vertritt aber das Böse. Der Troll im Roman von Sinisalo versprüht einen spezifischen, sehr markanten Duft, der das Verhalten der Menschen in seiner Umgebung beeinflusst. Dieser Trollduft, so meine These im folgenden Kapitel, schafft eine Makrosphäre in der Stadt, in der der Duft die Protagonisten zur Rebellion gegen die Hierarchie der Sozial- und Geschlechterverhältnisse treibt und zu einem neuen Geschlechterverständnis führt. 7.3.2 Der äußere Rahmen: Der Trollduft in der Stadt Im vorliegenden Kapitel wird zunächst betrachtet, wie sich der Hauptprotagonist durch eine Reihe von Rettungsversuchen dem Troll annähert. Aus der eng gewordenen Beziehung zueinander ergibt sich ein emotionaler Zusammenhalt zwischen den beiden, der mithilfe der chemischen Wirkung, die das Trollaroma hervorruft, verstärkt wird. Bereits auf den ersten Blick ist Mikael vom Troll fasziniert: »Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Ich spüre sofort, dass ich es will.« 114 Neugierig beobachtet Mikael bei ihrer ersten Begegnung das Trolljunge, das mit den roten Katzenaugen und seinen schmalen schwarzen Pupillen tierisch wirkt. Es hat einen geraden Nasenrücken mit großen Nüstern. Sein Mund bildet »eine schmale, waagerechte Linie«115. Die gelenkigen Finger mit langen Krallen ähneln menschlichen Fingern.
111 Vgl. Ebd., S. 39. 112 Vgl. Ebd., S. 41. 113 Vgl. Ebd., S. 219. 114 Ebd., S. 13. 115 Ebd., S. 15.
154 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »Das Ganze erinnert so sehr an ein menschliches Antlitz – wie das eines Seidenaffen oder eines anderen Primaten mit flachem Gesicht, dass man leicht begreift, warum diese schwarzen Wesen immer als eine Art Waldmenschen, als in Höhlen und Löchern wohnende, von der Natur sporadisch geschaffene Karikaturen des Menschen gegolten haben.«116
»Diese besondere Zusammensetzung aus tierischen und menschlichen Konturen verleiht dem Troll eine geheimnisvolle und erotische Aura, die auf Mikael so anziehend wirkt, dass er nicht widerstehen kann. Die Schönheit, Kraft und Beweglichkeit des Trolls erinnern ihn an eine Raubkatze, die biegsam, blitzschnell, muskulös und schwerelos ist.«117 »Reflexhaft führt das Wesen mit einem Hinterbein einen Stoß aus, blitzschnell und mit Kraft, und die Decke fliegt mir direkt ins Gesicht.« 118 »Es scheint schwerelos, seine Muskelkapazität ist im Verhältnis zu seiner Größe enorm. Seine Bewegungen sind wie Öl, wie Seide. In seinen Augen wohnen nächtliche Lauffeuer.«119
Bei Tageslicht fragt sich Mikael, ob es sich bei den Ereignissen der vorherigen Nacht nur um einen Traum gehandelt hat. Die phantastischen Züge des Fabelwesens wie der zuckende Schwanz mit der Quaste, 120 die Silhouette des schmalen schwarzen Rückens121 und die spitzen Ohren122 lassen Mikael in eine andere Welt jenseits der Realität versinken. Der Troll, katzenhaft und ungezügelt, liegt zusammengerollt herum, trinkt aus der Kloschüssel und muss von Mikael versorgt werden. Angesichts solcher völlig neuer Herausforderungen vergisst Mikael all seine Bedenken bezüglich des Trolls, um das schwache, kranke Tier zu retten. Aus einem unbekannten Grund wurde dieses Trolljunge von seinen Artgenossen in der Großstadt verlassen: »Sie haben das schlanke, leichte, biegsame Wesen, das man in schwarzem Marmor verewigen könnte, seinem Schicksal überlassen.«123
116 Ebd., S. 15. 117 Vgl. ebd., S. 16. 118 Ebd., S. 16. 119 Ebd., S. 79 120 Ebd., S. 17 121 Ebd., S. 129. 122 Ebd., S. 138. 123 J. Sinisalo: Liebesgeschichte, S.45. Einen möglichen Grund, den der Roman anbietet, und der die Einwanderung der Trolle in die Großstadt erklärt, stellen Umweltgifte dar,
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Mikaels Versuche, den Troll aufzupäppeln, schlagen fehl. Der infizierte Troll erholt sich nicht von seinem prekären Gesundheitszustand. Er wird immer schwächer und befindet sich bald an der Schwelle zum Tod. Mit Hilfe des Tierarztes Dr. Spiderman, seinem Exfreund, gelingt es Mikael schließlich, den Troll von diversen Parasiten und Vergiftungen zu heilen. Während des Winters entwickelt Mikael graduell eine emotionale Verbundenheit zum kranken Troll, den er Pessi nennt. Er fühlt sich sogar sexuell zu ihm hingezogen: »Pessi schläft auf dem Sofa, und mein Herz ist so voller Freude und Erleichterung, dass ich gehe und ihm einen Kuss zwischen seine schläfrig zuckenden, spitzen Ohren gebe.«124 »In seinen Bewegungen liegt etwas unbewusst Verführerisches. Mit seitlich geneigtem Kopf beobachtet er minutenlang die Bewegungen meiner Hand, als ich die Computermaus bediene. In mir regt sich etwas und lodert auf.«125
Zudem verströmt der Troll Pessi einen unwiderstehlichen Geruch, von dem Mikael sich magisch angezogen fühlt. Von Anfang an spürt Mikael, dass der seltsame Geruch des Trolls, der sich zwischen den Gerüchen von »Wacholderbeeren« und »Moschus, Patschuli« 126 bewegt, stark und angenehm ist. Auch Mikaels Geschäftspartner Martes, der Chef einer renommierten Werbeagentur, nimmt an Mikael einen neuen Duft wahr: »Mikael duftet ein wenig nach CK One von Calvin Klein, nach Fichte, Zitrone und Gewürz – und in mir regt sich etwas.« 127 Dr. Spiderman beschreibt einen Duft »nach Wald und Metall, seltsam erregend« 128. Mikael atmet erst unbewusst, später mit wachsender Begeisterung diese Duftstoffe ein, die eine enorm erregende Wirkung auf die Sinneswelt der Figuren haben. Mit diesem aphrodisierenden Aroma ruft der Troll heillose Verwirrung im Gefühlsleben der Protagonisten hervor. Darüber hinaus wird der Troll durch dieses Aroma mit seinen Artgenossen verbunden und zugleich von der Menschenart unterschieden. Nach einiger Zeit wird Martes bewusst, dass die ganze Wohnung Mikaels in diese Troll-Düfte eingehüllt ist. welche in den Tieren abnormales Verhalten auslösen sollen (Ebd., S. 129). Auch Nahrungsknappheit könnte den Troll dazu gezwungen haben »seinen Lebensbereich von den unbewohnten Wäldern und Bergen in Stadtnähe« zu verlagern (Ebd., S. 74). 124 Ebd., S. 138. 125 Ebd., S. 141. 126 Ebd., S. 16. 127 Ebd., S. 83. 128 Ebd., S. 100.
156 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »In der Luft schwebt Mikaels Aftershave wie eine erstickende Wolke, die ganze Wohnung scheint diesen Duft zu atmen, der in dieser Stärke die pure Lust ist und mich mit einer halben Erektion demütigt.« 129
Weiterhin entdeckt Dr. Spiderman, dass die Luft im Haushalt Mikaels voll von Pheromonen ist, die zusammen mit den Geruchsmolekülen vom Troll abgesondert werden. »Besondere Geruchsmoleküle, die die Tiere an die Luft abgeben. Damit wird Brunst und Angst, der Gesundheitszustand und die Stellung in der Horde signalisiert… Die anderen Mitglieder der Horde und der Rasse werden so manipuliert, kontrolliert und angelockt.«130
Der Duft hat »mit Zusammenhalt einer Untergruppe der Horde zu tun«. 131 Der Troll kann durch den Ausstoß des Geruchs dem Alphamännchen seine Kooperationsfähigkeit und Unterordnung signalisieren. »Angel [Mikael] war sein Alphamännchen«, so Spiderman. Dies erklärt, warum Angels Troll ihn nicht angegriffen und zu töten versucht hat, sondern stattdessen Angels Revier schützte, wann immer er konnte. 132 Die ausgestoßenen Pheromone bilden innerhalb von Mikaels Wohnung eine abgeschlossene Schutzzone, in der die Liebe zwischen den beiden sich allmählich entwickelt. Diese »Liebeszone« untersteht keinem vorherrschenden Diskurs oder den Moralregeln der Außenwelt. In der Wohnung erschafft das Troll-Pheromon die klare Grenze der Schutzzone. Doch der Schutzraum wird bald wieder mit den Regeln der Außenwelt konfrontiert, die die Beziehung zwischen Mikael und dem Troll unter Druck setzen. Nach ersten körperlichen Berührungen mit dem Troll wird Mikael von Schuldgefühlen geplagt. Er versucht, den Troll wieder in den Wald zurückzubringen, was scheitert, da beide sich nicht voneinander trennen wollen. Die Beziehung, die sich zwischen ihm und dem Troll entwickelt, spielt für ihn und seine soziale Umgebung eine immer größere Rolle. Während er anfangs nur neugierig auf das fremde Wesen war, unterwirft er sich nun völlig dem Leben und der Kraft des Wilden. Ab diesem Zeitpunkt ist das Leben Mikaels mit dem des Trolls untrennbar verflochten: »Ich habe ihn hier eingesperrt, habe versucht, ein Stückchen Wald einzufangen,
129 Ebd., S. 208. 130 Ebd., S. 233. 131 Ebd., S. 298. 132 Ebd., S. 298.
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und nun hat der Wald mich eingefangen«, so Mikael.133 Im Folgenden wird gezeigt, wie der Trollduft sich auf die gesamte Stadt auswirkt. 7.3.3 »Stadt-in-der-Stadt«: Rahmenbildung und Geschlechteridentität In einer langen Figurenrede beschreibt der Buchhändler Ecke sein Verständnis des Raumes in Städten, das er »Stadt-in-der-Stadt«134 nennt. Nach seiner Beschreibung werden Räume oft mit geschlechter- und klassenspezifischen Etiketten versehen. Die Menschen in einzelnen kulturell und gesellschaftlich bestimmten Räumen werden dadurch gestaltet und sogar typisiert, dass sie sich bewusst oder unbewusst mit den sie umgebenden Gegenständen, Räumen und Landschaften auseinandersetzen. Folglich werden sie von dieser Rahmenbildung entweder erweitert oder begrenzt, in Klassen- und Geschlechtszuschreibung eingeordnet. Die Menschen wiederum gestalten und bereichern ihrerseits auch den Rahmen. »Und es gibt Städte der verschiedenen Menschenarten. Es gibt die Stadt eines bestimmten Frauentyps, die Straßen nach den Geschäften, dem Niveau der Boutiquen, Parfümerien, Juweliere und Schuhgeschäfte ordnen. Die Stadt des Säufers wiederum besteht aus Kneipen, Würstchenbuden, Alk-Läden, den Einfahrten, in die man schnell verschwinden kann, um zu pinkeln, und aus den Unterschlupfen der Kumpels, die man um Geld oder um einen Schlafplatz anhauen kann. Der Säufer nimmt die Boutique nicht mal wahr, sie hat für ihn keine Funktion, so wie die modebewusste Frau die schmierigen Kneipen nicht wahrnimmt, sie existieren für sie gar nicht.«135
Die gesellschaftliche Verortung von Menschengruppen im Raum beeinflusst ihre Zugänge zu Ressourcen, ihren Verhaltenskodex und ihre Sichtweisen. Das Wechselspiel zwischen Subjekt, Geschlecht und Räumlichkeit wird hier aber vielseitig dargestellt. Durch die Unterscheidung von Gerüchen lassen sich nicht nur Tiere und Menschen, sondern auch verschiedene Menschengruppen voneinander unterscheiden. Ein Individuum und sein Duft tragen Informationen und Merkmale, die dieses selbst nicht bemerkt. Es bildet einen blasen-ähnlichen Bereich um sich, der sich von dem der anderen unterscheidet. Das Erkennen und die Definition solcher Blasen sind für einen olfaktorisch unempfindlichen Menschen kaum vorstellbar:
133 J. Sinisalo: Liebesgeschichte, S.190. 134 Ebd., S. 123. 135 Ebd., S.122f
158 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »Seltsam, wie es Städte und Städte geben kann. Städte in Städten. Die Stadt der Hunde ist aus Gerüchen gebaut, für sie ziehen verschiedene Urin-Aromen die Grenzen eines Viertels, und jeder Geruch ist wie ein im Wind flatterndes Tuch, eine stadtviertelgroß ausgedehnte Sprechblase, die erzählt, Fido war vor ungefähr vierundzwanzig Stunden hier, oder die laut schreiend verkündet, HIER IST GERADE EIN JUNGER MENSCHENMANN MIT RAUCHFLEISCH IN DER TASCHE VORBEIGEGANGEN. Die Luft ist voll von diesen Signalen, und der Hund erfasst sie ebenso selbstverständlich und ohne langes Grübeln wie der Mensch das ganze Gewirr der Photonen, das von Farben und Formen und dem Wechseln des Lichts verursacht wird [Herv. i.O.].«136
Manchmal bewegen Menschen sich durch Räume, ohne die Veränderung der Gerüche und deren Botschaften um sich herum zur Kenntnis zu nehmen. »Durch die Luft des Café Bongo schwirren ständig tausend tonlose Botschaften. Wenn man sie sehen könnte, wäre das ganze Lokal bis unter die Decke voll von regenbogenfarbenen Spinnweben.«137
Von diesem Duft umgeben, wird der gesellige Ort »Café Bongo« zu einem Freiraum innerhalb der Stadt, in dem die hauptsächlich homosexuellen Besucher vor der normativen Macht geschützt sind. Auch eine heterosexuelle Frau zeigt sich von der Atmosphäre im Café regelrecht befreit und fühlt sich in die Umgebung integriert. »Für sie sind wir edle Wilde, in so einer Art Grauzone außerhalb der minutiös organisierten Gesellschaft, unerforschtes Terrain, wo man besonderes viel Mumm braucht, um es zu betreten. Aber wenn man sich einmal hineintraut, dann bleibt einem der wunderbare Duft der Freiheit und Unangepasstheit in den Kleidern hängen und macht aus jedem einen instantAnarchisten.«138
Jenseits der Diskurse ruft eine von Gerüchen bestimmte Topographie der Stadt spezifische Wahrnehmungen, emotionale Verarbeitung wie auch alltägliche Handlungsstrategien hervor. Dem Geruch kommt eine konstitutive Funktion in der Ausbildung der Räumlichkeit zu. Die aus dem Geruch konstruierten Räume beeinflussen wiederum die Konstruktion der Geschlechteridentität. Vor allem wird hier unter der Herrschaft des Trolldufts die diskursive Produktion von Geschlechterrollen
136 Ebd., S. 122. 137 Ebd., S. 124. 138 Ebd., S. 125.
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und Geschlechterverhältnissen herausgefordert. Das zeigt sich ganz deutlich an der Figurenkonstellation um Mikael und den Troll. 7.3.4 Der fotografierte Troll im Zentrum Der über die Wohnung hinausgehende Trollduft weitet seine Wirkung auch auf andere Figuren aus. Eine philippinische Sexsklavin des Nachbarn, der Tierarzt Dr. Spiderman, der kühl kalkulierende Agenturchef Martes und schließlich der Buchhändler Ecke verwickeln sich in eine Reihe von Ereignissen, in deren Zentrum sich Mikael und der Troll befinden. Alle Charaktere lernen den Troll auf eigene Weise kennen und begegnen ihm unterschiedlich, in Abhängigkeit von ihren Dispositionen und Projektionen. Martes vermittelt Mikael einen neuen Job in seiner Werbeagentur. Für die bekannte Linie »Stalker« einer Jeansfirma sollen Ideen für eine neue Kampagne gesammelt werden. »Stalker« soll eine Fashion-Ikone werden, indem die Werbefotografien einen neuen Blickwinkel auf die Linie vermitteln. Von der physischen Schönheit des Trolls inspiriert schafft Mikael es, in den letzten Tagen vor der Abgabefrist Fotos für die Stalker-Kampagne zu machen. Dabei verwendet er den Troll als Modell.139 Die Fotos hinterlassen einen starken Eindruck bei allen Figuren im Roman.140 Mikael ist fasziniert von der »eingefrorene[n]« Schönheit des Trolls und »kann die Augen nicht losreißen von dem Layout, der schwarzen Mähne, den die Luft durchfurchenden Krallen, der brüllenden Miene, dem BallettBreakdance-Sprung«141. Auch Martes bewundert die Kraft der Wildnis, die der unheimliche Troll in sich trägt und nun auf den Fotos so lebendig darstellt. »Der Troll befindet sich vor einem hellen, neutralen Hintergrund. Er fletscht die Zähne und sieht grandios aus. Weiß der Teufel, was Michelangelo [Mikael] mit Photoshop hat anstellen müssen, damit die Augen derartig lodern. Auf dem Bild erscheint er riesig, mindestens zwei Meter groß, und trotzdem wirkt er schlank und grazil, und sein Antlitz ist nicht fratzenhaft wie auf den ewigen Trollbildern, die ich gesehen habe, sondern erinnert verblüffend an ein menschliches Gesicht. Seine Mähne flattert. Sein pechschwarzes Fell glänzt. Die langen gekrümmten Krallen an den oberen und unteren Extremitäten greifen ins Leere. Er ist mitten in einem wildem Strecksprung, einer Mischung aus Ballett und Breakdance. Die knisternde Energie des Fotos lässt den Betrachter instinktiv jeden Muskel anspannen, um zurückspringen zu können. Und dieser Punk-Gott der Tiere trägt Stalker, die wie angegossen sitzen.
139 Vgl. Ebd., S. 205. 140 Vgl. Ebd., S. 250. 141 Ebd., S. 196.
160 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS Über dem Bild in extrem schlichter, fast flüsternder Type die Headline: STALKER. FÜR RAUBTIERE.«142
Wildheit und Vitalität, Dynamik und Brisanz, Offenheit und Freiheit sind die Stichwörter, die die Jeanswerbung seit Jahrhunderten zu vermitteln versucht. Mit seiner unzivilisierten und wie geschnitzten Naturschönheit steht der Troll im Einklang mit diesen Werten. Die Übereinstimmung zwischen dem Körperkult des Trolls und der Zielsetzung der Jeanswerbung erlangt einen derart großen Erfolg, dass die Kampagne zur Mediensensation wird. Mikael muss jedoch seine Urheberschaft an den Fotos vertuschen. Er erklärt daher, sein vermeintlicher russischer Bruder, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sei der Urheber der Fotos. Damit möchte er mögliche rechtliche Probleme vermeiden, in die er wegen der Arbeit mit einem Wildtier geraten könnte. Nach finnischem Recht wird die illegale Gefangennahme eines Wildtiers als sogenanntes »Jagddelikt« geahndet, auch die Haltung in einer Wohnung ist nicht erlaubt. Aus diesen Gründen muss Mikael den Troll auch verstecken und das wahre Modell der Fotos verschleiern. In der Kraft und Schönheit des Trolls, die auf den Bildern fixiert sind, ist auch Mikaels Liebe zum ihn konkretisiert worden. Nur sehr aufmerksame und sensible Betrachter der Fotos kommen auf die Spur der subtilen Beziehung zwischen dem Fotografen und dem Dargestellten. Diese flüchtige Mehrdeutigkeit ist nur auf der Aufnahme erfassbar. Ein anderer Handlungsstrang betrifft die Beziehung zwischen dem Buchhändler Ecke und Mikael. Der Buchhändler fühlt sich zu Mikael hingezogen, doch in dessen Augen besitzt Ecke nur insofern eine gewisse Attraktivität, als er geistreich und scharfzüngig ist. Der Buchhändler hat jedoch ein wertvolles altes Buch über Trolle, das Mikael interessiert. Als Ecke das Troll-Foto der Stalker-Werbung sieht, fällt ihm darauf sofort etwas auf, »das auf peinliche Weise erotisch, nein, stärker: pornographisch ist«, jedoch kann er nicht genau sagen, was. »[D]as Foto ist eine Sensation, ein Knaller, es ist schamlos sexuell, ohne jedoch sexuell zu sein.«143 Das reizvolle Paradox, das das Foto zur Schau bringt, erregt große Neugier in ihm, was dazu führt, dass Ecke ins »Reich« von Mikael eindringen will. Er weiß nicht, dass der Troll darin bereit ist, sich vor Fremden zu verteidigen. Im Roman wird über den Unterschied zwischen Menschen und Tieren reflektiert, der in der Moral begründet sei. 144 Trolle als Wesen des Waldes, die nur Instinkten gehorchen, haben keinen Begriff von Recht, Ordnung und Moral. Der Troll Pessi kennt kein Gut und Böse, keine Sitten und Gebräuche. Er verträgt sich nicht 142 Ebd., S. 184. 143 Ebd., S. 250. 144 Vgl. Ebd., S. 166.
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mit der Menschenwelt. Ohne die Welt der Menschen zu betreten und mit Menschen richtig kommunizieren zu können, bleibt der Troll in einer in sich geschlossen Welt. Er ist das stumme Subjekt im Hintergrund des Romans: Die Kommunikation zwischen Mikael und Pessi findet nur auf körperlicher Ebene statt. Die Liebe zwischen ihnen vereinigt die beiden, und schließt Eindringlinge aus. Zusammen sind Mikael und der Troll »perfekt« 145. Diejenigen, die diese Liebe zu gefährden drohen, werden angegriffen oder sogar umgebracht. Diese tierische Liebe zu Mikael, die dem Verhältnis von Alphatier und den untergeordneten Mitgliedern einer Horde ähnelt, ist aufrichtig und bedingungslos. Diese Aspekte in der Beziehung der beiden bieten identifikatorisches Potential für die Leser: Der Wunsch, einander in einer Liebesbeziehung zu beschützen, ist wohl auf einer allgemeinen Ebene nachvollziehbar. Im Roman wird aus dem Werk Der lebendige Satan (1911) zitiert. Dort wird die Behauptung aufgestellt, dass der Troll für einen höheren Zweck Gottes in die Welt der Menschen eingesetzt wird. Der Waldteufel in Gestalt des Trolls verkörpert also in gewissem Sinn eine Probe Gottes für die Menschen. »Der wahre, leibhaftige Waldteufel ist in unsere Mitte gestellt, damit wir uns an unsere Vergehen erinnern und es nicht noch mehr werden. Es war Gott, der Allmächtige, der den leibhaftigen Satan in unsere Mitte gestellt hat, und seine Aufgabe ist es, wenn die Bosheit des Menschen Fleisch geworden ist, als dessen Verkörperung, als höllische Vision aus dem Wald und auf den Weg jedes Sünders zu treten. Da das Menschengeschlecht hartnäckig ist und die Gebote des Herrn missachtet, hat Gott diese schauderhaften Söhne Luzifers bestellt, um uns zu warnen. Jeder, der in seinem Herzen eine Falschheit auch nur in Betracht zieht, sollte auf den Pfad hinter sich blicken; denn zeichnet sich hinter ihm nicht schon die Gestalt des leibhaftigen Satans ab, des Verführers, der auf Befehl Gottes aus dem Erdboden entstanden ist und der nur darauf wartet, den Übeltäter mit seinen gräulichen Krallen zu packen? So sind wir alle auf eine schreckliche Probe gestellt...«146
Weit über seine Rolle als Haustier hinaus fungiert Pessi als ein im Zentrum stehender Zeichenträger, der die Tücke und den Hass der Menschenwelt widerspiegelt. Das Verdrängte, Unheimliche und Gefährliche der Menschennatur, das sich jenseits der Welt des Verstandes und der Vernunft befindet, kommt so durch die Intervention eines Trolls zum Vorschein. Sein Eintritt in die Welt spornt den Menschen an, mehr über eigene Vergehen zu reflektieren. Anderseits jedoch verkörpert
145 Ebd., S. 176. 146 J. Sinisalo: Liebesgeschichte, S.220.
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der Troll bedingungslose tierische Liebe, die die alte Ordnung seiner Umwelt umzustürzen droht. Diese These wird im nächsten Kapitel ausgeführt. Im Folgenden möchte ich ebenfalls erläutern, inwiefern der in Mikaels Wohnung versteckte Troll ein »Katalysator« für den emotionalen und sexuellen Stoffwechsel der Figuren und der Menschen in der Großstadt wird und alle zuvor latenten Konflikte zur Eskalation bringt. 7.3.5 Die Gewaltspirale: die Eskalation der Krise In unterschiedlichen Kapiteln wird ein facettenreiches Bild der Situation um Mikael und den Troll beschrieben. Der Roman erzählt die Szenen nicht nur aus Mikaels Sicht, sondern blendet auch die Ich-Perspektiven anderer Figuren ein. Jede der fünf Figuren macht sich einen eigenen Reim auf das Verhältnis zwischen dem Troll und Mikael und auf dessen Wandlung. Die geordneten Welten der Figuren werden vom Troll ohne jede Absicht durcheinandergebracht. Es wird nun dargestellt werden, wie durch die Beziehung der verschiedenen Figuren zu Mikael und dem Troll Grenzen durchbrochen werden. Dies geschieht unabsichtlich und wirkt oft wie ein bloßer Nebeneffekt. Der Troll Pessi und Michael stehen im Zentrum der Gewaltspirale im Roman. Figuren wie Martes, Dr. Spiderman und Ecke spüren eine Wandlung in Mikaels Benehmen. Infolge der Pheromone begehren sie Mikael, begreifen dabei jedoch nicht, worin genau seine Attraktivität liegt. Der reizvolle Körpergeruch, der sich während des Zusammenlebens mit dem Troll auf Mikael überträgt, fördert seine Attraktivität ungemein und macht sowohl Männer als auch Frauen nach ihm verrückt. Darüber hinaus besitzt er mit seinem engelhaften Erscheinungsbild eine unwiderstehliche Anziehungskraft: Mikael ist ein Mann »mit dem engelsschönen Gesicht, dessen Haar wie Licht im Weizenfeld leuchtet«147. Mikael, wie sein Kosename Angel suggeriert, verkörpert eine geradezu überirdische Schönheit. Jeder verfällt seinem Duft, auch die von ihrem Ehemann eingesperrte Nachbarin Palomita, deren Alltag aus häuslicher Gewalt und Überwachung besteht. Das warme Lächeln von Mikael ist der einzige Hoffnungsschimmer in ihrem Leben. Zudem fühlt sie sich wertvoller, seitdem sie mit Mikael das Geheimnis des Trolls teilt. Palomita sehnt sich nach einer Umarmung Mikaels und verliebt sich in ihn. Immer wieder muss Palomita ein neues Versteck für die Magazine und Zeitschriften suchen, die sie von ihm geschenkt bekommt. Sie sind das einzige, durch das sie in ihrem äußerst begrenzten Lebensraum eine Verbindung zur Außenwelt herstellen kann.148 Während die Zeitschriften ihr einen heiteren Blick auf 147 Ebd., S. 36. 148 Vgl. Ebd., S. 119.
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die Welt vermitteln, beschränkt der Türspion ihre tatsächliche Sicht auf eine kleine, runde und bizarre Szene, in der sie Ausschnitte aus dem Leben ihrer Mitmenschen beobachtet. Die Beziehung zwischen Martes und Mikael verändert sich, als Mikael beginnt, nach dem Troll zu duften. Vorher geht Martes kühl und distanziert mit Mikael um und zielt lediglich auf eine Verstärkung ihres profitablen Geschäftsverhältnisses. Als Martes die Veränderung von Mikaels Körpergeruch bemerkt, das für ihn wie das Parfüm »CK One« von Calvin Klein duftet, beginnt er, Mikael zu begehren. Der Trollduft wirkt sich stark auf ihn aus. Zudem scheint Mikael für die Werbekampagne für »Stalker« die einzig passende Person zu sein: Er ist ein wertvoller und unkomplizierter Geschäftspartner. Martes spürt Mikaels Geistesabwesenheit bei einem Treffen und möchte seinem Benehmen auf den Grund gehen. Ohne sich anzukündigen, besucht er Mikael und begegnet dort unerwartet dem Troll. Dieser kommt ihm wie ein schwarzer und »zähnefletschender« Dämon vor. Er agiert als Bewahrer der Wohnung. Nachdem der Troll ihn schlägt, attackiert Martes ihn seinerseits mit einem Regenschirm. Wie ein Wesen aus der Unterwelt ist der Troll vom Blutgeruch des Eindringlings begeistert. Er hinterlässt vier parallele rote Streifen auf Martes’ Wange. Dieses Stigma soll ihn an seine Angst vor dem Troll erinnern. Erst jetzt kommt Martes hinter Mikaels Geheimnis: Der russische Bruder, den Mikael erfand, um sein Geheimnis nicht zu gefährden, existiert nicht. Bei der Erfüllung seiner Wünsche schreckt Martes vor nichts zurück, egal ob es sich um Geld oder Lust handelt. Er vertritt das egozentrische Bewusstsein einer kalten, modernen Gesellschaft: Als Karrierist behält er gesetzliche Grauzonen im Hinterkopf, um dadurch eigene Vorteile zu maximieren. In seiner Lebensphilosophie sind Vertrauen und Verständnis nebensächlich. Nach dem Zusammenprall mit dem Troll beendet er seine Arbeitsbeziehung mit Mikael. Indem er Mikaels Urheberschaft der Fotos leugnet, übt er Rache an ihm. Dadurch kann er ohne rechtliche Einschränkung die Fotos besitzen und nutzen: Er behauptet, dass alle Rechte an Mikaels Fotos an die Agentur übergehen, da »der russische Bruder«, der angebliche Urheber der Fotos, tot sei. Um die Rechte für die Fotos wiederzuerhalten, droht Mikael, Martes’ Betrug den Kunden zu offenbaren. Die Situation eskaliert, als Martes der Polizei das Versteck des Trolls verrät, um Mikael in Schwierigkeiten zu bringen. Die Sexsklavin Palomita ist im Roman eine sehr ambivalente Figur, die eigentliche Schlüsselperson der ganzen Krise. Ihr Apartment ist für die Autodidaktin ein Ort, in dem sie sich selbst weiterbildet, sich dem christlichen Glauben annähert und den Mut für eine Rebellion sammelt. Durch den Türspion betrachtet Palomita die Außenwelt im Geheimen, ohne sich ihr dabei direkt auszusetzen. Kontakte mit anderen Menschen sind für sie nur in Form von kurzen und streng
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bewachten Treffen denkbar. Aufgrund dieser Umstände wird sie in diesem fast isolierten Dasein der Außenwelt gegenüber sehr sensibel. Sie achtet verstärkt auf Geräusche in ihrer Umgebung, insbesondere auf diejenigen, die aus der Wohnung Mikaels kommen. Aus diesem Grund ist sie die erste im Haus, die den Troll bei Mikeal entdeckt. Sie sieht den Einbruch Eckes in die Wohnung von Mikael als eine Gelegenheit für Mikael und sich selbst, aus ihrer konfliktreichen Existenz zu entkommen. Für Mikael ist es nicht mehr möglich, die Liebesbeziehung mit dem Troll zu verschleiern; für sie selbst ist die Folter ihres Manns nicht mehr zu ertragen. Sie hindert Mikael daran, in seine Wohnung zu gehen. Dies geschieht genau zu dem Zeitpunkt, an dem Ecke die Wohnung betritt. Sie weiß genau, was Ecke zustoßen wird und lässt es geschehen. Sie hält es für die einzig mögliche Lösung für Mikaels Dilemma, die menschliche Welt zu verlassen. Nur wenn »es keine Umkehr mehr gibt«, kann Mikael sich für so eine Lösung entscheiden.149 In diesem Augenblick spielt sie als Außenseiterin die Schicksalsbotin Mikaels und provoziert eine Eskalation. Als die Polizisten zum Tatort kommen, beginnt sie ihrerseits gegen die Tür ihrer Wohnung zu schlagen und zu schreien, sodass sie sie hören und von ihrer Gefangenschaft befreien können.150 Die Tötung Eckes kann als Peripetie des Romans betrachtet werden. Nach dem Totschlag von Ecke soll der Troll als Mörder und als Zerstörer der Ordnung eingeschläfert werden. Für diese Aufgabe steht der angesehene Tierarzt Dr. Spiderman zur Verfügung. Aus Sympathie für die Liebesbeziehung zwischen Mikael und Pessi ruft er Mikael an und rät ihm, mit Pessi fortzugehen, um so der Verhaftung zu entgehen. Auf dem Höhepunkt der mimetischen Krise herrscht die Gewalt aller gegen alle. Der Trollduft trägt zuletzt sogar dazu bei, die Konflikte von allen Seiten zu verschärfen. Die vorläufige Balance zwischen Intimsphäre und Außenwelt, die durch die Pheromone des Trolls gewahrt war, bricht nach dem Totschlag Eckes zusammen. Das Auftreten des Trolls bringt Chaos in die Ordnung der Stadt und destabilisiert die Hierarchie zwischen Menschen und Tieren. 7.3.6 Subjektivierung durch gegenseitige Beseelung: Menschwerdung des Trolls und Engelssturz In diesem Kapitel möchte ich aufzeigen, inwiefern im Roman Troll, eine Liebesgeschichte Mikael mit seinem Troll eine untrennbare Einheit bildet. Im Roman wandelt sich der Troll von einem Tier zum Menschen, während Mikael sich für
149 Ebd., S. 276. 150 Vgl. Ebd., S. 292.
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ein Leben unter Tieren entscheidet. Allmählich treten menschliche Züge an die Stelle der tierischen Eigenschaften des Trolls. Auch äußerlich gewinnt der Troll an menschlichen Konturen und Aussehen. Schrittweise kommt ein menschenähnliches Bewusstsein in Form von Emotionen wie Stolz, Eifersucht, Rache und ein triumphierendes Gefühl zum Ausdruck. Er ist besonders stolz darauf, dass er Mikael nachahmen kann und dass er gelernt hat, die Tür zu öffnen, um sich in die fremde Welt hinaus zu begeben.151 Der Troll verlässt nach seiner Genesung häufiger die Wohnung und interessiert sich zunehmend für die Menschenwelt. Er versucht immer wieder, aus seinem Zufluchtsort, der Wohnung Mikaels, auszubrechen, da er mehr über die Welt erfahren möchte, in der sein Geliebter lebt. Die Liebe zu Mikael treibt den Troll zum Hinausgehen sowie zur Verteidigung der Wohnung. Pessi, der sich anfangs im dunklen Hintergrund aufhält, erhebt sich zum Subjekt des Geschehens und verteidigt Mikaels Wohnung gegen alle Eindringlinge. Seine Felszeichnung, die er mit dem Blut des Gegners Martes’ anfertigt, liest Mikael als weiteren Beweis für seine menschenartige Intelligenz. 152 »Warum hat er nicht die Kacheln im Bad mit Siegeszeichen dekoriert, mit Meerschweinchen und Rennmäusen, in wütenden, primitiven Strichen, immer dann, wenn es Blut zur Verfügung hatte? Vielleicht ist das Töten und Fressen eines kleinen Nagers keine Sache, derentwegen Lieder gesungen oder Gemälde gezeichnet werden; wohingegen die Verteidigung des Reviers, die Vertreibung eines großen Gegners eine solche ist. Ist es das?« 153
Ebenso beginnt der Troll, sich selbst zu erkennen, als »er sein Bild auf der Oberfläche des dunklen, tiefen Wassers«154 sieht. Durch seine Liebe beseelt Mikael den Troll, während dieser seine bedingungslose Liebe erwidert. So verhilft die Einheit zwischen den beiden zu ihrer Abschottung von gesellschaftlichen Normen. Die entgegenlaufende, aber auf eine Einheit hin zielende Entwicklung von Mikael und seinem Troll erinnert an Sloterdijks Bildung einer Sphäre155 zwischen zwei Subjekten bzw. zwischen »Hauchgeber« und »Hauchnehmer«, die einem Zwang zur 151 Vgl. Ebd., S. 183. 152 Vgl. Ebd., S. 236. 153 Ebd., S. 238. 154 Ebd., S. 249. 155 Sloterdijk stellt »das Dyadische« als Ursprung der Welt vor: »Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen« (Sloterdijk, Peter/Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 145). Hierbei handelt es sich um einen spezifischen Weltentwurf. Es geht darum, »die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der
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Raumerzeugung unterliegen. Eine innige, bipolare Spannung mit synchroner Struktur entsteht zwischen Hauchgeber und Hauchnehmer, in der beide beseelt werden. Hauchung verlangt nach Gegenhauchung. Daraufhin konturiert sich in der dyadischen Einheit der Sphäre die Subjektivität überhaupt – dazu ist aber keine vorgegebene diskursive Matrix notwendig.156 Die untrennbare Einheit zwischen den beiden vereint metaphysische Oppositionen wie Licht und Dunkel, Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Natur und Kultur: »Wir betrachten einander, ich und der Troll. Das Lampenlicht erzeugt um meinen Kopf herum eine helle Aureole, und Pessi hebt sich neben mir als dunkle Silhouette ab; wir sehen uns in die Augen, sehen in den Spiegel und wieder einander in die Augen.«157
Mikaels Leben verläuft in einer gegensätzlichen Richtung. Er wird zum Menschen, der unter Tieren lebt. Nach dem Mord an Ecke fliehen Mikael und Pessi aus der Stadt ins Naturschutzgebiet Halimasjärvi. Des Totschlags verdächtigt bleibt Mikael keine andere Wahl, als mit dem Troll in den Wald zu flüchten. Entlang der Trollpfade begegnen sie anderen Exemplaren dieser Spezies. 158 »Die Sonne ist hinter dem Wald aufgegangen, ihre schrägen Strahlen dringen wie goldene Dunststreifen durch die Fichtenzweige und zeichnen glühende Flecke ins Moos. Die Sonnenstrahlen ergießen sich über die Lichtung wie eine warme Flüssigkeit.«159
Der Sonnenaufgang suggeriert eine heitere Zukunft des Zusammenlebens mit dem Troll im Wald. Mit diesem offenen, dabei aber optimistischen Bild schließt der Roman. Der vom Duft bewirkte Außenrahmen (Makrosphäre) und der untrennbare Zusammenhalt von Angel und dem Troll (Mikrosphäre) fallen nun zusammen. Dementsprechend ändert sich das sexuelle Verhalten anderer Figuren. Wegen des Trolldufts beginnen alle männlichen Figuren, Mikael mehr als zuvor zu begehren, Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die so genannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln« (ebd., S. 139). Die »dyadische Sphäre« kann als Ursprungsmodell unserer Welt verstanden werden: Kein trennender Dualismus, sondern eine Zweieinigkeitsstruktur, eine von Zweien konstituierte Einheit. 156 Vgl. Sloterdijk, Peter: Sphären I–Blasen, Mikrosphärologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 31ff. 157
J. Sinisalo: Liebesgeschichte, S.161.
158
Vgl. Ebd., S. 311.
159 Ebd., S. 311.
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was unvermeidlich in einer Gewaltspirale eskaliert. Der Zusammenhalt zwischen Mikael und Pessi steht im Kontrast zu den sonst nicht von Liebe motivierten Beziehungen im Roman. Da sie angesichts der Krise immer bedingungslos zueinander stehen, bilden sie eine Einheit, die sich nicht von Normen und Moral bestimmen lässt. Jede derjenigen Figuren, die als wechselnde autodiegetische Erzähler eine eigene Version der Geschichte berichten, macht Mikael und Pessi zur Projektionsfläche. Im Grunde genommen ist dieser Roman somit szenisch konzipiert und erinnert in seiner Informationsvermittlung sehr an ein Drama.
7.4 T HOMAS M EINECKE : J UNGFRAU (2008) In diesem Abschnitt soll anhand von Meineckes Jungfrau aufgezeigt werden, dass sich im literarischen Schaffen des Autors eine neue Phase entwickelt. In dieser Phase treten Elemente auf, die eindeutig neu sind und nicht mehr der Postmoderne zugeordnet werden können. In Jungfrau werden die Konflikte und Kompromisse zwischen der katholischen Kirche sowie Probleme im Bereich des geschlechtlichen Lebens in Betracht gezogen. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht die Frage, ob es sich beim fiktiven und theoretischen Komplex, den Meinecke im Roman Jungfrau darstellt, tatsächlich um ein groß angelegtes und kaum identifizierbares Verwirrspiel handelt. Ist der Roman ein Sample, in dem der Autor seine Figuren und seine Handlung der Zitatmontage unterordnet? Meines Erachtens folgen die zitierten Theorien in diesem Buch eher einer Handlung, in der der Protagonist durch eine eigene Performanz ein Handeln vollendet und sich entwickelt. Zudem steht dieses Handeln mit dem äußeren diskursiven Rahmen in Einklang. Der Roman verbindet Samplings (Zitatmontagen) von Theorietexten verschiedener Autoren, die formal und inhaltlich im Umfeld High- und Low-Culture variieren. Religiöse Ansätze werden in die pop-kulturellen Kontexte von Kino und Kunst aus dem Umfeld des amerikanischen Künstlers Andy Warhol (1928-1987) gesetzt, des Weiteren des Regisseurs Jack Smith (1932-1989) und des B-Movie Stars Maria Montez (1912-1951) und ihrem Nachahmer Mario Montez, sowie der Jazz-Pianistinnen Mary Lou William (1910-1981) und Jutta Hipp (1925-2003). Die Montage und die Kombination der Wissensfragmente reflektieren den Arbeitsprozess der Figuren, die sich gerade wissenschaftlich mit entsprechenden Themen beschäftigen. Die Sprache des Romans wechselt zwischen Englisch und Deutsch. Dadurch entsteht ein Assoziationsnetz und Textgeflecht, in dem ein hoher Grad an Intertextualität enthalten ist. Zeitlich finden die Handlungen und Diskurse sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart der Erzählung statt.
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Jungfrau stützt sich auf zwei voneinander abgrenzbare Ebenen der Erzählung. Zum einen ist da die Handlungsebene, die von der Romanze zwischen dem Theologiestudenten Lothar Lothar und der Jazz-Pianistin Mary Lou Mackey handelt. Während der Beschäftigung mit der katholischen Theologie entschließt Lothar sich zu sexueller Enthaltsamkeit. Angesichts der Versuchung durch die schöne Pianistin gerät er häufig in Gewissenskonflikte. Um den christlich bestimmten Umgang mit der Erotik zu veranschaulichen, gibt es neben der Liebesgeschichte von Lothar und Mary-Lou eine diskursive Ebene, die vornehmlich aus der Nacherzählung bekannter Liebesbeziehungen in Bezug auf den Katholizismus besteht und Beobachtungen, Recherchen und Reflexionen zu den Forschungsgegenständen der theologischen Schriften enthält. Lothar und seine Freunde erforschen in erster Linie das gemeinsame Werk zweier historischer Figuren, des Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988) und seiner legendären Freundin, der Ärztin und Mystikerin Adrienne von Speyr (19021967). Dabei betätigt sich vor allem eine Gruppe von Studenten, die aus Lothar Lothar, seiner Ex-Freundin Jeannine Waterstradt, dem Liebespaar Gustave Becher und Concordia Weikmeister und zuletzt der Vermieterin Frau Schmeller besteht. Wie in Tomboy bewegen sich die Figuren in der Universitätsgegend zwischen Schnellrestaurant, Kino und Seminarraum. Mit dem Überbegriff »Jungfrau« lassen sich die im Roman behandelten theoretischen Werke von Balthasar und Speyr auf ein Kernthema bringen. Lothar zieht diese Texte aufgrund seiner eigenen Untersuchungsinteressen immer wieder heran, »Jungfrau« ist somit nicht nur der Titel des Romans, sondern auch ein Leitmotiv. Rund um das Thema sammeln sich viele parallele Geschichten und Erzählungen, in denen es sich um literarische Auslegungen, Interpretation und Anspielung des Begriffs »Jungfrau« dreht. Ich möchte im aktuellen Unterkapitel zwei Erzählungen behandeln bzw. die Haupthandlung von Lothar und Mary Lou und die im Roman von Gustave wiedergegebenen Erzählung Der Androgyn (1924) von Joséphin Péladan (1858-1927). Diese zwei Erzählungen weisen eine eindeutige inhaltliche Gemeinsamkeit auf: Angesichts der Verführung der weiblichen Figuren gelingt es den männlichen Figuren, sich gegen ihren sexuellen Trieb zu behaupten. Lothar gewinnt durch seine Performanz des Nichtstuns vorläufig seine Handlungsfreiheit. Mittels Ander Performanz von Stella wandelt sich Samas in Der Androgyn von einem geschlechtlich neutralen Androgyn zu einem Mann. Die Subjektivierung oder die Geschlechtsbildung stehen zeitweilig nicht mehr unter dem Einfluss des Diskurses.
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7.4.1 Lothars Nichtstun: eine Performanz Der Handlungsverlauf in Jungfrau beschäftigt sich nicht nur auf theoretischer Ebene mit Themen im Bereich von Katholizismus und Gender. Der Fokus liegt eindeutig auf der Figurenebene, nämlich auf der Entwicklung einer kurzen Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten Lothar Lothar und Mary Lou, was sich von Meineckes anderen Romanen, die einen handlungsarmen Stil vorweisen, stark unterscheidet. Der freiwillige Verzicht eines erwachsenen Mannes auf Geschlechtsverkehr verlangt einen begierdelosen bzw. jungfräulichen Zustand.160 Ohne eine genaue Motivation nennen zu können, fühlt Lothar sich berufen, sein Studienfach von Theaterwissenschaft zu Theologie zu wechseln und im Zuge dessen ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Lothar ist keine Figur, die sich vom Diskursiven abschirmt. Ähnlich wie bei anderen Figuren von Meinecke ist seine Konfrontation mit theoretischen Kontexten mannigfaltig. Als Nachwuchswissenschaftler befassen sich Lothar und seine Freunde mit vielen Vertretern zeitgenössischer Jazzmusik sowie mit Kunst, Filmen, Philosophie und Theologie. Wie schon Vivian in Tomboy fungiert Lothar dabei als »eine leere Hülle«, die Theorien nur imitiert und weiterleitet.161 Er geht solchen Theorien weder auf den Grund, noch verbindet er eine eigene Motivation mit ihnen. Ohne eigene Beurteilungen anzubringen, begnügt er sich damit, die Aussagen von Theoretikern wiederzugeben. Lothars experimentelle Performanz der Enthaltsamkeit mithilfe einer Rahmenbildung wird mit Künstlern der Popkultur wie Stefan Brecht und Andy Warhol in ihrer asexuellen Orientierung verglichen.162 Ob das Motto von Stefan Brecht »The queerness of queerness is that it is asexual [Herv. i.O.]«163 auch als ein Motiv von Lothars Enthaltsamkeit angesehen werden kann, bleibt noch offen. In Anlehnung an die Dekonstruktion der Geschlechter kann Lothars Haltung als eine Fortsetzung der postmodernen queerness164 verstanden werden. Indem er sich in die 160 Meinecke, Thomas: Jungfrau, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 59. 161 F. Feiereisen: Text als Soundtrack, S. 107. 162 Vgl. T. Meinecke: Jungfrau, S. 226. 163 Ebd., S. 227. 164 Zum Begriff »queer«, siehe Kraß, Andreas (Hg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Queer Studies, Frankfurt a, M.: Suhrkamp 2003, S.18. Die Geschlechtsidentität entsteht nach Butler durch eine kontinuierliche Geschlechtsparodie, in der das tabuisierte, aber wahre Begehren unterdrückt wird. Butlers Infragestellung der heterosexuellen Norm ermöglicht das weitere Untersuchungsfeld »Queer Studies«, in dem die wachsende Pluralität der Vorstellungen von Geschlechterrollen und verschiedene Formen von Begehren zum Ausdruck kommen. Andreas Kraß fasst die
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Asexualität bzw. eine sexuelle Form jenseits der Heterosexualität versetzt, kann er produktive Erkundungen anstellen und das subversive Potential der Dekonstruktion ausschöpfen. Man kann seine Haltung auch als eine Gegenposition zu der von poststrukturalistischer Geschlechtertheorie erhobenen Pluralisierung der Begehren lesen. Lothar selbst widerstrebt es, dass seine Keuschheit auf eine Burleske reduziert wird, als seine Ex-Freundin Jeannine mit ihm manche Stellen in Brechts Buch bespricht. »Ich weiß nicht recht, antwortete Lothar da vorsichtig, denn es kam ihm so vor, als wollte Jeannine, im argwöhnischen Umkehrschluß der Argumentation Brechts, seine experimentelle Praxis der sexuellen Versagung als burlesk brandmarken.«165
Angesichts einer großen Auswahl von Theorien befindet Lothar sich in Unklarheit, da es unterschiedliche Meinungen zum Thema Keuschheit gibt. Seine Entschlossenheit wird bald durch die Verführungskunst einer Frau zur Probe gestellt. Er trifft die Jazzmusikerin Mary Lou Mackay, die mit ihrem »eindringlichen Blick« selbstbewusst und unbefangen wirkt. 166 Die Muse seines Lebens wirkt fast göttlich, denn ihre Schönheit erscheint völlig losgelöst von Alter und Zeit. »Obwohl ihre auffallende Eleganz alles andere als zeitlos war, kam Mary Lou Mackay Lothar Lothar wie die sprichwörtliche Frau ohne Alter vor. Die faszinierende Aura einer Allgemeingültigkeit, fand er, umgab diese Person. Ein von seinem Papa verwöhntes Geschöpf wahrscheinlich, eine Prinzessin, der Unbeschwertheit ihrer Mädchenjahre entwachsen [Herv. i.O.].«167
Lothars Abwehr ist anfangs wirksam:
Ziele der Queer Studies zusammen: diese sind »die Entkloppelung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Heteround Homosexualität sowie die Anerkennung eines sexuellen Pluralismus, der neben schwuler und lesbischer Sexualität auch Bisexualität, Tanssexualität und Sadomasochismus einbezieht«. 165 T. Meinecke: Jungfrau, S. 227, meine Hervorhebung. 166 Ebd., S. 59. 167 Ebd., S. 18.
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»Woraufhin Mary Lou ihren Arm unter dem Tisch ausstreckte und nach Lothars Hand zu greifen versuchte. Lothar aber hatte beide Hände über seiner Brust gefaltet. Drehte lediglich den Kopf zur Seite und betrachtete den grazilen Arm seiner Begleiterin.«168
Je dringlicher die Versuchung jedoch ist, desto größer wird seine Unruhe. »Bei einer jeden dieser verrückten Verabredungen mit ihr war es nun so gewesen: Lothar, von zunehmender, zu groß, um sie zu bewältigen gewordener, innerer Unruhe erfaßt, hatte unvermittelt zum Abschiednehmen gedrängt, heute zum Beispiel behauptet, er werde von einem Antiquar erwartet, doch kaum war Mary Lou seinem Blickfeld entschwunden, wollte er sie schon so bald wie möglich wiedersehen.«169
Mit »jedem einzelnen heimlichen Rendezvous« kommen die Geliebten immer näher zueinander. Wie in einem französischen Film, 170 so beschreibt es Mary Lou. Die Lust steigt mit jeder Annäherung: Sie küssen sich schon »seit einiger Zeit nicht mehr auf Wange, sondern auf die Lippen« 171 . Diese Annäherung, macht Lothar dann dingfest, sei asymptotischer Natur. Bei einer Asymptote handele es sich um eine »Gerade, der sich eine ins Unendliche verlaufenden Kurve nähert, ohne sie zu erreichen«172. Lothar möchte sein Verhältnis zu Mary Lou und dessen Ausgang vorbestimmen: Ihre unendliche Annäherung soll keinen Schnittpunkt erreichen. Egal, wie die Außenwelt sich ändert und wie verführerisch seine Geliebte sich verhält, Lothar beschränkt sein Handeln auf eine Rahmenbedingung, welche er mithilfe dieser mathematischen Figur beschreibt. Des Weiteren verfolgt Lothar ein eigenes Prinzip, das er »Nichtstun« nennt: »Bestimmte Dinge, innerlich aufgewühlt, geradezu trunken, nicht zu tun; im Unterschied zum buchstäblichen Nichtstun.«173 Wenn eine Asymptote Lothars Verhaltensmuster auf eine einfache Rahmenbedingung reduziert, wird das »Nichtstun« zu einer Lebensphilosophie der Passivität. Lothar wartet ab, was auf ihn zukommen wird, ohne ins »Delirium« zu verfallen. Das Zusammenspiel von Nichtstun und einer asymptotischen Annäherungsweise bereitet Lothar einen möglichen neuen Weg, auf dem er leicht und mühelos handeln kann, ohne den Verlust innerlicher Stille zu erleiden.
168 Ebd., S. 91. 169 Ebd., S. 102. 170 Ebd., S. 134. 171 Ebd., S. 137. 172 Ebd., S. 238. 173 Ebd., S. 202.
172 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »Wir tut ja gar nicht nichts, sondern wir tun Dinge nicht. Was damit gleichsam zur aktiven Tätigkeit wird, unter deren latente Faktizität wir nicht mehr zurückkönnen, was mitunter sogar schon, auf unseren kopflosen, wortreichen Ausflügen durch die verschiedenen Bezirke dieser Stadt, auch hier, in Mary Lous Wohnung, zum Delirium ausartete: Bestimmte Dinge, innerlich aufgewühlt, geradezu trunken, nicht zu tun; im Unterschied zum buchstäblichen Nichtstun. So ist uns ständig, auf asymptotisch zugespitzte und zunehmend dramatische Weise, bewusst, was wir anstellten, wenn ich denn, wie Mary Lou es nennt, nicht so katholisch wäre [Herv. i.O.].«174
Durch diese bewusste Einrahmung des eigenen Handelns schafft er für sich selbst einen Handlungsfreiraum. Gegenüber der Versuchung von Mary Lou benimmt er sich freier als vorher, aber innerlich ist er hinsichtlich seiner Glaubensüberzeugung nach wie vor entschlossen. Er genießt den erotischen Moment mit Mary Lou, aber degradiert zugleich ihre Liebesbeziehung auf eine reine Freundschaft. Es handelt sich jetzt um »[e]ine Angelegenheit, die letzten Endes seiner eignen Regie [obliegt]«175. »Im Gegenzug ließ er seine Hand zögerlich über ihre Hose gleiten, zunächst noch auf der Oberseite, dann der Innenseite ihrer Schenkel, was absolut verboten war und Mary Lou zu kleinen Entzückensschreien veranlaßte; Lothar Lothar braucht sich keinerlei Illusionen mehr bezüglich einer objektiven Reinheit dieser Beziehung zu machen. Dabei redete er sich in seinem Tagebuch noch immer über auf den prinzipiell asymptotischen Charakter der freundschaftlichen Zuneigung zwischen Mary Lou Mackay und ihm hinaus [Herv. i.O.].«176
Es ist fragwürdig, ob Lothar dadurch wirklich seine Keuschheit beibehalten kann. Ob ein Geschlechtsverkehr für ihn das Scheitern dieser Performanz kennzeichnet, drückt Lothar im Roman nicht explizit aus. Er weiß selbst nicht, »ab welchem mentalen, respektive praktischen Stadium sein Gelübde auch von ihm selbst als gebrochen betrachtet werden müsse«177. Das Nichtstun befreit ihn zumindest zeitweilig von seinen Gewissenskonflikten mit den katholischen Regeln, indem er das Privatleben bzw. seinen sexuellen Trieb vom religiösen Leben separiert. Diese erotische Annäherung zu genießen bedeutet für ihn keinesfalls den Verlust seines
174 Ebd., S. 202. 175 Ebd., S. 287. 176 Ebd. 177 Ebd.
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Glaubens. Er ist allerdings jederzeit bereit, gegebenenfalls von der Theologie wieder zur Theaterwissenschaft zurückkehren, sollte er sich nicht mehr an das Gelübde halten können. Somit trennt er die Regeln auch vom Glauben ab. 178 Im Vergleich zu früheren Werken von Meinecke treten zwei neue Erscheinungen in den Vordergrund, nämlich eine kausal und final motivierte Handlung sowie Lothar als handlungsfähige Figur, der gegen die Verführung einem selbst bestimmten Verhaltenskodex folgt. Beide Elemente fallen deshalb auf, weil vorher das herrscht, was Pacandet mit »die Unterordnung der erzählerischen Aspekte unter den Diskurs«179 beschreibt. Im Folgenden soll dargestellt werden, inwiefern Lothars Nichtstun als eine gelungene Performanz betrachtet werden kann, die in Übereinstimmung mit dem äußeren diskursiven Rahmen steht. Es bleibt fragwürdig, ob Lothar und Mary Lou einen Weg finden, ihre sexuelle und religiöse Ekstase in Übereinstimmung bringen zu können. Am Ende nimmt diese Handlung des Buches eine etwas banale Wende, als Mary Lou aufhört, Lothar auszuziehen, nur weil er sich nicht ihrem Geschmack entsprechend rasiert. Als Lothar Mary Lous Unlust erfasst, platziert er einen »flüchtigen Kuß auf ihre Stirn« und verschwindet im Auditorium Maximum. Nur »verstellt verliebt« sind die beiden.180 Nun stellt sich die Frage, ob diese Schlussszene als Ironie zu lesen ist, in der die Selbstsuche der Protagonisten in die Irre geführt wird, oder es sich vielmehr um eine gelungene Subjekt-bildende Performanz handelt. Im Folgenden interpretiere ich die Schlussszene aus verschiedenen Perspektiven. Mary Lou reizt es, den keuschen Lothar zu verführen und ihn wieder auf die Seite der Sinnlichkeit zu ziehen. Als er sich eher passiv benimmt, übernimmt Mary Lou den aktiven Part. Sie dominiert die Beziehung, was als Umkehrung der traditionellen Geschlechterrolle in einer heterosexuellen Beziehung gelesen werden kann: der Mann wird hier zum Sexual-Objekt degradiert. Lothar ist zudem kein typischer Vertreter von Männlichkeit: So wurde er während seiner Adoleszenz oft als Mädchen gerufen. »[D]ie lange Beine, das schmale Kreuz, wohlgerundete Schultern, sein lockiges Haar, sein […] Engelsgesicht [Herv. i.O.].« verleihen ihm weibliche Züge.181 Wenngleich Lothar durch sein Nichtstun seine Handlungsfähigkeit vorläufig zurückgewinnt, bleibt Mary Lou die Führende in der Beziehung. Die Gestalt Mary Lous stimmt mit der Aufwertung der Rolle der Frau in Jungfrau überein.
178 Vgl. ebd., S. 287. 179 Vgl. K. Picandet: Zitatromane, S. 285. 180 T. Meinecke: Jungfrau, S. 346. 181 Ebd. 114.
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7.4.2 Aufwertung der Frauen im Katholizismus Im Kapitel XXII. Setzt sich Lothars Kommilitonin Concordia mit Joseph Ratzinger und Hans Urs von Balthasar wissenschaftlich auseinander. Im Roman werden die theoretischen Ansätze, mit denen sich die Figuren beschäftigen, zitiert, vorgelesen und diskutiert. Nach Joseph Kardinal Ratzinger, Papst Benedikt XVI, ermöglicht die Mutterschaft der Jungfrau »die Kirchenfrömmigkeit und die Liebe zur Kirche«182. Maria verkörpert ein Konzept von »Kirchesein«, denn »nur in einer Zuwendung zum Zeichen der Frau, zur recht verstandenen fraulichen Dimension der Kirche, geschieht die neue Öffnung zur schöpferischen Kraft des Geistes«, so Ratzinger. 183 Wenngleich der Theologe Balthasar noch immer die Passivität und die empfangende Position der Frau gegenüber dem männlichen Amt in der Kirche betont, ist er davon überzeugt, die Weiblichkeit der Kirche gehe der Männlichkeit voran. Die Kirche sei, aus dieser Perspektive betrachtet, matriarchalisch geprägt. Daraufhin fordert er eine stärkere Teilhabe der Frau am Dienstamt. 184 Concordia stellt anschließend die Frage, »Wenn die Jungfrau Maria Jesus Christus tatsächlich per jungfräulicher Geburt zur Welt gebracht hat, muß der Sohn Gottes dann nicht sogar in genetischer Hinsicht als weiblich erkannt werden?«185 Sowohl
182 Ebd., S. 72. 183 T. Meinecke: Jungfrau, S. 73. Diese Vorstellung, »Kirche, Ecclesia, feminin« tritt nach Razinger dem alten Konzept der »maskulin[en] strukturell[en] und institutionstheoretisch[en]« Kirche entgegen (ebd., Hervorhebung im Original); siehe auch (Vinken Babara: »Aufhebung ins Weibliche: Mariologie und bloßes Leben bei Joseph Ratzinger, Benedikt XVI«, in: Tomath Meinecke [Hg.], Razinger-Funktion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 24-55, S. 24). »Für Ratzingers Theologie ist die Aufhebung der geschlechterdifferentiellen Grundgegebenheit des Erlösungsgeschehens nicht ins Männliche Adams, selbst nicht eines Solus Christus, sondern ins Weibliche der Maria Ecclesia grundlegend.« 184
Vgl. Ebd., S. 74.
185 T. Meinecke: Jungfrau, S. 75, Hervorhebung im Original). Auf die Frage, inwiefern Jesus Christus als weiblich betrachtet wird, findet Concordia die Antwort in einer Begründung der amerikanischen Historikerin Carolin Walker Bynum in drei zusammengefassten Punkten. Der erste Grundbesteht darin, dass die Frauen Menschlichkeit repräsentieren. »Die Jungfrau Maria führte dem Logos die Humanität zu«, so versteht es Concordia (Ebd., S. 129). Zweitens könne Jesus als Mutter dargestellt werden, indem die Wunde Jesu mit der entblößten Brust der Jungfrau gleichgesetzt werde: »während Jesus die geöffnete Wunde mit derselben Geste an ihren Mund hebt wie
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die Romanfiguren als auch die von ihnen zitierten Wissenschaftler, Theologen wie Autoren zielen darauf ab, Frauen und ihre Körperlichkeit aufzuwerten, vor allem im Kontext des Katholizismus. Diese tendenzielle Aufwertung der Frau und ihrer Körperlichkeit in Beziehung zur katholischen Kirche ist meiner Ansicht nach ein entscheidender Ansatzpunkt, um über das »queere« Potenzial der Jungfrau nachzudenken. 7.4.3 Das queere Potenzial der Jungfrau Nach Lothar werden durch Balthasar die Schriften von Nietzsche und katholischen Schriftstellern der Résistance innerhalb der Kirche verbreitet. 186 Nietzsche, der »das diskursive Terrain für das Andere, und damit für moderne bis postmoderne feministische Perspektiven, das Denken Simone de Beauvoirs bis Judith Butlers« eröffnet hat, ist längst auf christlicher Seite anerkannt. 187 Im Vergleich dazu lässt die christliche Anerkennung poststrukturalistischer feministischer Theorien und die daran anschließenden Queer-Theorien noch auf sich warten. Lothars Freund Gustave äußert im Gespräch mit seiner Freundin Concordia seine Klage darüber: »Wie es sich der Vatikan, bei aller marianischen Huldigung des als weiblich Kodierten schlechthin, bis heute, weiß der Teufel, warum, nicht einzuräumen gestattet, den dekonstruktiven Feminismus christlich zu umarmen [Herv. i.O.]?«188 Jeannine hingegen mutmaßt darüber, ob die Liebe zwischen Männern auch als »katholisch kodierte Spezialität« angesehen wird, weil ihr auffällt, dass homosexuelle Männer sich manchmal gegenseitig »Mary« nennen.189 Kann Jungfrau für LGBT-Personen190 das Symbol der Befreiung aus einer heteronormativen Religiosität darstellen, welche solche Menschen noch immer als Abweichung von der kreatürlichen Norm oder als sündig betrachtet?191
Maria Lactans ihrem kleinen Sohn die Brustwarze darbietet« (Ebd., S. 297). Schließlich werde Christus deshalb weiblich, weil er von einer Jungfrau geboren wurde, also »aus purer Weiblichkeit zur Welt kam« (Ebd., S. 130). 186
Ebd., S. 190.
187 Ebd., S. 191. 188 Ebd., S. 191. 189 Ebd., S. 11. 190 LGBT ist eine aus dem englischen Sprachraum stammende Abkürzung für Lesbian,Gay, Bisexual und Transsexual. 191
Hierzu siehe auch Kraß, Andreas (Hg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Queer Studies, Frankfurt a, M.: Suhrkamp 2003, S. 14. »Die Schöpfungsglaube der monotheistischen Religionen hat ihren gemeinsamen Bezugspunkt in den
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Antworten auf diese Frage zeichnen sich in Speyrs Anmerkung in Theologie der Geschlechter (1969) ab: »Die Jungfräulichkeit erscheint hier als Potenz alles Geschlechtlichen.«192 Überdies wird nach Speyr ein neues Verhältnis zwischen Körper und Gott impliziert bzw. verwendet sie ihren eigenen Leib als Prüfstein für die Gottesinkarnation. Damit zielt Speyr darauf ab, »die christlich-theologische Bedeutung der gesamten Geschlechtssphäre gleichsam von oben herab zu erkennen und darzustellen«.193 Solche Erläuterungen lenken in eine gemeinsame Richtung, nämlich durch die Auslegung des Begriffs der Jungfrau eine Möglichkeit zu eröffnen, geschlechtliche Randgänger in die christliche Kirche mit einzuschließen. 194 Die Jungfrau Maria kann dabei als positive, geschlechterübergreifende Einheit verstanden werden, die sich einem Prinzip umfassender Inklusivität verpflichtet.
Heiligen Schriften (der Tora, der Bibel und dem Koran). Sie leiten die angebliche Gottgewolltheit der Heterosexualität aus der Erzählung von Adam und Eva und die angebliche Gottwidrigkeit der Homosexualität aus der Erzählung von Sodom und Gomorrha ab.« 192 T. Meinecke: Jungfrau, S. 298. 193 Ebd., S. 55. 194 Wenn die christliche »Umarmung« der Geschlechtsrandgänger noch nicht realisiert wird, entfaltet sich im Roman Jungfrau eine andere Dimension vom Glauben im Roman jenseits der institutionellen Religion in der Verehrung der Hollywood B-Movie Ikone María Montez. Maria wurde damals als Vertreterin der sozialen Minderheiten angesehen. Der Filmregisseur des amerikanischen Undergroundfilms, Jack Smith, dessen Filme von Maria Montez inspiriert waren, inszenierte in seinem Film Marias Besonderheit mit ihrem Nachahmer Mario Montez, einem Transvestiten und Schauspieler aus dem Warhol-Umfeld. Vgl. »Smiths Glaube an Maria Montez ist deshalb nicht als ein Glaube zu verstehen, in dem das Wissen von ihren miserablen schauspielerischen Fähigkeiten zugunsten des Glaubens an ihre besondere Schönheit verleugnet wird. Sein Glaube war vielmehr ein Bekenntnis zu einer anderen Art von Wissen, ein, notierte Jeannine, vielleicht mit dem von Lothar stets angeführten Wissen in Jazz, englisch: to dig, einzuführendes Wissen von Montezs’ Fähigkeit, ihren Glauben an die eigene Besonderheit visuell zu kommunizieren, und zugleich ein Wissen von den queeren, deutsch: schrägen, Möglichkeiten, welche durch den Glauben an sie eröffnet werden. Damit man auch wieder bei Mario Montez wäre.« (T. Meinecke: Jungfrau, S. 101).
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7.4.4 Balthasars Theodramatik Im Gespräch mit seiner Ex-Freundin Jeannine erläutert Lothar Balthasars Konzept der »Theodramatik«: »Ein rechtes Spiel, das heißt ein Freiraum, wo Menschen sich verweigern, bekehren und einsetzen können, dank der Gnade des einzigen Mittlers [Gott] [Herv. i.O.].«195 Die »Theodramatik«, die in erster Linie auf die Gesamtheit der antiken und barocken Theater zurückgeht, solle »die Konfrontation zwischen göttlicher und dämonischer Freiheit« anschaulich machen. 196 So stellt die »Theodramatik Balthasars die Schöpfungs- und Heilsgeschichte als unteilbares göttliches und menschliches Drama«197 dar. Ferner versieht Lothar die Performanz bzw. das Theater mit einer Sonderstellung gegenüber der Philosophie, als er Jeannine die Theodramatik weiter zu erläutern versucht: »[Balthasar] geht sogar so weit, dem Theater einen generellen Vorbehalt gegenüber allen fertigen Philosophien vorzuschlagen [Herv. i.O.].«198 »[D]ie Kluft zwischen Theater und Theologie« lässt Lothar – nach Jeannines Beobachtung – »so sehr ins mehr als studentische Straucheln geraten« 199 . Die Realisierung des theatralischen Ideals von Balthasar liegt, wie Jeannine es versteht, in der Vermischung biblischer Stoffe mit Realitäten der eigenen Zeit.200 Das bedeutet eine Hybridisierung von Burleskem und Komischem mit dem Ernsten und Heiligen.201 Lothars Asexualität lässt sich nach ihrer Ansicht sowohl auf Brechts Performanz als auch auf die Praktizierung der Theodramatik Balthasars im Alltag zurückführen. Wenngleich Lothar Jeannines Vermutungen über die Motivation seiner Keuschheit nie anerkennt, so steht sein Handeln mit solchen Beobachtungen in Einklang. Lothar präsentiert unabsichtlich am Ende des Buches eine sowohl formal als auch ideologisch passende Lösung. Es gelingt ihm, durch die Performanz des Nichtstuns bei seiner sexuellen Enthaltsamkeit zu bleiben. Damit überbrückt er die Kluft zwischen Theater und Theologie sowie zwischen Burleskem und Ernstem am Ende des Romans. Daraufhin muss er sich weder für Theater noch für Theologie entscheiden, da er beides in seiner Performanz vereinigt.
195 T. Meinecke: Jungfrau, S. 323. 196 Ebd., S. 323. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 324. 199 Ebd., S. 325. 200 Siehe auch T. Meinecke: Jungfrau, S. 230. Die sogenannte theologische Wende postmoderner Philosophie entspricht dem Bedürfnis, die Gesellschaft theologisch wahrnehmen und das ideologiekritische Potenzial des Christentums zu mobilisieren. 201 Vgl. Ebd., S. 324.
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Auch Balthasars Wunsch, mithilfe der Theodramatik »eine Jahrhundertelange Tradition des gegenseitigen Unverständnisses, wenn nicht gar der Verachtung zwischen Theologie und Theater«202 umzukehren, kommt in diesem Augenblick zur Erfüllung. 7.4.5 Begehren und Religion Die Liebesgeschichte, die auf intradiegetischer Ebene im Roman erzählt wird, stellt sich als eine Parallele zu der Haupthandlung von Lothar und Mary Lou heraus. Lothar, Gustave und Concordia untersuchen und diskutieren zwei Liebesaffären bekannter Theologen. Es handelt sich bei beiden Liebesgeschichten um die »extrem aufgereizte und doch unmöglich einzulösende körperliche Liebe zwischen Mann und Frau«, in denen »die beiden Liebenden einander ihr Hin- und Hergerissensein zwischen leidenschaftlichem Begehren und dem feierlichen Wissen, daß erst ihre körperlosen Seelen im Jenseits zu vollkommener Vereinigung fähig sein würden, gestehen«203. Balthasars Zusammenleben mit Speyr und ihrem Mann unter demselben Dach am Münsterplatz in Basel ist das erste Beispiel. In diesem Fall erweist sich die Liebe als vor allem auf geistiger Ebene ertragreich. Speyr diktierte damals ihre Gedanken und Visionen ihrem Beichtvater Balthasar, durch den sie bearbeitet und an die Kirche weitergeleitet wurden.204 Ihr Liebesverhältnis wird schließlich aufgedeckt: Nicht nur Balthasar ist aus der strengen katholischen Ordensgemeinschaft, der Gesellschaft Jesu, herausgefallen, sondern auch Speyr verliert ihren Lebensmut und wünscht sich den Tod.205 Das Buch Unser Auftrag (1984) fungiert als ein Liebesbeweis von Balthasar und Speyr und soll laut Balthasar dazu dienen, »zu verhindern, daß nach meinem Tod der Versuch unternommen wird, mein Werk von dem Adriennes von Speyr zu trennen«206. »Es geht einzig um das gemeinsame Werk [Herv. i.O.]«, so Balthasar. 207 Balthasars Sehnsucht, sich mit Speyr geistig und körperlich zu vereinigen, spiegelt sich in seiner hochwertigen Übersetzung von Paul Claudels Entsagungsroman Der seidene Schuh (1925) wider.208 Der wohl bekannteste Entsagungsbriefwechsel der abendländischen Literaturgeschichte ist derjenige zwischen Petrus Abaelard (1079-1142) und Heloisa 202 Ebd. 203 Ebd., S. 239. 204 Vgl. Ebd., S. 43. 205 Vgl. Ebd., S. 198. 206 Ebd., S. 12. 207 Ebd., S. 12. 208 Vgl. Ebd., S. 209.
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(1095-1164). Abaelard, der in der Bretagne geborene französische Theologe, schlägt eine akademische Laufbahn bei der katholischen Kirche ein und steigt schnell zum umstrittenen, aber erfolgreichen Lehrmeister auf. Als er der schönen und wissenschaftlich gebildeten Pariserin Heloisa begegnet, verführt er sie. Heloisa wird schwanger und bringt einen Jungen namens Astrolabius auf die Welt. Daraufhin nimmt Abaelard Verhandlungen mit Heloisas Onkel Fulbert auf und es kommt zur Versöhnung: Er soll durch »eine ordentliche, aber diskrete Eheschließung« sühnen. Heloisa lehnt allerdings zunächst den Heiratsantrag mit der Begründung ab, dass Abaelard allen, aber nicht einem Menschen dienen soll. Aufopferungsvoll beschließt sie, ihre Liebe zu ihm vor der Außenwelt geheim zu halten und seine Geliebte statt Gattin zu bleiben. Ohne Eheschließung wird sie als Laienschwester in einem Kloster in der Nähe von Paris untergebracht, was ihre Familie als Schande empfindet. Sie gehen davon aus, dass Abaelard auf diese Weise Heloisa abzuschieben versucht. Fulbert nimmt dafür schließlich Rache und kastriert den schlafenden Abaelard. Speyr legt ihr Gelübde der Jungfräulichkeit nach zwei gescheiterten Ehen ab, während Abaelard entmannt und somit im metaphorischen Sinne zur »Jungfrau« wird. In den oben wiedergegebenen Geschichten wird das Schicksal der Protagonisten diskursiv bestimmt. Liebe und Erotik gehen weit über den Rahmen der Privatsphäre hinaus und werden zu öffentlichen Ereignissen und Skandalen oder haben physische Schädigung als Folge. Lothars Performanz des Nichtstuns ist auch deshalb gelungen, weil seine Jungfräulichkeit gegenüber der Versuchung noch intakt bleibt. Durch diese Performanz wird zuletzt bewiesen, dass Sexuelles und Religiöses bei ihm unvereinbare Realitäten sind: Ein freiwilliger Verzicht auf das eine dient dem höheren Zweck des anderen. Für Lothar ist vielmehr der Glaube von Gewicht. 7.4.6 Performanz und Mimesis: Der Androgyn Im Roman trägt Lothars Freund Gustave seiner Verlobten Exzerpte aus Der Androgyn von Joséphin Péladan vor. In dieser Geschichte wird ein bestimmter Rahmen gesetzt, innerhalb dessen Figuren einen Prozess der Nachahmung vollziehen. Diese Nachahmung wiederum lässt innerhalb des so gesetzten Rahmens eine spezifische Geschlechtsidentität entstehen. Die Protagonisten der Erzählung befinden sich von Anfang an in einer eingerahmten Situation. Der Held der Erzählung, Samas, ist ein pubertierender Junge mit langen Haaren und zarten weiblichen Zügen. Er wechselt gerade von einem jesuitischen Internat in der Provence zum Externat und kommt bei einer Madame Mieusy unter. Zu Beginn der Erzählung setzt er sich vor ein geöffnetes Fenster,
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vor dem ein schön gekleidetes junges Mädchen auftaucht. Sie wird zu seiner Angebeteten. Ein junges Mädchen namens Stella von Senanques mit kurzen Haaren, das »jünglingshaft« erscheint, wohnt im Gebäude gegenüber. Die zwei katholisch erzogenen jungen Menschen halten sich voneinander zunächst fern. Doch dann will sie den jungfräulichen Helden verführen und bezweckt damit die »feindliche Übernahme seiner Weiblichkeit«209. Dafür zieht die fünfzehnjährige Schönheit in ein anderes Zimmer um, das ein Stockwerk tiefer liegt. So kann sie Samas einen tieferen Einblick in ihre Privatsphäre verschaffen und zugleich eine erotische Schaubühne für sich bilden, wo sie ihre schönsten Seiten seiner Beobachtung präsentieren darf. Der Schauplatz ist also ausschließlich für ihn eingerichtet. Ihre Blickwechsel und ihr Austauschen von Gesten bilden einen Freiraum zwischen den beiden, in dem ihre Liebe zueinander heranwächst. Samas und sein aufreizendes Gegenüber, das Fräulein Stella, geraten nach der ersten unmittelbaren Begegnung in ein Verführungsspiel, in dem Samas zuerst gleichgültig bleibt und darauf nur »desinteressiert und mechanisch« reagiert. Später fühlt er sich zunehmend verlockt. Was Samas besonders an Stella fasziniert, ist ihre Haltung, die er als geistreich interpretiert: »Sie wirkt hochmütig und andächtig zugleich, ist von großer Statur, ihre Haltung ist steif, ihre Gebärden sind von zwanghaftem Charakter, gänzlich ohne Anmut, zeugen aber von Geist. Ihre Stirn erscheint als zu gerade, wirkt wegen der hoch gescheitelten und glatt anliegenden Haare übergroß. Ihr Auge sieht, aber es blickt nicht.«210
Neugierig sind nicht nur der androgyne Held, sondern auch die Leser, die jede wollüstige Bewegung von Stella verfolgen. Eines Morgens, als Samas aufsteht, fällt das Bett von Stella direkt in sein Blickfeld. Er fühlt sich von der eindeutigen Absicht seines Gegenübers besonderes irritiert. Der Reiz des Spiels steigt Tag für Tag, zuletzt wird er beherrscht von der Frage: »Welche Unanständigkeit wird sie mir heute bieten, wenn ich aufstehe?«211 »Während ihm seine Arme als flach erscheinen, erregt die vollkommene Rundung derjenigen Stellas seine Bewunderung: bei einer Statue wären sie ihm als Kunststück aufgefallen, von schönem und gewolltem Typ, sicher nicht nach dem Modell gearbeitet.«212
Ihm wird langsam bewusst, wo Stellas unbestreitbare Schönheiten liegen, die ihn irritieren und aufreizen und durch die er in einen Gewissenskonflikt versetzt wird. 209 Ebd., S. 116. 210 Ebd., S. 116. 211 Ebd., S. 117. 212 Ebd., S. 117.
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Samas beginnt daher zwangsläufig, sich mit seinem schönen Gegenüber zu vergleichen. Er schaut in den Spiegel und beobachtet seine zu sehr hervorspringenden Schulterblätter, die ihn an die Weiblichkeit erinnern, die er nicht besitzt.213 Als Stella eines Tages mehr von ihren Brüsten zeigt, berührt er unwillkürlich sich selbst, als hätte er auch Brüste: »Samas bemerkt die geneigte Fläche ihres Busens und ahnt unter dem Leinen die Brüste. Kindlich in seiner Manie, zu vergleichen, berührt er mit unbewusster Gebärde seinen eigenen Busen [Herv. i.O.].«214
So bildet sich zwischen Samas und Stella eine Urszene, in deren Zentrum Stellas Brüste angesiedelt sind. Samas’ unbewusste Nachahmung des weiblichen Körpers steht jedoch im Widerspruch zu seiner moralischen Einstellung: Er verachtet das Verhalten des jungen Mädchens wie auch ihr Frau-Sein. Trotzdem verehrt er ihre Brüste wie ein Kunstwerk. »Während die zweifellos schönen Brüste der Antike, ihres unbestimmten Ansatzes halber, an Nutzen, nämlich das Stillen von Säuglingen, denken ließen, offenbare der Busen Stellas die seltene Erscheinung einer vollkommen runden F rucht, deren gleiche Hälften auf die Brust geheftet waren [Herv. i.O.].«215
Langsam fühlt er sich »in seiner Loge verwurzelt«216. Zwischen ihm und Stella gibt es bisher keine Kontakte außer Blickwechseln und Gesten. Stellas Darbietung zieht all seine Aufmerksamkeit auf ihre Brüste. Ohne jeglichen Sprachaustausch deutet Stella ihrem Gegenüber an, dass er ihr gehorchen solle, dann werde sie ihm mehr von ihrem Körper zeigen. Als Samas ihr gehorcht, zeigt sie ihm ihre beiden Brüste gleichzeitig: »Und so geht die Geschichte über den Androgyn und die Gynandre immer weiter. Sie geben sich keine Küsse, werfen sich keine Worte zu, schreiben sich keine Briefe. Aber sie tauschen allegorische Gebärden aus, die sie gleichsam in den Stand einer Verlobung setzt [Herv. i.O.].«217
Samas fühlt sich von Stella erregt. Er verliert seine Androgynität und wird ein Mann, als er sich endlich seines eigenes Begehren bewusst wird. Im Roman wird 213 Ebd., S. 118. 214 Ebd., S. 118. 215 Ebd., S. 126. 216 Ebd., S. 126. 217 Ebd., S. 127.
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eine Anmerkung von Péladan in Bezug auf Stella zitiert, die am besten die Szene beschreibt: »Du [Stella] verkörpertest das weibliche Geschlecht, und sein männliches entstand aus Dir.«218 Der Androgyn existiert nur im jungfräulichen Zustand. Danach wird er ins Männliche oder Weibliche aufgelöst. 219 Dieser Definition gemäß kann die Androgynität als eine stabile Einheit des Geschlechtlichen verstanden werden: »O ursprüngliches Geschlecht, endgültiges Geschlecht, unabhängig von der Liebe, unabhängig von der Form, Geschlecht, welches das Geschlecht leugnet, Geschlecht der Ewigkeit: Lob sei dir, Androgyn.«220
Samas ist »begehrenswert«, weil er sowohl von Jungen als auch von Mädchen unberührt ist und angesichts jeglicher Versuchung nicht nachgibt. Nur »die feenhafte Frau«, die seinem ästhetischen Ideal entspricht, kann ihn berauschen, bis er »den Trieb in sich steigern« und »elend unter der Bestürmung fallen«221 wird. Der höchste erotische Moment des Verführungsspiels ist erreicht, als die Tante ins Zimmer hineingestürzt kommt und Stellas Spiel wütend aufzuhalten versucht, indem sie ihr erbarmungslos das letzte Kleidungsstück vom Leib reißt. »Seit dem nassen Hemd, das ihr die Tante abriß, führen die beiden jungen Leute ein Fensterleben: Sie sich entblößend, er sie betrachtend. Samas empfängt die geschlechtliche Einweihung, ohne eine Berührung zu erdulden. Das Leben verwirklicht seinen unklar empfundenen Wunsch: erkennen, ohne auszuführen [Herv. i.O.].«222
Ohne einen Wortwechsel oder Körperberührungen übt Stella ihre reizvolle Verführungskunst durch Gesten bzw. Zeichensetzung in einem vorläufig geschlossenen Raum auf Samas aus. Zwischen den beiden jungen Menschen vollzieht sich eine seltsame Liebe: »Alles für die Augen, nichts für die Lippen [Herv. i.O.].«223 Die Trennung der zwei Geliebten erweist sich als genauso unerwartet wie die Liebe an sich: Aufgrund einer Nachricht über seine Einberufung muss Samas sich sofort bei der Armee melden. So bricht schließlich durch seine soziale Verpflichtung die Verbindung zwischen den beiden ab. Als Stella erfährt, dass Samas sie verlassen muss, zeigt sie sich zum letzten Mal im offenen Hemd und entblößt sich 218 Ebd., S. 127. 219 Ebd., S. 115f. 220 Ebd., S. 113. 221 Ebd., S. 115. 222 Ebd., S. 138. 223 Ebd., S. 138.
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zur Gänze. Sie führt somit »ein feierliches Ritual« als Epilog ihres Schauspiels durch und beendet damit das »Fensterleben«224. Stella erobert den androgynen Samas durch das Erwecken seiner Männlichkeit. Die Entstehung der Geschlechtsidentität ist nicht auf Geschlechtsparodie und Performativität im Sinne von Butler zurückzuführen, sondern durch eine Zeichensetzung und Rahmenbildung der Figuren. Die Bildung der Geschlechtsidentität Samas’ ist unmissverständlich mit Stellas Brüsten verbunden. Die Leser stehen einem neuen, abstrakten Individuum gegenüber, das während dieser pantomimischen Darstellung in der eingerahmten Situation konstituiert wird. In den zwei obigen Beispielen aus Jungfrau sind Rahmenbildung und Repräsentation die konkreten Methoden für die Romanfiguren, um ihr sexuelles Verhalten jenseits des Diskurses zu bestimmen. Dabei bietet Lothars Performanz zwar eine Lösung für viele im Roman aufgeworfenen Fragen, aber sein Handeln an sich ist unabhängig von solchen Kontexten und geschieht unabsichtlich. Zumindest wird das Handeln Lothars im Roman nicht ausdrücklich mit seiner Intention in Verbindung gebracht. Seine einzige feststellbare Motivation der Keuschheit und des Nichtstuns, wie bereits dargestellt, ist sein Glaube zum Katholizismus, für den er sich noch immer berufen fühlt. Also er verfolgt seinen Glauben eher gefühlsmäßig als rational.
7.5 FAZIT In dieser Typologie wurden vier Werke untersucht. Anhand dieser Romane habe ich die These untersucht, ob hier unter Rückgriff auf mythologische Gestalten ein neues monistisches Geschlechtskonstrukt konzipiert wurde. Die Remythologisierung, die mit der bildreichen Darstellung der archetypischen Abbilder einhergeht, dient der psychologischen Aufarbeitung der Figuren und der Rahmenbildung.225 Die Rahmen stellen sich in den obigen Beispielen als mythische Raumzeitmodellierung dar. Die Romane spielen mit Tabus im christlichen Sinne, überschreiten Grenzen, amüsieren den Leser und ängstigen ihn zugleich.
224
Ebd., S. 139.
225 Vgl. Brylla, Ute: »Die Maske des Unmaskierten. Eine Zusammenschau von Bruno Schulz und Michail Bachtin«, in: Effi Bettinger/Julika Funk (Hg.) Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 310.
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Die archetypischen Abbilder in Märchen, Mythologie und Religion sind häufig selbst Ausgestoßene des Christentum: So wird etwa die Kümmernis in der Realität nicht von der christlichen Kirche als Heilige anerkannt; Hexen wurden im Mittelalter massenhaft verfolgt und verbrannt; Trolle, als verlassene Kinder von Adam und Eva im Mythos, werden in der menschlichen Mythologie zu Vertretern des Bösen. In der Literatur eingesetzt, vermitteln solche Figuren aber zwischen den von der Geschlechtsnorm abweichenden Personen und den Stellvertretern der katholischen Kirche. Zwei Randfiguren im religiösen Leben, eine hermaphroditische Frau und ein Gefangener in seinem männlichen Körper, rücken ins Zentrum in House of day, House of night. Die Ikone der Kümmernis in der hermaphroditischen Gestalt bringt Paschalis dazu, trotz der »Sünde« seines Geschlechtswesens das Göttliche zu erfahren. »Die alte Hexe« Pupa bildet rund um das Mutter-Ei ein neues Zentrum, das die christlichen Werte Liebe, Toleranz und Großzügigkeit wiederherstellt. Der Troll wird als Probe Gottes für die Menschen eingesetzt, durch ihn sollen sie auf ihr Verhalten und ihre Vergehen achten. Vielfältige Rahmenbildungen im Zusammenhang mit diesen archetypischen Abbildern lassen sich in dieser Typologie feststellen. Von besonderem Interesse sind in dieser Typologie die theistischen Plots. Statt mit rationalen Argumenten zu überzeugen, verlocken diese archetypischen Gestalten die Figuren zum Glauben. Figuren mit göttlichen Zügen sind in Bildern, Träumen und Vorstellungen angesiedelt und fungieren als Außenrahmen in der jeweiligen Erzählung. Durch ihre eigenartige Vision vom Jüngsten Gericht interpretiert die Heilige Kümmernis den Tod auf einer persönlichen Ebene. Paschalis schließt sich an diese Interpretation an und begeht Selbstmord, um sich für Gott zu opfern. Der Rezipient wird somit gezwungen, die Gültigkeit dieses Plots innerhalb der vereinheitlichten Rahmenbildungen zu akzeptieren. Die alte Hexe Pupa spielt Schicksal mit ihren zwei Freundinnen und lenkt deren Leben ins Positive. Solche auktorialen Instanzen gehören zur Figurenebene. Auch auf Ebene der Erzählung werden auktoriale Instanzen implementiert. Solche heterodiegetischen Erzähler sind kein Teil der erzählten Geschichte. Sie dienen der Bestätigung oder Positivierung der Texteinzelheiten im Ganzen. Der Duft des Trolls bildet eine Sphäre im Roman und wirkt sich stark in der Sinnen-und Gefühlswelt der Figuren aus. Der Duft treibt die Protagonisten zur Rebellion gegen die Hierarchie und führt zum neuen Geschlechterverständnis. Die Geschlechtsidentität entsteht aus der Rahmenbildung unter dem Einfluss des Trolldufts. Häufig befinden sich die Figuren in begrenzten Räumen, wie etwa in einem Studio oder Apartment, die sowohl als Zufluchtsort fungieren können, als auch die Existenz einschränken.
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Das ostensive Körperzeichen stellt ein transzendentes Zentrum für die Figuren dar. Dabei identifiziert Paschalis sich mit den weiblichen Attributen der Kümmernis und geht über die Doktrin der Religion hinaus, um das Göttliche zu erfahren. Mevludins Penis in Dauererektion macht ihn zum Sexidol im Hotel N. Er transzendiert sich selbst, als er eine Erlösung für dieses körperliche Leiden findet. Das chinesische Mädchen Wawa und der Troll beherrschen noch kaum Sprache und besitzen nur eine einfältige Subjektivität. Vögel, Federn und Eier sind eine Reihe von zusammenhängenden ostensiven Zeichen in Baba Jaga legt ein Ei und tragen dazu bei, neue Kontexte für die »geschlechtlosen« alten Frauen zu schaffen. Das neue Zentrum rund um das Mutter-Ei verspricht Liebe und Toleranz für die Außenseiter. Zwei Formen von Transzendenz verschränken sich in den obigen Beispielen. Sowohl die Visualierung der Heiligen Kümmernis des Jüngsten Gerichts, als auch Angels Anblick des Sonnenaufgangs im Wald sollen als eine transzendente Erfahrung der Protagonisten gelesen werden. Auch die zweite Form der Transzendenz findet in dieser Typologie eine facettenreiche Darstellung als Ausbruch aus den Rahmen: Paschalis und Mevludin entkommen ihrer Existenzkrise; der Troll und Angel fliehen aus der Stadt, und Lothar überwindet seinen sexuellen Trieb.
8. Ausbruch aus dem Rahmen
Die Protagonisten in den folgenden Beispielen brechen aus verschiedenen Räumen aus oder überschreiten die sichtbaren geographischen und die unsichtbaren normativen Grenzen und vollenden ihre Identitätssuche. Sie erleben Transzendenz in einer natürlichen oder ritualisierten Umgebung, in der sie zum bewussten Gestalter ihrer Körper werden. In dem Roman Etwas Kleines gut versiegeln bildet die Fotografie eine besondere Art der Rahmenbildung, wodurch die Wahrnehmung der Protagonistin eingeschränkt wird und ein Prozess der Selbstheilung ermöglicht wird. Jenseits der freizügigen Sexualität sehnen sich die Protagonisten in dieser Typologie nach Liebe und einem Sinn in ihrem Leben.
8.1 S VEALENA K UTSCHKE : E TWAS K LEINES VERSIEGELN (2009)
GUT
Svealena Kutschke wurde 1977 in Lübeck geboren, sie studierte in Hildesheim Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis und lebt heute in Berlin. Sie erhielt 2006/2007 das Werkstatt-Stipendium der Jürgen Ponto-Stiftung und ist Preisträgerin des »Open Mike« der Berliner Literaturwerkstatt 2008. Der Roman Etwas Kleines gut versiegeln besteht aus sechs Kapiteln. Die Handlung dreht sich um die Fotografin Lisa, die Berlin verlässt, nachdem ein wichtiger Mann namens »B« in ihrem Leben gestorben ist. Die tiefe Trauer über ihren Verlust motiviert ihre Flucht nach Australien, wo sie in das Nachtleben Sydneys gerät. Den einzigen Ausweg aus ihrer psychischen und existentiellen Leere sieht sie in dem Beginn eines neuen Lebens. In Sydney begegnet ihr die schicksalhafte Wegbegleiterin Mora, eine transsexuelle Tätowiererin, die Lisa dazu verhilft, sich in ihrem neuen Leben zu Recht zu finden.
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In dem Roman spielt, genau wie in Troll, eine Liebesgeschichte, Fotografie eine große Rolle. Die Fotografie leistet in gewissem Sinne die mediale Fixierung der verlorenen Zeit, sie kann auch als wichtiges Mittel für die Rahmenbildung identifiziert werden. Mithilfe von Fotos vermag die Protagonistin Lisa der Vergangenheit nachzugehen und die Verbindung zu ihrem verstorbenen Freund wiederherzustellen. Der Roman vollzieht eine Parallelisierung der Fotografie mit Vorgängen der Erinnerung. 8.1.1 Die Verarbeitung der Vergangenheit durch die Fotografie Lisas Freund B1 war transsexuell, und obwohl sie mit ihm zusammen lebte, führten sie eine keusche Beziehung. Die Fotografin Lisa sieht sich nach Bs Tod nicht in der Lage, weiter zu fotografieren. Ihre Handlungsunfähigkeit zeigt sich zudem in sechs unentwickelten Filmdosen, die Bildern von B enthalten. Auf diesen noch unentwickelten Bildern sind ihre letzten Erinnerungen festgehalten. Ausgehend von der von Roland Barthes formulierten Annahme, die Fotografie sei geradezu prädestiniert, die Realität nicht nur abzubilden, sondern auch zu bewahren, gilt diese als ideales Mittel für die Speicherung von Vergangenheit. 2 Die Fotografie trägt auch im Roman dazu bei, einen vergangenen Augenblick medial festzuhalten und momentane Präsenz herzustellen. Doch die Rolle der Fotografie geht auch über das schlichte Festhalten eines Moments hinaus. Lisas Selbsterkennung findet hauptsächlich mithilfe von Fotos statt. Gefühle, die ihr im Augenblick der Aufnahme in der Fotokabine nicht bewusst sind oder die sie sich nicht eingestehen will, werden auf den Fotografien manifestiert. »Die Fotos waren noch warm. Ich sah wieder verwegen aus noch lächerlich. Ich sah aus, als ob sich nichts hinter meiner Haut verbarg. Als wären meine Augen die leeren Fensterhöhlen einer Filmkulisse. Als wäre mein Gesicht nur für den Augenblick des Auslösens entstanden, hätte sich verdichtet aus einem Gedanken und dann aufgehört zu existieren.«3
Die Fotos von B stellen ein bildliches Äquivalent zur psychischen Konstitution Lisas dar. Lisa rekonstruiert ihre fragmentarischen Erinnerungen an B anhand der nach und nach entwickelten Bilder, die auf den ersten Blick in keinem offensicht-
1
Im Roman wird B trotz seiner Transsexualität ein männliches Geschlecht zugeschrieben,
2
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. aus dem
weil dieser vermutlich noch keine Geschlechtsumwandlung von Mann zu Frau vornahm. Franz. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S.12. 3
Kutschke, Svealena: Etwas Kleines gut versiegeln, Göttingen: Wallstein 2009, S. 73f.
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lichen Zusammenhang zueinander stehen. Die präzisen Angaben zu Lichtempfindlichkeit, Blende, Verschlusszeit etc. verleihen den Aufnahmen, welche die damalige Gemütsstimmung der Figuren wiedergeben, fast schon eine Wirkung des Objektiven. Seine Transsexualität lebte B zum Teil aus, indem er sich in Lisas Kleidern ablichten ließ. Auf diesen Fotografien ist B immer unordentlich und alles andere als schön dargestellt: »Er [B] kicherte und probierte meine Sommerkleider. Ein schräg gestreiftes in Pastelltönen schlackerte um seine haarigen Beine. Seine Hüften drückten durch den dünnen Stoff. Die Streifen spannten über seiner Brust und seine Arme lagen an seinem langen Körper, so nutzlos, dass es mir eng wurde in der Brust (Blende 5,6, 1/60 Sekunde).« 4 »B lächelte, als wüsste ich nicht, was die starren Gräben in seinem Haar bedeuteten, und fütterte mich Milchschaum (Blende 5,5, Verschlusszeit viel zu lang).« 5
Die Fotos rufen Erinnerungen an Bs sexuelle Orientierung und die mit ihm verbundenen Probleme wach. Die emotionale Bindung an B wird immer stärker, während seine Fotos entwickelt werden. Die Lebensausschnitte mit B entfalten sich nach und nach, bis Lisa sich langsam ohne die Hilfe von Fotos an die Details von B erinnern kann. Nach dem Abbruch ihres Fotografiestudiums sucht Lisa damals »in jeder Kaschemme« nach der »zweiten Hälfte« ihres Lebens und findet B, der seitdem zur unerschöpflichen Inspirationsquelle für Lisas Fotografie wird.6 Voller Bewunderung stellt Lisa sich als eine getreue Zuschauerin für Bs Inszenierung seines FrauSeins heraus. In diesem einheitlichen »B-Lisa-Wesen« geben sie einander Halt, auch wenn es sich von Bs Seite aus nur um eine Freundschaft handelt. 7 Durch die Fotografie werden B und Lisa immer dichter zusammen getrieben, als wären sie »eine Person, androgyn und verwischt«8. B fühlt sich durch sein Randgängertum mit Lisa verbunden, allerdings auf negative Weise: »Wir sind nutzlos, Lisa. Wir haben den Anschluss verpasst.«9 Immer wieder fragte Lisa den transsexuellen B, warum er sie nicht zur Partnerin wolle, da sie sich doch so nahe stehen. Lisa als Frau konnte ihm jedoch nicht die Liebe geben, nach der er sich sehnte. Neben der asexuellen Beziehung mit Lisa 4
Ebd., S. 92.
5
Ebd., S. 108 f.
6
Ebd., S. 182.
7
Ebd., S. 191.
8
Ebd., S. 147.
9
Ebd., S. 236.
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verliert sich B immer tiefer in unglückliche Beziehungen. Nachdem er von einem seiner Liebhaber verlassen wurde, versank er zuletzt in Alkohol- und Drogenabhängigkeit,10 Obwohl er, sich vom Kokain zu entwöhnen versucht, bleibt dieser Versuch erfolglos. 11 Zunehmend verabscheut Lisa seinen Lebensüberdruss und seine Apathie: »Ich schaute auf seinen jämmerlichen, stinkenden Körper und hasste ihn.«12 Sobald B Lisas Widerwillen gegen ihn bemerkt, verliert er all seinen Lebensmut und geht daran schließlich zugrunde. Es bleibt unklar, was B genau zustößt, er beschließt einfach zu sterben.13 Lisa leidet nach Bs Tod unter Schuldgefühlen. Sie fragt sich, ob es anderes gewesen wäre, wenn sie ein Mann wäre und B sie geliebt hätte. Sie grübelt, ob es möglich gewesen wäre, B damals vor seinem Absturz zu retten.14 »Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass ich B nie schlagen können würde, dass ich mit B nie schlafen können würde, dass ich beides aber auch nicht getan hätte, würde er noch leben.«15
Nach dem Tod Bs gerät Lisas Liebes- und Selbstsuche in die Sackgasse. Gegenüber der Liebe hält Lisa sich zurück, da sie befürchtet, alte Wunden aufzubrechen. Wiederum gewähren diese melancholischen Erinnerungen an B ihr einen Freiraum, der sie vorläufig von der Außenwelt abschottet. In ihrem so selbst gesponnenen Kokon – ein kapselähnliches Dasein im Sinne von Heidegger (siehe in 4.4) – genießt Lisa Sicherheit und entwickelt neue Abwehrmechanismen gegen die Welt: »Wie sollte ich Nick erklären, dass es um diesen kristallinen Zustand ging, der mich befiel im herrlichen Geruch der Chemie, ein Gleißen in allen Dingen, das imstande war, meinen mühsam gesponnenen Kokon aufzubrechen. Dass ich auf meiner melancholischen Lust beharren wollte, dass ich nicht daraus ausbrechen würde, es war die einzige Sicherheit, die ich noch hatte.« 16
Bei jedem Rückblick auf B wird unvermeidlich Schmerz ausgelöst. Solange sie sich noch nicht mit dem Tod von B abfinden kann, beschließt sie, ihre Kamera zu meiden, da die traurige Erinnerung an B sie sonst einholen würde. Im Gegensatz 10 Vgl. Ebd., S. 206 f. 11 Vgl. Ebd., S. 238 f. 12 Ebd., S. 237. 13 Ebd., S. 275. 14 Vgl. Ebd., S. 124. 15 Ebd., S. 241. 16 Ebd., S. 60.
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zu ihrer absichtlichen Distanzierung zur Fotografie verbringt sie sehr gerne Zeit in der Fotokabine. Dort lässt sie Bilder von sich machen und harrt solange aus, bis die Bilder trocken sind und in den Schacht fallen. Lisas Leidenschaft für den Entwicklungsprozess von Bildern wird kontrastiert mit der zurzeit noch unmöglichen Verarbeitung ihres eigenen Traumas. Besonders fällt an dieser Stelle ein Paradox in Lisas Prozess der Selbstfindung auf: Wenngleich Fotos die traurige Vergangenheit wieder wachrufen, empfindet Lisa die Fotokabine als sicheren, behüteten Ort. Dabei fühlt sie sich in die gemeinsame Kindheit mit ihrem Bruder zurückversetzt und kann, wenn auch nur für kurze Zeit, eine kindliche Unschuld wiederherstellen. Ihre Erinnerung und Gefühle bleiben in den bereits entwickelten Bildern und unentwickelten Filmen eingefroren. Sie beschränkt sich auf die irreale fotografische Welt und wagt es nicht, sich der Realität zu öffnen. Die Fotografie fungiert somit als Einrahmung ihrer Existenz und Manifestation ihres Selbst. Die sechs Filmdosen werden deshalb in dieser Phase als zentriert betrachtet, weil man sich in der Erzählung erst über diese Dosen der Geschichte von Lisa und B annähert. Lisa ist sich unsicher, ob die Bilder von B, die auf den Filmdosen gespeichert sind, den Schlüssel bilden, der sie von ihrer Schwermut zu befreien vermag oder vielmehr als Eisenkugel fungieren, die sie in den Abgrund hinunterziehen werden. Später, nach dem Aufenthalt in Alice Springs, tauchen die Filmdosen noch einmal auf. Ihr Freund Nick reiht die sechs Filmdosen, wie »sechs kleine Urnen für B« vor Lisa auf. Aber Lisa empfindet keine allzu große Trauer mehr. »Ich hätte sie in der Wüste lassen sollten,« so Lisa.17 »Die Bilder wussten nichts von Bs Tod. Sie waren frei von den Schatten, die meine Erinnerung warf. Die Bilder waren traurig und albern, kokett und unmittelbar. Es gab kein Mysterium in ihnen, was hatte ich erwartet, es gab keine Antworten.« 18
Die Bilder an sich vermitteln keine Bedeutung, aber sie tragen dazu bei, dass Lisa eine Bindung zum Vergangenen herstellt und ihre Trauer verarbeitet. Generell fungiert die Fotografie im Roman als ein Zufluchtsort in dreifacher Hinsicht: erstens verläuft der Prozess der Selbsterkenntnis Lisas durch die Betrachtung der Fotos vom Selbst und die photographische Visualisierung der Seelenwelt. Zweitens erlebt nur in der Fotokabine die Protagonistin Lisa seelische Ruhe und Unschuld. Drittens treten anstelle der Sprache Fotos, die zur direkten Kommunikation mit anderen Menschen dienen. Im folgenden Kapitel wird ein weiterer Zufluchtsort in der Großstadt skizziert, in der Lisas ihre schicksalhafte Identifikationsfigur Mora findet. Diese Begegnung wird ihr letztlich durch eine Fotografie ermöglicht. 17 S. Kutschke: Etwas Kleines, S. 268. 18 Ebd., S. 275.
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8.1.2 Das Café in der Großstadt als Zeitkapsel Um ihre Trauer zu überwinden, reist Lisa nach Sydney. Auch hier wählt sie jedoch zunächst wieder einen abgeschlossenen Raum aus, in den sie sich zurückzieht. Die Olympia Milchbar und das Oceanic Café stellen sich eine Art »Zeitkapsel« dar – im Vergleich zu einer komplett verschlossenen, herkömmlichen Zeitkapsel werden diese kontinuierlich aufgesucht. Beim Café als Zeitkapsel handelt es sich um einen Raum, der mit Gegenständen und Möbeln aus einer älteren Zeit eingerichtet ist. Zudem tragen diese Cafés als »Kulturikone[n]« zeittypische Merkmale. Sie halten also auf materieller Basis eine vergangene Zeit fest. Nick liest Lisa seine Anmerkungen zu den Cafés auf Englisch vor: »[…] It’s a shop time forgot, a relic with terrazzo and chequered lino floor, long bar, old tea urn and laminated tables and chairs.«19 »The Oceanic Cafe on Elizabeth Street, opposite Central Station, has an entirely different yesteryear aura. Its creamy white timber tables and booths date perhaps from the 1920s. The place hasn’t had a coat of paint since the 1950s.«20
Das Café schützt Lisa vor der Außenwelt. Sie begegnet ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt behutsam und nachdenklich. Lisas Melancholie kann als Ausdruck ihrer Selbstheilung und ihrer Sehnsucht nach Liebe gelesen werden. Die »Zeitkapseln« und die Fotografie, auf die Lisa ihre Verdrängungen, Erinnerungen und Wünsche überträgt, fungieren im großstädtischen Gedränge als Refugium: »Der Raum [im Café] hatte sich um uns geschlossen. Wir schwiegen ein langes Schweigen. Wir schwiegen ein Schweigen, das sich festsetzt und immer neues Schweigen erzeugt.«21 Dieser »geschlossene Raum« erweist sich als eine ideale Schaubühne in der Großstadt Sydney, auf der drei Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten inszeniert werden. Ein Fund auf einer Straße befördert Lisa jedoch aus ihrem Schutzraum. Sie findet ein ominöses Schwarzweißfoto im Dreck auf der Straße, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das ihr gleicht. Das Foto ist an einem ihr unbekannten Ort aufgenommen. Als sie sich zusammen mit Nick auf die Suche nach diesem Ort begibt, begegnen sie Mora, einer stark geschminkten transsexuellen Frau. Mora wird Lisas Leben nachhaltig beeinflussen und als zentrierte Randgängerin Figuren und Handlungsstränge auf unerklärliche Weise miteinander verknüpfen. 19 Ebd., S. 106. 20 Ebd., S. 171. 21 Ebd., S. 107.
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Bevor sie eine Lösung für ihren Liebeskummer findet, schwelgt Lisa in einer diffusen, betäubenden Welt aus Alkohol und Drogen. Orientierungslos lässt sie sich »treiben, drücken, quetschen und schubsen«22. Zunehmend nimmt Lisa aber vom Nachtleben in Sydney Distanz, da die menschlichen Beziehungen, die sie auf der Tanzfläche knüpft, ihr flüchtig scheinen.23 Außer Sexualität gibt es dort kaum noch Verbindlichkeit unter Menschen. Gleichsam verspürt sie Entfremdung und Zerrissenheit, als wäre sie »Sterne, raue Gesteinsbrocken, die sich von einem zerklüfteten Zentrum wegbewegten«24. Lisas geringer Selbstwert wird im Roman mit einem Fehlen von Liebe zusammengedacht. Bisher fühlt sich Lisa ohne Liebe wie betäubt in ihrem Leben und sieht darin keinen Sinn. Dabei unterscheidet sie wahre Liebe vom »Subsystem der Liebe«, das auf »Genuss, Verantwortungslosigkeit und Beweglichkeit«25 verweist. Auch wenn sie sich später in den Künstler Nick verliebt, ist sie noch lange nicht bereit, diese Liebe auf einer sexuellen Ebene auszuleben. Liebe ist für Lisa vergänglich, zerbrechlich und langsam, während die Lust jederzeit ihre Existenz beweist und sie geradezu vor der Auflösung bewahrt: »Ich hielt die Fasern meiner Lust lose in der Hand wie Drachenschnüre, sie waren das Einzige, auf das ich mich noch verlassen konnte.« 26 In ihren Beziehungen mit männlichen Figuren werden Liebe und Begehren klar voneinander abgegrenzt. Zu diesem Zeitpunkt zieht sie zieht Lisa Begehren vor. 8.1.3 Mora als Zeichenträgerin Mora fällt eine wichtige Rolle für den Verlauf des Romans zu. Durch den ersten Fund – die Fotografie eines Mädchens – wird Mora als Doppelgänger-Figur von B eingeführt. Das Mädchen auf der Fotografie, das sehr viel Ähnlichkeit mit Lisa hat, ist nämlich die ehemalige Freundin von Mora, und Mora will – wie B – ebenfalls eine Frau werden. Lisa mag fast daran glauben, dass sie selbst es ist, die auf dem Foto abgebildet ist, so stark ist die Verbindung zu dem Mädchen und auch zu Mora. Als Nick und Lisa zufällig ein weiteres Foto von Mora am Strand finden, auf dem Mora noch als Mann mit kantigem Gesicht und kurzen Haaren abgebildet ist, glaubt Lisa, dass ihr Schicksal sie ruft und sie diesem Ruf folgen sollte. 27 Mora sieht sie dabei als die Schlüsselperson zu ihrem Schicksal. Später glaubt Lisa sogar, dass Mora eine Rolle der Wegbegleiterin zufällt, welche sie von ihrem Trauma 22 Ebd., S. 37. 23 Vgl. Ebd., S. 42. 24 Ebd., S. 125. 25 Ebd., S. 37 u. 99. 26 Ebd., S. 68. 27 Vgl. Ebd., S. 133 u. 139.
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befreien kann. Dieser Überzeugung schließt sich auch Nick an: »Mora ist die Spur. Da bleibst du dran.«28 Als sie sich schließlich finden und miteinander treffen, ist die Beziehung jedoch nicht ganz unproblematisch. Mora fühlt zunächst keine sonderliche Bindung zu Lisa: »Du nimmst jetzt dein komisches Foto und trollst dich. Du bist hier an der falschen Adresse. Meld dich bei Crimewatch, aber lass mich in Ruhe.«29 Lisas Besessenheit mit einem »Freak« – wie Mora sich nennt – kann Mora schwer nachvollziehen. Eigentlich möchte Lisa Mora von B erzählen, aber es kommt zu mehr. Lisa setzt sich mit Moras Identität als transsexuelle Frau auseinander. Moras Kleidung und Schminken gestatten ihr ein plurales Leben, das für die heteronormative Gesellschaft untypisch ist. Geschlechtsparodie und Maskerade ermöglichen den Rollentausch, den ihre Weiblichkeit, die in einem männlichen Körper geborenen wurde, einfordert. Rollenwechsel durch Verkleidung, so wie Butler es darstellt, ist eine der wichtigen Möglichkeiten, herkömmliche Matrizen wie Mann/Frau etc. zu widerlegen. Im Roman macht Lisa sich über diese Strategie der Subversion jedoch nur lustig: »Weißt du, Mora, Titten und Kleider machen noch keine Frau«, als sie Moras markante Gesichtszüge unter der Schminke erblickt. »Langsam sah ich das vertraute Gesicht aus der Schminke auftauchen. Die hohen kräftigen Wangenknochen, die vollen, weichen Lippen, die knochige Nase. Bei B war der Kontrast nie so groß gewesen.«30
Während die Brüste für eine Frau ein eindeutig weibliches Merkmal sind, besitzt Mora, wie Lisa auffällt, noch nicht einmal den Ansatz von Silikonbrüsten. Sie profiliert ein noch ganz uneindeutiges Geschlechterdasein, aber ist gerade deshalb schön in Lisas Augen: »Sie [Mora] sah aus wie eine Mischung aus Diva und Cowboy.«31 »Ich betrachtete Mora, als hätte ich eine Lupe in der Hand und das Lichtpult unter dem Negativ angeschaltet. Ich prüfte, wie ihr das Licht über die Schultern fiel, als wollte es sie streicheln. Ihre weißen Knöchel und die weichen dunklen Haare auf ihren Beinen, die grüne Seide ihres engen Rockes.«32
28 Ebd., S. 189. 29 Ebd., S. 194. 30 Ebd., S. 177. 31 Ebd., S. 182. 32 Ebd., S. 181.
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»Sie war furchtbar schön. Die Brüche, die durch ihre Erscheinung liefen, erinnerten mich an die rissige Erde eines Flussbettes.«33 »Irgendwie fand ich die behaarte Mora eindrucksvoller als diese aparte Schönheit, die jetzt vor mir saß. Mora mit ihrem Rock und den kräftigen, behaarten Beinen strahlte eine Schönheit aus, die wehtat, die einen schmerzhaften Riss durch meinen Körper laufen ließ. Es war eine Schönheit, zu der man Stellung beziehen musste, die man nicht einfach mit den Augen konsumieren konnte.« 34
Für Lisa verleihen gerade die Brüche, Widersprüche und Uneindeutigkeiten Mora ihre ungewöhnliche Schönheit. Als die Projektionsfläche Lisas wandelt sich Mora jedoch bald von einer geheimnisvollen Diva zu einer armen transsexuellen Tätowiererin, welche verzweifelt mit ihrer konfliktreichen Existenz ringt. Mora, deren Antlitz und Konturen mittlerweile deutliche Züge annehmen, tritt in den Vordergrund von Lisas Verarbeitung ihres Traumas und gewinnt in Lisas Leben zunehmend an Bedeutung. »Der ganze Raum schien leicht zu vibrieren. Wenn ich nur angestrengt genug darauf starrte, würden sich seine Konturen einfach auflösen. Währenddessen wurden Moras Umrisse immer schärfer.«35 »Ich stolperte. Ich stolperte gegen den Küchentisch, er war durchsichtig, hinter seiner schemenhaften, nebelartigen Existenz sah ich Mora. Ich rannte Marc um, er war durchsichtig, hinter seiner schemenhaften, nebelartigen Existenz schimmerte Mora. Ich ließ Teller fallen und in jeder Scherbe spiegelte sich Mora.«36
Die Umrisse des Körpers sind im Sinne von Butler niemals feststehend.37 Ein fester Körperumriss, der auf die Stabilität zwischen Innen – und Außenwelten abzielt, 33 Ebd., S. 183. 34 Ebd., S. 191. 35 Ebd., S. 183. 36 Ebd., S. 184. 37 Siehe hierzu J. Butler: Körper von Gewicht, S. 110ff. Um das Verhältnis zwischen dem materiellen Körper, der Sprache und der Psyche zu konkretisieren, verwendet Butler in Körper von Gewicht das Wort »Morphe« im Lacan’schen Sinne. Der Körperumriss (Morphe) wird durch die symbolische Ordnung bzw. die Sprache konfiguriert. Butler folgt Lacans Erläuterung des Spiegelstadiums und führt aus, wie Individuation (Subjektivierung) auf »die Annahme eines Platzes; die Territorialisierung eines Objekts« erfolgt (ebd. 145). Das heißt, die Ich-Werdung findet im Laufe der Identifizierung der
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ist immer der Heteronormativität unterstellt.38 Lisa ist hingegen davon überzeugt, dass »alles ganz scharf umrissen sein wird, als wäre [Mora] ausgeschnitten aus einem anderen Bild und in [ihr] Leben hineinkopiert«39. Bei einem weiteren Treffen fällt Lisa auf, dass Mora unter Lethargie zu leiden scheint und seit ihrem letzten Besuch das Zimmer nicht verlassen hat. In der Realität verfügt die für Lisa zauberhafte Mora über nichts mehr als »die blanke Matratze« 40 mit Flöhen. Das nächste Treffen mit Mora findet im »windschiefen Waverly Cemetery« statt, einem »heruntergekommenen Friedhof«, dessen »Grabsteine der bröckelnden Küste immer näher« rücken. Der Friedhof kennzeichnet den Endpunkt des Lebens und das Meer den Ursprung. Kultur- und Naturlandschaft vereinigen sich in einem Ort, den Lisa als ideal für eine Aussprache mit Mora sieht.41 Mora präsentiert sich in diesem sakralen Raum. »Sie glitzerte und funkelte, jede ihrer Bewegungen war gezielt. Sie saß da mit ihrem knackigen Hintern mitten in ihrem extravaganten Leben und strahlte Wildheit und Bedeutung aus. Ich fühlte mich, als würde ich mal wieder den Briefkasten öffnen, betäubt von der unendlichen Reinheit seiner Leere.«42
In dieser »unendlichen Reinheit« der Leere entdeckt Lisa etwas Göttliches in Mora. Durch das Sonnenlicht wird Moras Antlitz mit Anmut und Schönheit erfüllt. Diese ästhetisierte Wahrnehmung von Lisa wird durch die räumliche Rahmenbildung hervorgebracht: »Die Sonne stieg langsam über das Meer, Mora lag auf dem Grabstein und schlief, ich war hellwach und beobachtete das weiche Licht, das sich auf ihr Gesicht legte, die Fältchen um ihre Augen, in denen das Make-up brach wie trockener Boden. Ich verlor mich in ihrem Dunstkreis aus Wein und Parfum, krümelte den letzten Tabak in ein zerknittertes Blättchen und war einen Moment glücklich.«43
Die Großstadt Sydney wird zum Ort der Selbstsuche Lisas. Die kulturelle Vielfalt der Stadt Sydney kommt durch Einwanderer aus verschiedenen Regionen und eigenen Körpergrenze statt: »Das Ich wird um das spektakuläre Bild des Körpers selbst herum gebildet« (Ebd., S. 113). 38 J. Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 197f. 39 S. Kutschke: Etwas Kleines, S. 208. 40 Ebd., S. 192. 41 Ebd., S. 204. 42 Ebd., S. 206. 43 Ebd., S. 207 f.
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Ländern zustande. Lisa betrachtet die Metropole als »eine Stadt voller Freaks, die zum Schauplatz eines schillernden Mysteriums wird«44. Sie wirft sich in das schillernde Nachtleben in der »Oxford Street«, obgleich die Stadt ihrer Meinung nach »zu einer Kugel aus Stahl, Glas und Beton geschmolzen«45 ist. »Mit den Zähnen hätte ich Stücke aus den Mauern beißen können, die ganze verdammte Stadt einfach niedermachen wie ein Steak. Aber mir blieb nichts, als die nächste Imbissbude anzusteuern.«46
Für die transsexuelle Mora wird Sydney zur Fessel, denn Mora muss sich täglich mit Unverständnis und Hass auseinandersetzen. Nachdem Moras Tätowierstudio von einer Gruppe Unbekannter zerstört wurde, beschließen Lisa und Mora, mit dem homosexuellen Marc die Stadt zu verlassen und in die Wüste zu reisen. 47 In dieser »narzisstischen« und »unbefriedigten« Großstadt wird Liebe oberflächlich.48 Ohne Tiefe und Sensibilität sieht Sydney aus wie »eine überbelichtete Fotografie«49. An diesem Punkt bedeutet das Verlassen der Stadt nicht nur eine Ablenkung von der alltäglichen Wirklichkeit, sondern auch eine rebellische Konfrontation mit der Heteronormativität.50 Genau darum soll es im Schlusskapitel gehen: es wird untersucht, wie das geographische Zentrum von Australien zum Anlass wird, die Performanz des Subjekts außerhalb der heterosexuellen Geschlechtsordnung zu verwirklichen. 8.1.4 Transzendenz: Alice Springs und die Wüste Lisa, Mora und Marc haben kein »lineares erotisches Interesse« und sind sexuell queer: Lisa beschränkt ihre Sexualität nicht auf Heterosexuelle; Mora ist transsexuell und Marc homosexuell.51 Gegen Ende des Romans steuern sie »Australiens rotes Zentrum«, Alice Springs, an.52 Mitten in der Wüste liegt der sogenannte Ayers Rock »Uluru«, das Ziel der Reise. Der Uluru ist der überirdische Teil eines sonst unterirdischen Felsengeflechts, das sich über 500 Meter weit erstreckt. Auf 44 Ebd., S. 194. 45 Ebd., S. 220. 46 Ebd., S. 202. 47 Ebd., S. 213. 48 Ebd., S. 89. 49 Ebd., S. 136. 50 Ebd., S. 85. 51 Vgl. Ebd., S. 34. 52 Ebd., S. 219.
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diesem Felsen wurden früher religiöse Zeremonien von den Ureinwohnern abgehalten. Würde man unterschiedliche Umgebungen mit Eigenschaften versehen und metaphorisieren, dann würde die Wüste vermutlich mit Unfruchtbarkeit assoziiert werden. Die Reise durch die Wüste nimmt eine rituelle Kraft an, auch weil sie Moras Wunsch verwirklicht, zum Ursprung allen Lebens zurückzukehren.53 Zudem wird Moras Performanz mit ritueller Kraft angereichert, da die Natur eine reinigende Funktion erfüllt, indem sie die Menschen von ihren Sünden befreit.54 Mora, eine geschlechtliche Randgängerin, die sich als sündig nach der kreatürlichen Norm betrachtet, findet ihre Erlösung in der Natur. Diese Reise als ein personalisiertes Ritual kennzeichnet keine Wandlung des sozialen Status angesichts der performativen Äußerung Austins, sondern eine rebellischen Abtrennung von Normen. Vor der Reise nutzt Mora noch die Zeit, sich zu schminken und ihre Beine zu rasieren. Doch drei Tage in der Wüste reichen, um »Moras Bart wie Moos auf ihrem Gesicht wachsen zu lassen«55. Mit ihren immer deutlicher und prägnanter werdenden Zügen tritt Mora in den Vordergrund und ersetzt die überlappenden Bilder von B: »Plötzlich wusste ich nicht mehr genau, wie B ausgesehen hatte. Ich erinnerte jedes Detail, seine schiefen Zähne, die geschwungenen Lippen, die dünnen, blonden Haare, aber immer wenn ich versuchte, sein Gesicht zusammenzusetzen, sah ich Mora, mit den rauen Wangen, dem frischen Lippenstift und dem staubigen Kleid.«56
Mitten in der Wüste verspürt Mora den Impuls, sich hemmungslos und vorbehaltlos zu zeigen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, ob ihr Erscheinungsbild weiblich oder männlich ist. Ohne Hormontherapie, Rasierer und Kosmetika demonstriert die hüllenlose Mora anhand ihres Körpers pure Natürlichkeit. Auf den Fotos, die Lisa von ihr macht, ist deutlich zu sehen, dass ihre Umrisse und Wesenszüge immer klarer hervortreten. Die Natur stellt für Mora somit einen Schauplatz zur Neubestimmung und Profilierung ihres Selbst dar: »Mora seufzte und kletterte nackt auf einen Felsen, ihre Brust war von dunklem Flaum bedeckt, die kräftigen Schenkel glänzten in der Sonne. Sie breitete die Arme aus und warf den Kopf zurück (Blende 22, Verschlusszeit 1/125).
53 »Back to the roots«, Ebd., S. 222. 54 Vgl. Kutschke 2009: 255. 55 Ebd., S. 227. 56 Ebd., S. 228.
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Große Gesten sind wie ein Anzug, wie ein Schlips und ein Hut. Und es war nicht zu viel verlangt, dass in dem Moment zwei Wolken aufzogen, sich um die Sonne legten und ihr Licht bündelten, dass Mora um die Schulter fiel wie eine Federboa. Sie drehte sich um und schaute über die Schulter in die Kamera, die Lippen geschürzt (Blende 8, Verschlusszeit 1/500).«57
Mit ihrer Performanz drückt Mora ihren persönlichen Begriff der Freiheit aus. Diese vollzieht sich an dieser Stelle in Form einer Verschmelzung ihres Körpers mit der Naturlandschaft. Dabei lehnt Mora die Idee der Geschlechtsparodie58 im Sinne von Butler ab, indem sie keine Geschlechtsidentität imitiert oder inszeniert, sondern versucht, ihre Identität von dieser geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) abzutrennen. Die Rückkehr zur Natur, die als ihre radikale Lebenshaltung gelesen werden kann, ermöglicht eine Aufwertung der ursprünglichen Körpergestaltung. Das heißt, den geborenen Körper so zu akzeptieren, wie er ist, egal, ob man sich als männlich oder weiblich oder drittgeschlechtlich sieht. Es bleibt unausgeführt, ob die transsexuelle Mora ihr Verständnis von Körper, Geschlecht und Subjekt im Alltag praktizieren kann.59 Aber im Augenblick ihrer Inszenierung ist Lisa davon überzeugt. Durch diese bewusste Einrahmung des Selbst im Zentrum einer natürlichen und kulturellen Landschaft fasziniert und erregt Mora ihre Zuschauerin Lisa. Diese Performanz von Mora ist insofern gelungen, als ihre Performanz so starken Eindruck auf Lisa hinterlässt, dass diese ihre performative Botschaft fasziniert und weitertragen will. In diesem Moment wird die ungewöhnliche Randgängerin Mora begehrenswert und zwar abseits von gängigen Schönheitsidealen: »[…] ich begehrte Mora so sehr, dass ihre Haut mir wehtat, dass ich Stücke aus ihr hätte rausbeißen können, dass ich knurrte und die Zähne fletschte und sie doch so zart küsste, als wäre ich Sand, der langsam über ihre Haut rieselte.« 60
57 Ebd., S. 242f. 58 Siehe hierzu Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 202f. Mit der Geschlechtsparodie (Travestie) zielt Butler darauf ab, dass sie die anatomische Bestimmtheit der Geschlechtsidentität ablehnt und zugleich den »Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität« hervorhebt. 59 Es wird nicht erzählt, warum Mora nach der Reise die Stadt Sydney verlässt. Nach der Reise scheint es ihr nicht mehr wichtig zu sein, ein weibliches Erscheinungsbild beizubehalten, denn sie entscheidet sich gegen eine Brustoperation. 60 S. Kutschke: Etwas Kleines, S. 244.
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Nach Moras Performanz ist Lisa endlich imstande, sich von der Geschichte von B zu befreien. »Und B ging das alles nichts mehr an«61, so Lisa. Mora in der Natur bereitet Lisas einen Weg der Selbsterkenntnis. Lisa findet in der Natur wieder zu sich. In einer Nacht stehen der Mond und die Sonne gleichzeitig am Himmel. 62 Dieser etwas ungewöhnliche Anblick am Himmel spiegelt eine Widersprüche umfassende Einheit wider, die sowohl von Moras Wesen, als auch von Lisas Dasein repräsentiert wird. 8.1.5 Lisas Überwindung des Selbst in der Großstadt Im diesem Kapitel wird untersucht, welche weitere im Roman vorkommende Rahmenbildung, die jenseits des Diskurses liegt, zum Anlass der Subjektivierung der Protagonistin wird und dem Subjekt entweder eine ganzheitliche Sicht beimisst oder es zur Flucht aus seiner Schranke treibt. Lisa hat sich in der Natur regeneriert und will endlich in ihre Heimatstadt Berlin zurückkehren.63 In Berlin soll ihre Selbstfindung weitergeführt werden. Nick schenkt Lisa eine Kopie einer Straßenkarte von Sydney mit seiner hinzugefügten Aufschrift »Map your mind [Herv. i.O.]«64. Das Kartographieren der Stadt versinnbildlicht Lisas Beherrschung ihres Eigenlebens. Über die Abstände zwischen den Brandlöchern, die Lisa mit einer Zigarette in ihren Stadtplan brennt, misst sie die Distanzen der Stadt ab. Mit der Bahn fährt Lisa von einem Brandloch zum anderen, steigt aus, schaut sich die Häuser und Landschaften flüchtig an, um anschließend zur nächsten Station zu eilen. Die Brandlöcher im Stadtplan markieren Lisas eigenen Plan, über den sie sich die Stadt erschließt. 65 Lisa gewinnt durch ihren künstlerischen Umgang mit konventionellen und digitalen Methoden eine ganzheitliche Sicht auf die Stadt und die Welt und tritt wie eine Figur, die göttliche Züge hat, in der wirklichen und virtuellen Welt auf. Über die Navigations- und Zoomfunktion von GoogleMaps möchten Lisa und ihr Freund Nick ein gesamtes Bild der Stadt und der Erde aus einer virtuellen Höhe erfassen. In den hoch aufgelösten Satellitenbildern der Großstädte sind einzelne Menschen, Autos und sogar Tiere, die sich auf einem bestimmten Kartenausschnitt bewegen, zu erkennen.
61 Ebd., S. 259. 62 Ebd., S. 260. 63 Ebd., S. 258. 64 Ebd., S. 267. 65 Ebd., S. 19.
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Eine Stadt, eine Landschaft oder eine Welt durch das »[K]artographieren«, zu begreifen, ist ein sehnlicher Wunsch von Lisa und Nick. Ihnen ist eine digitale, aber dabei ganzheitliche Sicht hier lieber als die Realität. »Ich wartete auf den Zeitpunkt, an dem Nick und ich uns in einem Café in Italien verabredeten, Nick würde in Redfern hocken und ich in Surry Hills, die Telefonhörer ans Ohr gepresst, die Finger an der Maus, und uns über google street view langsam aufeinander zu bewegten. Hätten wir uns am verabredeten Standort getroffen, würden wir auf Panorama View schalten und den Blick auf den See genießen.«66
Lisa fühlt sich wie eine machtvolle Spinne in der Mitte eines Netzes, die Kontrolle über ihre Umwelt hat: »Ich hockte wie eine fette Spinne im Zentrum meiner virtuellen Landkarte, aß, trank und schlief und vergnügte mich damit, Fäden zwischen Tür und Fensterrahmen zu spinnen.«67
Die verkürzten Distanzen in der virtuellen Welt vermitteln eine illusionäre Nähe zwischen unterschiedlichen Orten und Menschen. Lisa setzt nun ihren ganzen Ehrgeiz daran, auch in der Wirklichkeit wie ein Knotenpunkt zu wirken, der Menschen vernetzt und Orte miteinander verbindet: »Und plötzlich hatte ich mir gewünscht, ich könnte die Tür zu Omas riesigem Schrank öffnen, in dem nun neben Omas, Opas und meinen Kleidern zu allem Überfluss auch noch Bs hingen. Ich würde eintauchen in den Geruch von Lavendel, Aftershave und Bs Teerosenduft, die Rückwand würde sich öffnen, und ich würde direkt in Marcs Haus hineinschneien, ihn kurz anlächeln, ihm die Zigarette aus der Hand nehmen und mir einen Kaffee kochen.«68
Nach dem Aufenthalt in Alice Springs sind Körperlichkeit und Sexualität nicht mehr die einzigen Faktoren, die für ihr Dasein entscheidend sind. Lisa realisiert, dass sie Nick liebt, der sie immer bedingungslos unterstützt hat. »Der Gestank der Gullys, der Schweiß auf meiner Haut, der Lärm der Autos, all das verschmolz zusammen zu meinem ganz persönlichen Begriff der Freiheit. Sydney war zu einem Überraschungsei geworden, und als ich die Schokoladen verputzt und die gelbe Kapsel
66 Ebd., S. 165. 67 Ebd., S. 85. 68 Ebd., S. 19.
202 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS geöffnet hatte, lag in meiner Hand Nick, in sieben Teilen, mit Anleitung zum Zusammenbauen.«69
Durch ihre Performanz erhebt Mora sich selbst zum mimetischen Zentrum und wird zum Vorbild für Lisas Selbsterkennung. Danach bricht Lisa aus ihrem »Kokon« aus und transzendiert durch ihre Erlebnisse in Alice Springs sich selbst.
8.2 M ICHEL H OUELLEBECQ : D IE M ÖGLICHKEIT I NSEL (2005)
EINER
Mit seinem zweiten Roman Elementarteilen erreicht Michel Houellebecq seinen internationalen Durchbruch. Die Gegenwart wird darin als ein Zeitalter der »Düsternis und Kälte« dargestellt. 70 Der Romancier Houellebecq stellt oft die Beschränkung des modernen Menschen dar, welcher in Liebesunfähigkeit und existenzieller Leere feststeckt. Die Klage über den Verlust von Gefühlen und die Vertreibung Gottes ist eine immer wiederkehrende Thematik in den Werken Houellebecqs. Seine Hinwendung zu Religion und Metaphysik und seine Kritik am Individualismus finden auch in seinem 2005 veröffentlichten Roman Die Möglichkeit einer Insel einen starken Ausdruck. 71 Auch das Thema der geklonten Menschen greift Michel Houellebecq hier auf. 72 Die Sehnsucht nach Liebe ist eines der wichtigsten Themen im Roman.
69 Ebd., S. 257. 70 Horst, Dietmar: Houellebecq der Philosoph. Ein Essay, Norderstedt: Books on Demand 2006, S. 60. 71 Vgl. D. Horst: Houellebecq der Philosoph, 65f. 72 Bereits in Michel Houllebecqs Debütroman Elementarteilchen (1998) spielen Themen des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft eine wichtige Rolle. Hier werden die Halbbrüder Michel und Bruno von ihrer sexuell freizügigen Mutter verlassen und wachsen bei den jeweiligen Großeltern väterlicherseits auf. Michel, der jüngere der beiden, ganz im Gegensatz zu seinem Sex-besessenen Bruder Bruno introvertiert und ruhig, beschäftigt sich mit molekularbiologischer Forschung. Auf Basis seiner wissenschaftlichen Ideen und Formeln wird sich später im Roman ein geschlechtsloser Neomensch züchten und klonen lassen. In Elementarteilchen stellt Michel ein beinahe emotionsloses Ebenbild Gottes dar, der liebesunfähige Menschen zu erlösen versucht. Der Schluss des Romans suggeriert eine fortgesetzte Sehnsucht nach einem Ausweg aus dem beschränkten menschlichen Dasein.
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Aber Liebe ist in der dargestellten Dystopie 73 unmöglich realisierbar – die emotionslosen und asexuellen Neo-Menschen der Klongenerationen blicken auf ihre genetischen Prototypen und damit auf die gegenwärtige europäische Gesellschaft zurück. Die menschlichen Nachfolger Marie23 und Daniel25 begeben sich schließlich auf die Suche nach einer Insel, wo sie aus dem scheinbar unveränderbaren Schicksal auszubrechen versuchen, um ein neues Leben anzufangen. Die Erzählperspektive dieses Romans wechselt vom menschlichen Vorgänger Daniel1 in der erzählten Gegenwart zu seinen Nachfolgern Daniel24 und Daniel25. Die Handlung findet auf zwei Zeitebenen, Gegenwart und Zukunft, statt und ist in Form der Memoiren von Daniel1 präsentiert, die mit den Kommentaren seiner Nachfolger versehen wurden. Es gibt zwei Handlungsstränge im Roman: Der erste thematisiert die geistige Leere und Liebesunfähigkeit gegenwärtiger Europäer; der andere Handlungsstrang als Gegenbild dazu stellt eine Möglichkeit des Menschen dar, völlig unabhängig von Körper und Sexualität zu leben. Die zwei Handlungsstränge können meines Erachtens als ein äußerer Rahmen des Romans betrachtet werden, durch sie geschieht eine Restriktion der Existenz. Die geistige Leere der gegenwärtigen Menschen und die emotionale Leere der Neo-Menschen stellen sich als Einschränkung für ihre Entfaltung und Existenz dar. Auf beiden diegetischen Ebenen versuchen die Figuren, diese auferlegten Grenzen zu überwinden. Der in beiden Ebenen auftauchende Hund Fox, der anfangs nur eine Nebenrolle spielt, gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird zum zentrierten Zeichenträger im Roman. 8.2.1 Die geistige Leere von Daniel1 In diesem Kapitel wird dargestellt, wie dem Komiker und Filmemacher Daniel1 schrittweise bewusst wird, dass er seine Existenz ohne wahre Liebe nicht mehr ertragen kann. Die Gesellschaft seiner Zeit sieht ihr höchstes Ziel im Lebensgenuss. In dieser Umgebung fühlt sich Daniel1 zuletzt geistig leer. Aufgrund des Mangels an Liebe versucht er, diese Leere durch eine Hinwendung zu einer neuartigen Religion zu überwinden. Der Roman erzählt dabei, wie eine Gruppe erfolgreicher Yuppies sich allmählich von der Mitte der Gesellschaft entfernt und in 73 Siehe auch Chrostek, Katharina, Utopie und Dystopie bei Michel Houellebecq. Komparatistische Studien, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011, S. 35f. Die Welt des Neo-Menschen soll als eine Dystopie (negative und gescheiterte Utopie) betrachtet werden. Die im Roman geschilderte zukünftige Welt zeigt auf, wie mögliche Gefahren der Gentechnik sich fortsetzen und die Gesellschaft massiv und ins Negativste verändern. NeoMenschen leben als manipulierbare Wesen in einem streng überwachten Raum, ohne Chance auf Freude oder Glück.
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eine Position sexuellen Außenseitertums gerät. Im Anschluss daran entfaltet sich die im Roman zentrale Fragestellung, ob der geschlechtslose Neo-Mensch gegenüber den gequälten und unglücklichen gegenwärtigen Individuen als ein besserer Vertreter der Menschheit betrachtet werden kann. Die Welt im Roman ist eine »verlorene Welt der Gefühle«, in der man den Fokus nur auf rein körperliche Lust legt und damit die Liebesfähigkeit verliert.74 Sexualität wird zum Privileg junger und hübscher Menschen und ruft in der Gesellschaft eine neuartige Hierarchie hervor: Es gibt auf sexueller Ebene nur noch Menschen, die bei den anderen Lust erwecken, und solche, die das nicht tun. Dabei wird die Verdrängung von Alter und Tod als Hauptquelle des menschlichen Leidens angesehen. Die dargestellte Gesellschaft der Gegenwart scheut sich im Bereich des Geschlechtslebens vor keinen Tabus, außer dem Altwerden. »Der Altersunterschied war das letzte Tabu, die äußerste Grenze, die dadurch, daß sie die letzte blieb und alle anderen ersetzt hatte, besonders massiv war. In der modernen Welt konnte man Swinger, bisexuell, transsexuell, Sodomit oder Sadomaso sein, aber es war verboten, alt zu sein [Herv. i.O.].«75
Der Protagonist der ersten Handlungsebene Daniel1 ist zwischen Sexualtrieb und Liebe, Massentreiben und Einsamkeit hin und hergerissen. Er ist humorvoll, charmant und ist als erfolgreicher Vertreter seiner oberflächlichen, spaßorientierten Gesellschaft skizziert.76 Er ist die typische Vorlage eines aufsteigenden Intellektuellen der Mittelschicht. Er sieht sich als »ein scharfer Beobachter der gegenwärtigen Realität« und vergleicht sich sogar mit Denkern wie Pierre Desproges und Balzac. Außerdem nennt er sich »ein[en] groß[en] Medienfreak«77. Seine geäußerten politischen Meinungen sind nur Teil der Show. Einerseits bezeichnet er sich als Linker und Verteidiger der Menschenrechte.78 Andererseits gewinnt er mit dem antisemitischen und antiislamischen Ton seiner Filmproduktion Aufmerksamkeit und somit Popularität. Durch solches Herauskehren von Skandalösem in der Grauzone gesellschaftlicher Akzeptanz erlangt Daniel1 mehr kommerzielles Interesse und Erfolg, als wenn er sich ausschließlich über Fiktion äußern würde. Das Ge-
74 Vgl. D. Horst: Houellebecq der Philosoph, S. 70. 75 Houellebecq, Michel: Die Möglichkeit einer Insel, übers. aus dem Franz. v. Uli Wittmann, Köln: DuMont 2005, S. 191. 76 Ebd., S. 30. 77 Ebd., S. 34. 78 Vgl. ebd., S. 19.
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heimnis dieses Erfolgs lässt sich auch auf das übermäßige Verwenden von Pornographie und extremer Gewalt zurückführen.79 Daniel1 hält sich für einen Schöpfer »seine[r] eigene[n] Welt« schafft und sieht sich geradezu als Rivalen Gottes im christlichen Sinn. »Ich habe beschlossen, ein leicht zugängliches kleines Universum zu schaffen, in dem man nur dem Glück begegnet.« 80 Ohne über eine authentische Persönlichkeit zu verfügen, lässt er sich von Strömungen und Meinungen Anderer treiben. Das Fehlen eines moralischen Zentrums macht ihn zur »leeren Hülle«81, welche jede Sichtweise auf die Welt mit Eigennutz verbindet. Die Vielseitigkeit seiner Maskeraden verschafft ihm Anpassungsfähigkeit und Flexibilität im Gesellschaftsleben und verhilft ihm zu seinem großen beruflichen Durchbruch im Alter von 39. Trotz seines Erfolgs verstärkt sich seine spirituelle Leere, was in zwei weiteren Aspekten begründet liegt. Daniel lebt in einer Gesellschaft, die »Schönheit, Jugend, Reichtum, Ehrgeiz und Sex« verehrt und alle verachtet, die nicht in dieses Schema passen.82 Seine Besessenheit von seinem Körper sowie seine Angst vor Altern und Tod haben ihren Ursprung in der sozialen Situation. Er erwartet zwar Liebe in der Beziehung mit den weiblichen Figuren Isabella und Esther, scheint selbst aber nicht dazu fähig zu sein, jemanden zu lieben. Als Daniel1 seine zweite Frau Isabella kennenlernt, ist sie Chefredakteurin des bekannten Modemagazins Lolita. Er fühlt sich von ihr besonderes deshalb angezogen und möchte sie heiraten, weil er sie als intellektuell ebenbürtige Frau betrachtet. Ihr Eheleben gerät aufgrund des nicht zufriedenstellenden sexuellen Lebens in eine Krise. Isabelle fühlt sich zunehmend von ihren neuen Arbeitskolleginnen herausgefordert und sogar entwürdigt, da diese »immer jünger, immer erfolgreicher und irrsinnig sexy« sind.83 Aufgrund ihres Alterns wird Isabella in der Welt der Mode zur Außenseiterin degradiert. Bekommt sie ihre Berufskrise samt Verlust des Selbstbewusstseins nicht in den Griff, entscheidet sie sich, zu kündigen. Da sie die fehlende Erfüllung durch ihre Arbeit nicht kompensieren kann, folgt darauf eine Lebenskrise. Isabelle und Daniel gehören der aufsteigenden neuen Mittelschicht in Paris an. Doch ihre vorbildliche Ehe scheitert, als ihre körperliche Liebe ein Ende findet. Seit Isabella ihren alternden Körper nicht mehr akzeptieren kann, verliert sie jede Lust auf Intimität mit Daniel1 und weist seine Liebe zurück.
79 Ebd., S. 155. 80 Ebd., S. 139. 81 McCann, John: Michel Houellebecq. Author of our Times, Bern: Peter Lang 2010, S.189. 82 M. Houellebecq: Insel, S. 18. 83 Ebd., S. 49.
206 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »Wenn die Erotik ihre Macht verliert, ist es auch bald mit der Zärtlichkeit vorbei. Es gibt keine geläuterte Beziehung, keine höhere Stufe der Seelenvereinigung und auch nichts, was dem nahekommen oder es auf spielerische Weise hervorrufen könnte. Wenn die körperliche Liebe vorbei ist, ist alles vorbei; und dann verrinnen die Tage in gereizter trostloser Eintönigkeit.«84
Doch auch Daniel1 verliert das Interesse an seiner Partnerin, denn Sexualität ist für ihn entscheidend, um überhaupt Liebe empfinden zu können. Daniels Liebe zu ihr lässt deswegen stark nach, als sie körperlich verändert und sexuell unattraktiv wird. Da sich Isabellas Körper nicht in Form halten kann, ist er nicht mehr in der Lage, die Beziehung mit ihr weiterzuführen, denn »[...] wir sind Körper, sind im wesentlichen und fast ausschließlich Körper, und unsere körperliche Verfassung liefert die wahre Erklärung für fast alle unsere geistigen und moralischen Anschauungen.« 85
Isabella fühlt sich aber zunehmend von ihrem Körper »verraten« 86. Mitsamt dem körperlichen Verfall verliert sie allmählich all das, was ihrem Leben Sinn und Freude verleiht. Daniels Jagd auf junge hübsche Frauen und die neuesten Automodelle, die nach wie vor zur Etikettierung und Beibeihaltung seiner gesellschaftlichen Stellung dient, nimmt nach der Scheidung von Isabella kein Ende. Er verliebt sich in die 22jährige, hübsche Schauspielerin Esther, »ein verwöhntes, umhegtes Luxusgeschöpf«.87 In der Beziehung mit Esther steht Sex im Mittelpunkt, bis sie sich eines Tages neuen Zielen und jüngeren Männern zuwendet und Daniel verlässt. Daniel träumt von einer selbstlosen und zärtlichen Liebe Esthers, er wird jedoch von ihrem Egoismus enttäuscht. Mit 47 fühlt Daniel1 sich ohne erfüllte Liebe zuletzt verbraucht und freudlos. Angesichts der gescheiterten Beziehung zu Esther verliert er seine Lebenslust und spürt »eine geistig[e] Leere«88, wenngleich er »noch immer tief in [s]einem Inneren trotz besseren Wissens an die Liebe« glaubt.89 Er wünscht sich eine
84 Ebd., S. 63. 85 Ebd: 195. 86 Ebd., S. 49. 87 Ebd., S. 197. 88 Ebd., S. 246. 89 Ebd., S. 367.
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»[…] gegenseitige, erwiderte Liebe, die einzige, die wirklich zählt, die einzige, die uns zu einer anderen Form der Wahrnehmung bringt, in der der Individualismus einen Knacks bekommt, die Lebensbedingungen verändert wirken und das Weiterleben gerechtfertigt scheint.«90
Daniel assoziiert sein Leiden mit dem Individualismus, der durch Unabhängigkeit und rücksichtslose Erzielung zur persönlichen Verwirklichung charakterisiert wird.91 Als er von Isabellas Selbstmord erfährt, breitet sich in ihm eine noch tiefere geistige Leere aus.92 Daniel fühlt sich nicht verantwortlich für die Scheidung von Isabella und ihren Suizid. Vielmehr sieht er sie beide als »zwei wirklich unschuldige Lämmer«93, die nicht in der Lage waren, ihrer existenziellen Gefangenschaft zu entkommen. Nach der Scheidung von Isabella fungiert der kleine Hund Fox wie ein gemeinsames Kind als die emotionale Verbindung zwischen zwei Leidenden. Durch Fox stehen sich die beiden Protagonisten, wenn auch ohne körperliche Nähe, dann wenigstens noch geistig nah.94 Nach dem Tod Isabellas ist Fox der einzige Grund für Daniel1s Weiterleben; er sieht sich zu dessen Fürsorge verpflichtet. Als Fox aber bei einem Verkehrsunfall getötet wird, was Daniel1 in seiner Lage schlimmer als der Verlust eines Menschen trifft, verliert er zuletzt all seinen Lebensmut und hat keine Motivation zum Handeln und Leben mehr: »[I]ch konnte genausogut an Ort und Stelle sterben und an seiner Seite begraben werden.«95 Er glaubt zwar noch immer an die Liebe, aber als er Fox verliert, verpasst er die letzte Chance, weiterleben zu können.96
90 Ebd., S. 154. 91 Siehe hierzu D. Horst: Houellebecq der Philosoph, S. 67 u. 81. Horst definiert den Individualismus als »jene Lebensform, die sich am Ideal der Selbstverwirklichung orientiert, die versucht, das Dasein an den eigenen Stärken, Begabungen und Interessen auszurichten«. Er greift Houellebecqs These in Elementarteilchen auf, wonach der Individualismus zu vermehrter Gewalt und Grausamkeit führt und kennzeichnet »[d]ie körperliche Gewalt« als »die ausgeprägteste Erscheinungsform der Individualisierung[.] [Diese] sollte in den westlichen Ländern die sinnliche Begierde ablösen.« (Houellebecq 2001: 174) 92 Vgl. M. Houellebecq: Insel, S. 341. 93 Ebd., S. 87. 94 Vgl. ebd., S. 121. 95 Ebd., S. 366. 96 Ebd., S. 367.
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»[D]as Verschwinden der Religionen oder die Schwierigkeit, sich zu verlieben«97 scheinen die wichtigen Ursachen für den Zerfall der sozialen Solidarität zu sein. Die geistige Leere von Daniel1 und sein Mangel an positiven Charakterzügen werden im Roman mit dem Zusammenbruch der herkömmlichen Glaubenslehren assoziiert. Die Suche nach einem Weg aus seiner Verzweiflung führt Daniel1 zu einer elohimitischen Sekte, die ihm die Aussicht auf Liebe und die Überwindung des Todes eröffnet. Vincent, ein wichtiger Gründer der elohimitischen Kirche, erläutert es folgendermaßen: »Wir haben die Unsterblichkeit und ein gemeinsames Dasein mit der Welt wiedergefunden; die Welt hat nicht mehr die Macht, uns zu zerstören, im Gegenteil, jetzt haben wir die Macht, sie durch die Kraft unseres Blicks zu erschaffen. Wenn wir uns unsere Unschuld bewahren und allein dem Blick zustimmen, bewahren wir uns auch die Liebe.« 98
Der Elohimismus wird von einer Sekte praktiziert, die von höherer außerirdischer Zivilisation ausgeht und darauf hofft, von diesen außerirdischen Kräften Erlösung zu erhalten. Es wird dabei angenommen, dass die Zivilisationen des Menschengeschlechts ihren Ursprung außerirdischen Schöpfern mit hoher Intelligenz verdankt. Diese Außerirdischen, die sogenannten Elohimen, haben weder göttliche noch übernatürliche Züge an sich; sie sind bloß materielle Wesen.99 Nach Daniel1 erobert die elohimitische Kirche zu seiner Zeit die gesamte westliche Welt mit der Überzeugung, den Tod überwinden zu können.100 Diese Religion, die sich nach eigenen Angaben auf reine Naturwissenschaft gründet, ersetzt herkömmliche Glaubenslehren, welche »einen massiven und verblüffend raschen Zusammenbruch« erleben.101 Werte wie Lebensgenuss und das physische Überdauern stehen in der elohimitischen Kirche im Mittelpunkt.
97
Ebd., S.24. Siehe auch D. Horst: Houellebecq der Philosoph. Religionsverlust wird besonders im Roman Elementarteilchen thematisiert. Michel Djerzinski sucht während des langsamen Sterbens von Annabelle bei der buddhistischen Meditation Trost. Vor seinem Tod beschäftigt Michel sich mit der »Religion der Humanität« des französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857), die Gott als »Grand Etre« (Großes Wesen) der Menschheit darstellt. Die Menschheit wird zum Göttlichen erhoben (vgl. Ebd., S. 72). Als »[d]er literarische und philosophische Romantiker« glaubt Houellebecq nicht, dass eine Gesellschaft ohne Religion lange auskommen könne (Ebd., S. 71).
98
M. Houellebecq: Insel, S. 375.
99
Vgl. Ebd., S. 97 u. 230.
100 Ebd., S. 324. 101 Ebd., S. 319.
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»Allerdings hatten sich die Zeiten geändert, und der Elohimismus trat gewissermaßen in die Fußstapfen des Konsumkapitalismus – der dadurch, daß er die Jugend als begehrenswertestes höchstes Ziel erkor, nach und nach den Respekt vor der Tradition und den Ahnenkult zerstört hatte –, da er den Menschen versprach, ihre Jugend und die damit verbundenen Vergnügen für alle Zeiten bewahren zu können.«102
Um dieses Konzept zu praktizieren, gilt es, die Unsterblichkeit einer begrenzten Zahl Auserwählter zu garantieren. Es werden wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Klontechnologie angestellt. Zu den Gründern der elohimitischen Kirche zählen Vincent und Miskiewicz,103 welche aber selbst nicht wirklich von der Hypothese der außerirdischen Schöpfer überzeugt sind. 104 In enger Zusammenarbeit schaffen sie eine erste Generation von unsterblichen Neo-Menschen. Durch diesen Komplex von Ideen und Techniken wurde der Mensch »selbst zum Herrn und Schöpfer des Lebens«.105 Im Unterschied zu Daniel1 Schöpferfigur, die als Rivale Gottes negativ definiert ist, ist Vincent ein Ebenbild Gottes, das den Schöpfungsmythos des Christentums durch eine selbst ins Werk gesetzte Schöpfung ablöst.106 Daniels Wiedergeburt findet in einem abgeschlossenen Raum statt, der Gebärmutter ähnlich:
102
Ebd., S. 321.
103 Siehe hierzu M. Houellebecq: Insel, S. 200. Vincent geht davon aus, dass sich Wissenschaft und Kunst in diesem Projekt vereinigen (vgl. ebd., S. 218ff). Die zwei Elemente spielen in Daniels beruflichen Erfolg keine Rolle. Vincent interessiert dabei besonders die Strukturierung der Macht in der zukünftigen Gesellschaft. Miskiewicz ist derjenige, die die Technik des Klonens beherrscht. In seinem Unterricht werden hingegen die religiösen und emotionalen Aspekte der Gesellschaft völlig vernachlässigt (vgl. ebd., S. 222). Durch zwei Prozesse wird die Wiederauferstehung der Menschen durchgeführt: auf die DNA-Entnahme, durch die der Körper durch die Information in der DNA reproduziert werden soll, folgt der Freitod (vgl. ebd., S. 325). 104
Vgl. M. Houellebecq: Insel, S. 273. Ihr Hauptanliegen besteht darin, möglichst viele Anhänger und Sponsoren anzulocken, um die Erforschung von Gentechnik medial und finanziell zu unterstützen.
105
Ebd., S. 273.
106 Vgl. Marz, Wolfgang: »Vor der Abschaffung des Menschen. Michel Houllebecqs Asketik der Liebe« in: Thomas Steinfeld (Hg.), Das Phänomen Houellebecq, Köln: DuMont 2001, S.116.
210 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS »Der Raum kommt, nähert sich, versucht mich zu verschlingen. Mitten im Zimmer ist ein leises Geräusch zu hören. Die Gespenster sind da, sie bilden einen Raum, umgeben mich.«107
Die Wiedergeburt von Daniel1 zeichnet den ersten Versuch des Menschen aus, sich aus der existenziellen Gefangenschaft und dem emotionalen Schmerz zu befreien. Die Erlösung vom Leiden des Menschengeschlechts soll durch eine geklonte, geschlechtslose Spezies gelingen. Der alte Mensch, jene gequälte und egozentrische Spezies, ist im Aussterben begriffen. Dabei wird sein Leiden am unerfüllten Begehren durch das komplette Auslöschen von geschlechtlichen Bedürfnissen geheilt. Bei den Neo-Menschen wird niemand, ob alt oder sogar in erotischer Hinsicht hässlich, zum Außenseiter oder innerhalb der Hierarchie des Schönen und Jungen zu einer untergeordneten Position degradiert. 8.2.2 Die freudlosen Neo-Menschen In diesem Kapitel wird dargestellt, woran die experimentelle Gesellschaft der Neo-Menschen, die eine negative Parallele zur gegenwärtigen Gesellschaft zieht, scheitert. Um die Funktionsweise der gegenwärtigen, liberal-individualistischen Gesellschaft außer Kraft zu setzen, wird bei den Neo-Menschen eine normative und göttliche Autorität eingeführt. Die Umsetzung der Gentechnik in dieser neu geschaffenen Welt hat im Roman zunächst Entindividualierung zur Folge, welche dem alten Individualismus entgegengesetzt wird. Unter strengen Regeln wird das Dasein des Neo-Menschen in vielen Aspekten stark reduziert. 2000 Jahre später ist der Großteil der Welt nach einer Klimakatastrophe im Wasser versunken. Die letzten Vertreter des alten Menschengeschlechts, die sogenannten »Wilden«, sind in ein früheres Entwicklungsstadium zurückversetzt worden und leben primitiv in Horden. Die Neo-Menschen hingegen leben in einem Gebiet, das sich »Central City« nennt, und welches Unsterblichkeit und ein Dasein ohne Leiden verspricht. Da das lästige Embryonal- und Kindheitsstadium gänzlich eliminiert wurde, kommen die Neo-Menschen im Körper eines Erwachsenen auf die Welt.108 Als eine Übergangsform befindet sich der Neo-Mensch im sogenannten »Intermediärstadium« der gesellschaftlichen Entwicklung, auf das die Zeit der Zukünftigen folgen soll. Die »Höchste Schwester«, die Herrscherin im Reich der Intermediäre, gibt den autoritären und normativen Rahmen des neo-menschlichen Daseins vor. Das alte
107 M. Houellebecq: Insel, S. 389. 108 Ebd., S. 218.
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Menschengeschlecht müsse aussterben, damit die Ankunft der Zukünftigen in Erfüllung gehen könne.109 Dafür ist eine kritische Distanz zum Leben der Vorfahren erforderlich.110 Natürliche und authentische Gefühle versetzen die Neo-Menschen in der »Central City« oft in Angst. Um »den Schmerz des Daseins« des alten Menschengeschlechts zu beseitigen, sind ehemals konventionelle Bestandteile des Gesellschaftslebens, Sex und Fortpflanzung, gänzlich untersagt. 111 »Der Schmerz des Daseins ist der Grund, weshalb wir in unserer Not die Gesellschaft anderer suchen; wir müssen dieses Stadium überwinden […]. Kurz gesagt, wir müssen die Freiheit erlangen, gleichgültig zu werden, das ist die Voraussetzung für die Möglichkeit vollkommener Gelassenheit.«112
Der Erhalt der Gelassenheit und die Stabilität der Gemeinschaft stützen sich auf die sogenannten »drei Säulen« des Glaubens der Neo-Menschen: »Die exakte Duplikation des genetischen Codes, das gründliche Nachdenken über den Lebensbericht des Vorgängers, das Verfassen des Kommentars.« 113 Solche Disziplinen zielen auf eine totale und stabile Vergemeinschaftung der Individuen. Die Lektüre des fremden Lebensberichts und das Verfassen eines eigenen Kommentars, die wichtigen Bestandteile des spirituelles Lebens der Neo-Menschen, fungieren als eine Warnung vor möglichen Verstößen gegen das Gesetz. Die Klone sollen weder ein Leben wie ihre Vorfahren führen, noch dürfen sie das verbotene Gebiet außerhalb der »Central City« betreten. Die Neo-Menschen werden auf die Welt gebracht, um lediglich das Leben ihres genetischen Modells fortzusetzen. Für sie gibt es keine anderen Möglichkeiten, als anhand des Lebensberichts auf das Leben und die Erinnerungen des Vorgängers zurückzublicken, damit sie sich an dessen Erinnerung anschließen können. Für Individualität ist im Leben der Klone somit kein Platz. Genau spürt Daniel25 die Fortsetzung des Lebens von Daniel1 in sich. »Daniel1 lebt in mir weiter, sein Körper hat in mir eine neue Inkarnation erfahren, seine Gedanken sind die meinen, seine Erinnerungen die meinen; sein Dasein setzt sich tatsächlich in mir fort, und zwar viel stärker, als es je ein Mensch, der davon träumte, sich in seinen Nachfahren fortzusetzen, erlebt hat.«114
109 Ebd., S. 60. 110 Ebd., S. 89. 111 Ebd., S. 148. 112 Ebd., S. 340. 113 Ebd., S. 162. 114 Ebd., S. 378.
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Somit besitzen Klone kein eigenes Leben und dürfen kaum Neues erfahren. Der Lebensbericht von Daniel1 wird auf den geklonten Körper »heruntergeladen«. Fraglich ist aber, ob das menschliche Bewusstsein auf diese Art und Weise tatsächlich gespeichert und fortgesetzt werden kann. Ein Neo-Mensch lebt zwar als genetisch identischer Klon, ist im strengen Sinn aber ein unabhängiges Individuum. Genau wie ihre Vorfahren müssen die Neo-Menschen irgendwann mit dem Tod115 rechnen, nehmen jedoch keinen geistigen Schmerz wahr, da sie davon überzeugt sind, das Gefühl der Verlassenheit oder die Todesangst ergeben sich aus einer »gescheiterten Wahrnehmung«116. »In Mißerfolgen und durch Mißerfolge bildet sich das Subjekt, und der Übergang von der Menschheit zur Neo-Menschheit und der damit einhergegangene Verlust aller körperlichen Kontakte hat nichts an dieser grundlegenden ontologischen Gegebenheit geändert. Genau wie die Menschen sind auch wir nicht vom Status des Individuums und der damit verbundenen dumpfen Verlassenheit befreit; aber im Gegensatz zu ihnen wissen wir, daß dieser Status nur die Folge einer gescheiterten Wahrnehmung ist, anders gesagt, des Nichts, des Fehlens der Worte. Wir sind von Tod erfüllt, ja geradezu formatiert und haben daher nicht mehr die Kraft, in die Anwesenheit vorzudringen.«117
Nicht nur die Lebensdauer, sondern auch der Handlungsspielraum des Neo-Menschen ist streng reguliert. Mithilfe des Elektrizitätswerks und eines Überwachungssystems werden die Neo-Menschen beaufsichtigt: In der Tat befinden sie sich in der Gefangenschaft eines streng geregelten Systems. Jeder, der abtrünnig wird, wird von dem Bereich der Unsterblichkeit für ewig ausgeschlossen. Folglich muss er dann früher oder später mit einem endgültigen Tod rechnen. Die Leere der Neo-Menschen ist hauptsächlich auf die verschwundenen elementaren Begierden, Gefühle und körperliche Empfindungen zurückzuführen. Sie kennen keinen körperlichen Schmerz, der zuvor, im alten Menschengeschlecht, untrennbar mit dem Dasein verbunden war.118 Die Kommunikation zwischen NeoMenschen funktioniert über eine virtuelle Digitaladresse. Die ganze Existenz des Neo-Menschen wird mehr oder weniger auf diese digitalen Informationen degra-
115 Siehe auch Houellebecq. Am Lebensende im »Intermediärstadium« ist der Verfall des Körpers drastisch: Nach nur wenigen Minuten steht der eben noch gesunde NeoMensch dem Tod nahe (vgl. M. Houllebecq: Insel, S.125). 116
Ebd., S. 124.
117
Ebd.
118 Vgl. Ebd., S. 147.
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diert, welche nach Belieben geändert werden können, womit der Neo-Mensch unauffindbar wird.119 Die Neo-Menschen haben keine Lust, mit Anderen zusammen zu sein, weder aufgrund der Fortpflanzung, noch wegen emotionaler und sexueller Bedürfnisse.120 Aus Angst davor, dass die neo-menschliche Gesellschaft wieder in ihre alte Form zurückfällt, sind körperliche Berührungen unter Menschen verboten. Der Körper des Neo-Menschen ist immun gegen jegliche Wandlungen aus der Außenwelt, auch ist weitere Evolution ausgeschlossen. Aus all diesen Entwicklungen folgt, dass die Klone von Daniel2 bis Daniel25 zunehmend auf gefühllose und geschlechtslose Wesen reduziert werden. Ab Daniel10 spüren die Neo-Menschen die Gefühle Grausamkeit und Mitleid nicht mehr. Das Phänomen der Tränen, ein »Charakteristikum des Menschengeschlechts« 121, ist verschwunden. Allerdings erhalten die biologisch identischen Klone unterschiedliche Charakterzüge, die sie als Individuen auszeichnen. In einem Vortrag bei der elohimitischen Kirche nimmt Miskiewicz damals schon vorweg, dass die geistige Duplikation der alten Menschen eigentlich nur theoretisch durchführbar ist, da jeder von persönlichen Erlebnissen individuell geprägt wird. »[...] Es gibt zwar gewissermaßen so etwas wie eine bereits bestehende grobe Vernetzung; einige grundlegende Elemente unter den Fähigkeiten und Charakterzügen sind bereits im genetischen Code festgelegt; aber die menschliche Persönlichkeit, also alles, was unsere Individualität und unser Gedächtnis ausmacht, bildet sich im wesentlichen erst allmählich im Verlauf unseres Lebens, indem neuronale Untervernetzungen und bestimmte Synapsen aktiviert und chemisch verstärkt werden; kurz gesagt, die individuelle Geschichte schafft das Individuum.«122
Die Entwicklung des Neo-Menschen stimmt mit dieser Antizipation überein. Wenn auch die Neo-Menschen immer streng manipuliert werden, so gibt es immer rebellische Seelen unter ihnen, die die Doktrin der Höchsten Schwester anzweifeln. Die sentimentale Marie22 fühlt eine Zugehörigkeit zum ehemaligen Menschengeschlecht und steht ihrem menschlichen Vorgänger in dem Augenblick sehr nahe, als sie Daniel24 zur Entblößung seines Geschlechtsteils am Bildschirm überredet. Dass sie sogar gegen Ende ihres Lebens eine gewisse Empathie mit den Wilden hat, deutet die Möglichkeit an, dass den Neo-Menschen ein anderes Schicksal zuteilwerden kann. Der vollkommen allein auf einem abgeschlossen Areal lebende
119 Vgl. Ebd., S. 124. 120 Vgl. Ebd., S. 295. 121 Ebd., S. 53. 122 Ebd., S. 218.
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Daniel24 verspürt zunehmend Unruhe und die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Immer mehr wird er neugierig auf jene negativen Gefühle wie Trauer, Grausamkeit und Mitleid, welche ihm völlig fremd sind. »Man vergießt nie Tränen ausschließlich über sich selbst, hat ein anonymer Autor des Menschengeschlechts irgendwo geschrieben. Grausamkeit und Mitleid sind zwei Gefühle, die natürlich unter den Bedingungen absoluter Einsamkeit, unter denen sich unser Leben abspielt, kaum noch Sinn haben.«123
Daniel24 verspürt im Todesmoment nicht nur körperliche Kälte, sondern auch »eine leichte Traurigkeit«.124 Marie23, die Nachfolgerin von Marie22, ist »eine charmante, fröhliche Frau des Neo-Menschengeschlechts«. Nachdem Marie23 abtrünnig wird, entscheidet sich Daniel25, der ihr besonderes nahe steht, sein Areal in der »Central City« und damit den konfliktfreien Zustand eines registrierten Lebens zu verlassen. Er folgt Marie23 auf ihrer Suche nach der Gemeinschaft abtrünniger Neo-Menschen auf der Insel Lanzarote. Was ihm die Zukunft bringt, weiß er nicht, aber der Tod scheint immer noch besser als die bedeutungslose Leere bis zum Überdruss.125 Auf Daniel25 übt der Lebensbericht von Daniel1 eine ungeplante Wirkung aus: Die Schilderungen von Liebeskummer sowie von unerfüllbarem Begehren wecken sein Interesse.126 Zudem beneidet er inzwischen seinen Vorgänger um sein Leiden und seine Leidenschaft. Daniel25 wählt letztendlich ein Leben mit einem Endpunkt, und beendet somit die Unsterblichkeit seiner Linie. In der Begleitung seines Hundes Fox sucht Daniel25 die Gemeinschaft von Abtrünnigen auf: NeoMenschen, Menschen oder Wesen unbestimmter Gattung auf Lanzarote. 127 »Das Leben der Menschen war im großen und ganzen ähnlich verlaufen und war ebenfalls vom Leiden beherrscht – mit kurzen Momenten der Lust, die mit der Bewußtmachung des Instinkts verbunden waren, den das Menschengeschlecht als sinnliche Begierde bezeichnet hatte. Das Leben der Neo-Menschen dagegen erhob den Anspruch, besänftigt, rational und fern von Lust und Leid zu sein, doch die Tatsache, daß ich fortgegangen war, bezeugte, daß dieses Vorhaben gescheitert war. Vielleicht würden die Zukünftigen die Freude kennenlernen, ein anderes Wort für die kontinuierliche Lust.«128 123 Ebd., S. 54. 124 Ebd., S. 149. 125 Vgl. Ebd., S. 161. 126 Vgl. K. Chrostek: Utopie und Dystopie, S. 143f. 127 Vgl. M. Houellebecq: Insel, S. 397. 128 Ebd., S. 433.
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Die Rebellion von Daniel25 gegen sein Schicksal bedeutet, dass das Vorhaben, sich durchweg von Leiden, Begehren und Individualismus zu verabschieden, scheitert. Ein paar Tage nach seinem Entschluss erhält Daniel25 eine handschriftliche Nachricht von Marie23 auf Lanzarote, welche auf eine veränderte Form von Kommunikation der Neo-Menschen hinweist. Ihre Worte in »sauberer, zierlicher Handschrift« auf den Kunststoffblättern legen ein Zeugnis ab und hinterlassen »ein Zeichen«, dass sie einen »absurden oder erhabenen« Willen vertritt, durch den die Menschen wieder beseelt werden.129 Marie23s Entscheidung gegen die Unsterblichkeit ist ungewöhnlich, aber auch sehr mutig. Dieses Zeichen, das Marie23 hier bildet, kennzeichnet den ersten Versuch, den zweiten Rahmen der Schranken aufzuheben. Ihre Performanz durch den Ausbruch aus der Beschränkung der »Central City« dient als Vorbild für die anderen Neo-Menschen. Bisher stellt sich die »Central City« als keine erfolgreiche Gegenwelt zu der gegenwärtigen Gesellschaft heraus. Die Hoffnung der Neo-Menschen wird überraschend auf einen kleinen Hund gesetzt. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, inwiefern der kleine Hund als ein verdinglichtes Zeichen in den Mittelpunkt der Erzählung gesetzt wird. 8.2.3 Verdinglichung der geistigen Ideale: Fox als Zeichenträger Anstelle des vernichtenden Egoismus tritt die bedingungslose Liebe. Während die Liebe in der gegenwärtigen Welt illusionär, unerreichbar und unerfüllbar bleibt, ist die genetische Codierung der Liebe zum Zeitalter des Neo-Menschen technisch realisierbar. Der genetische Ursprung moralischer Gefühle wird in der Zeit der Neo-Menschen intensiv untersucht.130 Der Hund Fox vertritt Daniel24s Verständnis von uneingeschränkter Liebe. Ein Hund liebt einen Menschen bedingungslos, egal, »wie häßlich, pervers, verunstaltet oder dumm dieser auch sein mag«131. Interessanterweise wird der Hund nach Daniel24 deshalb zur »Liebesmaschine mit Umkehreffekt«, da dieser die Liebe nicht nur bedingungslos, kontinuierlich und gleichmäßig erzeugt, sondern auch Liebe in seinem Gegenüber erregen kann.132 Tatsächlich empfinden Daniel1 und seine Nachfolger in ihrer kalten Welt die uneigennützige Liebe des Hundes als emotionale Kompensation für ihr elendes und isoliertes Dasein und erwidern diese Liebe. Durch den angeborenen Altruismus
129 Ebd., S. 434. 130 Ebd., S. 66. 131 Ebd., S. 169. 132 Ebd., S. 169f.
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eines Hundes wird die Liebesfähigkeit der Menschen erweckt. 133 Gemäß Daniel24 ist bedingungslose Liebe eine Voraussetzung für die Möglichkeit des Glücks. 134 Er sieht die Zukunft der Menschheit in der Übertragung der natürlichen Liebesfähigkeit des Hundes auf die Menschen. Es soll eine gentechnisch erzeugte und fest codierte Liebesfähigkeit geben, welche seiner Ansicht nach die Ankunft der »Zukünftigen« – der vollkommenen Generation – vorbereitet. Die Zukünftigen sollen die neuen Menschen sein, die die Schwächen des alten Menschengeschlecht und der Neo-Menschen besiegen. »Güte, Mitleid, Treue, Altruismus sind also in unserem Umfeld weiterhin unergründliche Geheimnisse, die auf den begrenzten Raum der körperlichen Hülle des Hundes beschränkt bleiben. Von der Lösung dieses Problems hängt es ab, ob die Zukünftigen kommen oder nicht. Ich glaube an die Ankunft der Zukünftigen.«135
Die Eigenschaft des Hundes bietet mannigfaltige Inspirationen für neue Entwürfe des Menschenseins. Eine weitere Fähigkeit, die der Hund besitzt, ist das Glücklichsein. Im Gegensatz dazu beinhaltet die Natur der Neo-Menschen diese Möglichkeit nicht. »Er [Fox] hat die gleichen Freuden wie seine Vorfahren, und auch bei seinen Nachkommen werden es die gleichen bleiben; seine Natur beinhaltet die Möglichkeit des Glücks.«136
Hunde sind nicht nur imstande zu lieben, auch ihr Sexualtrieb scheint ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten.137 Daniel24 hat Fox schon mehrmals sterben gesehen. Jedes Mal wird ihm darauf ein neu produzierter Hund gesandt, der seinen Herrn anhand dessen genetischer Eigenschaften und des Körpergeruches erkennt.138 Das heißt, auch die emotionale Verbindung zwischen beiden ist genetisch begründet. Außerdem verstehen Menschen und Hunde sich auch außerhalb sprachlicher
133 Siehe hierzu Horst. Der Altruismus beschreibt Emotionen, die für den Zusammenhalt der Menschen und der Gesellschaft wichtig sind, bzw. Mitleid, Güte, Zärtlichkeit und emotionale Abhängigkeit etc. (Vgl. D. Horst: Houellebecq der Philosoph, S. 68). 134 Vgl. M. Houellebecq: Insel, S. 66. 135 Ebd., S. 67. 136 Ebd., S. 65. 137 Ebd., S. 160. 138 Ebd., S. 160.
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Kommunikation, sodass es zwischen ihnen keine Sprachbarriere zu überwinden gibt.139 In der sonst emotionslosen Gesellschaft stellt die Liebe eine Seltenheit dar: Die Neo-Menschen können schon seit zweitausend Jahren nicht weinen oder lachen. Daniel24 kann sich schwer vorstellen, »[…] einen Tag zu verbringen, ohne das Fell von Fox zu streicheln und ohne die Wärme seines liebevollen kleinen Körpers zu spüren. Dieses Bedürfnis hat auch trotz des Schwindens meiner Kräfte nicht nachgelassen, ich habe sogar den Eindruck, daß es immer dringender wird.«140
Daniel25 hängt nicht nur emotional an seinem Hund. Dieser versucht ihn auch vor Gefahren zu schützen. Auf dem Weg zur Insel schläft der Hund nur leicht und ist jederzeit bereit, »bei der ersten drohenden Gefahr aufzuspringen, zu töten und notfalls zu sterben, um seinen Herrn und seine Feuerstelle zu verteidigen«141. Da Daniel25 als undefinierbarer Fremdkörper in der Gemeinschaft der Wilden auftaucht, zieht er nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Angst und sogar Hass auf sich. Später wird Fox von den Wilden brutal getötet. Er wird zum Sündenbock, weil er ein eigentlich schwacher Angehöriger von Daniel25 ist. Als Daniel25 bewusst wird, dass Fox’ Leben nicht mehr im Sinne der Unsterblichkeit der Neo-Menschen fortgesetzt werden kann, lernt er Liebe in Form von Leiden kennen. Das Opfer von Fox befördert den Prozess der Selbsterkennung von Daniel25, der mit einer Überwindung seiner existenziellen Krise einhergeht. Dies kennzeichnet einen neuen Anfang für sein Leben, da er immer menschlicher wird und sich nicht mehr als zu den Neo-Menschen gehörig sieht: »Fox konnte nicht wieder ins Leben gerufen werden, weder er noch ein anderer Hund mit den gleichen genetischen Merkmalen, er war der allgemeinen Vernichtung zum Opfer gefallen, der auch ich entgegenging. Inzwischen hatte ich die Gewißheit, daß ich die Liebe kennengelernt hatte, da ich wußte, was es heißt zu leiden.«142 139 Ebd., S. 160. 140 Ebd., S. 148. 141 Ebd., S. 408. 142 M. Houellebecq: Insel, S. 427. An einer anderen Stelle zeichnet Daniel dieses Leiden präziser nach: »Selbstverständlich war auch meine Psychologie anders geartet, ich kannte keine Angst, und auch wenn ich Leid empfinden konnte, waren mir nicht alle Dimensionen dessen, was die Menschen Trauer nannten, zugänglich; dieses Gefühl existierte zwar in mir, ging aber mit keiner konkreten Vorstellung einher. Ich spürte bereits, wie mir etwas fehlte, wenn ich an die Liebkosungen von Fox dachte, an die
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Der Hund Fox ist ein Angelpunkt, denn er verbindet zwei Welten auf verschiedenen Zeitebenen miteinander. Das oben geschilderte Opfer von Fox kann als Parallele zur in der erzählten Gegenwart verankerten Geschichte mit Daniel1 gelesen werden. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, wie die Grenze der »Central City« als normative Beschränkung der Neo-Menschen gesehen werden kann und in welchem Verhältnis diese zu der Insel Lanzarote steht. 8.2.4 Der Rahmen: Die »Central City« und die Insel Lanzarote Das Konzept der »Central City« entspricht dem »Nomotop«143 im Sinne von Sloterdijk.144 Die »Central City« ist durch eine normative Verfassung der Höchsten Schwester strukturiert. Die Stadt ist von einem Elektrozaun umgeben und in ihrem Inneren mit einem Überwachungssystem ausgestattet. Da Daniel25 in einer Region der »Central City« lebt, die von Wilden bevölkert ist, müssen die Schutzmaßnahmen noch strenger befolgt werden.145 Ein unfehlbares Sicherheitssystem geht mit einem verlässlichen Fortpflanzungssystem und einem autonomen Kommunikationsnetz einher, um so die Struktur der Stadt zu bewahren und stabilisieren. 146 Lanzarote, der alte Hauptsitz der Kirche des Elohimismus zurzeit von Daniel1, wird zum Ort, an dem Unsterblichkeit erlangt wird: »In dem Augenblick, als eine Stewardeß den ersten Aufruf für den Flug nach Madrid machte, sagte ich mir, daß diese Insel mit ihrem gemäßigten, gleichbleibenden Klima mit nur ganz geringen Schwankungen, was Sonneneinstrahlung und Temperatur anging, der ideale Ort war, um das ewige Leben zu erlangen.«147
Art, wie er sich auf meinen Schoß legte und sich an mich schmiegte; wenn er ins Wasser sprang, vor mir herrannte, und vor allem, wenn ich an die Freude dachte, die seinem Blick anzusehen war, diese Freude, die mich zutiefst bewegte, weil sie mir so fremd war; doch dieses Lied und das Bewusstsein, daß mir etwas fehlte, erschienen mir unabwendbar, ganz einfach deshalb, weil sie da waren.« ( Ebd., S. 427f) 143 Der Nomotop gehört zu Sloterdijks Insulierungen, mit denen er die Schaffung von Inseln als Lebensraum der Menschen beschreibt. Mehr dazu siehe Sloterdijk, Peter: Sphären III– Schäume, Plurale Sphärologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 468ff. 144
P. Sloterdijk: Sphären III, S. 468f.
145
Vgl. M. Houellebecq: Insel, S. 160.
146
Vgl. ebd., S. 407.
147
Ebd., S. 278.
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Die Insel, die hermetisch von der Außenwelt abgeschottet ist, dient als Ort der Wiederauferstehung. Zurzeit von Daniel25 finden sich dort sowohl Wilde als auch abtrünnige Neo-Menschen, die gegen »die Lehre der Höchsten Schwester« rebellieren.148 Auf beiden Zeitebenen dient die Insel Lanzarote somit denjenigen als ein Zufluchtsort, die ihr eigenes Leben jenseits von Normativität gestalten wollen. Dass die Insel der »Central City« kontrastreich gegenüber steht, ermöglicht eine transzendente Erfahrung von Danie25l, welche im Schlusskapitel analysiert wird. 8.2.5 Liebe 149 und Gott150: Die Erlösung des Menschen Daniel25 schlägt seinen Weg nach Westen ein, in der Hoffnung auf eine Begegnung mit »einer Gemeinschaft von Neo-Menschen, Menschen oder Wesen unbestimmter Gattung«151 in der Gegend von Lanzarote. Ohne seinen Begleiter Fox erreicht er allein das Ziel seiner Reise. Hier nimmt die Reise nach dem Tod von Fox eine deutlich heitere Wendung hin zu einer transzendenten Erfahrung, als Daniel25 seine Erlösung in der Natur findet. Das Licht und die Wolken verleihen der Landschaft eine übernatürliche Aura. »Ihre seidige Oberfläche wirkte wie eine leichte Wölbung des Horizonts, ein Beben des Lichts, und ich glaubte zunächst an eine Sinnestäuschung, aber als ich näher kam, erkannte ich deutlich, daß es sich um Haufenwolken von schöner mattweißer Farbe handelte, deren spiralförmige Türme so unbeweglich waren, daß sie geradezu übernatürlich wirkten. Gegen
148 Ebd., S. 368. Die Insel Lanzarote ist zur Zeit von Daniel25 eine Halbinsel, sodass Daniel25 diese zu Fuß erreichen kann: »[N]achdem die Insel im Verlauf der Ersten Verringerung im Meer versunken war, war sie unter dem Druck erneuter Vulkanausbrüche wieder an die Oberfläche gekommen; zum Zeitpunkt der Großen Dürre war sie dann zu einer Halbinsel geworden, und ein schmaler Streifen Land verband sie den letzten Aufnahmen zufolge mit der afrikanischen Küste.« (Ebd.). 149 In Plattform wird die Hoffnung auf Liebe auf die Figur der engelsgleichen Valerie übertragen. Die Wiederbelebung der Liebe im christlichen Verständnis wird im hier untersuchten Roman durch den kleinen Hund Fox vollzogen. 150 Chrostek zufolge ist die gesamte formale Gestaltung des Romans eindeutig am Alten Testament orientiert. Die Figur Daniel stützt sich auf das Buch Daniel des Alten Testaments, welches zu den Büchern der Propheten gehört. Der biblische Prophet Daniel ist der einzige Gelehrte am königlichen Hof, der Zeichen Gottes erkennen kann und die Ankunft von Nebukadnezars Sohn Belschazar voraussagt (vgl. K. Chrostek: Utopie und Dystopie, S. 147f). 151
M. Houellebecq: Insel, S. 397.
220 | Ü BER DEN K ÖRPER HINAUS Mittag erreichte ich die Wolkenschicht und sah das Meer vor mir liegen. Ich hatte das Ziel meiner Reise erreicht.«152
Am Meer angelangt beginnt Daniel25, Hunger zu spüren. Das Meer bietet ihm die Möglichkeit, Wasser und Mineralsalze aufzunehmen. Die See als Quelle des Unendlichen und der Lebenskraft stellt in seinem Leben einen Fixpunkt dar. Daniel25 kehrt gleichsam zum Geburtsort aller Wesen zurück.153 »Das war also das Element, das die Menschen das Meer nannten und das sie als den großen Trostspender und zugleich als den großen Zerstörer betrachtet, der die Künste verschlang und ein sanftes Ende brachte.«154
Die Rückkehr der Menschen zu der Natur deutet eine Funktionslosigkeit des normativen Rahmens an. In der Gegenwart verspricht die Insel Unsterblichkeit ohne Leiden, zurzeit von Daniel25 eine Wiederbelebung christlicher Liebe. Dadurch, dass der Mensch geistige Ideale wie Liebe und Tugend besäße, wäre eine Überwindung der geistlichen und emotionalen Leere der Menschen auf der zweiten Ebene des Romans endlich vorstellbar. Dabei wird die Ganzheit der Menschen durch Liebe wiederhergestellt. »Die Liebe scheint für die Menschen der letzten Periode zugleich ein Höhepunkt und eine Unmöglichkeit, Gegenstand des Bedauerns und der Verehrung gewesen zu sein, kurz gesagt, der Brennpunkt, in dem sich alles Leid und Freude vereinigen konnten.« 155 »Der Grund dafür ist, daß dies unsere ursprüngliche Natur war: ernst waren wir ein Ganzes. So heißt nun das Verlangen und das Streben nach der Ganzheit ›Eros‹«156
152 153
Ebd., S. 438. Siehe hierzu Horst. Die Darstellung des Erhabenen und Schönen in der Natur dürfte wohl auf Houellebecqs »Liebe zur Geisteswelt der Romantik« zurückzuführen sein. Im Interview mit der Journalistin Susanne Steines drückt Houellebecq seine Bewunderung für die Romantik aus: »Die Romantik ist die erste Bewegung, die ein paradiesisches Universum ersonnen hat, in dem ewig alles gut ist. Sie leugnet den Tod mithilfe des christlichen Glaubens. Das können wir heute nicht mehr.« (D. Horst: Houellebecq der Philosoph, S. 71)
154
M. Houellebecq: Insel, S. 441.
155
Ebd., S. 170.
156
Ebd., S. 436 f.
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Der Neo-Mensch stellt eine Übergangsform dar, während der Zukünftige ein menschliches Einheitsideal verkörpert. Trotz aller Zweifel an der Ankunft der »Zukünftigen« glaubt Daniel25 noch fest an die Aussicht auf ein vollkommenes Menschendasein.157 »[…] meine Gedanken verweilten auch noch einmal bei den früheren Menschen, die bei solchen Gelegenheit ihre Seele Gott befahlen; ich bedauerte, daß es keinen Gott oder ein vergleichbares Wesen gab. Schließlich ließ ich meinen Geist in die höheren Gefilde der Hoffnung auf die Ankunft der Zukünftigen aufsteigen. Im Gegensatz zu uns sind die Zukünftigen keine Maschinen und nicht einmal wirklich getrennte Geschöpfe. Sie sind eins und trotzdem unterschiedlich.«158
Als ein noch »getrenntes«159 und unglückliches Geschöpf bleibt Daniel25 unerlöst. »[…] ich bedauerte dabei nur zutiefst, daß ich den Tod von Fox verursacht hatte, dem einzigen Wesen, dem ich je begegnet war, das es verdient hätte zu überleben; denn in seinem Blick lag schon manchmal ein Funke, der die Ankunft der Zukünftigen ankündigte.«160
Nach dem Scheitern der neomenschlichen Gesellschaft greift Daniel25 auf alte Wertvorstellungen und den Glauben an eine bedingungslose Liebe zurück. Er möchte nun christliche Werte, insbesondere das Gebot der Nächstenliebe, durch eine genetische Übertragung der Tugend des Hundes per Genmanipulation auf den Menschen.161 Auf das Kommen der Erlöser wartend, impliziert der Schluss von Die Möglichkeit einer Insel ein positives Ende. Daniel25 hofft noch immer auf eine vereinheitlichende Funktion der Liebe, die Geist und Körper zu vereinigen vermag. Die Themenkomplex von Liebe, Tod und Leid wird am Ende des Romans mithilfe der schönen Naturlandschaft eher konformistisch als provokativ dargestellt.
157 Vgl. Ebd., S. 377. 158 Ebd., S. 431 f., meine Hervorhebung. 159 Ebd., S. 442. 160 Ebd. 161 Am Ende von Elementarteilchen und Die Möglichkeit einer Insel sind ähnliche Handlungsverläufe zu erkennen. Beide Romane skizzieren eine mögliche Erlösung für das Verhängnis des menschlichen Daseins.
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8.3 FAZIT »Rückkehr zur Natur« ist ein wichtiges Merkmale dieser Typologie. Grundlegend ist die Grenzziehung zwischen einem geographischen, als natürlich aufgefassten und einem normativen und zugleich städtischen Rahmen. Die Protagonisten machen sich auf die Suche nach einem utopischen Ort, der sich in der Natur befindet. Das Erhabene der Natur versetzt die Figuren in Bewunderung. Große Themen wie Vergänglichkeit, Zeit und Tod klingen an. Dabei ziehen sich die Figuren nicht in ein isoliertes Dasein zurück, sondern bekommen durch das Naturerlebnis eine überzeitliche Sicht auf das Leben und sich selbst. Die transsexuelle Mora entblößt ihren nackten Körper an einem uralten rituellen Ort. Auf der Suche nach einem neuen Leben auf einer Insel bricht Daniel25 aus der normativen Stadt »Central City« der Neo-Menschen aus. Er glaubt noch immer an die Ankunft der »Zukünftigen«, die das Menschengeschlecht erlösen werden. Im Vergleich zur zweiten Typologie ist in diesem Konzept die Idee des transzendentalen Gottes stark abgeschwächt. Die Wiederherstellung der christlichen Werte tritt jedoch in den Vordergrund. Eine neue Religion ohne transzendenten Gott tritt an die Stelle des Christentums, wenngleich die Romanfiguren im Kern zu tradierten christlichen Werten zurückkehren. Während die archetypischen Abbilder sich in der zweiten Typologie als Ebenbilder Gottes entpuppen, behauptet der Mensch in der dritten Typologie eindeutig seine Stellung als der zweite Gott gegenüber demjenigen des christlichen Schöpfungsmythos.
9. Schluss
Aus den Analysen der vorliegenden Studie hat sich ergeben, dass die Erklärungskraft des Poststrukturalismus für neue Ausprägungen der Geschlechts- und Subjektkonstruktion in der zeitgenössischen gender-orientierten deutlich infragegestellt werden muss. Dabei möchte ich akzentuieren, dass das Ziel dieser Arbeit nicht darin liegt, ein unumstößliches theoretisches Paradigma zu entwickeln oder unbestreitbare Fakten zu behaupten. Vielmehr ist mein Hauptinteresse, neue Werke aus der gender-orientierten Literatur ins Auge zu fassen und eine angemessene Weise zu entwickeln, diese zu lesen und zu interpretieren. In diesem Schlusskapitel werden die Ergebnisse der Arbeit entlang der beiden Hauptthesen ein weiteres Mal zusammengefasst, um damit die in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen in Hinsicht auf Butlers Körper- und Subjektbildung zu beantworten. Meine Hauptthesen betreffen zum einen den Körper, der als einheitliches ostensives Zeichen konstruiert ist und fungiert und als solches in den mimetischen Mittelpunkt der Werke gestellt wird. Zum anderen geht es mir um den Akt der Subjektwerdung. Dieser ereignet sich bei den jeweiligen Figuren in einem Wechselspiel von Repräsentation, Rahmenbildung und Transzendenz. Methodologisch lässt sich die neue Strategie der Körper- und Subjektbildung unter dem Stichwort der »Performanz« zusammenfassen, zu dem Repräsentation, Rahmenbildung und transzendente Erfahrungen gehören. Das in der vorliegenden Arbeit dargestellte Konzept der Performanz steht also, wie in der Einleitung bereits ausgeführt, in einem deutlichen Unterschied zu Butlers an der Sprechakttheorie ausgerichteter Performativität. Die Performanz im Sinne Eshelmans, die sich vom Diskurs als zentrales poststrukturalistisches Instrumentarium abgrenzt, ist eindeutig an der Repräsentation orientiert. In meinen gewählten Literaturbeispielen werden die Protagonisten durch zwei konkrete Formen von Performanz bzw. Zeichensetzung und Rahmenbildung subjektiviert. Der Einfluss der sogenannten »kulturellen Wende« (engl.: cultural turn) in der Sozialwissenschaft führte dazu, dass auch die materielle Wirklichkeit als kulturell
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konstruierte Zeichenrealität verstanden wurde. Diese Wende ging mit einer Verschiebung der Untersuchungsschwerpunkte von der materiell-sozialen Ebene geschlechtlicher Ungleichheit zu einer symbolisch-kulturellen Ebene der Identität einher. Dabei rückten die Fragmentierung und die Differenz von Geschlechtskategorien in den Fokus der Untersuchung. Anstelle der Sozialwissenschaften avancierten Philosophie, Kultur- und Literaturwissenschaft zu führenden Diskursen im Bereich der Geschlechterforschung. Viele Soziologen kritisierten dabei, dass eine genaue Beobachtung der konkreten Unterdrückungsverhältnisse in überhistorischen Denkmustern bzw. in der diskursiven Sprache möglicherweise verloren geht. Seit Anfang der 1990er Jahre wird eine andere Wende in der Soziologie konstatiert, die sich der negativen Wirkung der kulturellen Wende entgegenstellt und dem menschlichen Körper zuwendet. Der Frankfurter Soziologe Robert Gugutzer bezeichnet diese Wende als »body turn«. Die breite Hinwendung der Forschung zum tatsächlichen, materiellen Körper stützt sich im Wesentlichen auf drei Ebenen. Es handelt sich dabei um den Körper als Forschungsobjekt, als Theoriekategorie und als Erkenntnisinstrument.1 Das ostensive Körperzeichen stellt einen Versuch dar, materielle und symbolische Aspekte zusammenzubringen, indem der Körper und das Zeichen als untrennbare semiotische Einheit dargestellt werden. Dabei sind nicht der ontologische Körper oder seine empirische Untersuchung von Belang. Vielmehr geht es darum, wie der Körper als das zentrierte Zeichen im Prozess der Repräsentation wahrgenommen wird und in welchem Verhältnis dieser zur Transzendenz und Subjektivierung der Romanfiguren steht. Diese Analyseaspekte sind in meiner literaturwissenschaftlichen Forschung von hohem Interesse. Im Unterschied zu Butlers Zeichenverständnis (vgl. 4.1) ist das dingbezogene Zeichen für die Interpretation meiner Beispiele besonders gut geeignet. Die »abnormale« und »pathologische« Körpergestaltung, die in meinen Beispielen als mimetisches und transzendentes Zentrum dient (vgl. 6.1 u. 6.2), entspricht der Struktur der Urszene von Gans. Mit dem zentrierten Ding, das als Instrument der Beschwichtigung fungiert, ist immer Sakralität verbunden. Die Romanfiguren werden häufig als Ebenbild Gottes oder als Figuren mit gottähnlicher Kraft charakterisiert. Es geht darum, das ostensive Körperzeichen als schöpferische Quelle, Potenzialität und Schauplatz der Subjektivierung aufzufassen. So erweist sich das Körperzeichen als ideale Projektionsfläche für variable Konzepte von Körper und Begehren unterschiedlicher Art. Der uneindeutige Geschlechtskörper wird dabei nicht als zerstückelt, gespalten und illusionär, sondern als einheitlich, sakral oder 1
Vgl. Gugutzer, Robert: »Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung«, in: Robert Gugutzer (Hg.), Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript 2006, S. 9f.
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ästhetisch dargestellt. Damit eröffnet er die Möglichkeit zur Selbsterkennung, zur Erlösung von Schuldgefühlen oder zu einer Erfahrung des Göttlichen für die Figuren, welche zuvor noch unter ihrem konfusen Geschlechtsdasein leiden mussten. Im Folgenden wird resümiert, in welchem Verhältnis das ostensive Zeichen zur Rahmenbildung steht und inwiefern es ein identifikatorisches Zentrum bildet, das der nachahmenden Figur zum Fixieren einer Identität oder zur Selbstentwicklung dient. In den dargestellten Beispielen ist die Subjektivierung mit der Rahmenbildung verbunden. Das Wechselspiel zwischen beiden steht daher im Zentrum meiner Untersuchung. In der Analyse eröffnet sich eine Möglichkeit, zu erörtern, wie die Räume durch die Repräsentation der Romanfiguren ästhetisch bestärkt oder subversiv konterkariert werden. Beide Prozesse führen letztendlich zur Subjektivierung der Figuren. Vornehmlich sind zwei Funktionen der Rahmen in der Subjektwerdung vorzufinden. Erstens verfolgt der Raum den Zweck einer auktorialen Instanz bzw. einer gottähnlichen Figur (vgl. 6.1 u. 6.2). Solche auktorialen Instanzen können eine Figur oder ein auktorialer Erzähler sein; sie dienen dann der Bestätigung und Plausibilisierung der Einzelheiten des semiotischen Innenrahmens. Es gelingt dem Subjekt dabei, ins Zentrum eines ästhetischen Erfahrungsraumes bestimmte Geschlechteraspekte zu setzen, welche dann mit dem äußeren Rahmen zusammenfallen. Das Subjekt kann sich auch mit einem bereits im Zentrum stehenden Zeichen identifizieren, das der Logik der Rahmenkonstruktion untersteht. Beide Verfahren dienen der vorläufigen Identifikation einer Identität, die in der Raumbildung feststeht. Oftmals zeigt sich auch, dass das Subjekt eine Transzendenz durch seine Projektion auf das unerreichbare und begehrenswerte Objekt erlebt. Eine Transzendenzerfahrung kann das Subjekt aber ebenso durch seine Anpassung an das Ordnungsprinzip der auktorialen Rahmen erlangen. Innerhalb dieses, jenseits des Diskurses durch Verklammerung der zwei Rahmen erschaffenen Eigenkontextes, welcher sich weder ironisch noch paradox oder spielerisch ergibt, bildet sich das Subjekt. Die zweite Form des Rahmens, der bösartig und bedrückend wirkt, übt Zwang auf die Protagonisten aus. Dieser negative Rahmen ergibt sich aus der Umgrenzung der Figuren, die hauptsächlich aufgrund der Isolierung von der Außenwelt oder wegen einer starken körperlichen und geistigen Reduktion in Form einer Behinderung oder Krankheit stattfindet (vgl. 6.1 u. 6.2). Dabei trennt sich das Subjekt zeitweilig vom Einfluss der diskursiven Sprache ab. Die Sprache bzw. Begriffe und Bezeichnungen begründen gemäß Butler die diskursive Stabilisierung und Destabilisierung der geschlechtlichen Identität.2 Da die Funktionsweisen des Diskurses sich in wiederholten sprachlichen Äußerungen und dann in der Handlung 2
Vgl. A. L. Müller: Sprache und Subjekt, S. 29.
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des Subjekts realisieren, können Ablehnung oder die vorläufige Abschottung von Sprache als das Versagen der diskursiven Bestimmung gelesen werden. Statt Sprache kommen andere Kommunikationsweisen wie Körperkontakt, Gestik und Mimik innerhalb einer geschlossenen vorsprachlichen Situation zur Anwendung. Poststrukturalistische sprachtheoretische Analyseweisen erweisen sich für diese Ausdrucksformen allerdings als wenig gewinnbringend. Die Identifikation mit dem ostensiven Zeichen innerhalb dieser zweiten, performatistisch bedingten Rahmenbildung, die sich manchmal als nicht erreichbar oder falsch erweist, führt jedoch zur aktiven Verarbeitung der Krise und letztendlich zum positiven Impuls der Selbstentwicklung. Die Performanz der Zeichenträger setzt ein Vorbild ein, das andere Figuren zur Transzendenz inspiriert (vgl. 6.1, 6.2 u. 8.1). Diese zweite Art der Rahmenbildung lässt sich an die erkenntnistheoretische Transzendenz von Heidegger anknüpfen, mit der er das Subjekt als ein in sich abgeschlossenes kapselähnliches Dasein beschreibt. Im Wechselspiel von Aufwand und Widerstand gelingt es den in ihren eigenen Körpern gefangenen und sich fremd fühlenden Protagonisten, über die Beschränkungen ihrer Existenz hinauszugehen. Die sich-überwindenden Figuren werden zu einem Vorbild für ihre Mitmenschen und erheben sich selbst zum mimetischen Zentrum. Die Gemeinsamkeit der zwei Raumkonstruktionen liegt darin, dass sie zeitweilig einen abgeschlossenen Raum bilden und einen unmissverständlichen oder zur richtigen Selbsterkenntnis führenden Eigenkontext für das Subjekt erschaffen, damit der diskursive Kontext abgeschottet oder vorläufig entkräftet werden kann. Die Raumvorstellung in Troll, eine Liebesgeschichte, stellt innerhalb meines Konzeptes eine Ausnahme dar, die sich in keine der beiden oben genannten Formen von Rahmenarten einordnen lässt. Mittels der vom Troll ausgestoßenen Pheromone, die eine biochemische Kommunikation zwischen Lebewesen ermöglichen, bildet sich ein spezieller Raum. In diesem Rahmen ist eine Wandlung der Geschlechtsidentität möglich, wie im Roman dargestellt ist. Solche in neuerer Literatur entworfenen Möglichkeiten der Identität- und Subjektbildung lassen sich nur schwer mit Butlers Konzept, das an die Konstruktionsfunktion der diskursiven Sprache gebunden ist, präzise analysieren und definieren (vgl. 2.2.3 u. 2.2.4). Man könnte argumentieren, dass sowohl das Erzählen,3 als auch die Raumkonstruktion4 in der Erzählung im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung von
3
Vgl. S. Nieberle/E. Strowick: Narration und Geschlecht, S. 5ff.
4
Vgl. Strohmaier, Alexander: »Zur Konstruktion des Raumes durch diskursive und performative Praxis«, in: Moritz Csaky/Wolfgang Müller-Funk/Klaus R. Scherpe (Hg.), Kultur – Herrschaft – Differenz, Tübingen/Basel: A. Francke 2008, S. 25f. Strohmaier
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Butlers »doing gender« verstanden werden können. Meine Untersuchung versucht allerdings, genau hier Ansatzpunkte zum Weiterdenken zu schaffen, um somit zu zeigen, wo eine einseitig diskursiv-sprachliche Analyseweise fehlschlägt und inwiefern eine neue Sichtweise oder gar ein neues Erklärungsmodell erforderlich ist. Die Figurengestaltung der Geschlechtsrandgänger in den bearbeiteten Literaturbeispielen beschränkt sich nicht mehr auf die Rolle von Außenseitern, Verlierern oder Opfern. Sie variiert vom zentrierten Zeichenträger über gottähnliche Figuren bis hin zu positiven Identifikationsfiguren. Diese starke Tendenz einer Zentrierung des Anderen kann meines Erachtens die Prämissen, Ziele und Vorgehensweisen der gender-orientierten Erzähltextanalyse grundlegend ändern. Außerdem ist eine weitere Tendenz in meiner Analyse festzustellen: Statt die Andersartigkeit der Geschlechtsrandgänger zu betonen, wird oft die Normalität der heterosexuellen Protagonisten problematisiert, die gegenüber den begehrenswerten Randgängern Minderwertigkeitsgefühle bekommen (vgl. 6.1, 6.2 u. 8.1). Zudem wird sexuelle Andersartigkeit nicht einseitig als das Gegenüber der Heterosexualität dargestellt. Wegen des Alterns geraten z.B. auch heterosexuelle Protagonisten ins Außenseitertum (vgl. 7.2 u. 8.2). Eine weitere Beobachtung ist, dass die antagonistische Spannung zwischen Außenseiter und Hegemonie, die in der Postmoderne herrscht, in der neuen Literatur durch Liebe und Toleranz überwunden wird. Die nun zentrierten andersartigen Personen, die anfangs als Fremdkörper definiert werden, versöhnen sich letztendlich mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt (vgl. 6.2 u 8.1). Auch schließt das neu etablierte harmonierende Zentrum der Randfiguren Menschen mit verschiedenen Gender-, Rasse- und Klassenhintergründen ein (vgl. 7.2). Angesichts der Neudefinition der Andersartigkeit und des umgedrehten Verhältnisses von Peripherie und Zentrum können in diesen Fällen poststrukturalistische Geschlechtertheorien bzw. »queer theories« in Bezug auf die Literaturanalyse ihr Ziel der Subversion verlieren. Statt nur soziales Randgängertum5 zu behandeln wird in meinen Beispielen auch religiöses Außenseitertum thematisiert. Auf eine eigene Art und Weise setzen sich die geschlechtlichen Randgänger mit dem Thema »Sünde« auseinander. Ihre Versuche, sich der institutionellen Religion bzw. der katholischen Kirche unter dem Papsttum anzunähern, bleiben erfolglos (vgl. 7.1 u. 7.4). Als Entgegnung
de-ontologisiert die Räumlichkeit und zeigt deren symbolische Verfasstheit auf. Diskurs-und performanztheoretisch fundierte Zugänge zum Raum in der Literatur werden konstruiert. 5
Die fehlende Darstellung der politischen Aspekte und Emanzipationsversuche gegenüber der sozialen Ungleichheit in der Literatur lässt sich, wie vorher gezeigt, auf die kulturelle Wende zurückführen.
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auf dieses Problem treten eine Reihe von archetypischen Figuren auf, die eigentlich selbst religiös Ausgestoßene sind. Sie besitzen geschlechterübergreifende Kraft und sind imstande, durch ihre Performanz Ressentiments zu beschwichtigen (vgl. 7.1, 7.2, 7.3 u. 7.4). Aufgrund der verloren gegangenen Lebens- und Werteorientierung machen sich die Menschen auf die Suche nach einer neuen Weltdeutung. Die Erlösung von geistigem und emotionalem Schmerz scheint in Die Möglichkeit einer Insel in einer atheistischen Sekte zu liegen, die durch das Versprechen ewigen Lebens die Rolle des Christentums im Geistesleben übernimmt. Der Glaubende in den hier vorgestellten Romanen glaubt nicht mehr an Gott, sondern an eine bestimmte Sache oder Person, die formal unwiderlegbar und deren Verehrung gefühlsmäßig nachvollziehbar ist. Im Monolog Joseph Kardinal Ratzingers, den Meinecke für eine Theateraufführung schrieb, wird eine kulturelle Wende der Religiosität unserer Zeit gedeutet. »Nicht mehr von Kirche, sondern von Kultur ist die Rede. Im Sinne von Kulturen interessieren wir uns für alle möglichen Religionen, adaptieren einzelne ihrer Elemente, pflegen auch als Nichtgläubige diverse Bräuche des Christentums weiter, und zwar aus einem diffusen Traditionsbewußtsein für kulturelle Überlieferungen heraus. Kultur erscheint hier als Begriff für all jene Dinge, die wir tun, ohne wirklich an sie zu glauben.«6
Das Christentum wird zu einem kulturellen Ereignis, bei dem Gläubige und Nichtgläubige sich nicht streng voneinander unterscheiden. Die postmoderne Gesellschaft ermöglicht dem Individuum eine größere Autonomie, neue Formen religiösen Lebens zu erproben. Damit eröffnen sich neue Chancen, aber zugleich auch Gefahren für die Menschen in der heutigen Gesellschaft. Aufgrund der Spannung zwischen dem Begehren nach sozialer Anerkennung 7 und der Erkenntnis verdrängten Begehrens formt sich das Subjekt im Sinne Butlers. »Die traumatische Wiederholung des aus dem gegenwärtigen Leben Ausgeschlossenen bedroht das ›Ich‹. Durch diese neurotische Wiederholung betreibt das Subjekt seine Auflösung – ein Begehren, das auf eine Instanz verweist, aber nicht auf die des Subjekts, sondern vielmehr auf die Instanz des Begehrens, das auf die Auflösung des Subjekts zielt und wo das Subjekt als Sperre oder Barre dieses Begehrens fungiert [Herv. i.O.].«8
6
Meinecke, Thomas: »Joseph Kardinal Ratzinger (Monolog)« in: Thomas Meinecke (Hg.) Ratzinger-Funktion, Frankfurt a. M. Suhrkamp 2005, S.13.
7
Schon in Subject of Desire im Jahr 1987 argumentiert Butler in Anlehnung an Hegel, dass das Subjekt Anerkennung braucht, um ein Selbst zu werden.
8
J. Butler: Psyche der Macht, S. 14.
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Dieses Begehren nach Anerkennung, das gleichsam eine Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bindungen bedeutet, muss man verleugnen, um damit eine Voraussetzung für die absolute Selbstbestimmung zu schaffen. Diese absolute individuelle Freiheit ist eine der Ursachen für die Entemotionalisierung der Gesellschaft, die zu der Liebesunfähigkeit und somit einer erosfeindlichen Kultur führt. Demzufolge wird Sexualität in manchen Fällen verdinglicht, indem sie lediglich als physikalische Fähigkeit, chemischer Effekt und sinnliches Vergnügen erachtet wird.9 Die Sehnsucht nach Liebe und interpersonaler Wärme wird immer dringlicher. Eine Folge des proklamierten Tod Gottes nach dem Theologen Markus Enders ist der Verlust der Glaubwürdigkeit seiner wesentlichen Eigenschaften wie »Wahrheit, Liebe, Güte und Gerechtigkeit« 10, welche die Rolle gesellschaftlicher Grundsätze spielen sollen. Insbesondere die Auflösung der geistigen Wesensnatur, die Foucault radikal vollzogen hat, führt zur Gleichsetzung des Menschen mit seinem wenig geistig gesteuerten, sondern trieb-bestimmten Leib.11 Die postmoderne Selbstüberschreitung des Menschen bedeutet in diesem Sinne nicht seine Selbstbestimmung, sondern seine Auflösung.12 So leitet Enders die Kritik am radikal postmodernen Menschenbild ein und besteht damit auf einer allgemeinen Wesensnatur des Menschen jenseits seiner Fragmentiertheit und Unbestimmbarkeit. Das Festhalten an eigenen Glaubensüberzeugungen in der multikulturellen Gesellschaft, sei es in Form einer Sekte, einer Sache oder einer Person, wird positiv an die Wiederbelebung christlicher Werte der Nächstenliebe geknüpft (vgl. 6.1, 7.2 u. 8.2). Eine Anmerkung Martin Walsers zu Lenzens Gottlosigkeit soll am Ende dieser Studie als Schlusswort dienen: »Gott ist tot. Er teilt uns mit, woran Gott stirbt. Jeder Gott. Er stirbt daran, dass er nicht hilft.«13 So finden die Subjekte in den hier untersuchten Romanen ihren Lebenssinn nicht durch Glauben im klassischen Sinne, sondern durch intersubjektive Liebe und Hilfe.
9 Vgl. auch M. Houellebecq: Plattform, S. 232: »Das sind nicht gerade Idealbedingungen für das Liebesspiel. In der Situation, in der wir uns befinden, ist die Professionalisierung der Sexualität in den westlichen Ländern unvermeidbar geworden.« 10 Vgl. Enders, Markus: Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg: Dr. Kovač 2010, S. 303ff. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd., 300. 13 M. Walser: Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe, S. 191.
Literatur
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Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel Juni 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
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Lettre Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) »Schloss«-Topographien Lektüren zu Kafkas Romanfragment 2013, 262 Seiten, kart., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2188-4
Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen April 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie April 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
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Yahya Kouroshi Alternative Modernen Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar – Mercè Rodoreda – Christa Wolf April 2014, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2622-3
Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3
Martina Läubli Subjekt mit Körper Die Erschreibung des Selbst bei Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und W.G. Sebald April 2014, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2655-1
Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1
Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche 2013, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2491-5
Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« 2013, 182 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3
Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) 2013, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2497-7
Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen Juli 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 46,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6
Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur 2013, 284 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2374-1
Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen April 2014, ca. 520 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.
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