Realismus nach den europäischen Avantgarden: Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit [1. Aufl.] 9783839419168

Realistische Schreib- und Darstellungsweisen der europäischen Avantgarden des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhu

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German Pages 348 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Neorealismen nach den europäischen Avantgarden – Zur Konzeption des vorliegenden Bandes
Komplexer Realismus als nachexpressionistische Konstellation. Elisabeth Langgässers Romane (von 1936 und 1946)
Breton auf Haiti. Magischer Realismus und transatlantische Avantgarde
Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst. Primo Levi und Natalia Ginzburg
„Die ausstrahlende Kraft des Neorealismus“. Neorealistische Bilder und Schreibweisen in der deutschen Nachkriegsliteratur
Suchbewegungen im Raum des Humanitären. Topographien der Bewohnbarkeit im Nachkriegsrealismus von Heinrich Böll und Vasco Pratolini
Dem Realen auf der Spur. Exerzitien der Beschreibung in der deutschen Nachkrie gsliteratur
Die Schonung der Realität. Anmerkungen zu Bazins Neorealismus
Cesare Zavattini, „regista mancato“. Oder mit den Bildern gegen die Bilder
Roberto Rossellini und der Beginn der phänomenologischen Filmerfahrung
Indeterminacy and realism in cinema and art
Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismo. Offenheit zum Leben
Realismus und Biopolitik. Von der pädagogischen Funktion der Darstellung bis hin zur ihrer bioökonomischen Auflösung
Geschichte, Fiktion, Wahrheit. Die Erzählung vom Partisanen-Krieg
Der Realismus neuer Kriege. Amerikanische Reportageliteratur aus Afghanistan und Irak
Autorinnen und Autoren
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Realismus nach den europäischen Avantgarden: Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit [1. Aufl.]
 9783839419168

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Claudia Öhlschläger, Lucia Perrone Capano, Vittoria Borsò (Hg.) Realismus nach den europäischen Avantgarden

Claudia Öhlschläger, Lucia Perrone Capano, Vittoria Borsò (Hg.) Unter Mitarbeit von Leonie Schulte

Realismus nach den europäischen Avantgarden Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die DFG sowie die Universitäten Paderborn, Salerno und Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Coverbild: GoodwinDan / photocase.com (Detail) Lektorat & Satz: Die Herausgeberinnen unter Mitarbeit von Leonie Schulte Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1916-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Neorealismen nach den europäischen Avantgarden – Zur Konzeption des vorliegenden Bandes

Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano/Vittoria Borsò | 7 Komplexer Realismus als nachexpressionistische Konstellation Elisabeth Langgässers Romane (von 1936 und 1946)

Stefan Scherer/Gustav Frank | 13 Breton auf Haiti Magischer Realismus und transatlantische Avantgarde

Ralph J. Poole | 41 Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst Primo Levi und Natalia Ginzburg

Christiane Solte-Gresser | 63 „Die ausstrahlende Kraft des Neorealismus“ Neorealistische Bilder und Schreibweisen in der deutschen Nachkriegsliteratur

Lucia Perrone Capano | 87 Suchbewegungen im Raum des Humanitären Topographien der Bewohnbarkeit im Nachkriegsrealismus von Heinrich Böll und Vasco Pratolini

Claudia Öhlschläger/Friederike Römhild | 109 Dem Realen auf der Spur Exerzitien der Beschreibung in der deutschen Nachkriegsliteratur

Klaus R. Scherpe | 141

Die Schonung der Realität Anmerkungen zu Bazins Neorealismus

Jörn Glasenapp | 163 Cesare Zavattini, „regista mancato“ oder mit den Bildern gegen die Bilder

Beate Ochsner | 189 Roberto Rossellini und der Beginn der phänomenologischen Filmerfahrung

Thomas Meder | 221 Indeterminacy and realism in cinema and art

Robert Pepperell | 245 Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismo Offenheit zum Leben

Vittoria Borsò | 261 Realismus und Biopolitik Von der pädagogischen Funktion der Darstellung bis hin zur ihrer bioökonomischen Auflösung

Laura Bazzicalupo | 291 Geschichte, Fiktion, Wahrheit Die Erzählung vom Partisanen-Krieg

Federico Bertoni | 303 Der Realismus neuer Kriege Amerikanische Reportageliteratur aus Afghanistan und Irak

Christoph Ribbat | 325 Autorinnen und Autoren | 343

Neorealismen nach den europäischen Avantgarden – Zur Konzeption des vorliegenden Bandes C LAUDIA Ö HLSCHLÄGER /L UCIA P ERRONE C APANO / V ITTORIA B ORSÒ

Die Forderung nach realistischen Darstellungsweisen, verbunden mit dem Anspruch, den Menschen in seinem alltäglichen, existentiellen Handlungsumfeld zu zeigen, erlebt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine bemerkenswerte Konjunktur. Der vorliegende Tagungsband, der auf eine vom 6.-8. Oktober 2010 abgehaltene, von der DFG geförderte binationale Tagung an der Universität Paderborn zurückgeht, fokussiert eine bisher in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch wenig beachtete Epoche, in der sowohl auf literarischem wie auf fotografischem und insbesondere filmischem Gebiet Symboliken und Ästhetiken des Realistischen etabliert werden: den italienischen Neorealismus der 40er und frühen 50er Jahre, dessen historischer, interkultureller und intermedialer Wirkungszusammenhang hier betrachtet wird. Realistische Schreib- und Darstellungsweisen gehören von Beginn der Literaturgeschichte an zum festen Inventar literarischer Praxis und dennoch stellt die Literaturwissenschaft immer noch und gerade gegenwärtig in forcierter Form die Frage nach dem, was in Bezug auf eine symbolisch, zeichenhaft, ästhetisch-medial vermittelte Wahrnehmung von Wirklichkeit

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‚realistisch‘ heißen kann und wofür der Begriff ‚Realismus‘ einsteht.1 Am Beispiel des italienischen Neorealismus lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen einem Bedarf an unmittelbarer Zugänglichkeit der historischen Wirklichkeit und ihrer notwendigerweise symbolischen Vermittlung präzise studieren: Mit seiner Konzentration auf Medien des Visuellen, allen voran auf den Film, koppelt der italienische Neorealismus die Frage nach der Realität an das Medium wahrgenommener und dargestellter Realität selbst. Der italienische Neorealismus wird in der Forschung zurecht als eine mit einem gewissen Pathos versehene Reaktion auf die „endgültige Unterbrechung in der Kontinuität des Lebens“ gedeutet, die der Krieg, der Widerstand und die Wirkungen auf Intellektuelle und einfache Leute mit sich brachten.2 Die sich radikalisierende Erfahrung des Entzugs metaphysischer Gewissheiten, über die schon der Realismus des 19. Jhs. reflektierte,3 bringt Konzepte der Sichtbarmachung des Realen hervor, die Beschreibung alltäglicher Dinge, die Schilderung von peripheren Lebensräumen und der Le-

1

Das Sonderheft 2005: Wirklichkeit! Wege in die Realität der Zeitschrift Merkur (Stuttgart 2005) reklamiert in Zeiten einer konstruktivistischen und semiotischen Überlast eine Rückkehr zum Wirklichen; Hans Ulrich Gumbrecht appellierte schon in seiner 2004 erschienenen Studie Diesseits der Hermeneutik an ein Bewusstsein für das ästhetische Erleben von Präsenz und die Unhintergehbarkeit von Momenten der intensiven Sinneserfahrung, die in Sprache nicht einzufangen seien. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. Dies wird in seinen weiteren Studien zu einer „Ontologie der Literatur“ in dem Sinne führen, als der „Text als Teil des Lebens seiner Gegenwart“ gesehen wird (Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S.30). Dem Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz wiederum ist zu entnehmen, dass das Reale der Moderne als ein paradoxes Narrativ zu beschreiben ist: Nähe (Erkennbarkeit ‚an sich‘) und Verfall der Nähe zu den Dingen (Entwirklichung) sind gleichermaßen an der Modellierung des Realen beteiligt. Vgl.

http://

www.uni-konstanz.de/reales/. 2

Bruno Falcetto: „Neorealismen in der Literatur“, in: Enrica Viganò (Hrsg.): Neorealismo: Die neue Fotografie in Italien 1932-1960, Winterthur 2007, S. 3850, hier: S. 42.

3

Vgl. den Beitrag von Vittoria Borsò in diesem Band.

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bensumstände ‚kleiner‘ Leute, Erzählformen des Dokumentarischen und Chronikalischen sowie die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes. Dabei geraten die Materialität des Wahrnehmungs- und Darstellungsmediums ebenso sehr in den Blick wie das formale Arrangement der inventarisierten Dinge, Schicksale und Existenzen. Die kognitive Seite eines solchen Realismus wäre dort zu veranschlagen, wo über die Konstruktionsbedingungen von Realität, über die bildgegebene, symbolische und zeichenhafte Beschaffenheit jeder Form der Wirklichkeitsmodellierung reflektiert wird. Der vorliegende Band mit Beiträgen aus verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen kontextualisiert den italienischen Neorealismus historisch und systematisch. Zwei Beiträge nehmen neusachliche Konzepte der europäischen Avantgarden um 1920 in den Blick, um Kontinuitäten und Strukturparallelen sichtbar zu machen, die sich in ästhetischen Entwürfen der Nachkriegszeit erneut zeigen. Beim Neorealismus italienischer Prägung handelt es sich um ein intermediales Phänomen – Fotografie, Film und Literatur stehen in einem produktiven Beziehungsgeflecht. In den Beiträgen, die sich mit theoretischen und filmästhetischen Positionen des Neorealismus sowie mit der Rezeption neorealistischer Ästhetiken in der deutschen Nachkriegsliteratur oder mit dessen historischer Nachwirkung auseinandersetzen, werden interkulturelle und intermediale Transferprozesse herausgestellt und die politisch-ethischen Implikationen dieser Ästhetiken konturiert. Der Band gibt am Ende aus US-amerikanistischer Perspektive einen Ausblick auf aktuelle Kriegsreportagen mit dokumentarischem Charakter, in denen die grundsätzliche Paradoxie zwischen dem Vermögen, unmittelbare Präsenz herzustellen, und der Unabdingbarkeit medialer Transformation zur Anschauung gelangt. Stefan Scherer (Karlsruhe) und Gustav Frank (München) fokussieren die „Synthetische Moderne“ mit ihren zwischen Wissenschaft, Mythos und Magie changierenden realistischen Konzepten, wie sie die neusachliche Literatur der 20er Jahre entwickelt. Als „Synthetische Moderne“ bezeichnen Scherer und Frank die Überlagerung von mimetischer Erschließung der modernen Befindlichkeiten mit der höheren Ganzheit des Vitalen, die den spezifisch nachavantgardistischen Realismus von 1925-1955, insbesondere die Romane Langgässers, aber auch Texte von Autoren wie Ernst Jünger, kennzeichnet. Überlagerungen zwischen Abstraktion und Konkretion, die als Synthesen gestaltet werden, seien das vorherrschende Verfahren, mit

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dem nach den Avantgarden Antworten auf die Frage nach dem spezifischen Charakter von Realitätswahrnehmung und nach der ästhetischen Qualität ihrer Darstellung gefunden würden. Der Beitrag von Ralph Poole (Salzburg) rekonstruiert eine transatlantische Konstellation, die diskursiv einen prägnanten Moment der wechselhaften und widersprüchlichen Wirkungsweisen der europäischen Avantgarden, mithin die Ausformung eines Magischen Realismus markiert: André Bretons Begegnung mit der Karibik bringt eine primitivistische Ausformung des Surrealismus hervor, die auf mythischen und magischen Bewusstseinsformen basiert und sich in den 30er und 40er Jahren in einem produktiven transatlantischen Austausch zwischen Paris und Martinique/Haiti niederschlägt. Christiane Solte-Gresser (Saarbrücken) und Klaus R. Scherpe (Berlin) setzen sich aus theoretischer Perspektive mit dem Abbildungsanspruch realistischer Schreibweisen auseinander. Die literarische Bezugnahme auf Lager- und Kriegserfahrungen kennzeichnet sich durch ein Konglomerat aus Fakt und Fiktion, ohne dass der Anspruch auf die Vermittlung historischer Wahrheit eingebüßt würde. Für Levi und Ginzburg sind etwa die literarisch vermittelten Kategorien Realität und Irrealität aus der Perspektive der Lagererfahrung grundsätzlich in ihrer Gültigkeit zu suspendieren, oder, im Falle Ginzburgs, die besondere Grausamkeit der Vergangenheit durch die Fiktion in ihrer irreal anmutenden Erfahrbarkeit vorzuführen. Klaus Scherpe entwickelt Überlegungen zu Beschreibungsverfahren in der Literatur der Moderne, die sich als Auseinandersetzung mit der komplexen Realität eines unbegreiflich Fremden und Realen lesen lassen. Dieser Komplexität trage ein differentes poetisches Verfahren Rechnung, das sich für eine Traditionslinie realistischen Schreibens vom 19. Jh. bis in die Gegenwart hinein geltend machen ließe, und bei dem die Suche nach dem Realen, die Darstellung der „Dinge selbst“, im Vordergrund stehe. Von der Strukturanalogie zwischen ästhetischen Verfahren und Techniken des literarischen und filmischen Neorealismus und der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur handeln die Beiträge von Lucia Perrone Capano (Salerno) und Claudia Öhlschläger/Friederike Römhild (Paderborn). Gezeigt wird, wie neorealistische Konzepte hier wie dort mit der Konstitution einer humanitären Ordnung befasst sind, welcher Bedeutung hierbei der Detailgenauigkeit und Fokussierung der Dingwelt zukommt, und wie aus der Indifferenz von Wirklichkeit und Wunsch, Traum und Leben Alternativräume für eine neue anthropologische Perspektive entstehen. Die Frage

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nach dem Symbolgehalt (neo)realistischer Konzepte tritt in diesen Beiträgen in den Vordergrund. Der filmästhetische Realismus mit seinem Plädoyer für eine ungeschönte Sicht der Alltagsrealität einerseits, und seiner symbolischen Ausrichtung andererseits, wird in den Beiträgen von Beate Ochsner (Konstanz), Thomas Meder (Mainz), Jörn Glasenapp (Bamberg) und Robert Pepperell (London) zum Gegenstand der Reflexion. Glasenapp arbeitet Bazins Theorie des neorealistischen Films und dessen implizite Einwände gegenüber der geschönten Scheinwelt des Hollywoodfilms heraus, Ochsner analysiert die bildtheoretischen Implikationen des italienischen Drehbuchautors Cesare Zavattini, um Strategien der Bildwerdung und deren Bewusstmachung in den Vordergrund zu stellen. Von der Bedeutung Robert Rossellinis für die phänomenologische Film-Erfahrung handelt der Beitrag von Thomas Meder (Mainz). Die Darstellung der Bildwerdung von Realität durch den Film und die bildende Kunst wird im Beitrag von Robert Pepperell durch einige kognitionspsychologische Überlegungen zur Mittelbarkeit der Wahrnehmung theoretisch weiterführend perspektiviert. Vittoria Borsò (Düsseldorf) und Laura Bazzicalupo (Salerno) nehmen die Ansprüche realistischer Konzepte und den Realismusbegriff in seiner grundsätzlichen Verfasstheit kritisch in den Blick. Borsò kann zeigen, dass es gerade die ontologische Unbestimmbarkeit des realistischen Bildes ist, die ästhetische und ethische Freiräume gewährt. Bazzicalupo bindet die Frage nach dem Realismus an biopolitische Strategien der Macht- und Lebensgestaltung, um den Nachweis zu führen, dass Ansprüche auf Objektivität, Neutralität und Natürlichkeit ihrerseits normiert sind. Die Beiträge von Federico Bertoni (Bologna) und Christoph Ribbat (Paderborn) nehmen Erzählungen von Kriegen des 20. und 21. Jhs. in den Blick, die einerseits – schon aufgrund ihres journalistischen Zuschnitts – einen expliziten Authentizitätsanspruch erheben und im Sinne der Tatsachenerzählung Unmittelbarkeit zum Geschehen suggerieren, andererseits aber mit kritischen Reflexionen, den Akt der Repräsentation betreffend, durchsetzt sind. Die Paderborner Tagung „Realismus nach den europäischen Avantgarden“ und der daraus hervorgehende Tagungsband hätten ohne die finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Universitäten Paderborn, Salerno und Düsseldorf nicht realisiert werden können. Wir danken allen Geldgebern an dieser Stelle herzlich.

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Wir danken schließlich Friederike Römhild, Simon Bunke, Christina Ritzau und Holger Wendt für ihre tatkräftige Mitarbeit bei der Konzeption, Vorbereitung sowie Organisation der Internationalen Tagung, Nadine Benz und Friederike Römhild außerdem für ihre Übersetzungen von Beiträgen aus dem Italienischen ins Deutsche. Unser besonderer Dank gebührt Leonie Schulte, die das druckfertige Manuskript erstellt hat. Claudia Öhlschläger (Paderborn) Lucia Perrone Capano (Salerno) Vittoria Borsò (Düsseldorf) September 2011

Komplexer Realismus als nachexpressionistische Konstellation Elisabeth Langgässers Romane (von 1936 und 1946)

S TEFAN S CHERER /G USTAV F RANK „[...] ich kann nur von der Sache her schreiben. Tödlich ernst. Tödlich genau.“

Elisabeth Langässers Romane machen der Germanistik Schwierigkeiten. Vorgeprägt von der unmittelbaren Rezeptionsgeschichte, kann diese sich nicht davon befreien, immer nur die christliche Orientierung zu sehen.1 Wegen dieser Aufmerksamkeit auf das Weltanschauliche geraten die Verfahrensweisen von Langgässers Texten und damit auch deren Auseinandersetzung mit der Formgeschichte der literarischen Moderne zu wenig in den

1

So noch Peter J. Brenner: „Nachkriegsliteratur“, in: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, Bern u. a. 1997, S. 33-57, hier: S. 35: „Langgässer entwirft ein Welt- und Geschichtsbild, das auf katholischen Prämissen beruht.“ Vorsichtiger ist Brenner damit dann bereits in seiner einbändigen Neuen deutschen Literaturgeschichte, Tübingen 2004, S. 270. Gegenwärtig zeichnet sich eine Neuorientierung hinsichtlich der Gruppe konfessioneller Autoren ab, der man Langgässer gerne zuschlägt: Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter (Hrsg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006, Freiburg, Berlin und Wien 2008.

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Blick. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man erkennt, wie formal avanciert und wie semantisch forciert ihre Romane im Vergleich mit der zeitgenössischen Produktion sind, ja wie extrem und geradezu exzessiv sie ausfallen. Um die spezifische Modernität dieser Verfahren und deren kulturelle Semantik aufzuzeigen, wollen wir den Horizont des Vergleichs zunächst über den Renouveau catholique hinaus ausweiten und Langgässers Texturen mit Hauptthemen der Konferenz wie dem Neorealismo und der Rezeption der amerikanischen Moderne seit Faulkner und Hemingway verbinden.

V ON

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N ATUR “

Dies soll in einem ersten Schritt durch einen Umweg über Chicago geschehen, wo in der Sammlung von SAIC, der School of the Art Institute, Excavation hängt. Mit diesem bekannten Gemälde von 1950 konnte Willem de Kooning auf der 25. Biennale von Venedig seinen internationalen Durchbruch feiern.2 De Koonings Bild interessiert uns hier vornehmlich als Repräsentant einer nach-expressionistischen Konstellation. Diese Konstellation, die Mitte der 1920er Jahre einsetzt, stellte drei Jahrzehnte lang einen Resonanzraum für Kunst und Literatur über Deutschland und Europa hinaus bereit. In der Gestaltungsweise wie in der Semantik sind auch Langgässers Romane eingebunden in diese Formation nachexpressionistischer Kunst-Konzepte, die durch Franz Rohs Buch Nach-Expressionismus – Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei von 1925 auch diskursiv begründet, seitdem aber in ihrer Komplexität und Reichweite längst nicht erschlossen wurde. Gerade vor diesem Hintergrund können Langgässers Romane nicht länger nur im Kontext eines erneuerten KulturKatholizismus nach 1945 gesehen werden. 3 Indem wir an de Koonings

2

Vgl. zur Geschichte dieses kulturellen Transfers Serge Guilbaut: How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, translated by Arthur Goldhammer, Chicago and London 1983.

3

Auch wenn dieser natürlich nicht zu unterschlagen ist: So hatte Langgässer Kontakte zu Walter Dirks im katholischen ‚Frankfurter Kreis‘ seit Mitte der 1920er Jahre; vgl. Sonja Hilzinger: Elisabeth Langgässer. Eine Biografie, Berlin 2009, S. 79-81. Dirks wiederum gehörte neben Eugen Kogon zu den Gründern der Frankfurter Hefte (seit April 1946), deren katholisches Engagement eher kir-

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großformatigem Gemälde die Überlagerung von Gegensätzlichem hervorheben und diese als eine Synthese von Abstraktion und figurativer Expression deuten, wollen wir auf kulturelle Gemeinsamkeiten aufmerksam machen, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg die angedeuteten Austauschprozesse begünstigen. Ohne dabei im Zuständigkeitsbereich der Kunstgeschichte zu dilettieren, wollen wir gerade auf diese Überlagerung hinweisen, die eine Gemeinsamkeit der nachexpressionistischen Konstellation stiftet.4 Der grundlegende Unterschied zur Abstraktion eines Kandinsky oder Klee um 1910 besteht nämlich darin, dass sich de Kooning nicht für die Grundlagen der Malerei interessiert, weil es ihm um Formprinzipien des Gegenständlichen geht. De Koonings Abstraktion studiert also nicht elementare geometrische Formen oder den Ausdruckswert der Farbe. Sie interessiert sich folglich weniger für eine Metaphysik der Kunst als solcher, sondern vielmehr für eine gemalte Ontologie, die Gesetzmäßigkeiten des Lebens ausweist bzw. diese in ihrer Darstellung aufweist. Systemtheore-

chendistanziert ausfiel und deren Gesellschaftsvorstellung sozialistisch geprägt war. Vor allem Dirks hat 1950 in den Frankfurter Heften [2 (1950), S. 113-115] aus dieser linkskatholischen Perspektive die Rede von den 1950er Jahren als Jahrzehnt der Restauration so wirkungsmächtig initiiert, dass sie zum Stigma der Ära Adenauer wurde. Seit den 1990er Jahren mehren sich die Stimmen, die das Spannungsverhältnis von Modernisierung und Restauration in einer zweigeteilten Dekade erkennen; vgl. zur Rolle von Dirks und Kogon bei dieser Debatte Stefan Scherer: „Literarische Modernisierung in der Restauration. Martin Walsers Ehen in Philippsburg“, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.): Zwischen Kontinuität und Rekonstruktion. Kulturtransfer zwischen Deutschland und Italien nach 1945, Tübingen 1998, S. 115-134, hier: S. 117; in literaturhistorischer Perspektive Helmuth Kiesel: „Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung“, in: Walter Erhart, Dirk Niefanger (Hrsg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989, Tübingen 1997, S. 13-45. 4

Zur Forschungsgeschichte vgl. Petra Joswig: Abstrakter Expressionismus: ‚Nature

into

Action‘.

Dissertation:

Universität

Heidelberg

2002

(http://

archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2003/22/pdf/natureintoaction.pdf; zuletzt eingesehen 2.6.2011).

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tisch formuliert, steht seine Abstraktion also mehr im Dienst der Umweltreferenz als der Selbstreferenz. In diesem Rahmen überwiegt dabei wiederum das Interesse an den Gesetzmäßigkeiten dieser Umwelt gegenüber der Aufmerksamkeit auf den konkreten Gegenstand – oder genauer formuliert auf die Spezifika der konkretisierten Gegenständlichkeit. In de Koonings Gemälde erzeugt die Synthese von biomorphen Umrisszeichnungen und der Entleerung des Malgrundes durch vorherrschende schwarze Umrisse und helle Flächen eine extreme Spannung: Stehen die biomorphen Formen einerseits einer figurativen Deutung offen, indem sie die Suche nach Spuren des Humanen wie Auge, Gebiss, Kopf und Torso anregen, so unterbindet andererseits die Dynamik aus der kleinteiligen Überlagerung abgegrenzter Flächen jegliche Konkretion von Raum, Zeit und Ereignis. Die Eigenständigkeit weniger Farbakzente, die deutungsoffen bio- und anthropomorphe Zuschreibungen zulassen (sie können für Körpersäfte wie für Affekte stehen), hinterlässt den Eindruck einer vitalen Dynamik. So wird zwar noch immer die Natur dargestellt, sie wirkt aber als unkontrollierbare Vielfalt, vielgestaltig, überwuchernd, überwältigend, ja verschlingend und zerreißend, denn sie zeigt „die wehe Lust, zu leben und lebend zerfleischt zu werden“5: „With de Kooning, the procedure is continual change, and the immediacy of the change.“ 6 Die Abstraktion vom Einzelnen und die Angleichung an biomorphe Formen begründen ein Realitätskonzept, das von einem unspezifisch Vitalen jenseits aller kulturellen Unterscheidungen her gedacht ist – seien es Unterschiede der Gattung, seien es Differenzen der Moral. Die Abstraktion geht somit nicht – wie im Kubismus – auf elementare geometrische Formen zurück, sie studiert auch nicht isolierte Formen oder den Ausdruckswert der Farbe wie bei Kandinsky. Vielmehr stellt sich die Abstraktion in den Dienst einer Ontologie des Lebens, die gleichgültig ist gegenüber den Erscheinungsweisen dieses Lebens. Dieses Vitale ist darüber hinaus nicht als Gegenprogramm zur Technik wie noch in den älteren, defensiveren Reform- und ‚Los-von-Berlin‘Bewegungen der 1920er Jahre gedacht, sondern als ein Lebendiges, das die moderne Zivilisation wieder überwuchern und im Grunde genommen sogar aktiv re-integrieren will. Literarische Belege reichen von Horst Langes ro-

5

Elisabeth Langgässer: Der Gang durch das Ried, Leipzig 1936, S. 134.

6

Selden Rodman: Conversations with Artists, New York 1961, S. 108.

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stenden Industriebrachen in der Großstadt (Schwarze Weide, 1937) über die „unberühmten Orte“7 der Naturlyriker bis hin zu Günter Eichs Hörspiel Die Stunde des Huflattichs (BR/NDR 1958). Malerische Beispiele finden sich in vielen Werken des ‚Expressiven Realismus‘ der sog. Verschollenen Generation8 und reichen dabei in den ‚Abstrakten Expressionismus‘ der amerikanischen 1940er Jahre hinein. Die Abstraktion stellt sich auch dort in den Dienst einer Ontologie des Lebens, die sich zugleich gleichgültig zeigt gegenüber den konkreten Erscheinungsweisen dieses Lebens. De Koonings Wahl des Großformats demonstriert nämlich auch, wie übermächtig diese Ontologie gegenüber dem Detail ist, sodass es dem Betrachter auf diese Weise seine Irrelevanz mitteilt. Wie in Langgässers Roman Das unauslöschliche Siegel überwältigen auch hier Form und Format gleichermaßen. Geht man von diesem Grundgedanken aus, so beanspruchen de Koonings Bild wie Langgässers Roman eher epistemische als poietische Geltung: Sie sind eher Welt-Bild bzw. Bild von der Welt denn Artefakt, ohne damit jedoch ihre Gemachtheit verschleiern zu wollen. Derartige Überlagerungen zwischen Abstraktion und Konkretion, die als Synthesen gestaltet werden, stellen nun das vorherrschende Verfahren dar, mit dem nach den Avantgarden9 Antworten auf die Frage nach dem spezifischen Charakter von Realitätswahrnehmung bzw. Wirklichkeitsbe-

7

Vgl. mit Bezug auf das gleichnamige Gedicht von Wilhelm Lehmann Burkhard Schäfer: Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur, Frankfurt a. M. u. a. 2001.

8

Vgl. Rainer Zimmermann: Expressiver Realismus. Malerei der verschollenen Generation (überarbeitete Neuausgabe von Die Kunst der verschollenen Generation. Deutsche Malerei des expressiven Realismus von 1925-1975, Düsseldorf 1980), München 1994; vgl. auch Gustav Frank: „Abseits der Republik? Nachexpressionistische Komplexität der Künste“, in: Godela Weiss-Sussex (Hrsg.): Beyond Glitter and Doom: New Perspectives of the Weimar Republic. Proceedings of the international conference at the Institute of Germanic & Romance Studies, Oxford [i. Dr.].

9

In den deutschen Debatten der 20er Jahre fungiert ‚Expressionismus‘ vor allem im polemischen Gebrauch als Oberbegriff für Effekte der Avantgarden, die im einzelnen nicht spezifiziert werden, soweit sie die Anthropologie des 19. Jhs. dekonstruieren: vom Futurismus über den Kubismus bis hin zum Expressionismus im engeren Sinn und zum Dadaismus.

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wältigung und nach der ästhetischen Qualität ihrer Darstellung gefunden werden. Seit Mitte der 1920er Jahre wurden mit Begriffen wie NachExpressionismus,10 Neue Sachlichkeit,11 Moderne Klassik,12 ÜberRealismus13 oder Magischer Realismus14 die Verbindungen von teils expressionistischen, teils avantgardistischen und teils der Phantastik zugeordneten Darstellungsformen mit einer neuen Gegenständlichkeit diskutiert. In der deutschen Literatur deuten sich diese komplexen Überlagerungen erstmals in Wilhelm Lehmanns Roman Der Bilderstürmer 1917 an; sie verdichten sich in Oskar Loerkes Gedichtsammlung Der längste Tage von 1926, die den Zyklus Der magische Weg enthält. Lehmann und Loerke, der als einflussreicher Lektor bei S. Fischer diese Entwicklung auch verlagspolitisch begünstigte, stehen dann in den 1930er Jahren für die neue Naturlyrik ein, zu der auch bereits Günter Eich als dann maßgebender Lyriker nach 1945 gehört. Gerade Lehmann wurde von Langgässers elitärem Kunstanspruch, der sonst kaum einen Autor ihrer Zeit gelten ließ, uneingeschränkt bewundert.15 Diese hier nur anzudeutenden Interferenzen, die bei Langgässer zur Verbindung von „Realitätsbewußtsein“, „Existenzbewußtsein“ und künstlerischer Innovation führen16, reichen über die 1930er Jahre hinweg und do-

10 Vgl. Wilhelm Haefs: „Nachexpressionismus. Zur literarischen Situation um 1920“, in: Bernhard Gajek u. a. (Hrsg.): Georg Britting (1891-1964). Vorträge des Regensburger Kolloquiums 1991, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 74-98. 11 Vgl. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994. 12 Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren, Göttingen 2009 [erweit. Neuauflage der Ausgabe München 1981], S. 393. 13 Vgl. Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006. 14 Vgl. Michael Scheffel: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung, Tübingen 1990. 15 Dazu im einzelnen Hilzinger: Langgässer, S. 247-249, 271-274. 16 Dies auch als Polemik gegen die bloße Artistik Thomas Manns: Langgässer denkt von den Inhalten und Gegenständen her und nicht von der Form, und sie tut dies schon gar nicht ironisch, sodass allenfalls noch Hermann Kasack akzeptiert wird; zum „Realitätsbewußtsein“ als „Existenzbewußtsein“ vgl. die Stellen

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minieren bis in die Mitte der 1950er Jahre. Die erkennbare Gegenständlichkeit erweist sich dabei als eine höchst voraussetzungsreiche, vor allem aber hochgradig artifizielle Formation, weil sie aus der Kombination von Verfahrenselementen zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit gewonnen wird. Aus genau diesen vielgestaltigen Überlagerungen von Darstellungsvarianten resultiert, so unsere These, der spezifische „Realismus nach den europäischen Avantgarden“. Weil dieser Realismus durch die Formgeschichte der Künste seit der Frühen Moderne hindurchgegangen ist, also die Darstellungsformen der historischen Avantgarden in sich aufgenommen hat, stellt seine ästhetische Erschließung der Wirklichkeit neben einem gegenwartsbezogenen ‚Realitätsbewusstsein‘ die historischen Formoptionen der Moderne selbst mit dar. So verwundert schließlich auch nicht de Koonings Eingeständnis, durch Giuseppe De Santis’ Riso amaro (1949) inspiriert worden zu sein, denn „[s]ymbols of metamorphosis and instability dominate each phase of his work – woman and the sea are the most constant. For him, the female and the seasurface are at once concrete realities, and metaphors for the ‚tremblings of nature and the ‚I which he long ago discerned as the leitmotif of Western Art since the Renaissance.“17 Zugleich belegt dieser Befund, wie weit das Synthesevermögen unter der Prämisse der Ontologie reicht: Es erlaubt der Hochkunst, sich von der populären Kultur, genauer vom kommerziellen Kino mit seinen Melodramen inspirieren zu lassen, noch genauer sogar von einem dezidiert nicht-abstrakten, dokumentarisch und sozialkritisch angelegten Filmstil. Dieser erschöpft sich jedoch nicht in einer entsprechend realistischen Narration, denn er zeichnet sich vielmehr durch eine spezifische Bildfindung aus, deren erstaunliche Abstraktion auf der Basis der erläuterten Ontologie dem geschulten Auge des Malers auffällt. Umgekehrt wäre damit auch zu überprüfen, inwieweit die visuellen Mittel

bei Carsten Dutt: „Elisabeth Langgässers Modernitätsanspruch“, in: Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter (Hrsg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006, Freiburg, Berlin und Wien 2008, S. 475-488, hier: S. 480f. 17 Harold Rosenberg: Willem de Kooning, New York 1974, S. 13.

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der Gemälde auf Affekte der Lust und Angst, also auf Effekte wie in der melodramatischen Konstellation abzielen.18 Verbreitete Standbilder des Films wie das Kollektiv der Frauen, die im Wasser stehen und Reis pflanzen,19 erlauben es, de Koonings Inspiration nachzuvollziehen: Das Kollektiv der Frauen vermischt sich mit den amorphen Reispflanzen in ihren Händen; beides setzt sich nach oben im Baumbestand des Hintergrundes fort. Zugleich verdoppelt sich das Arrangement nach unten in den Spiegelbildern auf der Wasseroberfläche. Das Wahrnehmungsexerzitium des Bildlichen bestätigt sich auch auf der Ebene der kulturellen Semantiken: An die sichtbar gemachte Verähnlichung des Humanen mit der gesamten vitalen Natur sind sämtliche kulturelle Traditionen anschließbar, die Frauen als Mütter und Gebärerinnen, als erdgebundene Ernährerinnen und nicht zuletzt in ihrer wassergebundenen Sexualität verkörpern. Bemerkbar ist damit zum einen ein höchst subjektiver Gestus, mit dem das Vitale gesetzt und verkündigt wird, zum anderen wie bei de Kooning ein so hoher Grad an Abstraktion, dass praktisch alle Erscheinungen des Lebens – hoch und niedrig, heilig und pervers, idyllisch und brutal – nicht eigentlich begrifflich subsumiert, sondern unbegrenzt und dabei vor allem höchst sinnlich konkret zur Darstellung gebracht werden. Die Ängste in der Moderne vor der Fragmentierung des Humanen ins bloß Organische und vor der Überwältigung durch die Dynamik der amorphen Masse in den Städten werden damit nicht ausgeblendet, sie bedingen vielmehr die diffuse und zum Teil schwer durchschaubare Spannung der Werke. Zugleich erscheint es aber auch so, dass diese Gefahren im subjektiven Akt des Kunstwerks noch einmal gebannt werden können. Abstraktion wie Expression unterstellen sich demnach einer mimetischen Bewältigung der Wirklichkeit, lassen dabei aber zugleich niemals Zweifel am Kunstcharakter dieser Mimesis, an der Gemachtheit wie an der Beherrschung der Mittel aufkommen. Die Ontologie des Vitalen, die an den beiden Beispielen unmittelbar anschaulich wird, hat Elisabeth Langgässer in ihrem Roman Das unauslösch-

18 Vgl. Thomas B. Hess: Willem de Kooning, [Katalog: The Museum of Modern Art], New York 1968, S. 75. 19 Verfügbar etwa unter: http://bilder.filmstarts.de/medias/nmedia/18/36/19/84/ 18462163.jpg (zuletzt eingesehen 2.6.2011)

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liche Siegel (1946) auf die Leitformel „Natur der Natur“ 20 gebracht. Diese ‚Natur der Natur‘ umschließt krude Körperlichkeit in allen Aspekten des Kreatürlichen bis hin zum Ekelhaften, das bei Langgässer in einer todessüchtigen, oft prachtvoll ausgemalten Verwesungsmetaphorik exzelliert. Diese ‚Natur der Natur‘ umschließt gleichermaßen aber auch die Raffinements kultureller Verfeinerung zwischen teils rokokohaftem, teils dämonischem Hedonismus, so etwa das ephemere Feuerwerk, den kulinarischen Genuss und Varianten sexueller Wollust (auch die lesbische Liebe) bis hin zu den künstlichen Paradiesen Baudelaires.21 Alles, was die sinnlichen Genüsse, was menschliche Pathologien und die Verfallenheit an Bilder des Verfalls betrifft, hat in Langgässers obsessivem Roman im Kampf zwischen Gott und Satan Platz. Gerade deshalb stellt sich die Frage, wie dies mit dem vordergründig zelebrierten Katholizismus und seiner Theologie zu vereinen ist, zumal sich die Darstellung ständig mit mythischen Figurationen bis in die ursprünglichste Sphäre chtonischer Elemente vermischt. Um dies zu verstehen, kann man auf die zeitgenössische Verbreitung dieses re-mythisierenden Synkretismus hinweisen, der die Zeit nach den Avantgarden kennzeichnet. Will man neben Langgässer als Vertreterin einer ‚mittleren Generation‘ (der um 1900 Geborenen wie Koeppen, Kasack, Günter Eich oder Hans Erich Nossack und Ernst Kreuder) auch einen Vertreter der Frühen Moderne auf Gemeinsamkeiten mit der jüngeren Generation befragen, so ist an Gerhart Hauptmanns vorklassizistische AtridenTetralogie (1941-1948) zu erinnern. Re-Mythisierung vollzieht dieser Dramenzyklus als Re-Archaisierung, die auf eine ursprünglich-blutige Stufe vor der klassizistisch geläuterten und ‚verteufelt humanen‘ Iphigenie Goethes zurückführt.22 (Dieser rekurriert folgerichtig auf den ‚psychologisierenden‘, den Mythos also bereits ironisch brechenden Euripides.) Das Dunkle, Blutige und düster Archaische, das Grausame und Hasserfüllte ist bei Hauptmann als eine indirekte Kritik der Barbarei im Nationalsozialismus zu verstehen, die allerdings wie bei Benn oder Langgässer von allgemeinen Qualitäten der Geschichte als des Immergleichen ausgeht. Der Be-

20 Elisabeth Langgässer: Das unauslöschliche Siegel, Hamburg 1946, S. 496, 529, 571. 21 Ebd., S. 480. 22 Vgl. Christian Horn: Remythisierung und Entmythisierung. Deutschsprachige Antikendramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2008.

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zug auf das Schicksal ist auch bei Hauptmann daher nicht nur ein Rekurs auf die Antike, sondern er zielt auf die zeitgenössische Opfer- und Schicksalsideologie (im Sinne des NS), wenn nicht Götter, sondern Menschen als Handelnde gezeigt werden. Schicksal und Opfer werden damit als menschliche Deutungskategorien markiert, sodass man es nicht mit einer Flucht in die mythische Vergangenheit zu tun hat, sondern mit einer pessimistischen Reflexion auf die Natur des Menschen.. Seit 1940 spitzen sich offenbar, so unsere Beobachtung, die aus Kämpfen um den Expressionismus erwachsenden Strömungen zwischen Verismus, Magie und Mythos auf diese umfassende Ontologie des Vitalen zu – durchaus mit pessimistischem Blick auf die realgeschichtliche Entwicklung, von der man sich mehr bestätigt als angeleitet fühlt, wie überhaupt die historischen Ereignisse und Einschnitte (1933, 1945) als Darstellungsgegenstände in demselben und damit eben vorgängigen Darstellungsmodus verarbeitet werden. Diese Ontologie vertraut entsprechend einer Ordnung des Lebens hinter allem Lebendigen, das der Zeitlichkeit verfällt (und insofern auch nur bedingt als Zeitkritik etwa der konkreten Inhumanität im Dritten Reich funktioniert). Sie wird so zur Lizenz dafür, Erscheinungsformen von Mensch und Gesellschaft in der Geschichte umfassend mimetisch darzustellen. Diese Mimesis kann veristisch bis in höchst problematische Grenzgebiete vorstoßen: seien es psychopathologische, seien es intrikate soziale Phänomene. So öffnet sich schon Langgässers erster Roman Der Gang durch das Ried (1936) den modernen Tatsachen, etwa der konsumorientierten Massenkultur und der Weltwirtschaft, und zwar affin zu den Reportagetechniken, für die sich die Linken und Neusachlichen seit der Mitte der 1920er Jahre interessieren. Darüber hinaus entgeht Langgässer aber auch nicht, was diese eben noch nicht erfassen, z. B. die Industrialisierung auch der Landwirtschaft und des Landes: „Dumping! Dumping! hinaus auf die Märkte Bauer!“23 Diese Industrialisierung der Landwirtschaft bekommen in den 1930er Jahren bemerkenswerterweise eher Texte konservativer Autoren in den Blick: Genannt sei Rudolf Borchardts frühe Erzählung Der unwürdige Liebhaber von 1929, damit noch vor Rudolf Brunngrabers Karl und das 20. Jahrhundert (1932), v. a. dann aber Borchardts

23 Elisabeth Langgässer: Der Gang durch das Ried, Leipzig 1936, S. 99.

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einziger Roman Vereinigung durch den Feind hindurch von 1937.24 Auch Langgässers Texte setzen sich den antihumanen Erschütterungen der ersten Hälfte des 20. Jhs. aus, ohne damit den Glauben preiszugeben, dass allen Erfahrungen Sinn innewohnt. Auch nach der Erfahrung von Shoa und Weltkrieg insistiert Langgässers Roman Das unauslöschliche Siegel auf dieser Ordnung hinter dem Kreatürlichen. Damit steht sie nicht allein, denn solche Zuversicht prägt eine ganze Reihe von Autoren von den Naturlyrikern des Kolonne-Kreises über Oskar Loerke, Friedo Lampe, Ernst Jünger, Horst Lange bis hin zu Hermann Kasack und Ernst Kreuder, ja im Kern sogar noch Wolfgang Koeppens berühmte Nachkriegstrilogie der Romane Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954). Wie dieses Postulat einer Ontologie konkret gefüllt wird – sei es, dass es unspezifisch im Vagen gehalten wird, sei es politisch, sei es christlich oder eben katholisch –, ist dann gegenüber der Ordnungsbehauptung selbst sekundär. Genauer besehen, ist die Auffüllung bei Langgässer, die insbesondere die späten Romane Das unauslöschliche Siegel und Märkische Argonautenfahrt (1950) aufbieten, weder katholisch noch überhaupt christlich, sondern synthetisch. Das Christliche bzw. Katholische sind demnach Elemente einer umfassenderen, formalen und semantischen Synthese, die auf ideologischer Ebene am besten Synkretismus heißen sollte. 25 Wie diese

24 Vgl. Gustav Frank: „‚…und das moderne Epos des Lebens schreiben‘: Wirtschaftswissen bei Sternheim, Fallada, Borchardt und Fleißer“, in: Christine Maillard und Michael Titzmann (Hrsg.): Literatur und Wissen(schaften) 18901935, Stuttgart und Weimar 2002, S. 279-330; Stefan Scherer: „Vereinigung durch die Moderne hindurch. Borchardts ‚zeitgenössische‘ Prosa der 30er Jahre im Roman Vereinigung durch den Feind hindurch“, in: Rudolf Borchardt. Text+Kritik Sonderband 2007, S. 209-218; Gustav Frank und Stefan Scherer: „‚Lebenswirklichkeit‘ im ‚gespaltenen Bewußtsein‘. Hans Fallada und die Erzählliteratur der späteren 30er Jahre“, in: Lutz Hagestedt und Patricia FritschLange (Hrsg.): Hans Fallada und das Literatursystem der Moderne, Berlin und New York 2011 [i. Dr.]. 25 Vgl. zu Märkische Argonautenfahrt Konstanze Fliedl: Zeitroman und Heilsgeschichte. Elisabeth Langgässers ‚Märkische Argonautenfahrt, Wien 1986; zudem Ute Wölfel: „Berlin – Bilder keiner Großstadt. Zur Darstellung und Funktion der Stadt in der Nachkriegsprosa Elisabeth Langgässers“, in: Hania Sie-

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Elemente kombiniert, ja kontaminiert werden, kann nur als heterodox bezeichnet werden. Wenn man die Textanteile im Einzelnen sondiert, so stellt man fest, dass Langgässers späte Romane ein sehr viel größeres Interesse für die Reiche des Todes und der Dämonen als für die des Heils aufbieten. Schon das Zitat aus Epheser 4, 8-9, das der Märkischen Argonautenfahrt als Motto voransteht, mag die Akzentverschiebung von einer unschuldigen orthodoxen Quelle in eine heterodoxe Christologie anzeigen und so das durchgängige Verfahren dieser Romane repräsentieren: „… aufgefahren in die Höhe, hat er gefangen geführt die Gefangenschaft und Gaben den Menschen ausgeteilt. Daß er aber aufgefahren, was ist es anders, als daß er auch zuerst hinabgestiegen in die Regionen unter der Erde?“26 Legt man die forcierte Satanologie von Langgässers vorhergehendem Roman Das unauslöschliche Siegel zugrunde, so indiziert das Ausschneiden gerade dieser Stelle über die Gleichsetzung von Auferstehung und Tod hinaus die Pluralisierung der unterirdischen Sphären. So erscheinen zumindest quantitativ die dargestellten Welten der Romane doch von einer eher ‚unfrohen‘ Botschaft als von der Zuversicht auf spätere Erlösung getragen, weil in der intrikaten Heilslogik die Welt offenbar vollständig vom Bösen beherrscht sein muss. In dieser Perspektive kann im letzten Roman Märkische Argonautenfahrt sogar die Massenvernichtung der Juden als reinigendes Fegefeuer gedeutet werden.27 So ist die Berufung auf christlich-katholische Bestände bei Langgässer aufgrund dieser heterodoxen Inanspruchnahme elementarer Mythen nie eindeutig. Die ‚supranaturalistische‘ Fundierung steht bei ihr gleichberechtigt neben einer magisch-realistischen Auffüllung der behaupteten Ordnungsstruktur wie bei Friedo Lampe oder Horst Lange, neben einer surrealistischen Füllung wie bei Ernst Jünger oder gar einer marxistischen wie bei Anna Seghers, zu der ihre Darstellungen viele Gemeinsamkeiten nicht nur im Blick auf die Bindung an die oberrheinische Landschaft um Worms und

benpfeiffer und Ute Wölfel (Hrsg.): Krieg und Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur (1940-1965), Berlin 2004, S. 123-148. 26 Elisabeth Langgässer: Märkische Argonautenfahrt. Roman, Hamburg 1959, S. 5. 27 Vgl. Hilzinger: Langgässer, S. 446.

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Mainz aufweisen.28 Die explizite Rekatholisierung fällt bei Langgässer zudem erst im Spätwerk ins Gewicht. In ihrem noch stärker magischrealistischen Roman Der Gang durch das Ried (1936) wird das Katholische längst nicht so stark forciert – und zwar auch aus markstrategischen Gründen. Wir deuten diese ideologische Zuspitzung um 1950 als ein Zeichen der Erschöpfung des Synthese-Modells, das im Schutze einer Ontologie des Vitalen bei den um 1900 geborenen Autoren gedeihen sollte. Volker Dörr hat mit Blick auf das Segment der unmittelbaren Nachkriegsliteratur zwischen 1945 und 1952 minutiös herausgearbeitet, dass in diesem Moment die „mythomimetische“ Variante des Synthese-Modells, die Nachahmung mythischer Narrative im Dienste nach-mythologischer Sinnstiftung dominant wird. Zu wenig bekommt er damit aber die Kontinuitäten in den Blick, die bis auf den Beginn der nachexpressionistischen Konstellation um 1925 zurückgehen.29 Ab Mitte der 1950er Jahre wird dann das kulturpessimistische Lamento über den Verlust humanistischer Werte von einer neuen AutorenGeneration abgelehnt, die sich einer analytischen Gegenwärtigkeit ohne höhere Sinnstiftung verschreibt: „Die Kulturindustrie gehört zu unserer Wirklichkeit, statt an ihr gebildet zu nörgeln, sollte man ihre Gesetzmäßig-

28 Auf Parallelen zwischen Langgässer und Anna Seghers verweist Hilzinger: Langgässer, S. 344-348. 29 Vgl. Volker Dörr: Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952), Berlin 2004. Dörr greift zwar bei der Konstitution seiner Geschichtsbilder auf Quellen seit den 1920er Jahren zurück, hält für die Literatur im engeren Sinn den Einschnitt 1945 jedoch für evident. Aufgrund dieser Engführung wird die ideologische Funktion der mythomimetischen Textelemente nicht ganz einsichtig – sie scheint uns dieselbe wie die der religiös-theologischen bei Langgässer –, während sie im Kontext des Magischen Realismus seit den 1920er Jahren als spezielle Variante innerhalb magisch-realistischer Texturen erkennbar werden. Deren Funktion als Indikatoren für eine Ordnung hinter der phänomenalen Welt im Zusammenhang des Rappel à l’ordre (Jean Cocteau, 1926) ist dagegen offensichtlich.

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keiten erforschen“, wird Enzensberger 1956 in den Akzenten schreiben.30 Damit zerfällt die Ontologie des Vitalen zugunsten einer nicht-normativen literarischen Deskription konkreter Zeitverhältnisse. Die neue Phase der Literatur- und Kulturgeschichte wird insofern nicht abgelöst von einer ‚Postmoderne‘, sondern von einer Moderne nach der Synthese, also von einer Moderne, die ihre künstlerische und theoretische Aufmerksamkeit vom Ethikangebot und von der Bestätigung eines phänomenologisch geglaubten, vorab unterstellten Sinns auf die Analyse seiner Erzeugung durch Strukturen und Verfahren umstellt. Michel Foucault (Jahrgang 1926) hat diese Umstellung einer ganzen Generation von Autoren im Feld der Literatur und Kulturtheorie auf die Zeit zwischen 1950 und 1955 datiert: „Nun, dann würde ich sagen, daß ich um 1950 so wie alle aus meiner Generation und angesichts des großen Vorbildes unserer neuen Lehrer sowie unter ihrem Einfluß mit dem Problem der Bedeutung beschäftigt waren. Da sind wir in die Schule der Phänomenologie gegangen, da haben wir uns an der Analyse der immanenten Bedeutungen der Wahrnehmung des Gelebten, der impliziten Bedeutungen der Wahrnehmungen und der Geschichte geschult. Außerdem befaßte ich mich mit der Beziehung zwischen der individuellen Existenz und der Gesamtheit der Strukturen und historischen Bedingungen, in denen eine solche individuelle Existenz aufscheint; ich befaßte mich mit dem Problem der Beziehung zwischen Sinn und Geschichte und mit den Beziehungen zwischen der phänomenologischen und der marxistischen Methode. Und ich glaube, daß sich so wie überhaupt in meiner Generation auch in mir zwischen 1950 und 1955 eine Art Konversion vollzogen hat, die zunächst nichts zu bedeuten schien, die in Wirklichkeit aber dann doch zu einer tief-

30 Hans Magnus Enzensberger: „Literatur und Linse und Beweis dessen, daß ihre glückhafte Kopulation derzeit unmöglich“, in: Akzente, 3 (1956), S. 207-213, hier: S. 213. Die Pop Art sollte dann gegen de Kooning zu Felde ziehen: Roy Liechtenstein wird die malerischen Gesten de Koonings in den BrushstrokeBildern persiflieren, während Robert Rauschenberg schon 1953 versuchte, sich von der Dominanz des Abstrakten Expressionismus durch das Ausradieren einer Zeichnung von de Kooning zu befreien: Erased de Kooning Drawing (1953) (verfügbar etwa unter. San Francisco Museum of Modern Art URL. http://www.sfmoma.org/explore/collection/artwork/25846#; zuletzt eingesehen 2.6.2011).

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greifenden Abhebung geführt hat: Was uns auffiel, waren die formalen Bedingungen, die dazu führen, daß so etwas wie Bedeutung vorkommt. Anders gesagt, wir haben die Husserlsche Idee überprüft, derzufolge wir überall schon von Sinn umgeben und erfaßt sind, bevor wir beginnen, die Augen zu öffnen und das Wort zu ergreifen. Für die Angehörigen meiner Generation erscheint der Sinn nicht von selbst, er ist nicht ‚immer schon da‘, oder vielmehr, er ist schon da, aber nur wenn gewisse formale Bedingungen gegeben sind. Und von 1955 an haben wir uns hauptsächlich der Analyse der formalen Bedingungen des Erscheinens von Sinn gewidmet.“31

Das von der Literaturgeschichte ausgemachte Zusammenspiel von „Beschreiben“ und „Transzendieren“ in der Nachkriegsliteratur32 wird hierdurch aufgebrochen und die gewonnene Beschreibungsgenauigkeit, ohne vorgehaltenen Werthorizont wie noch in Koeppens ambitioniertem Roman Das Treibhaus, neugierig auf die aktuellen Sozialverhältnisse angewandt.

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„Ihr Roman Der Gang durch das Ried […] ist ein Sturzbach von Impressionen, der oftmals so wild dahinsprudelt, daß die Klarheit der Darstellung schwer darunter leidet. […] Was diese merkwürdige Leistung auszeichnet, ist die unbändige Vitalität, ja Brutalität der Impressionen und Reflexionen, mit der die Handlung schwer bis zum Absinken befrachtet ist; alsdann aber die durchschlagende dichterische Kraft, die in dieser Fracht steckt. […] Die Dichterin ist mit einer Schonungslosigkeit begabt, die an Bernanos oder Faulkner erinnert und die ihr eine kolossale Reichweite einräumt – fast könnte man sie barbarisch nennen, wäre sie nicht so eminent gefeilt und so prächtig geschmückt.“

31 [Michel Foucault] Paolo Caruso: „Gespräch mit Michel Foucault“, in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1987 [1München 1974], S. 7-27, hier: S. 7f. [Herv. GF/SS]; vgl. dazu auch Heinz Bude: „Erbschaft des schuldigen Denkens. Jürgen Habermas und Jacques Derrida als Denker der Nachkriegszeit“, in: Merkur, 59 (2005), H. 3 März, S. 195-206. 32 Wilfried Barner (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 35-39.

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So beurteilt und kontextualisiert Martin Beheim-Schwarzbachs Rezension in der christlichen Zeitschrift Eckart sehr präzise Langgässers Ried-Roman.33 Was erzählt dieser schonungslose, ja ‚barbarische‘ Roman? Der Gang durch das Ried spielt im Kontext der Besetzung des Rheingebiets durch die Franzosen, die bis zum 30. Juni 1930 andauerte. Sein Protagonist findet sich kurz nach Aufhebung der Besatzung, entlassen aus der nahen Irrenanstalt, mit fremdem Pass in einem ehemaligen Lager der Franzosen wieder. Obwohl er weiß, dass er nicht der im Pass bezeichnete Besatzungssoldat Jean Marie Aladin ist, kann er sich nicht an seine Vergangenheit erinnern und beginnt vom Lager aus die Suche nach seiner Identität. Er erlangt diese im Verlauf eines halben Jahres wieder, indem er die Schuld anderer stellvertretend auf sich nimmt und sühnt. Auf diese Weise klärt sich seine Herkunft; er gewinnt seinen Namen Peter Schaffner wieder, an den er sich aufgrund einer Mischung aus eigener Traumatisierung in der Kindheit und Sexualverbrechen an einem Kind nicht mehr zu erinnern vermag. Detailgenau und veristisch wird in Langgässers Roman der geschichtliche Hintergrund ausgestaltet. Die Darstellung geht auf Verfahrenstechniken der Neuen Sachlichkeit zurück, überlagert sich dabei aber mit surrealistischen Elementen und Mitteln des Magischen Realismus. Zum einen sind die materialen Folgen des 1. Weltkrieges in Gestalt der französischen Besatzung präsent; diese setzt afrikanische Kolonialtruppen ein, die als „Schwarze Schmach“ rassistische Ressentiments auslösen. Zum anderen werden die Folgen der Weltwirtschaftskrise genauso präzise an der globalen ökonomischen Vernetzung von Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie veranschaulicht. Die Stimmung im Ried ist düster, bedrohlich und gedrückt, auf jeden Fall aber numinos, denn sie ist bestimmt von einer diffusen, nämlich kreatürlichen Schuld der Unerlösten in einer rätselhaften Trümmerlandschaft, deren Elemente in einer eindrücklichen Passage zu Beginn des Romans als Palimpsest der Gewaltgeschichte bis in die Römerzeit zurückgeführt werden – gleichsam als anti-historistische Überbietung

33 Kontamination des Zitats nach Hilzinger: Langgässer, S. 222, und Schäfer: Unberühmter Ort, S. 287-348, hier: S. 289 (bei dem der Hinweis auf Faulkner getilgt ist); zur Zeitschrift Hilzinger: Langgässer, S. 222f.; zur marginalen Forschung zum Roman Schäfer: Unberühmter Ort, ebd.

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von Raabes Das Odfeld.34 Dieses Palimpsest ist hier jedoch nicht poetologisch zu verstehen, sondern offenkundig eschatologisch. Ebenso ist hier Tiefe räumlich gemeint: topologisch und zugleich typologisch als eine Aufschichtung der Zeugnisse ewiggleicher Gewaltverhältnisse und damit eben nicht historisch.35 Die Lebensverhältnisse in dieser Landschaft sind roh und brutal, die Bauern verschuldet und abhängig von Großproduzenten und Nahrungsmittelfabriken, welche die Preise diktieren. Die jungen Männer arbeiten bei Opel, einer Firma, die neben den „Autostraßen“ auch schon die „Straßen von morgen“, „die Flugzeugstraßen“ und „die Raketenstraßen […] in Rüsselsheim da drüben ausprobiert“ (126). Zumeist sind es jedoch allein die Frauen, die für den Lebensunterhalt sorgen, sodass den patriarchalen Familienstrukturen der Bauern eine matriarchale Alternative in der Arbeiterschaft gegenübergestellt ist.

34 „Da liegen, zwei Schuhe tief, zerbeulte Konservendosen mit stinkendem Fleisch und Fischen, die schon vergoren sind, Patronentaschen, durchnässt von der verwesten Galerte vergangener Embryonen, Zigarettenschachteln und leere Hülsen, die noch einmal hochgeschleudert und wieder verschluckt sein mögen. Fünf Schuhe tief stecken Silbermünzen aus den napoleonischen Kriegen. Sieben Schuhe tief blättern leise die fetten gelblichen Würmer zermürbte Schädeldecken erschossener Spanier, Schweden und deutscher Söldner um. Zwölf Schuhe tief ruhen Waffen und Schilde aus der eisernen Römerzeit und donnern dumpf in die Träume dieser ältesten Landschaft hinein . . . die Erde fraß immer weiter, fraß Fleisch, Erz, Gras, unterschiedlos [!] in ihren dicken Bauch und trank Bäche von Blut dazu, die sogleich durch den lockeren Sand der Wanderdünen hinunterflossen, welche das Meer hier zurückgelassen und mit Muschelwerk gefüllt hatte, mit gewundenen kleinen Ohren, die den Einsturz des Rheingrabens angehört haben und von ihm so erschreckt gewesen sein mußten, daß sie durch Jahrmillionen nach oben wanderten, um wieder das Getöse der umgelagerten Zeit zu vernehmen: Geschützfeuer und Clairons-Signale und den feierlich grellen Trauermarsch der feindlichen Besatzung, wenn ein schwarzbrauner Kolonialsoldat, von Brechuhr und Regen durchnäßt, zu Grabe getragen wurde – –.“ (Langgässer: Gang, S. 11f. Im Folgenden zitiert im Text unter Angabe der Seitenzahl in Klammern). 35 Insofern ergeben sich hierdurch wiederum Parallelen zu de Koonings Gemälde, das ja im Titel das archäologische Projekt der Ausgrabung führt.

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Seine Identitätssuche führt Aladin auf den Erlenhof, dessen Besitzer mit einer ganzen Reihe traumatisierter Weltkriegsveteranen in rechtsradikale Verschwörungen um den „Riedbaron“ (97) von Wagenfeld verwickelt ist. Nicht zuletzt dienen die problematischen Familienverhältnisse auf dem Hof der Identitätsfindung für Aladin: Voreheliche Sexualität und Untreue, eine ehebrecherische Frau, ein Bastardkind ermöglichen es ihm, eine Rolle stellvertretender Sühne gegenüber einer wiederum diffus bleibenden, eben kreatürlichen Schuld zu übernehmen. Im Vergleich zum späteren Roman Das unauslöschliche Siegel bleiben die religiösen Implikationen der Erlösung vage, wie überhaupt diese atmosphärische Vagheit ein Merkmal zahlreicher Texte des Magischen Realismus wie z. B. Horst Langes Roman Schwarze Weide (1937) darstellt, denn sie dient dazu, die Darstellung mit sinnlichen Intensitäten aufzuladen, die auch Ungeheuerliches artikulieren können. Wie erzählt Langgässers Roman? Die Erzählung bildet eine assoziative Traumlogik nach, die in gleitenden Übergängen die Perspektiven zwischen der Außen- und Innensicht verschiedener Figuren wechselt. Sie kann begründet als surrealistisch charakterisiert werden, weil ihr assoziatives Verströmen in die Nähe der écriture automatique gerät: „Die Welt strömt ein. Ich atme sie zurück“, heißt es zu dieser Logik im Gedicht Die Rose aus dem Zyklus Der Laubmann und die Rose von 1947.36 Die Kombination von Darstellungsformen des Magischen Realismus, der ja selbst den Verismus der Neuen Sachlichkeit absorbiert, mit surrealistischen Verfahrenselementen bewirkt das spezifische Gepräge des Romans. Man kann es als Doppelung von Traumtext mit mythischen Motiven und Motiven einer kindlichen Märchenwelt auf der einen Seite und zeitaktuellem Blick auf Verkaufsmessen für „Verbraucher“ (135) wie der dargestellten „Grünen Woche“ (91, 95) in Worms auf der anderen Seite charakterisieren. Trotzdem er die Geschichte einer Figur erzählt, die, seit Kindertagen traumatisiert, nicht mehr weiß, wer sie ist, bewahrt der Roman also zum einen die neusachliche Präzisionsästhetik, wenn er eine Sozialstudie über die rapide umbrechenden Lebensverhältnisse der Bauern liefert:

36 Elisabeth Langgässer: Gedichte, Hamburg 1959, S. 129.

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„[D]as Gut ist fast leer, weil die Maschinen alles allein und noch viel besser machen. Der Verwalter ist ein Diplomingenieur, ein paar Werkmeister gehen ihm zur Hand, die anderen sind Getreidearbeiter, wie sie drüben in Rußland sagen. Alles wird kontrolliert, alles steht unter Licht wie die Hühnerfarmställe, damit wir Tag und Nacht Eier legen; die Wetterwarte macht uns den Regen, die Landwirtschaftskammer weiß schon im Herbst, wieviel Weizen wir abliefern müssen, und verbessert die Rasse auf dem Papier: aus jedem deutschen Hammel wird ein Merinoschaf.“ (129)

Wie ein Jahr später Hans Falladas Meisterwerk Wolf unter Wölfen zeigt Langgässer, dass nun auch auf dem Land vorherrscht, was bislang mit der Metropole Berlin identifiziert wurde. Allerdings geht es diesen Texten nicht um anti-urbane Akzente, sondern um die Ausstellung der oben erläuterten Ontologie, die unterschiedslos alle Phänomene umfasst. Die vegetative Verwesung auf dem Land, so belegt beispielsweise auch das eingeschobene Mittelstück in Langes Roman Schwarze Weide (1937), findet in der BerlinEpisode ihr Pendant im Rost auf den Eisenkonstruktionen und in den bröckelnden Hinterhöfen der Mietskasernen. Solche Passagen haben jegliches futuristisches Stadt- und Stahlpathos abgestreift zugunsten eines Blicks auf verrottende Zivilisationsbrachen und Ruderalflächen.37 Dabei unterliegt Langgässers Darstellung einer permanenten Verwandlung in Form narrativer Metamorphosen, weil sie konsequent die Assoziationslogik des Träumens und halluzinierender Projektionen in gleitenden Übergängen zwischen Außen- und Innensicht, Erzählerbericht, erlebter Rede und Inneren Monologen nachvollzieht – und zwar aus der erlebenden Perspektive verschiedener Figuren. Dieses Ineinandergleiten der Erzählebenen und -verfahren führt gelegentlich sogar dazu, dass Innere Monologe einer Figur direkt mitten in die vorherrschenden Dialogpassagen als Zeichen einer szenisch gegenwärtigen Darstellung einschießen, angezeigt durch den Gebrauch von eckigen Klammern. Solche gleitenden Übergänge werden vom Erzähler nicht markiert, sondern sind ‚plötzlich‘ da: Sie werden erzählerisch vollzogen und nicht mehr narrativ vorbereitet, führen auf jeden Fall aber zu einem labyrinthischen Orientierungsverlust, einem Taumel beim Leser.

37 Im weiteren Sinne Schäfer: Unberühmter Ort.

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Dieser Grenzfall nullfokalisierten Erzählens, das bis zur Ununterscheidbarkeit nahe am personalen Erzählen operiert, wenn die Assoziationsstruktur des Traums und der Vision vollzogen wird, dient bei Langgässer nun aber nicht der psychologischen Präzisierung wie in der Frühen Moderne bei Schnitzler. Es ist vielmehr dezidiert anti-psychologisch motiviert: Einen „Entwicklungsroman ohne Psychologie“ nannte Langgässer ihren Roman in einem Brief, denn er zeige „Menschen, die dargestellt und gebildet werden wie Naturgegenstände – aber mitten durch sie hindurch läuft der schmale Weg der Freiheit und sie werden auf ihn hingedrängt, ohne es zu wissen.“38 Durch den narrativen Mitvollzug von Assoziationen erzählen die Dinge (ähnlich übrigens wie in Benjamins Berliner Kindheit um 1900) wie von selbst, und sie wirken dabei in die Welt hinein wie die Nähmaschine, die für die Synthese aus Natur und Technik einsteht: „Das Rattern und Summen der Nähmaschine erfüllte hernach ohne Unterlaß diesen schwatzhaft begonnenen Tag; es erzählte, während das Rad sich drehte, [...] doch, was es berichtete, summte und brummte, verstand niemand außer ihm selbst. Es drang durch die Ritzen, die Schlüssellöcher und lief bis hinaus auf den Hof und in die Werkstatt hinein [...]“ (224). An dieser Stelle reflektiert der Roman seine kunstvolle Textur als Assoziationstext der Natur, die selbst träumt und so sinnlich erregt wie gewalttätig ist. Im Kern versucht Langgässers extrem sinnliche, nicht selten prächtig erlesene und lyrisch verdichtete Sprache die Materialität der Dinge atmosphärisch evident zu machen, und zwar im Sprachspiel aus assoziativen Konnotationen zwischen Fließen und Schalenhärte, mit der die Tierbilder attribuiert werden. Diese sprachliche Bewegtheit mag eine der stärksten Sequenzen des Romans belegen, in der die Erzählung von der Grünen Woche und den dort genau erfassten Phänomenen der modernen Welt in die Sphäre der Erlösung hinübergleitet, die sich in der Darstellung des Doms plötzlich offenbart: Unvermerkt – die Rede ist von „Brandung“ und „Treibholz“ (139) – gerät der Leser mit Aladin und dem Erlenhöfer-Bauern in den Dom: „Weil sie nicht fassen konnten, was ihnen begegnete, wurden sie selbst erfaßt. Wie eine Schimäre verschluckte sie das Unbegreifliche, der Bauer wollte gerade noch

38 Elisabeth Langgässer: Briefe 1924-1950, hrsg. v. Elisabeth Hoffmann, 2 Bde., Düsseldorf 1990, S. 223, zit. nach Hilzinger: Langgässer, S. 219.

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denken: wie lange die Katholischen wohl daran gebaut haben mögen? doch war er schon hinter der Frage, bevor er sie begann. Das Genick tat ihm weh, er konnte nicht anders: er mußte so stehen bleiben, wie seine Vorfahren einst vor dem Kaiser gestanden hatten . . . Gnade! ein feines Messer fuhr Aladin zwischen die Rippen und bohrte sich in sein Herz. Tief innen rieselte es. Nicht nachgeben. Nicht darauf hören. Hören und Wissen war eins.“ (139)

Damit endet der Absatz; ihm folgt unvermittelt eine Anthropomorphisierung des Doms: „Der Dom sah herunter. Er wartete nicht, obwohl er aus Warten gebaut war. Voller Gedanken, dachte er nichts; er wußte nichts, weil er das Wissen selbst, und rächte nichts, weil das Gericht in ihm vollzogen war. Dann läutete er. Das war, als ob er sich selber aufhob, um sich noch einmal zu erbauen und alles, was jener Schall bedeckte, in seinen Leib zu verwandeln: die Häuser, welche sich dicht an seine Flanken drängten, ihre Seufzer, ihr Geschrei, ihre Flüche, ihre geheimen Laster; dann weiter draußen die Brücke, den Strom mit seinen Schleppern; das Ackerland, Kraut und Unkraut, das, verbrannt, in den Himmel rauchte, und jenes Land, das noch tiefer lag, von keiner Pflugschar berührt und dennoch mit Blut gesättigt, mit Schuld um Schuld beladen . . .“ (139, Herv. GF/SS)

Der Text vollzieht hier eine Personifikation des Doms als Subjekt der Welt, das in die Welt hinein strahlt: Alle seine Bestandteile – sein Stein, die in ihm gestalteten Tiere und die Menschen in ihrem und seinem Inneren – treten dabei nicht in eine symbolische Ähnlichkeitsbeziehung zum Höheren, sondern in direkten, sinnlichen Kontakt zueinander. Grundlage hierfür ist die schiere kontingente Berührung aller Gegenstände. Die rhetorische Figur der Wahl ist daher die Metonymie, bildlogisch organisiert eben durch Kontiguität. Dies wird sogar auf der Thematisierungsebene ausdrücklich verdoppelt, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass man sich als Leser hier architektonisch wie material im poetologischen Zentrum des Textes befindet: „Nun waren Aladin und der Bauer mitten in diesem anderen Dom. Sie berührten einander, es war sehr eng, viele Menschen, auch solche mit Vogelköpfen, und manche, deren Körper in einen Pferdeleib überging, drängten sich unruhig hinein. Sie

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traten auf Dickwurzblätter, in denen Grundwasser ruhte, ein Löwe ging leise an ihnen vorbei und leckte Aladins Hand. [...] Alles war innen und außen zugleich. Wer einen Pfeiler berührte, ertastete sein eigenes Gebein; wessen Fuß an eine Erhöhung stieß, fühlte, wie er dem Stein traumhaft im Wege war.“ (140)

Die Metonymie, gekennzeichnet ja durch direkte Berührung zwischen Mensch und Welt, wird an dieser Stelle zur literarischen Vollzugsform radikalisiert: In der sprachlichen Gestalt selbst schon ist die Ganzheit der durchleuchteten Welt evident. Entscheidend ist die ideologische Funktion dieser antipsychologischen Darstellung: Der Mensch ist verstrickt, genauer eingewoben in den Assoziationsstrom der Natur wie der historischen, von ihm selbst geschaffenen Dinge. So wird die Metonymie als rhetorische und bildliche Form dieser Ontologie bei Langgässer zur zentralen Sprachform ihres heterodoxen Katholizismus, weil jedes sinnlich wahrnehmbare Detail der Welt ungeachtet seiner moralischen Qualität39 selbst die höhere Ganzheit ist und damit nicht bloß symbolisch nur darauf verweist. Zieht man ein Resümee der Befunde, so wird zweierlei deutlich: Auf der Ebene der Phänomene ist alles als Thema und eine diesen jeweils angemessene Darstellungsform zulässig. Wie Erhart Schütz anhand der Romane von Horst Lange und August Scholtis feststellt, herrscht in den Tex-

39 „Bei meiner sehr reizbaren Art zu schreiben – es ist Impressionismus und Pointillismus der Oberfläche, die in fortwährender Bewegung ist und wenn sie aufreißt, immer wieder das Gorgonenhaupt sichtbar macht und den lautlos schreienden Mund der Medusa – bei dieser Art des Schreibens wird mir oft selbst angst, und ich brauche etwas, das mich, sei es auch grundlos, optimistisch macht“ (so in einem Brief an den Verleger Henry Goverts von 1947: Briefe 1924-1950, S. 665, zit. nach Hilzinger: Langgässer, S. 363); und an Horst Lange anlässlich zweier Geschichten schreibt sie im Sommer 1946: „[...] ich kann nur von der Sache her schreiben. Tödlich ernst. Tödlich genau“ (Briefe 1924-1950, S. 578f., zit. nach Hilzinger: Langgässer, S. 326); „Es ist merkwürdig: sobald ich mir irgend ein ‚ethisches‘, ein moralisches Thema gesetzt habe, geht die Sache schief – ich kann nur einfach moralisch leben und dann die Welt auf mich eindringen lassen“ (Brief an Wilhelm Lehmann September 1947, in: Briefe 1924-1950, S. 691; zit. nach Hilzinger: Langgässer, S. 354).

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ten geradezu eine „Verknüpfungswut“, herbeigeführt in einer Prosa „sinnlicher Intensitäten, die teilhat an der nicht archaisierenden Re-Episierung des Romans. […].“ Das trifft auch auf Langgässer und viele weitere Autoren zu. Die Texte „nehmen die Perspektive einer nichtintellektuellen, aber nicht anti-intellektuellen ‚Kreatürlichkeit‘ ein – und die ist von Berlin aus geschrieben.“40 Auf ontologischer Ebene greifen entgegen dieser Verknüpfungswut doch wiederum Ausschlussmechanismen. Diese manifestieren sich vor allem darin, dass keine Elemente zugelassen werden, die die eigene Ontologie schwächen: So bleiben z. B. soziale, politische, juristische oder psychologische Alternativen in Langgässers Romanen durchgängig ausgeblendet. Im Ried-Roman kommt es dadurch zu dem paradoxen Sachverhalt, dass Aladins offensichtliche Pathologie, die im grausamen Sexualmord an einem Mädchen kulminiert, nicht psychiatrisch oder psychoanalytisch vom Text motiviert wird, obwohl die Darstellung kraft ihrer Bildlichkeit der Tiefe (unten in der Erde, unten mit den Fischen im Meer) daran anschließbar wäre. Wie die Pathologie nicht psychologisch, so wird die Schuld nirgendwo als Tat juristisch behandelt, sondern gleichsam theologisch und damit aus dem sozialen Schuldzusammenhang herausgelöst. Die Entscheidung gegen eine individualisierende Darstellung ist ein Votum für eine Anthropologie ohne Psyche, ja überhaupt für eine Zurücknahme der Anthropologie als Produkt der Aufklärung des 18. Jhs. und damit als Konsequenz eines Abfalls von der Theologie als leitender Deutungsinstanz. Psychologie ist dieser Logik zufolge potentielle Ontologiekritik, insofern sie jederzeit die Behauptung einer Ordnung hinter den kontingenten Dingen als Projektion einer individuellen Figuren- und Autorenperspektive entlarven könnte. So repräsentiert die Irrenanstalt Goddelau dann auch keiner der Ärzte, sondern der weise Wärter Philipp Allwissend. Der Magische Realismus im Ried-Roman, aber auch der ontologische Supranaturalismus im Unauslöschlichen Siegel, behaupten stattdessen eine zwar transempirische, dennoch sinnlich erfahrbare Sinnstruktur des Lebens.

40 Erhard Schütz: „Zwischen ‚Kolonne‘ und ‚Ethos des bescheidenen Standhaltens‘. Zu den Romanen von Horst Lange und August Scholtis während des Dritten Reichs“, in: Christiane Caemmerer und Walter Delabar (Hrsg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933-1945, Opladen 1996, S. 7796, hier: S. 78.

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Diese wird als Geheimnis postuliert und behebt sämtliche Ambivalenzen, vor allem den Kontingenzverdacht gegenüber den Lebensverhältnissen. Insofern setzt der Magische Realismus die Vorbehalte gegen die Schulen der Individualpsychologie fort, die um 1910 im Expressionismus und in der Gruppe der phantastischen Texte einsetzen, und auch Langgässer muss diese Vorbehalte mit dem oben nachgewiesenen, latenten Surrealismus ihrer sog- und rauschhaften écriture ständig behaupten. Nachdem sich die avantgardistischen Überbietungsgesten erschöpft haben, vermittelt sich der antipsychologische Impuls mit den Hypothesen der Surrealisten, die in Frankreich seit Mitte der 1920er Jahre ihre Wirkung entfaltet haben. Zu den wenigen Autoren, die in Deutschland poetische Texturen entwickeln, welche der surrealistischen écriture automatique vergleichbar sind, gehören neben Ernst Jünger mit seiner KurzprosaSammlung Das Abenteuerliche Herz eben die Romane Elisabeth Langgässers41, was Hermann Brochs Rezension des Unauslöschlichen Siegels treffsicher erkannte.42 Dieser Sur-Realismus erwächst bei Langgässer aus der Überlagerung von mimetischer Erschließung der modernen Befindlichkei-

41 Und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Texturen den Proklamationen in den Manifesten entsprechen; dass es einen deutschen Surrealismus nicht gebe, weil er mit den Manifesten nicht kompatibel sei, vertritt Karl Heinz Bohrer: „Deutscher Surrealismus?“, in: Friederike Reents und Anika Meier (Hrsg.): Surrealism in Literature in German / Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, Berlin und New York 2009, S. 241-248; siehe auch Gregor Streim: „Wunder und Verzauberung. Surrealismus im ‚Dritten Reich‘?“, in: ebd., S. 101-120. 42 „Es ist eines jener Kunstwerke, bei welchem man sich fragt, ob sie Dekadenzerscheinungen einer absterbenden Periode sind oder ob sich in ihnen bereits eine neue Ausdrucksform ankündigt. Vermutlich trifft beides zu. Formal betrachtet, kann man Das unauslöschliche Siegel wohl ein surrealistisches Buch nennen, vielleicht sogar das erste, das diesen Namen voll verdient und ihm zur Ehre verhilft. Sowohl die kapriziös unzusammenhängende Aneinanderfügung der äußeren Szenen wie die scharfe Konturierung, mit der sie gegeneinander abgesetzt werden, entspricht durchaus dem, was in der Malerei als surrealistisch gilt“ (Hermann Broch: „Randbemerkungen zu Elisabeth Langgässers Roman Das unauslöschliche Siegel [1949]“, in: ders.: Schriften zur Literatur 1 Kritik. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, S. 405-411, hier: S. 405).

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ten mit der höheren Ganzheit des Vitalen. Jünger spricht in seiner Kurzprosasammlung Das Abenteuerliche Herz vom ‚stereoskopischen Genuß‘ aus diesem Doppeltsehen.43 Und genau diese Überlagerung kennzeichnet den spezifisch nachavantgardistischen Realismus von 1925 bis 1955, den wir unter dem Namen Synthetische Moderne zur Diskussion stellen.44 Abschließend wollen wir die spezifischen Transformationen des Realismus in dieser Phase der Moderne skizzieren.

R EALISMUS

DER

S YNTHETISCHEN M ODERNE

Realismus ist keine außerzeitliche Erscheinungsform von Literatur neben anderen Grundtypen. Er ist vielmehr zutiefst historisch. Der bürgerliche Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. war durch die tiefgreifende Umstellung der Wahrnehmung in der Moderne spätestens seit den 1890er Jahren obsolet geworden. Wenn nun nach diesem Realismus des 19. Jhs. mit Steve Giles wieder sinnvoll von „Realisms after Modernism“ die Rede sein kann, dann eben nun unter den Bedingungen der Moderne selbst.45 Ein Realismus, der sich auf eine verlässliche mimesis außersprachlicher Wirklichkeiten stützt, muss demnach durch die Kritik der Moderne hindurchge-

43 Vgl. Gustav Frank und Stefan Scherer: „‚Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen‘. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne“, in: Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche (Hrsg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. 253-279, hier: S. 271f. 44 Gustav Frank, Rachel Palfreyman und Stefan Scherer: „Modern Times? Eine Epochenkonstruktion der Kultur im mittleren 20. Jahrhundert – Skizze eines Forschungsprogramms“, in: dies. (Hrsg.): „Modern times“? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925-1955, Bielefeld 2005, S. 387-431. 45 Steve Giles: „Realismus nach Modernismus? Photographie und Darstellung bei Kracauer und Brecht“, in: Sabine Kyora und Stefan Neuhaus (Hrsg.): Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik, Würzburg 2005 (Schriften der ErnstToller-Gesellschaft 5), S. 61-75.

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gangen sein. Er funktioniert deshalb ganz anders als noch im 19. Jh., denn er integriert eben die Verfahrensweisen der Moderne. Wie dieser moderne Realismus funktioniert, ist in seinen spezifisch historischen Reglements für die gesamte Phase 1925 bis 1955 bislang nur unzulänglich bestimmt worden. Wir haben dies in früheren Beiträgen über Brochs Bergroman und an Rudolf Borchardts einzigem Roman Vereinigung durch den Feind hindurch (1936/37) unter der Formel Komplexität als historische Textur zu beschreiben begonnen.46 Vor allem unterscheidet sich der nachmoderne Realismus aber in einem gravierend vom bürgerlichen des 19. Jhs., der auf formaler wie semantischer Ebene hoch selektiv war: Eben weil er sich im Rahmen einer Ontologie des Vitalen ausbildet, deren Integrationskraft universal ist, kann der „Realismus nach den Avantgarden“ auf der formalen wie thematischen Ebene sowohl Verfahren des mimetischen Illusionismus als auch avancierte Verfahren der gesamten literarischen Moderne durchaus zwanglos kombinieren. Anders als noch Döblins ‚Geschichte vom Franz Biberkopf‘ Berlin Alexanderplatz (1929) braucht er dabei aber keine besondere Artistik mehr auszustellen. In nach-avantgardistischen Zeiten stehen die Verfahren letztlich im Dienste einer Ontologie, deren Ordnungspostulate anschaulich werden sollen, weil sie diskursiv nicht länger allgemeingültig und überzeugend behauptet werden können. Auf der Ebene der dargestellten Welten fällt insbesondere ins Auge, dass sie magische bzw. supranaturale Elemente umfassen, ohne den kulturellen Realitätsbegriff damit in der Weise auf die Probe zu stellen, wie die phantastische Literatur das tat. Diese Elemente sollen vielmehr umgekehrt von der Ordnung hinter den Dingen zeugen.47 Und

46 Vgl. Gustav Frank und Stefan Scherer: „Komplexer Realismus in der Synthetischen Moderne: Hermann Broch – Rudolf Borchardt“, in: Sabine Kyora und Stefan Neuhaus (Hrsg.): Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik, Würzburg 2005 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft 5), S. 111-122. 47 Dies wird sogar noch von Hans Werner Richter, dem Begründer der Gruppe 47, im vielzitierten Aufsatz Literatur im Interregnum in seiner Zeitschrift Der Ruf vom 15. März 1947 postuliert: „Es ist das blutige Erlebnis unserer Zeit und unseres Lebens, es ist die Fragwürdigkeit unserer geistigen Existenz, und es ist die Unsicherheit unserer seelischen Verwirrung, die den Realismus aus der bloßen Wahrnehmung des Objektiven ins Magische erhebt. [...] Die Aufgabe einer neuen Literatur wird es sein, in der unmittelbaren Aussage dennoch hinter der Wirk-

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schließlich sind die Restriktionen auf der Ebene der erzählten Geschichten auffallend gering. Weder werden Grenzüberschreitungen ins Deviante, Triviale und Hässliche gescheut, noch wird bei der Komposition der Narration auf raum-zeitliche Kontinuitäten oder kausale Engführung oder Einsträngigkeit geachtet, weil sich die Narration dem ‚Chaos‘ der Welt durchaus lustvoll überlässt. Insoweit die Geschichten ein Nebeneinander unterschiedlichster Akteure, sozialer Milieus und Handlungsverläufe zulassen, sind sie so modern wie die eingesetzten Verfahrensweisen der Vertextung. Wir nennen den hier erläuterten Realismus der Moderne aus guten Gründen synthetisch. Kennzeichen der Synthetischen Moderne ist es, dass sie die verfügbar gewordenen Techniken aus Realismus, Früher Moderne (auch in den verschiedenen Avantgarde-Varianten) und Neuer Sachlichkeit (Montage, Reportage, Präzisionsästhetik, protokollarische Registratur von Oberflächen) mit Verfahren des Nachexpressionismus und Surrealismus synthetisiert – Synthesis aber nicht mehr im Sinne Hegels verstanden, sondern im Sinne der ‚Modern Times‘, d. h. so, wie man Kunststoff herstellt wie eben die Kunstseide für Keuns Das kunstseidene Mädchen: industriell produziert und einer neuen Populärkultur demokratisierend zum massenhaften Gebrauch verfügbar gemacht. Diese Synthesen entstehen deshalb aus einer literarischen Kombinatorik bei grundsätzlich ‚realistischem‘ Anspruch der Darstellung, weil es in erster Linie darum geht, die neuen, nachbürgerlichen Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu erfassen und so über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der ‚Modern Times‘ im Sinne von Gebrauchstexten zu orientieren und mit dem Rekurs auf eine transempirische Ontologie letztlich noch einmal Trost zu spenden.

lichkeit das Unwirkliche, hinter der Realität das Irrationale, hinter dem großen gesellschaftlichen Wandlungsprozeß die Wandlung des Menschen sichtbar werden zu lassen“ (zit. nach Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Ausstellung. Erarbeitet von Helmut Böttiger unter Mitarbeit von Lutz Dittrich, Göttingen 2009, S. 301). „Für Richter lautete das ‚literar-therapeutische‘ Zauberwort ‚Synthese‘, Chiffre für das Ende des Zeitalters der sozial engagierten ästhetischen Revolten und der ideologieverdächtigen Ismen. Damit war der Weg frei für eine gemäßigte Anverwandlung der ‚klassischen Moderne‘.“ (Friedhelm Kröll: „Die konzeptbildende Funktion der Gruppe 47“, in: Ludwig Fischer (Hrsg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München und Wien 1986, S. 368-378, hier: S. 371).

Breton auf Haiti Magischer Realismus und transatlantische Avantgarde

R ALPH J. P OOLE

B RETONS A NKUNFT AUF M ARTINIQUE : V ON B EKLEMMUNG ZU O FFENBARUNG Im April 1941 landet André Breton am Hafen von Martinique und er beschreibt seine Eindrücke in vier kurzen, explosiven Schüben. Zunächst ist es noch die gefängnisartige Enge des Schiffes ohne Aussicht, die ihn emotional berührt: „The view was blocked by the hulk of a ship […] the exasperation of only being able to move a few measured paces.“ 1 Diese klaustrophobische Stimmung weicht einem erwartungsvollen Rausch der Freiheit und der Sinne: „Released after a few days, with what avidity did I plunge into the streets, in search of all the never-before-seen things they had to offer, the dazzle of the markets, the humming-bird accents, the women Paul Eluard, on his return from a trip around the world, had told me were more beautiful than anywhere else.“2 Der sinnenhafte Höhenflug ist allerdings nur von kurzer Dauer und Breton erleidet einen Rückschlag angesichts der Realität des maroden, leblosen Zustands der Stadt: „Soon, however, I discerned a discovery that threatened to take everything over

1

André Breton: „A Great Black Poet: Aimé Césaire“, übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 191-189, hier: S. 191.

2

Ebd.

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once more: this city itself was coming apart, seemingly deprived of its essential organs.“3 Das Wechselbad der Erwartungen und Realitäten findet seinen Höhepunkt im Unerwarteten: statt exotischer Erotik findet er exotischen Intellekt. Nach einem, wie er sagt, „year of intellectual degradation“4 stößt er ausgerechnet in Fort-de-France, der Hafenstadt von Martinique, auf die erste Ausgabe der Zeitschrift Tropiques und mit ihr entdeckt er den „Great Black Poet: Aimé Césaire“, so der Titel seiner Reisebeschreibung, aus der die Zitate stammen und die sich somit als Hommage an den karibischen Dichter entpuppt. Bretons Erlebnis steigert sich zur Apotheose, die literarische Begegnung mit Césaire offenbart ihm nicht nur eine „human voice [that] rose up like the very shaft of light,“5 sondern ihm widerfährt noch viel mehr. Hier auf den tropischen Inseln findet er all das, was er in Paris so lange vermisst hatte: die dichterische Intervention, die ästhetische mit moralischer und sozialer Revolte vereint, und er zitiert Césaire aus Tropiques: „We are the kind who refuse the shadow.“ 6 Der Text bringt jedoch noch etwas anderes ans Licht, das sich in der tatsächlichen Begegnung mit Césaire, die kurz darauf stattfindet, offenbart: „And the next day, Césaire. I can recall my quite basic initial reaction at finding him such a pure black in colour, masked all the more at first sight by his smile. In him […] is mankind’s crucible at its greatest point of fermentation, where knowledge […] interferes with magical powers. For me […] his appearance, coloured by the countenance he has, assumed the value of a sign of the times. […] the first fresh, revitalizing breath of air, fit to reassure us, comes from a black man. And it is a black man who handles the French language as no white man today can.“7

3

Ebd.

4

Ebd.

5

Ebd., S. 192.

6

Aimé Césaire: „Presentation“, ursprünglich in: Tropiques 1 (April 1941), auch in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 88; hier zit. nach Breton: „A Great Black Poet“, S. 192.

7

Breton: „A Great Black Poet“, S. 192-193, Hervorhebung im Original.

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Wiewohl der Rest des Textes, der nicht nur 1944 in der Zeitschrift Tropiques, sondern auch in Bretons Martinique, charmeuse de serpents (1947) wie auch als Vorwort zu späteren Editionen von Césaires eigenem Cahier d’un retour au pays natal (orig. 1939) veröffentlicht wurde, eine flammende Invektive ist, eine Absage an Frankreichs koloniale Vergangenheit und der damit verbundenen rassistischen Ausbeutung, so muss man sich doch fragen, welch eigentümlichem Rassendiskurs sich Breton hier selbst verschreibt. Einerseits verwendet er organische Metaphern zur Charakterisierung von Césaires Körper und Kunst – Reinheit, Vitalität –, andererseits verweist die Anspielung auf Maske bzw. Maskerade auf versteckte, magische Kräfte. Beide Vorstellungen, der reale lebendige Körper und der mysteriöse magische Geist, sind stereotype Bilder der Moderne, immer wieder aufgerufen in den europäischen Avantgarden als Kennzeichen des Primitiven. Auch wenn Césaire hier als bester französischer Sprachkünstler seiner Zeit gepriesen wird, so haftet diesem Kompliment doch etwas von jener Faszination an, die auch der Tanz der ‚kreolischen Göttin‘ Josephine Baker in Paris auszulösen vermochte:8 die exotistische Erregung im Spannungsfeld von Realität und Magie. Bretons dichterischer Auftritt in Haiti verweist auf eine transatlantische Konstellation, die geografisch zwar an der Peripherie, diskursiv aber zentral für die wechselhaften und widersprüchlichen Wirkungsweisen der europäischen Avantgarden stand und in der Konzipierung eines „Magischen Realismus“ seine programmatische Ausformung fand. Während nämlich die Hochphase des Surrealismus in Europa ihren Zenit überschritten hat, erlebte er in der Karibik eine Kreolisierung in Form eines neuen Magischen Realismus, der sich in den manifestartigen Werken einer Gruppe von Literaturen und Künstlern niederschlug, die an einem transatlantischen Austausch zwischen Frankreich und der Karibik, genauer zwischen Paris und Martinique/Haiti zwischen 1932 und 1946 partizipierten, also in jenem Zeitraum, als die Avantgarden der klassischen Moderne bereits im Abklingen waren. Drei Momente dieses künstlerischen Dialogs stehen hierbei für die enge Verzahnung der europäischen Avantgarden mit außereuropäischen, sich in der Karibik entfaltenden Erscheinungsformen: André Bretons karibische

8

Vgl. Iris Schmeisser: „‚Le Tumulte Noir‘: Josephine Baker’s Primitivist Performance“, in: dies: Transatlantic Crossings Between Paris and New York, Heidelberg 2006, S. 159-191.

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Schriften, die den Surrealismus mit dem ‚Primitiven‘ korrelieren; Aimé Césaires Gedichte und Essays und deren Propagierung des Konzeptes der Négritude; und Wifredo Lams Hauptwerk, das Gemälde The Jungle und seine Anerkennung der Voodoo-Mythologie. Diese transatlantischen Wechselbeziehungen kulminierten 1944/45, als alle drei Künstler auf Haiti weilten und Zeugen des Sturzes der Haitianischen Regierung waren, wobei sie auf signifikante Weise an einer Überkreuzung von Politik und Ästhetik partizipierten, die ein erhellendes Licht auf die geo-kulturellen Verhandlungen des Transatlantischen werfen.

M ODERNE : ‚W EISS ‘

UND

‚S CHWARZ ‘

Aus US-amerikanischer Perspektive ist die klassische Moderne ein inhärent transatlantisches Phänomen, jedoch mit epigonaler Prägung. Wie die Herausgeber des Bandes Transatlantic Modernism, Martin Klepper und Joseph Schöpp, bestätigen, wird Europa gemeinhin das wahre avantgardistische Potential zugesprochen und dies gilt auch für die Einschätzung expatriierter amerikanischer Schriftsteller wie Ezra Pound, T.S. Eliot oder Gertrude Stein, die vorzugsweise in London oder Paris lebten. Sie waren es, die sich dem Experiment und der Innovation verschrieben, während die zurückgebliebenen amerikanischen Gegenspieler gerne als „(crypto)realist and aesthetically conservative“ bezeichnet wurden.9 Heinz Ickstadt konstatiert diesen Trend sogar noch in den eigenen – amerikanischen – Reihen, wenngleich auch unter anderen Vorzeichen: „European snobbery concerning American provincialism has had a faint echo in a recent tendency within American criticism to indeed leave modernism to the Europeans and define

9

Vgl. Martin Klepper und Joseph C. Schöpp: „Preface“, in: dies. (Hrsg.): Transatlantic Modernism, Heidelberg 2001, S. 7-14, hier: S. 8. Siehe hingegen zur Positionierung einer weiblichen Avantgarde im transatlantischen Spannungsfeld Ralph J. Poole: „Gertrude Stein: Die ‚Mater‘ des avantgardistischen Theaters in Amerika“, in: ders.: Performing Bodies: Überschreitungen der Geschlechtergrenzen im Theater der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1996, S. 131-184.

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American developments in different, indigenous, pragmatist terms.“10 Entgegen einer simplizistischen Gegenüberstellung weisen Klepper und Schöpp auf die geo-kulturellen Besonderheiten hin, die eine wechselseitige Befruchtung und Re-Interpretation bewirkten, und schlagen daher vor, den Blick auf transatlantische Kooperationen, Transformationen und Transfers zu richten: „We take modernism to be the cultural manifestation of a fundamental transformation of Western societies – which leaves open the question of whether these manifestations are radical and disruptive or conciliatory and conservative – and this implies its extension into all fields of art and cultural practices.“11 Diese Veränderungen müssen also nicht notwendig als radikal betrachtet werden, sondern können als Bestandteil eines ökonomisch-politischen Netzwerks gelten, als dessen blinden Fleck beispielsweise eine Moderne jenseits ‚weißer‘ Hegemonie figuriert. In besagtem Band wird diese Lücke zwar mit einer Diskussion über eine ‚schwarze Moderne‘ zu füllen gesucht, doch bleibt der Bezug auf US-amerikanische Kultur unhinterfragt. Weder Kanada noch Lateinamerika ist in der Vorstellung des Transatlantischen inkludiert, und auch die Karibik bleibt ausgespart.12 Letzteres ist umso erstaunlicher, als die in der jüngeren Forschung zu den Spielarten und Ausprägungen der Moderne propagierte Integration der sogenannten Harlem Renaissance, also der afroamerikanischen Kunstbewegung der 1920er Jahre in New York, als ‚schwarze Moderne‘ entscheidende Impulse gerade von der Karibik bzw. den karibischen Künstlern erhielt. Entscheidend ist aber weniger die Problematik des Epigonalen sowie der In- oder Exklusion als vielmehr die Frage nach den jeweils verwendeten ästhetischen Mitteln und in Folge die Frage nach der ethischen Legiti-

10 Heinz Ickstadt: „Deconstructing/Reconstructing Order: The Faces of Transatlantic Modernism“, in: Martin Klepper und Joseph C. Schöpp (Hrsg.): Transatlantic Modernism, Heidelberg 2001, S. 15-34, hier: S. 17-18. 11 Klepper und Schöpp: „Preface“, S. 8-9. 12 Es ist bezeichnend, dass der einzige Beitrag, der eine Diskussion der Karibik einschließt, sich mit dem Einfluss William Faulkners auf lateinamerikanische Autoren befasst. Vgl. Ulfried Reichardt: „Time-Passages: Transatlantic Modernism, William Faulkner, and New Western Literatures“, in: Martin Klepper und Joseph C. Schöpp (Hrsg.): Transatlantic Modernism, Heidelberg 2001, S. 93102.

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mation einer ‚schwarzen‘ vis-à-vis einer ‚weißen‘ Moderne. Hierbei geht es nicht nur um die für den Modernismus so entscheidende Frage nach dem Grad der Referentialität oder des Realismus auf der einen und dem der Abstraktion auf der anderen Seite, die für den amerikanischen Kontext durchaus als dialogisch und synchron bezeichnet werden kann, während für Europa generell eher eine sequentielle Abfolge angenommen wird.13 Auf dem Prüfstand steht vor allem auch der Einbruch des Primitiven oder gar der Abstieg zum Primitiven, was nahezu allen modernistischen Avantgarden jenseits ideologischer oder stilistischer Differenzen nachgesagt werden kann. Für Europa mochten Pablo Picassos afrikanische Masken (so in Les Demoiselles d’Avignon, 1907) oder Tristan Tzaras Poèmes nègres (1916) fantastische Projektionen sein, Ausdruck eines Begehrens nach dem Primitiven als der unterdrückten Kehrseite europäischer Zivilisation. Für eine transatlantische, amerikanische ‚schwarze Moderne‘ war die Hinwendung zum Primitiven aber deshalb und so ganz andersartig virulent, weil die lange Geschichte der Sklaverei einen akuten Rassismus erzeugte, der sich nicht mit Exotik oder einem künstlerischen „going native“ verrechnen ließ. Die Konfrontation der Rassen zeitigte dort eine soziale Realität, die sich in auf vielen Ebenen abspielenden hitzigen Debatten um Ästhetik und Politik niederschlug. Denn wenn die Entdeckung afrikanischer Kunst bereits Teil der modernistischen Ästhetik war, was blieb dem schwarzen Künstler übrig, als „to beat barbaric beauty out of a white frame“,14 wie Claude McKay schrieb und damit suggerierte, dass sich schwarze Künstler nur innerhalb von Weißen aufgestellten Normen bewegen konnten. McKay legte diese Worte einer Figur, einem schwarzen Ragtime-Musikanten aus seinem Roman Home to Harlem, in den Mund. McKay selbst war es, der als aus der Karibik stammender Dichter nicht nur entscheidende Impulse für die schwarzen Künstler New Yorks gab, sondern er hat auch durch seine eigene Biografie bewiesen, dass sein fiktionaler Musiker falsch lag: Wiewohl McKay oftmals selbst nicht recht an seinen Erfolg glauben wollte, so sah er doch auch sehr wohl Möglichkeiten, den ‚weißen‘ Rahmen zu sprengen. Ein Weg dies zu tun, war für ihn wie für viele seiner karibischen Zeitgenossen die Entdeckung des Magischen im Realen.

13 Ickstadt: „Deconstructing/Reconstructing Order“, S. 22-23. 14 Claude McKay: Home to Harlem, Boston 1987, S. 94.

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M AGISCHER R EALISMUS : V ON R OH

ZU

C ARPENTIER

Die Begriffsgeschichte des „Magischen Realismus“ ist komplex und verwirrend, zeigt aber vor allem seine Inter- und Transnationalität. „Magischer Realismus“ als Terminus wurde in den 1920er Jahren in Deutschland durch Franz Roh als Beschreibung für eine Kunstrichtung in der Weimarer Republik geprägt. Roh suchte mit diesem Begriff das Mysterium des Lebens hinter der Fassade der Realität zu fassen. Als „lo real maravilloso“ tauchte er dann mit dem Franko-Kubaner Alejo Carpentier in den 1940er Jahren in der Karibik auf als Ausdruck einer Mischung von realistischen und magischen Ansichten des Lebens im Kontext der unterschiedlichen Kulturen Lateinamerikas, wie sie in Kunst und Literatur zur Darstellung kamen. Diese beiden Definitionen bilden die Eckpunkte, in geografischer wie historischer Hinsicht, zwischen denen verschiedenste Künstler in dem Netzwerk der transatlantischen Moderne figurierten.15 Sie markieren auch den Fokus auf einen Zeitraum, in dem sich der Streit um eine Definition des Magischen Realismus noch ohne die Mythenbildung nachzeichnen lässt, vor der Vittoria Borsò so eindringlich warnt: „Die Interpretation von Romanen des sogenannten Magischen Realismus unter dem Zeichen eines Identitätsentwurfes muß heute als problematisch angesehen werden:

15 Der weitere Verlauf der Begriffsgeschichte, die hier nicht weiter interessiert, führt über die 1950er Jahre, wo der „realismo mágico“ speziell für die lateinamerikanische Literatur verwendet wurde, in den letzten dreißig Jahren zu all jener erzählenden Literatur – und hier vor allem englischsprachige postkoloniale Literatur von Salman Rushdie bis Toni Morrison, aber auch Romane von Günther Grass und Filme von Wim Wenders –, die allesamt magische Begebenheiten in einer realistisch-faktischen narrativen Darstellung präsentieren. In allen Spielarten geht es um das Austarieren eines Oxymorons, um die Gleichzeitigkeit des Magischen und Realistischen zugunsten einer neuen Perspektivierung. Vgl. Jean-Pierre Durix: Mimesis, Genres and Post-Colonial Discourse: Deconstructing Magic Realism, Basingstoke 1998; Joan Mellen: Literary Topics Vol. 5: Magic Realism, Detroit 2000.

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[…] Mit dem Rückgriff auf mythische und magische Bewußtseinsformen hat die Theorie des Magischen Realismus dieser Literatur den Stempel des Exotismus aufgedrückt, dessen Wirkung noch heute ungebrochen ist. Nicht zufällig hat sich besonders, teils fast ausschließlich, die Literatur von García Márquez oder Isabel Allende auf dem europäischen Literaturmarkt durchgesetzt […].“16

Franz Roh verstand 1925 in seinem Buch Nach-Expressionismus, Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei die Spannbreite des Magischen Realismus vom Grotesken eines Otto Dix und George Grosz bis zur Darstellung alltäglicher Objekte eines Alexander Kanoldt als Konfrontation zwischen einer „monstrous and marvellous Unheimlichkeit within human beings“,17 aber auch als Teil des modernen technologischen Umfeldes. Der Leiter der Mannheimer Kunsthalle Gustav Friedrich Hartlaub verwarf daher auch den Begriff „Magischer Realismus“ und wählte stattdessen „Neue Sachlichkeit“. Dies sollte der jene Ära der Malerei kennzeichnende bleibende Terminus bleiben, was Roh ein paar Jahre später selbst eingestand und den Begriff selbst nicht weiter verwendete.18 Aus heutiger Sicht sieht der Kunsthistoriker Sergiusz Michalski diese Kunst als Teil der Instabilität der Weimarer Republik, gefangen zwischen einer verworfenen Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft, die ein Bedürfnis nach „Sachlichkeit“ heraufbeschwor: „Ultimately, it was a reflection of German society at that time, torn between a desire for and simultaneous fear of unconditional modernity, between sober, objective rationality and residues of Expressionist and rationalist irrationalities.“19

16 Vittoria Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit – Versuch einer interkulturellen Analyse: Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus, Frankfurt a. M., 1994, S. 14. 17 Irene Guenther: „Magic Realism, New Objectivity, and the Arts during the Weimar Republic“, in: Louis Parkinson Zamora und Wendy B. Faris (Hrsg.): Magic Realism: Theory, History, Community, Durham 1995, S. 33-73, hier: S. 36. 18 Dennis Crockett: German Post-Expressionism: The Art of the Great Disorder, 1918-1924, University Park, Pennsylvania 1999, S. 3. 19 Sergiusz Michalski: New Objectivity: Painting, Graphic Art and Photography in Weimar Germany, 1919-1933, Köln 1994, S. 13.

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Es ist für den weiteren historischen Verlauf wichtig zu betonen, dass Roh in seiner Definition des Magischen Realismus eine Kunst beschrieb, die sich nicht nur dezidiert vom ‚warmen‘ Expressionismus, sondern in der Betonung des Materiellen und Tatsächlichen auch partiell von der traumartigen Qualität des Surrealismus abwandte, z.B. in der kühlen fotografischen Qualität vieler dieser Bilder, die eine „Magie des Seins“ ausstrahlten, „jenes Geistige, Unheimliche, das den besten Bildern der neuen Richtung – inmitten ihrer Gelassenheit und scheinbaren Nüchternheit – innewohnt.“20 Deshalb macht Helmut Lethen hier auch die Kältelehre für diesen Zeitraum geltend und aus diesem Grund werden auch spätere Maler wie der „hyperrealist“ Edward Hopper zuweilen als Magische Realisten bezeichnet.21 Für Roh war der wichtigste Aspekt das Erfassen des Mysteriums des konkreten Objektes durch realistische Darstellung: „Magischer Einblick in ein (hier künstlich hergestelltes) unbetont gedeutetes Stück ‚Wirklichkeit.‘“22 Anders als die Surrealisten, so Roh, brächten die Magischen Realisten das Innenleben durch Repräsentationen des Äußeren zum Ausdruck. In der Betonung der Ruhe und Gelassenheit der Bilder spricht er von der Unheimlichkeit inmitten scheinbarer Nüchternheit, deren Magie des Seins neue Weltanschauungen evoziere. Der Einfluss Rohs auf die Karibik zeigt sich in der spanischen Übersetzung seines Buches, besonders in den Teilen zum Magischen Realismus daraus, und in dessen weiter Verbreitung in Lateinamerika. Während jedoch Roh sich von der zeitgleichen Bewegung des Surrealismus abgrenzte, wurde nur wenige Zeit später für die literarischen Bewegungen des Magischen Realismus die Ähnlichkeit bzw. die Übereinstimmungen mit dem Surrealismus ein wesentlicher Bestandteil des dichterischen Selbstver-

20 Franz Roh: Nach-Expressionismus, Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925, S. 30. 21 Maggie Ann Bowers: Magic(al) Realism, London 2004, S. 13. Siehe diverse Publikationen von Helmut Lethen zur ‚Kälte‘ dieser Ära: Neue Sachlichkeit 1924-1932: Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus“, Stuttgart 1975; Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994; Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg i. B. 2009. 22 Roh: Nach-Expressionismus, S. 30-31.

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ständnisses. Carpentier in seinem wegweisenden literarischen Manifest „De lo real maravilloso americano“23 bezieht sich dezidiert sowohl auf Roh wie auch auf die Surrealisten in seiner Positionierung des Magischen Realismus. Carpentier, wie die Gruppe um Césaire, war ebenfalls in Paris in den 1920er und -30er Jahren und besuchte wie Breton die Inseln Martinique und Haiti. Aus diesen Erfahrungen des Exils, dem deutschen Magischen Realismus, dem französischen Surrealismus und seiner eigenen Lebenswelt der kubanischen Karibik, deklarierte Carpentier jenen „realismo maravilloso americano“ in Anerkennung des europäischen Einflusses, aber auch in deutlicher Abgrenzung davon. Carpentier war bahnbrechend in der Begründung, dass eine Vorstellung des Magischen Realismus untrennbar mit der Mischung kultureller Systeme verbunden sei, wie sie sich (nur) in der außergewöhnlichen Lebenswelt Lateinamerikas niederschlage. In Abwendung von Rohs kalter Künstlichkeit propagierte er eine für ganz Amerika geltende Realität existierender Kontraste und Mischungen, die sich nicht per Manifest erzeugen lassen müssten, sondern real existent seien. Aufgrund der realen Erfahrung des Magischen, die einem überall auf Haiti begegne, schrieb er: „I was moved to set this recently experienced marvelous reality beside the tiresome pretension of creating the marvelous that has characterized certain European literatures over the past thirty years. […] that old deceitful story of the fortuitous encounter of the umbrella and the sewing machine on the dissecting table.“24

Diesem Hieb gegen die französischen Surrealisten, die er als zu Bürokraten gewordene Traumtechniker bezeichnete und denen er eine Armut der Vorstellungskraft attestierte, fügte er noch ein weiteres Kontrastpaar hinzu,

23 Teile des Manifestes von Alejo Carpentier wurden 1949 als Vorwort für Carpentiers Roman El reino de este mondo veröffentlicht, der Gesamttext erst 1967 in seiner Essaysammlung Tientos y diferencias. Ich zitiere aus der letzteren Fassung in englischer Übersetzung von Tanya Huntington und Lois Parkinson Zamora: Alejo Carpentier: „On the Marvelous Real in America“, in: Louis Parkinson Zamora und Wendy B. Faris (Hrsg.): Magic Realism: Theory, History, Community, Durham 1995, S. 75-88. 24 Carpentier: „On the Marvelous Real“, S. 84f.

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dessen Charakterisierung Carpentiers kulturdifferente Position und damit die Brisanz der transatlantischen Wechselbeziehung deutlich vor Augen führt: „But observe that when André Masson tried to draw the jungle of Martinique, with its incredible intertwining of plants and its obscene promiscuity of certain fruit, the marvelous truth of the matter devoured the painter, leaving him just short of impotent when faced with blank paper. It had to be an American painter – the Cuban, Wifredo Lam – who taught us the magic of tropical vegetation, the unbridled creativity of our natural forms with all their metamorphoses and symbioses on monumental canvases in an expressive mode that is unique in contemporary art.“25

K REOLISCHE R EPLIKEN : C ARPENTIER /M ASSON UND F ANON /C ÉSAIRE Carpentier in seinem Verriss des europäischen Versuchs, karibische Natur darzustellen, bezog sich hier auf die Zeichnungen, die André Masson zu Texten von Breton verfertigte und als Martinique: Charmeuse de serpents 1947 veröffentlichte. Die Verschmelzung von körperlichen – weiblich anmutenden – Formen mit der Pflanzenwelt der Tropen zu traumhafthybriden Landschaften beschrieben Breton und Masson ihrerseits in einer Sequenz dieser Kollaboration, die sie „Kreolischer Dialog“ nannten, in rhapsodisch-lyrischer Prosa: „Alles ist hier an seinem Platz geblieben, seit so ewiger Zeit. Und man wird schließlich gewahr werden, dass die surrealistischen Landschaften am wenigsten willkürlich sind. Es ist fatal, dass sie ihre Lösung gerade in jenen Ländern finden, wo die Natur in nichts gebändigt wurde. […] Man mag sich fragen, inwiefern die Dürftigkeit der europäischen Vegetation verantwortlich ist für die Flucht des Geistes nach einer imaginären Flora. […] Es versteht sich, dass ich nicht die Kunst der Nachahmung rehabilitieren will, aber hier schiene sie mir doch weniger verfehlt. […] Ja, wir haben uns an die pflanzenhafte Stärke verloren; und dennoch: wie bezeichnend ist doch das unabweisbare Bedürfnis, das wir verspürten, uns an einem Ort der Na-

25 Ebd., S. 85.

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tur; an dem gerade das Ungeformte, der fehlende Rahmen zu überwiegen scheint, über die Gleichmäßigkeit der Formen zu unterhalten!“26

Während also Breton und Masson die tropische Welt von Martinique als Realisierung surrealistischer Imagination erleben, spricht Carpentier von der künstlerischen Schaffenskrise der Europäer. Der Kontrast zwischen dem künstlerisch impotenten, weil ‚falschen‘ französischen Zauberer Masson und dem wahren kubanischen Magier Lam führt Carpentier zur Conclusio, dass in Europa der Zugriff auf das Magische verloren gegangen ist, während in Amerika – und er meint Lateinamerika – das Magische noch entdeckt werden muss oder vielmehr aus der synkretistischen kulturmischenden Erfahrung der Kolonisierung erst extrahiert werden kann: „[…] the presence and vitality of this marvelous real was not the unique privilege of Haiti but the heritage of all of America, where we have not yet begun to establish an inventory of our cosmogonies. […] Because of the virginity of the land, our upbringing, our ontology, the Faustian presence of the Indian and the black man, the revelation constituted by its recent discovery, its fecund racial mixing (mestizaje), America is far from using up its wealth of mythologies.“27

Carpentier schließt seinen Appell an eine Neuentdeckung und Aufarbeitung der mit Magie durchsetzten Geschichte der Neuen Welt mit der pointiertrhetorischen Frage: „After all, what is the entire history of America if not a chronicle of the marvelous real?“28 Carpentiers Manifest macht offenkundig, dass der heute fast ausschließlich für den lateinamerikanischen Kontext rekrutierte Begriff des Magischen Realismus eine weitaus komplexere Geschichte birgt. Er selbst führt diese Geschichte zurück auf die Kunstavantgarden der europäischen Moderne, mit der der Magische Realismus immer wieder in Wechselwirkung trat; er bekräftigt aber auch die Bemühung einer steten Abgrenzung von Europa in einer Betonung der Besonderheit eines amerikanischen Modells nicht zuletzt in der Frage der Rassenmischung, die

26 André Breton und André Masson: Martinique: Kreolischer Dialog, übers. v. Rolf Wintermeyer, Frankfurt a. M. 1981, S. 1f. und 10. 27 Carpentier: „On the Marvelous Real“, S. 87f. 28 Ebd., S. 88.

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Carpentier bei der Betrachtung des ‚wahren‘ Magischen Realismus für grundlegend erachtet. Lediglich die Bilder seines Landsmannes Wifredo Lam, und hier besonders das durch dessen Aufenthalt in Martinique inspirierte Gemälde The Jungle, anerkennt Carpentier als Ausdruck des ‚wahren’ Amerika. Und dieses Amerika, freilich, ist nicht jenes imperiale anglozentrische weiße Nordamerika, sondern das Amerika der „négritude“. Und doch bleibt in der Geschichtsschreibung insgesamt seltsamerweise unberücksichtigt, wie sehr die Karibik als kulturelle Drehscheibe der transatlantischen Moderne fungierte. So bleibt Carpentiers Schlagabtausch mit der Künstlergruppe um Césaire im Kontext des Magischen Realismus in der Rezeption nahezu unbeachtet und dies, obwohl sich Carpentier selbst die Haitianische Revolution, und damit die französische Karibik, für sein Programm des Magischen Realismus in seinem Roman El reino de este mundo zunutze machte.29 Im Hinblick auf die Bedeutung der „négritude“ für ein Fortbestehen der Avantgarden meint der haitianische Dichter Paul Laraque, angeregt durch seine Begegnungen mit Breton auf Haiti, noch 1971, dass die einzige wirkliche dichterische Bewegung des Jhs. die des Surrealismus gewesen sei, weil sie Poetik und Politik zu vereinen wusste und ihre Ausdehnung und Erneuerung in der „négritude“ fand, die er als ihr „farbiges Kind“ bezeichnet.30 Bretons eigentümlicher Rassismus in der Beschreibung Césaires bekommt hiermit eine andere Nuance, die Frantz Fanon in seiner grundlegenden Studie zur kolonialen Situation, Peau noire, masques blancs (1952), als das Dilemma der Assimilation beschrieb, nämlich Franzose mit schwarzer Haut zu sein und damit in jenem Grad der Verneinung der eigenen Kultur gefangen zu sein, der den Schwarzen gerade mal über den Status des Dschungels erhob im Verhältnis zu seiner Annahme der kulturellen Standards des Mutterlandes:

29 Siehe María-Elena Angulo, die Carpentiers Roman neben Márquez’ Cien años de soledad als kanonischen Gründungstext des „realismo maravilloso“ liest. María-Elena Angulo: Magic Realism: Social Context and Discourse, New York 1995, S. 19-47. 30 Paul Laraque: „André Breton in Haiti“, übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 217-228, hier: S. 228.

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„All colonized people – in other words, people in whom an inferiority complex has taken root, whose local cultural originality has been committed to the grave – position themselves in relation to the civilizing language: i.e., the metropolitan culture. The more the colonized has assimilated the cultural values of the metropolis, the more he will have escaped the bush. The more he rejects his blackness and the bush, the whiter he will become.“31

Fanon begrüßte daher dezidiert Césaires Rückkehr von Paris in die karibische Heimat und dessen dortiges Bemühen um die Belange der „négritude“. So schreibt er, dass „a European familiar with the current trends in black poetry would be amazed to learn that as late as 1940 no Antillean was capable of thinking of himself as black. It was only with Aimé Césaire that we witnessed the birth and acceptance of negritude and its demands.“32 Und Fanon zitiert Césaire als Garant für eine erfolgreiche, produktive Rebellion: „No matter how white one paints the base of the tree, the strength of the bark screams underneath.“33

L EIDENSCHAFT UND M AGIE : C ÉSAIRES P OLITPOESIE UND H AITIS R EVOLTE Césaires Zeitschrift Tropiques, so essentiell für Bretons Erlebnis karibischer Dichterkraft, hatte eine dreifache Zielsetzung: sie war gegen Frankreichs kolonialen Imperialismus gerichtet, sie sah sich als Sprachrohr für einen internationalen Surrealismus und sie propagierte ein distinktes schwarzes Bewusstsein, das Césaire mit dem Schlagwort „négritude“ besetzte. Es war zu einem großen Teil dem Aufenthalt in Paris und der Rückkehr in die Karibik geschuldet, dass Césaire mit dem Erscheinen von Tropiques ab 1941 – wie auch dann Wifredo Lam mit seinem Jungle – einen

31 Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, übers. v. Richard Philcox, New York 2008, S. 2-3. 32 Ebd., S. 131. 33 Aimé Césaire: „And the Dogs Were Silent“, in: ders.: Lyric and Dramatic Poetry 1946-1982, übers. v. Clayton Eshleman und Annette Smith, Charlottesville 1990, S. 21, hier: zit. nach Fanon: Black Skin, S. 175.

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transatlantischen Dialog eröffnete, der ein spezielles ‚amerikanisches‘ Empfindungsvermögen im Austarieren zwischen dem Realen und dem Magischen installierte. In der ersten Ausgabe rekurrierte Césaire auf den fehlenden Widerstand des kolonisierten Volkes und leitete über zum Bekenntnis der Leidenschaft, zu einem Leben im Zeichen der Poesie. Ganz unzweifelhaft waren für Césaire Politik und Poetik untrennbar miteinander verbunden: „This land is suffering from a repressed revolution. Our revolution has been stolen from us. […] The Martiniquan revolution will be made in the name of bread, of course; but also in the name of fresh air and poetry (which comes to the same thing). […] We want to be able to live passionately.“34

Césaires Texte sind generische Hybride in ihrer Mischung aus Artikel, Essay, Gedicht und Pamphlet. In jedem Fall zeugen sie von der poetischen Schlagkraft seiner Kampfesrhetorik. So führte er in derselben ersten Ausgabe von Tropiques die Propagierung des leidenschaftlichen Lebens in einem anderen Beitrag fort, hier das Programm der karibischen Revolution ausrufend, dessen lyrische Sprachgewalt Breton so beeindruckte: „Wherever we look, the shadow is encroaching. One after the other the home fires are extinguished. The circle of shadow closes in, amid the cries of men and the howls of beasts. Yet we are the kind who refuse the shadow. We know that the world’s salvation depends on us too.“35 Und in einer weiteren manifestartigen Schrift „Calling the Magician: A Few Words for a Caribbean Civilization“ von 1944 machte er noch deutlicher, wie die poetischpolitische Revolution aussehen sollte, und es zeigt sich, dass es um das Verhältnis zum Realen ging, wenn er schrieb: „The Caribbean has no civilization because the Caribbean shuns poetry. Scandalously. / We have lost

34 Aimé Césaire: „Panorama“, orig. in: Tropiques 1 (1941), hier: übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 79-81. 35 Aimé Césaire: „Presentation“, orig. in: Tropiques 1 (1941), hier: übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 88.

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the meaning of the symbol. The literal has devoured our world. Scandalously.“36 Statt dem Buchstäblichen zu verfallen, galt es, das Magische zurückzugewinnen: „The most vital thing is to re-establish a personal, fresh, compelling, magical contact with things. The revolution will be social and poetic or will not be. I'm calling upon the magician. […] I'm calling upon the Enraged.“37

In seiner Aufrufung des Magiers verwarf Césaire in radikaler Opposition zu Carpentier keineswegs die europäische Avantgarde und hier besonders den französischen Surrealismus, im Gegenteil bekannte er sich zu deren antibourgeoiser Politik: „A new attitude towards the object. After the exploitative nonsense that is our bourgeois, comfortable attitude, it is healthy and profoundly important that André Breton restores liberating, catalyzing and dangerous power to the object, that he gives back the profaned object its dignity of mystery and its radiant force […].“38 Wie Césaire glaubte auch seine Frau und Mitstreiterin Suzanne Césaire fest daran, dass der Surrealismus nach seinem Höhepunkt in Frankreich keineswegs totgesagt werden durfte, sondern im Gegenteil sich auf der ganzen Welt ausbreiten und jene zeitgenössischen Gegensätzlichkeiten wie weiß/schwarz, Europa/Afrika oder zivilisiert/primitiv überwinden würde. Apodiktisch deklarierte sie daher: „Surrealism – the tightrope of our hope.“39 Suzanne Césaires Bekenntnis zum Surrealismus war eine direkte Re-

36 Aimé Césaire: „Calling the Magician: A Few Words for a Caribbean Civilization“, orig. in: Haiti-Journal (20. Mai 1944), hier: übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 119-122, hier: S. 120-121. 37 Ebd., S. 121-122. 38 Ebd., S. 122. 39 Suzanne Césaire: „1943: Surrealism and Us“, orig. in: Tropiques 8-9, 1943, hier: übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael

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aktion auf existierende Blockaden und angedrohte Invasionen durch die US-amerikanische Regierung und damit einerseits pro-französisch in seiner politischen Stoßrichtung, aber durchaus auch ein Wiederaufrufen der surrealistischen Forderung nach Freiheit in Kunst und Leben. Diese proklamierte Internationalisierung des Surrealismus erlebte in der Tat im historischen Augenblick der Verkündung auch den entscheidenden Höhepunkt: Nicht nur kam es zu einer unverhofften Sichtbarkeit karibischer Kunst im Zeichen des Magischen Realismus durch eine Figur wie Wifredo Lam, sondern auch zu einem unerwarteten politischen Aktionismus durch Bretons öffentlichen Auftritt in Haiti. Nach seinem ersten Aufenthalt in Martinique, kam Breton 1945 nach Haiti und sprach dort zu Studenten. Er bekräftigte eine Affinität des Surrealismus mit Völkern anderer Hautfarbe, weil diese „had remained closest to the sources, and [ ] in the essential development of surrealism, which has consisted in making heard the interior voices within each human being, we have found ourselves linked from the beginning with ‚primitive‘ thought, which remains less alien to you than to us and demonstrates a remarkable strength in Haitian voodoo. In periods of great social and moral crisis, I believe it is indispensable that we enquire into primitive thought, to rediscover the fundamental aspirations, the incontestably authentic aspirations, of mankind.“40

Nicht nur die Sprache der kämpferischen Dynamik war für den Westen ein Affront, speziell für Frankreich war die ehemalige ‚Perle der Karibik‘ seit dem einzigen langfristig erfolgreichen Sklavenaufstand und der Etablierung der ersten schwarzen Demokratie 1804 eine bleibende Schmach. Die surrealistische Gruppe hatte neben ihrer ästhetischen Revolution immer auch schon eine dezidiert anti-koloniale Haltung artikuliert, und hier fand sie nun tatsächlich auch eine politische Plattform. Bretons Vorlesungen waren wesentlicher Auslöser für den Sturz der haitianischen Regierung im Folgejahr,

Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 123-126, hier: S. 126. 40 André Breton: What Is Surrealism?, hrsg. v. Franklin Rosemont, London 1978, S. 256, zit. nach Michael Richardson: „Introduction“, in: ders. (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 23-24.

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einer Regierung, die marionettenhaft von den imperialen Staatsinteressen der USA geleitet war und sich nun mit dem neuen schwarzen Regierungschef Dumarsais Estimé in eine progressive Phase politischer und kultureller Emanzipation der Schwarzen begab. Besonders wenn man bedenkt, dass im Unterschied zu Haiti Martinique seit 1946 – also demselben Jahr – eine französische Überseeregion ist und damit heute als vollintegrierter Teil des französischen Staates auch Teil der Europäischen Union, mag niemand im Westen darüber mehr erstaunt gewesen sein über die haitianische Revolte als Breton selbst, dessen Vorlesungsreise pikanterweise von amerikanischen Geldern gesponsert wurde. Und doch war auch der zeit- und ortsgleich stattfindende Auftritt eines anderen Künstlers nicht weniger schockierend und für die Manifestation eines karibischen Magischen Realismus nicht minder wegweisend: gemeint ist die Ausstellung der Bilder von Wifredo Lam.

„R EFUSING TO P AINT C HA -C HA -C HA “: L AMS D SCHUNGEL Lam hatte Breton in Paris kennengelernt und dessen surrealistische Ideen führten Lam zu einer Hinwendung zu fantastischen Kreaturen; beispielhaft hierfür sind seine Illustrationen für Bretons Dichtung Fata Morgana (1940). Gemeinsam mit Breton und etwa dreihundert weiteren Flüchtlingen überquerte Lam im Frühjahr 1941 den Atlantik von Marseilles nach Martinique, wo sie sechs Wochen im Hafen interniert blieben, es handelt sich um jene Erfahrung, auf die Breton in seiner Hommage an Césaire anspielte. Diese gemeinsamen Erfahrungen des Exils diesseits und jenseits des Atlantik, aber auch das künstlerische Kollaborieren, sollten eine Freundschaft zwischen Lam und Breton gründen, die die beiden bis zu Bretons Tod zwanzig Jahre später verband. Nach Lams Rückkehr aus Frankreich mischte sich seine europäisch geprägte, postkubistisch-modernistische Ästhetik mit karibischen Motiven, hier vor allem mit tropischer Flora, zu einer synkretistischen Stilfusion, die in seinem bekanntesten Werk, The Jungle von 1942-43, gipfelte. Obwohl die exotischen Pflanzen auf seinen Bildern nachweislich realiter existierten, erfüllten sie hier keine literale Funktion, sondern vielmehr eine vom Surrealismus beeinflusste metamorphische Pflanze-Tier-Mensch-Union. Seine

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Inklusion von afrikanischen Motiven war völlig neu und revolutionär für die kubanisch-karibische Kunst der Zeit, traf aber mit Césaires NégritudeBewegung zusammen und erweiterte diese poetisch-politische Bewegung ins visuell Künstlerische. In der Wiederentdeckung afrokaribischer Kultur verwehrte er sich auch vehement gegen die touristische Verwässerung beispielsweise von Musik und Tanz, die ursprünglich auf religiöser Inspiration (vor allem der kubanischen Santería, aber auch dem haitianischen Voodoo) beruhten, durch Darbietungen in Tanzclubs und visuellen Medien wie Film und Fernsehen. Sein Credo mündet hier ist unmissverständlich in seine Abkehr von massentauglicher Popularität: „I decided that my painting would never be the equivalent of the pseudo-Cuban music for nightclubs. I refused to paint cha-cha-cha. I wanted with all my heart to paint the drama of my country, but by thoroughly expressing the Negro spirit, the beauty of the plastic art of the blacks. In this way I could act as a Trojan horse that would spew forth hallucinating figures with the power to surprise, to disturb the dreams of the exploiters.“41

Im Vergleich zu den idyllischen Dschungelbildern eines Henri Rousseau – beispielsweise Le Rêve (1910) –, wo Mensch, Tier und Natur quasi paradiesisch freundschaftlich miteinander verkehren, wird Lams Radikalität deutlich. Bei ihm zeigt sich „eine fruchtbare, ungezügelte, sexuell potente und ebenso gewalttätige wie grausame Symbiose aus Mensch, Tier und Natur.“42 Die Figuren stehen auf riesigen Füßen fest am Boden, die Köpfe und Gliedmaßen haben sowohl animalische wie menschlich-genitale Formen. Gleichzeitig sind sie mit der Natur verbunden, die Arme und Beine stehen in engster Verschlingung mit Bambus- und Zuckerrohrstäben. Lam sagt über sein Bild selbst:

41 Zitiert nach Valerie Fletcher: Crosscurrents of Modernism: Four Latin American Pioneers: Diego Rivera, Joaquín Torres-García, Wifredo Lam, Matta, Washington, DC 1992, S. 179-181. 42 Anette Kruszynski: „Wifredo Lam: Eine Einführung in Leben und Werk“, in: Ulrich Krempel (Hrsg.): Wifredo Lam, Düsseldorf 1988, S. 90-99, hier: S. 96.

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„Rousseau, you know, painted the jungle, in The Dream, The Hungry Lion, The Apes, with huge flowers and serpents. He was a magnificent painter, but not the same kind of painter as I am. He does not condemn what happens in the jungle. I do. Look at my monsters and gestures they make. The one on the right proffering its rump, obscene as a great whore. Look, too, at the scissors in the upper right-hand corner. My idea was to represent the spirit of the blacks in the situation in which they were then. I have used poetry to show the reality of acceptance and protest.“ 43

Auch Picassos Gebrauch von afrikanischen Masken in Gemälden wie Les Demoiselles d’Avignon (1907), radikal zu seiner Zeit besonders in der Verknüpfung mit der Darstellung von Prostituierten, verblasst im Vergleich zu Lams Einsatz solcher Masken. All diese Dschungelgemälde, von Rousseau, Picasso und Lam, zeigen metamorphische Gestalten, die ins Groteske reichen, aber besonders in der Maske „offenbart sich sehr deutlich das Wesen des Grotesken“, wie Michail Bachtin bekräftigte, da die Maske „für Übergänge, Metamorphosen, Verstöße gegen natürliche Grenzen“ stehe.44 In diesem Sinne zeigt Lams Gemälde kein Paradies, im Gegenteil: Er verkehrt die Körperteilung, indem er die Reproduktionsorgane von der unteren Körperhälfte zur oberen erhöht, womit er aber die grotesken Konnotationen der unteren Körperhälfte gerade betont.45 Trotz der Authentizität einzelner Pflanzen ist Lams Evokation des Dschungels insgesamt keine wirklichkeitsgetreue Rekreation, auf Kuba gibt es gar keinen Dschungel. Die Pflanzen, allen voran das Zuckerrohr, sind vielmehr Symbole für die Ausbeutung des Landes und die Versklavung seiner Bewohner. Ebenso ist die Anspielung auf Prostitution ein Wachrufen der rassistischen Kolonialgeschichte, wonach farbige Sklavinnen von ihren weißen Herren gewaltsam sexuell missbraucht wurden und zur erzwungenen Rassenmischung der Region beitrugen. Die ‚Mulattinnen‘ – Produkt dieser kolonialen Hybridisierung –

43 Zitiert nach Michèle Praeger: The Imaginary Caribbean and Caribbean Imaginary, Lincoln 2003, S. 79f. 44 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt a. M. 1995, S. 90f. Zum Zusammenhang von Magischem Realismus und Groteske siehe auch David K. Danow: The Spirit of Carnival: Magical Realism and the Grotesque, Lexington 1995. 45 Vgl. ebd., S. 76.

B RETON AUF H AITI | 61

wiederum zeugen als die ethnisch begehrtesten Prostituierten von einer kontinuierlichen sexuellen wie kulturellen Ausbeutung. Lam gelingt hier das, was den tri-kulturellen Synkretismus des karibischen Magischen Realismus auszeichnet: er attackiert den Kolonialismus durch eine Bekräftigung afrikanischer Wurzeln und Spiritualität mittels afrokaribischer Kunst. Als solches ist sein Werk eines des Widerstandes. Künstlerisch gesehen verdankt es seine Schockwirkung vor allem der Hybridisierung von Pflanzen, Tieren und Menschen, und damit tritt seine Ästhetik in einen Dialog mit der des kontinentalen Surrealismus. Die Masken der europäischen Modernisten sprachen allerdings von einem Primitivismus, der, in Bachtins Terminologie, fernab vom „organischen Ganzen der Volkskultur funktionierte“, während Lam „die Unerschöpflichkeit und Vielgestaltigkeit des Lebens“, die sich hinter der Maske verbirgt, aufzeigt.46 Der französische Surrealist Pierre Mabille spricht hier von der Evokation eines rhythmisierten Universums, in dem die Bäume, Blumen, Früchte und Geister miteinander tanzend verkehren, „where life explodes on all sides, free, dangerous, gushing from the most luxuriant vegetation, ready for any combination, any transmutation, any possession.“47 Wie Césaire in seinen Texten mischt auch Lam in dem Gemälde Anklänge des kolonialen, exotischen Raumes (die Tropen bei Césaire, der Dschungel bei Lam) mit neuen, subversiven Bedeutungen zu einer Ästhetik der Herausforderung, einem „poetic tease on which Césaire and Lam’s aesthetics of refusal, of resisting, of adding imaginary rupture to colonial authority, thrives.“48 Der Kreis der Appropriierungen und Reappropriierungen schließt sich, denn in dem Maße, wie afrikanische Kunst den

46 Ebd., S. 91. 47 Pierre Mabille, „The Jungle“, orig. in: Tropiques 12 (1945), hier: übers. v. Krzysztof Fijakowski und Michael Richardson, in: Michael Richardson (Hrsg.): Refusal of the Shadow: Surrealism and the Caribbean, London 1996, S. 199212, hier: S. 212. Siehe auch Julia P. Herzberg, die den Tanz ebenfalls betont: „Slowly and rhythmically the group – amalgams of human, plant, and animal forms – dances in honor and celebration of the spiritual, life-giving forces found in all aspects of nature“ („Wifredo Lam: The Development of a Style and World View, The Havana Years, 1941-1952“, in: Maria R. Balderrama: Wifredo Lam and His Contemporaries 1938-1952, New York 1992, S. 31-51, hier: S. 37). 48 Schmeisser: Transatlantic Crossings, S. 306.

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modernistischen Primitivismus Europas inspiriert hat, haben die in Europa geschulten afrokaribischen Vertreter der Négritude und des Magischen Realismus das Afrikanische ihrer eigenen Kultur (wieder)entdeckt. Abbildung 1: Wifredo Lam, The Jungle (1942-43)

New York, Museum of Modern Art (MoMA), digitale Bibliothek, http://www.moma.org/collection/object.php?object_id=34666

Wirklichkeit zwischen Zeugnis und Kunst Primo Levi und Natalia Ginzburg

C HRISTIANE S OLTE -G RESSER

F RAGESTELLUNG Zu Beginn des 21. Jhs. stellt sich die Frage nach der Repräsentation geschichtlicher Wirklichkeitserfahrung in besonders dringlicher Art und Weise. Wenn die Überlebenden des Holocaust und des Faschismus nicht mehr selbst sprechen, inwiefern kann und soll dann die Kunst an die Stelle des Zeugnisses treten? Wo liegen die Potenziale und Grenzen des historischen Dokuments oder des literarischen Kunstwerks? Und ist eine stringente Unterscheidung der jeweiligen Diskurse überhaupt sinnvoll? Autoren, die im Nachkriegsitalien der 1940er Jahre zur Feder greifen, sehen sich aufgrund der Unmittelbarkeit der Ereignisse zu einer Infragestellung dezidiert literarischer Schreibweisen gezwungen. D.h., sie entwerfen ihre Texte nicht nur in radikaler Abkehr von einer faschistischen Ästhetik, sondern auch in Abgrenzung zu verschiedenen avantgardistischen Literatur- und Kunstkonzeptionen. Zumeist an veristische Traditionen anknüpfend, verstehen sie ihr Schaffen ausdrücklich als ethisch-politisches Projekt einer bestimmten Generation in einer ganz konkreten historischen Situation. Dennoch erweisen sich die grundlegenden Probleme, die neorealistische Schriftsteller und Regisseure umtreiben, wie Fragen nach der Authentizität und der Überführung des Erlebten in eine narrative Struktur oder die Suche nach einer dem Gegenstand angemessenen Sprache, als höchst aktuell gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um HolocaustRepräsentationen im 21. Jh. Erinnert sei nur an den viel beachteten „Fall

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Wilkomirski“ (1998), an Filme wie LA VITA È BELLA (1997) oder TRAIN DE VIE (1998), die unter dem Stichwort ‚Holocaust-Komödie‘ verhandelt werden, an die Auseinandersetzungen um adäquate Erinnerungsformen, wie diejenige um die römische Villa Torlonia, dem ehemaligen Wohnsitz Mussolinis, oder auch an Georges Didi-Hubermanns Images malgré tout (2004) und die dadurch ausgelösten Polemiken. Im Rahmen solcher Diskussionen erhält das Thema der Kunst auf der Grenze zwischen realistisch-dokumentarischen und fiktionalen Darstellungskonzepten eine besondere Brisanz, die zu einer erneuten Beschäftigung mit dem Neorealismus drängt. Die Schriften von Primo Levi und Natalia Ginzburg sind besonders eindrückliche Beispiele für eine solche Gradwanderung, die zu bewältigen hat, wer sich schreibend zwischen Zeitzeugenbericht, Autobiographie und literarischer Fiktion bewegt. Auf welche Weise gelangt hier das „beschädigte Leben“ (Adorno) in die Literatur? In einer möglichst textnahen Analyse bestimmter Ausschnitte aus Levis Se questo è un uomo und Ginzburgs Piccole virtù sollen die literarischen Gestaltungstechniken untersucht werden, mittels derer sich die Autoren zwar jenseits einer mimetischen Abbildungsund Unmittelbarkeits-Logik situieren, mit denen sie sich aber auch dagegen sperren, die erfahrene Realität für die Zwecke der ‚schönen‘ Literatur zu instrumentalisieren.

V ORBEMERKUNGEN

ZU DEN UNTERSUCHTEN

W ERKEN

Auch wenn der Grad der Kanonisierung und der Umfang an Forschungsliteratur voneinander abweichen,1 so gilt letztlich für Levi und Ginzburg

1

Levis Bericht kann sicherlich als eines der bekanntesten Werke der italienischen Literatur gelten. Bryan Cheyette zufolge wird Primo Levi jedoch erst seit 1985 allmählich von der Forschung entdeckt (vgl. Bryan Cheyette: „Appropriating Primo Levi“, in: Robert S. C. Gordon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge 2007, S. 67-85). Fontanella datiert den Beginn der Ginzburg-Rezeption außerhalb Italiens auf die Jahrtausendwende (vgl. Luigi Fontanella: „Natalia Ginzburg between Fiction and Memory: A reading of Le voci della sera and Lessico famigliare“, in: Angela M. Jeannet und Giuliana Sanguinetti Katz (Hrsg.): Natalia Ginzburg: A voice of the 20th Century, Toron-

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gleichermaßen: sprachliche und erzähltechnische Detailanalysen stehen bislang nicht im Zentrum der entsprechenden literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen.2 Die Gründe hierfür dürften jedoch recht unterschiedliche sein. Die Scheu, Levis Bericht über die Massenvernichtung der europäischen Juden konsequent als Literatur zu lesen, liegt freilich vor allem an der behandelten Thematik selbst.3 Sie wird aber zusätzlich genährt durch

to 2000, S. 32-45, hier: S. 32). Aber auch in Italien ist die Forschung zu Ginzburgs Werk kaum älter als 20 Jahre. 2

Eine Ausnahme bilden die intertextuellen Dimensionen des Levi’schen Schreibens, die detailliert erforscht sind, z.B. durch Simbürger, der es darum geht, auf der Grundlage der Stilnormen Levis die Schreibweise von Se questo è un uomo zu untersuchen (vgl. Brigitta Elisa Simbürger: Faktizität und Fiktionalität: Autobiografische Schriften zur Shoah, Berlin 2009, S. 11), sowie die rhetorischen und stilistischen Analysen Mengaldos, der allerdings Fragen der Erzähltechnik ausspart, sie nur in wenigen Fällen auf das dargestellte Geschehen zurück bezieht und daher kaum in ihrer Funktion oder Wirkung im Hinblick auf die Holocaust-Thematik deutet (vgl. Pier Vincenzo Mengaldo: „Lingua e scrittura in Levi“, in Ernesto Ferrero (Hrsg.): Primo Levi: un’antologia della critica, Turin 1997, S. 169-242). Darüber hinaus legen auch Cesare Segre und Cesare Cases sprachliche Untersuchungen zur Schreibweise vor (Cesare Cases: „La fortuna critica“, S. 5-33; Cesare Segre: „I romanzi e le poesie“, S. 91-116, beide in: Ernesto Ferrero (Hrsg.): Primo Levi: un’antologia della critica, Turin 1997). Auf die Fülle der rhetorischen Formen und die literarischen Qualitäten verweist auch – ohne allerdings eine einzige zu nennen – Zaccaro (vgl. Zaccaro: Dire l’indicibile: Primo Levi fra testimonianza e racconto, Lecce 2002, S. 56). Was Analysen zur Schreibweise Ginzburgs betrifft, so wären die Stil-Studien Grignanis hervorzuheben (vgl. Maria Antonietta Grignani: Natalia Ginzburg: La narratrice e i suoi testi, Rom 1986, S. 41-56) sowie die Erzähltechniken, die Fontanella (vgl. Fontanella: Natalia Ginzburg between Fiction and Memory, S. 32-45) – allerdings auf der Grundlage zweier Romane von Ginzburg – herausarbeitet.

3

Lepschy und Lepschy (vgl. Anna Laura Lepschy und Giulio Lepschy: „Primo Levi’s Languages“, in: Robert S. C. Gordon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge 2007, S. 121-136) vertreten die These, dass bis 2007 „emphasis less on precise textual analysis and more on his own views on language and style“ (S. 121) gelegt wurde. Vgl. auch Cesare Segre: „Si ha riten-

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eine vom Autor gesteuerte Perspektive.4 Dass Ginzburgs Texte hingegen kaum zum Gegenstand eigenständiger rhetorisch-erzähltechnischer Studien gemacht wurden, mag unter anderem mit der immer wieder konstatierten Einfachheit und Transparenz ihres Schreibens zusammenhängen;5 eine si-

go a giudicare con criteri estetici un libro che ha dietro tanta sofferenza personale“ (Segre zit. nach Lepschy/Lepschy: Primo Levi’s Languages, S. 121). 4

Dieser betont zunächst, er habe seinen Bericht spontan und ohne die geringste literarische Absicht niedergeschrieben; eine Aussage, die er später ausdrücklich revidiert und als Legende bezeichnet (vgl. Daniela Amsallem: „Images littéraires et figures mythiques dans l’œuvre de Primo Levi“, in: Chroniques italiennes 31 (1992), S. 7-26, hier: S. 7-11). Vgl. hierzu Ian Tomson: „Writing If this is a Man“, in: Joseph Farell (Hrsg): Primo Levi: the austere humanist, Oxford 2004, S. 141-160, hier: S. 147. Hier findet sich auch die gesamte Publikationsgeschichte rekonstruiert: Natalia Ginzburg hatte das Manuskript zunächst abgelehnt und diese Entscheidung später als „errore“ bezeichnet (vgl. Tomson: Writing If this is a Man, S. 156). Wie bewusst sie auch immer konstruiert sein mögen, so zeigen schon allein die zahlreichen expliziten und impliziten intertextuellen Bezüge, dass Levis Bericht bei aller „Präzedenzlosigkeit“ des berichteten Geschehens auf der Folie eines klassisch westeuropäischen und bildungsbürgerlich geprägten Kulturhorizontes entstanden ist (Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 80).

5

„Devo poter parlare chiaro e spiegare tutto. Quando scrivo, ho sempre paura di non essere abbastanza chiara“, „Desidero che in un romanzo tutto sia disteso, aperto, limpido. Desiero sapere dove mi trovo, come sono e chi sono le persone, desidero sapere subito cosa sta succendo“ (nach Luciana Marchionne Picchione: Natalia Ginzburg, Florenz 1978, S. 7 f. zitierte Interviewaussagen aus Panorama von 1973, die Ginzburg selbst zur Charakterisierung ihres Schreibens heranzieht. S. hierzu auch Il Mondo vom 24.1. 1971), vgl. Enrico Testa: „Lo stile semplice del racconto di Natalia Ginzburg“, in: Nuova Corrente (Rivista semestrale di critica letteraria e filosofica) 42 (1995), S. 27-50; Elena Gagliardi: „Forme delle ripetizione nei romanzi epistolari di Natalia Ginzburg“, in: Francesco Gatta u.a. (Hrsg.): Lingua d’autore: Letture linguistiche di prosautori contemporanei, Rom 2000, S. 63-97 und Jean Wienstein: „The Eloquence of understatement: Natalia Ginzburg’s Public Image and Literary Style“, in: Angela M. Jeannet und Giuliana Sanguinetti Katz (Hrsg.): Natalia Ginzburg: A voice of the 20th Century, Toronto 2000, S. 179-196.

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cherlich korrekte Einschätzung, die aber womöglich dazu geführt hat, dass eine detaillierte Analyse schlicht unnötig scheint. Weil es nicht ganz unproblematisch ist, Levi und Ginzburg hier unter derselben Fragestellung zu behandeln, seien in aller Kürze einige differenzierende Bemerkungen hinsichtlich ihrer ‚Vergleichbarkeit‘ angestellt. Beide eint die persönliche Erfahrung des faschistischen Terrors,6 dem sie als jüdische und antifaschistische Autoren allerdings in ganz unterschiedlicher Weise ausgesetzt sind. Während man Levis autobiographischen Bericht Se questo è un uomo, den er als Auschwitz-Überlebender nach seiner Rückkehr verfasst, geradezu exemplarisch der Lager-Literatur oder der Holocaust-Literatur zurechnet,7 kann diese Klassifizierung für keinen von Natalia Ginzburgs Texten gelten. Im Fokus ihres autobiographischen Werks stehen die familiären Erfahrungen der Resistenza, der Verbannung durch Mussolini und die Veränderungen, welche die politischen Ereignisse für das Alltagsleben aller Beteiligten bedeuten.8

6

Diese Gemeinsamkeit scheint Levi offensichtlich selbst zu betonen: „There is no doubt that Levi saw common ground in Natalia’s wartime suffering“ (Tomson: Writing If this is a Man, S. 156).

7

Zur „Lager-Literatur“, vgl. Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur, Berlin 1999. Zur Begriffsverwendung orientiere ich mich an Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 15-19, deren Überlegungen wiederum vor allem auf der Grundlage von James E. Young: Beschreiben des Holocaust: Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a. M. 1997 entstanden sind.

8

Zur Konzentration auf die Familie als tribù jüdischer, linksgerichteter, antifaschistischer und im öffentlichen Leben stehender Intellektueller, vgl. Carlo Prosperi: „Il linguaggio della tribù: una lettura di Lessico famigliare di Natalia Ginzburg“, in: Giovanna Ioli (Hrsg.): Natalia Ginzburg: La casa, la città, la storia, San Salvatore Monferrato 1995, S. 59-74 und Franco Pappalardo La Rosa: „Caro Michele o dell’inutilità delle parole“, in: Giovanna Ioli (Hrsg.): Natalia Ginzburg: La casa, la città, la storia, San Salvatore Monferrato 1995, S. 75-86, hier: S. 75. Ruth Mader zählt das Werk Ginzburgs ausdrücklich zu einer „Literatur der Gezeichneten“ (Ruth Mader: „E bello raccontare i quai passati?“ Konstanten einer „Literatur der Gezeichneten“ im Kontext des italienischen Faschismus am Beispiel dreier jüdischer Zeitzeugen: Primo Levi, Natalia Ginzburg, Giorgio Bassani, Freiburg i. Br. 1999) und liest es im Kontext des italienischen Faschismus ebenfalls zusammen mit Primo Levi (und Giorgio Bassani).

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Primo Levi konzentriert sich in Se questo è un uomo auf die eigenen Erfahrungen während der Internierung im Vernichtungslager Auschwitz (bzw. im Arbeitslager Buna-Monowitz), auf den Versuch, das der Massenvernichtung zugrundeliegende System zu verstehen, vor diesem Horizont Erkenntnisse über das Menschsein unter extremsten Bedingungen zu gewinnen und von diesen Erfahrungen Zeugnis abzulegen.9 Auch Ginzburg sieht sich verpflichtet, schreibend an jenen „abisso incolmabile“10 zu gemahnen, der ihr zufolge die Welt unwiederbringlich in ein Vor und ein Nach dem Faschismus trennt.11 Dieser Abgrund ist für Natalia Ginzburg selbst untrennbar mit dem Tod ihres Ehemanns verknüpft, der die italienische Resistenza-Gruppe Giustizia e libertà gegründet hatte und 1944 von der Gestapo ermordet wurde. Ein solcher Bruch findet sich allerdings in ihrem Werk durchweg thematisiert innerhalb einer Alltagsrealität, deren bewusst gewählte lebensweltliche ‚Normalität‘ denkbar weit von den Erfahrungen eines Primo Levi entfernt ist.12 Was Levi und Ginzburg aber eint und sie  aller Problematik der entsprechenden Definitionskategorien zum Trotz  zu neorealistischen Auto-

9

Besonders präzise wird dies von Levi formuliert in Gabriella Poli und Giorgio Calcagno (Hrsg.): Echi di una voce perduta: Incontri, interviste e conversazioni con Primo Levi, Mailand 1992, S. 240 und Marco Belpoliti (Hrsg.): Primo Levi: conversazioni e interviste 1963 - 1987, Turin 1997, hier: z.B. 224f. „Io sento il mestiere di scrivere come un servizio pubblico che deve funzionare. Il lettore deve capire quello che scrivo“.

10 „Il figlio dell’uomo“, in: Natalia Ginzburg: Opere, Bd. I, Mailand 1986, S. 838. Alle Zitate von Natalia Ginzburg beziehen sich – mit Band und Seitenangabe – auf folgende Ausgabe: Natalia Ginzburg: Opere, 2 Bde., Mailand 1986. 11 Vgl. auch „non guariremo più di questa guerra. E inutile“ (I, 836). „Ma noi siamo legati a questa nostra angoscia e in fondo lieti del nostro destino di uomini“ (I, 838). 12 Zur Darstellung von Geschichte als alltägliche Familiengeschichte vgl. Cesare Garboli: „Prefazione“, in: Natalia Ginzburg: Opere, 2 Bde., Mailand 1986, S. 11-46, Angela M. Jeannet: „Natalia Ginzburg: Making a story out of History“, in: dies. und Giuliana Sanguinetti Katz (Hrsg.): Natalia Ginzburg: A voice of the 20th Century, Toronto 2000, S. 63-88 und Prosperi: Il linguaggio della tribù.

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ren macht,13 ist der Anspruch, die erlebte Wirklichkeit so schonungslos und unpathetisch wie möglich festzuhalten, die reflektierende Auseinandersetzung mit den Grenzen, an die ein solches Projekt unweigerlich stößt, die ausdrückliche ethisch-politische und moralische Dimension ihres Schreibens,14 verbunden mit einer radikalen Absage an bestimmte Formen traditionellen Erzählens, und das stete Ringen um eine der Thematik angemessene Sprache im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit,15 aber doch auf der Grundlage eines gewissen Vertrauens in deren aufklärerische und humanisierende Kraft. Ob es auch Gemeinsamkeiten gibt, was die erzähltechnische, rhetorische und stilistische Umsetzung dieser Intentionen betrifft, soll eine Analyse zweier Textausschnitte zeigen. Im Mittelpunkt steht je ein Kapitel von ca. fünf Seiten: „Iniziazione“ aus Se questo è un uomo16 und „Inverno in

13 Diese Einschätzung wird, besonders was Ginzburg betrifft, nicht durchgängig geteilt. Während sich nach Grignani in Ginzburgs Texten der Neorealismus erst allmählich ankündige (Grignani: Natalia Ginzburg, S. 42), gelten diese laut Marchionne als typisch neorealistisch (Marchionne Picchione: Natalia Ginzburg, S. 6f.), während sie für Sanvitale „lontani del neorealismo“ liegen (Francesca Sanvitale: „Natalia Ginzburg e la realtà“, in: dies. (Hrsg.): „Camera ottica“. Pagine di letteratura e realtà, Turin 1999, S. 51-65. hier: S. 52). 14 Vgl. Ginzburgs Essay „Il mio mestiere“, I, S. 839-854. Zur ethischen Dimension der Levi’schen Texte vgl. v.a. Carole J. Lambert: Ethics after Auschwitz? Primo Levi’s and Elie Wiesel’s Response, New York u.a. 2011 und Robert S. C. Gordon und Marco Belpoliti: „Primo Levi’s Holocaust vocabularies“, in: Robert S. C. Gordon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge 2007, S. 51-66, hier: bes. S. 62ff. 15 Vgl. Levi: Se questo è un uomo, Mailand 2005, S. 23: „Allora per la prima volta ci siamo accorti che la nostra lingua manca di parole per esprimere questa offesa, la demolizione di un uomo“. 16 Hier handelt es sich um ein Kapitel, das erst später unter Mitarbeit von Levis Ehefrau Lucia Mopurgo hinzugefügt wurde (vgl. hierzu Tomson: Writing If this is a Man, S. 141-161 und Miething, Christoph: „Primo Levi: Se questo è un uomo“ in: Manfred Lentzen (Hrsg.): Italienische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin 2005, S. 141-160). Philippe Mesnard hat ausführlich die beiden Versionen des Berichts von 1947 und 1958 auf ihre Literarizität hin verglichen. Das hinzugefügte Kapitel nennt er nicht, was aber andere

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Abruzzo“ aus den Piccole virtù.17 Eine besondere Nähe zwischen gerade diesen beiden Kapiteln entsteht dadurch, dass die Texte beide nicht nur dieselbe erzählte Zeit umfassen, sondern auch eine ähnliche Bewegung in Szene setzen: Aus dem zunächst unfassbaren Ereignis der Deportation bzw. der Verbannung wird ein Zustand von unabsehbarer Dauer. In beiden Texten werden die fremden Orte zunächst aus der Perspektive der Neuankömmlinge beschrieben, zugleich aber vom Standpunkt des späteren Erzählens reflektiert als eine fundamentale Erschütterung an der Grenze des Sagbaren. Die Wertung, die mit einer solchen rückblickenden Perspektive jeweils verbunden ist, könnte allerdings unterschiedlicher kaum sein. Levi ergreift mit seiner eigenen Geschichte zugleich das Wort für jene Millionen, deren systematische Vernichtung die Vernichtung von Millionen von Geschichten bedeutet. Insofern ist das Urteil von der ersten Zeile an eindeutig. Ginzburg spricht zwar ebenfalls im Namen einer ganzen Generation. Aber sie kommt zu dem persönlichen Schluss, dass jene Zeit in den Abruzzen „il tempo migliore della mia vita“ gewesen sei (I, 792). Doch für beide gilt: Durch die historischen Erfahrungen sehen sich die Überlebenden fortan zum Sprechen gezwungen; sie markieren eben den Punkt, der in beider Biographien mit der ausdrücklichen Selbstsetzung als Schriftsteller verbunden ist.18

überarbeitete Passagen betrifft, so stellt er eine Zunahme der intertextuellen Bezüge sowie literarischer Techniken und pathetischer Passagen fest (Philippe Mesnard: „Primo Levi: Du rapport sur Auschwitz à la littérature“, in: Primo Levi: Rapport sur Auschwitz, Paris 2005, S. 9-34). 17 Zu vergleichbaren Ergebnissen käme man unzweifelhaft bei der Analyse zahlreicher Texte aus dem Gesamtwerk der beiden Autoren. Denn die ausgewählten Abschnitte sind in höchstem Maße exemplarisch. Dennoch entsteht die Vergleichbarkeit zwischen Levi und Ginzburg hier freilich durch eine bewusste Gegenüberstellung zweier sich naheliegender Textpassagen. 18 Vgl. die Aussage Levis in Weiterführung bzw. Umkehrung von Adorno: „Dopo Auschwitz non si può più fare poesia se non su Auschwitz“ (in: Gabriella Poli und Giorgio Calcagno (Hrsg.): Echi di una voce perduta: Incontri, interviste e conversazioni con Primo Levi, Mailand 1992, S. 316).

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B EISPIELANALYSE L EVI : „I NIZIAZIONE “ 19 Gegenstand des dritten Kapitels aus Se questo è un uomo ist die „Initiation“ der Häftlinge in das Lager-System. Es geht also um den Zwang zur Adaptation an die Regeln eines systematischen Vernichtungsapparates, der „gran macchina per ridurci a bestie“ (SQ 35). Dementsprechend sind EntIndividualisierung, Entwürdigung und Entmenschlichung  und damit verbunden die Frage, ob die Häftlinge im Lager überhaupt noch als Menschen bezeichnet werden können  die Themen, um die der Text kreist. Was aber zugleich als Zentrum dieses Ausschnitts gelten kann, ist das Problem der Sprache, welches mit den anderen genannten untrennbar verwoben ist. Die Vernichtung von Individualität und Subjektivität wird bereits deutlich durch die Art und Weise, in der das erzählte Ich grammatikalisch in Erscheinung – oder besser nicht in Erscheinung  tritt. Es zeigt sich einzig in unzähligen Passivkonstruktionen, als Objekt undurchschaubarer, von einer zentralen Gewalt ausgehender Aktionen: „sono stato assegnato“, „mi viene indicata“, „dove mi manderanno?“, „Mi si impone il silenzio“ etc. (SQ 33). Wo das Ich erkennbar wird, ist es Teil einer Verneinung, verschwunden hinter einem unpersönlichen „si“ (bzw. „chi“) oder beides zugleich: „non ho sogno“, „non conosco il senso“, „non sono ancora riucito“, „non è riposo“, „come si può avere?“, „Si è circondato“, „guai a chi non afferra volo!“ Im weiteren Verlauf des Kapitels wird dieses Nicht-Subjekt übergehen in das kollektive „Wir“ einer Masse, die sich von Tieren kaum mehr unterscheidet.20 Das zunächst noch überbordende Bedürfnis zu sprechen („troppe

19 Primo Levi: „Iniziazione“, in: Se questo è un uomo, Mailand 2005, im Folgenden mit SQ und Seitenzahl abgekürzt. 20 Sie pressen sich wie Schafe in Ecken und an Wände, sie urinieren, „bestialmente“ und kaum bekleidet im Laufen, werden in Horden zur Fütterung gedrängt und sind gezwungen, die Suppe ohne Löffel zu sich zu nehmen. Vgl. hierzu auch Cesare Segre: „Postfazione. Auschwitz, orribilie laboratorio sociale“, in: Primo Levi: Se questo è un uomo, Turin 2005, S. 179-199, hier: S. 194. Gordon und Belpoliti zeigen, inwiefern Tieren eine zentrale Bedeutung innerhalb des Levi’schen Vokabulars zur Darstellung des Holocaust zukommt (Belpoliti/Gordon: Primo Levi’s Holocaust vocabularies, S. 51-66, bes. S. 52ff.). Zur

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chose da chiedere“ (SQ 33), das Levi durch Wiederholungstrukturen wie Parallelismus und Polysyndeton hervorhebt („parlo e parlo“ / „e quando, e come, e dove, e risponde“, SQ 33), wird niedergebrüllt von jenen anderen, die auch der Erzähler nicht mehr als Menschen und schon gar nicht als Individuen wahrnehmen kann: „Nessuno ha tempo, nessuno ha patienza, nessuno ti da ascolto“ (SQ 33). So scheinen denn auch die Laute, von denen die Baracke ertönt, keine menschlichen Urheber zu haben.21 Diese unmenschlichen Geräusche beschreibt Levi nicht nur, sondern er macht sie auch phonetisch wahrnehmbar, nämlich durch Frikative und durch Alliterationen: „fondamento“, „attività frenetica“, „polvere fetida“, „fretta febbrile“, „fuori“ (SQ 33f.).22 Neben den zahlreichen stilistischen und rhetorischen Strategien, die den Prozess der Entmenschlichung vor Augen führen, erzielt vor allem das presente storico den Effekt von unmittelbar bedrohlicher Präsenz und konfrontiert die Leser mit der Erkenntnis, dass sich das Geschehene überall und jederzeit wiederholen kann.23 Was allerdings den Modus betrifft, so ist es der mehrmalige Wechsel zwischen solch mimetischer, gleichzeitig erzählter, intern fokalisierter Darstellung und nüchterner, reflexiv-distanzierter Durchdringung des Beschriebenen, der erheblich zur Komplexität des Werkes beiträgt. Bereits im vorigen Kapitel „Sul fondo“ mussten die Häftlinge das Denken und Erinnern einstellen, um sich eine – sei es auch noch so geringe – Überlebenschance sichern zu können. Hier nun hören sie auch auf, Fragen zu stellen und sich zu waschen – denn letzteres erschiene dem Erzähler allenfalls als die schauerliche Wiederholung eines erloschenen Rituals. Das einzige, was das kollektive „Wir“ noch als Lebewesen auszeichnet, sind tierische Refle-

rhetorischen Verwendung der Vergleiche mit Tieren s. auch Mengaldo: Lingua e scrittura in Levi, S. 228f. 21 Vgl. „da sopra, da sotto, da vicino, da lontano, da tutti gli angoli della baracca ormai buia, voci assonnate e iraconde mi gridano“. Konsequenterweise wird kurz darauf die Erkenntnis formuliert: „ogni differenza fra lui e me sarà scomparsa“ (SQ 33 und 35). 22 Im Gegensatz hierzu wird in der Beschreibung eines Moments relativer Ruhe auf Laterale zurückgegriffen: „alle latrine, al lavatoio, lavarsi, il lavatoio locale, male illuminato“ (SQ 34). 23 Vgl. Mengaldo: Lingua e scrittura in Levi, S. 203.

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xe: Hunger, „uno stato di tensione e di ansia“ (SQ 33), und eine instinktive, selbst im Schlaf bestehende Verteidigungshaltung. An den wenigen Stellen, an denen in diesem Kapitel ausdrücklich von menschlichem Leben die Rede ist, geschieht dies  außer im bereits genannten Modus der Verneinung – bezeichnender Weise im Konjunktiv („perché dovrei? Starei meglio? Piacerei di più? Vivrei un ora di più?“, SQ 35), als Traum (in dem ein Jenseits der Lagerrealität durch Motive der Verbindung nach draußen, wie Straßen, Brücken oder Türen aufscheint); oder aber als Halluzination (SQ 34) und Illusion (SQ 34), welche die zugeteilten Brotrationen auslösen. In auffälliger Weise fasst ein chiastisch gestalteter Satz die Situation der Häftlinge auf knappstem Raum zusammen: „Morremo tutti, stiamo per morire“ (SQ 35). Auch andere, besonders bedeutsame Aussagen werden als Chiasmen oder Parallelismen konstruiert, beispielsweise in der Passage über den Hunger und das Brot, „[che] sembra gigantesco in mano del tuo vicino, e piccolo da piangere in mano tua“, jener täglichen Verzweiflung „sulla propria palese e costante sfortuna, e sfaccia fortuna altrui“ (SQ 34).24 Erwähnenswert ist die Episode der Brotverteilung aber auch aus einem anderen Grund: Hier zeigt sich die besondere Bedeutung, die Levi der Sprache beimisst. Bereits auf der ersten Seite des Kapitels hatte der Erzähler die in allen Sprachen der Welt gebrüllten Befehle und Drohungen als grundlegendes Charakteristikum der Lagerrealität benannt und mit einem intertextuellen Verweis als Babylonische Sprachverwirrung bezeichnet (SQ 33). Es ist diese Sprachverwendung jenseits von Eindeutigkeit, Transparenz und menschlicher Kommunikation, welche die Überlebenschancen der Lagerinsassen zusätzlich verringert, die aber auch die Isolation der Häftlinge sichtbar macht. Die Umschreibung des Wortes Brot schließlich als „paneBrot-Broit-chleb-pain-lechem-kenyér“, „il sacro blochetto grigio“ (SQ 34),25 macht nicht nur die existenzielle Bedeutung des Nahrungsmittels selbst deutlich. Auch die zentrale Funktion von Worten im Lager zeigt sich

24 Vgl. auch den Chiasmus, mit dem das Kapitel endet: „Sarà proprio necessario elaborare un sistema e praticarlo? O non sarà più salutare prendere coscienza di non avere sistema?“ (SQ 36) 25 Diese Kombination aus Neologismus und Metapher, die zugleich ein Oxymoron darstellt, erhält im übrigen durch die häufige Widerholung der deutschen und italienischen Ausdrücke „Block“ bzw. „blocco“ in diesem Kapitel noch eine weitere Konnotationsebene.

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hier  derjenige, der das Wort nicht rechtzeitig versteht, verhungert früher als die anderen. Darüber hinaus aber gelingt es Levi hier ein weiteres Mal, die Lagerwirklichkeit sprachlich-mimetisch nachzuahmen. Sprache ist also immer auf mehreren Ebenen zugleich präsent: Thematisch, als bedeutsamer Bereich der erzählten Welt, als mitunter geradezu experimentelle SprachForm, in der diese Welt dargestellt wird, als Medium für die Vermittlung des gesamten Berichts und schließlich in einer autoreferentiellen Dimension als Reflexionsgegenstand dieses Berichtes selbst. Sieht man sich an, wo und in welcher Weise das Thema Sprache verhandelt wird, so fallen zwei Phänomene auf: erstens die Schilder an den Wänden der Waschräume, die Levi in bitter-sarkastischem Ton beschreibt (z.B. als „distico ispirato“, SQ 34). Und zweitens die beiden Unterredungen mit Mithäftlingen, die das Kapitel einrahmen und auf das grundsätzliche, bekannte Paradox des Levi’schen Schreibens verweisen 26: Es geht hier in der radikalsten nur vorstellbaren Weise um die Vernichtung alles Menschlichen, um die Zerstörung von Geschichten und einer Sprache, in der diese Geschichten erzählt werden könnten, – und doch zeugt das Kapitel von Gesprächen, von Menschlichkeit, ja von Freundschaft und einem sprachlich artikulierten Akt des Widerstands. Die zitierten Hinweisschilder vermitteln einen exemplarischen Eindruck von der Perversität des Lagers: „So bist du rein, so gehst du ein“, „La propreté, c’est la santé“, „Nach dem Abort, vor dem Essen, Hände waschen nicht vergessen“ und „Eine Laus, dein Tod“ (SQ 34). Auch hier ist es die rhetorisch-stilistische, auf Einprägsamkeit zielende Form, die nicht nur die Häftlinge, sondern auch die Leser unmittelbar trifft. Auf den ersten Blick sieht es also so aus, als verwende Levi dieselben rhetorischen Verfahren wie diejenigen, die die Lagergewalt repräsentieren. Aber Levi führt sie weiter, liest sie gegen den Strich und befragt sie auf ihre unbewusst transpor-

26 Simbürger spricht von den „Aporien in seiner Darstellung“ (Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 11 und S. 88). Vgl. auch Zaccaro: Dire l’indicibile, S. 56 u. S. 65 und Michel Johann: „L’identité personnelle à l’épreuve de l’expérience concentrationnaire: essai de microanalyse de Si c’est un homme de Primo Levi“, in: Social science information, 44 (2005), no. 4, S. 655-682, hier: v.a. S. 678.

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tierte Wahrheit.27 Er sieht hier die unwillentlich artikulierte Möglichkeit zur Erhaltung eines letzten Restes von Humanität; eine Erkenntnis, welche auch das Thema des nachfolgenden, oft zitierten Gesprächs zwischen ihm und seinem Mithäftling Steinlauf darstellt. Die Richtigkeit der nazistischen Sauberkeitsforderung liegt darin, dass das tägliche Waschen, so nutzlos, vergeblich und „frivol“ (SQ 35) es angesichts der Bedingungen auch erscheinen mag, eine winzige Differenz des Menschen zum Tier markiert, und damit die einzige verbleibende Fähigkeit „di negare il nostro consenso“ (SQ 36). In vier konkreten, so einfach wie eindrücklich evozierten Bildern legt Steinlauf, d.h. der Erzähler stellvertretend und rückwirkend für ihn, die gesamte Komplexität dessen dar, was das Menschsein ausmacht: „lavarci la faccia senza sapone, asciugarci nella giacca, dare il nero alle scarpe, camminare diritti“ (SQ 36). Kein Satz könnte den zuvor geäußerten Urteilsspruch „morremo tutti, stiamo per morire“ eindrücklicher und, wenn man so will, trotziger weiterführen, als der nun folgende neuerliche Chiasmus: „Appunto perché il Lager è una gran macchina per ridurci a bestie, noi bestie non dobbiamo diventare“ (SQ 35). Und diese Formulierung wird noch im selben Satz ergänzt durch eine als sich steigernder Parallelismus artikulierte Forderung, die für das Schreibprojekt Levis insgesamt gelten kann: „... che anche in questo luogo si può sopravivvere, per raccontare, per portare testimonianza; e che per vivere è importante sforzarci di salvare almeno lo scheletro, l’impalcatura, la forma della civiltà“ (SQ 35). Das Waschen dient also der Affirmation des Menschlichen. Sich nicht zum Tier machen zu lassen, bedeutet aber zugleich, zu sprechen; und diese Sprache muss genutzt werden, um Zeugnis ablegen zu können. Die zuvor beschriebene Gegenüberstellung von gutem, d.h. gewaschenem, aufrecht stehendem und schlechtem, d.h. unsauberem, gebeugten Häftling („So bist du rein, so gehst du ein“, SQ 34) kann damit auch als ein intradiegetischer Verweis gelesen werden: Bild und Text eröffnen hier eine zusätzliche (Er-

27 Auch wir können nicht umhin, die Sprüche darauf hin zu lesen, was sie sagen, ohne dies sagen zu wollen. So kann vor dem Hintergrund der Thematik, die dieses Kapitel entfaltet, die Doppeldeutigkeit kaum übersehen werden, die darin besteht, dass sicherlich Läuse die (Über-)Lebenszeit im Lager zusätzlich verkürzen, dass aber denjenigen, die aus der Perspektive der nationalsozialistischen Rassenideologie Ungeziefer darstellen, ja ohnehin dem Tod geweiht sind.

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zähl-)Ebene, die indirekt benennt, womit sich das ganze Kapitel auseinandersetzt: Der Versuch, zu überleben, hängt mit einer (moralischen) Haltung zusammen, die vom Gebrauch der menschlichen Sprache nicht zu trennen ist. Das durchgängige Benennen von Eigennamen, die Charakterisierung der Mithäftlinge durch einzelne konkrete Situationen und die möglichst unmittelbare Wiedergabe bestimmter Ausdrücke, Sätze und erinnerter Gespräche, können rückwirkend als sprachliche Umsetzungen jener Forderung gelten, die Steinlauf artikuliert. Und dies geschieht nachträglich in möglichst weitgehender Abgrenzung eben von jenem Babylonischen Sprachgewirr, dem das erzählte Ich im Lager ausgesetzt ist; nämlich in einer ‚reinen‘, klaren und transparenten Sprache, die zumindest, was die Form betrifft, von Humanität zeugen soll, obwohl, oder gerade weil der Inhalt des Erzählten jenseits alles Menschlichen liegt. So schmerzhaft Levi auch wahrnimmt, dass die Worte versagen angesichts dessen, was erzählt werden soll (und dies auch, weil Täter und Opfer dieselbe Sprache besitzen und verwenden); diese Erkenntnis hält ihn nicht vom Sprechen ab. Was der Erzähler am Schluss des Kapitels stellvertretend resümiert, kann im Zusammenhang dieser selbstreflexiven Passage auch als metasprachlicher Verweis auf Levis Erzählen insgesamt gelten: Um das Erfahrene überliefern zu können, heißt es, muss man sich zwingen, zumindest das Skelett, das Gerüst, „l’impalcatura della civiltà“ (SQ 35) zu bewahren. Mit seinem Bericht, so lässt sich dieser Satz verstehen, spricht Levi im Namen einer Zivilisation und einer Kultur, von der er wenigstens die Form noch in seinen autobiographischen Bericht hinüber rettet.

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B EISPIELANALYSE G INZBURG : „I NVERNO IN A BRUZZO “ 28 Auch in Ginzburgs Text geht es um die Erinnerung an bestimmte, sich aus der Menge heraushebende Individuen, denen die erzählende Protagonistin im Jahr 1944 begegnet und von deren Menschlichkeit sie schreibend vor allem dadurch zeugt, dass sie deren Worte wiedergibt. Beschrieben werden das aufs schiere Nichtstun reduzierte Alltagsleben der in die Abruzzen verbannten Familie Ginzburg, der mühsame Versuch, sich mit dieser Situation abzufinden, das zermürbende Warten auf ein Ende des Winters und die stete Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Normalität. Auch für Ginzburg gilt, wenngleich aus gänzlich anderen Gründen, dass das, was sie zum Thema macht, eigentlich nicht erzählbar ist. Das wirkliche Leben jenseits des Exils, von dem sie abgeschnitten ist, besteht aus Ereignissen, die sich in eine Geschichte transformieren ließen: „le vicende varie et mutevoli di una vera esistenza“ (I, 788), nämlich aus „notizie di nozze e di morti dalle quali eravamo esclusi“ (I, 789). Im Dorf selbst hingegen gibt es im Grunde nichts zu erzählen: „di questo si parlò un pezzo, finché non ci fu più niente da dire“ (I, 791). Doch genau dieses sich alltäglich wiederholende Nichts macht Ginzburg zum eigentlichen Gegenstand ihres Textes. Was dabei auffällt: Hier springt die erzählende Instanz ebenfalls zwischen größtmöglicher Annäherung an die erzählte Welt und reflektierenden Einschüben über die conditio humana hin und her. Auch hier erfolgt der Wechsel auf eine weitere, in diesem Fall sogar eine meta-metadiegetische Erzählebene. Und auch dieser Text kreist um die Frage, wie sich Erinnerung vollzieht und sprachlich vermitteln lässt angesichts des fundamentalen Einschnittes, den der Faschismus bedeutet und der die Erzählende an die Grenzen dessen führt, was sprachlich auszudrücken möglich ist.

28 Natalia Ginzburg: „Inverno in Abruzzo“, I, S. 787-792. Eine ausführliche Analyse dieses Saggio im Hinblick auf die sprachlichen und erzähltechnischen Gestaltungsverfahren des Alltäglichen findet sich in Solte-Gresser: Spielräume des Alltags: Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929-1949), Würzburg 2010, S. 320-339.

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Zunächst einmal geht es der autodiegetischen Erzählerin darum, die Einengung und Beschränkung des „esilio“ so eindrücklich wie möglich vor Augen zu führen: Dies geschieht, was Fragen der Distanz und der Fokalisierung betrifft, durch eine Bewegung, die von einem Panoramablick auf die Abruzzen ausgehend, über das gesamte Dorf und die einzelnen Häuser schließlich in die jeweiligen Küchen hinein führt. Die anfängliche Distanz, aus der das Dorf dargestellt ist, wird zunehmend aufgehoben, so dass die Erzählerin irgendwann lernt, die unterschiedlichen Feuerstellen, Vincenzina von Secondina oder Annunziata von Addolorata zu unterscheiden (I, 788), und somit, sich das Alltagsleben der anderen zu ihrem eigenen zu machen. Die Reduktion auf ein sinnentleertes Dasein wird temporal besonders wirkungsvoll in Szene gesetzt, erstens durch ein geradezu obsessiv verwendetes imperfetto (nichts scheint sich von den wiederholenden Hintergrundbeschreibungen abzuheben)29, und zweitens durch die Tatsache, dass so gut wie alles Erzählte in Form von Iterativen präsentiert wird. Nichts geschieht also nur einmal, sondern „tutte le sere“, „ogni giorno“, „sempre“, „ogni mattina“. Auf stilistischer und rhetorischer Ebene zeigt sich das Gefangensein auch in der Art und Weise, wie das kleine, enge Zimmer evoziert wird, in dem die Familie haust, nämlich mittels einer phonetischen Konzentration auf nur wenige Laute und der Wiederholung ganzer Satzteile: „mio marito scriveva al grande tavolo ovale“ // „la tavola ovale dove mio marito scriveva“ (I, 788 und 789). Auch die mehrfache chiastische, mit Parallelismen verbundene Reduktion führt die Begrenztheit des Raumes, zusammen mit der Eintönigkeit des dortigen Lebens, besonders deutlich vor: „Era un esilio il nostro: la nostra città era lontano e lontano erano i libri [...] nostra stufa verde, ... la stufa... la stufa verde che ronzava.... Sul soffitto della stanza era dipinta un’aquila: e io guardava l’aquila e pensavo che quello era l’esilio. L’esilio era l’aquila, era.. era... era... / Tutte le sere... tutte le sere/ Quando sarà finita questa guerra? Quando finirà questa guerra,... quando finirà?“ (I, 788). Es existiert allerdings eine Passage, die doch auffällig aus dem ereignislosen Nichts heraus sticht. Sie beginnt denn auch mit „C’era una volta“ (I, 790), aber sie erscheint nicht in der erzählten Wirklichkeit selbst, sondern in Form eines Märchens, welches das Dienstmädchen den Kindern immer

29 Vgl. auch Fontanella: Natalia Ginzburg between Fiction and Memory, S. 34ff.

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wieder erzählt – und insofern ist sie doch eingewoben in die alltäglichen Wiederholungen. Was sich zunächst in die wortwörtliche Wiedergabe der zahllosen winzigen Begebenheiten, Gesprächsfetzen und stereotypen Redeformeln einreiht, von denen der gesamte Text durchzogen ist, erweist sich jedoch, vom Ende her betrachtet, als eine ausgesprochen abgründige Geschichte mit doppeltem Boden. Erzählt wird das Märchen von einer bösen Stiefmutter, die das ungeliebte Kind tötet und dem Vater dieses in Suppe gekocht zum Mahl vorsetzt. Nachdem dieser es verzehrt hat, stimmen die Knochen des Kindes ein schauerliches Lied an. Daraufhin tötet der Vater seinerseits die Stiefmutter und hängt sie an einem Nagel vor der Haustüre auf. Es ist dies die Stelle, an der zum ersten Mal die aktuelle Redesituation des Textes thematisiert wird. Noch heute, sagt die Erzählerin, kämen ihr unweigerlich die Worte dieses Liedes in den Sinn. Dabei erstehe in ihrer Erinnerung das gesamte Dorf in allen Einzelheiten wieder auf. Erst im letzten Abschnitt des Textes wird allerdings deutlich gemacht, aus welcher Perspektive die Erzählerin auf diese erzählte Welt zurück blickt. Eingeleitet wird er durch eine merkwürdig aus dem Zusammenhang fallende Betrachtung über das Schicksal des Menschen im Allgemeinen. Als benötige die Erzählerin einen besonderen Anlauf für das nun Folgende, generalisiert sie zunächst ihre Beobachtungen über die Zeitwahrnehmung in der Verbannung: Erst im Nachhinein erkenne der Mensch, dass die größten Freuden außerhalb des Wirklichen liegen. Entweder verschiebe man das Glück in Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, oder man habe sie bewusst zu erleben verpasst und sehne sich dann sein Leben lang danach zurück. Auf anderthalb Zeilen fasst Ginzburg schließlich zusammen, was Stoff für einen ganzen Roman abgegeben hätte, und begründet, weshalb ihr die Zeit in den Abruzzen heute als die beste ihres Lebens erscheine: „Mio marito morì a Roma nelle carceri di Regina Coeli, pochi mesi dopo che avevamo laciato il paese“ (I, 792). Abschließend ruft sie in zwei schlichten Bildern noch einmal das gesamte Leben in der Verbannung auf, um festzustellen, dass dieses ihr angesichts des „orrore della (sua) morte“ für immer verloren sei und gänzlich unwirklich vorkomme: „Io mi chiedo se questo è accaduto a noi, a noi che compravamo gli aranci da Girò e andavamo a passegio nella neve“ (I, 792). Erst aus der Perspektive der Ermordung Leone Ginzburgs, die im Verhältnis zu den zahlreichen Belanglosigkeiten fast elliptisch erzählt wird,

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wird deutlich, weshalb Ginzburg die traditionelle Gewichtung von alltäglich-banalem Hintergrund und besonderem Vorkommnis radikal umkehrt. Das selbst erfahrene traumatische Ereignis, sagt sie (an anderer Stelle), könne sie nicht direkt erzählen30. In indirekter Weise aber ist es präsent. Erstens in Form der Bruchstellen, die den Text erkennbar durchziehen, und zweitens auf einer meta-metadiegetischen Ebene: nämlich als der Text eines den Mord benennenden Liedes, das die abgeschlachteten Knochen im erzählten Märchen von sich geben, und dessen Wirkung sich die Erzählerin ebenso wenig entziehen kann wie wir Leser. Zumindest dort ist die Tat gesühnt, der Ermordete nicht sprachlos, das Geschehen nicht vergessen: Singend gemahnen die sterblichen Überreste an die verdrängte Gräueltat.

V ERGLEICH

DER

D ARSTELLUNGSTECHNIKEN

Fassen wir abschließend zusammen, mit welchen Mitteln also das „beschädigte Leben“ in die Literatur gelangt. Die Erschütterung, die beide Texte auslösen, kommt gerade nicht durch ein emotionsgeladenes, von Pathos getragenes Schreiben zustande. Dort, wo der Schmerz am größten ist, reduziert sich der Text auf die wichtigsten Fakten, die entweder so sachlich und distanziert wie möglich oder aber fragmentarisch, in Form von Bruch- und „Leerstellen“, wiedergegeben werden.31 Das Hin- und Hergleiten zwischen dramatischem und narrativem Modus, die Konzentration auf alltägliche Vorkommnisse und das Herausgreifen einzelner Episoden, die in ihrer größtmöglichen Konkretheit mehr sagen, als es abstrahierende Zusammenfassungen vermocht hätten, kenn-

30 Vgl. die „Avvertenza“ des Lessico famigliare, I, 899. 31 Vgl. hierzu Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 96. Zum ‚doppelten Boden‘, der sich in Ginzburgs Texten unter dem vordergründig Gesagten auftut und immer ein Lesen auf mehreren Ebenen erfordere, vgl. auch Eugenia Paulicelli: „Natalia Ginzburg and the Craft of Writing“, in: Angela M. Jeannet und Giuliana Sanguinetti Katz (Hrsg.): Natalia Ginzburg: A voice of the 20th Century, Toronto 2000, S. 153-178, hier: S. 154f. und Marchionne Picchione: Natalia Ginzburg, S. 12.

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zeichnen zudem beide Texte gleichermaßen.32 Damit verbunden ist nicht nur eine rhetorische Hinwendung zum Exemplarischen, sondern darüber hinaus eine moralische Haltung gegenüber dem Menschlich-Individuellen. Unterstrichen wird eine solche Erzähl-Bewegung durch den Einsatz zahlreicher stilistischer Figuren, die das Erzählte hervorheben, veranschaulichen und verdichten. Diese „poetische Überformung der Fakten“33 steht allerdings nicht im Widerspruch zu der programmatischen Einfachheit der Texte, vor allem in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht.34 Beiden Autoren gelingt darüber hinaus eine besondere Verlebendigung der erzählten Welt, indem sie einfachste, aber ungemein anschauliche Bilder zur Darstellung komplexer Zusammenhänge, vor allem zur Vermittlung allgemein menschlicher Verhaltensweisen verwenden: über einen Löffel verfügen oder nicht, sich kämmen oder nicht kämmen, sich waschen oder nicht waschen, Durchfall oder keinen Durchfall haben, solche Beispiele stehen jeweils für gesamte Lebenshaltungen einzelner Menschen, Typen oder sozialer Gruppen.35 Während auf der ersten Erzählebene also das unmittelbar Naheliegende vorherrscht, sind beide Texte jedoch von intradiegetischen Einschüben durchzogen: Oftmals liegt das Wesentliche in solchen Reden und Geschichten anderer, in einer traditionsreichen Sprache,

32 Zu solchen Techniken der Vergegenwärtigung zählen auch die Nennung von Eigennamen und das durchgängige Wiedergeben wörtlicher Rede. Für Levi vgl. Miething: Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 154. Was Ginzburg betrifft, so gelangt Jeannet (vgl. Jeannet: Natalia Ginzburg, S. 63-88) zu der überzeugenden Einschätzung, dass sich ihre Texte als Antwort auf die Generalisierungen und Abstraktionen der traditionellen Historiographie verstehen lassen. 33 Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 107. 34 Vorherrschend sind Parataxen, zumeist werden die einzelnen Hauptsätze sogar in vergleichbarer Weise syntaktisch und lexikalisch reduziert. Zur Syntax bei Ginzburg vgl. auch Grignani: Natalia Ginzburg, S. 41-56. 35 Beide bemühen im Übrigen sowohl das Bild der abgenutzten und dennoch zu pflegenden Schuhe, um eine bestimmte moralische Einstellung zu transportieren, das der auftretenden Frostbeulen, die auf den Einbruch des Winters und damit die Verdammung zur Ohnmacht verweisen (vgl. das hier analysierte Kapitel von Levi und Ginzburgs Essay „Le scarpe rotte“, I, 793-795), und beide spielen in ihren Texten mit der engen lautlichen und inhaltlichen Verbindung von „inverno“ und „inferno“.

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die über Poesie, über Bilder, Assoziationen, Konnotationen und indirekte Verweise funktioniert, und immer dort zum Einsatz kommt, wo die Worte des Erzählers versagen.36 Zum einen werden also Intertexte (im weitesten Sinne) zur Überwindung der Sprachnot und zur Vermittlung des Erlebten herangezogen. Zum anderen stehen einzelne Wörter paradigmatisch für jene gesamte Welt, die sich so schwer beschreiben lässt. Solche Ausdrücke, die sich tief in die Wahrnehmung und Erinnerung der Erzähler eingegraben haben und nach wie vor eine fundamentale Bedrohung bilden,37 sind es auch, die in beiden Texten eine Brücke zwischen der erzählten Welt und der aktuellen Erzählsituation herstellen. Denn in dem Schmerz, den die Sprache auslöst, liegt zugleich ihr Potenzial: Hiermit entsteht, wenn sie nur transparent, klar und präzise genug gehandhabt wird, das Bindeglied zwischen Menschen innerhalb der dargestellten Welt, zwischen erinnerndem und erinnertem Ich sowie zwischen Autor und Leser.

36 Nicht nur das Märchen in Ginzburgs Text wäre ein solches Beispiel, dieses Phänomen erweist sich als das grundlegende Strukturprinzip ihres Lessico famigliare. Denn die überlieferte Sprache ist der einzige Anker, der in einer unsicheren und erschütterten Welt noch Halt bietet. In Levis Bericht sind es Verse Dantes, die in dem vielleicht berühmtesten Kapitel des Buches aus dem Gedächtnis einem Mithäftling zitiert werden; aber auch die Figur des cantastorie erhält eine bedeutsame Funktion, insofern er ausdrückt, was sich der Sprache des Erzählers entzieht, nämlich Klagen, „dove ha rachiuso tutta la vita del Lager“ (Kap. „Le nostre notti“, SQ 50-57, SQ 52, vgl. hierzu auch Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 111). Zur Bedeutung des cantastorie in Ginzburgs Werk, s. Minghello: Ricordando il quotidiano. 37 Für Levi z.B. das Wort „Wstawa´c“, SQ 56 oder „Selekcja“, SQ 111, ein Äquivalent für Ginzburg wäre etwa der Begriff „questura“ (in „Il figlio dell’uomo“, I, 837).

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S CHLUSSBEMERKUNG : W IRKLICHKEIT UND K UNST

ALS

Z EUGNIS

Beide Autoren verstehen sich ausdrücklich als Zeugen, die sich aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen der Übermittlung historischer Wahrheit verschrieben haben. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, alles Literarische auszublenden. Fakt und Fiktion greifen ineinander bzw. bedingen sich gegenseitig.38 Neben den intertextuellen Bezugnahmen ist in beiden Texten zu beobachten, dass das Verhältnis von Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit mitunter auf eigentümliche metaleptische oder traumhafte Weise undurchsichtig wird. Und dies geschieht nicht, um die dargestellte Realität zu verschleiern, sondern, ganz im Gegenteil, damit sie umso deutlicher hervortritt. Bei Ginzburg zeugt das Märchen im Modus der Fiktion von einer grausamen Realität, die die Erzählerin selbst nicht  oder nur in Stichworten – artikuliert. Für Levi stellen Realität und Irrealität innerhalb des Lagers grundsätzlich keine gültigen Kategorien mehr dar.39 Nichts könnte dies deutlicher zeigen, als der (Alb-)Traum am Schluss von La Tregua: Das Leben nach der Befreiung aus Auschwitz ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein böser Traum. Das Lager erweist sich mithin als einzige, unhintergehbare Realität.40 In umgekehrter Weise erschien Ginzburg auf der Folie des zitierten Schauermärchens die erlebte, harmlose Wirklichkeit gänzlich irreal. Solche Passagen, in denen die Texte wohl auch ihren eigenen Status als Literatur auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion reflektieren, indem sie die durchlässigen Grenzen zwischen beiden Welten sichtbar machen, können als zusätzliche Hinweise dafür gedeutet werden, dass Levi

38 Vgl. Simbürger: Faktizität und Fiktionalität, S. 107 und Ginzburgs Vorwort zu ihrem autobiographischen Roman: „Benché tratto dalla realtà, penso che si debba leggerlo come se fosse un romanzo“ (I, 899). 39 Vgl. SQ 104 und 105. 40 Levi: La Tregua, Turin 1989, S. 325. Vgl. auch die Träume im Lager (SQ 5356), in denen sich die ständige Angst artikuliert, nicht gehört zu werden, und sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum auflösen (hierzu auch Segre: Postfazione, S. 195f.).

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und Ginzburg Fiktion und authentisch-faktuales Schreiben, literarisch geformtes Kunstwerk und sachlich-objektives Zeugnis, nicht als Widerspruch auffassen. Beide bilden notwendige und für die Vermittlung von historischer Erfahrung entscheidende Zugangsweisen zur Wirklichkeit. Insofern lässt sich die literarische Dimension der untersuchten Texte überzeugend fassen anhand der Thesen, die Hayden White am Beispiel einer anderen Textpassage Levis entwickelt hat41 und die auch für Ginzburg gelten können: Indem Fragen des Stils, der Rhetorik und der Erzähltechnik hier zu einer ethisch-politischen Angelegenheit werden, relativiert sich der Unterschied zwischen historischem und literarischem bzw. ästhetischem Diskurs. White zufolge kann es nicht um eine Gegenüberstellung von geschichtlicher Wahrheit auf der einen und Rhetorik oder Fiktion auf der anderen Seite gehen. Denn das, was es auszudrücken gilt, ist so komplex oder unfassbar, dass alle Möglichkeiten der Sprache genutzt werden müssen, um sich ihm anzunähern.42 Und dies umso mehr, als Sprache und Erzählungen, dies haben sowohl Levi als auch Ginzburg ja deutlich gezeigt, selbst ein wesentlicher Bestandteil dieser Wirklichkeit sind. Folgende Punkte, die allesamt auch für die beiden analysierten Textausschnitte gelten können, sollten nach White als das Potenzial des Literarischen angesehen werden: Nicht allein wegen der Tatsachen, sondern vor allem wegen der evozierten Bilder wirken die untersuchten Texte objektiv. Nicht weil sie nur beschreiben, sondern weil sie dies in einer bestimmten, literarischen, mitunter regelrecht poetisch verfahrenden Sprache tun, erzielen sie den Eindruck von Lebendigkeit und Authentizität. Weil sie die Ereignisse nicht nur festhalten, sondern sie erzählen, konkretisieren und exemplarisch in Szene setzen, wirken sie realistisch.43 Nicht, weil die Fakten

41 Hayden White: „Figural Realism in Whitness Literature“, in: Parallax, 10 (2004), Nr. 1, S. 113-124. Es handelt sich um die Personenbeschreibung des Kapitels „Die drei Leute vom Labor“. 42 Hayden White: „Historical Discourse und Literary Writing“, in: Kuisma Korhonen (Hrsg.): Tropes for the Past: Hayden White and the History/Literature Debate, Amsterdam 2006, S. 25-33, hier: S. 25. 43 Vgl. hierzu auch Young: Beschreiben des Holocaust, S. 19-25, der zeigt, dass es nicht darum geht, die Fakten oder den Wahrheitsgehalt des Zeugnisses anzuzweifeln, sondern der grundsätzlichen Differenz Rechnung zu tragen, die zwischen der Wahrnehmung und der Darstellung der Fakten bestehe; die Bedeutung

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aufgezählt werden, sondern weil gezeigt wird, wie es sich anfühlt, diesen Fakten ausgesetzt zu sein, können sie Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen.44 Und schließlich: Nicht weil über Faschismus und Holocaust geschrieben wird, sondern weil wir lesend gezwungen werden, einen Moment lang in diese erzählte Welt einzutauchen, besitzen die Texte die Kraft, ethisch, moralisch und letztlich auch historisch-politisch zu überzeugen.

der Texte bestünde dann weniger in der Objektivität des Schreibens, als vielmehr in der Art und Weise, in der die Erfahrungen erzählt werden. 44 White: Figural Realism in Whitness Literature, S.123.

„Die ausstrahlende Kraft des Neorealismus“1 Neorealistische Bilder und Schreibweisen in der deutschen Nachkriegsliteratur

L UCIA P ERRONE C APANO

N EOREALISMEN „Wenn die Rede von Hemingway, Faulkner, Cain, Lee Masters, Dos Passos, dem alten Dreiser und ihrem negativ bewerteten Einfluss auf uns italienische Schriftsteller ist, fällt früher oder später das verrufene und anklagende Wort: Neo-Realismus. Ich möchte nun daran erinnern, dass dieser Begriff heutzutage auf den Film bezogen wird, Filme definiert, die wie Besessenheit, Roma, offene Stadt, Fahrraddiebe die ganze Welt – inklusive der Amerikaner – fasziniert haben, und sich als eine StilOffenbarung erwiesen haben, die dem Beispiel des hollywoodianischen Films nichts oder sehr wenig zu verdanken haben, obwohl dieser in jenen Jahren, in denen sich die amerikanischen Schriftsteller verbreiteten, in Italien vorherrschte. Wie ist es nun möglich, dass ein und dasselbe Etikett eine Filmkunst mit Lob und eine Erzählkunst mit Tadel definiert, die doch beide zur selben Zeit auf demselben Boden entstanden sind, welcher von nordamerikanischen Einflüssen durchdrungen ist?“

2

1

Gian Piero Brunetta: „Il potere radiante del neorealismo“, in: ders.: Cent’anni di

2

Cesare Pavese: Saggi letterari, Turin 1968, S. 263-264. Übersetzung der Verfas-

cinema italiano, Bari 1991, S. 400-401. serin.

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Die Ausführungen des italienischen Schriftstellers Cesare Pavese können uns helfen, die Widersprüche beim Gebrauch der Bezeichnung Neorealismus zu verstehen. Pavese hebt hervor, dass das Wort vor allem eine filmische Bedeutung hat, und zwar eine positive, obwohl sie auch für die von den amerikanischen Narrativen beeinflussten Schriftstellern verwendet wurde, und zwar in einem eher negativen Sinne. In der Tat: Die Ausdruckskraft, der unbestrittene künstlerische Wert der Filme wie OSSESSIONE und ROMA, CITTÀ APERTA haben dazu beigetragen, dass sich die Bezeichnung Neorealismus, vor allem als eine filmische, durchsetzte und dies auf eine autonome Weise. So wurden die Vorbehalte, welche die auf die Literatur bezogene Kategorie des Neorealismus konnotiert hatten, übergangen oder verdrängt. Die Frage, die Pavese stellt, wird von diesem aber nicht beantwortet, sondern offengelassen. Desweiteren bemerkt Pavese, man könne im Grunde behaupten, dass die Amerikaner den erzählerischen Neorealismus in Europa erlernt haben, so wie sie dann im Begriff sind, den filmischen zu erlernen, da die Wurzeln und die Modelle der amerikanischen Erzählkunst europäisch sind. Mit anderen Worten will Pavese darauf aufmerksam machen, dass es absolut nicht notwendig war, Europa zu verlassen, um Neorealist zu werden, da die Wurzeln des Neorealismus tatsächlich in Italien, in Europa liegen.3 Der Neorealismus ist ein komplexes Phänomen; zu verschieden und eigenständig waren die einzelnen Regisseure und Drehbuchautoren sowie die

3

„Den Vorwurf, den ich unseren Kritikern machen möchte, ist folgender: Haben diese Kritiker jemals versucht, den Stil, die Art und Weise der nordamerikanischen Narrative zu definieren, indem sie die Wurzeln und historischen Modelle erforscht haben? Wissen diese Kritiker eigentlich, dass Hemingway nicht ohne Kipling erläutert werden kann, dass ohne den deutschen Expressionismus und die Russen weder O’Neill noch Faulkner erklärt werden können, und Fitzgerald, Cain und all die anderen nicht ohne Maupassant? Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, Europa zu verlassen, um, wie man sagt, Neo-Realisten zu werden. Noch einen Schritt und wir können zu Recht behaupten, dass es die Amerikaner waren, die den narrativen Neo-Realismus in Europa aufgegriffen haben (wohlmerklich, als Technik, nicht als geistige Haltung), so wie sie in der Tat jetzt wiederum von uns den filmischen lernen“ (Pavese, ebd.). Übersetzung der Verfasserin.

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Schriftsteller. Es erweist sich als problematisch, eine einheitliche Definition zu geben, mit Genauigkeit die chronologischen Grenzen zu ziehen, mit Präzision die Poetik herauszuarbeiten. Außerdem ist es schwierig, diejenigen Schriftsteller eindeutig zu bestimmen, die als Neorealisten betrachtet werden können. Der Neorealismus hat kein programmatisches Manifest aufgestellt und keine Schule konstituiert.4 Unterschiedliche Schriftsteller, wie neben Cesare Pavese auch Alberto Moravia, Elio Vittorini, Beppe Fenoglio, Italo Calvino – um nur einige zu nennen –, waren als neorealistisch etikettiert, zumindest was einige Phasen ihres künstlerisch-ideologischen Werdegangs betrifft. Aber die Unterschiede sind natürlich viele: Generationsunterschiede und thematische Unterschiede: Antifaschismus, die süditalienische Frage, Widerstand, Befreiung, der Wiederaufbau in der Nachkriegszeit bilden einen äußerst variierenden Themenkomplex. Elio Vittorini zufolge gab es so viele Neorealismen wie die Schriftsteller, die die Wirklichkeit darstellten, wobei jedoch jeder von ihnen seinen eigenen individuellen Weg einschlug.5 Aus der Absicht, politische und soziale Missstände zu dokumentieren, resultiert in Italien eine innovative Formensprache, die Kraft ausstrahlt – wie sich der Filmhistoriker Brunetta ausdrückt –, so dass „kein Schauspieler oder Autor, Drehbuchautor oder Operateur mehr vermag, zu den visuellen und narrativen Zuständen der Vorkriegszeit zurückzukehren. Der Neorealismus gibt auf beträchtliche Weise Energie an das ganze umliegende System ab“.6 Interessant ist in unserem Kontext zu beobachten, wie neorealistische Bilder und Schreibweisen produktiv auch von Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur wie Alfred Andersch und Wolfgang Koeppen verarbeitet werden, die jene Impulse aufnehmen, die Literatur und Film des italienischen Neorealismus’ in diesen Jahren ausstrahlen (um die Metapher

4

Dazu hat Italo Calvino in dem Vorwort zum Sentiero dei nidi di ragno angemerkt: „Der Neorealismus war keine Schule. Es war eine Vielzahl von Stimmen, die meisten davon am Rande stehend, eine vielfältige Entdeckung der unterschiedlichen Italien, auch – oder gerade – jener Seiten Italiens, die bisher in der Literatur unveröffentlicht blieben“ (Turin 1964, S. 9). Übersetzung der Verfasserin.

5

Vgl. Carlo Bo (Hrsg.): Inchiesta sul neorealismo, Turin, Eri 1951.

6

Brunetta: „Il potere radiante del neorealismo“, S. 400. Übersetzung der Verfasserin.

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des Titels erneut aufzugreifen). Anhand zweier Romane  Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund und Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom –, möchte ich hier einige Spuren und Ausformungen neorealistischen Erzählens analysieren, die den europäischen, transregionalen7 und internationalen Charakter des Neorealismus bestätigen. Über den Neorealismus diskutieren heit immer auch, über die Rolle der Schriftsteller (der Künstler und allgemein der Intellektuellen) in der Gesellschaft (die sich in diesen Jahren aufgrund der sich überstürzenden dramatischen historischen Ereignisse grundlegend verändert hatte) zu diskutieren und über die Art und Vorgehensweise, mit der die Schriftsteller diese Ereignisse in ihren Werken und gleichzeitig auch ihre Rolle darin aufarbeiten. Der Begriff des Neorealismus bezeichnet eine ästhetisch-politische Tendenz. Eine scharfe Abgrenzung des Neorealismus als Genre ist also unmöglich und bringt eigentlich wenig Nutzen, da der Begriff jede klassische Genrezuordnung übersteigt. In diesem Beitrag möchte ich davon ausgehen, dass die Eigenschaften, die den Neorealismus ausmachen, sich gewissermaßen aus der Zeit ergaben, sich die Nachkriegsjahre in das Textmaterial der Zeit einschrieben. Außerdem möchte ich diskutieren, wie diese Eigenschaften, die den Neorealismus ausmachen, forminnovativ oft von filmischen Experimenten ausgehend, in literarische Werke eingegangen sind und umgekehrt. Wie Alfred Andersch richtig anmerkt, wäre „ohne die Namen von Zavattini, Flaiano, Brancati, Bassani, Moravia, Bartolini u.a. […] der italienische Straenfilm

7

„Unmittelbar nach der Befreiung begeben sich die Römer De Santis, Lizzani, Mida nach Mailand [...]. Der Genueser Germi und der turinische Produzent Rovere führen den sizilianischen und süditalienischen Film ein. Die „film“gebürtigen Römer Zampa und Bonnard beginnen ihre Dreharbeiten an der jugoslawischen Grenze (Luoghi senza frontiera und La città dolente). Die Mailänder Visconti und Comencini gehen nach Sizilien und Neapel (La terra trema und Proibito rubare). Rossellini, der als erster aufbrach, überschritt schließlich die Grenzen und drehte in Berlin oder auf Stromboli“ (Alberto Farassino: „Neorealismo, storia e geografia“, in: ders. (Hrsg.): Neorealismo. Cinema italiano 19451949, Turin 1989, S. 21-24, hier: S. 23). Übersetzung der Verfasserin.

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von heute nicht denkbar“.8 Die Gleichzeitigkeit der literarischen und der filmischen Experimente in der Entstehung des Neorealismus wird von ihm noch einmal betont: „Der Neorealismus wurde bekanntlich gleichzeitig in der Literatur durch Vittorini und Pavese, im Film durch Visconti erschaffen“.9 Den Fokus des Interesses bilden also zum einen das intrikate Verhältnis von mimetischer/nichtmimetischer Intention und neorealistischer Schreibpraxis, und zum anderen die schillernde Relation zwischen politischsozialem und literarischem Diskurs. Aus dieser Perspektive wäre auch der Vergleich zwischen der politisch-literarischen Situation in Deutschland und Italien interessant, wobei sich Parallelen wie Divergenzen beobachten lassen. Nach Alfred Andersch – was die Achse Vergangenheit für beide Länder betrifft – „konnte sich [Italien] auf eine Tradition des Widerstands berufen, und es berief sich auf sie“,10 eine Tradition, mit der sich Andersch selbst, wie Wolfgang Koeppen unterstrichen hat, verbunden fühlte: „Sein Meister in der Literatur war nicht Hemingway. Andersch fühlte sich als Geselle unter Gesellen den italienischen Dichtern seiner Generation verbunden [...]: Elio Vittorini, Cesare Pavese, Carlo Emilio Gadda. Sie waren Tagebuchschreiber, belletristisch, philosophisch getarnte Essayisten, Gefesselte der Selbst- und Weltbetrachtung, geschult im strengen Stil des Widerspruchs, der Gefährlichkeit, der Diktatur, der Illegalität.“11

8

Alfred Andersch: „Das Kino der Autoren“, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden, hrsg. von Dieter Lamping, Essayistische Schriften 2, Bd. 9, Zürich 2004, S. 303-328, hier: S. 316.

9

Ebd.

10 Alfred Andersch: „Nachwort“, in: Die Andere Achse. Italienische Resistenza und geistiges Deutschland, vorgelegt von Lavinia Jollos-Mazzucchetti, Hamburg 1964, S. 118-121, hier: S. 119. 11 Wolfgang Koeppen: „Mein Freund Alfred Andersch“, in: Volker Wehdeking (Hrsg.): Zu Alfred Andersch, Stuttgart 1983, S. 9-12, hier: S. 11.

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Beide Autoren, Koeppen und Andersch, aber wissen, dass sie nur „mit einer Literatur des humanen Protests […] die Situation verfehlen würden“12. In ihren Narrativen werden in der Zuspitzung der Dilemmata von Kontingenzsituationen Möglichkeiten des individuellen Handelns und der richtigen Lösung ausprobiert und ein Erkenntnisschub freigesetzt, wobei durch die Offenheit und Unentschiedenheit der narrativen Situationen die Fragestellung, welches die wünschenswerte Haltung und Handlung angesichts der Dilemmata der Zeit sein könnte, an die Figuren und an die Leser zurückgeworfen wird.

R EALITÄT

DER

B ILDER

Die Konstruktion neorealistischer Bilder und Schreibweisen In der Diskussion über den Neorealismus erschien oft – vor allem in Italien – die Frage nach dem Realismus bisweilen nahezu bis zur Erstarrung institutionalisiert. Nicht aber in einer Hinwendung zur äußeren Wirklichkeit liege das Spezifikum des Neorealismus nach Gilles Deleuze, sondern in seiner Hinwendung zu einer Wirklichkeit des Denkens selbst. Als epochaler Einschnitt stellt der Neorealismus für Deleuze vor allem das Aufkommen einer neuen Art von Bildern dar.13 Das Neue am Neorealismus (auf das Kino be-

12 Alfred Andersch: „Choreographie des politischen Augenblicks. Wolfgang Koeppen, ‚Der Tod in Rom‘“, in: ders.: Essayistische Schriften 3, Bd. 10, Zürich 2004, S. 157-165, hier: S. 163. 13 „Ein Kennzeichen des Neorealismus ist gerade das Anwachsen rein optischer Situationen (und auch akustischer […])“ (Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 13). Diese „Opto-und Sonozeichen“ verändern die Affekte und die Wahrnehmungen der Bilder. Wie Oliver Fahle treffend anmerkt, spricht Deleuze „von einer Naturgeschichte der Entwicklung ganz bestimmter Bildtypen oder Bilderkombinationen, die jedoch mit historischer Entwicklung weniger zu tun haben als mit der Fähigkeit Einzelner, die in der Ästhetik des Films angelegten Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verwirklichen“ (Oliver Fahle: „Deleuze und die Geschichte des Films“, in: ders. und Lo-

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zogen) wird an der Dominanz optischer und akustischer Bilder festgemacht, an dem Entstehen optisch-sonorer Situationen, nämlich dort, wo Begegnungen stattfinden, in denen die Figuren, anstatt gestaltend in die Realität einzugreifen, vielmehr zu Zuschauern einer Realität werden, die sich als feindlich oder gar erhaben gegenüber jeglichem Eingreifen erweist. Die Handlung wird folglich durch das Umherwandeln der Figuren ersetzt, die – oft ohne konkretes Ziel – zwischen Trümmern und Ruinen Städte und Landschaften durchschreiten.14 Für Deleuze wird die Krise des Aktionsbildes im Neorealismus dadurch sichtbar, dass die sensomotorischen Relationen zwischen Bild und Handlung nur dazu benutzt werden, die sich dort abzeichnenden Störungen aufzuzeigen. Die neorealistische Figur wird zum Zuschauer, der, anstatt zu handeln oder in eine Handlung verwickelt zu sein, diese registriert und einer Vision ausgeliefert scheint, die ihn verfolgt und von der er verfolgt wird. So öffne der italienische Neorealismus einem Kino des Denkens den Weg, weil er erstmals nicht mehr in der simplen Entsprechung von Figur und Umwelt, von Subjekt und Objekt, von Situation und Aktion, von Wahrnehmung und Wahrgenommenem aufgehe. Es wird von der Realität (dem täglichen Leben, von Verhalten und Alltagsdingen) ausgegangen, aber durch die mit Hilfe der Hervorhebung bestimmter Merkmale erhaltene Deformation eine autonome Dimension der Bilder und der Wahrnehmung kreiert, aus der eine neue Form der Spannung entspringt: Wir wissen nicht mehr, was erwartet und was befürchtet wird. Und wenn hier von Realitätsbearbeitung gesprochen wird, ist damit zugleich immer auch mitgedacht, dass Realität selbst nicht unmittelbar erfahrund kommunizierbar ist, sondern stets medial vermittelt wird – und Literatur ist eines dieser Medien, sogar eines der zentralen. Die neuen Zeichen und Bilder, die man im neorealistischen Kino erkennen kann, können auch für die Analyse der literarischen Texte, in denen

renz Engell (Hrsg.): Der Film bei Deleuze. Le cinéma selon Deleuze, Weimar 1999, S. 114-126, hier: S. 115). 14 „Seinen äußeren Erscheinungsformen, den Ruinen und dem Schwarzhandel, den Flüchtlingen und der verwahrlosten Jugend, dem Hunger und den Demontagen entsprechen viele psychische und geistige Phänomene“, schreibt diesbezüglich Alfred Andersch (Alfred Andersch: „Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation [1948]“, in: Gerd Haffmans: Das Alfred Andersch Lesebuch, Zürich 1979, S. 111-134, hier: S. 129).

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„Sprache und Denken […] zu einer neuen Art des Sehens“15 mutieren, fruchtbar gemacht werden. Wenn wir nun die Modalitäten betrachten, die als neorealistisch bezeichnet werden können, könn(t)en wir die Verwendung des Begriffs „Neorealismus“ für filmische oder literarische Texte rechtfertigen, die diese Merkmale – unabhängig von den angewendeten Formen und Mitteln – enthalten. Deleuze, der die Eigenständigkeit der Zeichen gegenüber der Materie betont, formuliert es folgendermaßen: „Der Film bringt Zeichen in die Welt, die ihm eigen sind, und deren Klassifikation ihm überlassen bleibt, aber sobald sie einmal in die Welt gebracht sind, tauchen sie anderswo wieder auf, und die Welt fängt an, ‚Filme zu machen‘“.16 Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund In Sansibar oder der letzte Grund (1957)17 führt Alfred Andersch an einem unbedeutenden Ort in wenigen Entscheidungsmomenten unterschiedliche Menschen zusammen (Kommunisten, Pfarrer, ein jüdisches Mädchen),18 die trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Aufgabe aneinander binden wird, die Rettung eines Kunstobjektes und eines verfolgten Menschen vor dem Zugriff der „Anderen“, der Nazis, die von Andersch mit dem Namen,

15 So Maria E. Brunner in Anlehnung an Deleuze in ihrer umfassenden Analyse der filmischen Strukturen und des Motivs der Desertion in Die Rote (Der Deserteur und Erzähler Alfred Andersch: „Dass nichts dunkel gesagt werden darf, was auch klar gesagt werden kann“, Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1997, S. 9). 16 Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 63. 17 Alfred Andersch: „Sansibar oder der letzte Grund“, in: ders.: Gesammelte Werke I, Zürich 2004, S.7-185. Dieser Titel wird im Folgenden mit der Sigle S und der Seitenzahl zitiert. 18 Für Sansibar wäre ein Vergleich mit Vittorinis Roman Uomini e no (1945) angebracht, da in beiden Romanen die Menschen (uomini) mit denen, die es nicht sind (e no), konfrontiert werden. Die Geschichte der fünf Personen in Sansibar (der Junge, der Kommunist Gregor, der Fischer Knudsen, der Pfarrer Helander, die Jüdin Judith und das Kunstwerk) zeigt, wie problematisch es ist, ein Mensch zu sein, gegen die Unterdrückung und für die Freiheit zu kämpfen, aber auch in ständiger Gefahr und oft allein zu leben.

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wie er sagt, eines bayerischen Nazis (Abkürzung von Ignaz) nicht bezeichnet werden können.19 Die Handlung des Romans kreist um Bilder und im Besonderen um eine Plastik, die Skulptur des lesenden Klosterschülers, die mit den Worten Brechts die „Kunst der Betrachtung“ lehrt.20 Die Plastik wird Körperteil für Körperteil gesehen/gelesen und durch die Lektüre in Bewegung gesetzt. Sehen wird im Text identisch mit Lesen. Auch die Plastik stellt den Kontakt mit dem Buch durch die Augen her: „Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er lese. Seine Arme hingen herab […]“ (S, 53). Es findet hier eine Vereinfachung oder Reduzierung der Form (im Sinne Barlachscher Ästhetik) zu Gunsten des Ausdrucks statt.21 Der lesende Klosterschüler veranschaulicht ganz konkret Anderschs Kunstauffassung, wie dieser sie in Die Blindheit des Kunstwerks vertritt, bricht also „aus der Blindheit der reinen, sich selbst genügenden Form“22 aus und wird zum Auslöser verantwortungsbewussten Handelns. Mit der Figur des Klosterschülers ruft der Roman die Vorstellung von Gelegenheiten wach, die als Handlungsoptionen ein Netz von Beziehungen strukturieren, innerhalb dessen Heldengeschichten vielleicht noch möglich sind, obwohl der Sinn guter Taten längst verloren zu sein scheint. Die NetzMetapher steckt aber auch die Vorstellung ab, dass die Einsamen in einem

19 Vgl. Alfred Andersch: „Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“ (unveröffentlicht, 1963/64, zit. nach Irene Heidelberg-Leonard, Volker Wehdeking (Hrsg.): Alfred Andersch, Opladen 1994, S. 226-228): „[…] warum ich/ in meinem roman sansibar oder der letzte grund/ die wörter die anderen/ an die stelle der wörter/ gesetzt habe/ es gibt dafür/ zwei gründe/ erstens/ ich bin in baiern aufgewachsen/ ich kenne das Wort nazi seit meiner Kindheit/ in einer ganz anderen bedeutung/ immer war mir die bezeichnung nazi/ für die nazi/ zuwider/ denn nazi/ das ist die abkürzung eines vornamens/ des barocken vornamen ignaz“. 20 Bertolt Brecht: „Schriften zur Literatur und Kunst 1“, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18 Frankfurt a. M. 1967, S. 273. 21 Vgl. die Ausführungen von Günther Stocker: „Lesen als Utopie der Freiheit. Alfred Anderschs ‚Sansibar‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Jg. 123 (2004), H. 2, S. 264-285, hier: S. 271. 22 Alfred Andersch: „Die Blindheit des Kunstwerks“, in: ders: Essayistische Schriften 2, Zürich 2004, S. 224- 237, hier: S. 236.

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geschlossenen Raum durch wechselseitige Beobachtung zusammenfinden. Und diesen Aspekt möchte ich jetzt näher analysieren. Die Augen und die Blicke der Protagonisten werden sozusagen zu Apparaturen, die Eindrücke aneinanderreihen, aus denen Wahrnehmungsbilder entstehen, wie als Ergebnis eines Schnitts. Im Text gibt es eine Betonung des audiovisuellen Elements: Blicke und Sehen, Worte und Gespräche sowie Geräusche stehen im Fokus der Darstellung. „Die Montage-Technik des Films – schreibt Andersch – reizt mich als Mittel der Erzähltechnik sehr. [...] In einer kleinen Studie über das Kino der Autoren habe ich nachzuweisen versucht, dass der Film, genau wie das Theater, eine Form von Literatur ist. Genauer gesagt eine Erscheinungsweise der epischen Literatur (nicht der dramatischen!). Da ich nicht an den verfilmten Roman glaube, glaube ich auch nicht, dass der Film zwischen dem Publikum und meinem Werk Kontakte herstellen kann, die nicht in meinem Werk selber liegen, außer im Sinne einer Popularisierung, an der mir nicht liegt.“23

Eine mögliche produktive Beziehung und Verbindung zwischen Literatur und Film gestaltet sich also nicht in der Form der Verfilmung („der Film soll nicht zur Verfilmung von Literatur entwürdigt werden“ 24), sondern innerhalb eines viel breiter angelegten Konzepts, das Andersch aber bis dato als einen „fragmentarischen Thesen-Entwurf“ betrachtet, in dem der Film als eine „visuelle Form“ der Literatur erscheint. Dabei versucht er die erzählerischen Möglichkeiten des Romans zu erweitern mit neuartigen, sogenannten filmischen Stilmitteln, wie etwa physiologischen Beschreibungen und der Betonung von Gesten und vor allem Blicken, die Vorrang haben vor Worten, die im Roman ausgetauscht werden. Das Sehen wird durch Vergleich, Wiederholung und Kontrast gekennzeichnet. Dadurch gewinnt der Text auch eine intensive ‚taktische‘ und emotionssteuernde Qualität. Nehme man als Beispiel den Romanbeginn mit der Annäherung an den Schauplatz einer Drohung. Ein Mann (Gregor, ein junger KPD-Funktionär, der mit dem Auftrag eingeführt wird, seinen Genossen Knudsen in Rerik zu treffen) radelt in Richtung einer Stadt an der Ostsee und stellt sich vor, wie sich der Vorhang öffnet und sich eine Landschaft auftut. Die Stadt rückt

23 Zit. in Gerd Haffmans: Über Alfred Andersch, Zürich 1974, S. 118. 24 Andersch: „Das Kino der Autoren“, S. 322.

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langsam näher, sie wird durch das sehende Auge zunehmend sichtbar. Aber er ist bedroht, nähert sich dem „Schauplatz einer Drohung“ (S. 12), weshalb sich ihm die Landschaft verschließt. Es gibt kein panoramatisches Sehen der Realität. Das forschende Beobachten nimmt Ausgang von der Beschreibung der Augen, aber die Unsicherheit des erlebenden Ichs wird hier mit einem „mentalen“ Bild geleistet: „Es ist möglich, dachte Gregor, vorausgesetzt, man ist nicht bedroht, die licht stehenden Kiefern als Vorhang anzusehen. […] nach ein paar Minuten würde sich der Vorhang öffnen, um den Blick auf das Szenarium freizugeben: Stadt und Meeresküste“ (S. 12). Wenn man aber bedroht ist, wie im Fall Gregors, dann schließen sich die „Gegenstände […] in die Namen, die sie trugen vollkommen ein“ (S. 12). Die Kiefern als Vorhang des Szenariums, das sich eröffnen wird, Stadt und Meeresküste werden hier zu Demarkierungen, sie bezeichnen also ein aus seinen natürlichen Beziehungen herausgerissenes Bild. Das nun entstandene „autonome mentale Bild“25 verharrt reflexiv und dieses Verharren und Reflektieren erzeugen nun das, was Deleuze als filmisches Denken versteht.26 Gregor „bestaunt“ die Stadt, wie sie nun vor ihm liegt. Er ergreift also visuell von ihr Besitz. Die Türme der Stadt sehen bedrohlich aus, sie sehen alles. Und dabei erinnert sich Gregor an Tarasovka, eine Stadt in Russland, die er als Teilnehmer eines Manövers in der Roten Armee erobert hatte. Damals begann für ihn schon der Verrat, da Gregor bemerkte, dass ihm die Partei und deren Auftrag eigentlich egal waren. Schon damals war er überwältigt von einer Nebensache, von einem Bild, dem Glanz einer Stadt am Meer (S. 30-31). Wobei man hier mit Benjamin konstatieren könnte: „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“.27

25 Nach Deleuze ist das mentale Bild „ein Bild, das Gegenstände, die eine Eigenexistenz außerhalb des Denkens haben, als Gedankenobjekte behandelt, so wie ja auch Wahrnehmungsobjekte durchaus eine Eigenexistenz außerhalb der Wahrnehmung haben. Es ist ein Bild, das sich Relationen zum Gegenstand nimmt, symbolische Akte, intellektuelle Gefühle“ (Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1989. S. 266). 26 Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 14. 27 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972, Bd. 5,1, S. 596.

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Anhand der Passagen, in denen das Sehen eine zentrale Rolle spielt, kann man ein Gewebe der Blicke nachzeichnen, das den Roman wie eine Textur durchzieht. Nehmen wir eine der Dreierkonstellationen, die die Romankonstruktion charakterisieren: Judith – Gregor – Knudsen. Alle Figuren sind gewissermaßen Deserteure, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Am Hafen hat das schwedische Schiff angelegt. Gregor beobachtet Judith, Gregor beobachtet Knudsen, Judith beobachtet das Schiff, Knudsen wiederum beobachtet Gregor: „Nummer drei, dachte Gregor, während er das Mädchen beobachtete. Nummer drei, die fliehen will… Gregor sah Knudsen auf dem Deck des Kutters hantieren […] Er will bleiben, dachte Gregor, und sie alle wollen bleiben. Nur wir drei wollen weg – ich, der Klosterschüler, das Mädchen. […] Judith sah zu wie die Breitseite des Schiffes sich an die Kaimauer heranschob, sie hörte das Aufrauschen des Wassers in dem Wirbel […] Gregor beobachtete den Ausdruck von Angst in Judiths Gesicht, als sie die beiden Männer erblickte […] Knudsen konnte Gregor nicht mehr im Auge behalten […] Knudsen sah den grauen Anzug mit den Fahrradklammern an den Hosen an verschiedenen Stellen sichtbar werden.“ (S. 73-76)

In diesen optischen Situationen28 verrinnt eine eher deskriptive Zeit, die das Geschehen nicht vorantreibt. Das, was eine „optische Situation“ zeigt, ist etwas Wahrgenommenes, Beobachtetes, das aber nicht in eine bipolare Konstruktion von Subjekt und Objekt der Wahrnehmung eingespannt wird. Die Situation, in der die Figuren sich befinden, lässt sie „dasjenige sehen und verstehen […], was nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt“.29 Nicht die Handlung ist also das Merkmal dieser neuen Art von Situationen im filmischen und im literarischen Text, sondern ein Bild, das optisch wirkt und ein neues Sehen produziert. Andersch aber unterstreicht nicht primär die Bedeutung des Kameraauges, sondern desjenigen Subjekts, das, wenn es „den Wechsel von Bildern betrachtet, der Optik des menschlichen Blicks folgt“.30 Nach Andersch – wie er sich in einem Interview mit Horst Bienek äußert – soll man als Romancier folgende Eigenschaft haben:

28 Vgl. die Ausführungen von Kerstin Volland: Zeitspieler. Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch, Wiesbaden 2009, S. 96. 29 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 13 30 Andersch: „Das Kino der Autoren“, S. 73.

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„Die Fähigkeit, Ereignisse und Zustände als sinnliche Gegenstände wahrzunehmen und diese Gegenstände ohne alle symbolischen, parabolischen und allegorischen Absichten zu zeigen, als das ‚real thing‘, das sie sind“.31 Am Ende aber bleibt die Frage, inwieweit die Erkenntnis der Notwendigkeit einer hellsichtigen Enthüllung, Demystifizierung der Wirklichkeit (damit man „dem optischen Zauber dieses Lebens“, wie es in Die Rote formuliert wird,32 nicht verfällt), durch Anderschs Orientierung am italienischen Neorealismus diese Wirklichkeit erfasst, eine Wirklichkeit, die geheim, komplex, unergründlich und kurzlebig ist, wie es Natalia Ginzburg in ihrem Lessico famigliare 1963 zusammenfasst: „Es war während der Nachkriegszeit, einer Periode, in der wir alle dachten, Dichter zu sein, und alle dachten, Politiker zu sein; alle stellten sich vor, man könnte und müsste alles in Dichtung umsetzen, nach so vielen Jahren, in denen es schien, als ob die Welt verstummt wäre und die Wirklichkeit betrachtet wurde, als ob sie hinter Glas wäre, in einer gläsernen, kristallenen und sprachlosen Starrheit. […] Jetzt waren wieder viele Worte im Umlauf und die Realität erschien wieder zum Greifen nahe. […] Dann geschah es jedoch, dass die Realität sich als komplex und geheim entpuppte, nicht weniger unergründlich und dunkel als die Welt der Träume; und sie erwies sich erneut hinter einer Glasscheibe, und die Illusion, jenes Glas zerbrochen zu haben, entpuppte sich als vorübergehend.“33

Auch in der letzten Sequenz von Michelangelo Antonionis Film IL GRIDO sieht Aldo kurz vor seinem Selbstmord Ida von der Straße aus hinter einer

31 Alfred Andersch zit. in Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, München 1965, S. 143. 32 „[…] wahrscheinlich ist das ganze eine literarische Idee, ausgelöst von neorealistischen Filmen, ein bisschen Faszination von der Poesie südlichen Proletariats, das italienische Proletariat ist literarisch en vogue, aber vermutlich bedankt es sich dafür, vermutlich wünscht es, auf die Poesie zu verzichten, wahrscheinlich findet es nicht einmal Geschmack an jenen Filmen, die zwar sein Leben zu verändern wünschen, aber zugleich dem optischen Zauber dieses Lebens verfallen sind“ (Alfred Andersch: „Die Rote“, in: ders.: Gesammelte Werke I, Zürich 2004, S. 283-284). 33 Natalia Ginzburg: Lessico famigliare, Turin 1963, S. 165-166. Übersetzung der Verfasserin.

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Glasscheibe, aber er kann sie nicht mehr an sich binden. Alfred Andersch lässt eine seiner einsamen Hauptfiguren in dem Roman Die Rote über den Film nachdenken, den Musiker Fabio Crepaz, für den Liebe etwas Unbekanntes ist: „Am Ende der Stationen seines Dramas führte Antonioni Aldo in ein schwarzes Paradies ohne Scham, als wolle er ihm beweisen, dass sein Drama auch dort noch nicht endete, wo es mit allen Konventionen der Liebe vorbei war. Schließlich hätte Aldo sich sagen können, dass seine ganze Affäre nicht so wichtig sei, wenn es möglich war, die Beziehungen zwischen den Menschen auf eine so einfache Weise zu regeln, wie die Tagelöhner der Emilia sie übten.“34

Und in Sansibar nimmt Gregor, der allein zurückgeblieben ist, von seinem Beobachtungsposten aus Judith, die er nicht an sich binden wollte/konnte, nicht mehr wahr: „Die See und die Nacht waren zu einem Wald aus finsterer Zeit geworden, an deren Fläche nur die Uhr des Motorengeräuschs leiser und leiser tickte“ (S. 165). Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom Dass die wirkliche Welt unter der Signatur der Trennung und des Todes steht, gilt für Anderschs und noch mehr für Koeppens Werk, dem ich mich jetzt zuwenden möchte. In der Tat sind auch die Städte- und Reisebilder beider Autoren dem Tod und der Vergangenheit verpflichtet, sie suchen Archaisches auf, natürlich besonders in einer Stadt wie Rom: „Denn der Tod in Rom – schreibt Andersch – wurde in den metaphysischen Bildern De Chiricos beschlossen und ist unwiderruflich. Meine Skizzen sind also schon Erinnerungen. Die Utopie, die sie umschreiben, liegt in der Vergangenheit, auch wenn ich probiere so genau wie möglich wiederzugeben, was noch existierte, als ich es sah.“35

34 Andersch: „Die Rote“, S. 402. 35 Alfred Andersch: „Aus einem römischen Winter“, in: ders.: Essayistische Schriften 2, Zürich 2004, S. 359-390, hier: S. 361.

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Koeppens Der Tod in Rom (1954)36 schildert zwei Tage in Rom, wo die Mitglieder der deutschen Familien Pfaffrath und Judejahn mehr oder weniger zufällig aufeinander treffen. Ein beunruhigendes und groteskes Familientreffen verwandelt sich in einen echten Abstieg in die Unterwelt, in einem sommerlichen Rom der fünfziger Jahre, zwischen neorealistischen Atmosphären und verdünntem Licht, zwischen den ersten Anzeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs und der stillen und unveränderlichen Dunkelheit der Gassen. Die Personen und ihr Handeln sind durch die deutschen Verhältnisse seit 1933 geprägt: Der ehemalige SS-General Judejahn träumt als illegaler Waffenhändler von der Auferstehung des Dritten Reiches, während sein opportunistischer Schwager, Pfaffrath, in der neuen Bundesrepublik inzwischen Oberbürgermeister geworden ist. Die beiden Söhne hingegen versuchen, sich durch ihre Existenz als Künstler und Priester von der Vätergeneration abzusetzen. Die Geschichts-Erinnerung, die wiedererinnerte deutsche Geschichte bedeutet für die Figuren ihre Lebens-Wiederholung. Die Erinnerung produziert durch die sich mit ihr kreuzende Gegenwartserfahrung die bisher verdrängte Kontinuität des Daseins der sich Erinnernden. Koeppen lässt diese und zahlreiche weitere Protagonisten mittels verschiedenster literarischer Techniken zu Wort kommen. Seine Darstellung ist exakt in der Zeichnung der Details und gekennzeichnet durch die Pointierung des Grotesken, Hässlichen, Widerwärtigen – die von neusachlichen Bildern angeregt zu sein scheint – und auch des bloß Alltäglichen, welches sich als ortloses Schauspiel gestaltet. Der Übergang von realistischer Darstellung zur dämonischen Verzerrung des Bildes geschieht nicht durch Metaphorisierung. Wie Sabina Becker zu Recht betont, ist die Gruppe 47 in diesen Jahren „die literarische Heimat des Neorealismus“37 und die Forderung

36 Vgl. Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom, Frankfurt a. M. 1975. Dieser Titel wird im Folgenden mit der Sigle TiR und der Seitenzahl zitiert. 37 Sabina Becker: „Wolfgang Koeppen und die deutsche Nachkriegsliteratur“, in: Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner und Roland Ulrich (Hrsg.): Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd. 2: Wolfgang Koeppen 1906 – 1996, München 2006, S. 62-77, hier: S. 70.

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nach einer neuen realistischen Literatur knüpft auch an die Programmatik der Neuen Sachlichkeit an.38 Die explizit neorealistische, wie ich sagen möchte, Qualität dieser Schreibweise wird von Alfred Andersch folgendermaen betont: „In der Weise dieser neuen, anti-naturalistischen, die Realität durchleuchtenden Fotografie ist die Technik Koeppens eine fotografische. Einige Szenen des Tod in Rom lesen sich wie Einstellungen aus Drehbüchern Eisensteins oder De Sicas, so etwa die grausige Katzenszene am Pantheon oder der Gang der beiden jungen Männer über die mit Flugblättern bedeckte Piazza del Popolo.“39

Koeppens pluralistische Erzählweise entwirft auf diese Weise ein „choreographisches Szenarium“,40 eine Choreographie des politischen Augenblicks: „Sie wateten durch Papier; das Papier lag auf der Piazza del Popolo, es lag vor den Kirchen Santa Maria dei Miracoli, Santa Maria del Popolo, Santa Maria di Montesanto, die drei Marien bewachten den Platz, das Papier lag um den ägyptischen Obelisken, den Augustus der Sonne, Sixtus V. […]“ (TiR, 153).

Der Autor operiert mit Wahrnehmungsbildern und zeigt Details, Dinge und Sachverhalte auch in ihrer kruden Bildlichkeit. Er arbeitet mit einer filmischen Cut-up-Technik. Durch die Erscheinung in Schnitten auseinanderlegt, werden die Figuren in etwas Fließendes überführt, das sich nicht als haltbares Bild feststellen lässt. Die parataktische Anreihung lässt ein Kontinuum des Diskurses entstehen, in dem der Leserblick wandert und die sichtbaren Details in weitere erst durch die Komposition sichtbare Zusam-

38 „[…] nicht nur Koeppen, sondern auch jüngere, erst nach 1945 etablierte Autoren [orientierten] sich an der Moderne der Vorkriegszeit [...], hier ist nochmals an ihre neusachliche Ausprägung zu erinnern“ (Ebd., S.67). 39 Alfred Andersch: „Choreographie des politischen Augenblicks“, in: Ders.: Essayistischen Schriften 3, Zürich 2004, S. 15-165, hier: S. 158. 40 Hartmut Buchholz: Eine eigene Wahrheit: Über Wolfgang Koeppens Romantrilogie ‚Tauben im Gras‘, ‚Das Treibhaus‘ und ‚Der Tod in Rom‘, Frankfurt a.M., Bern [u.a.] 1982, S. 152.

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menhänge integriert. Eine auffälligere Erscheinung sind Schnitte ohne trennendes Satzzeichen: „Machtlos war er [Judejahn] gegen den Trieb, aber mächtig trieb es ihn zu den Mächtigen, denen er dienen wollte, um im Haus der Macht zu sitzen, teilzuhaben an der Macht und selber mächtig zu werden zufrieden schlummerte Friedrich Wilhelm Pfaffrath mit seiner Frau Anna auf der Reise noch einmal im Ehebett, wenn auch nicht in Umarmung vereint.“ (TiR, 87)

Mit dieser Multiperspektivität erzielt der Autor aber kein beliebiges Nebeneinander lediglich fragmentierter Episoden. Im Gegenteil lenkt das Konstrukt die Aufmerksamkeit auf eine andere Ebene, die sich aus der Syntagmatik der einzelnen Segmente ergibt, denn die Montage kann als Verfahren der Kombination autonomer Einstellungen zusätzliche Bedeutungen generieren, indem z.B. kausale, assoziative Zusammenhänge usw. zwischen den einzelnen Segmenten hergestellt werden. In Empirismo eretico41 hat Pier Paolo Pasolini den Terminus der freien, indirekten Rede (discorso indiretto libero) auf die erweiterte Form der rein subjektiven Einstellung angewandt und diesmal von der Literatur auf den Film übertragen. Ein scheinbar subjektiver Blick ist nicht rein subjektiv, sondern beinhaltet immer noch unser aktives Sehen, im Kino die aktive Auswahl des Regisseurs am Bildkader und Ensemble, sowie der Mise en Scène:42 „Wie fern waren sie einander, die hier zu dritt die Nacht erlebten. Siegfried sah Adolf und Laura an. Aber sah er sie? Projizierte er nicht nur sich auf die Gestalten seiner Gefährten? Sie waren Gedanken von ihm, und er freute sich, dass er sie dachte. Es waren freundliche Gedanken. Und sie, sahen sie sich?“ (TiR, 173)

41 Vgl. Pier Paolo Pasolini: „Zur freien indirekten Rede“, in: ders.: Empirismo eretico. Ketzererfahrungen: Schriften zu Sprache, Literatur und Film, München 1979, S. 101-129. 42 Nach Deleuze ist diese Redeform „eine Anordnung von Äußerungen, die gleichzeitig zwei nicht voneinander zu trennende Subjektivierungsakte ausführt: der eine konstituiert eine Person in der ersten Person, während der andere ihr beiwohnt und sie in Szene setzt“ (Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild – Kino 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 107).

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Mitten in der Geschäftigkeit der Großstadt zeigen sich plötzlich und unerwartet Risse und Brüche hinter der Fassade, unter der Oberfläche der zugelassenen Wirklichkeit Verdecktes, Verdrängtes, Verkehrtes. Die Straße – um an Kracauer zu erinnern – erscheint als ein vom Zufall regierter Ort.43 Die Flucht der Protagonisten auf die Straße als öffentlicher Raum bietet die Chance einer – wenn auch nur temporären – Befreiung aus dem Zwangszusammenhang der Familie. Und beim Umherirren der traumatisierten Figuren – gegenseitig fremd und fern, obwohl sie sich treffen und miteinander reden – durch die Straßen Roms bilden sich ständig Fluchtlinien, die in ganz anderen als den bekannten Bahnen verlaufen. Auf dieselbe Weise ziehen sich die Protagonisten aus der Handlung und lenken auf andere Bahnen um. Im letztlich vergeblichen Versuch wirklich zu sehen, Rätsel zu bewältigen oder mit Problemsituationen verschiedener Natur fertig zu werden, suchen die egomanischen Figuren dieses Romans nach Sinn oder Zusammenhängen. Hervorragende und assoziationsmächtige Kulisse für diese Versuche, angelegt als endlos labyrinthische Suche, ist eine Weltstadt wie Rom. Die Stadt erscheint aber nicht als geschlossene Kulisse, sondern ist aus geschichtlichen, architektonischen und literarischen Bruchstücken zusammenmontiert und wird im Blick der verschiedenen Figuren konstituiert. Der Eindruck der Realität44 als Inszenierung wird hervorgehoben und der Stadt-Körper lädt nur zur ziellosen Flanerie ein, die jetzt „in den sozialen und politischen Angst-Träumen des 20. Jahrhunderts“45 endet. Es gibt keinen abgeschlossenen Sinn, auf den man zurückgreifen kann, um die Erfahrung in Erinnerung zu rufen; stattdessen kehrt man ständig zu jenen Orten wieder, die die Vision gekennzeichnet haben, und zu jenen

43 Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Film. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Schriften, Bd. 3, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt a. M. 1973, S. 98. 44 „Es gab, es gibt vielleicht noch Schriftsteller, die Wirklichkeit einzufangen meinen; wir anderen forschen verzweifelt, was Wirklichkeit sei und wie man sie erzählen könne. [...] Soweit die Theorie. Die Theoretiker vergessen sie glücklicherweise beim Schreiben ihrer Romane“44 , schreibt Wolfgang Koeppen („Was ist neu am Neuen Roman?“ [1963], in: ders.: Die elenden Skribenten. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1981, S. 231- 236, hier: S. 231-233). 45 Heinz Brüggemann: Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a. M. 1989, S. 296.

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Öffnungen, die sie unterschieden haben, in einer Art von „Wiederkehr“, die den Motor eines Gedankens und einer Erinnerung bildet, die sich ständig reaktivieren. Die Erinnerung führt zu einem Zusammenhang von Aktuellem und Virtuellem zurück. Ruft eine aktuelle Wahrnehmung eine Erinnerung hervor, kann man in die reine Vergangenheit zurück versetzt werden, so dass eine Grenze zwischen aktuellem und virtuellem Bild erreicht wird, die uns Spaltung und Zusammenhang vergegenwärtigt.46 „Die Erinnerung“, schreibt Andersch in einem kleinen Essay über Anamnese, déjà-vu, Erinnerung, „braucht das Bewusstsein nicht. Aus dem Bewusstsein gelangt sie unmittelbar in eine Schicht, die sie nicht in Gedanken, sondern in Bilder verwandelt“.47

S CHLUSSBETRACHTUNG Ihre Fluchtlinien verfolgen also die beiden Romane jeder auf seine eigene Weise. Es entsteht dabei eine Monotonie der Wiederholung, aus der aber

46 „Deleuze identifiziert die allgemeine Vergangenheit Bergsons mit der Virtualität. Im Unterschied zur konkreten Vergangenheit des Subjekts, welche die Vergangenheit sinnlich konkreter Gegenwarten enthält, bewahren sich in der allgemeinen Vergangenheit darüber hinaus auch all jene Aspekte, die sich nicht realisiert haben, aber denkbar gewesen wären“ (Volland: Zeitspieler, S. 98). 47 Alfred Andersch: „Anamnese, déjà-vu, Erinnerung“, in: ders.: Essayistische Schriften 3, Zürich 2004, S. 66-70, hier: S. 66. Auf der Bühne der Erinnerung kann man nach Andersch nur „Versatzstücke“ finden, die dann der Autor in der Literatur als „Archäologie der Seele“ (Der Vater eines Mörders, Zürich 1980, S. 131) verwenden kann. Auf diese Weise gewinnt die realistische Schreibweise, zu der sich Andersch bekennt, „eine Art magische Qualität“, wie diejenige, die die Erinnerung an eine Wanderung entlang der Ostseeküste annimmt: „Durch die immer anhaltende, allmählich eine Art magische Qualität annehmende Erinnerung an eine Wanderung, die ich im Jahr 1938 an der mecklenburgischen Ostseeküste unternahm“ (in Horst Bienek: „Alfred Andersch 1961“, in: ders.: Werkstattgespräch mit Schriftstellern, München 1976, S. 137-151, zit. nach Alexander Ritter: Erläuterungen und Dokumente. Alfred Andersch. Sansibar oder der letzte Grund, Stuttgart 2003, S. 95).

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eine Differenz entsteht,48 die den Produktionsprozess der Zeit und ihrer Bilder markiert. Am Ende beider Romane gibt es keine Synthese. Die Literatur, könnte man mit Andersch (in den Kirschen der Freiheit) sagen, liefert vielleicht nur „Deskription“,49 oder sie „hat nur eine Aufgabe: einen Augenblick der Freiheit zu beschreiben“,50 aber auch die Funktion, die Freiheit des Blicks in Bezug auf die Aktion zu akzentuieren. So sieht Gregor nach der Rettung von Judith und der Skulptur im Morgenlicht „die Gegenstände ohne Schatten und Farben, […] beinahe so, wie sie wirklich waren, rein und zur Prüfung bereit“, worauf die bezeichnenden Sätze folgen: „Alles muss neu geprüft werden, überlegte Gregor. Als er mit den Füssen ins Wasser tastete, fand er es eisig“ (S. 167). Koeppens visionärer Ästhetizismus und Siegfrieds optisches Entdecken zwischen Faszination und Abwehr (z.B. gegenüber dem Knabenkörper) kulminiert dann in dem Blick durch „eine Scharte in der Wand“ (TiR, 118). Aber wenn Andersch und Koeppen die Verantwortung und die Tragödie des ethisch/ästhetischen Menschen gestalten, ist dem Letzteren auch die Kunst keine Affirmation. Die Großartigkeit der Tat in Sansibar (durch Helanders Aufstand und Niederschießung der Anderen/der Nazis) bleibt die des Augenblicks: Im Heldentod wird das Leben gelebt und die Schrift Gottes gelesen/gedeutet. Und auch wenn nach Alfred Andersch Koeppen „die scheinbar unmögliche Transposition von Tagespolitik in Kunst: das momentane Ereignis wird zur großen Parabel der Aktion“51 gelingt, tut sich parallel dazu im Tod in Rom eine Art Epiphanie der Ungebundenheit und des Frei-Seins durch die Flucht und das Verschwinden auf. Koeppens Figuren sind sozusagen Demonstrationsfiguren der Müdigkeit. So unterstreicht der Autor die zunehmende Entfremdung, wie menschliche oder unmenschliche Beziehungen sich gestalten in einer zur Entfremdung tendierenden Gesellschaft, worauf es als Reaktion die Flucht oder die Desertion gibt (eine andere Ausformung der Anderschen Thematik). Siegfried gelangt zu einer neuen Art von Freiheit, die mit negativen Vorzeichen besetzt zu sein scheint. Aber für die Wüste, in die er mit seinem Preisgeld gehen will, um in Afrika eine schwarze Symphonie

48 Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 17. 49 Alfred Andersch: „Die Kirschen der Freiheit“, in: ders.: Erzählungen 2. Autobiographische Berichte, Bd. 5, Zürich 2004, S. 327-413, hier: S. 385. 50 Ebd., S. 383. 51 Andersch: „Choreographie des politischen Augenblicks“, S. 159-160.

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zu schreiben, könnte man hier eine enthüllende etymologische Erklärung Alfred Anderschs gegen Ende seines Berichts Die Kirschen der Freiheit anführen: „Auf meiner Karte trug das Gebiet die Bezeichnung ‚Campagna diserta‘. ‚Diserta‘, dachte ich, der gleiche Wortstamm wie ‚desert‘, die Wüste, als das richtige Gebiet für Deserteure. Deserteure sind Leute, die sich selbst in die Wüste schicken.“

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Die Bedeutung eines Wortes wie Deserteur wird so durch den Bezug auf das Dinghafte geklärt. Die Früchte der Wahrheit versteht Andersch deshalb auch als „ciliege deserte“, als „die verlassenen Kirschen, die DeserteursKirschen, die wilden Wüstenkirschen [seiner] Freiheit“.53 Und die Orte der absoluten Freiheit, die aber wiederum nur die des Augenblicks ist, sind für Andersch leere, unbegrenzte und zugleich einsame und entfernte Gelände: die Wüste eben, sowie die Grenzgebiete, die wilde Natur, das Niemandsland, wo man zufällig die Kirschen der Freiheit pflücken kann. Eine Freiheit, die sich in diesen Grenzgebieten, auch an der Grenze zwischen Leben und Tod, ansiedelt. Selbstverständliche Realitätsprinzipien werden in diesen Texten außer Kraft gesetzt, wobei Wirklichkeit und Wunsch, Traum und Leben, Einbildung und Dingwelt versuchen, eine andere anthropologische Ordnung einzugehen.

52 Andersch: „Die Kirschen der Freiheit“, S. 412. 53 Ebd., S. 413.

Suchbewegungen im Raum des Humanitären Topographien der Bewohnbarkeit im Nachkriegsrealismus von Heinrich Böll und Vasco Pratolini

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I. Die Forderung nach der Rückkehr zum Menschen und zur Humanität, das Interesse am Alltag mit seinen gewöhnlichen Verrichtungen, die Darstellung von sozialen Milieus teilt Heinrich Böll mit den italienischen Neorealisten, deren literarische Publikationen er nachweislich zur Kenntnis nahm, auch wenn seine Auseinandersetzung mit ihren Positionen doch eher eine vermittelte blieb. Böll rezensierte Romane von Buzzati, Pavese, Flaiano, Pirandello und Soldati hinsichtlich ihrer Relevanz für die Moderneerfahrungen des nach Sinn suchenden, in Schuldzusammenhänge verstrickten, heimatkranken Menschen;1 eine explizite Stellungnahme zu neorealistischen Filmen in Italien blieb allerdings aus. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, dass es dennoch aufschlussreiche Parallelen zwischen Bölls Nachkriegsrealismus und den Zielen und Techniken neorealistischen Erzählens in Italien gibt. Exemplarisch wird Bölls Konzept eines humanitären

1

Heinrich Böll: „Neue italienische Romane und Novellen“, in: ders.: Werke. Essayistische Schriften und Reden I 1952-1963, Köln 1979, S.142-146.

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Nachkriegsrealismus (Claudia Öhlschläger) dem italienischen Neorealismus eines Vasco Pratolini (Friederike Römhild) gegenübergestellt. Das auf der Grundlage der betrachteten Texte ermittelte Tertium Comparationis beider Positionen betrifft die Thematisierung und Strukturierung von bewohnbaren Räumen. Böll bringt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen die Metapher des Wohnens und der Bewohnbarkeit ins Spiel, um die Suchbewegung einer nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs erforderlich gewordenen Beheimatung im eigenen Land zu markieren.2 Dabei geht es ihm nicht allein um die Bewohnbarkeit geographisch und mathematisch vermessener Räume, sondern um die Rehabilitation einer durch die Ideologie der Nationalsozialisten in Misskredit geratenen Sprache durch den Dichter, die sich in psychosozialer und mentaler Perspektive als bewohnbar erweisen könnte. Nur wenige Jahre vor dem Erscheinen von Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort (1953) plädierte Martin Heidegger aus philosophischer Perspektive für ein handlungsorientiertes Verständnis von Wohnen. In seinem Aufsatz „Bauen. Wohnen. Denken“ (1951), der explizit auf die „Wohnungsnot der Zeit“ Bezug nimmt und Wohnen als einen existenziellen Zweck fasst, heißt es: „Das alte Wort bauen, das sagt, der Mensch sei, insofern er wohne, dieses Wort bauen bedeutet zugleich: hegen und pflegen [cultura]. Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d.h. als die Wohnenden sind.“3 Wohnen ist auch hier der Grundzug des Seins und der Dichter ist derjenige, der Sprache bewohnbar machen kann. In Bölls Und sagte kein einziges Wort wird diese Suche nach einem bewohnbaren Zuhause der Protagonisten an ihren Bewegungen durch Stadt- und private Innenräume vorgeführt. Fred und Käte Bogner, ein Paar, das sich in einer Zeit der privaten und histori-

2

Die deutsche Nachkriegsgeneration versuchte bekanntlich im Zuge des Wirtschaftswunders die eigenen Defizite und Alltagsprobleme durch den Blick ins Ausland, insbesondere nach Amerika, zu kompensieren und zu verdrängen. Heimatfilme der 50er Jahre suggerieren beispielsweise eine Harmonie mit der eigenen Umwelt, die so nicht gegeben war. Vgl. Torben Fischer; Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland – Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 54.

3

Martin Heidegger: „Bauen Wohnen Denken (1951)“, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a. M. 2000, S. 145-164, hier: S. 148.

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schen Krise vorübergehend räumlich getrennt hat, verfügt nicht über den Raum, den es benötigen würde, um sich in einer bewohnbaren Zukunft einzurichten. Käte steht mit ihren drei Kindern ein einziges, schmutziges Untermieterzimmer zur Verfügung, Fred Bogner, der Ehemann, Telefonist bei einer kirchlichen Behörde, Trinker, Spieler, ist von der Sehnsucht nach einem Zuhause getrieben. Er findet vorübergehend und sporadisch in einem großbürgerlichen Wohnhaus Unterkunft, in dem zu seinem Entsetzen viele Zimmer leerstehen und nicht genutzt werden.4 Ein Hotelzimmer, das für Liebeszusammenkünfte der Eheleute in Anspruch genommen wird, kann die Suche nach einem stabilen Zuhause nicht stillen. Die herrschende räumliche und mentale Wohnungsnot findet ihre Entsprechung in Bölls Fokussierung von Orten, die keinen dauerhaften Aufenthalt gewähren, da sie sich durch flüchtige Begegnungen kennzeichnen, wie etwa die Straße, das Hotel, der Bahnhof, die Kneipe, der Park, der Wartesaal, die Würstchenbude, die Imbissbude, Rummelplätze, Kirchen, Friedhöfe. Es handelt sich vor dem Hintergrund der Trümmerlandschaft Deutschlands in der Nachkriegszeit um spezifische ‚Nicht-Orte‘, die Flüchtigen nur flüchtige Aufenthalte gewähren und bestenfalls als Provisorien der Geborgenheit fungieren.5 Solche ‚Nicht-Orte‘ gewähren in Zeiten der sozialen Verelendung für einen Augenblick lang Stabilität und Identität, als „bewegliche Behausungen“ (Augé) ermöglichen sie, das zeigen Böll und Pratolini in ihren Romanen gleichermaßen, neue Relationen zwischen Orten und dort stattfindenden sozialen Aktionen. Sei es, dass sich an solchen Orten des vorübergehenden Aufenthalts Repräsentanten aller Gesellschaftsklassen einfinden, um mit-

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Heinrich Böll: Und sagte kein einziges Wort. Roman, München 202009, S. 130f.

5

Marc Augé: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, München 2010. Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988. Zwischen den Begriffen ‚Ort‘ und ‚Raum‘ ist zu unterscheiden: Während Orte Auskunft erteilen über die Position des Hier und Jetzt, in der sich eine Person befindet, gibt der Raum Aufschluss über die Beziehungen, die eine Person zu ihm unterhält und die Zwecke, die dieser für das Subjekt erfüllt. Augé: Nicht-Orte, S. 96. In der Phänomenologie avanciert der Raum zu einem existentiellen Raum, in den sich jemand einordnet und sein Verhältnis zur Welt erfährt. Dass es zu Fremdheitserfahrungen durch das spannungsvolle Aufeinanderbezogensein von Ort und Raum kommen kann, zeigt Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009.

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einander ins Gespräch zu kommen, sei es, dass diese ‚Nicht-Orte‘ zu Imaginationsräumen kollektiver und nationaler Identitätsbildung avancieren. Vasco Pratolini rekonstruiert in seinen Romanen Cronache di poveriamanti (1947) und Il Quartiere (1945) den Mikrokosmos urbaner Viertel mit Gebäuden, Wohnungen, Straßen und Menschen, um Prozesse der sozialen Vergemeinschaftung nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs zu entwerfen. Sein Konzept des geschlossenen Raums tritt allmählich in Spannung zu den analog bei Böll thematisierten Schwellen- und Durchgangsräumen, die einerseits keine soziale Stabilität gewährleisten, traditionell gewachsene Sozialstrukturen gefährden, andererseits aber als Imaginationsräume in Anspruch genommen werden, in denen sich eine Synthese aus Vergangenheit und Zukunft, Verlorenem und Wiederzugewinnendem herstellen lässt. Das Thema des Wohnens ist auch bei Pratolini mit der Frage nach den Möglichkeiten eines Neubeginns im Zeichen des Humanitären verbunden, wobei Pratolini wie Böll auf Traditionen des 19. Jhs. zurückgreift und diese aufwertet. Für sein Modell der literarischen Chronik erhielt Pratolini insbesondere Anregungen durch Mario Pratesi (1842-1921) und dessen Konzept der „memoria“ im Sinne einer Erinnerung an im Alltag vorfindliche Fakten. Während sich bei dem italienischen Nachkriegsautor jedoch Tendenzen einer Idealisierung und Mythisierung soziokultureller Räume der Vergemeinschaftung abzeichnen, macht sich in Bölls Relektüre idealisierter Wohnräume des 19. Jhs. (Stifter) der Riss bemerkbar, der seinem Konzept der Bewohnbarkeit eines unbewohnbaren Landes innewohnt.

II. 1949 erschien in Westdeutschland die deutsche Übersetzung von Vasco Pratolinis Roman Cronache di poveri amanti (1947) im Verlag Winkler in München. Es handelte sich um einen der ersten modernen italienischen Romane, die in Westdeutschland auf den Markt kamen. Für Pratolini selbst blieb die Chronik armer Liebesleute für viele Jahre der einzige Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Erst mit dem aufkommenden Wirtschaftswunder wurde das Werk des Autors umfassend in die deutsche Sprache

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übertragen.6 Pratolinis Roman Il Quartiere aus dem Jahr 1945 erschien erst 1967 in der deutschen Fassung. Mit ihm verlässt Pratolini das autobiographische Erzählen und wendet sich von seinem Frühwerk ab; dafür dem Konzept eines „choralen Romans“7 zu, das sich den Straßen, Vierteln und Städten, den öffentlichen und privaten Räumen und den in ihnen stattfindenden Ereignissen einer Generation und sozialen Klasse öffnet.8 Die einzelnen Fakten, Personen, Dinge schöpfte Pratolini aus der Erinnerung und der Fantasie: „[scrissi Cronache di poveriamanti] tutto di filato, come rincorrendo i fatti che ormai sembrava si disponessero da soli sulla pagina, dopo che per vent’anni li avevo nutriti di memoria e di fantasia.“9 „[Ich schrieb Chronik armer Liebesleute] ununterbrochen, als kehrten die Fakten wieder, die sich inzwischen von allein auf dem Papier zu verteilen schienen, nach-

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Ragni Maria Gschwend: „La Fortuna di Pratolini in Germania“, in: Bigongiari, Piero et al. (Hg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 213-221, hier: S. 215f. Anm.: Über Pratolinis Romane sind im deutschen Feuilleton des Jahres 1949 oder späterer Jahre keine Kritiken auffindbar. Es ist daher anzunehmen, dass Pratolini in Westdeutschland keinen großen Erfolg gehabt hatte, zum einen, weil zunächst ein geringeres Interesse an der Thematik des einfachen italienischen Volkes bestand bzw. ein eher folkloristisches. Zum anderen, weil in der BRD kultur(-politisch) der Blick auf das Zukunft versprechende Amerika dominierte. In Ostdeutschland erschien Cronache di poveri amanti erst 1950, wurde aber vergleichsweise erfolgreich rezipiert.

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Alessandro Parronchi: „Pratolini Critico di se stesso“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 1921 März 1992, Florenz 1995, S. 7-21, hier: S. 16.

8

Francesco Paolo Memmo: „‚Il Quartiere‘, Prima Cronaca“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S.191-203, hier: S. 194f.

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Vasco Pratolini: „Ho ritrovato i poveri amanti nelle cronache di Carlo Lizzani“, in: Cinema nuovo, II., Nr. 20, 1. Oktober 1953; Vgl. auch in: G. Aristarco (Hrsg.): Antologia di Cinema nuovo 1952-1958, Bd. 1, Rimini, Florenz 1975, S. 723-724, hier: S. 723.

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dem ich sie über zwanzig Jahre aus der Erinnerung und der Fantasie geschöpft hatte.“

Was ihm jedoch fehlte, war eine geeignete Sprache, die Pratolini in seinem ersten Roman Il Quartiere entwickelte. Dabei ging es bei der Suche nach einem neuen Stil, nach einer neuen Struktur des Erzählens insbesondere um die Bewältigung dreier Problemfelder: um die Gestaltung von Zeit und Raum sowie die Rolle des Erzählers.10

III. Im Zentrum dieser neuen Strukturierung des Erzählens von Zeit und Raum steht die Chronik. Die Chronik erinnert über Imaginationen von Räumen verlorene Werte wie menschliche und soziale Solidarität11 und stellt dabei dynamische Verbindungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her.12 Mittels der Erzählung und Beschreibung eines Florentiner Viertels und seinen Straßen, Wohnungen, Bewohnern und den Problemen wie Leidenschaften einer Jugend im Übergang zum Erwachsenendasein, werden vergangene Werte erneut auf die Probe gestellt und ausgelotet. Die Fantasie, von der Pratolini spricht, erweist sich als eine Strategie, um sich über die Erinnerungen und Fakten der tatsächlichen Realität anzunähern. Das chronikalische Erzählen entspricht folglich nicht einer rein mimetischen Reproduktion von Ereignissen, sondern ist zugleich ein fiktives Arrangement,13 das neben den Beschreibungen der materiell vorfindlichen Gegebenheiten des Ortes, den Reden und Dialogen der Figuren, den Dokumentationen von Zettelnotizen, Briefen und Liedern auch den Gedanken, Träu-

10 Memmo: „Il Quartiere“, S. 196. 11 Vasco Ferretti: Vasco Pratolini. Fascismo/antifascism e minimalistico narrative degli esordi, Pistoia 2010, S. 82. 12 Marino Biondi: Scrittori e identità italiana. D’Annunzio, Campana, Brancati, Pratolini, Florenz 2004, S. 180. Gian Carlo Ferretti: „Dichiarazione e interviste: Un’immagine di Pratolini“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 29-43, hier: S. 35. 13 Biondi: Scrittori e identità italiana, S. 204.

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men und Gefühlen der Figuren Raum gibt. Gegenüber dem Vergangenen wird keine rein nostalgische Haltung eingenommen, sondern die Vergangenheit wird zugleich als Mittel zur Erfassung der historischen Gegenwart und ihrem Möglichkeitsspielraum eingesetzt.14 Da es sich in Il Quartiere um einen dynamischen Prozess mannigfacher Vor- und Rückgriffe handelt, können „chiastische“ Zeitverschiebungen15 ausgemacht werden, die die lineare Struktur der Chronik aufbrechen. Die Zeit verläuft nach dem Rhythmus einer „Pendeluhr“16, hin und her schlagend zwischen Erinnerungen und Hoffnungen, erfahrener Vergangenheit und erlebter Gegenwart. Es werden Geschichten erzählt, „so alt wie Homers ‚Ilias‘ und wie das Sanskrit“17, Geschichten, die sich vor Jahren ereigneten, wie z.B. diejenige Marisas, in der von ihrer ersten Begegnung mit ihrer Liebe Carlo erzählt wird, bei der alles „wie im Traum“18 geschah, bis hin zu Geschichten, die sich in der erzählten Gegenwart um 1935 ereignen, jedoch nicht aus der unmittelbaren Beobachtung, sondern erst später, im Jahre 1943, aus der Perspektive der Erinnerung erzählt werden. Dieses diskontinuierliche, verschiedene Lebensphasen inkludierende Konzept entspricht einem Erinnerungskonzept, das Bewusstes und Unbewusstes in einem unendlichen Progress zusammenführt. Weder die vergangene noch die gegenwärtige Zeit können verdrängt werden, beide sind gleichermaßen präsent. „Die ganze Vergangenheit – Kindheit und Jugendjahre – verblaßte zusammen mit den Zweifeln und den Kümmernissen und den frühen Leidenschaften, die sie begleiten, obgleich wir uns unbewußt auf alle stützten wie auf ein günstig gelegenes Fensterbrett, das uns gestattet, den Blick über eine ungewöhnliche Landschaft schweifen zu lassen.“19

14 Ferruccio Ulivi: „Pratolini tra letteratura di memoria e narrative“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 87-95, hier: S. 89. 15 Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009. S. 230f. 16 Vasco Pratolini: Das Quartier, Freiburg im Breisgau 1988, S. 19. 17 Pratolini: Das Quartier, S. 43. 18 Pratolini: Das Quartier, S. 61. 19 Pratolini: Das Quartier, S. 92.

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Die oszillierende Suchbewegung durch die Zeit führt zu Asymmetrien und Irreversibilitäten, die den räumlichen Such- und Orientierungsbewegungen in Il Quartiere entsprechen und konzeptionell vorgelagert sind.

IV. Pratolini entfaltet die Topographie des Stadtviertels Santa Croce in Florenz. Räumliche Gegensätze von nah und fern, eng und weit sowie Grenzziehungen und -brechungen kennzeichnen die gegenwärtige Lebenswelt der Figuren und ihre Suchbewegungen durch den Raum. ‚Lebenswelt‘ soll hier in Anlehnung an die philosophische Phänomenologie funktional „als Boden“ verstanden werden, „von dem all unsere Erfahrungen, Erwartungen und Entwürfe ausgehen, und als Horizont, auf den sie zugehen“. Semantischsemiotisch bestimmt Husserl sie als „einen offenen Bedeutungszusammenhang.“20 Erst durch das leibliche Durchmessen des Raumes an unterschiedlichen Aufenthaltsorten, durch zeitliche Dehnungen und Verdichtungen, wird die Topographie des Viertels als eine räumlich, zeitlich und sozial strukturierte und sinnlich-emphatische Zusammenschau von Heterogenem sichtbar. Pratolini entwickelt damit eine „Phänomenologie des Daseins“, um die es Heidegger in seinem Konzept einer erweiterten Hermeneutik ging: nämlich um die „Auslegung des menschlichen Lebens in seiner Alltäglichkeit“.21 Das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt, die Aufdeckung der als ursprünglich gedachten Grundstrukturen des Daseins, sind nicht als theoretischer Überbau zu verstehen, sondern im vorgefundenen Leben mit seiner räumlichen und dinglichen Materialität, den menschlichen Affekten und Emphasen erfahr- und wahrnehmbar. Der Bedeutungszusammenhang der mannigfaltigen und heterogenen Wohnkonstellationen bleibt bis zum Schluss offen: sei es in Cronache di poveri amanti die Signora, die zwar in der Via del Corno, aber von dessen Bewohnern abgesondert lebt, oder sei es das Bürgertum, das in Il Quartiere das Viertel in Besitz nehmen will. Bestimmend dabei ist einerseits die vitale, aufrichtige und

20 Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 27. 21 Christoph Demmerling: „Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein“, in: Rentsch, Thomas (Hrsg.): Martin Heidegger, Sein und Zeit. Klassiker Auslegen, Bd. 25, Berlin 2001, S. 89-115, hier: S. 90f.

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unverdorbene Welt der kleinen Leute, und andererseits die im Verborgenen sich abspielende Korruption des Bürgertums und ihr Zusammenspiel mit dem Faschismus. Die Bruchlinien der Erfahrungen der Bewohner des Viertels führen nicht zu einem homogenen Raum- und Wohnkonzept, sondern münden in ein raumsoziologisches Arrangement: Am Ende des Romans leben die einzelnen sozialen und politischen Schichten weiter in dem schon bestehenden Lebensraum, nur haben sich die Kräfteverhältnisse geändert: „‚Du hast unser Stadtviertel verändert vorgefunden‘, sagte Marisa. ‚Aber die Menschen sind noch alle da, wie du weißt. Sie haben sich in den verbliebenen Häusern zusammengedrängt, als hätten sie sich verbarrikadieren wollen. Die wenigen, die eine Wohnung am Stadtrand bezogen haben, wo es frische Luft und Sinne gibt, werden hier fast als Deserteure angesehen.‘“22

Florenz und das Viertel werden als ein Raumgeflecht offenbar, in dem der Raumbetrachter dem Raum selbst angehört, sodass nicht länger unterschieden werden kann zwischen objektivem Raumbestand und subjektiver Raumvorstellung. Die solidarische Gemeinschaft des Viertels wehrt sich gegen Zerstörung und Bauspekulationen, um das eigene Viertel, das Heimat und Zuhause, Zusammenhalt und Nähe verspricht, kurz: Metapher der Identität ist, zu verteidigen. Pratolini rückt das alltägliche Geschehen und Inventar peripherer und unbeachteter Wohn- und Durchgangsorte ins Zentrum und stellt auf diese Weise das Individuum in Relation zu seiner Umwelt, d.h. zu den Dingen, aber auch zu seinen Mitmenschen. Es ist der Versuch, „d’innalzarmi da una vision strettamente privata, intima, delle cose, ad un preciso rapport col mondo circostante, non solo delle cose, ma degli uomini, e con la realtà, la società, tutte le implicazioni che essere uomini e quotidianamente vivere significa.“23 „mich von einer streng privaten, intimen Vision der Dinge zu erheben zu einem präzisen Zusammenhang mit der sie umgebenden Welt, nicht nur der Dinge, sondern

22 Pratolini: Das Quartier, S. 233. 23 Memmo: „Il Quartiere“, S. 195.

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auch der Menschen, und mit der Realität, der Gesellschaft, all die Implikationen, die Mensch zu sein und alltäglich zu leben bedeutet.“

Mittels eines „narrativen Minimalismus“24 fokussiert Pratolini dabei nicht nur die materialistisch-äußerliche Charakteristik des Viertels im Sinne einer anonymen Topographie. Vielmehr geht es um das persönliche und gemeinschaftliche Leben, das entlang der Bewegungsbahnen der Figuren im Viertel vorgeführt wird. An den Grenzen dieser Verläufe werden „Spielräume“25des Zusammenlebens ausgelotet. So heißt es z.B., dass „überhaupt jeder Gegenstand ihrer (der Signora) Umgebung Ordnung und Vernunft zeigt. Das Zimmer ist nur mit dem Nötigsten ausgestattet, ohne auffälligen Prunk, ohne wunderliche und überspannte Verzierungen. Der Spiegelschrank, die beiden roten Lehnsessel, der Frisiertisch und in den Ecken die rotgepolsterten Stühle; jedem dieser Möbel ist eine ganz bestimmte Aufgabe zugedacht, die es im Lauf des Tages zu erfüllen hat […].“26 Die Signora in Cronache di poveri amanti ist von der Gemeinschaft ausgeschlossen, sie hasst die Bewohner der Straße, die sie von ihrem Dachfenster aus beobachtet und will sie aus der Via del Corno vertreiben. Um jedoch selbst überleben zu können, ist sie auf die Hilfe der jungen Mädchen aus dem Viertel angewiesen. Die Moral konfiguriert sich bei Pratolini als eine „moralità affettiva“ („affektive Moral“), die nicht abstrakt bleibt, sondern durch Freundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität gestiftet wird. Durch sie sollen die ideologischen und sozialen Konditionierungen des Menschen überwunden werden. Wer sich wie die Signora isoliert, verliert sein individuelles Gesicht.27 Die Hinwendung zu Gefühlen und Interaktionen zwischen den Figuren folgt jedoch keinem romantisierenden Konzept, sondern erscheint als Ausgangspunkt für die Entwicklung und Verankerung überlebenswichtiger Werte und eines sozialkritischen Bewusstseins. Die „poetica die sentimenti semplici“28 wird so zu einem notwendigen ethischen Prinzip. Die Erzählung der Entwicklung der Figuren von der Kindheit bis zu den Anfängen des Erwachsenseins versteht sich infolgedessen als Reifung der Ge-

24 Ferretti: Vasco Pratolini, S. 94. 25 Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 76. 26 Vasco Pratolini: Chronik armer Liebesleute, München 1962, S. 31. 27 Biondi: Scrittori e identità italiana, S. 205. 28 Ferretti: Vasco Pratolini, S. 74.

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fühle hin zu einem politisch und sozial verantwortungsbewussten Denken. Pratolini führt mittels dieses Konzepts der Figurenentwicklung Gefühle und Affekte in den gesellschaftlichen Kontext des Handelns ein. Die autobiographischen Ausgangspunkte verbleiben nicht in einer sentimentalen Dimension der Erinnerung, sondern werden für die Imagination eines sozialen, realhistorischen Milieus mittels eines kollektiven-choralen Romangefüges wirksam gemacht. Pratolinis „scrittura ermeneutica degli errori“29 arbeitet an den Bruchstellen der Erfahrung, die erst von einem geschlossenen Raum, einer „vertrauten Idylle“30 aus sichtbar und verstehbar werden. Das Viertel übernimmt damit zugleich die Funktion eines verlorenen Paradieses.31„Il quartiere è la ceremonia dell’amicizia, è la vita prima della cacciata dell’eden.“32 Das Viertel wird zu einer eigenen Republik außerhalb der Stadt erklärt, die „uns Archäologie und Eldorado zugleich“33 bedeutete. In Cronache die poveri amanti ist die Via del Corno wie „zwischen zwei Bühnenhintergründen eingezwängt […], eine Insel, eine Oase in der Wildnis. Abgeschlossen von Krämergeist und von der Neugierde der Umwelt. Man muss schon dort wohnen oder ein ganz bestimmtes Anliegen haben, um die Gasse überhaupt zu beachten.“34 Die Erinnerung ist folglich nicht Selbstzweck, sondern dient der Erforschung und archäologischen Untersuchung des kindlichen Eldorados, ihren Werten und der Frage nach ihrer Gültigkeit in der Gegenwart.35

29 Biondi: Scrittori e identità italiana, S. 189. 30 Nicola Tanda: „La trilogia italiana“, in: Piero Bigongiari et al. (Hg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 167-181, hier: S. 169. 31 Mario Ricciardi: „La scrittura narrativa di Pratolini: Metello, Cronaca familiare, Il quartiere“, in: Walter Mauro et al. (Hrsg.): Vasco Pratolini. Lo scrittore e i suoi testi, Bologna 1986, S. 33-55, hier: S. 51. Anm.: Stil und Form rufen dabei typische Funktionen und Situationen auf, die Vergas I Malavoglia nahe stehen. (Vgl. ebd.). 32 „Das Viertel ist die Zeremonie von Freundschaft, ist das Leben vor dem Sündenfall.“ Biondi: Scrittori e identità italiana, S. 205f. 33 Pratolini: Das Quartier, S. 11. 34 Pratolini: Chronik armer Liebesleute, S. 13. 35 Ferretti: Vasco Pratolini. S. 78.

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„Una forma di realismo delle cose, ottenuto attraverso una precisa delimitazione di campo: il quartiere come luogo privilegiato in cui ricostituire e ricostruire una sfera compatta, unitaria di esperienze e di vita vissuta e una comunità omogenea tra chi vive e chi comunica.“36 „Eine Form des Realismus der Dinge, erreicht durch eine genaue Begrenzung des Raumes: das Viertel als privilegierter Ort, in dem eine dichte, einheitliche Sphäre der Erfahrungen und des gelebten Lebens sowie einer homogenen Gemeinschaft zwischen den dort lebenden und kommunizierenden neu aufgebaut und wiederhergestellt wird.“

Der geschlossene Raum wird gesprengt, indem er perspektivisch vervielfältigt wird. Der zunächst räumlich auf das Viertel begrenzte Blick erweitert sich hin zur sozialen und historischen Realität.37 Pratolini entwickelt folglich in Relation zur Architektur der Straßen und ihrer Gebäude seine poetische Ästhetik. „Die Wohnung – das waren die Gesichter, die ihre Zimmer beherbergten, und deshalb hatten wir sie gern“38, heißt es in Il Quartiere. Die Häuser haben schmutzige Mauern, das Waschhaus gleicht einem Schuppen, das Fenster, an dem Wäschestücke hängen, ist mit einem Stück Pappe ausgebessert. Blumen auf der Fensterbank erscheinen fast idyllisch vor den nackten Mauersteinen und verrosteten Dachrinnen, der Geruch von Tonerde und Stall dringt durch die Wände, durch die die Geräusche der Nachbarzimmer und der Straße zu hören sind.39 Dem Dreck, Lärm und den

36 Ricciardi: „La scrittura narrativa di Pratolini“, S. 50. 37 Ferretti: Vasco Pratolini, S. 87. 38 Pratolini: Das Quartier, S. 10. 39 Die sentimental wirkenden nationalistischen Tendenzen Pratolinis stehen in Zusammenhang mit der realistischen literarischen Tradition des 19. Jhs., die zum einen von der Bewegung des Risorgimento geprägt war, d.h. der nationalen Einigung Italiens, und zum anderen von regionalistischen Tendenzen, d.h. der literarischen Beschreibung und Würdigung einzelner italienischer Regionen. Insbesondere Federigo Tozzi (1883-1920) wurde hier zum Vorbild Pratolinis. Tozzi vermittelte den jungen Schriftstellern die Ansicht, das „Wahre“ oder „Wahrhaftige“ des sozialen und alltäglichen Lebens nur innerhalb der italienischen Tradition und den städtischen Vierteln, die er durch ein naturalistisches Personal zum Leben erweckte, selbst finden zu können. Schließlich führte der Verismus in Ita-

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Gerüchen steht in Cronache di poveri amanti die ruhige, ordentliche und saubere Via della Robbia gegenüber, in der Bürgerliche wohnen und die mit „Wohlgerüchen“ gefüllt ist. Die Wohnungen im eigenen Viertel aber sind finster, feucht und im Winter kalt, aber sauber und ordentlich.40 Die Zimmer sind einfach, bescheiden und schmucklos. Viel mehr als Tisch und Stuhl, Klappbett, Wäsche, Karaffe und Glas, Kochtopf und Kelle, gestickte Decke und weiße Gardine gibt es nicht. Das Grammophon lenkt von den Geräuschen der Straße ab, das Kruzifix hängt an der feuchten, fleckigen Wand, ein Foto auf der Kommode, eine Uhr. In Cronache di poveri amanti führen die Weckuhren die einzelnen Personen ein. Jede der fünf Uhren in der Via del Corno sieht anders aus: während die Uhr des Handelsvertreters Osvaldo klein, präzise und wie ein Mädchen trillert, rumort die Uhr des Straßenkehrers wie eine Straßenbahnglocke. Immer wieder tauchen dieselben Motive auf: die Uhren, die Kaffeemühle, der Spiegel, die Zigaretten und Döschen, die Arbeitsdinge wie das Hufeisen und die Kohle des Schmieds, schließlich die Fotografien. Nur die Signora, die am Tage in ihrer Dachwohnung über der Straße schlummert, über den anderen residierend, hat all ihre Bildnisse einst verkauft und verschenkt. Die Zimmer werden auf das für das alltägliche Leben Notwendige und auf die für die Figuren wesentlichen Gebrauchsgegenstände, wie den Fächer, die Nippsachen und Schmucktruhen der Signora, reduziert. Die Wohnungen in der Via del Corno sind meist klein, bestehen aus nur einem Zimmer, „in dem mit Mühe und Not ein Bett und eine Kommode untergebracht sind, und aus einer nicht viel größeren Wohnküche mit einem schrankartig gemauerten Herd, gleich neben der Tür ist der Wasserhahn.“41 Das Leben darin ist fast so eng wie eine Gefängniszelle. Gemeinsam fungieren Wohnungen, Straßen und Viertel in diesem Sinne als Metaphern für die Armut der Menschen, für ihre bedrohte nachbarschaftliche Nähe, die schmerzhaften Risse in der Ge-

lien zu einer Belebung regionaler, volkstümlicher Prosa. In den 1930er Jahren dominiert insbesondere die Literatur der Strapaese, mit der sich Schriftsteller der Darstellung der bäuerlichen Welt und ihrer Traditionen und Sitten zuwenden, welche als unverdorben wahrgenommen wurden. Vgl. Ferretti: Vasco Pratolini, S. 38-43; Manfred Hardt: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996. 40 Pratolini: Das Quartier, S. 9. 41 Pratolini: Chronik armer Liebesleute, S. 323.

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meinschaft wie auch für die noch unentschiedenen Möglichkeiten des Zusammenlebens.42 Über die unkontrollierte Ausdehnung des Viertels in der Stadt entsteht eine zunehmende Ortlosigkeit:43 Die einst zentralen Wohnungen und Straßen werden zu Übergangs- und Grenzräumen, die eine abgeschlossene „Republik“, ein „Eldorado“ nicht länger erhalten können. Dieses Eldorado „verödet“44 mit der Zeit, bis große Teile am Ende abgerissen werden. So kann man sich am Ende nicht einmal mehr auf die Räume und Orte berufen, sondern nur noch auf den Menschen selbst: „Wir gelangen zu der Einsicht, daß wir uns selbst genügen müssen, daß wir die Welt an Hand unserer Gesichter studieren müssen, die das einzige sind, was wir entziffern und erkennen können.“45 Die Menschen entfremden sich von ihrem vertrauten Gelände, bis sie nur noch umherirren. Als Valerio, Figur und Erzähler in Il Quartiere, beim Militär in Arezzo ist, wird das Viertel saniert, werden Häuser abgerissen, um schönere Häuser zu bauen. Er versucht sie in Gedanken wieder aufzubauen. „Wir mussten indessen unsere Armseligkeit, die wie ein Emblem über der Schwelle der Welt hing, weiter unbeirrt zur Schau stellen und vereint bleiben, Schulter an Schulter einen Ring um unsere Häuser bilden, in denen jeder Winkel, jeder Riß das Symbol der Hoffnung und jeder Blick, jeder Körper ein Schrei ungehemmten Protests war.“46 Und er beobachtet: „Als ich über den Platz schlenderte, bemerkte ich, daß die Leute ihn nicht diagonal überquerten und so den Weg abkürzten, sondern daß sie instinktiv dem Verlauf der alten Straßen folgten.“47 Im Emblem der Armseligkeit verdichten sich die mannigfaltigen nahen sowie fernen Räumlichkeiten und sozialen Beziehungen. Jetzt erst be-

42 Anm.: Es können Analogien zu den urbanen Darstellungen in Filmen wie OSSESIONE von Luchino Visconti, ROMA; CITTÀ APERTA von Roberto Rossellini oder LADRI DI BICICLETTE von Vittorio de Sica hergestellt werden. Vgl. Carlo Cresti: „Vasco Pratolini e l’architectura: La città, il quartiere, la strada, la casa“ in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 105113, hier: S. 108. 43 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a. M. 1994. 44 Pratolini: Das Quartier, S. 30. 45 Pratolini: Das Quartier, S. 99. 46 Pratolini: Das Quartier, S. 221. 47 Pratolini: Das Quartier, S. 219.

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merkt er die tiefe Kerbe in der Tischplatte, den abgebröckelten Boden des Topfes und das kaputte Strohgeflecht des Stuhles, Beschädigungen an Dingen, die ihm einst so vertraut waren, dass er sie gar nicht bemerkt hatte.48 In den Bewegungsbahnen der Menschen werden die vergangenen Räume, die mit ihnen verbundene Vertrautheit und Hoffnung schließlich aufrechterhalten. Pratolini reagiert auf die historisch-kulturellen Veränderungen der Gesellschaft mit seinem Konzept des geschlossenen Raumes, um über den Weg der Reflexion von Lebensweisen der Menschen im Viertel der bedrohlichen Auflösung von Sozial- und Gemeinschaftsräumen entgegen zu arbeiten und neue Orientierungsräume zu schaffen: „Kurz, mir scheint es, daß man im eigenen Haus, im eigenen Stadtteil ausharren und einander helfen muß, sich unter den eigenen Leuten zu verbessern. […] Ich behaupte nie, man solle nicht aus seiner Umgebung heraus; aber man muß die eigene zumindest gut kennen, bevor man den Fuß in eine andere setzt. Wie will man sonst beurteilen, ob sie besser oder schlechter ist als unsere?“49

V. Die Vermessung des Alltags bei Pratolini leistet eine Konservierung und Archivierung des einfachen Lebens, dessen Bewahrung auch Heinrich Böll anstrebt, der die Zeit- und Existenzproblematik der Nachkriegsgeneration über das Leitmotiv des Wohnens in der Sprache zu einer hoffnungsvollen Zukunftsperspektive zu führen versucht. Pratolini geht es nicht um eine Aussöhnung mit der eigenen Biographie, sondern um die räumlich-panoramatische Diskursivierung der eigenen Herkunft als die Herkunft der anderen und die Aktualisierung von Werten wie Solidarität und Nächstenliebe.50 Dieses Konzept Pratolinis wurde durch den

48 Pratolini: Das Quartier, S. 219. 49 Pratolini: Das Quartier, S. 110. 50 Marino Biondi: „Vanità e passioni du un ventennio: Lo scialo di Vasco Pratolini“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S.113-167, hier: S. 119.

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italienischen Schriftsteller Eugenio Montale51 und dessen Begriff „scialo“ („Elend“) beeinflusst.52 Bei Montale steht das Elend für das Leben, für grausame und zerstückelte Fakten. Pratolini übernimmt von Montale drei christliche Prämissen für seinen Roman Cronache di poveri amanti: „‚Wer ist ohne Übel…‘; ‚…sie wissen nicht, was sie tun‘ und ‚Liebe deinen Nächsten‘.“53 „Nel Quartiere ho fallito le mie intenzioni. Fallito per ciò che si riferisce…al significato sociale che gli attrubuivo…le mie intenzioni erano sintetizzate dai versi di Montale che misi in aperture.“54 „In dem Viertel habe ich meine Intentionen gestürzt. Gestürzt für das, worauf sie Bezug nehmen…auf die soziale Bedeutung, die ich ihnen zugeschrieben habe…meine Intentionen waren synthetische im Gegensatz zu Montale, der sie zu Beginn aufstellte.“

Montale entwickelte ein in der Anlage metaphysisches und antipolitisches Konzept, das humanitäre Werte als Ausdruck einer illusionsfreien Lebensanschauung verstand und in der Tradition des italienischen Hermetismus anzusiedeln ist, in dessen Umkreis auch die von Pratolini und Alfonso Gatto herausgegebene Zeitschrift „Campo di Marte“ erschien. Analog zu Montale ging es ihnen um eine nach innen gerichtete Suche nach verlorenen ethisch-menschlichen Werten, sie verbanden damit jedoch keine reine Poetik des Wortes, sondern eine an der Realität orientierte intellektuelle Haltung, die einen „altbackenen“ faschistischen Provinzialismus ablehnte und sich zum Ziel setzte, über die Erinnerung (memoria) der Vergangenheit die Eroberung einer neuen zivilen und kulturellen Freiheit voranzubringen, ein

51 Biondi: Scrittori e identità italiana, S. 197. Insbesondere Montales Gedichtsammlung Ossi di sepia (1925). 52 Der Begriff wird später titelgebend für Pratolinis Roman Lo scialo aus dem Jahre 1960. 53 Zitiert nach: Alessandro Parronchi: „Pratolini Critico di se stesso“, in: Piero Bigongiari et al. (Hrsg.): Convegno internazionale di studi su Vasco Pratolini, Atti, Florenz, 19-21 März 1992, Florenz 1995, S. 7-21, hier: S. 15. Anm.: Diese drei „Inschriften“ der drei Teile wurden am Ende herausgenommen. 54 Parronchi: „Pratolini Critico di se stesso“, S. 13.

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Anspruch, der Pratolinis idyllisierende und sentimentale Tendenzen als durchaus sozialkritische Bestrebungen lesbar macht. Von Elio Vittorini, der zu seinem Vorbild wurde und mit dem er wie auch mit Montale über die Zeitschrift Solaria in Kontakt kam, übernahm Pratolini erstmals in Il Quartiere die Einsicht, dass der Blick ins Innere nicht genüge und das Individuum im Kontext seiner gesellschaftlichen Klassenzugehörigkeit betrachtet werden müsse.55 Mit Vittorinis Plädoyer für eine europäische Tradition öffneten sich die nationalistischen Ausrichtungen einer grundlegenden Rückkehr zum Menschen und mit Montale die sinnlich-konkrete Erfahrung des „Leid des Lebens“ (scialo), die einer reinen Metaphysik jedoch eher skeptisch gegenüberstand.56 Montale gestaltet in Ossi di seppia Bilder des Zerfalls, des Scheiterns und Leidens der Natur, in der der Mensch zu leben versucht und konkretisiert später in Occasioni den zeitlosen Hintergrund der Naturbilder mit konkreten Orts-, Zeit- und Personenangaben bis hin zu Darstellungen der Alltagswelt, die in einer Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart steht. Schließlich verschmelzen in seinem Werk existentielles, historisches und privates Verhängnis. Dieses von Montale verfolgte Bewusstsein von einer erbarmungslos determinierten Welt und der Frage nach den Möglichkeiten des Entkommens verlegt Pratolini in die Gemäuer und sozialen Netze der Via del Corno. Sowohl in Il Quartiere als auch in Cronache di poveri amanti gibt es keine zentrale Hauptfigur mehr, d.h. auch keine Projektion bzw. Reproduktion der Autorbiographie,57 auf die sich alle Handlungen beziehen. Die „konkrete Wahrheit“ liegt in einem choralen und synthetischen Gefüge, d.h. einem Netz von Handlungen, Ereignissen, Gefühlen und Verhaltensweisen.58 So ist in Il Quartiere gleich im ersten Satz von einem „Wir“ die Rede: „Wir selbst waren zufrieden mit unserem Stadtviertel.“59 Der Erzähler fusioniert mit dem Personal des Ro-

55 Ferretti: Vasco Pratolini, S. 19f. 56 Mit seiner landschaftlich bestimmten Lyrik in der Nähe des Hermetismus gehörte er zu den modernen Lyrikern der 1930er Jahre. Montale ist beeinflusst von der französischen Tradition symbolistischer Mystik und verbindet sie mit einer klaren, realistischen Bildlichkeit italienischer Tradition. Montale verfolgte eine essenzielle Sprache, die die Wahrheit des Seins verdichtet. 57 Biondi: „Vanità e passioni di un ventennio“, S. 120. 58 Memmo: „Il Quartiere“, S. 196. 59 Pratolini: Das Quartier, S. 7.

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mans und reflektiert sich zugleich als Erzähler: Wer in diesem Roman „Ich“ sagt wie Valerio, übernimmt eine doppelte Rolle: Die Rolle eines biographischen Erzählers und die Rolle einer Figur, nicht eines Protagonisten, sondern einer Figur unter anderen, ohne besondere Privilegien.60 Es handelt sich um einen homodiegetischen Erzähler, der mit einer Formel Norman Friedmanns als ein „Ich als Zeuge“ bezeichnet werden kann.61 In Cronache di poveri amanti wiederum gibt es einen Erzähler, der in der erzählten Geschichte nicht als Personal präsent ist. An die Stelle des IchErzählers tritt die dritte Person. Der Erzähler dramatisiert nicht, tritt vielmehr selbstreflexiv kommentierend auf und lädt den Leser ein, an den Ereignissen teilzunehmen, Komplize sowohl des Erzählers wie des Personals zu werden. Es handelt sich um einen heterodiegetischen Erzähler, der allwissend ist, da er wie ein Regisseur mit Kommentaren, Vorausdeutungen und suggestiven Fragen durch die Erzählung führt. Darüber hinaus spricht der Erzähler hier nicht nur den Leser an, sondern zugleich auch das Personal. Über diesen Weg tritt er selbst in die Erzählung ein als eine hybride Erzählerfigur, die zwischen Teilnahme und Reflexion changiert. Diese Hybridisierung oder Demokratisierung der Erzählinstanz entspricht dem anfänglichen Auf- und zunehmenden Abbau geschlossener Räume im Rahmen einer Chronik, die erinnerte Werte mit gegenwärtigen Realitäten konfrontiert und nach deren Fortbestehen fragt. Die ländliche Idylle des 19. Jhs. wird bei Vasco Pratolini in einen hoffnungsvollen urbanen Raum verlegt und nicht länger in Opposition zur historisch-gesellschaftlichen Realität gesetzt. Sie scheint vielmehr in den Trümmern und dem Alltag der Nachkriegszeit auf und ist mit dem Wunsch verbunden, auf der Grundlage von bewährten Traditionen kollektive Lebensgemeinschaften als Keim des Neubeginns zu stiften.

VI. Immer wieder erheben sich kritische Stimmen gegen die zuweilen sentimentale, moralische oder, wie Peter Handke es einmal genannt hat, „bie-

60 Memmo: „Il Quartiere“, S. 197. 61 Norman Friedmann: „Point of View in Fiction: The Development of a Critical Concept.“ In: PLMA, 70 (1955), S. 1160-1184.

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dersinnige[ ] Prosa“ Bölls, deren Stellenwert für die deutsche Nachkriegsliteratur allerdings gerade wegen ihres auch „Lebenshilfe“ und „Lebensentsprechung“ implizierenden Anspruchs nach wie vor unangefochten bleibt.62 Bölls „Trümmerliteratur“63, darin ist sich die Forschung einig, steht für einen Realismus, dessen Bestimmung mehrere Facetten eröffnet. Während die einen von einem gesellschaftskritischen Realismus mit empirisch nachvollziehbarem Gehalt ausgehen, der die getreue Reproduktion von Sozialmilieus darstellt,64 handelt es sich für andere um einen symbolischen Realismus, der sich nicht an einer referentiellen Nachbildung historischer Wirklichkeit ausrichtet, sondern, wie Böll es selbst gesagt hat, an der „Verwandlung (Transposition)“ und „Zusammensetzung (Komposition)“ wahrgenommener Wirklichkeit.65 Böll verbindet Wirklichkeit mit ungeschönter Wahrheit, ja: mit dem Auftrag an den Schriftsteller, die Augen sowohl für politische wie soziale Missstände der Zeit, aber auch für Kontexte, in denen individuelle Personen oder historische Ereignisse stehen, zu öffnen. In seinem Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ heißt es: „[…] ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers. […] Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen. Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein […].“66

62 Günter de Bruyn: „Über Böll, das Geschwätz und das Schweigen“, in: Neue deutsche Literatur 46 (1998), H. 2, S. 31-43. 63 „Wir müssen fürchterlich stottern. Die Möglichkeit der Literatur – Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Handke“, in: Süddeutsche Zeitung 23.6.1988, S. 10. 64 Reinhard Baumgart: „Kleinbürgertum und Realismus. Überlegungen zu Romanen von Böll, Grass und Johnson“, in: Neue Rundschau (1964), S. 650-664. 65 Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. München 21973, S. 48. Den Nachweis, dass Böll selbst sich einem mimetischen Realismusverständnis entzogen hat, liefert Bernd Balzer: „Das mißverstandene Engagement – der angebliche Realismus Bölls“, in: ders. (Hrsg.): Heinrich Böll 1917-1985, Bern 1992, S. 89-115. 66 Heinrich Böll: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“, in: ders.: Werke. Essayistische Schriften und Reden I 1952-1963, Köln 1979, S. 131-146.

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Der Autor begreift Sprache damit als durchaus handwerklich gedachtes Medium der Wirklichkeitsdurchdringung, als Mittel des Erkenntnisgewinns und der analytischen Vivisektion. Die Vorstellung, dass es hinter der Oberfläche einer sichtbaren Wirklichkeit eine tiefere Wirklichkeitsschicht zu entdecken gebe, die den ‚wahren‘ Kern enthalte, äußert Böll in Briefen und Interviews schon Ende der vierziger Jahre. Auf die Frage, worin die Aufgabe und Bedeutung künstlerischen Schaffens bestehe, antwortete er beispielsweise in einer Ausgabe der Literarischen Revue von 1949: „Den Dingen ihren Namen zu geben. Die Wirklichkeit einzuordnen in eine Symbolik, die der Welt innewohnt. […] Alle ‚Zeiterscheinungen‘ transparent zu machen, so daß das Gültige sichtbar wird.“67 Mit Äußerungen wie dieser stellt sich Böll in die Linie zeitgenössischer Realismuskonzepte, die man, beispielsweise in Bezugnahme auf Hans Werner Richter, mit „magisch“ betitelt hat, um auf jene hinter einer ersten Wirklichkeit versteckte zweite Wirklichkeit aufmerksam zu machen, deren Schicht offenzulegen das Ziel einiger anderer Nachkriegsautoren war.68 Zieht man in Betracht, dass auch der Realismus des 19. Jhs. sich an tiefenhermeneutischen Konzepten orientierte und historisch-politische Realität wenn nicht ganz ausblendete, so doch mittels ästhetischer Formgebung zeichenhaft gestaltete,69 lassen sich die auf den ersten Blick widersprüchli-

67 Literarische Revue 4 (1949), Nr. 4, S. 245f. 68 Beate Schnapp: „Die Aufgabe des Schriftstellers. Bölls künstlerisches Selbstverständnis im Spiegel unbekannter Zeugnisse“, in: Werner Bellmann (Hrsg.): Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk, Opladen 1995, S. 45-60, hier: S. 48f. 69 Äußerungen beispielsweise von Julian Schmidt, Theodor Fontane, Otto Ludwig oder von Friedrich Theodor Vischer machen deutlich, dass sich der erkenntnistheoretische Anspruch des Realismus am Bild einer in einer Schale eingehüllten Essenz orientiert, an der Vorstellung eines Kerns, den es herauszuschälen gelte. Vgl. Ulf Eisele: „Realismus-Theorie“, in: Horst-Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit. Realismus 1848-1880, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 36-46. Erzähltexte des Realismus entwerfen entsprechend narrative Experimentieranordnungen, die das aporetische Projekt eines ‚Tiefenrealismus‘ verhandeln; sie fragen nach der Entzifferung des Realen, nach dem also, was sich ableiten lässt, aber nicht sichtbar ist, und nach dem Sagen der Realität, also dem, was sichtbar, aber nicht darzule-

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chen Konzepte eines empirischen und eines symbolischen Realismus miteinander verbinden und die Frage nach dem Erbe des bürgerlichen Realismus für Bölls „Ästhetik des Humanen“ noch einmal neu aufwerfen, zumal sich Böll immer wieder auf Autoren des 19. Jhs. wie Dickens, Hemingway, Faulkner, Stifter und andere bezogen hat. Auch Böll geht es um eine pointierte, an Augenblicken orientierte Darstellung der Nachkriegsrealität,70 die zeichenhaft strukturiert ist. Zeichencharakter besitzen in seinen Romanen die Dinge, die auf psychische Dispositionen verweisen, auf die mentalen Befindlichkeiten der Protagonisten, auf die Semantik von privaten und öffentlichen Räumen. Im Fokus stehen alltägliche Dinge des Gebrauchs, wie Brot, Kaffee, Spielautomat, Lippenstift, Zigaretten, Spiegel und ihre Verortung in Räumen, die von den Protagonisten bewohnt und begangen werden. Es sind die Dinge, die den Räumen eine symbolische Kontur verleihen, darüber hinaus aber mentale Räume konstituieren. Der Lippenstift, den sich Käte vor ihrem Treffen mit ihrem Mann im Hotel auflegt, steht nicht allein für die Sehnsucht nach Vergnügungen, für weiblichen Schmuck, Erotik und Liebe, sondern gibt über Kätes Bemühen Aufschluss, ihre ärmliche Existenz und die daraus resultierende Bitternis endlich ablegen zu können. Die Spiegel, in dem sich die Protagonisten immer wieder sehen, avancieren zu einem Reflexionsraum, der die Betrachter mit der Erfahrung des SichSelbst-Fremd-Geworden-Seins konfrontieren: „Und ich sah uns durch den Flur gehen, als gingen wir in die Tiefe eines Spiegels hinein: Clemens und Carla vorne, dann Fred, und ich ging mit dem Kleinen auf dem Arm hintendrein. – Wir gingen in die Tiefe eines Spiegels hinein, und ich sah uns: wir sahen arm aus.“71 Nahrungsmittel wie Wurst, Brot, Bouillon, Koteletts, Brötchen, Zigaretten durchziehen leitmotivisch den Text und fungieren als Sinnträger einer nur provisorischen Stillung alltäglicher Bedürfnisse. Die Aufzählung der Dinge in der Sprache dient der Bestandsaufnahme und

gen ist. Vgl. Gerhard Neumann: „Roland Barthes’ Theorie des Deiktischen“, in: Dieter Mersch (Hrsg.): Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003, S. 53-74. Zum Realismusproblem in der Literatur des 19. Jhs.: „Erzählte Rahmen: Realismus als Problem“, erscheint in: Uwe Wirth (Hrsg.): Rahmenbrüche-Rahmenwechsel, Berlin 2012. 70 Werner Jung; Jochen Schubert (Hrsg.): „Ich sammle Augenblicke“. Heinrich Böll 1917-1985, Bielefeld 2008. 71 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 24.

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Vergewisserung von Geschichten einzelner, sie dient der Konstitution eines historisch gegenwärtigen Bewusstseins, das Vergänglichkeit einschließt, jedoch von Böll nicht der Vergessenheit überantwortet wird. Würstchenbude und Imbissbude erinnern pars pro toto an ersehnte Refugien der Geborgenheit und Sättigung. Analog zu der Ruhelosigkeit, von der insbesondere Fred getrieben ist,72 kennzeichnet sich der Roman nicht durch geschlossene, sondern durch offene Räume, deren Grenzen überschritten werden bzw. sich als überschreitbar erweisen. Böll fokussiert Orte des vorübergehenden Aufenthalts, an denen die Protagonisten ihre Daseinsberechtigung immer wieder aufs Neue erproben. Die Suchbewegung, die das in eine Existenzund Beziehungskrise geratene Ehepaar Fred und Käte Bogner in Und sagte kein einziges Wort vollzieht, um aus der Misere herauszukommen und in ein neues Zuhause hineinzufinden, bleibt bis zum Ende des Romans bestehen. Einem chronikalischen Modus des Erzählens, wie es im neorealistischen Film und Roman Italiens zur konsequenten Umsetzung kommt, analog, wird die Story in Episoden unterteilt. Karsten Witte ermittelt aus diesem Erzählverfahren eine Gleichstellung von Menschen und Dingen sowie eine Autonomie der Schauplätze, an denen sich der Alltag in seiner zufälligen Verlaufsstruktur zeigen kann.73 In Bölls Roman zirkulieren Menschen und Dinge gleichermaßen durch Räume; es sind die Dinge, die das Verhältnis der Figuren zum Raum bestimmen, jedoch mündet deren Bahn gemäß der Durchlässigkeit und Offenheit dieser Räume nicht in einen „rechtmäßigen Ort“, der ihnen zugewiesen wäre oder an dem sie ankommen müssten.74 Der ständige Wechsel von Schauplätzen zeigt deren Autonomie, die Stiftung von Verbundenheit zwischen den Orten und ‚Nicht-Orten‘ eine dialogische Erzählsituation: Fred und Käte berichten wechselweise aus ihrer Lebensperspektive und schaffen damit eine Verbindung zwischen zunächst getrennten Räumen. Zwei autodiegetische, intern fokalisierte Erzählinstanzen geben aus der Perspektive größtmöglicher Nähe Auskünfte über

72 „Ich war zu müde, um mir Raum zu schaffen. Ich ließ mich treiben, schob mich langsam nach außen.“ (61) 73 Karsten Witte: „Neo-Realismus. Ein Angriff der Chronik auf die Story“, in: Film epd. 8 (1991), S. 16-24, hier: S. 19. 74 Zu einer Geschichte wandernder Dinge in Literatur und Film vgl. Michael Niehaus: Das Buch der wandernden Dinge. Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief. München 2009, S. 81.

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Empfindungen, Ängste und Sorgen und lassen die Leser am Alltagsgeschehen unmittelbar teilhaben.

VII. Seine „Ästhetik des Humanen“ entwickelt Heinrich Böll in seinen Frankfurter Vorlesungen, die er im WS 1963/64 als Gastprofessor an der Universität Frankfurt/Main hielt und die 1966 veröffentlicht wurden.75 Es handelt sich um vier Vorlesungen, in denen der Autor nach der Vernichtung von Menschen, Dingen, Gütern, Werten durch den Zweiten Weltkrieg fragt, wie eine bewohnbare Sprache in einem unbewohnbaren Land zu etablieren sei. Eine Argumentationsrichtung führt über die Wiederherstellung fester sozialer Bindungen, eine zweite über die damit einhergehende Stabilisierung kollektiver Moral. „Wohnen“, „Nachbarschaft“, aber auch soziale Zugehörigkeit und die Gewissheit des sozialen Ursprungs, die „Heimat“, dann wiederum auch Güter wie „Geld“, „Liebe“, die „Religion“ und „Mahlzeiten“ bilden die Koordinaten einer humanen Ordnung, in der nicht nur der Mensch wieder eine Wohnung finden, sondern die Sprache, wie Bölls berühmtes Diktum lautet, wieder bewohnbar gemacht werden soll: „Ein Autor, ein Urheber, ein Poet also – er würde nicht nur gern wohnen (wohnen ist ein Tätigkeitswort), sondern auch die Sprache, in der er schreibt, bewohnbar machen.“76 Insofern Literatur ein „Sprachgelände“77 konstituiert,

75 Böll: Frankfurter Vorlesungen. Vogt weist darauf hin, dass das Jahr 1963 für Bölls Werk, aber auch für die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Nachkriegsdeutschland eine Zäsur darstellt – die Frankfurter Vorlesungen als Zwischenbilanz der Nachkriegsliteratur im engeren Sinne reagieren indirekt auf die Diskursereignisse Ausschwitzprozess, Adornos und Mitscherlichs Vorlesungen an der Universität Frankfurt a. M., Rolf Hochhuths Stellvertreter im Schauspielhaus Frankfurt a. M. Vgl.: Jochen Vogt: „Lebst du noch? Und wohnst du schon? Luftkrieg, Wiederaufbau und Architekturkritik bei Heinrich Böll“, in: Werner Jung (Hrsg.): „Ich sammle Augenblicke“. Heinrich Böll 1917-1985, Bielefeld 2008, S.183-196, hier: S. 186. 76 Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 45. Drei der vier Vorlesungen rekurrieren auf Autoren, von denen sich Böll abgrenzt, auf andere wiederum, die er schätzt und für seine Argumentation der Bewohnbarkeit fruchtbar zu machen versucht. Mit

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stellt sie Bewohnbarkeit in Aussicht. Die Koordinaten eines neu abzusteckenden „Sprachgeländes“ sind alltägliche Dinge, vermeintlich unbedeutende Details als Gradmesser einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft.78 Das Wohnen, solchermaßen von Böll ethisch gefasst und konstitutiv für seinen Realismus, führt zu Adalbert Stifter, dessen Nachsommer er als die „großartigste Wohnung der deutschen Literatur“ bezeichnet.79 Böll erwähnt Stifter zum ersten Mal 1953 in seinem Essay „Rendevous in Paris“,80 in den Frankfurter Vorlesungen jedoch ausführlicher. Er zitiert hier einen längeren Passus aus Stifters 1857 erschienenem Bildungsroman Der Nachsommer und diese Zitation ist sowohl was ihre Positionierung im Text anbelangt als auch im Hinblick auf das Zitierte bemerkenswert. In einer nachgerade harten Fügung rückt Böll ein Zitat aus dem 4. Kapitel des ersten Bandes von Stifters Nachsommer mit dem Titel „Beherbergung“ in die Nähe eines Zitats aus Hans Günther Adlers 1950/51 entstandenem, 1962 zuerst erschienenem Roman Eine Reise. In beiden Romanen sieht Böll die Verwirklichung einer „Poesie des Alltäglichen“ am Werk, ja: eine Poesie des „Ab-

Distanz begegnet er Ernst Jünger, Stefan George und selbst Robert Musil, die sich, so das Argument, als Auserwählte mit einem elitären Gestus von gesellschaftlichen Problemen fern gehalten hätten (S. 19); als für sein eigenes Schreiben prägend und der positiven Einschätzung wert erscheinen ihm William Faulkner, Johann Peter Hebel, Franz Kafka, Adalbert Stifter, Theodor Fontane, Joseph Roth, Jean Paul. 77 Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 53. 78 Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 61. 79 Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 56. 80 Heinrich Böll: „Rendevous in Paris (1953)“, in: ders.: Werke VII. Essayistische Schriften und Reden I. 1952-1963, Köln 2003, S. 90-95. Vgl. Ulrich Dittmann: „Die ‚Dichtung des Plunders‘ und die Abfall-Ästhetik. Über das Verhältnis Heinrich Bölls zu Adalbert Stifter“, in: Adalbert Stifter: Studien zu seiner Rezeption und Wirkung II: 1931-1988, hrsg. vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. 2002, S. 192-201, hier: S. 193. In einem Werkstattgespräch mit Horst Bienek taucht Stifter neben Dostojewski, Jack London, Hemingway, Camus, Green, Faulkner, Thomas Wolfe, Hebel und Fontane auf. Heinrich Böll: „Werkstattgespräch mit Horst Bienek (1961)“, in: ders.: Werke. Kölner Ausgabe. Bd. 24. Interviews I (1953-1975), hrsg. von J.H. Reid und Ralf Schnell. Köln 2003, S. 73-86, hier: S. 80.

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falls“, insofern hier Verworfenes, Vergessenes poetische Realität bilde. Man kann sich den Gegensatz zwischen Adlers lakonischer, nüchterner Bestandsaufnahme des Schicksals einer jüdischen Familie, die aus ihrer Wohnung vertrieben und deportiert wird und Stifters Beschreibung der gleichsam sterilen bürgerlichen Idylle im Rosenhaus des Freiherrn von Risach kaum extremer vorstellen. Auf der Seite Adlers handelt es sich um den Versuch, die Unbewohnbarkeit des Landes noch vor der Bombardierung der deutschen Städte in Worte zu fassen. „Sie kamen meist am späten Abend oder auch während der Nacht, wenn sie ihre Botschaft brachten, der sich ein entsetztes Licht versagte. ‚Du sollst nicht wohnen!‘ Das war die gedruckte Meldung, die sie übermittelten. [...] Die Menschen warteten schon auf das Unheil, das sie wußten, und darum waren die Wohnungen bereits zerstört, bevor sich das starke Geschoß eines Fliegers ihrer erbarmte.“

81

Stifter dagegen steht für die Bildungsgeschichte eines jungen Mannes aus einem gut bürgerlichen Kaufmannsgeschlecht, die im Rosenhaus des Freiherrn von Risach ihre Vollendung finden wird. Auf der einen Seite also die über das politische Gebot legitimierte, totale Zerstörung der existenziellen Lebensbedingungen von Menschen („Du sollst nicht wohnen“), auf der anderen Seite die Zuversicht, dass Mensch und Ding in einer perfekt arrangierten Idylle des Häuslichen zueinander finden. Wir müssen uns fragen, wie Böll dazu kommt, die beiden ungefähr 100 Jahre auseinanderliegenden Texte in eine Linie zu stellen, in die er weiterhin noch Günter Eich mit seinen Gedichten „Inventur“ und „Camp 16“ einordnet. Er selbst sagt dazu: „So, im Gegeneinanderstellen von Texten – historisch kontinuierlich ausgewählt – ließe sich vielleicht eine Ästhetik des Humanen erkennen. Stifters verzweifelter Traum von Dauer, Bildung, Wohnung und die Gedichte von Eich, in denen der Abfall nicht nur lyrisch erfaßt ist, sondern sich auch als Wohnung und des Menschen einzige Gerätschaft darbietet.“

82

81 Hans Günther Adler: Eine Reise. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Berlin 2002. Zitiert nach Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 45f. 82 Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 80.

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Die intertextuelle Fügung heterogener Texte und Autoren steht im Dienst der Etablierung einer literarischen Genealogie der Bewohnbarkeit, die bei Stifter als Idealfall ihren Ausgang nimmt und bei Adler und Eich mit ihrer Darstellung eines politisch bedingten Entzugs von Bewohnbarkeit endet. Zugleich hebt diese Fügung das alle miteinander verbindende Element des „Abfalls“ hervor und suggeriert eine Traditionslinie des Schreibens, die sich aus dem Verworfenen, Vergessenen generiert. Ulrich Dittmann hat in einem Beitrag aus dem Jahr 2002 den Vorschlag gemacht, Bölls „Ästhetik des Humanen“ als eine „Abfall-Ästhetik“ in diesem Sinne bei Stifter präfiguriert zu finden. Er führt den Nachweis insbesondere in Stifters Abdias, in der Mappe meines Urgroßvaters und schließlich im Nachsommer, dass hier ein großer Sinnzusammenhang aus „recyceltem Abfall“ gestiftet würde, aus Dingen, denen die Spur des Gebrauchs anhaftet. Eine andere Lesart findet man bei Sabine Schneider: Es gehe von den abgelegten und verbrauchten Dingen, die sich in realistischen Erzähltexten ansammeln wie „liegengebliebene Reste auf dem Trümmer- und Schlachtfeld der Geschichte“ eine „geisterhafte Unheimlichkeit“ aus, schreibt sie, die die gewollte Affirmation in ihr Gegenteil umschlagen lasse. Eine erdrückende Fülle des Plunders zehre die Finalität und Sinnhaftigkeit des Erzählens auf. „In Stifters Fall [...] schlägt die Ehrfurcht des Erinnerns und Bewahrens in eine katastrophische Zeitvorstellung um, in der die aufgehäuften ‚Gedenksachen‘ und ‚Altertumsdinge‘ zu einem dämonischen Stillleben letzter Dinge erstarren und die quälende Vorstellung einer klaustrophobischen Immanenz toter Dinglichkeit aufrufen – an die Stelle des Silberstroms der Menschheit tritt eine Mülldeponie abgelegter Dinge, der im als Komplementärtext [zur „Mappe“, A.d.V.] zu lesenden Ein Gang durch 83

die Katakomben ein alle Räume ausfüllender gigantischer Leichenberg entspricht.“

Auch im Rosenhaus des Freiherrn von Risach widerstehen angesammelte Altertümer einer Bewohnbarkeit der Räume: Mobiliar, Bilder, Geschirr, Bücher und anderes. Richtet man den Blick auf die von Böll zitierte Passage aus dem vierten Kapitel des Nachsommer, so wird evident, dass Böll

83 Sabine Schneider: „Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus“, in: dies., Barbara Hunfeld (Hrsg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2008, S. 157-174, hier: S. 161.

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nicht etwa die Passagen der Reinlichkeit ausspart, um das Abfallartige des Abfalls hervorzuheben,84 sondern die Funktionslosigkeit der im Nachsommer beschriebenen Räume. Böll lässt in seinem längeren Zitat aus Stifters Nachsommer-Kapitel „Die Beherbegung“ zwei Passagen aus, in denen implizit von einer unheimlichen Sinnentleerung von Räumen die Rede ist. Die eine entscheidende lautet: „Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz gestellt zu sein.“85 Das mit Schreibschreinen und kunstvoll verzierten Tischen ausgestattete Arbeitszimmer bleibt ebenso funktionslos wie das „altertümliche Kleiderzimmer“, das anschließend begangen wird und kaum Gebrauchsspuren aufweist.86 Ja, selbst der Fußboden, der doch so etwas wie die Basis des Wohnens bildet, ist, wie es bei Stifter heißt, nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt.87 Solche Aussparungen machen ein Phänomen sichtbar, um das Bölls Prosa der Nachkriegsjahre kreist: Die Unangemessenheit und Funktionslosigkeit von Räumen, die entweder zu klein sind oder leer stehen.88 So gesehen schreibt Böll nicht etwa ein Konzept von Realismus fort, in dem der Mensch geborgen in die Welt der Dinge eingeht; vielmehr markiert er den Riss, der das Verhältnis des Menschen zu den Räumen, in denen dieser wohnhaft werden möchte, durchzieht. Es ist denn nur folgerichtig, wenn Böll von Stifters „verzweifel-

84 Dittmann: „Die Dichtung des Plunders“, S. 195. 85 Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. München 1982, S. 73. 86 „Außer den Schreinen waren nur noch Stühle da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich Kleider darauf zu hängen.“ Stifter: Der Nachsommer, S.73. Vgl. Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 77. 87 „Ihr werdet Euch wundern, daß in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich, als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die Abteilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeit erkaufen muß.“ Stifter: Der Nachsommer, S. 76. Vgl. Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 77. 88 Von „leeren Räumen“ bei Böll spricht auch Handke: „Wir müssen fürchterlich stottern“, S.10.

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ter Stille“ spricht und vom Nachsommer, der „großartigsten Wohnung der deutschen Literatur“ als einem „Traum“.

VIII. Eine Gegenüberstellung von ästhetischen Konzepten und Romanen Heinrich Bölls und Vasco Pratolinis hat verdeutlichen können, dass es, exemplarisch gesehen, sowohl der italienischen wie der deutschen Nachkriegsliteratur um Entwürfe eines Neubeginns im Zeichen des Humanitären geht, die alte Traditionen, durch das Kriegsgeschehen verloren gegangene Werte wieder aufgreifen. Beide Autoren orientieren sich an der Schilderung sozialer Milieus und entfalten eine literarische Phänomenologie des Alltags, indem sie die Erfahrung von Alltäglichkeit „im Bewusstsein eines wahrnehmenden Ich“ nicht nur schildern, sondern narratologisch und ästhetisch inszenieren.89 Durch die fiktionale Modellierung eines solchen, sinnlichleibliches und kognitives Erleben inkludierenden Erfahrungshorizonts erschließt Literatur einen erkenntnistheoretischen Zugang zur historischen Nachkriegsrealität. Während bei Pratolini die Stimme eines erzählenden Zeugen dominiert, in der das Kollektiv einer ganzen Nachkriegsgeneration aufgeht, verstärkt Böll die mikrokosmische Schau des Nachkriegsalltags in einem mittelstädtischen Milieu durch das komplementäre Zusammenspiel zweier Beobachter unterschiedlichen Geschlechts, die Gefühle und Ereignisse ‚hautnah‘ übermitteln. Bei Böll handelt es sich um Gesten des Mitleids, der Verzweiflung, des Schmerzes, der Müdigkeit, der Demut und der Verzweiflung, die an den beiden Protagonisten exponiert werden und in ein Universum von Schamgefühlen münden: Fred und Käte erschrecken nicht nur immer wieder vor ihrer Armut, sondern auch vor sich selbst: „Ich schämte mich, darum zu beten, dass der, den ich anrief, mir sofort Geld geben sollte […].“90 Dies trifft insbesondere für Fred zu, dessen moralische

89 Christiane Solte-Gresser: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (19291949), Würzburg 2010, S. 32. 90 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 52. Vgl. auch: „[…] ich habe sie geschlagen. Ich war im Unrecht.“ (68); „Denn das Merkwürdige ist, daß sie mich zu lieben scheinen, nach mir verlangen, von mir sprechen, obwohl ich sie schlug in

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Qualitäten ob seiner Trinksucht einerseits in Frage gestellt werden, der jedoch andererseits als ein kommunikationsscheuer Kriegstraumatisierter gezeichnet wird, der eine besondere Affinität zum Tod besitzt und den, wie es heißt, die „Armut krank gemacht“ hat:91 „‚Mag sein‘, sagte ich müde, ‚daß ich im Krieg etwas abbekommen habe. Ich denke fast immer an den Tod, Käte, es macht mich ganz verrückt. Im Krieg gab es so viele Tote, die ich nie sah, von denen ich nur hörte.‘“

92

In den verhandelten Texten beider Autoren geht es um die Schilderung von Lebensläufen, um die Bestandsaufnahme von Zeitgeschehen, in das vorausgegangene und nachfolgende Zeitläufe integriert sind. Während es Pratolini um die Bewahrung geschlossener, nationale Identität stiftende Räume zu tun ist, deren möglichen Zerfall er problematisiert, fällt die Bilanz der Böllschen Protagonisten pessimistischer aus. Im Roman Und sagte kein einziges Wort gibt es bis zuletzt keine Hoffnung auf ein ‚geschlossenes‘ Zuhause: „‚Gut‘, sagte ich [Käte], ‚dein ganzes Leben, unser ganzes Leben, solange ich bei dir bin, hat sich an Würstchenbuden, an Goulaschbuden, in dreckigen Kneipen, fünftklassigen Hotels abgespielt, auf Rummelplätzen, und in dieser schmutzigen Bude, in der wie seit acht Jahren hausen.‘“93Als alleiniger Hoffnungsträger verbleibt der Glaube, vor dessen Horizont die Bogners sich gleichsam als eine „Heilige Familie“ wahrnehmen, die freilich in „verzweifelt sinnlose Demut“ verfallen ist.94 Die unterschiedlichen Entwürfe von Individuum und gesellschaftlichem Kollektiv der Nachkriegszeit bei Böll und Pratolini sind den anders gelagerten historisch-politischen Umständen in Deutschland und Italien geschuldet. Durch die Absetzung Mussolinis durch den Faschistischen Rat und den Widerstand der Partisanen gegen die deutschen Besetzer Norditaliens nahm das Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien einen anderen Verlauf als in

den letzten Wochen, in denen ich bei ihnen war: ich schlug sie so heftig, daß ich erschrak über den Ausdruck meines Gesichts, als ich mich plötzlich mit wirren Haaren im Spiegel sah […].“ (82) 91 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 123. 92 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 104f. 93 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 131. 94 Böll: Und sagte kein einziges Wort, S. 125.

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Deutschland. Entsprechend verlief die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit in beiden Ländern auf anderen Wegen. Während in Deutschland die literarische Aufarbeitung des Krieges stark von Diskussionen um politische, kollektive und persönliche Schuld bestimmt war,95 zeigt das Beispiel Pratolini, dass es der italienischen Nachkriegsliteratur eher um die Erinnerung und die Anknüpfung an nationale und kollektive Identitätsbildungen und Utopien, von einem „nationalen Sozialismus“ hin zu einem „sozialen Nationalismus“96 ging. Der Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs äußert sich in Italien weniger wie in Deutschland als Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und der Kriegsschuldfrage, die bekanntlich bis in die 60er Jahre hinein mit Praktiken der Verdrängung, Verleugnung und des Verschweigens einherging, sondern eher als kritische Infragestellung, aber auch Neuschöpfung bzw. Revitalisierung des italienischen Nationalgefühls. Das Selbstverständnis Pratolinis ist dabei weniger ein politisch-zeitkritisches wie bei Böll, sondern eher ein versöhn-

95 Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 22009, insbesondere I.B. und I.C. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der „Vergangenheitsbewältigung“ der Deutschen vgl. die Züricher Vorlesungen von W.G. Sebald, in denen es heißt: „Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk.“ W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 6. Darüber hinaus muss das gänzliche Fehlen einer Resistenza-Literatur in Deutschland berücksichtigt werden. Infolge des bewaffneten Widerstands verliert die Schuldfrage in Italien an Brisanz und ermöglicht eine Erinnerungsliteratur, die das Erleben und Erfahren von Geschichte sich mit einem verantwortungsbewussten Handeln in der Vergangenheit verbinden lässt. Vgl. Lea Steger: Die Literatur der italienischen Resistenza. Die literarische Verarbeitung des bewaffneten Widerstandes in Italien, Frankfurt a. M. 2005. 96 Stefan Breuer: Nationalsozialismus und Faschismus, Frankreich, Deutschland und Italien im Vergleich, Darmstadt 2005. V.a. S. 98f; Stefan Breuer und Maurizio Bach: Faschismus als Bewegung und Regime: Italien und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2010.

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lich-erinnerndes, das von einer gewissen „Ideologielosigkeit“97 geprägt ist. Pratolini steht beispielhaft für einen Schriftsteller, der sich als volksnah begreift und Teil seines Romanpersonals wird. Die starke Akzentuierung des kollektiven Gedankens in der italienischen Literatur hat seine Ursache in der Orientierung an Bewegungen des Linksfaschismus zum Kommunismus, welcher wiederum eine ethisch-soziale und nationale Erneuerung der italienischen Kultur anstrebte.98 Nachkriegsdeutschland war angesichts der Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen viel stärker mit der Rehabilitierung und Stabilisierung einer „moralisch so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft“ beschäftigt.99 Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort kann als literarische Stellungnahme zu solchen Bestrebungen angesehen werden, richtet der Autor doch sein Augenmerk auf die sozialen und moralischen Probleme der kriegsgeschädigten Gesellschaft, verteidigt er doch den alltäglichen Lebensraum von Individuen und deren persönliche Würde vor einem sich verstärkenden Zugriff staatlicher und kirchlicher Institutionen.100 Trotz der unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in Deutschland und Italien entwerfen Böll und Pratolini historische Gegenwart am Leitfaden alltäglicher Praktiken. In beiden Fällen kommt der detaillierten Betrachtung und Beschreibung von Dingen, Räumen und ‚Nicht-Orten‘ sowie deren privater und kollektiver Funktion für Konzepte der Bewohnbarkeit eine herausragende Bedeutung zu. Diese mikroskopische und mikrokosmische Tendenz einer detailorientierten Annäherung an die Schrecken der Vergangenheit setzt sich in Erinnerungspoetiken der Gegenwart fort – vielleicht, weil, wie Uwe Timm in seinen Paderborner Poetikvorlesungen schreibt, gerade die Fokussierung kultureller und sozialer Praktiken eine Erweiterung der „Sinneswahrnehmung“, aber auch der „Sinnwahrnehmung“ von Geschichte erlaubt: „Vielleicht wäre diese Haltung für den Schriftsteller produktiv: das Alltägliche mit dem Blick des

97

Chiara Polverini: Dimensionen der Wirklichkeit in Neorealismo und Neuer Sachlichkeit, Bonn 2007, S. 296.

98

Ferretti: Vasco Pratolini, S. 31 und 48.

99

Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 7.

100 „Heinrich Böll“. In: Walter Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2, Gütersloh, München 1989, S. 62-81, hier: S. 62 und 64.

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Fremden zu sehen, nicht mit dem des Touristen, sondern mit dem genauen, forschenden Blick des engagierten Ethnographen.“101

101 Uwe Timm: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags, Köln 1993, S. 139.

Dem Realen auf der Spur Exerzitien der Beschreibung in der deutschen Nachkriegsliteratur 1

K LAUS R. S CHERPE

Der seit dem 19. Jh. prominente Realismusbegriff nährt sich vom Wunsch des Publikums, dass die dargestellte Wirklichkeit so sein möge wie die Wirklichkeit. Realismus ist aber, wie wir alle wissen und meinen, ob nun ontologisch, semantisch oder erkenntnistheoretisch unterfangen, eine Realitätskonstruktion, was sich allein schon darin zeigt, dass Realismusmanifestationen niemals ohne ein Gegenteiliges auskommen: unrealistisch, idealistisch, surreal, fiktiv, virtuell. In den Einlassungen der Dichter wird dies sofort mitgeteilt, in der Literatur der Moderne nicht selten subversiv, um den Realismusbegriff auf der Suche nach dem Realen in Frage zu stellen. „Es muß möglich sein“, schreibt Alexander Kluge in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, „die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist,

1

Dieser Vortrag schließt an frühere Arbeiten des Vf. zum Thema an: Die rekonstruierte Moderne, Köln u.a. 1992; „Beschreiben, nicht Erzählen!“, in: Ztsch. f. Germ. N.F., 2 (1996), S. 368-383; Stadt. Krieg. Fremde, Bern, Tübingen 2002; „Kafkas Poetik der Beschreibung“, in: Klaus R. Scherpe, Elisabeth Wagner (Hrsg.): Kontinent Kafka, Berlin 2006; „Auszeit des Erzählens. W.G. Sebalds Poetik der Beschreibung“, in: Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 4, S. 485-502. Hier auch die weiterführende Literatur.

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auch darzustellen. Sie hat eine Papiertiger-Natur“.2 „Wirkliche Realität ist immer unrealistisch“, soll Franz Kafka zu Gustav Janousch gesagt haben,3 um damit auf das Vorgängige und Unfassbare der verstandesmäßig und sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit anzuspielen, ebenso auf die funktionale Wirklichkeit der technischen Apparate und Akten. Aber wo und wie überhaupt in der Realität (historisch, gesellschaftlich, physisch, psychisch) und in ihrer literarischen Repräsentation (die „dargestellte Wirklichkeit“) zeigt sich, so die Frage aller Fragen, das Reale?4 In Beschreibung eines Kampfes spricht Kafka von der „quälenden Lust, die Dinge so zu sehen, wie sie sich ergeben mögen, ehe sie sich mir zeigen.“5 Das Phantasma der Unmittelbarkeit, das Begehren, den Ausdruck und die Zeichen in die Dinge selbst zurück zu verfolgen und zu beschreiben, ist häufig artikuliert worden: immer dann, wenn die symbolische Welt der Sprache – und insbesondere natürlich ein Begriffabsolutismus wie Realismus – außer Kraft zu setzen war. In Proust und die Zeichen benennt Deleuze den merkwürdigen Vorgang, dem Gegenstand die Zeichen zuzuschreiben, deren Träger er ist.6 Das Verfahren der Objektivierung motiviert die Kunst, den Vorgang des Beobachtens und Beschreibens, ist aber selber noch nicht Kunst, deren Zeichenhaftigkeit in diesem Verfahren allererst zu entdecken ist: als „Virtualisierungsstrategie“, die uns das Unsichtbare sehen macht, das Unähnliche im Ähnlichen, das Bild ohne Vorbild, die Figur ohne Figuration wie in der abstrakten Malerei. Der gleiche Gedanke des anfänglichen Kunstwerdens – man könnte auch sagen, das Paradox einer Versprachlichung vor der Sprache – findet sich in Foucaults poetischstem

2

Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, Frankfurt a. M. 1975, S. 215.

3

Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka, Frankfurt a. M. 1961, S. 103.

4

Diese Frage lebt in jüngster Zeit in einer Fülle von Beiträgen und Konferenzen wieder auf, stellvertretend sei hier das von Albrecht Koschorke geleitete Konstanzer Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ genannt. Ich beziehe mich mehrfach auf einen noch nicht veröffentlichten Vortrag von Oliver Simons, Harvard: „Nullpunkt, Neutrum, punctum: Das Reale bei Roland Barthes“.

5

Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt a. M. 1969, S. 90.

6

Gilles Deleuze’ Bemerkungen zum „Objektivismus“, in: Proust und die Zeichen. Berlin 1978, S. 26-28.

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Text, dem Essay über Raymond Roussels Beschreibungskunst, von der es heißt: „Als ob die Sprache, die zur Beschreibung der Dinge sorgfältig auf ihre Oberfläche gelegt wurde, durch eine innere Weitschweifigkeit an die Dinge selbst zurückgegeben worden wäre“.7 Dazu müsste man, so Foucault, „zum Morgen der Sprache und der Dinge zurückgehen, bis zum ersten Aufblitzen […] das, noch bevor es die Dinge in ihrer Fülle darbietet, sie verstohlen aufspaltet und von innen heraus zerreißt.“8 Die Faszination, die von der reinen und implizit gewaltsamen „Beschreibung der Dinge“ ausgeht – darauf komme ich noch –, entdeckt Foucault auch bei Flaubert, in dessen „libidinösem Historismus“, wie Fredric Jameson gesagt hat,9 in Salammbô und der Tentation de Saint Antoine: in der Obsession, den Dingen durch ihre andauernde Beschreibung nahe und näher zu kommen: keineswegs nur phänomenologisch (die sinnliche Wahrnehmung betreffend), sondern mit der äußersten Kunstanstrengung einer raison, welche, wie Foucault suggeriert, die Dinge in ihrer „namenlose[n] Ähnlichkeit“ verknüpft.10 Der Realismusbegriff wird dort noch einmal interessant, wo er ‚unmöglich‘ wird und womöglich zu ersetzen ist. Für zwei andere Begriffe (oder vorsichtiger gesagt: Vorstellungen und Verfahren) wollte ich mit meiner Vorbemerkung den Resonanzraum schaffen: für das so genannte und reichlich ominöse Reale und für die eben schon mehrfach genannte Beschreibung als textuelles Verfahren. Ein unmöglicher Versuch, wie wir sehen werden. „Die Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur“ hat Roland Barthes 1953 in Le dégré zéro de l’écriture gesagt.11 Seit Lacans triadischer Aufgliederung der menschlichen Psyche in das Imaginäre, Symbolische und Reale, die für die darstellenden Künste und die Literatur neben Roland Barthes vor allem von Louis Althusser und Pierre Macherey in den 1960er Jahren fruchtbar gemacht wurde, verbietet es sich eigentlich, den Realismusbegriff unbescholten dualistisch, also abbild-

7

Michel Foucault : Raymond Roussel, Frankfurt a. M.1989, S. 131.

8

Ebd., S. 136.

9

Fredric Jameson: „Flaubert’s Libidinal Historicism“, in: N. Schor, H.F. Majewski (Hrsg.): Flaubert and Postmodernism, Nebraska 1984, S. 76-83.

10 Hierzu Klaus R. Scherpe: „Die Poetik der Beschreibung in ethnographischen Texten“, in: ders.: Stadt. Krieg. Fremde, S. 239-274, hier: S. 245. 11 Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a. M. 1982, S. 47.

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theoretisch zu verwenden und die „menschlichen Vermögen“, wie im frühen 18. Jh., zweifach zu sortieren: Vernunft oder Sinne, real oder irreal, Darstellung qua Mimesis oder Einbildungskraft. Die imaginäre Projektion, die symbolische Ordnung der Sprache und das Reale, das eine Existenz und Präsenz grundiert, die oft traumatisch besetzt ist, bilden, methodisch betrachtet, nicht mehr als eine Art Versuchsanordnung. Die stufenweise Anordnung der drei „Register“ hat Lacan in diesem Sinne heuristisch verstanden. Die verschiedenen „Register“ sind untrennbar miteinander verbunden; sie wirken unauflöslich und unaufhörlich ineinander. So auch in Pierre Machereys zeitnaher Pour une théorie de la production littéraire (1966). Das Reale ist auch hier der „défaut“, der Mangel, das Abwesende, das, was nicht zur Sprache kommt, das aber einbricht in die symbolische Ordnung der Sprache und diese verschiebt und zerreißt („le décalage“).12 Das sog. Reale ist ähnlich beschaffen wie das sog. Fremde, um dessen Verstehen sich die Reiseliteratur, die Ethnologie und die Migrationsforschung gleichermaßen bemühen. Wird aus der eigenen Disziplin, aus der eigenen Kultur und Sprache heraus über das Fremde gesprochen, so spricht das Fremde als Fremdes nicht mehr. Um anzudeuten, was hier auf dem Spiel steht, und um auf meinen zweiten Terminus, den der Beschreibung, aufmerksam zu machen, zunächst ein historisches Beispiel aus der literarischen Moderne. Es folgen einige systematisierende Bemerkungen über die Beschreibung als literarische Schreibweise, um anschließend eine Spurensuche des Realen in einigen Beschreibungstexten der deutschen Nachkriegsliteratur ins Auge zu fassen. Robert Musil hat, ähnlich wie später Deleuze, aus Faszination an den optischen Medien, vor allem dem damals noch spektakulären und experimentellen Medium Film, seine ästhetischen und wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse neu formuliert. Allein schon der Blick durch das Fernrohr und die Aufforderung, dasjenige intensiv zu beschreiben, was in diesem Ausschnitt, einem Einschnitt in die Wirklichkeit, zu sehen ist, rührt, so Musil, an jenem Elementaren und Realen, das Foucault umschreibt als ein „Aufblitzen, das die Dinge aufspaltet und von innen zerreißt“. „Man sieht Dinge“, so Musil,

12 Pierre Macherey: Zur Theorie der literarischen Produktion, Darmstadt und Neuwied 1974, S. 72.

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„immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten [hier hätte Musil den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts anführen können]. Treten sie einmal heraus [aus dem erzählerischen Kontext z.B.], so sind sie unverständlich und schrecklich, wie der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten [und wir uns an sie als Leser realistischer Romane, könnte man ergänzen]. So wird auch in der glashellen Einsamkeit [des optisch isolierten Gegenstands] alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer. Ein Hut […] entartet augenblicklich zu etwas Wahnsinnsähnlichem, wenn das Triëder seine romantischen Beziehungen zur Umwelt unterbricht und die richtigen optischen herstellt.“13

In seiner Rezension von Bela Balázs’ berühmtem Filmbuch Der sichtbare Mensch (1924) hatte Musil kaum Worte gefunden, um seine Faszination an der isoliert zu beschreibenden, aber letztlich doch unbeschreiblichen Bedeutungsdichte der optischen Einstellung zum Ausdruck zu bringen: jene Störung der umgebenden Normalität, den augenblicklichen „Entrückungsvorgang“, in dem im filmischen Bild, vorbildlich für die Literatur, wie Musil meint, „unter gleichem Affekt stehende Bilder zu Konglomeraten zusammengeballt werden, an denen gewissermaßen die Affektsumme haftet (z.B. Tiermenschen und multiple Tiere der primitiven Kulturen, Traum- und Halluzinationsbilder, wo gleichfalls zwei oder mehr Personen in einer erscheinen), oder umgekehrt, ein einziges Bild (Teil) als Repräsentant […] des Ganzen geladen erscheint (Magische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten, Spiegelbild u. dgl.).“14

Das Reale erscheint in Musils halluzinatorischen Beobachtungen, die an Walter Benjamins Rede vom „optisch Unbewußten“ erinnern,15 als Eklat:

13 Robert Musil: „Triëdere“, in: ders.: Gesammelte Werke, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 518-522, hier: S. 520f. 14 Robert Musil: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1137-1154, hier: S. 1139. 15 Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II,1, Frankfurt a. M. 1977, S. 368-385, hier: S. 371.

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als ein die symbolische Ordnung der Sprache zerstörendes Element, und zwar im Modus der Regression, des unartikuliert Fremden, begrifflich aufgefangen im seinerzeit modischen Primitivismus. Die im Filmerlebnis aufgespürte ästhetische Energie wird von Musil mit Rekurs auf Freuds „Verdichtung und Verschiebung“ auf die literarische Produktion übertragen: die Möglichkeit (oder doch Unmöglichkeit), den erahnten und ersehnten Zustand der „Entrückung“ in Sprache zu fassen, ihn zu – beschreiben. Ein anderer Text, Musils Fliegerpfeil-Episode aus dem Ersten Weltkrieg, versucht den durch das anfliegende Geschoss spannungsgeladenen, sinnlich nicht mehr zu erfahrenen Erlebnis-„Rausch“ mit Worten deskriptiv einzukreisen, jenseits der Formelhaftigkeit der Syntax und ohne die Sättigung von Bedeutungen in der Metapher.16 In Musils Erzählwerken – in der Novelle Grigia ebenso wie im Mann ohne Eigenschaften – finden sich häufig Textpassagen, die den Erzählfluss unterbrechen, ihn sistieren, um in einer Art time out des Erzählens die zuständliche Beschreibung zur Geltung zu bringen. Und zwar immer dann, wenn eine Dichte des Eindrucks und Ausdrucks erreicht werden soll: eine sich der Sprache entziehende Komplexität und Intensität, welcher man in der umgebenden fiktionalen Konstruktion der Erzählung mit ihren Konditionen und Kausalitäten so nicht begegnet. Worauf ich hinaus will, ohne dies hier im Einzelnen auszuführen, das sind die in der Literatur der Moderne von Stifter, Flaubert und Proust über Kafka, Musil und Jünger bis zum nouveau roman (Claude Simon), in der westdeutschen Nachkriegsliteratur bei Alfred Andersch und Peter Weiss und auch bei W.G. Sebald zu beobachtenden eigenartigen Exerzitien einer beschreibenden Literatur: ein textuelles Verfahren, das sich zum Schreibexzess steigern kann, um – so die vorläufige These – zur höchsten Intensität eines Realen vorzustoßen. Zu beobachten ist nichts anderes als ein linguistisches Phantasma: als könne man durch die Beschreibung der Dinge die Sprache an die Dinge selber zurückgeben, was Foucault in seinem Essay über Raymond Roussel imaginiert. Was eine Beschreibung ist oder sein kann, als Textstrategie, ist jetzt nachzutragen bevor ich einige Exempla aus der Postavantgarde der deutschen Nachkriegsliteratur aufrufe. Normalerweise wird kein rhetorisch und

16 Robert Musil: „Die Amsel“, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 548-562, hier: S. 556f.

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poetologisch geschulter Textwissenschaftler die quasi hilfswissenschaftliche Methode der Deskription (methodisch gut bekannt in den exakten Naturwissenschaften und der Wissenschaftstheorie)17 in Verdacht nehmen, das zu leisten, was ich hier unterstelle: die Subversion der als realistisch verstandenen Repräsentation der Realität. Auch in der klassischen Rhetorik und Poetik ist die Beschreibung (ekphrasis, descriptio) nichts anderes als die ancilla, die Magd der Erzählung, gelegentlich ein stilistisches Prunkstück (die Beschreibung des Schilds des Achill in Homers Ilias). Im 18. Jh., in Lessings Laokoon, wird die Beschreibung als „mahlende Poesie“ zurückgesetzt gegenüber den „Nachahmungen von Handlungen“ in Epos und Drama im Sinne des Aristoteles. In Hegels Phänomenologie des Geistes ist die Beschreibung die Methode, die über das Stoffliche nicht hinauskommt, nur eine Vorstufe zur künstlerischen Gestaltung der Wirklichkeit.18 Wenn es um den Realismus ging, hatte der Hegelianer Georg Lukács das Wort. In seinem Moskauer Aufsatz von 1936 „Erzählen oder Beschreiben?“ zieht Lukacs gegen Flaubert und die Beschreibungsdichter des Naturalismus zu Felde, welche die Welt nur im Zustand der „fertigen Phänomene“ sähen, das verdinglichte Leben, die Gleichgültigkeit des Seins, ohne das von Handlung und Charakter beförderte sozialpolitische Narrativ des realistischen Romans.19 Lukács’ Ideologiekritik übersieht das spezifisch Moderne des Studien- und Experimentalcharakters des naturalistischen Romans, nicht nur bei Zola, sondern auch bei seinen deutschen Adepten. Positivistisch angeleitet, setzten Arno Holz und Johannes Schlaf in ihren Prosastudien der Neuen Gleise gegen die „metaphysischen“ Befangenheiten von „Willensfreiheit“ und „Einbildungskraft die Wortkunst einer reinen

17 Vgl. hierzu die Ausführungen des Wissenschaftshistorikers Hans Jörg Rheinberger (Iterationen. Berlin 2005) zur Extimität, zu Wiederholungen, zu Differenz und Repetitionen in der Wissensproduktion und deren Aufzeichnungen. 18 G.W.F. Hegel: „Phänomenologie des Geistes“, in: Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel (Hrsg.): Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1970, S. 188. 19 Georg Lukács: „Erzählen oder Beschreiben?“, in: ders.: Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 197-242; vgl. auch den Aufsatz von Joachim Jacob „Beschreiben oder Erzählen? Überlegungen zu den ethischen Implikationen einer alten Kontroverse“, in: Claudia Öhlschläger (Hrsg.): Narration und Ethik. München 2009, S. 81-98.

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Beschreibung der états des chose und états d’ame, die von Lukács abgestrafte reine „Atelierkunst“. Hier ging es um die minutiöse Beschreibung eines aus der Umgebung des Milieus heraus gezirkelten „Stücks Natur“: eines Interieurs z.B., das unter der Bedingung des Ausschnitts in allen Einzelheiten, sprachlich verdichtet, vorgezeigt und dadurch intensiviert wird. Bei Holz setzt sich dieses von Lukács disqualifizierte Formexperiment inmitten des sozial aktivierten Naturalismus fest, eine Schreibweise experimenteller Dichtung, die Arno Holz nach Helmut Heißenbüttels Urteil zum „Vater der Moderne“ machte.20 Die exzessive Versprachlichung qua Beschreibung, die die derart aufgebrachte Dingwelt, wie Musil sagt, zu etwas „Wahnsinnsähnlichem“ entarten lässt, lässt sich bereits im Naturalismus als Derivat des Realismus beobachten.21 Und dabei ist die Schreibweise der literarischen Beschreibung keineswegs nur phänomenologisch situiert, ohne textuelle Konturen, wie die Advokaten des handlungsorientierten Realismus behaupteten. Vielmehr verfügt die Beschreibung in der Literatur der Moderne durchaus, wie im Folgenden zu zeigen ist, über Strukturprinzipien, die nur ihre eigene Kohärenz, einen Resonanzraum des Deskriptiven schaffen.22 Wie geschieht dies? Und was ist das deskriptive Procedere, die „deskriptive Resonanz“ unter der Bedingung einer künstlich angenommenen Exterritorialität (das „Stück Natur“ der naturalistischen Erzähltheorie, Musils optisch entrückter und isolierter „Wirklichkeitsausschnitt“)? Nach Deleuze wären dies „Virtualisierungsstrategie[n], die auf eine ästhetisch suggestive Wirkung angelegt sind. Verfahrenstechnisch lässt sich rasch ein

20 Helmut Heißenbüttel: Über Literatur, Olten, Freiburg i. Br. 1966, S. 36-39. 21 So z.B. in der Erzählung Papa Hamlet in den Neuen Gleisen von Arno Holz und Johannes Schlaf (1898). 22 In seiner für die Romanpoetik signifikanten naturwissenschaftlichen Schrift Unser Dasein entwickelt Alfred Döblin den Begriff der „Resonanz“ und der „Resonanzerscheinungen“ als Indikator für den Strukturzusammenhang der Dinge, insbesondere der „imaginären Dinge“. Allein schon deren Benennen schafft einen Resonanzraum der Bedeutungen (Unser Dasein, München 1988, S. 168170). In Gérard Genettes Erzähltheorie ist von einer „résonance descriptive“, die Rede (Figures II, Paris 1969, S. 156-158), die Monika Mayr in ihrer umfangreichen Studie Ut pictura descriptio? (Tübingen 2001) als eigenständigen Strukturbegriff der Beschreibung auffasst und ausführt.

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Symptomkatalog der literarischen Textur der Beschreibung erstellen: Strukturell betont die Beschreibung das Stetige, das Ordnende, Räumliche und nicht das Zeitliche: Zuständlichkeit und nicht Progress. Sie ist rückgängig im Sinne des Futur II: ‚Es wird gewesen sein‘. Die Beschreibung verfolgt das Prinzip der Serie, der Liste, der metonymischen Juxtaposition: „une structure purement sommatoire“ wie Roland Barthes sagt.23 Dabei ist sie keineswegs gestaltlos, vielmehr bildet sie ihr eigenes System aus: sprachlich durch ein Gewebe syntaktisch-paradigmatischer Bezüge, erzähltechnisch durch die Digression und Variation der beobachteten Phänomene. Ihr „synchronic apparatus“ schafft Simultaneität.24 Die Beschreibung verfährt additiv und iterativ im Sinne der variierenden Wiederaufnahme des schon Gesagten oder Gemeinten. Auf Veräußerlichung und „Entäußerung“ (Alfred Döblin), auf eine Oberflächentextur, ist ihre formgebende Kraft ausgerichtet. Erstellt werden Kristallisationen und Konfigurationen des Faktischen und des an der Textoberfläche sich Zeigenden anstelle narrativer Evolutionen, Konklusionen und Kausalitäten. Ihr Gestus ist der des Vorzeigens, des monstrare. Das Symbolische wird zurückgenommen auf sein „physiognomisches Gesicht“, so Musil; menschliches Begehren wird dem Dinghaften eingeschrieben, so Foucault. Das Gegenständliche, das auf diese Weise akkurat konfiguriert wird, gibt, so Benjamin, den „Blick des Schauenden zurück“,25 womit mehr gemeint ist als die phänomenologisch zu definierende „Wahrnehmung“. Vorgezeigt und sichtbar gemacht werden soll, Wort für Wort, und Satzteil für Satzteil, zumeist fragmentiert, das Gestische und Mimische. Die Beschreibung haftet am Körper. Der Eindruck von Unmittelbarkeit und Konkretion, den das beschreibende Verfahren sprachlich evoziert – die verbal, optisch und akustisch erzeugte sinnliche Präsenz – ist allemal Abstraktion, vermittelt, transferiert, verbal, optisch, akustisch. Ihre Kunstfertigkeit basiert auf der Beobachtung und der Beobachtung der Beobachtung, deren variabler Positionierung von Nähe und Distanz. Das beschreibende Verfahren, wie schon gesagt, schneidet aus; es isoliert und partikularisiert die Gegenstände, die es aufruft und korreliert. Und hierauf vor allem beruht die de-

23 Roland Barthes: „L’effet du réel“, in: Communications 11(1968), S. 84-90. 24 Philippe Hamon: Introduction à l’analyse du desriptif, Paris 1981, S. 28. 25 Walter Benjamin: „Gottfried Keller“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.1 Frankfurt a. M. 1980, S. 283-295, hier: S. 290.

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skriptive Resonanz, mit der die gewohnten Zusammenhänge aufgelöst und die wirklichen entdeckt werden, wie Musil in seinem Aufsatz „Triëdere“ schrieb. Wenn die Beschreibung, eingelagert in das zeitliche Kontinuum der Erzählung, die Zuständlichkeit betont, so produziert sie im Hier und Jetzt die momentane „Dichte einer Dauer“, wie Roland Barthes dies nannte26: ein vom Sinnverstehen des Realismus nicht verstelltes Evidenzerlebnis, die Evokation einer Präsenz in der Repräsentation. Gegen eine Erzählweise, die ihren Realismus aus einem Konstrukt von Kausalität und Finalität und aus der Wahrscheinlichkeit von Handlung und Charakter bezieht – man könnte von den drei „M“ des Realismus sprechen: Milieu, Meinung und Moral – schafft die Beschreibung den Resonanzraum des Deskriptiven, in dem das Operieren mit optischen Effekten, mit Laut- und Schriftzeichen dominiert: durch das Erkunden dieser „Daten in Beziehung zueinander“, wie Wittgenstein dies genannt hat.27 Das Beschreibungsmuster wird durch eine exzessive Versprachlichung erstellt. Die Beschreibung als momentane Unterbrechung der Erzählung von causa, conditio und consecutio erzeugt – so die Wunschvorstellung – jenes „Aufblitzen“ der Dinge, die augenblickliche Entartung zu etwas „Wahnsinnsähnlichem“, wovon Musil wie auch Foucault gesprochen haben. Das Reale sollte sich, so der von mir verfolgte Einfall der écriture, im Exzess des Schreibens als reine Beschreibung mitteilen oder geradezu offenbaren. Es sei dahin gestellt, ob die Rückführung der systematisch zu ermittelnden deskriptiven Techniken auf eine derart wirkende „deskriptive Resonanz“ in dieser Konsequenz schlüssig ist. Schauen wir uns einige literarische Texte genauer an, die von sich behaupten, dass sie „nur“ beschreiben und nicht erzählen wollen, so lassen sich derartige Evokationen eines „Anderen“ und „Realen“ in ihrer exzessiven Schreibweise ansatzweise beobachten. In der literarischen Moderne der Nachkriegszeit der 1950er und 60er Jahre zeigt sich diese Tendenz des Schreibens am deutlichsten in der französischen Literatur, im nouveau roman eines Robbe-Grillet und bei Claude Simon mit seinen unterkühlten Beschreibungsorgien, theoretisch reflektiert im Werk von Jean Ricardou.28 Literarhistorisch kann man hierzu

26 Barthes: „Leffet du réel“, S. 87. 27 Notizen zu James George Frazers „The Golden Bough“, in: Thomas Macho (Hrsg.): Wittgenstein, München 1996, S. 412-427. 28 Jean Ricardou: Le nouveau roman, Paris 1978.

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feststellen, dass die in Frankreich zu beobachtende Radikalisierung der écriture motiviert ist vom ästhetischen Widerstand gegen die der Literatur in der Kriegs- und Nachkriegszeit zugemuteten Ideologisierungen (Faschismus, Kommunismus, Existentialismus), was auch in Roland Barthes’ Kritik der „Bedeutungskritik“ Anfang der 1960er Jahre anklingt.29 Claude Simon setzte in seinem Roman La Route des Flandres (1960) die obsessiven, geradezu militanten Sprachexerzitien seiner Beschreibungsprosa gegen die ideologisch überformten, vermeintlich realistischen Kriegserzählungen, die den literarischen Markt beherrschten. Ähnliches gilt für die postavantgardistische deutsche Nachkriegsliteratur der Koeppen, Andersch, Peter Weiss und Arno Schmidt, die entschlossen waren, anders als der rheinische oder ostpreußische Realismus eines Heinrich Böll oder Siegfried Lenz, die Nachkriegsrealität im literarischen Experiment auf die Probe zu stellen. Allerdings nicht mit der Konsequenz und schon gar nicht mit der programmatischen Manifestation wie bei den Autoren des nouveau roman in Frankreich. Arno Schmidt, der manische Wortkünstler aus der Lüneburger Heide, Lichtjahre entfernt von den Pariser Großschriftstellern, bezieht seine poetologischen Grundüberzeugungen aus der realistischen Literatur des ausgehenden 18. und 19. Jhs., aber nur, um – wie bei Adalbert Stifter, seinem nächsten Schreibverwandten – das realistische Geschichtenerzählen hinter die wortkünstlerische Beschreibung – „der Taten sind genug gewixelt, laßt uns nun endlich Worte sehn“ – zurück zu setzen. Schmidt notiert, „daß die ‚Fabel‘ einer Dichtung nur dem landläufigen Begriff nach aus Aktion bestehen müsse […], daß es aber eben durchaus auch eine zweite, andere Richtung gibt, bei der die Fabel nicht aus Taten und Handlungen, sondern aus Zuständen und Denkweisen besteht.“30 Unter dem Eindruck der Katastrophen von Krieg und Vertreibung spricht er von der „aussterbenden Erzählung“. In seinen 1955/56 in Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen erschienenen „Berechnungen I und II“ wirbt er für eine andere Kunstform der Prosa, die mit einer „Perlenschnur von Miniaturen“ und mit im

29 Roland Barthes: „Die beiden Kritiken“, in: ders.: Literatur oder Geschichte, Frankfurt a. M. 1969, S. 54-61. 30 Arno Schmidt: „Nichts ist mir zu klein“, in: ders.: Die Ritter vom Geiste. Karlsruhe 1965, S. 56-89, hier: S. 58.

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Raum verteilten „Kristallgittern aus Sprache“ die „poröse Struktur des Daseins“ aufzeichnen soll: „Nein, das Verfahren des echten Realisten ergibt sich ihm aus der Erkenntnis, dass ‚in Wirklichkeit‘ viel weniger ‚geschieht‘ als die katastrophenfreundlichen Dramatiker uns weismachen wollen […] Für den [echten] Realisten liegt das Irrationale dieser Welt nicht in der tödlich mythischen Wesensart der Dinge; sondern in ihrer großen […] Anzahl: also wendet er sich dieser besorgt, aber entschlossen zu; zu jeder Art von Beschreibung und Bewältigung bereit.“

31

Die von Schmidt zu diesem Zweck literarisch prozessierten Datensammlungen und „Berechnungen“ qua Beschreibung erinnern an das von Alain Robbe-Grillet beschworene „Delirium an Genauigkeit“32: unter der Bedingung, dass der pseudorealistischen Erzählung die sinngebende Bedeutung der Zeitlichkeit entzogen wird: „Legt nicht aus: lernt und beschreibt. Zukunftet nicht: seid.“33 Was sollte dann Gegenstand der Beschreibung sein? Z.B., so sagt es Schmidts gedrechselte und aufgehäufte Wortreihung: dieser „Sommersee, dieser Dunstpriel, buntkarrierte Schatten, der Wespenstich im Unterarm, die bedruckte Mirabellentüte, Drüben der lang hechtende Mädchenbauch, wieder schnappte es zärtlich, und eine Florfliege verschwand darin: Fischel!: Zobelpleinzen, Jense, Gieben, Halbbrachsen, Alat, Witing, Sandeberle, Klips, Tabarre […].“34 In die auf ein Minimum skelettierte Handlung häuft Schmidt, summarisch und kumulativ zugleich, eine Vielzahl von isolierten Details: ein Verfahren, das sich steigern kann zur bloßen Addition von Nomina und Namen. In seinen Kriegs- und Nachkriegsgeschichten errichtet er durch sein oft haarspalterisches Aufsplittern des vorfindlichen Sprachmaterials topographische und geometrische Beschreibungsmuster. Diese sind rational kalkuliert, erzeugen aber durch die in Gang gesetzte exzessive Versprachlichung immer neue und andere Effekte des „Irrealen“, wie Schmidt dies nennt, die ans nicht Sichtbare und Unbewusste rühren.

31 Ebd., S. 57, 66. 32 Alain Robbe-Grillet: Arguments für einen neuen Roman, München 1965, S. 98. 33 Arno Schmidt: Das erzählerische Werk. Bd. 2, Zürich 1985, S. 101. 34 Ebd., S. 201f.

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Nur so, jenseits der verschlissenen Symbolsprache, ließe sich die „echte“ Realität treffen. Eine „Orgie an Komposition“ hat Alfred Andersch 1974 seinen Roman Winterspelt aus der Endzeit des Zweiten Weltkriegs genannt, dessen Handlung sich um eine Bildbeschreibung von Paul Klees aus dem Frankfurter Städel Museum geborgenes Gemälde Polyphon umgrenztes Weiß entfaltet. Schon 1948 hatte Andersch heftig gegen die „Realität des Symbolismus“ polemisiert, dieses „Propagandaministerium“ 35, wie er schreibt, und stattdessen einen „reinen und revolutionären Realismus“ gefordert, der den ideologisch unbrauchbar gewordenen „sozialen und metaphysischen Determinismus“ durchschlägt. In seiner aus dieser Zeit stammenden Notizensammlung unter dem Titel „Der Anti-Symbolist“ propagiert er unter Berufung auf die Vorläufer der Avantgarde (die deutsche Romantik, Baudelaire, Rimbaud) die „herrliche Anrufung des Realismus“ im Atelier Picassos, auf der Schreibmaschine Hemingways, mit der Bratsche Hindemiths. In deren Kunstpraxis sieht er eine Bürgschaft für die ästhetische Opposition gegen das ideologisch verbrauchte Kulturgut, die in der künstlerischen Grenzüberschreitung des Politischen zum Ausdruck kommt und einen „magischen Realismus“ in Szene setzt, von dem in der deutschen Nachkriegsliteratur so oft die Rede war.36 Für die hier zu beobachtende Militanz der ästhetischen Grenzüberschreitung der Wirklichkeit bürgt ihm kein anderer als Ernst Jünger, der Autor des Abenteuerlichen Herzens und der Blätter und Steine, der einzige deutsche Surrealist, wie Karl Heinz Bohrer in seiner Ästhetik des Schreckens behauptet hat.37 Noch in dem 1978 für den S. Fischer Verlag zusammengestellten Band Mein Lesebuch ist Ernst Jünger die Leitfigur für seinen Entwurf einer Poetik der Beschreibung – den extremen Nominalismus der „genauen Deskriptionen“ von Dingen, Menschen und auch technischen Einrichtungen –, deren Ahnenreihe von Linné, Alexander von Humboldt und Stifters Studien über Paul Valéry und Walter Benjamin bis zu Alexander Kluges Schlacht-

35 Alfred Andersch: „Der Anti-Symbolist“, in: Frankfurter Hefte 2 (1948), hier: S. 1145. Hier auch die folgenden Zitate. 36 Andersch selbst verwendet den u.a. auf Ernst Jünger zurückgehenden Begriff nicht. Die Kritik belegt Werke von Wolfgang Borchert, Günter Eich, Ernst Kreuder oder Wolfdietrich Schnurre (Das Begräbnis) damit. 37 Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens, München 1978, S. 390ff.

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beschreibung und Enzensbergers Gedicht Leuchtfeuer reicht, das er als exemplarisch für die beschreibende Literatur zitiert: „das feuer dort leuchtet ist nichts als ein feuer, bedeutet: dort ist ein feuer, dort ist der ort, wo das feuer ist, dort, wo das feuer ist, ist der ort.“38

In Enzensbergers Gedicht begegnen wir der Beschreibung in ihrer minimalistischen Form. Der Verzicht auf bedeutungsträchtige Metaphern, die demonstrativ herausgestellte Tautologie (der Ort ist der Ort) und die Rhetorik der Iteration, die das Faktische einkreist, reduziert ex negativo – wie übrigens auch in Ingeborg Bachmanns Absage an den lyrischen Symbolismus Ende der 1960er Jahre39 – das poetische und rhetorische Potential der Beschreibung auf ein Minimum. Jüngers „konklusionsfreier Stil“, das „Zeichenlesen“ von archaischen Wänden und technischen Apparaturen, ebenso sein mikroskopischer Blick, das wissenschaftlich-technische Expertentum und die im minimalistischen Stenogramm erzeugte Distanz und Kälte sind für Andersch Garanten einer extrem künstlichen Schreibweise, die, wie er zu Alexander Kluges Beschreibungsprosa notiert, „jeden moralischen Satz in seinem Text erbarmungslos austilgt“.40 Mit diesem extremen und exzessiven Reduktionismus sollen die Dinge als Dinge zur Sprache gebracht werden, bevor sie im Kontext der Erzählung mit Bedeutungen belegt werden. Es geht auch hier um das Phantasma, das Gilles Deleuze, wie eingangs angeführt, der Beschreibung an der Oberfläche zuschreibt: „zum Morgen der Sprache und der Dinge“ zurückzugehen, den Riss in der Welt zu entdecken. Die hier manifeste ursprüngliche Sprengkraft der Sprache werde, so wiederum Andersch, in

38 Alfred Andersch: Mein Lesebuch, Frankfurt a. M. 1978, S. 205 39 Bachmanns Selbstkritik im Gedicht und seiner Metaphernsprache („Keine Delikatessen“), Texte, die sie H.M. Enzensberger für sein berühmt gewordenes Kursbuch zum „Tod der Literatur“ überließ. (Ingeborg Bachmann: Werke, Bd.1, München 1993, S. 172f.) 40 Andersch: Mein Lesebuch, S. 15.

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der nachfolgenden symbolischen Ordnung der Sprache nur noch kommentiert und erklärt: im sog. „Realismus“ verstellt oder verklärt. Andersch hat sich selber in seinen literarischen Versuchen der frühen Nachkriegszeit um Schreibexperimente bemüht, in denen das deskriptive Verfahren als ästhetisches Mittel gegen den symbolträchtigen und moralisierenden Realismus des Erzählens aufgebracht wird. In seinem als autobiographisch behaupteten Bericht Die Kirschen der Freiheit von 1952 wird nicht der Krieg und Luftkrieg abgehandelt, stattdessen wird z.B. die operative Einstellung und Wahrnehmung des Flugzeugingenieurs Dick Barnett genau beschrieben, der „völlig unbewusst“ und wie zum ersten Mal in die Lage versetzt wird, das Rot eines Benzinkanisters oder die Linie des Halsansatzes einer Frau „wirklich“ zu sehen… 41 Dass die Beschreibung in der Literatur der Moderne keineswegs nur das Maßvolle und Schöne (wie in den Blasons, den Prunkstücken der ekphrasis in der französischen Literatur des 15. und 16. Jhs.) treffen will, sondern sich sogar vorzugsweise an das Grauen und das Entsetzliche der Wirklichkeit heran schreibt, hat Peter Weiss sowohl in seinen von der Malerei hergeleiteten literarischen Anfängen, in seiner Experimentalprosa Ende der 1950er Jahre, wie auch noch in seinem politisch überzeugten opus magnum, der Ästhetik des Widerstands, geltend gemacht. Die Erzählungen, mit denen Weiss die in der Gruppe 47 versammelten Literaten und Kritiker 1962 zu Beifallsstürmen hinriss – Das Gespräch der drei Gehenden und Der Schatten des Körpers des Kutschers – sind reine Beschreibungstexte, in denen Weiss seine visuellen Experimente zu verschriftlichen versucht: „in die Netzhaut eingeätzte“ Abbilder eines Raumes42 und der darin verteilten Figuren, „ein schwer überblickbares Muster in der Verkettung der Bewegungen und Laute“.43 Man kann die Weiss’schen Texte querlesen und wird immer wieder auf diese Sehexperimente als Schreibexperiment stoßen, in denen ein beschreibendes Verfahren exekutiert wird, das auf pure Faktizität und Dinglichkeit dringt, die auf der Oberfläche des sprachlich Vorgezeigten sich abzeichnet. Z.B. in der folgenden Textmontage, die ich im Zitat selber vorgenommen habe:

41 Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit, Zürich 1971, S. 87. 42 Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Frankfurt a. M. 1971, S. 18. 43 Ebd., S. 30.

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„Im mehr und mehr verblassenden Licht sah sie ein Wirrwarr dünner, hellblauer Linien wie Kerben in den Körperoberflächen, manche Linien schnitten tief ein und zerschlitzten die Haut in große Fetzen. Eine schwarze teerartige Masse sickerte aus dem aufgebrochenen Fleisch hervor. Da war etwas Tosendes in diesem Bild […] Man kann hören, wie die Haut um ihre Körper flattert […] und mitten in diesem Ringkampf auf Leben und Tod […] eine Hand aus dem rauen Grund gestreckt, zum Griff bereit, über leere Flächen hin mit der Schulter verbunden, ein geschundenes Gesicht, mit klaffenden Rissen, weit geöffnetem Mund, leer starrenden Augen […] In den zerfließenden Konturen sah sie noch immer in die Körpermassen, die sich schwer umeinander wälzten […] Bildflächen zerbrechen, Linien werden knirschend verschoben, violette und schwarze Flächen wirbeln umeinander, die Gewalt reißt sie mit sich, polternd, rutschend […].“ 44

Die Weiss-Kenner werden bemerken, dass ich hier einige Zeilen aus dem 1956 auf schwedisch geschriebenem Roman Die Situation mit einer Textpassage aus der Beschreibung des Pergamonfrieses zu Beginn der Ästhetik des Widerstands von 1975 ineinander zitiert habe. Der Kampf der Geschlechter und der mythologische Kampf der Giganten gegen die olympischen Götter ist in ein und dieselbe Beschreibungsprosa gefasst, die in einer Bildbeschreibung ihren Ausgang nimmt und sich dann schrittweise fortschreibt und verselbstständigt, sodass man nicht mehr weiß, wo das Beschriebene in den reinen Akt der Beschreibung übergeht. Bemerkenswert ist, wie im Verlauf des Verfahrens, in der Dynamik der Bewegung, die sozusagen deskriptiv festgesetzt wird, ein metonymisches Statteinander sich durchsetzt (und keine symbolträchtige Metapher). Ein sprachliches Maximum an Vergegenständlichung und Versinnlichung wird deskriptiv erzeugt, dies aber nicht im Sinne einer „mahlenden Poesie“ des Bebilderns, sondern in der strengen Ordnung der semantischen und syntaktischen Bestandsaufnahme jeder einzelnen Gebärde. Das deiktische Vorzeigen und Aufzeigen eines Geschehens wird unter diesen Bedingungen fortund fortgeschrieben, um eines aufzuweisen: die Ekstase des Kampfes auf engstem Raum, erotisch und kriegerisch. Es ist dies Peter Weiss’ eigentüm-

44 Peter Weiss: Die Situation, Frankfurt a. M. 2000, S. 14. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, S. 7-8.

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liche Methode (in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon)45, die Zeichen von Malerei und Poesie aufeinander zu beziehen und zu übertragen, um in der Dichte der Zeichensprache von Gewalt und Schrecken zu einer unabweisbaren Evidenz des Realen vorzustoßen. Die Szenen exzessiver Gewalt werden nicht mimetisch verarbeitet, sondern in der exzessiven Versprachlichung des Textes selber erzeugt: im Akt der Beschreibung, die aufs Elementare und Unvorgreifliche zielt, das weder die persönliche noch die politische Geschichte darzustellen vermag. Und so ist es nicht verwunderlich, dass deskriptive Szenarien dieser Art immer wieder auch Peter Weiss’ politisch engagierte Dramen und Erzählwerke unterbrechen, um, wie ich es sehe, das letztlich Unbeschreibliche des Schreckens beschreibend in die historische Darstellung einzubringen. Ein Höchstmaß an sprachlicher Intensität soll erzeugt werden, ein Reales, an das die moralisch und politisch motivierte Erzählung nicht heranreicht. Man denke in diesem Zusammenhang an die grauenhafte, geradezu exhibitionistische Beschreibung der Hinrichtung der Widerstandskämpfer der Roten Kapelle in Berlin Plötzensee am 22.12.1942 in der Ästhetik des Wider46 stands. Oder auch an Meine Ortschaft, Peter Weiss’ Bericht von seinem Besuch in Auschwitz, in dem er das beschreibende Verfahren rigoros einsetzt, um das Abwesende, den Massenmord, zu evozieren, die nunmehr musealen Hinterlassenschaften des Grauens. Die extreme und gewaltsame Reduzierung des beschreibenden Verfahrens auf das wenige, was sichtbar ist, sucht eine Entsprechung zu der unvorstellbaren Gewalt, der Menschen an diesem Ort ausgesetzt waren. Daher am Ende der deskriptiven Bestandsaufnahme das Bekenntnis des Autors zu einem Totengedenken, das jeden Gedanken an die erzählerische Verlebendigung des abgetöteten Lebens verwirft, das in vielen KZ-Geschichten versucht wurde: „Ich blicke in diese Räumlichkeiten, denen ich selbst entgangen bin, stehe still zwischen den fossilen Mauern, höre keine Stiefelschritte, keine Kommandorufe, kein Stöhnen und Wimmern. Hier an diesem schmalen Vorraum befinden sich die Stehzellen. Da ist die Luke am Boden, einen halben Meter hoch und breit, dahinter noch

45 Peter Weiss: „Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“, in: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1981, S. 170-187. 46 Weiss: Die Ästhetik des Widerstands.

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Eisenstäbe, da krochen sie hinein, und standen dort zu viert, in einem Schacht von neunzig zu neunzig Zentimetern. [… ] Sie starben im Stehen, mussten morgens unten herausgekratzt werden.“47

Peter Weiss’ unbedingte Aufzeichnung der „Ortschaft“ Auschwitz, die eine Verlebendigung und Sinngebung im Erzählen verweigert, lässt an Jean Amérys Bericht über seine Folter durch die SS im belgischen Gestapolager Breendonk denken. „Die Folter ist die Folter“, schreibt Améry. „Der Schmerz war der, der er war“; „darüber hinaus ist nichts zu sagen.“48 Wird „das Weltvertrauen“ aus dem Leib des Gefolterten geprügelt, wie Améry schreibt, dann ist diese absolute Reduktion der literarischen Repräsentation konsequent; dann blockiert die Tautologie die metaphorische Symbolsprache und jede nur denkbare Fiktionalisierung: die womöglich illustrative und sinngebende Erzählung seines Schicksals. Aber auch die Beschreibung, die wir zuvor als extrem wortreich kennengelernt haben, kommt hier an ihre Grenze, die des Verstummens. Die Tautologie entzaubert nicht nur die Erzählung, sondern auch das sprachliche Phantasma der Beschreibung. In neuerer Zeit hat W.G. Sebald, der die Texte von Weiss und Améry sehr genau kannte, diese Spur aufgenommen. Sebalds Erinnerungsprosa ist Erzählung, orientiert sich aber mit ihrem Interesse am Material, am Archivarischen und der Kartographie von Landschaften und Örtlichkeiten an einer Beschreibungspoetik, wie ich sie hier mehrfach zu rekonstruieren versucht habe. Und auch er beruft sich auf Adalbert Stifter als Vorläufer einer in der Moderne so auffällig hervortretenden Literatur der Beschreibung. „Mir geht es um die Partikularität des Beschriebenen“, sagt Sebald,49 um die Dinglichkeit der Dinge, die jeweils Anlass werden für ein mehr oder weniger provisorisches Erzählen. Und er bewundert in Stifters Studien die ebenso faktischen wie phantastischen und darin obsessiven Exerzitien des Beschreibens: die unbedingte Zuwendung an „diese beschriebenen Dinge, die aus der kompakten Monotonie der Erzählungen Stifters herausragen.“50 Wie Peter Weiss nach dem Besuch von Auschwitz, seiner „Ortschaft“, so

47 Weiss: Rapporte, S. 120. 48 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, München 1988, S. 50. 49 Franz Loquai (Hrsg.): W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 135. 50 W. G. Sebald: Die Beschreibung des Unglücks, Frankfurt a. M. 1994, S. 19.

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verfährt Sebald nach seinem Besuch der Festungsanlage Breendonk, auf der Jean Améry auf der Flucht vor der Gestapo gefoltert wurde: „Das Bild einer sternförmigen Bastion mit hoch über einem exakten geometrischen Grundriß aufragenden Mauern.“51 Mit dem literarischen Verfahren der Beschreibung ermittelt er am Anfang von Austerlitz, seiner Rekonstruktion einer Lebensgeschichte von Verfolgung und Exil, den topographischen Grundriss dieses Schreckensortes, an dem die „Schmerzensspuren“ ablesbar sind, nicht mehr und nicht weniger. Hier wie an anderen Orten, Prag und Berlin und den Orten des Exils in den Ringen des Saturn und Austerlitz setzt Sebald noch einmal alle literarischen Techniken der Beschreibung ein, um aus den Hinterlassenschaften eines vergangenen, abgetöteten Lebens dessen unwirklich gewordene Wirklichkeit als „Nachbild“ zu evozieren. Nachbild oder Trugbild? Das ist realiter nicht zu entscheiden. Und deshalb zitiert Sebald hierzu seinen Freund aus dem englischen Exil, Michael Hamburger, der als Jude aus seinem Heimatort Berlin, Lietzenburgerstraße, vertrieben wurde. Die exzessiv aufgeführten Daten und Fragmente, die Sebald Hamburger zunächst nachschreibt – mit der Beschreibungsmanie der Synchronisierung und Verdichtung der Zeichen – erzeugen auf engstem Raum ein filigranes Gliederwerk der Versprachlichung: „Die Mähne eines preußischen Löwen, ein preußisches Kinderfräulein, Karyatiden, die den Erdball auf ihren Schultern trugen, die mysteriösen, von der Lietzenburgerstraße in die Wohnung heraufdringenden Verkehrsgeräusche und Autohupen, das Knistern des Zentralheizungsrohrs hinter der Tapete in der dunklen Ecke, […] der ekelhafte Seifenlaugengeruch in der Wäscherei, ein Murmelspiel in einer Grünanlage in Charlottenburg […] sind das nicht nur Phantasmen gewesen, Trugbilder, die sich aufgelöst haben in leere Luft […].“52

Die Beschreibung des Heimatortes endet auch hier extrem reduktionistisch: in einer halluzinatorischen Vorstellung des zerstörten Berlin, in der die einstige Kinderschrift auf der Schultafel erscheint: „Schaue ich heute“, so fährt Sebald mit Hamburger fort, „zurück auf Berlin, dann sehe ich bloß einen

51 W. G. Sebald: Austerlitz, München 2001, S. 29. 52 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a. M. 1997, S. 211f.

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schwarzblauen Hintergrund und darauf einen grauen Fleck. Eine Griffelzeichnung, undeutliche Ziffern und Buchstaben, ein scharfes Eß, ein Zet, ein Vogelvau, mit dem Tafellappen verschmiert und ausgelöscht.“53 „Die Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur“, schrieb Roland Barthes 1953. „Man muß die Dinge über eine unsichtbare Grenze hinweg studieren“, da das darstellerisch „Unmögliche“ keine Ruhe gibt, schreibt Sebald in Austerlitz 2001.54 Gegen einen zumeist weltanschaulich präformierten Realismus, der angesichts der historischen Katastrophen in der Darstellung nach Bewältigung und Vergewisserung sucht, nimmt eine moderne Beschreibungsliteratur, wie Sebald und die anderen hier besprochenen Autoren der deutschen Nachkriegszeit sie praktizieren, die Verunsicherung an. An den Bruchstellen der darstellbaren Realität, wo die Erzählung halt macht, setzen sie auf ein wie immer rudimentäres Textverfahren der Beschreibung, um in den „Dingen selbst“ das Reale zur Sprache zu bringen: eine äußerste Kunstanstrengung, die darauf setzt, dass schon an der Oberfläche der sichtbaren Erscheinungen und nicht erst in der Tiefe des Sinns das Unsichtbare und Unsagbare sich zeigt. Eine halluzinatorische Vorstellung, von der schon Musil spricht: Ein Zeichen im Raum, das, genau beobachtet, offenbart, wie das Beobachtete „wahnsinnig entartet“, um seinen wahren Charakter zu zeigen. Das grenzenlose Studieren der Dinge offenbart, wie auch Sebald uns wissen lässt, den halluzinatorischen Charakter eines anderen Zustands: den eines unbegreiflich Fremden und zugleich Realen, das sich in der exzessiven Beschreibung zeigt. Im Resonanzraum der Beschreibung, den Sebald mit dem Wartesaal des Londoner Bahnhofs als Fluchtpunkt der Verfolgten und Exilierten entwirft, könnte sich dem empfänglichen Leser unvermittelt das Reale dieser Realität zeigen: „[…] Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überqueren und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, sagte Austerlitz, die einen Ausweg suchten aus diesem Verlies, und je länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrschein-

53 Ebd. 54 Sebald: Austerlitz, S. 60.

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lichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derartigen falschen Universum möglich war, in sich selber zurück.“55

55 Sebald: Austerlitz, S. 194f.

Die Schonung der Realität Anmerkungen zu Bazins Neorealismus

J ÖRN G LASENAPP „So spricht man von der Sprache der Blumen. Aber wenn nach allgemeiner Übereinkunft weiße Rosen für mich ‚Treue bedeuten, so habe ich ja aufgehört, sie als Rosen zu sehen: mein Blick dringt durch sie hindurch und meint jenseits von ihnen jene abstrakte Tugend; ich vergesse sie, ich achte nicht auf ihre samtige Schwellung, auf ihren süßlich modrigen Geruch; ich habe sie nicht einmal wahrgenommen. Das heißt, daß ich mich nicht als Künstler verhalten habe.“1 Jean-Paul Sartre

E INLEITUNG Beginnen wir mit einer Behauptung, die man schwerlich als gewagt wird bezeichnen können: Keine filmische Strömung, also weder beispielsweise der Expressionismus Weimars oder das russische Montagekino noch die Nouvelle Vague, hat die Filmtheorie in auch nur annähernd vergleichbarer Weise zur Reflexion animiert wie der italienische Neorealismus. Insbeson-

1

Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur?, Reinbek 1981 (11948), S. 13-14.

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dere André Bazin, Siegfried Kracauer und Gilles Deleuze, d.h. die drei sehr wahrscheinlich wichtigsten Theoretiker des Films, haben sich an ihm abgearbeitet, und dies mit einer Begeisterung für den Gegenstand, die wir bei ihnen nicht nur zwischen den Zeilen lesen können. Bemerkenswert ist nun, dass sie alle, wenn auch freilich auf unterschiedlichen Wegen, zu folgendem Schluss gelangen: Im Neorealismus kommt der Film gleichsam zu sich selbst, zeigt er das, was ihn ausmacht, in seiner reinsten Form, spielt er seine Potenziale am überzeugendsten aus. Das wiederum hat, da alle drei Denker am ontologischen Status des Films, der Frage also, was genau er ist bzw. worin sein ‚Wesen‘ besteht, größtes Interesse zeigen, implizit zur Konsequenz, dass die Auseinandersetzung mit dem Neorealismus auf ziemlich geradem Weg zum argumentativen Kern des jeweiligen Theorieansatzes führt – ein Umstand, der augenfälliger noch als bei Kracauer und Deleuze ohne Zweifel bei Bazin auszumachen ist, der keineswegs übertreibt, wenn er in seinem „Plädoyer für Rossellini“ (1955) behauptet, er habe dem Neorealismus seit dessen Aufkommen „unermüdlich den besten Teil [s]einer kritischen Aufmerksamkeit 2 [gewidmet].“ Entsprechend lässt sich getrost sagen, dass, wer immer sich mit dem filmtheoretischen Denken des Franzosen vertraut machen möchte, gut daran tut, sich auch und vor allem dessen Untersuchungen zum bzw. Engagement für den Neorealismus zu widmen,3 das, absolut konkurrenzlos in seiner Wirkmächtigkeit, den filmwissenschaftlichen Blick auf letzteren (nicht zuletzt durch die Vermittlung durch Deleuze) nach wie vor bestimmt – und zwar in derart hohem Maße, dass man auch die folgende Behauptung nur mit Mühe als steil oder gar überzogen wird charakterisieren können: Der Neorealismus der internationalen Filmwissenschaft bzw. -theorie ist nach wie vor zu großen Teilen Bazins Neorealismus. 4

2

André Bazin: „Plädoyer für Rossellini: Brief an Guido Aristarco, Chefredakteur von ‚Cinema Nuovo‘“ (1955), in: ders.: Was ist Film?, Berlin 2004 (11975), S. 391-402, hier: S. 391.

3

Vgl. hierzu auch Alessia Ricciardi: „The Italian Redemption of Cinema: Neorealism from Bazin to Godard“, in: Romanic Review, Jg. 97 (2006), H. 3-4, S. 483-500, hier: S. 488.

4

Ganz in diesem Sinne heißt es bei Daniel Illger: „Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Zuschreibungen an den italienischen Neorealismus, so kommt man kaum umhin festzustellen, dass die filmwissenschaftliche Forschung, was

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D ER „R OHSTOFF “

DES

F ILMS

Die Antwort, welche Bazin vielleicht nicht zufällig in seinem wichtigsten Text zum Neorealismus, dem langen Essay „Der filmische Realismus und die italienische Schule der Befreiung“ aus dem Jahre 1948, auf die im – deutschen – Titel seiner berühmten Aufsatzkompilation gestellte Frage Was ist Film? gibt, fällt einigermaßen lapidar aus. Letzterer sei, so lesen wir, „[d]ie realistischste aller Künste“,5 wobei Bazin die Antwort auf die Frage, die diese Antwort sogleich provoziert, nämlich, warum dem Film die Ehre zukommen soll, innerhalb des Ensembles der Künste die Krone des Realismus zu tragen, beim Leser anscheinend voraussetzt. Zumindest enthält er sie ihm vor – möglicherweise weil er sie drei Jahre zuvor hinreichend deutlich gegeben hat, und zwar in seinem programmatisch betitelten Essay „Ontologie des photographischen Bildes“ von 1945, der seit jeher als Kern- und Schlüsseltext innerhalb des Bazinschen Œuvres gehandelt wird. Éric Rohmer etwa nannte ihn dessen „Grundstein“,6 und dies mit gutem Recht. Schließlich stellt der Kritiker in dem Artikel gleichsam das ontologische Fundament bzw. die ontologischen Prämissen seiner Theorie des Films vor, und er tut dies in durchaus naheliegender Weise, indem er vor allen Dingen dessen, wie es an anderer Stelle heißt, „Rohstoff“7 in Augenschein nimmt: die Fotografie. Bekanntlich begreift Bazin das Auftreten derselben als Einschnitt in der Geschichte der visuellen Verfahren, der gravierender nicht sein könnte. Denn erst sie – als ein seinem Wesen nach objektives, da automatisch und

dies betrifft, seit André Bazin nur wenig vorangekommen ist.“ (Daniel Illger: Heim-Suchungen: Stadt und Geschichtlichkeit im italienischen Nachkriegskino, Berlin 2009, S. 176). 5

André Bazin: „Der filmische Realismus und die italienische Schule nach der Be-

6

Zitiert nach Dudley Andrew: „Bazin Phase 2: Die unreine Existenz des Kinos“,

freiung“ (1948), in: ders.: Was ist Film?, S. 295-326, hier: S. 311. in: montage AV, Jg. 18 (2009), H. 1, S. 33-48, hier: S. 34. 7 André Bazin: „Für ein unreines Kino: Plädoyer für die Literaturverfilmung“ (1952), in: ders.: Was ist Film?, S. 110-138, hier: S. 120.

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ohne menschliche Vermittlung entstehendes Bild8 – vermag es, „[u]nseren Hunger nach Illusion“,9 den Bazin zur anthropologischen Konstante erklärt und dessen Ursprünge er in der Praxis des Einbalsamierens ausmacht, zur Gänze zu stillen. Die Ursache hierfür sieht er – und dies ist der entscheidende Punkt seiner Argumentation – ausdrücklich nicht, wie viele vor ihm, in dem durch die Ausschaltung der malenden Hand bzw. künstlerischen Subjektivität gesteigerten mimetischen Potenzials der Fotografie, sondern in der spezifischen, als physisch-chemische Kontaktnahme zu denkenden Beziehung, die sie zu ihrem Referenten unterhält und uns unumstößlich an letzteren ‚glauben‘ lässt. Ebendies meint Bazin, wenn er von der radikalen Erschütterung der „Psychologie des Bildes“10 spricht, welche dessen automatische Entstehung provoziert. „Die Objektivität der Photographie“, so führt er diesbezüglich aus, „verleiht ihr eine Überzeugungsmacht, die allen anderen Bildwerken fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des wiedergegebenen Gegenstands zu glauben, der ja tatsächlich wiedergegeben, d.h. in Raum und Zeit wieder gegenwärtig gemacht wird. Die Photographie profitiert von einer Wirklichkeitsübertragung vom Ding auf seine Reproduktion.“ Und weiter: „Das Bild mag verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es gründet durch die Art seiner Entstehung im Dasein des Modells; es ist das Modell.“11

8

„Alle Künste“, so Bazin, „gründen auf der Anwesenheit des Menschen; nur in der Photographie genießen wir seine Abwesenheit. So wirkt die Photographie auf uns wie ein ‚natürliches‘ Phänomen, wie eine Blume oder eine Schneeflocke, deren Schönheit von ihrem pflanzlichen oder tellurischen Ursprung nicht zu trennen ist.“ (André Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes“ (1945), in: ders.: Was ist Film?, S. 33-42, hier: S. 37).

9

Ebd.: S. 36.

10 Ebd.: S. 37. 11 Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Barbara E. Savedoff, die ganz im Sinne Bazins argumentiert, wenn sie schreibt: „The differences in our reactions to paintings and photographs do not rest on differences in precision, persuasive detail, or compelling composition, although these characteristics can certainly be important. The fundamental difference in our reactions rests instead on our disparate beliefs about the genesis of each image.“ (Barbara E. Savedoff: Trans-

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Fasst man das Gesagte zusammen, so gelangt man zu folgendem Schluss: Das fotografische Bild gilt Bazin weniger als ein artifizielles Zeichen, sondern eher – da es Wirklichkeit im wörtlichen Sinne (in sich) aufnimmt – als eine, wie Vinzenz Hediger treffend schreibt, „Fortsetzung der Realität mit anderen Mitteln.“12 Als eine solche ist sie eine Spur, ein Abdruck oder ein Niederschlag, mit Bezug auf Charles Sanders Peirces berühmte Zeichentrias könnte man auch sagen: ein Index.13 Demnach sollte es uns nicht weiter überraschen, dass der Ontologie-Aufsatz durch Secondo Pias 1898 gemachte Aufnahme des Turiner Grabtuchs illustriert wird, jenes berühmte acheiropoietische, d.h. nicht von Menschenhand gemachte, Kontakt- bzw. Abdruckbildnis, welches angeblich das einzige authentische Abbild Christi trägt.14

forming Images: How Photography Complicates the Picture, Ithaca 2000, S. 110). 12 Vinzenz Hediger: „Das Wunder des Realismus: Transsubstantiation als medientheoretische Kategorie bei André Bazin“, in: montage AV, Jg. 18 (2009), H. 1, S. 75-107, hier: S. 78. Vgl. hierzu auch Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 345. 13 Zur Verortung Bazins innerhalb jenes, wie es scheint, zunehmend prominenter werdenden Diskursstranges, der das fotografische Bild als indexikalisches Spurund Kontaktbild begreift, vgl. insbesondere Philippe Dubois: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam und Dresden 1998 (11983), pass., darüber hinaus aber auch Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009, S. 64-65. 14 Zur acheiropoietischen Bildtradition vgl. Hans Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 233-246, Ewa Kuryluk: Veronica and Her Cloth: History, Symbolism, and Structure of a ‚True‘ Image, Cambridge, Mass. 1991 sowie Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003, S. 25-44. Zu Secondo Pias Aufnahme des Grabtuchs vgl. Hans Belting: Das echte Bild: Bildfragen als Glaubensfragen, München 2006 (12005), S. 63-67.

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Abbildung 1:Darstellung des Turiner Grabtuchs

In: Werner Bulst: Das Grabtuch von Turin. Forschungsberichte und Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1955, Bildteil (Bild 2).

Unmissverständlich wird die Berührungsreliquie als Vorläufer der Fotografie ausgewiesen, deren Spurcharakter, wie Bazin betont, denkbar weitreichende Konsequenzen hat. Nicht zuletzt lässt er die so prominent von Walter Benjamin vorgebrachte These vom auratischen Mangel der Fotografie einigermaßen zweifelhaft anmuten, was in aller Klarheit Gilberto Perez darlegt, dessen ebenso konzise wie ingeniöse Auseinandersetzung mit den fototheoretischen Überlegungen Bazins in den folgenden Ausführungen münden: „A painting gains in value on account of its signature; a photograph gains in credence on account of its lack of a signature. What counts in either case is not so much the picture before our eyes as the unseen agency that brought it into being. As a unique handmade object, the original in painting traditionally possesses what Walter Bejamin called an ‚aura. In photography there is no original image, only copies, and thus, according to Benjamin, no aura. Yet a photographic image has its own kind of aura – the aura of a remnant, of a relic – stemming from the uniqueness, the original particularity, not of the picture but of the referent whose emanation it captures. In

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photography the original is the bit of reality that was there when the shutter was opened.“15

Doch kommen wir zurück zu Bazin: Dass dessen hier in einiger Ausführlichkeit vorgestellte Thesen zur Fotografie uneingeschränkt auch für den Film Gültigkeit beanspruchen dürfen, versteht sich von selbst. Denn auch er ist indexikalisch. Schließlich setzt er remediatisierend auf der Fotografie auf, wobei er insofern über sie hinausgeht, als er ihre spezifischen Qualitäten um die temporale Dimension erweitert.16 Von Bazin mit Blick auf seine Einbalsamierungsbehauptung als „Mumie der Veränderung“17 apostrophiert, vollendet der Film demnach die „photographische Objektivität in der Zeit“18 und wird so zur Spur bzw. zum Abdruck einer Dauer. Hieraus wie-

15 Gilberto Perez: The Material Ghost: Films and Their Medium, Baltimore 2000 (11998), S. 32-33. 16 Zur Remediation vgl. Jay David Bolter und Richard Grusin, die sie als „the formal logic by which new media refashion prior media forms“ (Jay David Bolter und Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media, Cambridge, Mass. 1999, S. 273) definieren. 17 Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes“, S. 39. Vgl. hierzu auch Lorenz Engell: „Teil und Spur der Bewegung: Neue Überlegungen zu Iconizität, Indexikalität und Temporalität des Films“, in: Daniel Sponsel (Hrsg.): Der schöne Schein des Wirklichen: Zur Authentizität im Film, Konstanz 2007, S. 15-40, hier: S. 38. – Angemerkt sei, dass Sergej M. Eisenstein in seinen Bemühungen, das Kino ontologisch zu bestimmen, Bazin sehr nahe steht und wie dieser von dem ausgeht, was der Franzose als „Mumienkomplex“ (Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes“, S. 42) bezeichnet. So erklärt Eisenstein analog zu Bazin, dass „[d]as Foto als craft [...] mit der Mumie [beginnt]“ und der Film eine „dynamische Mumifizierung“ der Wirklichkeit leiste. Vgl. Sergej M. Eisenstein: „‚Allgemeine Geschichte des Kinos‘ – Aufzeichnungen aus dem Nachlass“ (zum Teil undatiert), in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2011), H. 1, S. 145-157, hier: S. 147 und 152. 18 Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes“, S. 39. Bazin argumentiert hier durchaus analog zu Kracauer. Dieser weist in seiner Theorie des Films letzteren nicht nur als „Erweiterung“, sondern als „Erfüllung“ der Fotografie aus, wobei er aus diesem genealogischen Aufeinanderbezogensein das Fortleben des „Wesen[s]“ (Siegfried Kracauer: Theorie des Films: Die Errettung der äußeren

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derum erwachsen für den Regisseur Verpflichtungen, d.h., das ‚Wesen‘ des Films gibt den Gebrauch, der von ihm zu machen ist, vor – nach dem Motto: Dies kann er (wie kein anderes Medium), dies sollte man ihn tun lassen. Ein anything goes verbietet sich folglich.19 So zumindest argumentiert Bazin, der als der neben Kracauer wahrscheinlich entschiedenste Realist unter den Theoretikern des Films dessen Machern vor allem eines abverlangt: Respekt vor der Realität. Wie sich dieser äußern kann oder vielmehr zu äußern hat, stellt eine der höchst prominent behandelten Fragen im Werk des Franzosen dar, dem wir beim Beantworten derselben nun ein wenig über die Schulter schauen wollen.

Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1985 (11960), S. 11, 83 und 53) der Fotografie im Film und damit die grundsätzliche Identität der Affinitäten beider Medien ableitet. Dass man dies auch ganz anders sehen, d.h., den Film als Medium begreifen kann, in dem das ‚Wesen‘ der Fotografie „verkümmert“ bzw. „missbraucht“ wird, beweist prominent Roland Barthes (Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1985 (11980), S. 88 sowie ders.: Die Vorbereitung des Romans: Vorlesung am Collège de France 19781979 und 1979-1980, Frankfurt a. M. 2008 (12003), S. 129). 19 Vgl. hierzu auch David Bordwell: „Bazins Lektionen: Sechs Pfade zu einer Poetik“, in: montage AV, Jg. 18 (2009), H. 1, S. 109-128, hier: S. 110 und Hediger: „Das Wunder des Realismus“, S. 79 sowie Brian Henderson, der Bazins normative Ontologie – und dies selbstverständlich mit Recht – als ahistorisch, darüber hinaus aber auch als trivial und simplifizierend rügt und in ihr folglich nichts anderes als eine argumentative Sackgasse zu erkennen vermag. „Bazin“, so Henderson, „had to go outside of the ontology system if he was to function as a critic at all.“ (Brian Henderson: „The Structure of Bazin’s Thought“, in: Film Quarterly, Jg. 25 (1972), H. 4, S. 18-27, hier: S. 23) – Eine ausgewogene Auseinandersetzung mit und zugleich überzeugende Kritik an der Forderung eines ‚mediengerechten‘ Gebrauchs des Films, der wir unter anderem auch bei Béla Balázs, Rudolf Arnheim und Kracauer begegnen, liefert Noël Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, Malden 2008, S. 35-52.

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V ON S TEIN

ZU

S TEIN

In Bazins Anfang der 1950er Jahre geschriebenem und danach immer wieder überarbeitetem Essay „Die Entwicklung der Filmsprache“ finden wir jene berühmte, in ihrer Schlichtheit geradezu provozierend anmutende und in unmissverständlich wertender Absicht vorgenommene Unterscheidung zweier Grundtypen von Regisseuren. Folgt man dieser, so glauben letztere entweder an das Bild oder aber – vom Autor selbstverständlich präferiert – an die Realität, wobei der Begriff ‚Bild‘ in diesem Zusammenhang weit gefasst ist und all das meint, „was die Darstellung auf der Leinwand dem dargestellten Gegenstand hinzufügen kann“,20 sei es durch die gestalterische Komposition der einzelnen Einstellungen (Dekor, Lichtführung etc.), oder aber durch deren Montage. Bildgläubigkeit findet man demnach, um deren beiden Extrempole zu nennen, sowohl im Weimarer Expressionismus, der – Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) zeigt dies nur allzu deutlich – von der Realität rein gar nichts wissen zu wollen scheint und von Bazin – wie könnte es anders sein – als „Irrweg“21 bzw. „Irrlehre“22 abgetan wird, als auch im Kino eines Kuleschow oder Eisenstein, dessen „Nerv“23 die Montage ist, ein von Eisenstein zum „Wesen des Films“24 erklärtes Verfahren also, bei dem die Bedeutungsgenerierung insofern gleichsam eine Dreingabe von außen darstellt, als sie durch die Anordnung

20 André Bazin: „Die Entwicklung der Filmsprache“ (1951), in: ders.: Was ist Film?, S. 90-109, hier: S. 91. 21 André Bazin: „Farrebique oder das Paradox des Realismus“ (1948), in: montage AV, Jg. 18 (2009), H. 1, S. 169-174, hier: S. 170. 22 Bazin: „Der filmische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung“, S. 307. Zur Kritik am Expressionismus und speziell an Wienes Film vgl. auch ders: „Theater und Film“ (1951), in: ders.: Was ist Film?, S. 162-216, hier: S. 195-197. 23 Sergej M. Eisenstein: „Dramaturgie der Filmform“ (1929), in: ders.: Jenseits der Einstellung: Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 88-111, hier: S. 91. 24 Sergej M. Eisenstein: „Béla vergißt die Schere“ (1926), in: ders.: Jenseits der Einstellung, S. 50-57, hier: S. 54.

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der Realitätsfragmente bzw. Einstellungen erfolgt, nicht aber durch diese selbst.25 Mit anderen Worten: Die Montage ist, wie es in Bazins provokant betitelten Essay „Schneiden verboten!“ (1953) heißt, ein „abstrakte[r] Erzeuger von Sinn.“26 Als einem solchem begegnet ihr der Kritiker bekanntermaßen mit großer Skepsis. Er, der in seiner Auseinandersetzung mit dem Film stets der sinnlichen Anschauung gegenüber der intellektuellen Operation seine Stimme gibt, privilegiert stattdessen mit der Plansequenz auf der einen und der Tiefenschärfe auf der anderen Seite filmische Verfahrensweisen, die die Realität gleichsam ‚unangetastet‘ lassen, indem sie, im Gegensatz zur ‚zerstückelnden‘ Montage, ihre zeitliche und räumliche Kontinuität bewahren. Auf diese Weise wird, so führt Bazin mit Blick auf die Tiefenschärfe aus, „de[r] Zuschauer in eine Beziehung zum Bild [versetzt], die derjenigen, die er zur Realität hat, viel näher ist“,27 d.h., es wird, wie wir an anderer Stelle lesen, ein „psychologischer Realismus“ etabliert, „der den Zuschauer in den wahren Zustand der Wahrnehmung versetzt, welche a priori nie vollständig determiniert ist.“28 Dass sich der Zuschauer ohne die Sinnstiftung, wie sie die Montage bietet, zu erheblich höherer Dekodierungsaktivität bzw. zur, wenn man so will, eigenen Montage genötigt sieht und er die Entscheidung, was wichtig ist und was nicht, selbst zu treffen hat, wurde von Bazin wiederholt herausgestellt, nirgends allerdings klarer als in seinem berühmten Aufsatz über William Wyler, in dem die durch die Tiefenschärfe generierte Befreiung des Zuschauers wie folgt beschrieben wird: „Das Ereignis existiert ständig als Ganzes, es reizt uns dauernd insgesamt; wir entscheiden, diesen oder jenen Aspekt zu wählen, eher das eine als das andere auszusu-

25 Bazin: „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 92-93. 26 André Bazin: „Schneiden verboten!“ (1953), in: ders.: Was ist Film?, S. 75-89, hier: S. 79. Letztlich dasselbe, wenn auch freilich verknüpft mit einer uneingeschränkt positiven Wertung, meint Eisenstein, wenn er die Montage als „Zaubermittel“ preist. Vgl. Sergej M. Eisenstein: „Dickens, Griffith und wir“ (1942), in: ders.: Jenseits der Einstellung, S. 301-366, hier: S. 342. 27 Bazin: „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 103. 28 André Bazin: Orson Welles, Wetzlar 1980 (11958), S. 132.

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chen, je nach den Erfordernissen des Handelns, des Gefühls oder der Reflexion, aber ein anderer als wir würde vielleicht anders wählen. In jedem Fall sind wir frei, unsere Inszenierung zu machen: eine andere Schnittgliederung ist immer möglich und kann die subjektive Sicht der Realität radikal verändern. Der Regisseur, der für uns schneidet, macht nun aber an unserer Stelle die Unterscheidung, die uns im realen Leben zukommt. Wir akzeptieren unbewußt seine Analyse, weil sie den Gesetzen der Aufmerksamkeit entspricht; aber sie beraubt uns eines in der Psychologie nicht weniger begründeten Privilegs, das wir aufgeben, ohne es zu merken, nämlich der zumindest virtuellen Freiheit, jeden Augenblick unser Schnittsystem zu ändern.“29

Diese virtuelle Freiheit wiederum ist es, die entscheidenden Anteil daran hat, dass dem Zuschauer die, so Bazin, „Zweideutigkeit der Existenz der Realität“30 bewusst wird, welche zu bewahren sich das realitätsgläubige Kino auf die Fahnen schreibt – allen voran der italienische Neorealismus, dessen Regiestil der Kritiker zentral dadurch bestimmt sieht, dass er „ganz hinter die Realität zurücktritt“,31 um sie „in ihrer tatsächlichen Kontinuität auf die Leinwand zu bringen.“32 Damit wird sich ein Ziel gesetzt, das selbstverständlich niemals vollständig erreicht werden kann – worauf Bazin ausdrücklich hinweist33 –, das uns jedoch eine Ahnung davon gibt, wie wir

29 André Bazin: „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“ (1948), in: ders.: Filmkritiken als Filmgeschichte, München 1981, S. 41-62, hier: S. 48. Vgl. hierzu ders.: „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 103 und ders.: „Der filmische Realismus und die italienische Schule“, S. 310, zudem aber auch Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt a. M. 1997 (11985), S. 145, David Bordwell: On the History of Film Style, Cambridge, Mass. 1997, S. 62-65, ders.: „Bazins Lektionen“, S. 114-116 sowie ders.: Visual Style in Cinema: Vier Kapitel Filmgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 89-90. 30 Bazin: Orson Welles, S. 131. 31 Bazin: „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 97. An anderer Stelle spricht er vom „Verschwinden der Regie“ im Neorealismus (ders.: „Ladri di biciclette“ (1949), in: ders.: Was ist Kino?, S. 335-352, hier: S. 348). 32 Bazin: „Die Entwicklung der Filmsprache“, S. 106. 33 Bazin: „Plädoyer für Rossellini“, S. 400-401: „[E]s [gibt] keinen reinen Neorealismus. Die neorealistische Haltung ist ein Ideal, dem man mehr oder weniger nahe kommt. In allen als neorealistisch bezeichneten Filmen gibt es noch Spuren

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uns das Realitätsverständnis vorzustellen haben, das den neorealistischen Filmen zugrunde liegt. Um es mit Bazins viel zitierten Worten zu sagen: Der Neorealismus „betrachtet die Realität als einen [...] unteilbaren Block“, d.h., er begreift sie global und unter Abzug einer Tendenz, und so verweigert er sich denn auch „per Defintion der Analyse der Figuren und ihres Handelns, sei diese politisch, moralisch, psychologisch, logisch, gesellschaftlich oder was auch immer.“34 Gerichtet ist sein Interesse somit ganz auf das Erfassen eines Zustandes, der der Sinngebung gleichsam vorausliegt, was impliziert, dass die von der Kamera aufgezeichneten Tatsachen ihre Integrität als Tatsachen bzw. „ihr ganzes Gewicht, ihre ganze Eigenart, ihre ganze faktische Mehrdeutigkeit [bewahren].“35

des traditionellen schauspielhaften, dramatischen oder psychologischen Realismus.“ Vgl. hierzu auch ders.: „Vittorio De Sica, Regisseur“ (1953), in: ders.: Was ist Film?, S. 353-373, hier: S. 359. 34 Bazin: „Plädoyer für Rossellini“, S. 395-396. Er bezieht sich hierbei ausdrücklich auf Amédée Ayfres 1952 in den Cahiers du cinéma erschienenen Aufsatz „Néo-Réalisme et Phénoménologie“, in dem es (in der englischen Übersetzung) wie folgt heißt: „Here [in LADRI DI BICICLETTE, J.G.] we have a man in search of his bike who is not just a man who loves his son, a worker desperately engaged in trying to steal another bike, a man who, finally, represents the distress of the proletariat reduced to stealing the tools of its trade. He is all that and a host of other things besides, indefinable, unanalysable, precisely because primarily he is, and not in isolation, but surrounded by a bloc of reality which carries traces of the world – friends, church, German seminarians, Rita Hayworth on a poster. And this is in no sense merely décor, it ‚exists‘ almost on the same level as he does.“ (Amédée Ayfre: „Neo-Realism and Phenomenology“ [1952], in: James Hillier (Hrsg.): Cahiers du Cinéma. Volume 1. The 1950s: NeoRealism, Hollywood, New Wave, London 1996 (11985), S. 182-191, hier: S. 185186). 35 Bazin: „Ladri di biciclette“, S. 340. Analog argumentiert unter anderem auch Cesare Zavattini, der bei weitem wichtigste und theoretisch versierteste Drehbuchschreiber des Neorealismus, der diesem eine „Haltung des Berichtens“ attestiert, die es ihm kategorisch verbiete, „tote Schemata über lebendige soziale Fakten zu legen.“ (Cesare Zavattini: „Einige Gedanken zum Film“ (1952), in: Theodor Kotulla (Hrsg.): Der Film: Manifeste – Gespräche – Dokumente. Band 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 11-27, hier: S. 12 und 11.

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Völlig anders dagegen verhält es sich bei dem als Vergleichsfolie bemühten konventionellen Realismus: Der nämlich begeht insofern Verrat an der Wirklichkeit, als er diese a priori einem bestimmten Gesichtspunkt unterordnet bzw., wie es bei Roland Barthes in einem ähnlich gelagerten Zusammenhang heißt, „in beurteilter Form [liefert].“36 Dadurch tragen die Ereignisse, welche er präsentiert, das Stigma des In-den-Dienst-GenommenSeins. Sie werden, so könnte man sagen – und die Nähe zur Operationsweise des Barthesschen Mythos ist hier evident37 –, bezüglich ihres ‚Seins‘ entleert, um als Zeichen zu fungieren und rein begrifflich wirksam zu werden. Bazin erinnert in diesem Zusammenhang an die zahlreichen Boote, die in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) zum Titel gebenden Schiff fahren, um dessen Mannschaft mit Lebensmitteln und Vorräten zu versorgen: Sie hätten vor allen Dingen die Aufgabe, die Zustimmung der Bevölkerung Odessas für die Aufständischen zu bedeuten.38 Ihr neorealistisches Pendant

36 Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur (1953), in: ders.: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, Frankfurt a. M. 2006, S. 7-69, hier: S. 25. 37 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2010 (11957), S. 249316. 38 Ein besonders eindringliches und entsprechend immer wieder gern angeführtes Beispiel für die Indienstnahme der Wirklichkeit in Eisensteins Œuvre bietet jene Sequenz aus Oktober (1928), in der Einstellungen von menschewistischen Rednern mit solchen von – nicht zur Diegese gehörenden – Harfen und Balalaikas zusammengefügt werden. „[D]iese Harfen“, kommentiert der Regisseur retrospektiv sein bildmetaphorisches Verfahren, „waren nicht Harfen schlechthin, sondern bildhafter Ausdruck der honigsüßen Reden des menschewistischen Opportunismus auf dem zweiten Rätekongreß im Jahre 1917. Und die Balalaikas waren nicht Balalaikas schlechthin, sondern das Symbol für dieses langweilige, widerliche und leere Wortgeklimper vor dem Gewitter herannahender historischer Ereignisse.“ (Eisenstein: „Dickens, Griffith und wir“, S. 356) Analoges lässt sich natürlich auch über das berühmt gewordene Finale von Eisensteins erstem Film, STREIK (1924), sagen: Hier soll die in den Bildfluss hineingeschnittene, ebenfalls nichtdiegetische Schlachtung eines Ochsen den Zuschauer erkennen lassen, dass die streikenden Arbeiter von den Soldaten wie Vieh abgeschlachtet werden. – Zu Eisensteins funktionalistisch zu nennender Wirkungsästhetik, der es nicht so sehr um das Sosein der Dinge als um ihren expressiven

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bilde die Flotte der Fischerboote in Luchino Viscontis LA TERRA TREMA (1948). Sie mag „von überwältigender Schönheit sein – sie ist darum doch nur die Flotte aus dem Dorf“,39 so Bazin, der in mehreren seiner Texte ein höchst anschauliches Bild bemüht, um den Gegensatz zwischen traditionellem Realismus und Neorealismus transparent zu machen. Und zwar spricht er von Steinen, die uns den Weg über einen Bach ebnen können – als Bestandteile einer Brücke oder aber verstreut im Wasser liegend.40 Während im ersten Fall ihre „steinerne Wirklichkeit“41 ganz hinter ihre Funktion, gemeinsam eine Brücke zu bilden, zurücktritt, bleibt sie im zweiten Fall erhalten. D.h., der Realismus schafft – um den Preis der Wirklichkeitsverarmung – Eindeutigkeit, indem er Brücken baut, über die der Zuschauer geht, während der Neorealismus die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit respektiert und es letzterem überlässt, in den Steinen bloß Steine oder aber Steine und eine Möglichkeit, trockenen Fußes das andere Ufer zu erreichen, zu erkennen.42 Kurz: Der Zusammenhang der Steine in der Brücke ist vorgegeben und unübersehbar, jener der im Bach liegenden dagegen besteht nicht im eigentlichen Sinne. Er will gesehen sein. Lorenz Engell hat somit fraglos Recht mit seiner Behauptung, Bazin betrachte den Neorealismus nicht so sehr als einen „Realismus der Abbildung“, sondern vielmehr als einen „Realismus der Rezeption“, bei dem „[d]ie Begegnung mit dem Filmbild [...] die Begegnung mit einer in ihrer Komplexität schwer und nur unter Erzeugung von Sinnstrukturen zu erfassenden Umwelt [ana-

Zeichencharakter zu tun ist, vgl. vor allen Dingen Felix Lenz: Sergej Eisenstein: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, München 2008. 39 André Bazin: „La terra trema“ (1948), in ders.: Was ist Film?, S. 327-334, hier: S. 328-329. 40 Bazin: „Der filmische Realismus und die italienische Schule“, S. 319 sowie ders.: „Plädoyer für Rossellini“, S. 399. Vgl. zu Bazins Bild auch Lorenz Engell: „Zum Denken ins Kino: André Bazin und Gilles Deleuze“, in: ders.: Playtime: Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz 2010, S. 137-159, hier: S. 155. 41 Bazin: „Plädoyer für Rossellini“, S. 399. 42 „Statt ein bereits dechiffriertes Reales zu repräsentieren“, gibt Deleuze Bazins Überlegungen wieder, „meine der Neorealismus ein zu dechiffrierendes und stets zweideutiges Reales.“ (Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 11).

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logisiert].“43 Dies bedeutet nicht zuletzt, dass es dem Neorealismus natürlich nicht, wie zuweilen behauptet wird, um die Verdoppelung von Realität zu tun ist, sondern allein um den Versuch, „die Filmrezeption durch dieselben Strukturierungsmuster hindurch zu steuern wie die Wirklichkeitserfahrung.“44 Doch zurück zum Bazinschen Bild der im Bach liegenden Steine, welches auch insofern als überaus glücklich gewählt gelten darf, als es implizit die für den Neorealismus so typische Lückenhaftigkeit und Inkonsistenz des Handlungsgangs profiliert. Hinsichtlich seiner Bedeutung stark beschnitten, knüpft dieser die einzelnen Ereignisse nicht wie die Glieder einer Kette aneinander, sondern als „Blöcke mit betont schwachen Verbindungen“45 in einer zufällig und anekdotisch anmutenden Chronologie hintereinander und hebt nicht zuletzt dadurch ihren enormen Stellenwert und hohen Autonomiegrad ihm gegenüber hervor. „[E]s gibt keinen Vektor mehr, keine universelle Linie, die die Ereignisse [...] ineinander übergehen läßt und verbindet“,46 schreibt Deleuze im argumentativen Fahrwasser Bazins und mit besonderem Blick auf Vittorio De Sicas LADRI DI BICICLETTE (1948), der mustergültig zeigt, was es bedeutet, wenn sich die sensomotorischen Zusammenhänge zwischen Situation und Aktion, Aktion und Reaktion oder Reiz und Antwort lockern,47 wenn also an die Stelle eines kau-

43 Lorenz Engell: Sinn und Industrie: Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt am Main 1992, S. 177. 44 Ebd.: S. 180. Vgl. auch Bazin: „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“, S. 47. 45 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 11. 46 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt a. M. 1997 (11983), S. 284. 47 Zum Bruch der sensomotorischen Kette und seinen Konsequenzen vgl. ebd.: S. 276ff. sowie ders.: Das Zeit-Bild, S. 11ff., darüber hinaus aber auch Lorenz Engell und Oliver Fahle: „Film-Philosophie“, in: Jürgen Felix (Hrsg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2003 (12002), S. 222-245, hier: S. 233ff. Des Weiteren sei daran erinnert, dass auch Kracauer das Zerfallen der zielgerichteten Narration als wichtiges Merkmal des neorealistischen Kinos herausstellt. Sowohl Fellini als auch De Sica und Rossellini, so lesen wir in seiner Theorie des Films „sind (oder scheinen) [...] ungenau in dem Sinne, daß sie verabsäumen, die Elemente oder Einheiten ihrer Handlungen auf rationale Weise zu verbinden. Eine gerade

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salen Aufeinander-bezogen-Seins der Ereignisse zunehmend dessen bloß temporale Consecutio tritt, die noch dazu über die Wertigkeit der Ereignisse bzw. deren Hierarchie keinerlei Aufschluss gibt.48 Mit anderen Worten: Neorealistisches Erzählen ist ein in horizontaler Hinsicht kohärenzgeschwächtes Erzählen. Es reiht aneinander, operiert parataktisch und führt strenggenommen – zumindest, wenn man sich auf E. M. Forsters berühmte diesbezügliche Differenzierung aus Aspects of the Novel (1927) beruft – zu bloßen Stories, nicht jedoch zu Plots.49 Es erteilt demnach der für das klassische Kino typischen narrativen Integration eine deutliche Abfuhr, so dass man versucht sein könnte, den Neorealismus als ein etwas anderes cinema

Linie scheint ihnen unvorstellbar zu sein; nichts in ihren Filmen ist wirklich zusammengefügt. Gleichzeitig ist es jedoch, als besäßen sie eine Wünschelrute, die sie befähigt, auf ihren Streifzügen durchs Labyrinth physischer Existenz Phänomene und Geschehnisse von ungemeiner Bedeutung zu entdecken.“ (Kracauer: Theorie des Films, S. 337). 48 Vgl. hierzu auch André Bazin: „Le notti di Cabiria oder die Reise ans Ende des Neorealismus“ (1957), in: ders.: Was ist Film?, S. 380-390, hier: S. 387, darüber hinaus aber auch András Bálint Kovács: Screening Modernism: European Art Cinema, 1950-1980, Chicago 2007, S. 253-254. 49 Hier noch einmal Forsters wohlbekannte Passage: „We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ‚The king died and then the queen died‘ is a story. ‚The king died, and then the queen died of grief‘ is a plot. The time-sequence is preserved, but the sense of causality overshadows it.“ (E. M. Forster: Aspects of the Novel, Harmondsworth 2000 (11927), S. 87) Höchst ergiebig sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Seymour Chatmans, der mit Blick auf Michelangelo Antonionis offene Formen zwischen kausalen auf der einen und – etwa in Antonionis großer Tetralogie (L’AVVENTURA (1960), LA NOTTE (1961), L’ECLISSE (1962) und IL DESERTO ROSSO (1964)) zum Einsatz kommenden – kontingenten Plots auf der anderen Seite unterscheidet. Vgl. Seymour Chatman: Antonioni or, The Surface of the World, Berkeley 1985, S. 74ff.

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of attractions50 zu bezeichnen, ein solches nämlich, das statt der Attraktionen mit Alltäglichkeiten aufwartet.51 Mit Ausnahme vielleicht von De Sicas UMBERTO D (1952) gilt Bazin LADRI DI BICICLETTE als der „extremste Ausdruck des Neorealismus.“52 Der Kritiker erkennt in ihm das „ideale Gravitationszentrum, um das die Werke der anderen großen [neorealistischen, J.G.] Regisseure auf ihren eigenen Umlaufbahnen kreisen“,53 und folglich verwundert es nicht weiter, dass er De Sicas Meisterwerk die bei weitem ausführlichste Einzelanalyse widmet, die er jemals über einen neorealistischen Film verfasst hat. Da es sich obendrein um die wichtigste handeln dürfte, lohnt es sich allemal, sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Ebendies soll auf den folgenden Seiten geschehen.

D ER

ZWANGLOSE

Z WANG

November 1949 in der linksgerichteten katholischen Zeitschrift Esprit erschienen, stellt der Ladri di biciclette-Essay nicht zuletzt den Versuch dar, jenen zur damaligen Zeit zunehmend laut(er) werdenden Stimmen entgegenzutreten, die das unmittelbar bevorstehende Ende des mittlerweile angeblich mehr und mehr Zeichen der Erschöpfung aufweisenden Neorealismus verkündeten.54 LADRI DI BICICLETTE sei das Werk, das derlei Unkenrufe Lügen strafe und „die ganze Ästhetik des Neorealismus von neuem in ihr Recht [setzt]“,55 so Bazin, dessen Text denn auch einen zur Gänze ungetrübt bleibenden Lobgesang auf De Sicas Film anstimmt. Dieser wird

50 Vgl. hierzu Tom Gunning: „Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde“ (1986), in: Thomas Elsaesser (Hrsg.): Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-62. 51 Zur Alltagsaffinität bzw. -fixierung des Neorealismus vgl. vor allem Zavattini: „Einige Gedanken zum Film“. 52 Bazin: „Vittorio De Sica“, S. 360. 53 Ebd. 54 Bekanntlich wollte Bazin bis zu seinem Tod im Jahr 1958 nichts von einem Ende des Neorealismus wissen. 55 Bazin: „Ladri di biciclette“, S. 337.

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dem Leser zuvorderst als Ausdruck eines konsequenten Verzichts nahe gebracht, als ein Werk, das sich eine denkbar strenge Askese auferlegt, um die Wirklichkeit insbesondere von dem zu befreien, was Bazin an anderer Stelle das „Schmarotzertum der Kunst“56 nennt – wobei er sich selbstredend darüber im Klaren ist, dass eine solche Befreiung das Aufbieten einer gehörigen Portion ‚Kunst‘ zur Bedingung hat.57 „Keine Schauspieler, keine Geschichte, keine Mise-en-scène mehr“58 – auf diese Negativ-Formel bringt er den Charakter des Films, dessen Darsteller Laien sind, dessen Story nicht den geringsten dramatischen Wert aufweist und dessen Bildgestaltung ganz darauf abgestellt ist, das Geschehen „in größtmöglicher Durchsichtigkeit mit einem Minimum an stilistischer Brechung wiederzugeben.“59 Keine Frage: Folgt man Bazin, so gönnt sich LADRI DI BICICLETTE nichts, aber auch gar nichts – und wird selbstredend genau deswegen von dem Kritiker geschätzt. Denn bekanntermaßen denkt er das Kino nicht, wie beispielsweise Béla Balázs, Rudolf Arnheim oder die russischen Montagetheoretiker, in der Kategorie des Rahmens, sondern der des Fensters.60 Er ist somit ein Anwalt dessen, was

56 Bazin: „Farrebique oder das Paradox des Realismus“, S. 170. 57 Vgl. hierzu etwa Bazin: „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“, S. 46, zudem aber auch Tag Gallagher: The Adventures of Roberto Rossellini: His Life and Films, New York 1998, S. 297. 58 Bazin: „Ladri di biciclette“, S. 351. 59 Ebd.: S. 348. Vgl. auch Bazin: „Vittorio De Sica“, S. 360. 60 Zum Gegensatz von Rahmen und Fenster vgl. die Ausführungen von Thomas Elsaesser und Malte Hagener: „Die Vorstellung des Fensters impliziert, dass man das gerahmte Viereck, durch das man hindurchsieht, aus dem Blick verliert, während der Rahmen sowohl auf den Inhalt der (undurchsichtigen) Bildfläche, dessen konstruktiven Charakter, wie auf sich selbst verweist. Das Fenster steht im Zeichen der Transparenz, während man für den Rahmen den Begriff der Komposition stark machen könnte. Wo das Fenster die Aufmerksamkeit auf ein dahinter oder jenseits Liegendes lenkt, ja im Idealfall die trennende Glasscheibe in der Vorstellung ganz verschwinden lässt, lenkt der Rahmen – man denke an klassische Bilderrahmen, ihre Ornamentik und Opulenz, ihre Auffälligkeit und ihren ostentativen Zeigegestus – die Aufmerksamkeit auf den Artefaktstatus und den Bildträger als solchen. Im einen Extremfall bringt das Fenster sich als Medium völlig zum Verschwinden und macht sich unsichtbar, im anderen dagegen

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die Medienwissenschaftler Jay David Bolter und Richard Grusin unter dem Begriff immediacy diskutieren,61 d.h., er tritt für eine Vermittlung ein, die, ganz dem Ideal der Unmittelbarkeit und Transparenz verpflichtet, sich selbst zwar nicht abschafft – schließlich kann es, wie es im Wyler-Aufsatz heißt, „[i]m Kino [...] nur um eine Repräsentation der Realität gehen“62 –, die sich aber wenigstens so weit als möglich verleugnet. Er findet eine solche Vermittlung in den Filmen des Neorealismus und speziell in LADRI DI BICICLETTE, dessen besonderes Faszinosum laut Bazin jedoch keineswegs allein in dessen wirkungsvoller Verzichtsästhetik besteht, sondern auch und vor allem darin, dass er bemerkenswert souverän, da konfliktfrei gleichsam zwei Herren dient. Einerseits nämlich ist der Film „so solide gebaut [...] wie eine Tragödie“, andererseits „läuft“ er „auf der Ebene des rein Zufälligen [ab].“63 Mit ihm ist De Sica und seinem (Haupt-)Drehbuchschreiber Cesare Zavattini demnach das Kunststück gelungen, der dramatischen Notwendigkeit einen kontingenten Charakter zu geben bzw., wie Bazin an anderer Stelle schreibt, „die Kontingenz zum Stoff des Dramas“64 zu machen. Und dass ebendies wiederum von größter Relevanz für die Überzeugungskraft des Films ist, bemüht sich Bazin zu zeigen, wobei er von der nicht nur aus heutiger Sicht einigermaßen überraschenden Behauptung ausgeht, LADRI DI BICICLETTE sei „sicher der einzig gültige kommunistische Film der letzten zehn Jahre.“65 Wie zumeist, wenn es um den Neorealismus geht, argumentiert er auch in diesem Fall nicht ‚inhaltlich‘, und dies, obgleich er für die von ihm als solche ausgewiesene These des Films – dass nämlich in der Welt desselben der Überlebenskampf der Arbeiter derart hart sei, dass sie sich gegenseitig

lässt der Rahmen nur noch das Medium in seiner Verfasstheit sehen.“ (Thomas Elsaesser und Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 25). 61 Dieser bezeichnet, so Bolter und Grusin, „[a] style of visual representation whose goal is to make the viewer forget the presence of the medium (canvas, photographic film, cinema, and so on) and believe that he is in the presence of the objects of representation.“ (Bolter/Grusin: Remediation, S. 272-273). 62 Bazin: „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“, S. 47. 63 Bazin: „Ladri di biciclette“, S. 351. 64 Bazin: „Vittorio De Sica“, S. 360. 65 Bazin: „Ladri di biciclette“, S. 339.

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bestehlen müssen – durchaus Sympathien hegt. Nein, ‚gültig‘ und vor allem als gesellschaftspolitisch engagierter Film unerhört schlagkräftig sei LADRI DI BICICLETTE deshalb, weil er seine These nie als solche aufstellt, weil er nicht, wie es ein Propagandafilm täte, versucht, „uns aufzuzeigen, daß der Arbeiter sein Fahrrad gar nicht wiederfinden kann und daß er zwangsläufig im Teufelskreis gefangen ist“,66 sondern weil er sich stattdessen darauf beschränkt, dem Zuschauer vor Augen zu führen, dass der Protagonist sein Fahrrad nicht wiederfinden konnte, dies aber sehr wohl hätte geschehen können. „Niemand kann übersehen“, erklärt Bazin, „daß gerade der Zufallsaspekt des Drehbuchs der These ihre Zwangsläufigkeit verleiht, während im propagandistischen Drehbuch der geringste Zweifel an der Zwangsläufigkeit der Ereignisse die These zur Hypothese machen würde.“67 Denkt man diese – reichlich gewagte und alles andere als evidente – Behauptung ein kurzes Stück weiter, ließe sich folgender Schluss ziehen: Zwingend kann die These eines Films nur dann sein, wenn die Ereignisse nicht ihrem Zwang unterstehen, wenn sie stattdessen aus ihnen hervorgeht. Dann nämlich und nur dann, so Bazin, „[ist es] [u]nser Geist [...], der sie entwickelt und formuliert, nicht der Film.“68 Man merkt: Der Respekt vor der Realität, d.h., der ganz und gar antiautoritäre Zugriff auf diese, wird auf der Rezeptionsebene zum Generator von Autorität umgemünzt, was wiederum mit Blick auf das oben besprochene Bild vom zu überquerenden Bach bedeutet, dass der Verzicht auf Brücken ein durchaus lohnendes Geschäft sein kann. Stellt man nun Bazins wiederholt offenkundig gemachte Wertschätzung für eine derartige Strategie in Rechnung, so erscheint der immer wieder, und zwar meist unter Rekurs auf seine Ausführungen zur Tiefenschärfe gemachte Versuch, den Kritiker als Advokaten eines von jedweder Gängelung befreiten Zuschauers zu akkreditieren, als verfehlt. Zutreffend wäre dagegen folgende Charakterisierung: Bazin geht es, wenn man so will, um the best of both worlds bzw. eine contradictio in adiecto, nämlich den zwanglosen Zwang. Ebendies macht er unter anderem am Ende seiner kurzen Kritik von Roberto Rossellinis GERMANIO ANNO ZERO (1948) deutlich, wenn er rhetorisch fragt: „Und ist das nicht eine solide Definition

66 Ebd.: S. 340. 67 Ebd. 68 Ebd.: S. 341.

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des Realismus in der Kunst: den Geist zur Parteinahme zu zwingen, ohne mit Menschen und Dingen zu mogeln?“69

D IE F ALTEN

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Die übliche Behauptung, neorealistische Filmen befleißigten sich einer schonungslosen Darstellung der Realität, zielt letzten Endes natürlich auf den Zuschauer ab. Dieser fungiert, wenn man so will, als der eigentliche Adressat der ausbleibenden Schonung, da der ihm zusetzenden Realität die ihm verweigerte Schonung zuteil wird, und zwar in dem Sinne, dass sie ‚unberührt‘ bleibt bzw. im Sinne Bazins respektiert wird. Stellt man nun in Rechnung, dass sich der Zuschauer gewöhnlich höchst bereitwillig schonen lässt, kann es nicht verwundern, dass der im Zeichen der Realitätsschonung operierende Neorealismus zu keinem nennenswerten Publikumsphänomen wurde und nur eine Handvoll neorealistischer Filme – darunter Rossellinis ROMA, CITTÀ APERTA (1945) und PAISÀ (1946), De Sicas LADRI DI BICICLETTE sowie Giuseppe De Santis’ RISO AMARO (1949) – einigen Anklang beim Publikum fanden. Dieses goutierte sowohl innerhalb als auch außerhalb Italiens erheblich lieber die für den Massenkonsum konfektionierte und größtenteils aus Hollywood stammende Kinokost,70 und deren Ziel ist bekanntermaßen seit jeher die Schonung des Zuschauers, welche wiederum nur durch einen schonungslosen, d.h. manipulativen und intervenierenden Umgang mit der Realität erreicht werden kann. Derart ausgerichtet, diente das kommerzielle Unterhaltungskino dem Neorealismus nicht nur, wie oft behauptet wird, als Negativfolie zur eigenen Standortbestimmung bzw. identitätsbildender Alteritätspol.71 Vielmehr

69 André Bazin: „Germania anno zero“ (1949), in: ders.: Was ist Film?, S. 242245, hier: S. 245. Vgl. zudem ders.: „Vittorio De Sica“, S. 361. 70 Vgl. hierzu Peter Bondanella: Italian Cinema: From Neorealism to the Present, New York 1997 (11983), S. 35-36 sowie Mark Shiel: Italian Neorealism: Rebuilding the Cinematic City, London 2006, S. 5. 71 „[N]eorealism“, so Peter Brunette, „cannot be understood without reference to its opposite, or what it posed as its opposite, conventional Hollywood narrative cinema.“ (Peter Brunette: The Films of Michelangelo Antonioni, Cambridge

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fungierte es auch und vor allem als Voraussetzung, um überhaupt jene Realismuseffekte erzielen zu können, denen er seinen Namen verdankt – ein Aspekt, der gern übersehen wird und auch bei Bazin völlig unterbelichtet bleibt. Gewiss, der Kritiker erkennt, dass es sich beim Neorealismus um eine Art Anti-Kino handelt, doch belässt er es bei der Behauptung, die bloße Schonung der Realität, also der Verzicht auf Schauspieler, eine ausgefeilte Mise-en-scène oder aber eine durchkomponierte Handlung, generiere aus sich heraus Realismuseffekte, weil durch sie dem Zuschauer eine Wahrnehmung ermöglicht werde, die der ‚im richtigen Leben‘ nahe kommt. D.h., er ignoriert, was wir medientheoretisch mit Boris Groys’ Ausführungen zur medialen Aufrichtigkeit hervorragend beschreiben können: nämlich, dass zu einem nicht unerheblichen Teil die verzichtsgenerierte Realitätsschonung nur deswegen realistisch wirkt, weil das Mainstream-Kino, welches ebendiese zu leisten sich verweigert, die Norm darstellt und – wenn nicht nur, so doch zu großen Teilen – deswegen als unrealistisch erlebt wird.72 Während Bazin die realistische Wirkung des Neorealismus über dessen Nähe zur Realität zu bestimmen sucht, ist demnach die eigentlich relevante Größe in diesem Zusammenhang dessen Ferne vom kommerziellen Unterhaltungsfilm.73 Oder kurz gesagt: LADRI DI BICICLETTE ist realistisch, weil unter anderem GILDA (Charles Vidor, 1946) es nicht ist, jener NoirKlassiker mit Rita Hayworth demnach, dessen berühmtes Plakat De Sicas Protagonist an eine Mauer klebt, wobei er sich – es ist sein erster Arbeitstag

1998, S. 18) Vgl. hierzu auch Lorenz Engell: Bilder des Wandels, Weimar 2003, S. 72. 72 Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 64-79, darüber hinaus aber auch Jörn Glasenapp: „Oasen und Müllkippen: Überlegungen zur Produktion medialer Aufrichtigkeit“, in: Matthias N. Lorenz (Hrsg.): DOGMA 95 im Kontext: Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Authentisierungsbestrebung im dänischen Film der 90er Jahre, Wiesbaden 2003, S. 97-109. 73 Vgl. hierzu auch Heinz-B. Heller: „Francesco Rosi: Anfänge im Licht des Neorealismus“, in: Thomas Koebner und Irmbert Schenk (Hrsg.): Das goldene Zeitalter des italienischen Films: Die 1960er Jahre, München 2008, S. 315-329, hier: S. 317-319.

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– derart ungeschickt anstellt, dass sowohl das Plakat als auch die makellos glatte Haut der auf ihm abgebildeten Hayworth Falten schlägt.

Abbildung 2: Still aus De Sicas LADRI DI BICICLETTE

In: LADRI DI BICICLETTE (I 1948, R: Vittorio de Sica)

Ohne Frage dürfen wir hierin einen ziemlich geistreichen Hieb De Sicas gegen die in ästhetischer Hinsicht allzu ‚glatte‘ Kinokost aus Hollywood erkennen, welche das Publikum in den Bann geschönter Scheinwelten schlägt und darüber die Realität aus den Augen verlieren lässt – ein Vorwurf, der im neorealistischen Film stets mitgedacht werden muss und der in LADRI DI BICICLETTE seine implizite Bestätigung durch das Unglück des Helden findet, der, den Blick auf die Wand bzw. die Leinwandgöttin gerichtet, nicht bemerkt, wie sein Fahrrad gestohlen wird. Dass er – wie so viele Figuren im neorealistischen Film – von einem Laien, einem ‚echten‘ Arbeiter gespielt wird, der dem Regisseur noch dazu versprechen musste, nach der Produktion des Films nicht auf eine Kinokarriere zu hoffen, son-

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dern in seinen Job zurückzukehren,74 passt in diesem Zusammenhang natürlich ins Bild.75 So clever und weitreichend die Kritik am Kinomainstream in der Plakatier- bzw. Diebstahlszene auch formuliert ist, so unmissverständlich zeigt sie Folgendes: dass neorealistische Regisseure zuweilen nicht eben realitätsschonend verfahren bzw. den von Bazin geforderten Respekt vor der Wirklichkeit ziemlich vermissen lassen, dass sie folglich sehr wohl wissen, wie man Dinge als Zeichen in Dienst nimmt und damit um ihr eigentliches ‚Sein‘ bringt, und dass sie dieses Wissen auch in die filmische Praxis überführen. Übersehen dürfte dies im vorliegenden Fall letztlich nur jener Zuschauer, der GILDA nicht kennt und auch keine anderweitige Funktionalisierung des Plakates ausmacht (die durchaus vorliegen könnte76) – jener Zuschauer also, der sich, um es mit Hans Ulrich Gumbrecht zu sagen,77 gleichsam diesseits der Hermeneutik aufhält und das Plakat allein als Plakat, d.h. in seiner ‚plakatigen Wirklichkeit‘, sieht bzw. zu sehen imstande

74 Vgl. hierzu Robert S. C. Gordon: Bicycle Thieves, Houndmills 2008, S. 27. – Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf das retrospektiv einigermaßen kurios anmutende Angebot David O. Selznicks, LADRI DI BICICLETTE unter der Bedingung zu finanzieren, dass Cary Grant dessen Protagonisten spielt. Vgl. hierzu Bondanella: Italian Cinema, S. 57. 75 Vgl. hierzu auch Millicent Marcus: Italian Film in the Light of Neorealism, Princeton 1986, S. 57. 76 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Massimo Perinelli, der eine psychoanalytische Lesart der Plakatierszene vorschlägt. Ihr zufolge hat Antonio als Opfer des dezidiert weiblichen Blicks der Diva zu gelten, der ihn, den in seiner Männlichkeit ohnehin schon beschädigten Helden, um sein Fahrrad bringt und damit symbolisch kastriert (vgl. Massimo Perinelli: Fluchtlinien des Neorealismus: Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949, Bielefeld 2009, S. 160f.). Gordon wiederum sieht in der Szene eines der Unterthemen des Filmes anklingen, und zwar den konsequenten Ausschluss des Protagonisten von den mannigfaltigen – auch sexuellen – Vergnügungsmöglichkeiten, welche die Stadt zu bieten hat (vgl. Gordon: Bicycle Thieves, S. 96). 77 Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik: Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, darüber hinaus aber auch Susan Sontags antihermeneutischen Thesen in dies.: „Against Interpretation“, in: dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York 1966, S. 3-14.

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ist. Hielte man sich an Jean-Paul Sartres Überlegungen, die diesen Ausführungen Text als Motto vorangestellt wurden, hätte er dann die Augen eines Künstlers.

Cesare Zavattini, „regista mancato“1 oder mit den Bildern gegen die Bilder

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Der italienische Drehbuchautor, Schriftsteller und Maler Cesare Zavattini, bekannt vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Vittorio De Sica in so berühmten Filmen wie SCIUSCIA (1946), LADRI DI BICCICLETTE (1948) und UMBERTO D. (1952), gilt als einer der Väter des italienischen Neorealismus.2 Mit seinen vor allem mit den erwähnten, gegen Ende der 40er und zu Anfang der 50er Jahre des 20. Jhs. zu verzeichnenden filmischen Erfolgen3 sowie zahlreichen Artikeln und Interviews versuchte er vor allem in den

1

„Ogni mio rapporto con il cinema era sempre sostanzialmente da regista, capisce; io quindi sono un regista mancato“, so Zavattini in einem filmischen Porträt von Ricardo Tortora, IL CICLONE ZAVATTINI (I 2000, R: Ricardo Tortora), Farbe, 57 min., 0:49:00-0:50:00 unter http://www.rai.tv/dl/RaiTV/homeTv.html, zuletzt aufgerufen am 2.3.2011.

2

Emanuela Perozzi: „Cesare Zavattini: La rivoluzione dello sguardo (Oktober 2006)“, http://www.cinefile.biz/?p=4176, zuletzt aufgerufen am 20.2.2011. Vgl. auch die Beurteilung Lorenz Engells, der Cesare Zavattini als „wichtigste[n] Drehbuchautor und Theoretiker des Neorealismus“ bezeichnet. („Im Bergwerk der Wirklichkeit“, in: ders.: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, S. 159-189, hier S. 161)

3

Trotz der unbestreitbaren Erfolge sollte angemerkt werden, dass Zavattini erstmals 1982 selbst Regie geführt („regista mancato“, ebd.) und die Kritik ihm mehrfach ein Auseinanderklaffen seiner theoretischen Forderungen und ihrer Einlösung in der Praxis vorgeworfen hat.

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50er Jahren mehr oder weniger systematisch, stets jedoch mit euphorischer Geste, den neorealistischen Gedanken im Kontext der Herausbildung eines neuen italienischen Kinos zu profilieren. Dabei bringt er anfänglich verschiedene Ideen zum Ausdruck, die gleichermaßen an die Konzepte des französischen poetischen Realismus, auf die Hollywoodfeindlichkeit des Autorenkinos,4 die filmischen Experimente der Nouvelle Vague5 wie auch an neue, dokumentarisch-ethnographische Filmrichtungen wie cinéma vérité, free cinema oder direct cinema anknüpfen.6 In Interviews und Texten aus den 60er und noch 70er Jahren hingegen spricht Zavattini vermehrt von den Gründen für das letztliche Scheitern der neorealistischen Bewegung sowie des Versuchs seiner Erneuerung.7

4

Ebd., S. 732: „[S]i dovrebbe arrivare all’autore unico“ – und dies sowohl aus Gründen der Verantwortung, der Personalisierung wie auch aufgrund Zavattinis antikapitalistischer Einstellung.

5

Tatsächlich zeigt sich Zavattini der Nouvelle Vague ebenso wie der amerikanischen beat generation gegenüber nicht positiv geneigt: „Ti accorgi che c’è in loro estremamente nuovo lo slancio, ma estremamente vecchia la posizione […].“ (Cesare Zavattini: „Parliamo della guerra e della pace (1960)“, in: ders.: Opere. Cinema, herausgegeben von Valentina Fortichiari und Mino Argentieri, Mailand 2002, S. 876-885, hier: S. 878.) In den Anmerkungen zu diesem Artikel finden sich weitere Beurteilungen Zavattinis zu den Arbeiten Alain Robbe-Grillets, Alain Resnais’ oder Michelangelo Antonionis. Ohne die Bedeutung besonders der beiden zuletzt erwähnten Regisseure schmälern zu wollen, so wäre es doch ein Traum – so Zavattini – „che i Resnais e gli Antonioni entrassero ancor di più in un campo esplicitamente critico.“ (Zavattini, zit. nach von Argentieri in den Anmerkungen zitierten unbekannten Quelle, S. 884) Während – so Zavattini weiter – die jungen Franzosen zu sehr von der selbstreflexiven Literatur beeinflusst seien, hingen die jungen italienischen Regisseure zu sehr an der Geschichte.

6

Zu den Überlegungen in Richtung eines cinéma-vérité oder eines free cinema ist vor allem Zavattinis Idee des „film inchiesta“ zu rechnen. (Vgl. Cesare Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 907-927. Das Interview stammt aus dem Buch I msteri di Roma von Francesco Bolzoni, Rom 1963)

7

Zavattinis chronologisch geordnete Gedanken und Überlegungen zum Kino allgemein sowie zum neorealistischen Kino im Besonderen sind in dem weiter

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So wirft Zavattini dem italienischen Nachkriegskino vor, die Darstellung der belasteten Vergangenheit im Wesentlichen zu motivisch-lyrischen Zwecken einzusetzen, während die Gegenwart zum normativen Element für das politische Leben gerate. Doch gerade zu jener Zeit dürfe die Vergangenheit nicht von der Gegenwart getrennt werden, die Geschichte nicht auf einen puren Materialfundus reduziert werden. Stattdessen müssten Kino und Geschichte als Formen des Bewusstseins und des Denkens betrachtet werden, als „materia operante“, die vielfältige Relationen zum gegenwärtigen Leben und Übergänge von der vergangenen zur aktuellen Zeit aufzeige.8 Aus der Koinzidenz von historischem und kinematographischem Moment ziehe das Kino gleichzeitig „la consapevolezza di se stesso.“9 Die Unfähigkeit des italienischen Nachkriegskinos, den Bruch mit der Narration zu vollziehen, verhindere die notwendige Erneuerung in Richtung eines an der Chronik des Alltags oder dem Tagebuch orientierten „cinema autobiografico“, das ohne konventionelle Dramaturgie, ohne wertende Montage und vor allem ohne „soggetto“ auskomme. Dabei verstehe sich das autobiographische Kino keinesfalls als Rückzug auf die Innerlichkeit und widerspreche damit neorealistischen Prinzipien. Tatsächlich – so Zavattini – handele es sich um die Fortführung des neorealistischen Gedankens, indem aus einem „conoscere per provvedere“ ein „conoscersi per provvedere“10 werde, das eine historische Verantwortung verlange. Den

oben zitierten, von Fortichiari und Argentieri zusammengestellten Sammelwerk nachzulesen: Cesare Zavattini: Opere. Cinema. Desweiteren stellt die RAI auf ihren Webseiten ein filmisches Archiv bereit, das zahlreiche Ausschnitte aus Interviews mit Zavattini bereithält [(http://www.rai.tv/dl/RaiTV/homeTv.html, zuletzt aufgerufen am 15.3.2011)], u. a. auch aus dem in Anmerkung 1 erwähnten Filmporträt IL CICLONE ZAVATTINI. Ein anderes interessantes Filmporträt mit dem Titel CESARE ZAVATTINI stammt von Carlo Lizzani (I 2003, R: Carlo Lizzani). 8

IL CICLONE ZAVATTINI, 0:00:31:50-0:00:33:00.

9

Zavatttini: „Un atto di corraggio (1960)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 886-892, hier : S. 887.

10 INCONTRI CON GASTONE FAVERO: UN ORA CON CESARE ZAVATTINI (I 1967). Ein Ausschnitt daraus kann online eingesehen werden: http://www.rai.tv/dl/RaiTV/programmi/media/ContentItem-2181ee84-f574471f-9424-99213b63b03.html?p=0, 0:40:00ff, zuletzt aufgerufen am 1.3.2011.

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Vorwurf eines narzisstischen Kinos weist Zavattini zurück, stehe doch im autobiographischen „cinema diario“ nicht der Rückzug auf Innerlichkeit, sondern der durch beständige Konfrontation mit der Außenwelt zu etablierende Bezug zwischen dem Ich und der Realität im Vordergrund.11 Dabei sorgt die von Zavattini entwickelte Methode des „pedinamento“12 dafür, alle authentischen Aspekte eines Menschen in einer bestimmten sozialen Situation, kurz: jeder auch noch so alltäglichen oder banalen Handlung, zu erfassen, denn jedem – mit Roland Barthes gesprochen – „détail inutile“,13 jeder im Hinsicht auf die Handlung unwesentlich erscheinenden Geste wohnt eine Gegenwärtigkeit inne und (re-)präsentiert respektive konstruiert auf diese Weise ‚Authentizität‘. Bis hierher habe ich mich verschiedener Begriffe und Konzepte aus der Literatur-, Kultur- und Filmwissenschaft bedient, die allesamt in die zahlreichen Diskussionen um filmischen Realismus respektive den italienischen Neorealismus eingegangen sind. Dies möchte ich nicht wiederholen, sondern versuchen, die von Cesare Zavattini entwickelten Ansätze im Hinblick auf ihre bildtheoretischen Implikationen zu untersuchen, die ich mit den drei Konzepten • • •

1. Bilder der Realität 2. Realität der Bilder 3. Realität als Bild

überschrieben habe. Dabei – und dies muss betont werden – geht es nicht darum, Zavattini als den Theoretiker eines neuen Neorealismus wiederzuentdecken, vielmehr scheint mir interessant, in welcher Weise seine Theorien von Vorstellungen einer mehr oder weniger gelungenen Abbildung von Realität hin zu Fragen der Bildwerdung und ihrer Bewusstmachung weisen. Mit der zuvor erwähnten dreifachen Gliederung soll nun keine chronologische oder sich steigernde Abfolge angedeutet werden, im Mittelpunkt stehen lediglich drei unterschiedliche Konzeptionen der Verbindung zwischen

11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Stefano Della Casa: „Pedinare la realtà - Quotidianità e vite scomode nei saggi degli allievi di Segre“, in: La Stampa – Torinosette, 19.07.1990, http://www.danielesegre.it/articolo.php?id=295, zuletzt aufgerufen am 1.3.2011. 13 Roland Barthes: Littérature et réalité, Paris 1982, S. 83.

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Bild(ern) und Realität, in deren Kontext ich Zavattinis Ansätze einordnen möchte. Dies ist tatsächlich nicht immer evident, zumal sich die Thesen des italienischen Neorealismustheoretikers über die Zeit hinweg verändert bzw. bestimmte Aspekte fokussiert haben, ohne eine durchweg überzeugende Kohärenz zu etablieren. Gleichwohl scheinen mir vor allem seine wissenschaftlich-experimentellen Alternativkonzepte wie das cinema autobiografico, der „film inchiesta“14, der „film-lampo“15 oder die kollektiven „cinegiornali liberi“16,17den Kontext einer binären Unterscheidung zwischen Realität und Bild insofern aufzugeben, als sie – so die These – in ihrer ethischen wie auch ästhetischen Dimension in erster Linie vom epistemologischen Potential der Kinobilder als solchen ausgehen: „[…] il cinema è un oggetto che rivela le cose, è uno strumento più di metodo che da ispirazio-

14 Vgl. Cesare Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 907-927. 15 „Quando realizzavo questi film negli anni ’50, mi nascevano i bisogni di filmlampo perché lo spazio tra la cosa successa e la sua proiezione sullo schermo fosse minimo, per avere ancora la fragranza: quindi vedi che già cominciavo ad avere molto chiaro il dato politico come fatto di milizia e di immediatezza.“ (Interview Giacomo Gambettis mit Zavattini, in: Giacomo Gambetti: Zavattini mago e tecnico, Rom 1986) Auch wenn die Forschung davon ausgeht, dass Zavattini letztlich nie einen solchen film-lampo realisiert hat, so stellt Zavattini selbst u. a. seinen Beitrag zum Omnibus-Film AMORE IN CITTÀ (I 1953), La storia di Caterina. Uno fatto vero in diesen Kontext. (Zavattini: „Film-lampo: sviluppo del neorealismo (1952)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 711-713. Zur Kritik Zavattinis Scheitern, vgl.: „Neorealismo, fatto morale (1954)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 782-799, besonders S. 783-790). 16 Cesare Zavattini: „Cinegiornali liberi (1968)“, in: Opere. Cinema, S. 976-997. 17 Anfang der 60er Jahre nimmt Zavattini eine Beschäftigung bei den Cinegiornali della pace (1962-63) auf, um sich kurze Zeit später den freien Kinowochenschauen zuzuwenden: Die „straordinaria utopia“ Zavattinis, sein neuer Modus, ein „cinema di informazione“ zu konzipieren, zeigt sich, so die Forschung, bereits 1935, wenn er zu Angelo Rizzoli von einem „giornali Luce a rovescio“ spricht.1(Vgl.http://www.cesarezavattini.it/biblioteche/Zavattini.nsf/b4604a8b5 66ce010c125684d00471e00/eb90b52bc871fe52c1256c5a006592e3?OpenDocu ment, zuletzt aufgerufen am 1.3.2011).

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ne.“18 Gleichwohl bedeutet dies nicht, die Realität über die Bilder oder die Bilder über die Realität zu stellen, vielmehr beschreibt Zavattini einen komplexen Prozess einer visuellen Bewusstwerdung und gleichzeitigen Formung des Menschenbildes im Bild, wie im Folgenden zu zeigen sein wird: „Nella scelta di un modo, invece di un altro, ci può essere un’intuizione di natura artistica, che arrichirà il fotogramma di vibrazioni umane. Si formeranno, sequenza dopo sequenza, gli atti e i pensieri dell’uomo; e il cinema, dopo aver raccontato tante favola, descriverà soltanto il diario di un uomo, un uomo fra tanti. L’autobiografia, ma diversa da quelle consueta a molta letteratura, ma autentica, a scavata sconfiggerà il commento a posteriori sulla vita […] il farsi dell’uomo davanti allo schermo.“19

*** Ad 1: Mit der Bezeichnung Bilder der Realität verbindet sich im Allgemeinen ein häufig als ‚naiv‘ bezeichneter Abbildrealismus, den man auch als das Vergessen-Machen des vermittelnden Mediums bei einem materiellem Mehr an Realität beschreiben könnte. Im italienischen Neorealismus zeigt sich dieser häufig mit filmsoziologischen und politischen Fragestellungen verbundene Ansatz vor allem in der marxistisch bzw. von einem sozialen Realismus geprägten Kritik des italienischen Filmkritikers und Filmtheoriehistorikers Guido Aristarco.20 Dessen Interpretationen liegt die Annahme einer vollständigen Transparenz des Mediums bzw. der bewegten Bilder zugrunde, die ohne Interferenz oder Störung auf die dahinterstehende Wirklichkeit öffnen, um direkte Rückschlüsse auf den sozioökonomischen und historischen Referenzhorizont zu ermöglichen und auf diese Weise sowohl Kritik wie auch die Reformulierung der nationalen Identität in der Nachkriegszeit zu erlauben. Im Vergleich zu dieser, auf Georg Lukács’ normativem Realismusbegriff basierenden und gegen Formexperimente argumen-

18 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 908. 19 Ebd., S. 914, Herv. B.O. 20 Vgl. u. a. Guido Aristarco: Dalla critica cinematografica alla dialettica culturale, Florenz 1975, Marx, il cinema e la critica del film, Mailand 1979, Neorealismo e nuova critica cinematografica, Florenz 1980 sowie zahlreiche Artikel in unterschiedlichen Fachzeitschriften und Zeitungen.

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tierenden Interpretation des italienischen Neorealismus, versteht Cesare Zavattini den neorealistischen Film weniger als Abbild der Realität, denn als privilegiertes Instrument zur analytisch-dokumentarischen Erforschung, Vermittlung und Erkenntnis des sozialen Alltags:21 „Nessun altro mezzo expressivo ha come il cinema questa ordinaria e congenita capacità di fotografare le cose che secondo noi, meritano di essere mostrate nella loro quotidianità, che vuol dire nella loro più lunga, più vera durata; la macchina ha infatti ‚tutto davanti‘, e vede le cose e non il concetto delle cose, ci aiuta almeno in questo senso. Nessun mezzo expressivo ha come il cinema la possibilità di far conoscere e al maggior numero di persone.“22

Ad 2: Die zweite Konzeption visiert die Realität der Bilder, und stellt die Frage nach ihrer Funktion, ihrer Materialität und Eigensinnigkeit. Cesare Zavattinis wiederholtes Opponieren gegen eine die Dinge überformende Storylastigkeit23 und den kapitalistischen Illusionismus des Hollywoodkinos ist an dieser Stelle ebenso anzuführen wie seine nicht nur im Falle des Tagebuchkinos zu konstatierende Verwandtschaft mit Projekten des

21 Vgl. Francesco Casetti: Teorie del Cinema 1945-1990, Mailand 1993, S. 29. 22 Cesare Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 718-736, hier: S. 722. 23 Wobei festgestellt werden muss, dass Zavattini zwischen den illusionserzeugenden und die Realität verdeckenden Hollywood-Plots und der allgemeinen grundlegenden Möglichkeit des Kinos, zu erzählen und (jemanden, etwas) erzählen zu lassen, unterscheidet, wie er in Ricardo Tortoras im Jahr 2000 erstellten filmischen Porträt IL CICLONE ZAVATTINI bestätigt: „Ti dico subito che il cinema era qualche cosa dovè bisognava raccontare. […] sentivo il cinema come una grande platea nella quale il primo che passavo poteva raccontare, raccontarsi […].“ (Der betreffende Ausschnitt kann online angesehen werden unter: http://www.rai.tv/dl/RaiTV/programmi/media/ContentItem-e2c399d9-d3fc415a-8677-356f24d981d0.html?p=0c, zuletzt aufgerufen am 10.3.2011.) Dabei stehe nicht die kinematographische Form einer erfundenen Geschichte, sondern das (neue) Sehen und Erkennen der Realität als Erzählung im Vordergrund: „Il tentativo vero non è quello di inventare una storia che somigli alla realtà, ma di raccontare la realtà come fosse una storia.“ (Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 723, 729)

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russischen Kinopioniers und Kino-Auges Dziga Vertov. Jener stützt sich auf seine Theorie des Kino-Auges – „Ich bin das Kino-Auge. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige Euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann... Daran arbeiten wir, Meister des Blicks, Organisatoren des Sichtbaren... Meister der Worte und Klänge, Virtuosen der Montage des Lebens.“24 –, das realisiert, was das menschliche Auge nicht zu erfassen mag. Zavattinis ethisches cinema autobiografico hingegen wird nicht in der die Beobachtungen zu einer Chronik verdichtenden Montage hergestellt,25 sondern setzt dort, wo es Vertov darum geht, das Leben zu überraschen und in seiner Essenz zu entlarven, auf die Performanz der Existenz in actu: „Quando io parlo di ‚diario‘, quando dico ‚tutto come diario‘ invito proprio a questo: a raccontare la vita non sul piano dell’intreccio, ma su quelle dell’esistenza.“26 Unter dem Begriff des „diario“ versteht der italienische Theoretiker folgerichtig nicht irgendein Tagebuch, „ma tutto ciò che è conoscenza degli altri et di noi stesi, immediata e non predisposta.“27 Das Ziel der (Selbst-)Erkenntnis des Ichs und des/der Anderen führen Zavattini im Folgenden zur Konzeption eines „‚film Luce‘ di se stessi“28 bzw. zur Vision eines neuen „giornale luce“29 von allen und für alle:30 „Ma non si tratta solo di fare film che facciano conoscere situazioni sociali, collettive. Come non conoscono bene il tessuto sociale, gli individui non conoscono se stessi; ecco perché io parlo in forma paradossale del ‚film Luce‘ di se stessi: perché se-

24 DER MANN MIT DER KAMERA (UdSSR 1929, R: Dziga Vertov), DVD: ARTE EDITION/absolut Medien, s/w, 67 Minuten, 2006. 25 Vgl. IL CICLONE ZAVATTINI, 0:00:33:00-0:00:34:00). 26 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 728. 27 Cesare Zavattini: „Basta con i soggetti (1950)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 687-692, hier: S. 690. 28 Vgl. ebenso: „Il neorealismo […] richiede che ognuno sia attore de se stesso.“ (Zavattini: „Alcune idée sul cinema (1952)“, S. 733) 29 Cesare Zavattini: „Che cos’è il film-lampo (1952)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 708-710, hier: S. 710. 30 Dieses Konzept mündet später in die intensive Beschäftigung Zavattinis mit den cinegiornali liberi, vgl. Zavattini: „Cinegiornali liberi (1968)“, S. 976-997.

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condo me, il vedersi sullo schermo nelle proprie azioni quotidiane […] può contribuire a riempire questo vuoto, questo diario, questa conoscenza, queste sfasature.“31

Gleichwohl – und dies wird später deutlich – sieht Zavattini auch in den giornale luce ebenso wie im film-lampo die Notwendigkeit der Selektion, die ebenso die Wahl des Modus bestimmt,32 wie sie sich aus der Begegnung mit dem Anderen erklärt.33 Besonders im Hinblick auf die epistemologische, aber auch auf die ethische Dimension eines erneuerten Neorealismus lässt sich eine gewisse Nähe zu Kracauers Theorie der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ wie auch zu Bazins Thesen bezüglich einer ethischen Ästhetik der „école italienne de la Libération“ erkennen.34 Beide, Bazin wie auch Kracauer, betrachten den Realismus letztlich als Effekt eines bestimmten filmästhetischen Programms, das im Folgenden vor allem unter dem Aspekt ihrer Gemeinsamkeit mit aber auch ihren Unterschieden zu Zavattinis Konzeptionen kurz skizziert werden soll. In seinem berühmten Buch Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit35 geht Kracauer davon aus, dass der Film als fotografisches Medium auf die äußere Realität gerichtet sei und sich von anderen Künsten dadurch unterscheide, dass er „ihr Rohmaterial mehr oder weniger intakt lässt“.36 So versucht er aufzuzeigen, dass ein bestimmter Blickwinkel, die Lichtsetzung oder auch Auswahl des Ausschnittes das Material zwar beeinflussten, das Filmbild sich der Oberfläche jedoch eher mechanisch einschreibe, als es durch den Künstler geformt werde. Gleichwohl geht es Kracauer nicht um einen naiven Abbildrealismus, wenn er als „äs-

31 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 726. 32 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 914, vgl. Anm. 19. 33 Cesare Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 741-752, hier: S. 745, vgl. Anm. 49. 34 Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 71985; André Bazin: „Le réalisme cinématographique et l’école italienne de la Libération (1948)“, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1999, S. 257-285. 35 Kracauer: Theorie des Films. 36 Ebd., S. 13.

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thetisches Grundprinzip“ für die „filmische Einstellung“ die Unterordnung der formgebenden in die realistische Tendenz fordert.37 Auf diese Weise nämlich beschwöre der „filmische Film“ (d.h. jener, der sich den Bestimmungen des Mediums anpasse) in seinen Bild- oder Aufnahmefolgen doch eine „umfassendere Wirklichkeit […] als jene, die [er] faktisch abbildet“, erzeugt mithin in der Durchdringung des Kontinuums der physischen Realität vielfältige Bedeutungen, die „auf eine Realität hin[weisen], die passenderweise ‚Leben‘“ bzw. bevorzugt „Alltagsleben“ genannt werden mag.38 So entspricht die realistische Tendenz nicht dem ‚unbewaffneten‘ Blick auf die Realität, vielmehr bezeichnet Kracauer damit jene „Kamera-Realität, um deren Einverleibung es dem Film zu tun ist,“39 und die „sichtbar [macht], was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht [z.B. aufgrund ideologischer Verhüllung40, B.O.] nicht einmal sehen konnten“.41 Hier zeige sich – so Rudolf Arnheims Lektüre des Kracauer’schen filmtheoretischen Ansatzes, wie er sie in seinem 1963 veröffentlichten Aufsatz Die ungeformte Melancholie vorstellt – Kracauers Bildbezogenheit, die seine Warnung erkläre, den „Bereich diskursiven Denkens zu erschließen, der nicht vom [zu ergänzen wäre: filmischen, B.O.] Bild abhängt“ 42. So errette der Film nicht die „äußere Wirklichkeit“, sondern eine bestimmte Fassung, ein bestimmtes Bild einer „grenzenlosen, unbestimmten, unergründlichen Welt“.43 Darüber

37 Ebd., S. 67. 38 Ebd., S. 109. 39 Ebd., S. 62. Vgl. ebenso: „Was jedoch das Filmische in einem Film ausmacht, ist nicht so sehr, dass er unserer Erfahrung der Realität, oder auch der Realität im allgemeinen, genau entspricht, vielmehr seine Versenkung in KameraRealität – sichtbare physische Existenz.“ (Ebd., S. 163) 40 Vgl. ebd., S. 388. 41 Ebd., S. 389. 42 Rudolf Arnheim: „Die ungeformte Melancholie (1963)“, in: Helmut H. Diederichs (Hrsg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt a. M. 2004, S. 403-416, hier: S. 405. 43 Ebd. In seinem dreißig Jahre zuvor erschienenen Aufsatz „Weltbild und Filmbild“ nimmt auch Arnheim auf den Bildbegriff Bezug und unterscheidet zwischen Wirklichkeitsbild und Filmbild: Während das Wirklichkeitsbild das Bild ist, das das menschliche Auge von der Wirklichkeit erhalte, so werde das Filmbild von der Kamera und dem Projektor für das menschliche Auge erzeugt.

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hinaus beschränke Kracauers materialgerechter Ansatz den „filmischen Film“ zwar auf die „realistische Tendenz“, gleichwohl führe er einige Beispiele an, die aufgrund der Bewegung (des Weiteren nennt er die Rahmung und Konservierung von Bildausschnitten) und mithin einer formalen (Bild)Kategorie annehmbar seien.44 In seiner Konzeption des italienischen Kinos der Nachkriegszeit konzentriert sich André Bazin ebenfalls auf bildwissenschaftliche Fragestellungen und prägt den diese Epoche kennzeichnenden Typus des „imagefait“,45das eine Tatsache weniger abbildet, denn bildet: „[L]a nature de ‚l’image-fait‘ n’est pas seulement d’entretenir avec d’autres ‚images-faits‘ les rapports inventés par l’esprit. Ce sont là en quelque sorte les propriétés centrifuges de l’image, celle qui permettent de constituer le récit. Considérée en ellemême, chaque image n’étant qu’un fragment de réalité antérieur au sens, toute la surface de l’écran doit presenter une égale densité concrete.“46

Wie Bazin, der stets darauf verweist, dass die Fragmente der Realität in sich vielfältig seien, und der Sinn sich erst im Nachhinein im Zusammenspiel mit anderen Fakten ergebe, betont auch Zavattini – neben der aufzufaltenden Tiefe des einzelnen Faktums – die bereits erwähnte Kraft der Verbindungen und sich ergebenden Relationen zwischen den Elementen.47 Bei diesen Verbindungen handelt es sich nun nicht um narrativ erzeugte Strukturen und Konstruktionen, sondern um ein aus den ausgewählten Dingen im Raum entstehendes Kino der Begegnungen:

(Vgl. Rudolf Arnheim: „Weltbild und Filmbild (1932)“, in: Diederichs: Geschichte der Filmtheorie, S. 332-352) 44 Vgl. Arnheim: „Die ungeformte Melancholie“, S. 406. 45 André Bazin: „Le réalisme cinématographique et l’école italienne de la libération (1948)“, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma, Paris 1999, S. 257-285, hier: S. 282. 46 Ebd., S. 282. 47 „L’unité du récit cinématographique dans Païsa n’est pas le ‚plan‘, […] mais le ‚fait‘ […] [f]ragment de réalité brute, en lui-même multiple et équivoque, dont le ‚sens‘ se dégage seulement a posteriori grâce à d’autres ‚faits‘ entre lesquels l’esprit établit des rapports.“ (Ebd., S. 282)

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„[O]gni rapporto con la cosa che si vuole communicare è un rapporto che implica una scelta e quindi un atto creativo del soggetto;

48

solo che nel nostro caso questo

soggetto consuma il ‚coito‘ tutto lì – in loco – invece di cominciarlo a contatto con l’oggetto per poi andarlo a finire in un’altra sede. Questo è quello che io chiamo cinema d’incontro“.49

Der direkte Kontakt der Kamera mit dem Anderen, die „rapporti tangibili“,50 stehen im Vordergrund von Zavattinis Ansatz einer neuen Form des Kinos, das nicht durch die Inhalte, sondern durch eine bestimmte „intuizione […] dell’attualità“51 sowie durch aktive und kollektive Partizipation der Protagonisten wie auch der Zuschauer – „une partecipazione diretta, e non con dei traslati“52 – innovativ erscheint: „Questo contatto, questa convivenza reale col prossimo, di partecizpazione, di solidarietà, che la cultura oggi potrebbe raggiungere per rinnovarsi, andare cioè verso gli altri animate da uno spirito d’inchiesta estremo, cioè poetico,53 che vuole ramificarsi in tutta la vita attuale, in ogni suo punto dello spazio e del tempo importante.“54

48 Vgl. hierzu Robert Bresson: „Erschaffen bedeutet nicht, Personen und Dinge verformen oder erfinden. Es bedeutet, zwischen Personen und Dingen, die existieren und so wie sie existieren, neue Beziehungen knüpfen.“ (Noten zum Kinematographen, München,Wien 1980, S. 13) 49 Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 745. Zur Thematik des „soggetto“, vgl. Zavattini: „Basta con i soggetti (1950)“, S. 687-692. Zum cinema d’incontro, vgl. auch: „Intendo andare io stesso incontro alle cose, immettermi in esse: il soggetto deve scaturire spontaneamente dal contatto fra le cose e me. Forse è qui la frattura, o la differenza, fra la letteratura et il cinema.“ (Cesare Zavattini: „Il cinema, Zavattini, e la realtà (1951)“, in: ders: Opere. Cinema, S. 702-707, hier: S. 703-704). 50 Cesare Zavattini: „Il neorealismo second me (1953)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 753-759, hier: S. 757. 51 Cesare Zavattini: „La solitudine di Zavattini (1958)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 844-859, hier: S. 853. 52 Zavattini: „Alcune idée sul cinema (1952)“, S. 730. 53 „[…] seguire per un giorno intero un uomo e poi farcene un rapport. E se non sarà un rapporto poetico?“ (Zavattini: „Il neorealismo secondo me (1953)“, S. 758) 54 Ebd., S. 756f.

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Zum ästhetischen Programm gehören bei Zavattini – ähnlich wie bei Bazin – 8mm oder 16mm Film, leichtere Kameras, Originalton, offene Bildkomposition, Plansequenzen, Echtzeiteindruck, Straßenszenen u. v. m. Auf diese Weise werden traditionelle filmdramaturgische Muster aufgelöst, konventionelle Regeln gebrochen – „[I]l neorealismo rompe tutti gli schemi, respinge tutti i canoni che non sono altro, in sostanza, che codificazione di limiti“55 – und der Zufall kann eindringen, um jene berühmt gewordenen toten Zeiten, sowie den aufgrund fragmentarisch bleibender Einzelbilder entstehenden Eindruck von Disparat- und Ungeformtheit hervorzubringen. Für diese Vielgestaltigkeit und Offenheit tritt auch Kracauer ein, wenn er von „Trümmern“ oder „Fetzen von Zufallsereignissen“ spricht, die an die Stelle sinnvoller Kontinuität treten.56 In der italienischen Filmgeschichte kämpft in den folgenden Jahren auch Pier Paolo Pasolini mit den Mitteln der Polyphonie und Multiplizität gegen die zwanghafte ideologische Gleichförmigkeit des Kapitalismus. Zavattini erkennt gleichwohl an, dass diese Haltung nur bedingt auf die Hochzeit des neorealistischen Film zutrifft. Vor allem in seinen zusammen mit Vittorio de Sica produzierten Filmen liegt der Schwerpunkt letztlich auf der Materialität der Objektwelt, auf der ungekünstelten Darstellung der Laiendarsteller, ihren verschmutzten oder von Schweiß gezeichneten Gesichtern, ihrer zerschlissenen Kleidung, den Gegebenheiten der (meist) realen on location-Drehorte, den Wohnblocks der Armenviertel, den Märkten und Straßen Roms. De Sicas formale Askese steht so im Gegensatz zu modernen Versuchen, den Eindruck von Wirklichkeit auf die Leinwand zu bringen, indem man mit gewollt verwackelter Handkamera und ähnlichen technischen ‚Mängeln‘ die Abwesenheit von Inszenierung erzeugen will. Eine gewisse Offenheit zeigt sich gleichwohl sowohl in Bezug auf das Ende der Filme wie auch in einzelnen Szenen, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Zavattini selbst entwickelt über die Jahre hinweg neue ästhetische Konzepte, die die De Sica’sche Regie- wie auch seine eigene Drehbucharbeit hinter sich lassen, um zu einer neuen, semi-dokumentarischen, politisch und in gleichem Maße sozial oder moralisch motivierten Bildsprache des italienischen Kinos zu gelangen.

55 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 731. 56 Kracauer: Theorie des Films, S. 386.

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Ad 3: In Bezug auf das Konzept des Bazin’schen image-fait konstatiert der Kinophilosoph Gilles Deleuze, dass es bei aller Innovation die (wenn auch nun formale) Referenz auf Realität nicht zu überwinden wisse. 57 Dieser Kritikpunkt führt mich zum letzten Abschnitt, der mit Realität als Bild überschrieben wurde. Dieses Konzept möchte ich im Sinne des Heidegger’schen Diktums der Welt als Bild (und nicht Bild(er) von Welt!) begreifen und aufzeigen, dass Welt respektive Realität als ein Modus nicht (nur) des Objektbezugs des Zeichens oder seiner Materialität, sondern als Prozess des Denkens des Bildes bzw. in Bildern aufzufassen ist, wie das folgende längere Zitat expliziert: „[…] Was ist das – ein Weltbild? Offenbar ein Bild von der Welt. Aber was heißt hier Welt? Was meint da Bild? […] Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist. Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. ‚Wir sind über etwas im Bilde‘ meint nicht nur, dass das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern dass es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. […] Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, dass es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellendherstellenden Menschen gestellt ist.“58

In seinen berühmten Kinobüchern zeigt Gilles Deleuze die Krise oder die Veränderung des Bildbegriffs von der Bewegung hin zu einem Bezug auf das Denken (der Bilder) am Beispiel des Zeitbildes im italienischen Neorealismo eindrücklich auf. Damit wird die Differenz zwischen einer Realität des Bildes und einer dargestellten Realität nicht etwa geleugnet, vielmehr

57 Vgl. Gilles Deleuze: Cinema 2. L’image-temps, Paris 1985, S. 10f. 58 Martin Heidegger: „Die Zeit des Weltbildes“ (1938), in: Gesamtausgabe, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S. 87f, Herv. B.O.

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geht es im Falle dieser Bilder nicht um materielle, auf Ähnlichkeit zu einem außerfilmischen Referenzobjekt zielende oder formal-ästhetische Abbildung, sondern um die – von Cesare Zavattini stets hervorgehobene – den Bildern eignende und eigene epistemologische Funktion, die Michelangelo Antonioni selbstreflexiv wendet: „Indem ich begann, die Welt mithilfe des Bildes zu verstehen, verstand ich das Bild.“59 Das Zavattini’sche Verständnis des Bildes respektive im Bild zu erkennende Potential soll nun anhand von vier Schwerpunkten, der Konzeption filmischer Zeit-Räume, dem Zavattini’schen Diktum des anti-narrativen Films, seinem Kampf gegen das Hollywood-Kino sowie dem epistemologischen Potential der Bilder erläutert werden.

Z EIT -R ÄUME Die bereits Jahr 1940 im Aufsatz „I sogni migliori“ geäußerte Vorstellung über die neue Art italienischer neorealistischer Filme beweist den innovativ-experimentellen Ansatz Zavattinis, den er mit Konzepten wie dem cinema autobiografico, dem film-lampo oder dem film-inchiesta verfolgen wird. Dabei handelt es sich um Filme wie „[…] il film dell’uomo che dorme, il film dell’uomo che litiga, senza montaggio e oserei aggiungere senza soggetto. Un episodio senza centro e casuale. Poter tornare all’uomo come all’essere, ‚tutto spettacolo‘.”60 Freilich erinnert besonders die Vorstellung des gefilmten schlafenden Mannes an das von Andy Warhol 1964 realisierte filmische Experiment SLEEP,61 gleichwohl besteht das Verhältnis zwischen filmischer und realer Zeit im Falle Warhols aus einer rhythmisierten Montage von Loops. So steht weniger die dargestellte Handlung als die Aufdeckung filmischer Illusion und die Hinterfragung von Erwartungen, die der Betrachter an das Medium Film stellt, im Vordergrund. Wenn Za-

59 Antonioni, zit. nach Carmine Chiellino: „Der neorealistische Film“, in: Italienischer Neorealismus. Sonderheft text und kritik, 63(1979), S. 19-32, hier: S. 22. 60 Cesare Zavattini: „I sogni migliori (1940)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 647651, hier: S. 649f. 61 SLEEP (USA 1964, R: Andy Warhol) schwarz-weiß, 311 min.

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vattini bereits 1950 von einem cinema di durata spricht,62 so geht es ihm primär darum, die Zeit ohne zeitraffende oder –dehnende Dramatisierung durch eine vorgängige Geschichte bzw. die Handlung zu zeigen und auf diese Weise eine spezifisch filmische Zeit zu konstruieren: „È il documento [cinematografico, B.O.] che viene avanti con il suo tempo vero ad indicare dove sta la vera epica; tradotto in valori sociali, tutto ciì significa che c’è la spinta ad interessarsi degli altri non più secondo la sintesi della narrativa del passato, ma con l’analisi che porta al riconoscimento della esistenza e della pena degli uomini nella loro reale durata.“63 Dieses Konzept findet sich bereits in einigen Ausschnitten aus UMBERTO D. realisiert, den ich – in Bezug auf die Erzeugung von Film-Zeit – mit einem Ausschnitt aus einem Film Chantal Akermans vergleichen möchte.64 Die berühmte Hausarbeitsszene aus dem Klassiker des italienischen Neorealismus zeuge von Zavattinis Obsession, der Realität eine fühlbare Kontinuität zu verleihen, „lo stesso che troviamo anche nella sequenza più rappresentativa del cinema della durata di Zavattini, ovvero ‚il risveglio della cameriera‘ in Umberto D, descritta da Bazin“.65 Die mit Hilfe der verschiedenen Beschäftigungsformen fragmentarisierte Zeit in den Bildern, die im Schnitt entstehende Zeit der Bilder wie auch die Neuzusammensetzung der Einzelbilder zu einer subjektiven oder inneren Zeit ergeben eine Chronik, die dem Bild, so ein weiteres Mal Antonioni, „von dem Medium selbst (dem Bild) garantiert werden könne“. 66

62 Vgl. Cesare Zavattini: „Cinema italiano domani (1950)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 693-696. 63 Cesare Zavattini: „Il cinema e l’uomo modern (1949)“, in: ders.: Opere. Cinema, S. 678-683, hier: S. 681. 64 UMBERTO D. (I 1975, R: Vittorio de Sica, Drehbuch: Cesare Zavattini), DVD: The Criterion Collection, USA, 2003, schwarz/weiß, 89 min., 0:11:24-0:15:12. 65 Emanuela Perozzi: „Cesare Zavattini: La rivoluzione dello sguardo (Oktober 2006)“,

http://cinema.tesionline.it/cinema/ approfondimento.jsp?id=2726, zu-

letzt aufgerufen am 14.3.2011. 66 Chiellino: „Der neorealistische Film“, S. 24.

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Abbildung 1: Szene aus De Sicas UMBERTO D.

Die absurd anmutenden toten Zeiten verlieren sich in der die Bewegung der jungen Frau einkreisenden Kamerafahrt, der halbherzige Versuch, sich der (im Drehbuch vorgesehenen) Ameisen mit Hilfe des auf sie gerichteten Wasserstrahls zu entledigen, lässt zufällig die Gelegenheit entstehen, über die Schwangerschaft zu sprechen. Hier wechselt die Kameraeinstellung und geht in einen dialogorientierten Schuss-Gegenschuss über, wobei die einsetzende Begleitmusik das narrative Einsprengsel dramaturgisch verstärkt. Abbildung 2: De Sicas UMBERTO D.

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Doch nur kurze Zeit später wechselt die Einstellung erneut, die Kamera erfasst die junge Frau nun von hinten und folgt ihr zunächst zu Umberto, dann weiter zum Schrank, dem sie eine Zeitung entnimmt. Sie zündet sie an der Herdflamme an und räuchert die Ameisen an der Wand aus. Die Bewegungen der jungen Frau lösen sich dabei von ihrer narrativen Funktion und folgen einer ornamentalen Logik, die weniger auf Handlungskontinuität oder -realität, denn auf die Darstellung der Dinge und Räume in ihrer Autonomie zielt.67

Abbildung 3: De Sicas UMBERTO D.

Abbildung 1-3 in: UMBERTO D. (I 1975, R: Vittorio de Sica)

Zum Vergleich mit der Darstellung ‚toter Zeit‘ oder ‚Zeit ohne Ende‘ sei hier die berühmte, gut zweieinhalb Minuten dauernde, lediglich mit spärlichen On-Tönen und mit gleichbleibender Einstellung heraus gefilmte Kartoffelschälszene aus Chantal Akermans 1975 publiziertem Film JEANNE DIELMANN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES, hier dargestellt in drei mehr oder weniger verschiedenen Stills, angeführt:68

67 Als Studie über einen mittelmäßigen Alltagsmenschen hielt Zavattini selbst übrigens UMBERTO D. für nur bedingt neorealistisch. (Vgl. Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 748; vgl. ebenso: „In certi film, come UMBERTO D., il fatto analitico è assai più evidente, sempre però nell’ordine tradizionale.“ (Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 724) 68 JEANNE DIELMANN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (F 1975, R: Chantal Akerman), DVD: Cinéart (5-DVD Chantal Akerman Collection 70’s), Farbe, 2007, 3:13:30 min.

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Abbildung 4: Szene aus Akermans JEANNE DIELMANN

In: JEANNE DIELMANN (F 1975, R: Chantal Akerman)

Hier nun ist – wie Heike Klippel präzise feststellt – „[d]ie […] Derealisierung […] so stark, dass sie in Widerspruch gerät zur Konkretion des Banalen, den die Szene ebenso vermitteln möchte.“69 Doch entsteht dieser Eindruck nicht bereits in manchen Momenten des vorangegangenen Beispiels? „Die Inszenierung einer solchen Handlung in ‚Real-Zeit‘ lockt mit dem Versprechen, dass hier etwas über die Realität des Gezeigten in Erfahrung gebracht werden kann, aber je länger die Szene andauert, umso mehr Zweifel stellen sich ein.“70 Während Akerman eine ‚dokumentarische‘ Frontalperspektive ohne Schnitt wählt, entstehen die Zweifel an der Zeit des Bildes in UMBERTO D. durch den kreisförmigen, die junge Hausfrau verfolgenden Schwenk der Kamera sowie die auffallende, leicht schräg von rechts gefilmte Untersicht des Schlussbildes, das die ‚Künstlichkeit‘ des Bildes verrät. (Vgl. Abb. 28) Die Bewegung der Kamera verweist auf die Enträumlichung und die gleichzeitige Entstehung beliebiger Räume, der Film beginnt, in einer zeitlichen Prozession auf der Stelle zu treten. Unterbrochen wird diese tote Zeit durch das bereits erwähnte, auf Dialog und Handlung angelegte Eingeständnis der Schwangerschaft. Der Neorealismus, so bekanntermaßen Deleuze, erschuf intuitiv den neuen Bildtypus des Zeitbildes, das die Wahrnehmung von ihrer motorischen Umsetzung abschneidet, die Aktion vom Faden trennt, der sie mit der Situation verband und den Affekt von der dazugehörigen Person löst: Die Wahrnehmungssituation löst sich nicht in eine Handlung auf, die Perzeption wird nicht nur auf die (in beiden Beispielen banale) Bewegung, d.h. die (alltägliche) Handlung beziehbar, sondern auf das Denken selbst bzw. das

69 Heike Klippel:Zeit ohne Ende. Essays über Zeit, Frauen und Kino, Berlin 2008, S. 160. 70 Ebd.

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Denken der Wahrnehmung der Bilder. In seiner Arbeit über die zweite Moderne beschreibt Oliver Fahle, wie der Film einerseits die Gegen- in Zustände auflöse, andererseits aufgrund seiner Indexikalität fest mit den Dingen verbunden bleibe: So markiere der Film die Grenze zwischen der Repräsentation der Realität und der Präsenz des Bildes, doch das kinematographische Bild sei flüchtig, und Fahle beschreibt dies als Spannungsverhältnis zwischen dem Bild der Realität und der Realität des Bildes bzw. als Trans- (ich würde vorschlagen De-)formation des Filmes zwischen Sichtweise und Sichtbarkeit.71 So existiert die Bildlichkeit – wie Manfred Faßler konstatiert – nicht „durch sich“,72 sondern als „modellierte Sichtbarkeit“,73 die auf epistemische Programme, d.h. auf Codesysteme und Regeln des Sehen-Könnens, verweist.74 Während Deleuze diese Deformation im Zeitbild erkennt, scheint sich eine weitere filmische Operation, dieses Mal jedoch auf die spatiale Dimension bezogen, zu ereignen. Auch wenn Deleuze davon spricht, dass das Zeitbild dann entstehe, wenn die Bilder in einem Prozess von Wiederholung und Differenzbildung aus dem Raum fallen, werden sie doch in der Enträumlichung zu einem „espace quelconque“75 dem Leben gleichermaßen denkerisch gerecht. Seit der topologischen Wende wird der geographische Raum als kultureller wahrgenommen, als Ergebnis sozialer Beziehungen und Handlungen, deren Wahrnehmung den realen Raum überformt. Das Kino ist eine für die Moderne maßgebliche Kulturtechnik des Raumes, die mit Hilfe filmischer Verräumlichungsstrategien verschiedene Raumrepräsentationsmodi verständlich machen kann. Doch zunächst ist zu konstatieren, dass der Raum nicht das ist, was gegeben ist.76 Demzufolge bildet der Film auch den Raum

71 Vgl. Oliver Fahle: Jenseits des Bildes: Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000. 72 Manfred Faßler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Köln,Weimar 2002, S. 27. 73 Ebd., S. 80. 74 Vgl. ebd., S. 64. 75 Deleuze: Cinema 2. L’image-temps, S. 157. 76 Marc Ries: „Zur Verströmung des Films an für ihn uneigentliche Orte. Geoästhetische Reflexionen zu Kino und Gegenwart“, in: Nach dem Film, 1/9/2004, online unter: http://www.nachdemfilm.de/content/zur-verstr%C3%B6mung-desfilms-f%C3%BCr-ihn-uneigentliche-orte, zuletzt aufgerufen am 14.3.2011.

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oder die kulturellen Praktiken der Raumerzeugung nicht einfach nur ab (dann wäre er lediglich eine Belegstelle für soziologische oder kulturwissenschaftliche Forschung), vielmehr ist von Wechselbeziehungen zwischen Räumen auszugehen, deren Konzeptionen innerhalb der Konstruktion des filmischen Raumes sichtbar gemacht werden können. Eine bestimmte Anzahl von Elementen bzw. bewegten Objekten stehen miteinander in Verbindung bzw. werden in Beziehung gesetzt. Die solcherart medial implementierte Beziehungsstruktur ist hierbei von besonderem Interesse, denn erst wenn die Teile in Kontakt miteinander treten – z.B. durch Bilderwiderungen mit Hilfe assoziativer und dialogischer Schnitt-Gegenschnittverbindungen, fortgesetzter Bewegungsabläufe, Parallelmontagen, Schichtungen von gleichen Bewegungsrichtungen und -stilen sowie der Tonebene etc. – kann man von Verräumlichung, vom Werden eines sozialen Raumes und einem Sinn respektive seiner (medialen) Bildung sprechen. Im klassischen Film findet eine kausalmotivierte Handlung in einem physischen Raum statt und lässt auf diese Weise einen sozialen Interaktionsraum entstehen, in dem nicht jeder für sich allein und vor sich hin handelt, sondern in dem Verbindungen stattfinden können. In der hier gezeigten Bildabfolge bzw. der angedeuteten Sequenz jedoch lösen sich die Bewegungen von ihren narrativen, handlungs- oder bildtragenden Funktionen und bieten die von Robert Bresson beschriebene Möglichkeit, den Film „wie eine Kombination von Linien und Räumen in Bewegung außerhalb dessen [zu sehen], was er abbildet und bedeutet“77 zu betrachten. Der neorealistische Film, wie Zavattini ihn begreift und in einzelnen Ausschnitten auch schon früh realisiert hat, beginnt ‚einfach so‘, die gezeigte filmische Welt ist nicht als Abfolge von Taten mit Folgen und Ursachen konzipiert. Es gibt – so z.B. in LADRI DI BICICLETTE – eine Vielzahl von Außenräumen, die jedoch weitestgehend in relationalen Räumen wie unstrukturierten offenen Plätzen, halb städtischen, halb vorstädtischen Gegenden und unbefestigten Böden oder Durchgangsräumen wie Haltestellen und Brücken bestehen. Die Lage der Räume zueinander bleibt eher unklar, was vor allem durch die auffallend nicht-klassische Kameraführung, z.B. aufgrund der fehlenden Syntax der Einstellungsgrößen, erzeugt wird. Als nicht nur in dieser Hinsicht eindrucksvoll darf die Szene der ersten gemeinsamen Fahrt mit dem neuen Fahrrad zur Arbeit gewertet werden. Die Kameraeinstellung

77 Robert Bresson: Noten zum Kinematographen, S. 52.

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der unten durch Stills angedeuteten Sequenz erinnert an die Begeisterung des frühen Films für jegliche Art von Bewegung im Bild und der Bilder.78 Die Kamera nimmt die Ankommenden in Empfang, die von schräg unten aufgenommenen Bilder verweisen auf die Sichtbarmachung einer hierarchischen Ordnung, die jedoch durch die Verweigerung einer narrativen Auflösung dekonstruiert wird. Auf diese Weise entstehen ungewohnte Raumbilder, die in erster Linie durch die geometrische Bildaufteilung sowie die nahezu ornamental wirkenden Bewegungsrichtungen der Objekte, zeitweise die Abkehr vom klassischen Handlungskino vollziehen.

Abbildung: Szene aus De Sicas LADRI DI BICICLETTE

In: LADRI DI BICICLETTE (I 1948, R: Vittorio de Sica)

Wenn die Linien und Bewegungen in LADRI DI BICCICLETTE im wesentlichen unmotiviert, ein va-et-vient bleiben, so unterstreicht dies die Eigenschaftslosigkeit eines ohne vorgängiges Raumbild entstehenden spatialen Potentials, das mit Deleuzes „espace quelconque“ im Sinne eines „espace de conjonction virtuelle saisie comme pur lieu du possible“,79 beschrieben werden kann. Gleichwohl können Räume dieser Art, wie Reda Bensmaia erkennt, zu jedem Zeitpunkt konkretisiert, zu „lieu[x] pratique[s]“ oder „espace[s] effectué[s]“ werden:80 Wenn sich die Bewegungen von ihren

78 Die Stills stammen aus folgender DVD-Produktion : LADRI DI BICCICLETTE (I 1948, R: Vittorio de Sica, Drehbuch: Cesare Zavattini), Multimedia San Paolo 2002 , s/w, ca. 90 min., 0:16:02-0:16:44. 79 Gilles Deleuze: Cinéma Tome 1: Image-Mouvement, Paris 1983, S. 155. 80 Vgl. Reda Bensmaia: „L’espace quelconque comme ‚personnage conceptuel‘“, in: Lorenz Engell; Oliver Fahle (Hrsg.): Der Film bei Deleuze – Le cinéma selon Deleuze, Weimar 1997, S. 140-165, hier: S. 146-148.

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handlungs- und bildtragenden Funktionen lösen, scheint die Virtualität des einen die Aktualisierung des anderen auszuhebeln, in der konkreten Nutzung der Plätze durch die Fußgänger und Fahrradfahrer zeigt sich ihre effektive Funktion.

A NTINARRATIVITÄT Im Bezug auf die zuvor bereits erwähnte Abkehr vom klassischen Handlungskino hält Zavattini ein schönes Beispiel bereit: Würde ein amerikanischer Produzent eine Szene mit einem vorbeifliegenden Flugzeug konzipieren, so sähe sie folgendermaßen aus: „Passa un aeroplano, mitragliatrice che spara … L’aeroplano cade.“ Die italienische Version hingegen sähe ganz anders aus: „Passa un aeroplano, … l’aeroplano passa di nuovo … l’aeroplano passa ancora una volta …“81 Zeitlebens kämpft Zavattini gegen jenen in der Nachkriegszeit herrschenden Hollywood-Konventionalismus82 und dessen kapitalistische Vereinfachung bzw. Sinnvereinheitlichung auf der Basis vorgängiger Narrationen, die mit Hilfe von Bildern (lediglich) visualisiert werden: „[…] la più importante novità del neorealismo mi sembra perciò che sia quella di essersi accorti che la necessità della ‚storia‘ non era altro che un modo inconscio di mascherare una nostra sconfitta umana e che l’immaginazine, così come era esercitata, non faceva altro che sovrapporre degli schemi morti a dei fatti sociali vivi.“ 83 So gehe es nicht um die bloße Sichtbarmachung von Vorhandenem, vielmehr sei es das Kino selbst, das die „storia“,84 wenn man sie noch so nennen könne, mit seinen eigenen Mitteln hervorbringen solle: „Il tentativo vero non è quello di inventare una storia che somigli alla realtà, ma di raccontare la realtà come fosse una sto-

81 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 720. 82 Dieser Perfektion – so Zavattini – sollte mit seinen Experimenten etwas entgegengesetzt werden: „Intendo soltanto dire con il mio esperimento che la fantasia fermenta nei difetti:se l’ultimo cinema dal trenta al quaranta, è di rado sorprendente, dipende dalla sua crescente perfezione commerciale. Ahimè, arriveremo anche noi alla organizzazione americana.“ (Zavattini: „I sogni migliori (1940)“, S. 647) 83 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 718. 84 Ebd., S. 729.

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ria.“85 Besser noch sollten die Dinge, so, wie sie sind, „al massimo“ signifikativ werden, und sich als Akteure quasi „da sole“86 erzählen. Dies beschreibt die bekannte paradoxale Aufgabe des Mediums, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, um etwas anderes erscheinen zu lassen, was freilich beinhaltet, dass das Medium sein Verschwinden inszeniert. Für Zavattini stellt dies in erster Linie ein technisches Problem dar, das man u. a. mit einer 8mm oder 16mm-Kamera oder anderen Möglichkeiten87 lösen könnte. Zavattini verweist hier auf einen Film des italienischstämmigen Dokumentarfilmers Mario Ruspoli: „Non ho dubbi che un regista, il quale voglia davvero rappresentare una cosa […] possa inventarsi i mezzi tecnici con cui accostarsi alla sua materia; nun è un segreto che il francese Ruspoli si sia costruita una macchina da presa per girare il suo film sui malati di mente.“88 Dabei jedoch beschränkt sich Ruspolis cinéma direct (so sein eigener Begriff) ebenso wie Zavattini keinesfalls puristisch auf reine Direktaufnahmen. In erwähntem Film, REGARD SUR LA FOLIE,89 liest Michel Bouquet einen Off-Kommentar, während eine junge Frau, die einige Male

85 Ebd., S. 729. 86 „Oggi non si tratta più di far diventare realtà (far apparire vere, reali) le cose immaginate, ma di far diventare significative al massimo le cose quali sono, raccontate quasi da sole.“ (Ebd., S. 721) 87 Gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Kinos setzt er auf die technischen Mittel wie leichtere und handlichere Kamera oder den 8mm oder 16mmFilm, wenngleich er ihn selbst nie verwendet hat: „Credo che la mia colpa sia di non aver fatto, magari vendendomi le scarpe, come si dice, un film se vuole sperimentale, ma dove ci fosse lo sviluppo del discorso che ho fatto insieme agli altri, se vuole con maggior insistenza, con maggior tenacia.“ (Zavattini: „La solitudine di Zavattini (1958)“, S. 846) 88 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 920. Ruspoli gehört zu den Experimentierern im Bereich der Technik (z. B. leichte Kameras, die ersten Synchrontonaufnahmegeräte etc.), die in den Dienst des dokumentarischen Ansatzes eines cinema direct (Ruspoli bevorzugt diesen Begriff anstelle des cinéma vérité) gestellt werden. Ruspoli war auch im theoretischen Bereich tätig und verfasste 1963 das Manifest Groupe synchrone cinématographique léger. 89 REGARD SUR LA FOLIE (F 1961, R: Mario Ruspoli), 35mm, schwarz-weiß, 53min.

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selbst im Bild erscheint, verschiedene Fragen stellt. Zuweilen wird der Ton nicht-synchron über die Bilder gelegt. So wird z.B. ein wunderbares Travelling über die Betten im Schlafsaal mit Stimmen der Ärzte unterlegt, was den Eindruck der Einsamkeit des Ortes verstärkt. Auf diese Weise werden Bilder und die Töne in der filmischen Rekonstruktion dissoziiert oder neu zusammengebracht, wie dies auch für die Zavattini’schen Beiträge zu AMORE IN CITTÀ (1953) oder I MISTERI DI ROMA (1963) gedacht war. Während die reale Geschichte Caterinas, in STORIA DI CATERINA. UN FATTO VERO von Zavattini selbst sorgfältig rekonstruiert und von Caterina Rigoglioso und ihrem Sohn Carletto selbst in den Hauptrollen nachgespielt wurde, hat Zavattini für den im italienischen zeitgenössischen Kino innovativen Inchiesta-Langfilm I MISTERI DI ROMA mit 15 jungen Regisseuren sowohl das Drehbuch als auch die Regie gemeinsam erarbeitet. Dem Ergebnis allerdings stand er kritisch gegenüber und bemängelte u. a. die Tatsache, dass der Film leider noch keinen neuen dokumentarischen Weg aufzeige: „Questo film farà sembrare vecchio il documentarismo tradizionale senza essere, per suo conto, nuovo.“ Gleichzeitig jedoch stellte er fest, dass der Film genau dort überzeuge, wo er sich von Genrevorgaben befreie und verschiedene filmische Mittel gleichzeitig zum Einsatz bringe: „Ho notate che, dove il contenuto è forte, la forma si libera dell’unidemsionalità del documentario tradizionale. […] Un documentarista usuale si allenta sulle cose, mentro uno ti dipo nuovo indice una situazione e passa oltre.“90 Wenn auch beide Filme heutzutage weitgehend in Vergessenheit geraten sind, so erscheint mir doch genau die Bewegung dieses hybriden Kinokonzeptes kennzeichnend für den von Zavattini propagierten neoneorealistischen Film: „[…] l’immaginazione e l’occhio sono proprio la chiave del mezzo tecnico. La macchina quindi non fotografa, non deve fotografare ciò che l’abbiamo pensato, ma fotografare ciò che pensiamo nell’atto stesso in cui vediamo.“91 Beim Sehen Bilder (des Sehens, B.O.) zu machen, so hat Frieda Grafe dies an anderer Stelle formuliert.92

90 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 918 und 919. 91 Zavattini: „Basta con i soggetti (1950)“, S. 689, Herv. B.O. 92 Vgl. Frieda Grafe: „Der Mann mit der Kamera im Kopf“, in: Süddeutsche Zeitung (München), Nr. 10, 13/14.1.1979, S. 139.

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A NTI -H OLLYWOOD ODER : E IN K INO VON ALLEN UND

FÜR ALLE

In der Vorstellung, die Bilder in (sich selbst bildenden) Formen von Chroniken der Kontingenz oder „Wochenschauen unserer selbst“93 zu konzipieren, zeigt sich erneut Zavattinis Verwandtschaft mit dem Kino Vertovs, vor allem aber auch mit dem amerikanischen Avantgardisten Jonas Mekas oder der Internetplattform YouTube, die – wie in Zavattinis cinema autobiografico – jedermann – und vor allem den jungen Menschen94 – eine eigene Kamera geben wollen, und auf diese Weise Zavattinis Idee eines Kinos „di tanti […] per tanti“95 realisieren: „Urgeva invece impadronirsi del mezzo con un costo così esiguo da metterlo alla portata di molti, degli individue, come la carta, l’inchiostro, la plastilina, i colori: introdurre nelle case pellicole e obittivi come la macchina da cucire.“96 So – wie Zavattini an anderer Stelle ausführt – formen sich die Menschen auf dem Bildschirm und im Prozess der Bildwerdung zeige das Kino die Bedeutungen, Beziehungen und Relationen im sozialen Raum auf: „[…] la sua funzione più precisa sia di occuparsi di quello che veramente succede in quanto proprio il cinema può dare a qualsiasi avvenimento piccolissimo e grande, ricostruendolo o, meglio ancora, ritenendolo durante il suo formarsi, la suggestione e il monito che esso per sua natura contiene, la rivelazione del nostro posto esatto nella società con il confronto visibile tra noi e le persone e le cose che ci circondano, tra i nostri atti e quelli degli altri.“97

Zavattinis häufig besprochene, leider kaum ernsthaft umgesetzte Konzeption des Blitz- oder Augenblickfilms, film-lampo, bekräftigt diese Konstruk-

93 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 726. 94 „La macchina da presa deve essere data in mano ai giovani: la macchina da presa, non un soggetto.“ (Zavattini: „Basta con i soggetti (1950)“, S. 690.) 95 Zavattini: „Cinegiornali liberi (1968)“, S. 980. 96 Zavattini: „I sogni migliori (1940)“, S. 648. 97 Cesare Zavattini: „Che cos’è il film-lampo (1952)“, in: ders.: Opere. Cinema, Mailand 2002, S. 708-710, hier: S. 708f, Herv. B.O.

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tion, die die dem Kinematographischen eigene Zeitlichkeit von Unterbrechung, Wiederholung (mithin Aufhebung einer temporalen Teleologie) und Verflüssigung ins Spiel bringt, um den Film respektive das Filmen zu einem kinematographischen Happening auf der Piazza, in der Straße etc. zu gestalten: „Ecco che cos’è un film-lampo. È un film girato per queste ragioni in un paio di settimane, magari con un cattivo operatore, un film che deve costare pochissimo e pertanto può evadere dalle leggi del capitale che deviano il cinema dalla suo missione. È un film affidato a persone disposte a interpretare sullo schermo l’esperienza compiuta realmente o che stanno per compiere. Il film-lampo cerca dunque di rompere gli impacci formali del cinema perché fra l’altro non ha bisogna di quella carovana di macchine et di gente […].“98

Dies verweist freilich ebenso auf die erwähnten Praktiken der Avantgarde bzw. des Web 2.0 wie auf die Charakteristika der urbanen Filmethnographie der 60er Jahre, wie wir sie aus dem französischen cinéma vérité, dem englischen free cinema („kitchen sink realism“) oder dem amerikanischen direct cinema kennen. Im Unterschied besonders zum letzteren jedoch betont Zavattini stets die Möglichkeit der Rekonstruktion und Wiederholung, wie im bereits erwähnten Film STORIA DI CATERINA: „Ho un mezzo nelle mani per conoscere meglio come stanno le cose, il cinema, e o lo uso disciplinatamente, pronto a ogni richiamo, perché si tratta di capire nel gesto, nell’atto, nella parola, nella scena ripetuta e con il distacco che deriva appunto dalle ripetizione, un momento rivelatore del significato della nostra presenza nel mondo e più precisamente nelle cronaca, nella quotidianità, nella continuità.“99

Diese Alltäglichkeit und Kontinuität jedoch – und dies muss vor allem im Hinblick auf das bereits Aufgezeigte erwähnt werden – besteht nun nicht allein darin, die Kamera auf die Geschehnisse zu richten, sondern jene in einem zweiten Schritt – und hier scheint Zavattini Vertov doch sehr nahe – Bilder wie Worte auszuwählen und zu rhythmisieren: „[P]arlo prorio

98 Ebd., S. 709. 99 Zavattini: „Film-lampo: sviluppo del neorealismo (1952)“, S. 711-713, hier: S. 713.

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d’andare in giro con la macchina da presa […] Poi faccio con le parole quello che faccio con le immagini: scelgo, taglio il materiale raccolto per dargli il giusto ritmo, per coglierne l’essenza, la verità.“100

E PISTEMOLOGISCH - MORALISCHES P OTENTIAL Tatsächlich steht in der nach den 40er und 50er Jahren weiterentwickelten und erneuerten Zavattini’schen Theorie nicht die ontologische Dimension, sondern der epistemologische Aspekt des Neorealismus im Vordergrund. So geht es nicht um naturalistische Darstellung der äußeren Realität, die Idee des cinema autobiografico oder film-inchiesta besteht in erster Linie in der „scoperta dell’attualità“,101 in der Selbsterkenntnis durch Vermehrung des Wissens um den Anderen. In diesen Kontext ist auch Zavattinis Konzept des pedinamento oder das cinema della presenza einzuordnen,102 das in der schattenhaften Verfolgung einzelner Personen respektive der(en) Realität in ihrer „reale durata“103 besteht: „[…] il tempo è mature per buttare via I copioni e per pedinare gli uomini con la macchina da presa.“104 Grundlage bildet der in dem Artikel „I sogni migliori“ beschriebene „sguardo del cieco“,105 der fähig sei, neue Modi zu entwickeln, die Realität zu erzählen und den Anderen in seinen alltäglichsten Gesten zu beobachten, eine Art „sguardo straniante“, ein neuer, geduldiger Blick, der Zeit hat, um die (Bilder der) Realität in ihrer quasi simultanen Erkundung und (Re)Konstruktion zu sehen und zu verstehen.106 Freilich muss auch der Künstler diese Realität erst sehen lernen,107 denn der neue Neorealismus geht von

100 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 731 und 734. 101 Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 742. 102 Vgl. Perozzi: „Cesare Zavattini: La rivoluzione dello sguardo (Oktober 2006)“, o.S. 103 Zavattini: „Cinema italiano domani (1950)“, S. 695. 104 Zavattini: „Il cinema, Zavattini e la realtà (1950)“, S. 705. 105 Vgl. Zavattini: „I sogni migliori (1940)“, S. 649-650. 106 Vgl. Alessia Ricciardi: „The Italian Redemption of Cinema: Neorealism from Bazin to Godard“, in: The Romanic Review 97, Nr. 3-4(2006), S. 483-500. 107 „[…] E il problema morale (come quello artistico) sta nel saperla vedere questa realtà, non nell’inventare al di fuori di essa, che è sempre una forma, come

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einer moralischen Position aus, aus der die Erkenntnis der eigenen Zeit und Geschichte mit den spezifischen Mitteln des Kinos entsteht:108 „[L]a sua funzione [diejenige des Films, B.O.] più precisa sia di occuparsi di quello che veramente succede in quanto proprio il cinema può dare a qualsiasi avvenimento piccolissimo e grande, ricostruendolo, o meglio ancora, ritenendolo durante il suo formarsi […] la rivelazione del nostro posto esatto nella società con il confronto visibile tra noi e le persone e le cose che ci cirondano, tra i nostri atti e quelli degli altri.“109

Im entstehenden Bild zeigt sich die Botschaft, gleichzeitig die entstehende Botschaft das Bild, was – so Zavattini – sowohl „un nuovo rapporto di produzione artistica che non solo modifichi la nostra arte, ma che produca i suoi effetti sulla vita“110 wie auch eine höhere Form der Zusammengehörigkeit zwischen den Menschen schaffe. Die registrierende Kamera filmt vagabundierend die alltäglichen Ereignisse, Begegnungen und Fakten, mithin eine Realität, die sich ihr erzählt und die sie erzählt. Während in diesem Kino der „ciechi e die veggenti“111 Kameramann, Figuren und Zuschauer noch zu relativ passiven Aufnahmegeräten monstrierender Visionen geraten, in denen die Handlung auf ein Basisgerüst reduziert und Gegenstände und Milieu in ihrer autonomen Realität ohne vorgängige Funktion erscheinen, ändert sich dies im film-inchiesta, der sich in die Tradition des französischen cinéma vérité stellt: Während Zavattini im Rahmen seiner anfänglichen Begeisterung für Chronique d’un été für die „teoria del coinquilino“112 interessierte, verlagerte er Ende 1960 seinen Fokus darauf, z. B. eine ganze Familie einen Tag lang zu begleiten, mithin eine Art Reality-Doku, wie sie heutzutage auf allen Fernsehsendern zu Hause ist. Die geforderte enge aktive Kollaboration zwischen Regisseur und Protagonist biete – so Zavattinis Idee – zahlreiche stilistische Möglichkeiten, von einem „racconto ogget-

ho già detto, di evasione.“ (Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 723; über die eskapistische Tendenz des ‚alten‘ Kinos, vgl. ebd., S. 719) 108 Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 742. 109 Zavattini: „Che cos’è il film–lampo (1952)“, S. 708. 110 Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 743. 111 Zavattini: „I sogni migliori (1940)“, S. 650. 112 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 919.

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tivo, quasi ottocentesco“ zu einem „esame introspettivo“, von der „dalla confidenza privata al racconto documentaristico“113 zu gelangen. Dabei ist Zavattini sich durchaus bewusst, dass die Anwesenheit der Kamera oder des Filmteams das Ergebnis beeinflusst, eine andere „convivenza“ und mithin eine „diaristica di tipo nuovo“114 hervorbringe. So entwickelt Zavattini seine Idee eines Kinos der Präsenz (der Bilder) als epistemologisches und gleichzeitig moralisch-ethisches Instrument: „[I]l prepotente desiderio del cinema di vedere, di analizzare, la sua ‚fame di realtà‘ è l’omaggio concreto verso gli altri, verso tutto ciò che esiste.“115 Ein Kino des Sehens, das geläufige Bilder, Sprachformen und Klischees unterläuft, sie dekonstruiert, um der Vielgestaltigkeit und Offenheit der (Film-)Bilder Raum zu verleihen. 116 Unter Absehung einer vorfabrizierten Narration fordert Zavattini immer wieder einzelne, für sich stehende Bilder und Daten, die die Realität der Dinge ausgraben oder aufdecken, was an Kracauers Entbergung des Rohmaterials wie auch der Bazin’schen Metaphorik der Freilegung und Durchdringung zum Wesentlichen ähnelt:117 „Ogni momento è infinitamente ricco. Il banale non esiste. Basta scavare e ogni piccolo fatto diventa una miniera. Che vengano finalmente i cercatori d’oro a scavare nella sconfinata miniera della realtà.“118 Gleichwohl geht es ihm offensichtlich nicht um eine den Blick auf die Realität freigebende Transparenz der Bilder, vielmehr steht die analytisch-epistemologische Funktion des präsentischen Filmes im Vordergrund, der zu einer durch den Zuschauer zu vollziehenden moralisch dominierten (Re-)Synthetisierung119 bzw. einer „storia (se ancora così si può chiamare)“120 auffordert. Denn Zavattini ist sich sehr wohl bewusst,

113 Ebd., S. 921. 114 Ebd., S. 914. 115 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 719. 116 Auf diese Offenheit bezieht sich Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 727: „Il neorealismo non offre soluzioni, non dicia strade. I finali dei film neorealistici sono evasivi al massimo.“ 117 André Bazin: „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“, in: ders.: Filmkritiken als Filmgeschichte, München, Wien 1981, S. 41-62, hier: S. 47. 118 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 730. 119 Zavattini: „Tesi sul neorealismo (1953)“, S. 746. 120 Zavattini: „Alcune idee sul cinema (1952)“, S. 729: „[…] storia (se ancora così si può chiamare) […].“

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dass die Dinge, die mit der Kamera, mithin im Bild gesammelt werden, nicht von ihrer Interpretation und damit der Spezifika des Filmbildes getrennt werden können: „Un dato grezzo si trasforma anche se ripreso da destra invece da sinistra, se osservato più o meno a lungo, se è accostato col sonoro o senza di esso. La serie d’interpretazioni del dato è infinita.“121 So ist unter der oben erwähnten Re-Synthetisierung nicht die Rückerstattung eines vorgängigen Sinns durch den Film zu verstehen;122 weder soll der Film die Mängel der Realität verdecken oder kompensieren noch soll die Wirklichkeit nachträglich überformt werden, vielmehr geht es darum, die Welt, die Realität und sich selbst als und im Bild (und nicht durch das Bild hindurch!) in der Wiederholung bzw. der Rekonstruktion einzelner Momente und Ereignisse in ihrer eigenen (filmischen) Zeit zu begreifen.123 Diese Auffassung der Performativität des Ereignisses bestätigt auch Renato Barilli in seiner Einführung zu den literarischen Opere Cesare Zavattinis: „[L]’evento, per lui, non si pone mai altrove, ma dentro la scrittura, non è mai un già fatto, un già accaduto di cui si debba tener conto a posteriori nel modo più esatto possibile, ma è sempre un farsi, un darsi in atto.“124

*** Dem weiter oben beschriebenen Raum ohne Eigenschaften entspricht der „Film ohne Eigenschaften“, von dem Lorenz Engell gesprochen hat.125 Doch während Engell davon ausgeht, dass hier die Möglichkeit geschaffen wird, die eigentliche Uneigentlichkeit (das Mediale oder den medialen Raum) mit Eigentlichkeit zu füllen, bleibt dies in Zavattinis Konzeption aus. Der Wirklichkeit soll nicht nachträglich durch die Ästhetik des Films Sinn zugewiesen werden, vielmehr scheint mir, dass hier der Prozess der

121 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 907. 122 Lorenz Engell: „Im Bergwerk der Wirklichkeit“, in: ders.: Sinn und Industrie, Frankfurt, New York 1992, S. 159-189, hier: S. 163. 123 Vgl. Zavattini zu Wiederholung und Rekonstruktion: „Film-lampo: sviluppo del neorealismo (1952)“. S. 711-713. 124 Renato Barilli, zit. nach Marco Argentieni: „Introduzione“, in: Zavattini: Opere. Cinema, S. 599-635, hier: S. 629. 125 Engell: „Im Bergwerk der Wirklichkeit“, S. 164.

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Bildwerdung von Realität filmisch aufgezeigt und ein gegen das (traditionelle) Medium Film gerichtetes Programm mit neuen filmischen Formen realisiert werden soll: Fare il cinema non facendo il cinema è forse la mia vera vocazione. Facendo il cinema cerco di non fare il cinema, di evitare il film – so könnte Zavattinis Kinodevise in Anlehnung an seine literarische Berufung lauten.126 Dieses Programm führt ihn vom autobiographischen Film über den film-lampo und den film-inchiesta zu den cinegiornali liberi, einer Art Guerilla-Kino127 mit aktiv partizipierenden Zuschauern als demokratisch agierenden Co-Autoren,128 die als dezentralisierte Graswurzel„cineamatori“129 gegen das Informationsmonopol des Staates arbeiten: „Il loro [i spettatori, B.O.] porsi davanti allo schermo diverrà […] non una contemplazione viziosa ma un dialogo attivo. E comprenderanno che I fatti non nascono da soli, ma nascono perché noi partecipiamo ad essi. Anche assistendo a un fatto, partecipo ad esso.“130

126 Vgl. „Scrivere non scrivendo è forse questo la mia vocazione. Scrivendo cerco di non scrivere, di evitare il libro (1969).“ (Zavattini, zit. nach Tortora, Il ciclone Zavattini, 0:38:00-0:38:10) 127 Zavattini: „Cinegiornali liberi (1968)“, S. 979. 128 Ebd., S. 979. 129 Zavattini: „Cinegiornali liberi (1969)“, S. 982 und 983. 130 Zavattini: „Del film inchiesta, autobiografico e di altro (1963)“, S. 925.

Roberto Rossellini und der Beginn der phänomenologischen Film-Erfahrung T HOMAS M EDER

I. Um den folgenden Ausführungen eine Tendenz einzuschreiben, wäre zum übergreifenden Motto dieses Tagungsbandes eine Variante einzuführen: Was den filmischen neorealismo betrifft, insbesondere die Rolle Roberto Rossellinis darin, kann man nicht länger vom Realismus nach den Avantgarden sprechen, sondern vom Realismus als Avantgarde. Neu am neorealismo war vieles: das Drehen im Freien, das Arbeiten mit Laien, die Geschichten einfacher Menschen, das sorgsame Meiden filmischer Rhetorik, eine ungekannte Artikulation im Filmischen; neu war aber insbesondere, was das Publikum aus diesen Angeboten werden ließ. Erstmals identifizierte sich ein ganzes Land mit einer durchaus kleinen Reihe von Filmen und gelangte damit zu einer neuen Identität1; denn nicht nur Filmemacher oder individuelle Zuschauer, sondern insbesondere Italien im Ganzen fand hier, in jäher Abkehr von der abgeschüttelten Diktatur und deren totalitaristischen Idealen, zu einem neuen Selbstbild. Der Mythos

1

Der Neorealismus als experimentierende Filmform wird mittlerweile recht einhellig von Viscontis OSSESSIONE (1943) bis zur Konsolidierung der christdemokratischen De Gasperi-Regierung veranschlagt; ein Versuch über den auch hier verfolgten Weg seiner Adressierung an einen sich neu konstituierenden Zuschauer ist Massimo Perinelli: Fluchtlinien des Neorealimus. Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949, Bielefeld 2009.

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wurde vom Publikum auf die Realität projiziert und appliziert – und zwar einmal nicht von oben, wie dies in vergleichbaren Fällen einer national zu nennenden Kinematographie häufiger der Fall gewesen ist.2 Ein erstes Anliegen ist es nun, auf einen Quantensprung aufmerksam zu machen, der sich vom zweiten zum dritten Nachkriegsfilm Film Roberto Rossellinis vollzieht. An DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL (1948) erkannte das zeitgenössische deutsche Publikum, das sich selbst auf der Leinwand abgebildet sah, keine eigene Identität, die es für sich kinematographisch festgeschrieben sehen wollte. Für ROMA, CITTÀ APERTA (1945) und PAISÀ (1946) hatte dies im italienischen Kontext umso stärker zugetroffen. Rossellini hat diesen Effekt seines filmischen Realismus zweifellos gewollt und forciert. Daneben hat er in jeden seiner Filme stets auch Privates eingearbeitet. An seiner legendären Nachkriegstrilogie war dies bislang nur für die beiden ersten Filme nachzuweisen: In ROMA, CITTÀ APERTA mischen sich die Schauplätze real-vorfilmischer Ereignisse mit den Drehorten und den Orten, die Rossellini und die unmittelbar an der Erarbeitung des Films Beteiligten kannten, wo sie lebten und arbeiteten.3 Seit 1995 finden sich die zahlreichen Memorialtafeln für die Märtyrer der Resistenza an römischen Fassaden durch Erinnerungen an deren folgenreichste Fiktionalisierung ergänzt.4 Seit 2006 liegt der internationalen Forschergemeinschaft

2

Vgl. Rainer Rother (Hrsg.): Mythen der Nationen. Völker im Film, Ausstel-

3

Wichtigster vorfilmisch relevanter Ort des Films ist die (nachgebaute) Via Tas-

lungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin 1998. so, das Hauptquartier der SS; an zeitgenössisch-realer Architektur sticht das Colosseo quadrato im EUR hervor; imaginäre Orte sind die Via Rasella, die Viale Giulio Cesare und die Fosse Ardeatine: Inkunabeln der römischen Resistenzageschichte; ein inside joke ist der erste Schwenk des Films, der auf dem Haus des Drehbuch-Autors endet; er fehlt in der noch immer um 5 Minuten verkürzten, in Deutschland zugänglichen Fassung. 4

Am Drehort des rastrellamento, der Verhaftung und Erschießung Pinas in der realen Via Raimondo Montecuccoli, finden sich Foto-Text-Tafeln; am Drehort der gesamten Innenaufnahmen, einem Ladenlokal der Via Avignonesi – heute wie damals eine Agentur für Sportwetten – , wird mit einer steinernen Tafel an den Film erinnert, die in ihrem Duktus die übliche Memorialkultur realer Resistenza-Ereignisse imitiert.

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auch das Drehbuch aus dem Nachlass Sergio Amideis vor, an dem nachvollziehbar wird, an welchen Stellen sich Rossellini an die geschriebenen Entwürfe hielt und wo er zu improvisieren begann.5 Der Nachfolgefilm PAISÀ war bereits weniger‚geschrieben‘, umso wesentlicher war er dagegen auch von Anderen bestimmt – durch die Auseinandersetzung mit den neu hinzugekommenen Amerikanern vor wie hinter der Kamera. Hier blickte Rossellinis Kamera bereits auf das ganze Land, in Form eines dokumentarisch grundierten Spielfilms in Episodenform, oder anders herum, einem nahen Verwandten des amerikanischen March-of-time-Formates bzw. einer auf Spielfilmlänge aufgeblasenen Wochenschau. 6 Das ungewöhnliche Fiktionalisieren persönlich durchlebter Erfahrungen hat man durchaus treffend als „Autorenansatz des Dokumentarfilms“7 beschrieben. Mit dieser Formel wird auch die Innovation von Rossellinis (Neo-)Realismus als Avantgarde zugänglicher. Es geht einerseits um sehr persönliche Filme, die von der Signatur des Autors bzw. Regisseurs ausgehen; dies befördert zwangsläufig eine theorie d’auteur, wie herkömmlich gedacht vom Künstler/Auteur/Macher aus. Für die Wirkung dieser Filme entscheidender erscheint aber der Effekt beim zeitgenössischen italienischen Publikum, das all die Innovationen als kunstlos, naturalistisch, ‚dokumentarisch‘ und deshalb ontologisch als äußerst wirksam wahrnahm. Befördert wurde dies durch das Vertrauen in eine phänomenologische grundierte Erfahrung des Film-Erlebens.

5

Der Film ist zu mindestens 85 Prozent als ‚geschrieben‘ anzusehen. Stefano

6

Der wichtigste Beteiligte am Drehbuch, der exilierte deutsche Schriftsteller und

Roncoroni: La Storia di ROMA CITTÀ APERTA, Genua 2006. Stars- and Stripes-Journalist Klaus Mann, hatte diese Idee bereits Anfang 1940 skizziert; vgl. Thomas Meder: Vom Sichtbarmachen der Geschichte. Der italienische ‚Neorealismus‘, Rossellinis PAISÀ und Klaus Mann, München 1993, S. 151-152. 7

Frieda Grafe: „Der bessere Dokumentarfilm, die gefundene Fiktion“, in: Christa Blümlinger/Constantin Wulff (Hrsg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien 1992, S. 139-144, hier: S. 139.

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II. Was bedeutete DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL für Rossellini selbst? Wie war die Beziehung, wie die Haltung des Regisseurs zu Berlin? Wo steckt der Autor, oder: Wo versteckt er sich? In diesem Punkt wird der benannte Quantensprung relevant. Mit diesem Film begann Rossellini eine Phänomenologie der Film-Erfahrung. Was heißt das? Die Frage wird man zuerst vom Publikum bzw. vom Zuschauer denken und beantworten wollen. Ihm, also uns, seinem fortwährenden Publikum, gab Rossellini einen durchaus hässlichen Film – nach klassischer Norm –, den zumindest die Deutschen gar nicht sehen wollten: dies nicht wegen seiner Form, sondern aufgrund des Inhalts. Nachweisbar ist das an raren Aufführungen in Deutschland8, an wenigen zeitgenössischen Kritiken, schließlich der Behandlung der gesamten Nachkriegstrilogie durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK).9 Dagegen wird auch Rossellinis genuine „Imagination aus Bildern“10 über Deutschland und die Deutschen11 heute – trotz seiner offensichtlichen

8

DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL hatte seine internationale Premiere in Locarno im Juli 1948. In der Folge erhielt er speziell in Deutschland vernichtende Kritiken. Der Film wurde hierzulande nie regulär im Kino gestartet. Nach der FSK-Freigabe 1951 sind im Gefolge der medial breit verhandelten Bergman/Rossellini-Verbindung lediglich vereinzelte Aufführungen in FilmkunstTheatern nachweisbar.

9

PAISÀ wurde am 03.01.1950 zuerst geprüft (jedoch in einer Länge von 2626m gegenüber dem Original von 3461m) und „unter sechzehn Jahren“ freigegeben. ROMA, CITTÀ APERTA folgte am 07.09.1950 und wurde nicht freigegeben; bei einer neu angesetzten Prüfung am 29.12.1960 erhielt der Film eine Freigabe ab 18 Jahren. DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL wurde am 26.07.1951 ab 16 Jahren freigegeben. Jugendprotokolle im Archiv der FSK, Wiesbaden.

10 Frieda Grafe: „New Look. 13 filmische Momente“, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des Deutschen Films, Stuttgart, Weimar 1993, S. 365-390, hier: S. 380. 11 „Deutschland und die Deutschen“ war der Titel eines zeitlich parallelen, breit rezipierten Essays von Thomas Mann.

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zum Dokumentierten hinzu erfundenen Anteile – anders gesehen und als durchaus realistisch rezipiert. In aufklärerischer Lesart wertet Klaus Kreimeier den Film in seinem Kern als authentische Memorialkultur und damit auch als ein unverhofftes, letztendlich aber verweigertes Geschenk an die Deutschen.12 Der Vorschlag ist nun, an diesem Film die Möglichkeit einer phänomenologischen Film-Erfahrung neu zu denken. Wenn Filmesehen der Ausdruck von Erfahrung (des Zuschauers) durch Erfahrung (eines Films) ist, wie Vivian Sobchack in ihrer bahnbrechenden Studie zur Phänomenologie der Film-Erfahrung bemerkt, ist dies mit einer Bemerkung von Norbert Bolz zum Live-Eindruck des Fernsehens zu ergänzen: „Massenmedien beobachten nicht Ereignisse, sondern Beobachtungen […] Das Fernsehen zeigt deutlicher als andere Medien, dass Menschen unbeobachtet beobachten wollen, wie andere beobachten.“13 Aufgabe des Medienwissenschaftlers, schließt Sybille Krämer, sei es, zuerst zu überlegen, wer sich mit einer medialen Äußerung eigentlich zu Wort melde: „Das, was der Bote tut, ist in sprechakttheoretischer Hinsicht nicht, einfach zu sprechen, sondern mit der Rede zu zeigen, dass ein anderer gesprochen hat.“14 Auch das scheint noch intentional gedacht: Hier eine Instanz – ein Medium – als ein Setting, das den Zuschauer mit Absicht einbettet, um es auf die ihm eigene Weise zu informieren. Diesen Gedanken für das Medium Film am historischen Fall nochmals zu fassen, soll im Folgenden unternommen werden. Ziel ist nicht nur, hinter die Intention von DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL zu kommen, sondern auch am geeigneten Beispiel dem Film nach der Malerei (dem visuellen Leitmedium der frühen Neuzeit) und

12 Eine der Bedeutung von ROMA, CITTÀ APERTA vergleichbare Stellung für die deutsche Demokratie in statu nascendi, so die These Klaus Kreimeiers, wäre DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL zuzubilligen, hätte sich hier die gesamte Energie des am Boden liegenden Volkes nicht nur dem Wiederaufbau, sondern auch der psychosozialen Erforschung und Verarbeitung der zurückliegenden Katastrophe zugewandt. Klaus Kreimeier: „Germania, anno zero [sic]. Eine Momentaufnahme“, in: epd film, 12. Jg. (1995), Nr. 6, S. 16-25. 13 Norbert Bolz: ABC der Medien, München 2008, S. 36. 14 Sybille Krämer: „Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht“, In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hrsg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 65-90, hier: S. 84 .

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der Fotografie (entsprechend des 19. Jhs.) das Potential zur Schaffung einer großen Unmittelbarkeitserfahrung im 20. Jh. zuzuweisen.

III. Roberto Rossellini ging 1946 einen Umweg über Frankreich, noch ohne jedes neue Projekt, und bereitete von hier seinen Film über Deutschland vor. Dafür hatte er mehrere Gründe. Einer dieser Gründe war eine warmherzige, ja geradezu enthusiastische Aufnahme durch die französische Filmkritik – im Gegensatz zu Italien, wo man sich seine äußerst erfolgreichen Filme möglicherweise von einem anderen Regisseur gewünscht hätte. Die französischen Kritiker hat man später gerne als Phänomenologen bezeichnet, weil sie anscheinend nur beschrieben, was sich ihren Augen als so überwältigend und neu darstellte. Nicht jedem involvierten Kritiker lässt sich freilich, von heute aus gesehen, die Rolle des unvoreingenommen Urteilenden zuordnen. Bei Paul Eluard,15 Georges Sadoul16 und später bei Amédee Ayfre17 ist die ‚reine Schau‘ auf

15 Paul Eluard : „Paisà, le beau film de Rossellini qui a été presenté […]“, in: L’Ecran français, 09. November 1946, P. Eluard, „Poet der Résistance“, hätte es bereits durch seine Vergangenheit als Surrealist besser können müssen: Heute gilt als Allgemeinplatz, dass fotografieähnlicher Realismus zuerst als Artefakt zu fassen ist, sei es dieser neo- oder fotorealistisch, digital oder 3-D genannt. Siehe zuletzt Sebastian Richter: Digitaler Realismus. Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen, Bielefeld 2008. 16 Sadoul schildert sein Erlebnis ergreifend, untermauert es aber durch falsche Informationen, die er von Rossellini selbst bezog: ROMA, CITTÀ APERTA sei im Sommer 1944 heimlich und ohne Geld begonnen worden und zeichne sich durch die Einheit von Schau- und Drehplätzen aus (Georges Sadoul: „Rossellini qui vendit ses meubles pour tourner Rome ville ouverte, a recruté les acteurs parmi les badauds“, in: L‘Ecran français, 12. November 1946, Nr. 72, S. 17-18). Sadoul wurde ein großer, ob seiner Auswahl und Urteile nicht unumstrittener Filmhistoriker. 17 Amedée Ayfre erkannte wohl als erster die Möglichkeit der TranszendenzErfahrung bei Rossellini; hier wird die Phänomenologie mit dem Adjektiv „ka-

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die ihnen jeweils vorliegenden Filme Rossellinis von weltanschaulichmoralischen und ästhetischen Argumenten durchsetzt. Die Filmkritiker stellen sich in ihrer Anstrengung, das Neue (im Alten) zu erkennen, als durchaus und naturgemäß interessensgeleitet heraus. Um eine These zu wagen, die gar nicht belegt werden soll: In Frankreich faszinierte das unerhört oder besser ungesehen Neue dieser Filme so sehr, weil sie das Schwarze Loch der eigenen Vergangenheit verdeckten; um das Schlagwort zu nennen: Frankreichs bis dato nicht aufgearbeitete Erfahrung mit dem Komplex Vichy. Doch sind Ausnahmen für die Theorie bedeutender. Drei seien hier gestreift; in allen dreien steht nicht der Auteur, sondern der Zuschauer im Zentrum. Die bedeutendste Ausnahme ist André Bazin. Er fusionierte ein Produkt der Unterhaltungsindustrie mit einem Informations-Medium (im Amerikanischen: factual report) zu einer realitätsnahen Erfahrung. Dafür adoptierte er den Neorealismus, und insbesondere Rossellini. Nach der Pariser Voraufführung von PAISÀ dozierte Bazin vor einem intellektuellen Publikum in der Maison de la Chimie. Er formulierte seine These von der „Italienischen Schule der Befreiung“ – als hätten Filme das Land befreit und nicht die amerikanische Armee. Bazin wurde im Folgenden Chefredakteur der Revue du Cinéma, der Cahiers du Cinéma, und, über seinen frühen Tod 1958 hinaus, einer der bestimmenden Theoretiker des filmischen Realismusbegriffs. Eine unbekanntere Ausnahme ist Edgar Morin (geb. 1921): Als allgemeiner Denker eher in Vergessenheit geraten, ist Cinephilen Morins anthropologische Studie L’homme imaginaire et le cinéma umso besser bekannt. Nach seiner Partizipation an der Résistance recherchierte Morin unmittelbar nach dem Krieg in Deutschland und verfasste eine 1946 erschienene, soziologisch-nüchtern anmutende Studie zur Not der hiesigen Bevölkerung. Titel und Inhalt der Studie, L’An Zéro d’Allemagne, haben Rossellini möglicherweise in der Wahl seines Filmtitels inspiriert. Die dritte Ausnahme – für den hiesigen Zusammenhang die wichtigste – ist Maurice Merleau-Ponty. Ehe ich mit ihm zum Schlüsselbegriff dieser Ausführungen komme, ein erstes Zwischenfazit:

tholisch“ versehen. Amédée Ayfre: „Néo-realisme et Phénoménologie“, in: Cahiers du Cinéma, 17 (1952), S. 6-18.

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Das Einzigartige am Neorealisten Rossellini dieses Moments – im Gegensatz zu den deutschen Trümmerfilmern, nicht so sehr zu britischen Dokumentaristen der Zeit – ist, dass er über seine Methode Geschriebenes verarbeitet, um mit einem neuen Film noch mehr Radikalität zu wagen. De facto schien Rossellini so wenig von Berlin zu wissen wie die französischen Filmkritiker von ihm, Rossellini, wussten. Das ist freilich nur der Anschein, und darum geht es auch nicht. Rossellini setzte sein Werkzeug, die Filmkamera, in phänomenologisch zu nennender Manier ein, allem Anschein nach ohne Eingriff eines lenkenden Geistes. Damit ist die Autorentheorie persifliert. Dass Rossellini dabei aber weder naiv noch pseudodokumentarisch agierte, wird zu zeigen sein.

IV. Film-Phänomenologie ist heute nicht mehr ganz so vernachlässigt, wie dies Dudley Andrew noch 1978 skizziert hatte,18 im selben Jahr, in dem auch Andrews Monographie zu André Bazin erschien. Sie erhielt weiteren Auftrieb durch Vivian Sobchacks Erläuterung The Adress of the Eye (1992), einem theoretischen Hauptwerk, das sich weitgehend auf Maurice MerleauPonty beruft. Sobchack plädierte für eine Abgrenzung zu den sich abwechselnden Blütezeiten von Strukturalismus, Lacanismus und Marxismus in der Filmtheorie. David Bordwell hat jene Konstellationen handlungsleitender Theorien zum Film seinerseits unter dem Akronym SLAB zusammengefasst (slab, engl. für Fliese, Holzschwarte).19 Laut Sobchack gelte direkte Erfahrung solchen voraussetzungsreichen Disziplinen wenig; Phänomenologie werde von jener Sicht aus als idealistisch, essentialistisch, und ahistorisch eingeschätzt. Sobchack hingegen unterstützt eine embodied and meaningful existential activity.20 D.h., sie setzt auf „existenzielle Partikularität“, auf den Betrachter in seiner konkreten

18 Dudley Andrew: „The Neglected Tradition of Phenomenology in Film Theory“, in: Wide Angle, 2 (1978), Nr. 2, S. 44-49. 19 Siehe insbesondere die Einleitung zu dem Reader: David Bordwell/Noëll Caroll (Ed.): Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison 1996, S. 3-36. 20 Vivian Sobchack: The Adress of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton 1992, S. 17.

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zeitlichen Situation. Dies bedeutet nichts anderes als eine Übersetzung von Husserls zentralem Begriff Lebenswelt. Im Gegensatz zu dem deutschen Philosophen fällt in der existenzialistisch grundierten Variante MerleauPontys allerdings das Transzendentale Ich weg. Sobchacks Betrachter existiert und erlebt ebenso nur im Hier und Jetzt: „Es ist zu betonen, dass die phänomenologische Beschreibung niemals ein absoluter Prozess in dem Sinne ist, dass man bei einer finalen Bestimmung der Phänomene ankommt, da unser Quell des Wissens stets das wahrnehmende Subjekt ist, dessen Erleben in sich niemals eine finale Erkenntnis, sondern ein fortwährender Prozess der Synthese“ ist.21 Nicht nur bedeutet Film also einen Prozess von fortlaufendem Erkenntnisgewinn, der mit dem Ende des Films quasi „zufällig“ zu Ende kommt, sondern auch: Das Ergebnis ist abhängig vom jeweils historisch determinierten Betrachter bzw. der Betrachterin. Das hat nicht zuletzt die GenderForschung mittlerweile zur Genüge deutlich gemacht. Selbstverständlich spielt auch eine Rolle, ob das Ich einen Film als junger oder älterer Mensch sieht – dieses Argument wird gerade mit DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL plausibel und erschwert die mit Bazin in Mode kommende ontologische Betrachtungsweise. Es ist nicht die Zeit, sondern der Raum, der den Vorzug der phänomenologischen Methode garantiert: Raum als unhintergehbare Größe, gelebt „durch und von dem Körper-Subjekt [im] Raum der historischen Situation“.22 Während Zeit auf der Leinwand stets als vergangen gewusst wird, ist Raum im Film zwar einerseits nur mediale Äußerung, oder, artifiziell aufgefasst, nichts anderes als der perspektivisch konstruierte Einsichts-Raum der Renaissance. Andererseits scheint dieser Raum unmittelbar vorhanden. Er wird im Modus des Als-ob rezipiert. Diesen Effekt des Kinos kennt man als „somatische Empathie“: Filmraum erleben wir bis zu einem gewissen Punkt als real vor unseren Augen vorhanden, was durchaus bis zur körperlichen Reaktion führen kann. Dies hat an einigen Hitchcock-Passagen Christine Noll Brinckmann illustriert.23 Umso wirksamer wird solches emotives

21 Sobchack: The Adress of the Eye, S. 27. 22 Ebd., S. 31. 23 Christine Noll Brinckmann: „Somatische Empathie bei Hitchcock: eine Skizze“, in: H.B. Heller, K. Prümm, Birgit Peulings (Hrsg.): Der Körper im Bild: Schauspielern-Darstellen-Erscheinen. Marburg 1999, S.111-120, hier: S. 120.

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Miterleben, wenn sich vor unseren Augen gelebte Geschichte im Sinne von history abspielt: „Es geht um Aneignung der toten Materie der Geschichte in einem affektiven Gedächtnis“.24 All dies hat wenig mit Einfühlung oder gar Identifikation mit der erzählten Geschichte (story) zu tun. Zu dieser Einsicht verhilft der Gründungstext aller phänomenologischen Versuche zum Film, Maurice Merleau-Pontys „Film und die neue Psychologie“, als Vortrag erstmals gehalten im März 1945.25 Innovativ an diesem Text ist die Abgrenzung zur älteren Psychologie des Einfühlens oder Verstehens. Merleau-Ponty postuliert, dass wir schon im Akt des Wahrnehmens formal auswählen oder konfigurieren, während man bis dato von einem Reiz-Reaktionsschema: physischer Reiz/nervliche Reaktion ausging. „Weil [die klassische Psychologie] die visuellen Gegebenheiten als ein Empfindungsmosaik aufgefasst hat, muss sie die Einheit des Wahrnehmungsfeldes mit einer Gedankenoperation begründen.“26 Wir nähmen hingegen ganzheitlich wahr: soll heißen, nicht die einzelne Note im Konzept, nicht das individuelle Detail auf dem Bild, sondern bewusstwerdende Details wiederum als pars-pro-toto-Empfindung eines uns gegenüber befindlichen Anderen. Merleau-Ponty wendet sich gegen das syntaktische Verknüpfen bereits sozusagen im Akt des Sehens; man könnte auch sagen: gegen das permanente Hinzufügen von Adjektiven zur physischen Wahrnehmung; über das Sehen im Kino sagt er: „Den Film soll man nicht denken, man soll ihn wahrnehmen.“27 Einen Film sehen bedeute, wie in der Welt wahrzunehmen; man soll wahrnehmen – unschuldig und neugierig, wie ein Kleinkind wahrnimmt, den eigenen kulturellen Hintergrund vergessend oder verdrängend, im Sinne einer „Ökologie der Wahrnehmung“, wie sie durch die menschliche Spezies über Jahrmillionen hinweg kultiviert wurde und der eben die-

24 Drehli Robnik: „Körper-Erfahrung und Film-Phänomenologie“, in: Jürgen Felix (Hrsg.): Moderne Film Theorie, Mainz 22003, S. 246-280, hier: S. 270. 25 Dt. Maurice Merleau-Ponty: „Film und die neue Psychologie“, in: Filmkritik, 11 (1969), S. 695-702. 26 Ebd., S. 697. 27 Ebd., S. 701.

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se Spezies ihre intellektuelle Überlegenheit z.B. gegenüber anderen Lebewesen verdankt.28 Laut Vivian Sobchack hat Merleau-Ponty das transzendentale Ich Husserls existenzialistisch gewendet: der Mensch, befreit von allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen. Eine wiederum historisch grundierte Welterfahrung durch das Kino – eine Vision, wie sie sich im menschlichen Körper darstellt, wie sie aufgeführt wird, wie „sie radikal eine Welt von Subjekten und Objekten mit sich bringt.“29 Summierend schreibt Sobchack: „Für mich liegt ein Teil der Attraktion von Phänomenologie in ihrem Potential, Sprache zu öffnen und zu destabilisieren: und zwar genau in dem Prozess ihrer Beschreibung von Phänomenen der Erfahrung.“30 Generell sei Film vielschichtig und der Betrachter oder die Betrachterin frei. Die Gefahr dabei: Aus dem Erlebnis im Kino werde beim Äußern, beim Denken, bei dem dialektischen Prozess des Sehens und Sich-darüber-Äußerns ein Kino der Ideen. Dagegen helfe die radikale, wenn auch stets subjektiv bleibende Beschreibung dessen, was ich sehe und von welchem Sehpunkt ich ausgehe. Diesen Seh-Punkt soll gerade der Phänomenologe mit darlegen.31 Was wäre demgegenüber die Aufgabe des Historikers? Er hätte alle greifbaren Fakten zusammenzutragen, würde diese dann seinem Verständnis nach nachvollziehbar machen, anordnen, sprich freilich auch: interpretieren. Dies soll hier im Rückgriff auf unbekannte Archivalien, doch vor allem mit einem phänomenologischen Blick auf DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL, nun geschehen.

V. Als ich 1987 meine Recherchen zu Rossellini begann, lag die Genese seines Deutschland-Films aus den Jahren 1947-1948 noch weitgehend im Dunkeln. Seither wurde das zum Sammeln und Sortieren der Quellen geradezu

28 Vgl. Joseph D. Anderson: The Realitiy of Illusion. An Ecological Approach to Cognitive Film Theory, Carbondale, Illinois 1996, S. 144-147. 29 Sobchack : The Adress of the Eye , S.17. 30 Ebd., S. 18. 31 Ebd., S. 290.

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auffordernde Projekt vergleichsweise gut dokumentiert. Der RosselliniBiograph Gianni Rondolino hat als erster nach der Entstehung des außerordentlichen Filmunternehmens gefragt.32 Rondolino stützte sich im Wesentlichen auf italienische Quellen, auf Dokumente und auf Interviews, auf oral history, die der Historiker stets mit besonderer Vorsicht zu nutzen hat. Andererseits blieb diese Form der Recherche angesichts von Rossellinis notorisch unkonventionellen, oft schwer nachvollziehbaren Produktionsmethoden lange Zeit eine beachtenswerte Basis der Erkenntnis. Dies gilt, solange Zeitzeugen überhaupt zu befragen sind. Die Untersuchung zu DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL habe ich im Zuge meiner Recherche zu PAISÀ auf der „deutschen“ Seite über Rondolino hinaus gegen Ende der 80er Jahre weiter geführt. Die Gespräche mit Carlo Lizzani, Basilio Franchina, Max Colpet, Roswitha Schmidt, Renata Gaede und Ursula Werber (später U. Starrabba-Rochlitz) ergaben durchaus aussagekräftige Eindrücke über die komplexe Genese und die Dreharbeiten im zerstörten Berlin. Dennoch folgt hier weniger die Rekonstruktion vorfilmischer Ereignisse als die versuchte Konstruktion des Eindrucks, den dieser Film im Visuellen noch immer zu bieten hat. Dazu bietet sich die Verwendung einiger unpublizierter Quellen an, die an anderer Stelle, in geeigneterer Form, im Sinne der skizzierten phänomenologischen Manier zu einem visual essay zusammengefasst werden konnten.33 Die fotografischen Belege und schriftlichen Dokumente dazu stammen ebenso wie die hier publizierten aus dem privaten Nachlass von Roswitha Schmidt, Rossellinis Lebensgefährtin der Jahre 1942 bis 1946. Zuerst seien noch drei Auffälligkeiten in Bezug auf den Neo-Realismus dieses Films kommentiert. Erstens, der Name: Zu einem italienischen Projekt und damit zu GERMANIA ANNO ZERO wurde der Film, als die Innenaufnahmen im November 1947 im römischen Atelier starteten. Aufnahmen im Studio nehmen numerisch etwa 40% der insgesamt lediglich 248 Einstellungen ein, was man jedoch nicht unbedingt sieht. Italienischer

32 Gianni Rondolino: „Come nacque GERMANIA ANNO ZERO“, in: Bianco e Nero 3, Juli-September 1987, S. 26-42. Vgl. weiter Ulrich Döge: Barbaren mit humanen Zügen. Bilder des Deutschen in Filmen Roberto Rossellinis, Trier 2009, S. 198-253. 33 Vgl. „Roberto and Roswitha“, enthalten auf: Roberto Rossellini’s War Trilogy. The Criterion Collection, New York 2009 (3 DVDs).

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wurde der Film dadurch, dass Rossellini im Sommer 1947 zum Zwecke der Ko-Produktion eine eigene Firma gründete, die Tever-Film; begonnen worden war noch mit amerikanischem Kapital, das Rossellini freilich bereits in Paris ausgab sowie mit französischem und keinesfalls mit deutschem Geld. Wegen seiner historischen Brisanz bleibt dieser Film trotzdem ein Film für Deutsche. Ich benutze daher die deutsche Titelvariante. Zweitens ist dies selbstverständlich ein Trümmerfilm, wenn auch kein deutscher Trümmerfilm, so doch ein Film über Deutschland in Trümmern. Das Paradox erhält einerseits Nahrung aus dem radikalen Pessimismus des Plots und dessen fataler Auflösung: Der Film steht in krassestem Gegensatz zu den final dann doch immer hoffnungsvoll nach vorne blickenden deutschen Trümmerfilmen; zum anderen – formal – aus der scheinbaren Nachlässigkeit, mit der Rossellini sein Sujet in Bilder umsetzte. Evident erscheint, dass der wie eilig dahin geworfene Film in der Handwerklichkeit erhebliche Qualitätsunterschiede zu zeitgleich in Berlin entstehenden Filmen aufweist – allen voran zu Billy Wilders Paramount-Produktion A FOREIGN AFFAIR (USA 1948), doch auch zu DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946, R: Wolfgang Staudte). Drittens: Rossellinis Nachlässigkeit scheint Methode. Immer weniger braucht er soggettisti und scenaristi – das Treatment magert auf wenige Zeilen ab34 –, dennoch nutzt er viele Helfer in den unterschiedlichsten Funktionen und in allen Phasen der Produktion. Insbesondere braucht er mehrsprachige Autoren für die vielfältigen Papiere, die er den vier Besatzungsmächten der besetzten Stadt Berlin präsentieren muss, um dort Drehgenehmigungen zu erhalten. Eine der Personen, deren Spuren von der Rossellini-Forschung nicht berücksichtigt worden sind, ist Renata Gaede (geb. 1916), die mit 20 Jahren für den DAAD ins frankistische Spanien ging und im Oktober 1940 nach Rom wechselte. Hier war sie im Auftrag des RMVP im Bereich Musik für den deutsch-italienischen Kulturaustausch tätig. So lernte sie nicht nur Wilhelm Furtwängler kennen, sondern auch den Musikkritiker des Messaggero, Renzo, den älteren Bruder Rossellinis, mit dem sie ab 1941 eine Beziehung führte. In römischen Kreisen dieser Zeit war es angesagt, Deutsche oder Österreicherinnen als Geliebte zu haben. Renata Gaede lebte drei Jah-

34 Rondolino: „Come nacque...“, S. 34. In: Döge: Barbaren mit humanen Zügen, S. 307-320 findet sich ein ausgearbeitetes Treatment, das von Colpet/Dietrich stammt und das Rossellini für sein Projekt brauchte, ohne es am Ende zu nutzen.

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re gemeinsam mit der Familie Renzos in einer Wohnung. Wegen ihrer offiziösen Tätigkeit 1944 denunziert und verhaftet, verbrachte sie neun Monate in einem Lager bei Salerno, kehrte dann in die Wohnung Renzos zurück, ohne das Verhältnis erneut aufzunehmen. Gaede begleitete Roberto Rossellini im Mai oder Juni 1947 nach Paris, um die Drehgenehmigungen für Berlin vorzubereiten; für jeden der vier Sektoren der geteilten Stadt brauchte es jeweils ein eigenes permesso, dazu wiederum Übersetzer für das Treatment des Films; Hauptsprache zu diesem Zeitpunkt war Französisch; Renata Gaede war für Italienisch und Deutsch zuständig, Marlene Dietrich für Übersetzungen ins Englische, Basilio Franchina und Max Colpet halfen dazu; der ehemalige Berliner Boulevard-Autor Colpet (urspr. Kolpenitzky, 1905-1998) beschreibt in seinen Erinnerungen, wie er als Sohn russischer Juden von Klassenkameraden im ostpreußischen Königsberg und später deutschen Offizieren in Paris gedemütigt worden war.35 Als RegieAssistent Rossellinis reiste er mit nach Berlin. Für Rossellini gab es mehrere Gründe, nach PAISÀ im Ausland zu drehen. Dass sein Name im eigenen Land einen gewissen Beigeschmack hatte, wurde bereits gesagt: als Begünstigter des ihm gewogen gewesenen faschistischen Regimes. Rossellini machte nun eine Tugend aus dem selbst gewählten Exil und versuchte, die eigene Leistung nochmals zu überbieten, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Unter – selbstgewählt – allerschwierigsten Bedingungen kam der „phänomenologische Realismus“ seines Kamera-Auges am besten zum Tragen. Gianni Rondolino beschreibt den Gewinn: „Die psychologische Tiefenschicht eines Charakters allein durch Beobachtung des Charakters erreichend, indem er eine kinematographische Technik anwendet, die wir ‚phänomenologisch‘ nennen können – auf diese Weise entdeckte Rossellini (oder entdeckte wieder, nach Lumière) die Essenz des Kinos selbst als Enthüller des Realen, die dokumentarische Kraft des bewegten Bildes, dessen hohen Wahrheitsgehalt.“36 Insofern kann auch als ästhetisches Programm oder zumindest Inkaufnahme eines ästhetisch weniger gelungenen Filmes gewertet werden, dass Rossellini häufig vom Set abwesend blieb und die Inszenierung einem Assistenten bzw. dem Apparat überließ. Diese absichtsvolle Haltung zu den

35 Max Colpet: Sag mir wo die Jahre sind. Erinnerungen eines unverbesserlichen Optimisten, München, Wien 1980. 36 Gianni Rondolino: Roberto Rossellini, Turin 1988, S. 135.

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Dreharbeiten erscheint als ein letzter möglicher Beweggrund für Rossellinis Berlin-Film, der, obgleich in der Literatur oft wiederholt, de facto entfernt liegt: Der Tod des eigenen Sohnes Renzo jr. im Sommer 1946. Dazu nur: Die Widmung, die dem Film vorangestellt ist, wurde erst im Frühjahr 1948 angebracht, als Rossellini nach anderthalben Jahren nach Italien zurückkehrte; zu diesem Zeitpunkt macht sie Sinn, doch nicht als Antrieb für den Film.37 Im Folgenden wird der Blick auf eine Verbindung Rossellinis nach Berlin gelenkt, die bisher nur in Umrissen bekannt war: Bald nach dem Krieg fiel sie einer damnatio memoriae anheim, die erst gegen Ende der 80er Jahre aufgehoben wurde. Die Verbannung aus dem kollektiven Gedächtnis der Filmgeschichte ging zu Lasten von Roswitha Schmidt, der Gefährtin Rossellinis der Jahre 1942 bis 1946, die ebenso wie Renata Gaede deutscher Herkunft war, doch nicht ganz so radikal am Wechsel der politischen wie privaten Situation leiden musste. Ein Foto von ihr, Rossellini, Federico Fellini und Giulietta Masina, an Ostern 1946 in Florenz aufgenommen, wurde in Italien später allerdings mehrfach ohne ihre Figur publiziert, Hände und Füße, die in den übrigbleibenden Bildraum ragten, waren heraus retuschiert. Diese beschnittene Version fand Eingang auch in die internationale Literatur.38

37 Vgl. das Dossier von Marco Vanelli: „Neorealismo ontologico: Fabbri e GERMANIA ANNO ZERO“, in: ciemme (Mestre), 154 (2007), S. 31-41, u.a. zu den nachträglich eingefügten, ‚katholisierenden‘ Zwischentiteln zu Beginn. 38 Peter Bondanella: The Cinema of Federico Fellini, Princeton 1992, S.46.

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Abbildung 1: Von links: Roswitha Schmidt, Roberto Rossellini, Federico Fellini, Giulietta Masina

Gleichwohl braucht es diese Bildfälschung vielleicht, um der inneren Wahrheit bzw. den Gründen des Berliner Filmunternehmens näher zu kommen. Roswitha Schmidt war 1942 mit einer Revue-Theater-Truppe – sie spielte in DAS WEISSE RÖSSL AM WOLFGANGSEE – nach Italien gekommen. Weil eine römische Filmproduktion eine Frau mit „slawischen Gesichtszügen“ suchte, machte sie auf Betreiben ihres Agenten ein provino, eine Probeaufnahme. Ihre „Truppe“ war bereits weiter nach Neapel gereist, als sie von dem Angebot überrascht wurde, in Rossellinis drittem Spielfilm L'UOMO DALLA CROCE (1943) die Rolle einer russischen Partisanin zu übernehmen. Ihr Besuchsvisum wurde verlängert; „praktisch auf dem Set“ jenes Films lernte sie Roberto Rossellini kennen, verliebte sich in ihn und blieb kurzerhand in Italien. Auch der Regisseur hatte sich verliebt. Nun tat er es seinem Bruder gleich: Wie Renzo Rossellini war er verheiratet, hatte sogar, mit Marcella de Marchis, bereits zwei Söhne. Doch das italienischdeutsche Paar zog und lebte für die nächsten drei Jahre zusammen. Er gab ihr eine weitere Rolle in DESIDERIO – seinem film di trasformismo, gedreht parallel zur kurzen Epoche des Badoglio-Regimes. In ROMA, CITTÀ APERTA synchronisierte Roswitha Schmidt die Stimme Giovanna Galettis

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und ist zudem neben Anna Magnani in der Sequenz des rastrellamento zu sehen. Roswitha Schmidt (geb. 01.11.1918) kam aus Berlin-Charlottenburg. Sie lebte dort mit ihrem Vater Alexander (geb. 1880) sowie ihrem Bruder Claus (geb. 1934) zusammen. Die eigene Mutter war früh gestorben. Auch im Deutschland-Film sollte dann eine Mutter fehlen, insbesondere für den etwa elfjährigen Edmund Köhler (gespielt von Edmund Meschke, geb. 04.12.1936 in Hamburg). Die Vermengung vorfilmischer Gegebenheiten mit den Geschehnissen des Films setzt sich fort. Ohne dass die Differenzierung des Blicks durch die Kamera aus den Augen verloren werden sollte, lässt sich eine Parallele ohne Abstriche festhalten: Neben dem existenziellen Verlust der Mutter muss das Kind des Films eine Reihe weiterer Erfahrungen machen, die unmittelbar seine eigene Körperlichkeit oder die anderer tangieren: Hunger, sexuelle Reize durch ein Mädchen, sexuelle Avancen älterer Männer, Tötung des Vaters, schließlich der Suizid.

Abbildung 2: Roswitha mit ihrem Sohn Victor

In Berlin hatte Roswitha Schmidt in starker Konkurrenz zu ihrer sehr jungen Stiefmutter gelebt. Zudem hatte sie siebzehnjährig einen eigenen Sohn zur Welt gebracht, Victor (geb. 1937). Victor kam dann 1946 nach Italien, allerdings aus Wien, wohin er vor dem Krieg gebracht worden war, um die

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ersten Jahre seines Lebens bei einer Tante zu leben. Einen offiziellen Vater gab es nicht. Victor erreichte Capri nach dem Krieg just in dem Moment, in dem Rossellini den eigenen Sohn verlor – Romano Rossellini war am 14. August 1946 in Spanien verstorben, wo ihn Rossellini im eigenen Wagen abholte, um ihn in Rom zu begraben und eine Zeitlang täglich das Grab aufzusuchen. Nun, nach dem Krieg, hielt auch eine gemeinsame Schwangerschaft das Paar Roberto und Roswitha nicht mehr zusammen. Gegen Ende 1946 fand zu einem sehr späten Zeitpunkt ein Abbruch statt, ein Ereignis, das den Bruch, der im Herbst des Jahres manifest wurde, mit Sicherheit verstärkt hat. Roswitha hatte mit Rossellini schon vor dem Sturz Mussolinis zusammengewohnt, in der Via Parco Pepoli Nr. 2, sie war mit ihm in der schwierigen Zeit in eine Pension an der Piazza di Spagna gezogen, und sie war mit zurück in die Via Parco Pepoli gezogen, als die Zeiten wieder etwas leichter wurden, ins Haus eines befreundeten Rechtsanwaltes. Dennoch ist Roswitha Schmidt in der Rossellini-Forschung lange eine Unbekannte geblieben. Das lag nicht zuletzt an ihrem zurückhaltenden, scheuen Charakter. Umso größer war meine Überraschung, als sie beim dritten oder vierten Treffen zwei große Plastiktüten aushändigte – ein unangetastetes Fotoalbum, Briefe, hunderte von Telegrammen: der Traum des Filmhistorikers, oder auch das Trauma, weil diese Quellen lange Zeit nicht zu veröffentlichen waren. Mit dem Ende der Reise von PAISÀ, mit dem Tod Romanos, mit der Quasi-Emigration Rossellinis nach Paris endete die Zeit des Zusammenlebens, aber nicht unbedingt das Zusammensein. Rossellini blieb weiter im engen schriftlichen Kontakt zu Roswitha Schmidt. Das verändert die Quellensituation vor allem im Hinblick auf DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL. Noch auf dem Briefpapier der italienisch-amerikanischen Produktionsfirma OFI beginnt nun ein Fluss von oft an „A Roswitha Rossellini – Matrimonia, Capri“ gerichteten Briefen – Rossellini versah die Freundin oft mit dem eigenen Namen. Wir schreiben Mitte Oktober 1946: ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ erleben ihre Premieren in Cannes und Paris. Auf dieser Reise wird Rossellini von Anna Magnani begleitet, mit der er eine Affäre beginnt; später ergibt sich in Paris eine Liaison mit der Schauspielerin Josette Day; nichtsdestoweniger kümmert er sich um Roswithas neue Wohnung auf Capri und fragt nach dem Befinden ihres Sohnes Wicky [sic]

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(19.10.46); nach einigen Telegrammen, die sein Kommen ankündigen, versicherte er Ende Oktober, ihren Geburtstag mitfeiern zu wollen (29.10.46); doch ist er tatsächlich erst an Weihnachten 1946 wieder bei ihr. Erstmals heißt es dann aus Paris: „Versuche deinen Vater zu erreichen“ (24.01.47); und, nach erneuter Rückkehr für einige Tage Anfang Februar, aus Rom: „Werde Deinen Vater erreichen“ (23.02.47) sowie wieder aus Paris: „In einer Woche werde ich bei Deinem Vater sein“ (27.02.47, ebenso am 01.03.47). Anfang März folgt ein längerer Brief aus Paris, mit der Ankündigung, am 8. des Monats erstmals nach Berlin zu fahren: „Bin ungeduldig dorthin zu kommen, auch wegen Deines Vaters – glaube, das wird eine Überraschung für ihn – ich weiß nicht, ob ich eine Möglichkeit finde aus Berlin mit Dir zu kommunizieren, jedoch werde ich mich nicht länger als acht Tage aufhalten – Du kannst beruhigt darüber sein, dass ich mich bestens um Deinen Vater kümmern werde, so dass er in aller Ruhe auf Dich warten kann, bis zu den Monaten Ma/Ju [sic], wenn wir den Film drehen (04.03.47).“

Nach wenigen Tagen in Berlin meldet sich Rossellini von der Rückreise, diesmal in französischer Sprache: „Tout très bien père hereux“ (24.03.47). Und wenig später bestätigt er: „Glücklich, Dir zu versichern, dass Vater und Bruder bestens versorgt – ihre Sorgen sind vorbei – glücklich küssen sie Dich“ (27.03.47). Die Auswahl der Darsteller besorgte Rossellini selbst vor Ort. Im Presseheft, das zur italienischen Premiere erscheinen sollte, berichtet er, Edmund Meschke, den Sohn eines Kunstreiterehepaares, in einem Zirkus gefunden zu haben, Heinz Gühne, der Edmunds Vater darstellt (ein Theaterund Filmschauspieler), hingegen auf den Stufen eines Krankenhauses.39 Solche Zufallsfunde leiteten ihn offenkundig an. Dennoch hatte er role models im Kopf. Das Vorbild für den Jungen, der eine so schwierige Kindheit hat, dass er sich am Ende der sichtbaren Geschehnisse selbst umbringen wird, stammt kaum von seinem latinisch wirkenden Sohn Romano, vielmehr offenbar von Roswithas Halbbruder Claus, der selbst eine ähnlich schwierige Kindheit erlebte und zu dem auf der Leinwand erscheinenden

39 Su Germania Anno Zero. Presseheft des amerikanischen Verleihers, ital. in: Adriano Aprà (Hrsg.): Roberto Rossellini. Il mio metodo, Venedig 1987, S. 60-62.

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Edmund Meschke40 eine viel größere physiognomische Ähnlichkeit aufwies.

Abbildung 3 und 4: Bruder zund Vater Schmidt (links); Edmund Meschke und Rossellini (rechts)

Abbildung 1-4 stammen aus dem privaten Nachlass von Roswitha Schmidt, Rossellinis Lebensgefährtin der Jahre 1942 bis 1946

Im April 1947 beginnt die akute Phase der Prä-Produktion. Rossellini pendelt konsequent weiter zwischen Paris und Rom, besucht Roswitha unterdessen nur noch zwei Mal auf Capri, in der letzten Maiwoche und Anfang Juni. Mitte dieses Monats trifft ein Brief seines Bruders ein, der Roswitha eindringlich beschwört, sie solle auf ihn einwirken, „endlich mit dem Film über Deutschland zu beginnen“ – sie möge dahingehend an Renata Gaede schreiben (16.06.47). Zwei Tage später meldet sich der Regisseur selbst be-

40 Edmund Meschke tauchte nach den Dreharbeiten unter und wurde erst in den 80er Jahren wieder aufgefunden. Er lebte mittlerweile in einer süddeutschen Gemeinde. Meschke verweigerte jedes nähere Gespräch über seine Berliner Zeit und den einzigen Film, in dem er je mitgespielt hatte. Vgl. Ursula März: „Germania Anno Zero“, in: Kulturchronik, 14. Jg. (1996), Nr.2, hrsg. von Inter Nationes, S. 29-32.

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sonders enthusiastisch, es gebe „erste Nachricht von deinem Vater – sie tun alles um ihm zu helfen – morgen gehen zwei Pakete an seine Hausadresse ab“ (18.06.47). Rossellini selbst hält sich noch in Rom bei einer Tante auf, organisiert aus der Ferne aber bereits die Vorarbeiten in Berlin. Ende Juni ist er auf einem Festival in Brüssel, Roswitha lässt er einen kostbaren Ring schicken. Anfang Juli ist es soweit: Rossellini trifft erneut in Berlin ein und meldet alsbald: „Padre fratello benissimo“ (08.07.47; 11.07.47). Ende des Monats folgt ein längerer Brief, wieder aus Paris: „Rosy meine Liebe – Signore Sperber [?] vom französischen Informationsministerium, der mir sehr beim Deutschland-Film geholfen hat, kommt nach Italien um seinen Sohn zu sehen – ich habe ihm Gastfreundschaft in unserem Haus in Capri angeboten und Du wirst ihm sicher gute Gesellschaft leisten. Wie ich Dir am Telefon sagte, schätze ich, gegen den 15. September definitiv zurückkommen und mit mir Deinen Vater und Klaus [sic] zu haben (28.07.47).“

Der Plan hat sich geändert: Nicht Roswitha soll nach Berlin kommen, um ihre Familie zu sehen, Vater und Bruder sollen nach Rom geschafft werden, um der drückenden Misere in Berlin zu entgehen. So geschieht es dann. Die beiden werden – gemeinsam mit 21 Schauspielern – mit für sie fingierten Arbeitsverträgen nach Rom geschickt.41 In Roswithas Fotoalbum sind einige Fotos der beiden von der Insel Capri zu sehen, wo sie sich sichtbar wohl fühlten und gut erholten. Dies war das Legat und gleichzeitig das Abschiedsgeschenk Rossellinis an Roswitha Schmidt: den Bruder und den Vater heil und gesund aus Berlin herauszubringen. Als diese Mission beendet war, konnte auch die fünf Jahre alte Beziehung beendet werden. Es war Rossellini vermutlich ein intrinsisches Bedürfnis, der Freundin diesen Herzenswunsch noch zu erfüllen. Briefe und Nachrichten flossen die ganze Vorbereitungs- und Drehzeit von DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL über kontinuierlich nach Capri. Rossellini fühlte sich Roswitha immer noch nah und wohl auch verpflichtet.

41 Brief der französischen Chefkommandatur Frankfurt a. M. an den Sottosegretariato alla Presidenza del Consiglio dei Ministeri, Rom, vom 17.09.1947 mit anhängender Liste, welche deutschen Schauspieler in Rom gebraucht würden, im Archivio dello Stato, Rom (freundliche Überlassung von Adriano Aprà, Rom).

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Auf seine Art blieb er ihr treu bis bis zum 29. September 1947: Mit diesem Tag ist ein Brief datiert, in dem er offen – und auf ihr Verständnis hoffend – die Beziehung ‚offiziell‘ und schriftlich beendet. Das Datum Ende September 1947 macht Sinn, da Rossellini Roswitha gegenüber zu diesem Zeitpunkt sein Versprechen eingelöst hatte, die Dreharbeiten in Berlin abgeschlossen waren und der Regisseur die Stadt verließ. Dann legte er Roswitha ab, wie andere Frauen vor ihr und nach ihr; an seinem Werk abzulesen ist das in prominentem Maß in den Filmen mit Ingrid Bergman. War dies der Grund, dass er später so selten von seinen Filmen sprechen wollte? Er hätte gelebte Vergangenheit gesehen, die er via Filmarbeit für sich gleichzeitig exorziert und konserviert hatte. Roberto Rossellini betrieb sexual politics nicht nur mit diesem Film. Alleinstellungsmerkmal seiner Filme bis in die 50er Jahre ist deren autobiographische Note auf der und über die Leinwand hinaus. Manifest erscheint hier freilich ein anderer Zug: DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL rügte speziell die deutsche Kritik für die Verbindung von totalitaristischer Ideologie und Homosexualität bzw. Missbrauch von Jugendlichen. Die mitlaufende Diffamierung von Nazis als auch sexuell Pervertierten, in ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ angedeutet, weicht hier offenem Päderastentum. Das lässt den Film zu einem Vorläufer des 70er Jahre-Genres sadiconazista werden und geriet ihm zu einer entscheidenden Angriffsfläche.42 Die Übertreibung ist jedoch notwendiger Gegenpol zum Dokumentierten, markiert doch erst die duale Variante des Gezeigten die Husserl’schen Kategorien von Noesis (dem Bewusstwerdungsakt des Wahrgenommenen) und Noema (das jeweils Geglaubte und durch den Augeneindruck vermeintlich Naheliegende). In den Kategorien der Phänomenologie verläuft die Scheidelinie nicht zwischen „dokumentarisch“ und „fiktional“, sondern zwischen einer Intentionalität, die von außen in eine Sachlage hineingetragen wird, und eine intentionale Wahrnehmung, die sich aus dem subjektiven Wahrnehmen heraus erst ergibt. Die Welt nehmen wir wahr, in dem wir (bei Merleau-Ponty vor allem leiblich) in der Welt sind; für den Film gesprochen, ist dies zunächst nur das Kino oder der heimische DVD-Sessel. Was Rossellinis Berlin-Film so einzigartig macht, ist das Angebot einer

42 In Hollywood gibt es Vorläufer und Varianten sexueller Pervertierungen von Nazis, siehe exemplarisch etwa die Rolle Peter van Eycks in FIVE GRAVES TO CAIRO (USA 1943, R: Billy Wilder).

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Weltwahrnehmung, die sich aus dem Gezeigten speist und nicht dem intentional „Hineingetanem“ durch Regisseur oder Drehbuchautor. Entscheidender Agent bleibt die Kamera, die alle Stufen von Wahrscheinlichkeit in gleicher Weise behandelt. Rossellini beförderte dies, indem er sich um die Geschichte, um Psychologie, Einfühlung und Dialoge kaum mehr kümmerte, sondern alleine eine Realität zeigt, die er sich vorstellen konnte. Das Ergebnis ist keine scripted reality, wie sie aus so vielen Filmen heraus spricht, die von einem ausgeklügelten Drehbuch dominiert werden. Selbstverständlich konkurriert der Film auch nicht mit anderen medialen Äußerungen über das am Boden liegende Berlin, seien sie erfundener43 oder dokumentierender Natur.44 Die eidetische Reduktion Husserls wird mit Absicht auf

43 Unter den Papieren, die Klaus Mann hinterlassen hat, findet sich ein ungezeichneter Ausriss aus dem Time Magazine, möglicherweise von dem Autor selbst stammend, der zuvor Rossellinis PAISÀ mitgeschrieben hatte: Ein zwölfjähriger Berliner sammelt eifrig vor allem metallene Gegenstände aus den Ruinen. In der Hoffnung, sie verscherbeln zu können, kauft er auf Kredit Brot auf dem Schwarzen Markt. „Gradually, the world began to close in on Erich. The older boys wanted their money... It began to dawn on Erich that the ‚treasures‘ he picked up had value only only to himself. He did not know what real money was worth, but he began to realize that 160 marks was more than he had any hope of getting, ever... In the darkness of that night, when the others in the house were fast asleep, Erich climbed the ladder to the attic. In the silence and alone, he hanged himself.“ Undat. Ausschnitt, in: Nachlass Klaus Mann, MonacensiaSammlung, Bibliothek und Literaturarchiv der Stadt München. 44 „Berlin war ein phantastischer Eindruck. Die sauber aufgeräumte Ruinenstadt des Zentrums. Der Kurfürstendamm, oben pfui, unten hui, d.h. alle oberen Stockwerke zerstört, aber die Erdgeschosse repariert, mit Luxusläden darin. Nutten wie einst im Mai spazieren in roten Stiefeln auf und ab. […] Das Hansaviertel eine Mondlandschaft, ebenso das Lützowufer. Nachts kaum eine Seele dort. Die ausländischen Missionen führen ein surrealistisches Inselleben in dieser Stadt der zerbombten Häuser, ungeheizten Wohnungen, summenden Theater. Ein Kulturleben von besonderer Intensität z.T. infolge der Anwesenheit der vier Okkupationsmächte. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung verbiestert. Die Jugend zwischen 17 und 20 sehr interessant: skeptisch bis zum Exzess, lerneifrig, hungrig in jeder Beziehung. […] Man lebt unter einer Bevölkerung, die so wenig wie möglich aus ihrer Geschichte gelernt hat; jeder zweite hat eine Leiche

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eine im wahrsten Sinn des Wortes „phantastische Geschichte“ (Jean-Luc Godard) in Anwendung gebracht, um zu zeigen, was sich nur und alleine mit den Mitteln des „neorealistischen“ Films zu dieser Zeit zeigen ließ. Rossellini übte mit DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL die radikale Theorie einer filmischen Praxis aus – um hier Noel Burchs Buchtitel Theory of film practice (1969) anzuführen: eine phänomenologische Praxis des Filmemachens, die selbstverständlich der Er- und Aufklärung harrt, vor allem aber wieder und immer wieder neu und kontrovers gesehen werden will.

im Keller liegen. Es kommt nur darauf an, wann sie zu stinken beginnt.“ Brief von Ferdinand C. Weiskopf an Lion Feuchtwanger vom 27.02.1948, zit. nach: Volker Skierka: Lion Feuchtwanger. Eine Biographie, hrsg. von Stephan Jaeger. Berlin 1984, S. 280.

Indeterminacy and realism in cinema and art R OBERT P EPPERELL

This paper will address two moments in cinematic history: a shot that occurs in Robert Wiene’s avant-garde production of THE CABINET OF DR CALIGARI (1920) and the attempt by the main protagonist in Antonioni’s BLOW-UP (1966) to discern a phantom figure in a blurry section of a photograph. Both are examples of what I term ,visual indeterminacy‘, where images resist easy or deny immediate interpretation. Visual indeterminacy is in fact quite a common perceptual phenomenon. Although not very widely studied in science it has been recognized for centuries by visual artists and writers. I will discuss the phenomena of visual indeterminacy, its perceptual basis, and its wider implications for our understanding of how we see the world. In particular, I will note the impact of indeterminacy on our notion of the ,real‘ by looking at the work of the artist Gerhard Richter, whose images veer between the mechanically and expressionistically abstract to the photographic. Richter’s declaration that works of art should defy easy interpretation will be considered in relation a wider modernist preoccupation with indeterminate meaning.

I NTRODUCTION Historically, we have tended to accept a distinction between reality and imagination, with the ,real‘ world perceived as being ,out there‘ and the im-

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aginary world of the mind being thought of as ‚in here‘, in the head. However, neuroscientific evidence gathered over recent decades has shown that areas of the brain involved in the direct perception of objects in the world overlap with areas of the brain involved in visualizing or imagining objects.1 In other words, as far as the brain is concerned, there are no separate compartments for dealing with reality and the imaginary; in many ways they are treated as the same. This finding may have significant implications for how we understand the relationship between the mind and the world, and in this paper I want to explore some of them through a consideration of art and cinema. As an art student in the 1980s I watched THE CABINET OF DR CALIGARI (1920)2, a masterpiece of German avant-garde Expressionist cinema noted for its stylized visual appearance. Towards the end of the film, there is a prolonged still of a hand-written letter followed by a wipe to the next scene. At this moment I experienced something that profoundly impressed me. Despite the screen being full of clearly delineated forms, I was momentarily lost, unable to recognize what I was seeing. Some two seconds later — as a human figure rose from a bending posture — a wave of recognition overcame me, even though the image had changed only marginally. Figure 1 shows two frames from this sequence, the left hand image shows the point of non-recognition and the right image shows the point of recognition. I remember the intervening period being marked by a mild sense of panic, mixed with a brief euphoria. I had seen the world in a way that was at once detailed yet devoid of distinguishable objects.

1

Yasushi Miyashita:. „How the brain creates imagery: Projection to primary visual cortex“, in: Science, 268 (1995), S. 1719-1720. Common mechanisms of visual imagery and perception.

2

THE CABINET OF DR CALIGARI (D 1920, R: Robert Wiene)

I NDETERMINACY AND REALISM | 247

Figure 1. Two frames from THE CABINET OF DR CALIGARI. Photographed by the author

In: THE CABINET OF DR CALIGARI (D 1920, R: Robert Wiene)

As a young man in 1895, the artist Wassily Kandinsky saw one of Claude Monet’s luminous haystack series in a Moscow gallery. Unable to recognize what was depicted, he later recounted:

„And suddenly for the first time I saw a picture. That it was a haystack [or rather, a grain stack], the catalogue informed me. I didn’t recognize it … And I noticed with surprise and confusion that the picture not only gripped me, but impressed itself ineradicably upon my memory. Painting took on a fairy-tale power and splendour. And, albeit unconsciously, objects were discredited as an essential element within the picture.“3

A similar experience is recounted in a well-known passage from his Reminiscences when he returned to his studio at dusk and was astonished to see: „[…] an indescribably beautiful picture, pervaded by an inner glow“ standing against the wall.4 In it he could discern „only forms and colours“ and no comprehensible objects. It was in fact one of his own paintings turned upside down, which he had failed to recognize. Kandinsky had realized the

3

Thomas Parsons and Iain Gale: Post-impressionism, the rise of modern art

4

Kenneth Lindsay and Peter Vergo: Kandinsky: Complete Writings on Art. Lon-

1880–1920, London 1992, S. 255. don 1982. S. 369-370.

248 | ROBERT PEPPE RELL

potential of objectless images to evoke a remarkable perceptual response. He subsequently spent many years refining a visual language through which this insight could be expressed.

S EEING

AND KNOWING

In these cases where the automatic connection between what is seen and what is known is lost the experience can be more than mildly confusing; it can be revelatory. Within the frame of the screen or within the frame of a painting one expects to know what is depicted. Either that or the image is immediately classified as abstract, in which case there is no such expectation. But when the habitual act of recognition is temporarily suspended it is as if a gaping hole opens up the centre of one’s conceptual fabric. The representation no longer represents, and all one’s perceptual resources are poured in to try and plug the gap, to restore the familiar continuity of the semantic fabric. For me, and apparently for Kandinsky, such moments reveal a possibility of a world quite different from the one we ordinarily inhabit: a world still visually rich but at the same time objectless. I have called this phenomenon ‚visual indeterminacy‘. Here is an example of a visually indeterminate image commonly known as the Cow Illusion. Figure 2. The Cow Illusion

I NDETERMINACY AND REALISM | 249

Most people I show this to fail to recognize what is being depicted at first. If you don’t recognize the object immediately your mind is probably sifting through various possible alternatives, trying to match the perceptual input with appropriate conceptual knowledge derived from stored memories and associations. Once the cow is recognized, it is thereafter very hard to see the picture in any other way; from then on the ,top down‘ conceptual information in the brain determines how we interpret the ,bottom up‘ perceptual information arriving from our visual sensations. The phenomenon of visual indeterminacy demonstrates how fragile our perceptual grip on the world can be. What normally appears to us as a world full of solidly self-existing objects can suddenly evaporate into unsettling uncertainty if the link between perception and recognition is interrupted. I want to suggest that the fact that we can occasionally glimpse an objectless world tells us something about the nature of that world itself: that objects as we are used to experiencing them are not ,out there‘ in a form we directly access. Instead, our perceptual systems have to do work to make objects appear to us — a fact vividly revealed when those perceptual processes stumble or fail. Looking at an object, and being consciously aware of what we see, requires not simply that we passively register a pre-given external reality but that we actively construct an impression from the cues presented to us through the senses — a construction that is interpretative, necessarily incomplete, and vulnerable to error.

M AKING

INDETERMINATE ART

This problematic link between what we see and what exists in the world has fascinated me as an artist for many years. Since the experience I described when watching the THE CABINET OF DR CALIGARI I have trying in one way or another to replicate the visually indeterminate experience I had then by making images that induce the same effect. Starting with film and photography, then working with computer generated images and digital collage, and finally with drawing and painting, I have attempted to make images that hover on the boundary between seeing and knowing, between being objectless and object-full. This has not been easy. To make an image that convinces a viewer there is something there to be seen while at the same time denying any opportunity to recognize what that might be has

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proven difficult. This is partly because the human visual system is so adept at recognizing objects from the sketchiest of clues (think how a semi-colon and a bracket can conjure up a winking face ;) and partly because it is so ready to categorize as abstract or empty anything that appears to be noise, pattern or texture. Here are some further examples of my indeterminate paintings that play on the boundary between recognizability and abstraction. Figure 3. Paralysis, 2005, Oil on panel, 30 x 40 cm Figure 4. Liminus, 2006, Oil on panel, 90 x 60 cm

Pictures taken from the author’s private collection

I want to argue that the phenomenon of visual indeterminacy can reveal something about the ancient problem of how we relate to reality. Visual indeterminacy shows us something about the nature of the world as it exists prior to and in the process of being conceptually categorized, that is, as we become aware of what it contains. It tells us something about how reality is constituted for us, and how objects in the world come into being for us. To illustrate this I want to discuss a short sequence from the film BLOW-UP5 made in 1966 and directed by Michelangelo Antonioni, whose early career in Italy was connected with the postwar Neo-realist movement.

5

BLOW-UP (GB 1966, R: Michelangelo Antonioni)

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I NDETERMINACY

IN

BLOW-UP

BLOW-UP tells the story of a fashion photographer, played by David Hemmings, who becomes frustrated with shooting the models in his London studio and goes out to take photographs in a nearby park. There he secretly photographs a couple, becoming intrigued by the strange behaviour of the woman, played by Vanessa Redgrave. She sees him and runs after him, angry that he had been photographing her and asking for the roll of film. He refuses, but she later turns up at the studio and tries again to persuade him to give up the film. He eventually agrees, but gives her another roll instead. Intrigued by why she was so keen to get the negatives from him he develops the shots, prints them, and examines them, trying to piece together the events that photos captured. His attention is drawn to a patch of indistinct foliage in one of the photographs, which he blows up and examines more closely. Here is a moment of visual indeterminacy. The dark and light patches in the image strongly suggest the presence of something that is at the same time absent, until he has a flash of recognition and resolves the indeterminacy. He realizes he has inadvertently captured the moment when someone in the bushes is about to shoot the man he has been photographing, although we never find out exactly why these events have occurred. The film critic Sam Rohdie describes the significance of the sequence in the wider context of Antonioni’s cinematic style: „Since things lack the final determinations of a closed structure of events, and since the entire binding of events in a plot and in a drama are loosened to the point of disappearance, the entire film, and any image in it, is threatened with indeterminacy: hence the oscillation is central to Antonioni’s films and the problems the films pose of fixing a reality, of seizing upon a substance which seems so insubstantial, whose very presence is in doubt.“6

6

Sam Rohdie: Antonioni, London 1990, S. 178. There is another notable ,indeterminate‘ moment in BLOW-UP early in the film, where Hemmings goes to visit an artist friend who describes the process of finding recognizable forms in his Cubist-like works as like „finding a clue in a detective story“.

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The sequence makes an obvious play on the dual meaning of the word ,shoot‘, in the photographic and gun-related senses (in English at least). But it also probes the way we understand or make sense of the world around us by extracting meaningful information from the array of potentially significant clues available to our senses. It is legitimate to ask to what extent the figure in the bushes is really there prior to the moment the photographer recognizes it. At the moment of recognition the shadowy figure comes into being in a way it wasn’t before. At what point, then, does it become ,real‘? This filmic sequence in fact plays out over an extended period of time the almost instantaneous processes that occur in visual perception (and in fact in all modes of perception) from moment to moment when the chaotic flux of our indeterminate sensations are forced into conceptual categories, and so become determinate and meaningful things in the world.

V ISUAL

PERCEPTION

Vision scientists often refer to two fundamental stages of vision, which normally occur almost simultaneously but occasionally disconnect or misalign. The first is sometimes called the ,early‘, ,perceptual‘ or ,bottom up‘ layer.7 Here the visual information received by the visual cortex is organIzed into formal properties of shapes, colour, line and motion. The world appears to us here in almost abstract terms, full of contrast, form, shade, pattern, but lacking distinct or recognizable objects, much as Kandinsky described the images he saw as ,objectless‘. The other important aspect of vision is the ,cognitive‘, ,high-level‘ or ,top down‘ layer in which attaches meaningful information to the perceptual forms, identifying within it objects that correlate with our stored memories of things in the world built up over our lifetime. Normally these two layers work together almost immediately when we apprehend things in the world. But when errors creep in – either through temporary misperception or more permanent brain damage —the results can be profound. Visual agnosia is one such condition, where due to lesions in the brain the normal processes of perception and cognition fail to coincide. A famous

7

Martha Farah: Visual Agnosia, Cambridge, MA 2004, S 156.

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case was studied by the psychologists Humphreys and Riddoch.8 A patient of theirs, John, was able to see perfectly well in that his eyes were functioning normally, but was unable to recognize through sight alone the things he saw, even though he knew what the objects were and could recognize them by other means. John was able to copy the owl picture on the left of Figure 5, somewhat laboriously, but did so without realizing that the image depicted an owl.

Figure 5. John’s drawings from Humphreys and Riddoch (1987)

Reproduced by permission (© 1987 Oxford University Press)

One of the many interesting questions such cases raise is this: Where in reality is the owl? For those of us with normally functioning perceptual systems we see the owl as really there; but what John sees as real is an arrangement of abstract lines. John’s visual system does not have the capacity to construct the owl from the information available in the picture, and so for him it does not exist. Yet for us looking at the same object it does. This demonstrates the way in which the appearance of reality for us has to be actively constructed by the perceptual system. It is not merely ,there‘ to be

8

Glyn Humphreys and Jane Riddoch: To See But Not To See: A Case Study of Visual Agnosia, Hillsdale, NJ 1987.

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passively recorded, but has to purposefully sought out and discovered from a series of clues, in much the same way as the photographer in BLOW-UP hunts for meaning within his enlarged images. In the visually indeterminate image the link between the perceptual and cognitive layers is temporarily broken or frustrated. The act of trying to construct what is really there from the available clues is brought into the forefront of our minds; we become aware of it, and the reality we are used to finding ,out there‘ immediately is removed from our grasp.

R ICHTER

AND INDETERMINACY

The contemporary German artist Gerhard Richter is somewhat unusual among artists (but by no means unique) in that he works in a number of quite distinct styles. He is particularly recognized for both his photo-like images, often immaculately rendered9, and his generally larger abstract works, which he frequently produces by almost chance-like acts of scraping or squeegeeing, leaving the final effect to the unpredictable interaction between the materials and the tools.10 In the work of Richter, who as a young man was trained in the Socialist Realist school in East Germany, we are offered a range of image types that make the question of how his works relate to reality a very rich and complex one. For example, his photo-based works are sometimes referred to as being ,realistic‘, that is, they closely correlate to how the world ,is‘ in reality, whereas his abstract pictures may be regarded as having little or no relation to the appearance of reality, being more autonomous constructions, i.e. formal arrangements of pattern, shape and colour.11 But if we look at Richter’s work more closely and consider some pronouncements by the artist himself, we can find a more subtle understanding of the relationship between mind and reality and how this is expressed in

9

For example: Betty, Saint Louis Art Museum, Saint Louis, USA 1988.

10 For example: Bach (4), Moderna Museet, Stockholm, Sweden 1992. 11 In one sense these two strands of Richter’s work can been thought of as paralleling the two layers of visual perception discussed earlier: the ,representational‘ layer instantiating determinate objects that have specific meaning for us and the ,abstract‘ layer consisting in rich but meaningless shapes and patterns.

I NDETERMINACY AND REALISM | 255

and mediated through a practice like art. In fact, rather than being seen as either realistic in the conventional sense, or abstract in the non-representational sense, Richter’s work can be better understood as ,indeterminate‘ in the way described here. In other words, what the artist is trying to produce in his paintings is a sense of uncertainty, a lack of determinacy which draws viewers in to try and make sense of what they are seeing. Richter himself is very explicit about this. He wrote: „Pictures which are interpretable, and which contain a meaning, are bad pictures. A picture presents itself as the Unmanageable, the Illogical, the Meaningless. It demonstrates the endless multiplicity of aspects, it takes away our certainty, because it deprives a thing of its meaning and its name. It shows us the thing in all the manifold significance and infinite variety that preclude the emergence of any single meaning or view.“12

And in this exchange with the art critic Robert Storr, he makes a similar declaration: „GR: I try to avoid something in the painting resembling a table or other things. It’s terrible if it does because then all you can see is that object. RS: So you allow for aspects or suggestions of images in the abstract work but not actual pictures? GR: Not actual pictures. I just wanted to reemphasize my claim that we are not able to see in any other way. We only find paintings interesting because we always search for something that looks familiar to us. I see something and in my head I compare it and try to find out what it relates to. And usually we do find those similarities and name them: table, blanket, and so on. When we don’t find anything, we are frustrated and that keeps us excited and interested until we have to turn away because we are bored. That’s how abstract painting works… RS: I am just saying that you use paintings as a way of making it difficult for people to read the image. GR: Yes, that’s right.“13

12 Dietmar Elger and Hans Ulrich Obrist (Hrsg.): Gerhard Richter: Text, London 2009, S. 32-33. 13 Robert Storr: Gerhard Richter: Doubt and Belief in Painting, New York 2003. S. 178-179.

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In many of his works we can see Richter playing with the viewer’s perceptual expectations, encouraging them to „search for something that looks familiar to us“. Take the Baader-Meinhof series of paintings made in the late 1980s, and in particular Funeral.14 Many of the paintings in this series are based on blown up and degraded newspaper images, processed by Richter in such a way as to erase all obvious clues about the objects depicted, leaving only the overall structure of dark and light patches that make up the formal organization of the image. We get a strong sense that the images are full of meaningful objects, but it is not immediately apparent what they are. Richter actively encourages this struggle between audience and artwork as a way of heightening the aesthetic engagement with the work.

I MAGES

AND REALITY

Prior to the convulsions of the European avant-garde movement in art in the mid-nineteenth and early twentieth century there was a general understanding that what the still camera, and by extension the movie camera, did was to present reality to us ,as it is‘, that is, in an objective, accurate and determinate form. The optical media of photography was seen to be able to replace, in a faster and more efficient way, the role of painting in capturing visual experience in tangible and permanent matter. The overwhelming assumption throughout a large part of European history is that a picture should represent some aspect of external reality, albeit in a more or less detailed or stylized way. Some art historians have seen the history of art, at least in pre-Modernist epochs, as a series of continuous steps towards achieving the near photographic rendering of the world in representational form.15 Many of the art movements that broadly made up the avant-garde resisted or reacted against this notion, and often resulted in the making of images that left audiences being confused about what the image they were seeing was supposed to be. Even at a time when his work was quite read-

14 Beerdigung (Funeral), The Museum of Modern Art (MoMA), New York, USA 1988. 15 Ernst Gombrich: „Visual Discovery through Art“, in James Hogg (Hrsg.): Psychology and the Visual Arts. London 1969, S. 215-238, hier: S. 215.

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able by today’s standards, the British Romantic artist J M W Turner found himself subject to rebuke and ridicule when exhibiting publicly some of his atmospheric landscapes in the early nineteenth century. One critic wrote: „Mr. Turner has doubtless heard that obscurity is one source of the sublime, and he has certainly given to the picture a full measure of this kind of sublimity. Perhaps his work may be best described by what a lady said of it — that it is all flags and smoke.“16

Even some years after his death, Turner still had an international reputation as an artist who confused his public. In 1871 a French critic wrote: His painting degenerated into lunacy. [His late works] compose an extraordinary jumble, a sort of churned foam, a wonderful litter in which shapes of every kind are buried. Place a man in a fog, in the midst of a storm, the sun in his eyes, and his head swimming, and depict, if you can, his impression on canvas; these are the gloomy visions, the vagueness, the delirium of an imagination that becomes deranged through over straining.“17

Like Turner, Claude Monet endured public ridicule for exhibiting works that lacked objective delineation, perhaps most famously in the case of Impression, Sunrise18 — a view of Le Havre that Monet chose to exhibit at the first exhibition of the Impressionists group in 1874. The notorious satirical review of the show by the artist Louis Leroy instantiated the use of the term ,impressionism‘, which Leroy took to mean the rendering of natural forms in a loose, shorthand way. The resultant visual uncertainty (we use the word ‚impression‘ to denote a sketchy understanding rather than more detailed knowledge) caused the reviewer to exclaim in front of Monet’s painting,

16 Quoted in Jerrold Ziff: „Proposed Studies for a Lost Turner Painting“, in: The Burlington Magazine, 106 (1964), number 736, S. 328-333, hier: S. 329. 17 Hippolyte Tain quoted in Katharine Lochnan: Turner Whistler Monet, London 2004, S. 37. 18 Impression, Sunrise, 1872-73, Musée Marmottan, Paris, France.

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„What does that canvas depict?“ as he resorted, like Kandinsky, to the catalogue for a means of identification.19 The European avant-garde, then, could be held responsible in large part for a general shift in how we understand the relationship between images and reality, away from the simple view that painting and photographs clearly show us the world ,as it is‘ towards one of much greater complexity, even confusion where we can’t be certain of what we are seeing, or have to work hard to interpret the visual material before us. The facile link between external reality and its pictorial representation was successively broken throughout the nineteenth and into the twentieth century. Richter himself is both an inheritor and a contributor to this modernist tradition in which the artist challenged and subverted the realistic intent of figurative representations and forced viewers into an active struggle to recover the meaning of the work as opposed to being a passive recipient of pre-formed determinates. In Richter’s work there is no simple demarcation between the real and the abstract, the factual and the interpreted. In fact, he goes so far as to reverse, or at least upset, the conventional understanding of the relationship between reality and the way it is depicted in photographs and paintings. He has said for example: „Photography has almost no reality; it is almost a hundred per cent picture. And painting always has reality; you can touch the paint; it has presence; but it always yields a picture — no matter whether good or bad. That’s all theory. It’s no good. I once took some small photographs and smeared them with paint. That’s partly resolved the problem, and it’s really good — better than anything I could say on the subject.“20

The painted photographs, like much of Richter’s work, play with the interface between the real and the imaginary, the mechanical and the expressive, paint and photograph, recognizable and unrecognizable, determinate and

19 Louis Leroy: „The Exhibition of the Impressionists“, in: Le Charivari, 25 April (1874). 20 Elger and Obrist: Gerhard Richter, S. 273.

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indeterminate.21 By presenting on the same picture plane both a conventional pictorial image and a viscous, erratic ,abstract‘ painted marks, Richter sets up a complex negotiation between the viewer and the artwork in which the final meaning of the image remains elusive and fluid. In Richter’s terms, this process endows the ,unreality‘ of the photograph with the tactile, material reality of painting, so upending our habitual categories of what is realistic and what is not so.

I NDETERMINACY

AND REALITY

The phenomenon of visual indeterminacy disturbs the apparently direct or immediate relationship between external reality and how we perceive it and represent it; it prevents us making an easy connection between what we see and what is ,out there‘. I would also argue that the experience of the visually indeterminate transcends the simple binary abstract/real distinction by which we define so many images and so much art by bringing the externally real and the internally real together in the act of imaginative interpretation. We are reminded that all experience of reality is a matter of interpretation; nothing ,out there‘ is inherently meaningless or meaningful until we chose make it so. In this sense all perceptual acts are interpretative, although we tend to overlook this since the process of interpretation occurs seemingly immediately and in most cases effortlessly. But occasionally we face a situation — as I did watching THE CABINET OF DR CALIGARI or as the Hemmings character did in BLOW-UP looking at the enlarged photographs — where the immediate grasp of the depiction is frustrated, and we are forced to struggle to recover our sense of the reality of the world around us. It in this indeterminate state of perception that we come closer (perhaps as close as we can ever come) to experiencing reality as it exists before we determine, for our own purposes, what we take it to be. The process of visual indeterminacy slows down, and in doing so makes us aware of the way our perceptual systems work to construct an ,appearance of reality‘ that is as much subjective as it is objective, as much a product of our own manu-

21 For example: Misty Self-Portrait (18.1.1990), Anthony d’Offay Gallery, London, UK 1990.

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facture as it is of any external, independent world properties. This is why I argue visual indeterminacy is of fundamental importance in understanding not only great historical shifts in art and the motivations of important artists but the very nature of perception and our relationship to the world. The consequences of this realization are profound: if we are always complicit in the production of reality then we can no longer enforce a clear demarcation between an external objective world and an internal subjective experience, just as we can no longer enforce an easy separation between perception of the world and our imaginings of it. In these terms, subjective experience becomes part of objective reality, indeed the very fabric within which it is created. This sense of how reality coincides with the way it appears to us is captured in this final statement from Richter: „I never wanted to capture and hold reality in a painting. Maybe in a weak moment I did, but I don’t remember. However, that was never my intention. But I wanted to paint the appearance of reality. That is my theme or job.“22

22 Storr: Gerhard Richter, S. 172.

Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismo Offenheit zum Leben

V ITTORIA B ORSÒ

Die Rezeption des Neorealismo sah sich mit einem scheinbaren Widerspruch konfrontiert, der sich auftat zwischen einerseits dem Ethos einer radikalen Hinwendung zur Realität, und andererseits dem Willen zu formalen Experimenten. Doch ist dieser Widerspruch keiner, wenn man bedenkt, dass der Neorealismo eine Neubewertung des Kompromisses der Kunst mit der Wirklichkeit sucht, nachdem innerhalb des Realismus des 19. Jhs. selbst (Gustave Flaubert, Fjodor Dostojewski), aber besonders im modernen Roman – von Marcel Proust zu James Joyce1 oder André Gide – die referenzillusionistische Mimesis hinter sich gelassen wird. So bezieht sich auch Alberto Moravia auf Dostojewski, Proust und Joyce, wenn er, wie früher auch Pirandello, den Zerfall des personaggio im modernen Roman feststellt. In diesem zähle nicht die psychologische Wahrscheinlichkeit der Figuren, sondern ihre Beziehung zum Schriftsteller, weshalb Romancharak-

1

„Così, partendo dallo stesso impressionismo, Proust e Joyce dissolvono fatalmente il personaggio, il primo nel fluire mutevole del tempo e il secondo nella congerie degli oggetti che la coscienza gli propone. Il personaggio con loro si gonfia, si estende oltre i limiti umani, è il tempo che passa, la massa delle cose che esistono, alla fine esplode e si dissolve.“ (Alberto Moravia: „L’uomo e il personaggio“, in: ders.: L’uomo come fine e altri saggi, Mailand 1964, S. 19-26, hier: S. 25)

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tere zu einer Form der ethischen Geste werden.2 Diese Geste kommt nicht durch Inhalte, sondern durch formales Engagement zum Ausdruck. So ist die Krise der Figur auch für Moravia eine Krise des Konzepts des Menschen,3 und dies ist eine Frage, die für alle sogenannten Neorealisten nach dem Zweiten Weltkrieg zentral ist, wie Cesare Pavese in einem in L’Unità (20. Mai 1945) erschienenen Essay „Ritorno all’uomo“ deutlich macht.4 Schon in diesen kurzen Bemerkungen zeigt sich, dass die Kritik der referenzillusionistischen Mimesis nicht sehr weit kommt. Tatsächlich geht das Phänomen der Mimesis über die Frage wahrscheinlicher Narration hinaus, zählt doch die Nachahmungsgeste zu den zentralen Vermögen des Menschen.5 In diesem erfährt man die Differenz zwischen „Natur“ und „Kunst“, Welt und Sprache, weshalb sich Nachahmung zu einer „Mimesis am Fremden“ eignet,6 und Mimesis das Verhältnis des „Menschen zur

2

So Moravia: „In altre parole il personaggio non è il frutto di un’osservazione più o meno minuziosa e precisa; bensí la forma del giudizio morale.“ (Moravia: „L’uomo e il personaggio“, S. 22); „Per la prima volta si capí che ciò che importava nel personaggio non era tanto la verosimiglianza bensí la natura dei suoi rapporti con lo scrittore, il modo con il quale questa sua nebulosa si addensava e prendeva figura sotto la penna, l’affetto e l’odio che costituiva il suo legame segreto con l’uomo che creava.“ (Moravia: „L’uomo e il personaggio“, S. 24)

3

Vgl. ebd., S. 26.

4

Cesare Pavese: „Ritorno all’uomo“, in: ders.: Saggi letterari, Turin 21973, S. 4345.

5

Vgl. Walter Benjamin: „Über das mimetische Vermögen“, in: Rolf Tiedemann und Hermann Scheppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Bd 2, Frankfurt a. M. 21991, S. 210-213; vgl. auch Walter Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen“, in: Rolf Tiedemann und Hermann Scheppenhäuser (Hrsg): Gesammelte Schriften, Bd II.1, Frankfurt a. M. 21991, S. 204-210.

6

„Repräsentation“ meint „Mimikry ans Fremde“. Christoph Wulf veranschaulicht dies anhand von Figurinen der mittelamerikanischen Cuna-Kultur, welche im Aussehen und in der Kleidung den weißen Kolonisatoren ähneln (Taussig 1993). Sie sind „Figurationen des Dazwischens“; in ihnen mischen sich Fremdes und Eigenes (Christoph Wulf: „Der Andere“, in: ders., Remi Hess (Hrsg.): Grenzgänge: Über den Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden, Frankfurt a. M. und New York 1999, S. 13-37, hier: S. 33).

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Welt, zum Anderen und zu sich selbst“ umfasst.7 Was die Sprache des Films betrifft, so argumentiert Pier Paolo Pasolini, dessen Poetik nahe am neorealistischen Film steht, in eine ähnliche Richtung. Das Kino bedient sich eines ‚realen Zeichens‘, eines insegno, in dem sich zwei Systeme verknüpfen: das System mimetischer Zeichen mit dem der Sprache.8 In diesem Bedeutungsumfang bleibt die Mimesis auch für den Neorealismo relevant. Doch lässt sich das Phänomen des Neorealismo am besten über die Arbeit am Medium fassen. In dieser können wir auch den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Entzug metaphysischer Gewissheiten, einschließlich der referentiellen Funktion des Kunstwerks, und einem gleichzeitigen Willen, dem Realen zu begegnen, am konkreten Phänomen festhalten. Die Koordinaten dieser Begegnung müssen indes neu definiert werden – darüber sind sich die theoretischen Texte der italienischen ¸Neorealisten‘ im Klaren. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hat die Wirklichkeit kein verbürgtes Konzept mehr; die Welt erscheint undurchdringlich. Gerade aber in undurchdringlichen Formen der Darstellung sehen Schriftsteller wie Italo Calvino, Elio Vittorini und Cesare Pavese die Möglichkeit, nahe an einem Realen zu sein, das nunmehr fremd geworden

7

Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur Kunst Gesellschaft, Reinbek 1998, S. 374.

8

Vgl. Pier Paolo Pasolini: „Il cinema di poesia“, in: ders.: Empirismo eretico, Mailand 32000, S. 167-187, hier: S. 167. Mit dem Begriff des imsegno meint Pasolini, dass die Objekte selbst elementare Zeichen für die Kamera darstellen, die allerdings kein System im Sinne eines Wörterbuchs oder einer Enzyklopädie (Umberto Eco) bilden, weil sie unendlich kombinierbar sind (Pasolini: „Il cinema di poesia“, S. 168). Pasolini irritiert bewusst – so Deleuze – die Grundlage des semiotischen Credos, nämlich die im Begriff des Referenten angenommene stabile Beziehung zwischen Zeichensystemen und Dingen (Gilles Deleuze: L’Image-Temps: Cinéma 2, Paris 1985, S. 42) und spricht von realen Zeichen des Kinos als Umkehrung der semiotischen These, die Realität sei zeichenhaft. In dieser Umkehrung sieht Giuseppe Zigaina Pasolinis den Willen zur Deontologisierung der Realität (Giuseppe Zigaina: Pasolini e l’abiura, Venedig 1994, S. 77).Vgl. Vittoria Borsò: „Pasolinis ‚Decamerone‘ oder eine kinematographische ‚Divinia Mimesis‘ – Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film“. In: Jochen Mecke und Volker Roloff (Hrsg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 1999, S. 355–374, hier: S. 367-368.

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ist. Die Implikationen sind weitreichend. Denn gerade der Widerstreit zwischen der Fremdheit des Realen und einem gleichzeitig intensiven Pathos der Nähe zum Realen sind Zeichen einer Modernität, die sich als Bruch mit der Welt zu erkennen gibt.9 So ist der Bruch, der sich schon im 19. Jh. etwa bei Gustave Flaubert ankündigt und zwischen Geschichte und Sprache erfolgt,10 in der Nachkriegskunst umfassend. Er bezieht sich auf das Verhältnis von Sprache und Welt selbst, ist doch die nach dem Krieg verfügbare Sprache eben auch die Sprache des Unerhörten und Undenkbaren gewesen. Die im semiotischen Begriff des Referenten vorausgesetzten Analogiebeziehungen zwischen Subjekt und Realität oder zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit können hier nicht vorausgesetzt werden. Das Reale bleibt fremd. Und dies wird von der Materialität des Mediums mimetisch anverwandelt, ob es sich um Film oder Literatur handelt. Anders gesagt: die Fremdheit des Realen ist dem Medium immanent, das Reale wird als Differenz ins Medium eingeholt.11 Der Neorealismo kommt zu einem neuartigen Kompromiss mit der Wirklichkeit, indem er an der Wirklichkeit des Mediums, an seiner Materialität, und damit an der Wahrnehmung arbeitet. Deshalb führt der Weg zum Realen auch zu einer Ästhetik,12 die nach neuen Sichtbarkeiten sucht,

9

Vgl. auch den Aufsatz von Federico Bertoni in diesem Band.

10 Flaubert bearbeitet dies explizit in Salammbô. Vgl. Vittoria Borsò: „,Zeitbild‘ – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts ‚Salammbô‘“. In: Wolfgang Lange, Jürgen Paul Schwindt und Karin Westerwelle (Hrsg.): Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewußtseins, Heidelberg 2004, S. 197–220. 11 Vgl. den Aufsatz von Beate Ochsner in diesem Band. 12 So auch André Bazin, etwa schon am Anfang des Kapitels „Der kinematographische Realismus und die italienische Schule der Befreiung“: „Nach meiner Meinung ist es das Verdienst des italienischen Films, noch einmal daran erinnert zu haben, dass es keinen ‚Realismus‘ in der Kunst geben kann, der nicht zuallererst und zutiefst ‚ästhetisch‘ ist.“ (André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 140); und später im Kontext der Nähe des Neorealismo zu amerikanischen Schriftstellern wie Steinbeck, Hemingway oder Faulkner: „Ich würde sagen, nicht nur durch Sprache und Sujet, sondern zutiefst durch den Stil“ (150). Auch bei den Parallelen in der Erzählform von Orson

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und dies begründet die immer wieder besprochene Nähe von Kino und Literatur. So muss man die Frage grundsätzlicher stellen: das Kino und die Literatur des sogenannten Neorealismo arbeiten an der Visualität, in der im Abendland seit Plato das Verhältnis von Medium und Wirklichkeit verhandelt wird. Hinzu kommt eine medienhistorische Argumentation, denn die neuen Medien lassen in der Kultur der ersten Hälfte des 20. Jhs. die Frage der Visualität in den Vordergrund rücken. Die Dichte des Materials und das formale Engagement sind die Dimensionen, in denen sich das Pathos des Realen erfahren lässt; so wird auch die Herausforderung, an der Visualität zu arbeiten, der Materialität des Mediums anvertraut. Materialität im Titel dieses Aufsatzes kündigt deshalb auch einen methodischen Weg an. Es geht nicht um die Darstellung der Realität, sondern um das Ereignis des Wahrnehmens ebendieser über optische und andere sinnliche Erfahrungen, die von der Materialität des Mediums ausgehen. Selbst der so oft missverstandene André Bazin betont dies mehrfach.13 In Bezug auf das visuelle Wahrnehmen ist die Realität eine doppelte Herausforderung: Das Problem ist: Wie sehen und wie das Wissen über das Sehen überhaupt denken? So verspricht die Untersuchung der Arbeit am Medium und der Ästhetik des sogenannten Neorealismo auch grundsätzlichere Erkenntnisse über die Bedingung des Sehens und dessen Bezug zum Realen. Die Wüste, die die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hinterlässt, verlangt tatsächlich nach gänzlich anderen Sichtbarkeiten, weshalb die von Kinoautoren und Schriftstellern gestellte Forderung, ,zu den Sachen selbst‘ zurückzugehen, komplexer als nur die Spannung zwischen Realismus und experimenteller Ästhetik ist. Die Stärkung der Dinge ist im Neorealismo Symptom einer Verletzung des Subjektes, welches die Souveränität als weltentwerfende und weltinterpretierende Instanz verloren hat und es der ,Magie‘ der Dinge anvertraut, den Bruch zur Welt, wenn nicht zu überwinden, doch zu bearbeiten, und zwar durch die Arbeit an der Visualität. Deshalb wird die Welt nicht beschrieben; es ist vielmehr ein sich Ereignen von

Welles’ CITIZEN KANE und Rosselinis PAISÀ spricht er von einer „ästhetischen Konzeption des ‚Realismus‘“ (154). 13 z.B. im Brief an Aristarco: „Der Neo-Realismus ist immer die mit den Augen des Künstlers gesehene Realität, die durch sein Bewusstsein gebrochen wird, aber durch sein Bewusstsein als Ganzes“ (Bazin: Was ist Kino?, S. 161-162).

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Welt in der Sprache oder im Bild, ein Ereignis voller Unbestimmtheiten und Kontingenzen.14 Neue Sichtbarkeiten ergeben sich aus dem Durchspielen individueller Konkretisierungen ebenso wie aus der Opazität der Räume, in welchen sich Wahrnehmen, Erinnern und Imaginieren kreuzen. Die Suche nach der Erfahrung von Welt wird zu einem Verhältnis von Materie und Geist oder von Exteriorität der Welt vs. Innerlichkeit des Erkennens. Sie gehen ineinander über, wie wir es heute aus den Neurowissenschaften wissen.15

D IE D INGE

UND DAS RESPONSIVE

S UBJEKT

In „Alcune Idee sul cinema“16 lehnt Cesare Zavattini das kommerzielle Kino ab, weil es die Menschen nur durch Derivate emotional bewegt (traslati). Dagegen postuliert er, man solle lernen, die Welt anzuschauen, „basta saper guardare il mondo“, und zwar eine Welt, die, wie auch André Bazin es betonte, „ist“17, d.h. in autarker Weise vom Menschen unabhängig exi-

14 Im Zusammenhang der Analyse von PAISÀ hebt Bazin eine im Neorealismo stattfindende Entanthropomorphisierung des Blickes hervor, die der nouveau roman und die nouvelle vague zum Programm machen werden: „Der Mensch selbst ist nur eine Tatsache unter anderen, ihm wird nicht a priori eine besondere Bedeutung zugemessen. Deshalb können auch nur die italienischen Regisseure Szenen im Autobus, auf dem Lastwagen oder in der Eisenbahn zustande bringen, die eine ganz besondere Intensität des Schauplatzes und der Menschen aufweisen“ (Bazin: Was ist Kino, S. 153). 15 Vgl. den Essay von Robert Pepperell in diesem Band. 16 Der Essay erschien in La rivista del cinematografo Dezember 1952. Cesare Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, in: Gian Piero Brunetta (Hrsg.): Letteratura e cinema, Bologna 1976, S. 74-80. 17 In eine ähnliche Richtung geht auch André Bazin, wenn er bei der Besprechung von Rossellinis PAISÁ sagt: „Die Einheit der Filmerzählung in ‚Paisà‘ ist nicht die Einstellung, der abstrakte Blickpunkt auf die Realität, die analysiert wird, sondern die ‚Tatsache‘. Fragment der unbearbeiteten Realität, in sich selbst vielfältig und vieldeutig. […] Zweifellos hat der Regisseur diese Tatsache genau ausgewählt, jedoch indem er ihre Integrität respektiert“ (Bazin: Was ist Kino, S. 152-153).

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stiert. Denn das Reale hat an sich eine Potenz, eine kommunikative Potenz und eine Ausstrahlung, die vor dem Neorealismo unbekannt waren, meint Zavattini. Die Potenz des Realen verändert aber die Position des Betrachters, der nicht mehr souverän beobachtet (osserva), sondern als Schauender vor der Welt steht. Zu Beginn seines Essays betont Zavattini mehrfach das Beziehungsverhältnis zu den Dingen und zu den Ereignissen: „Da una inconscia e radicata sfiducia nella realtà, da una illusoria ed equivocal evasion si è passati ad una fiducia illimitata nelle cose, nei fatti, negli uomini. Tale posizione esige naturalmente la necessità di scavare, di dare alla realtà quella Potenza, quella comunicativa, quei riflessi che fino al neo-realismo si credeva non avesse.“18

Es geht um die Errettung des Lebensimpulses in einer kritisch gewordenen Gesellschaft, wobei Elemente von Bergsons „élan vital“, nämlich die gemeinsame Bewegung der lebendigen Dinge (der Arten, Gattungen, Individuen) und deren Potentialität eine Rolle spielen dürften. Die Potentialität des Lebendigen führt den Menschen in eine fundamentale Bezüglichkeit zur Welt; der Mensch muss jeden Augenblick auf die Ansprache und Relationalität des Seienden vorbereitet sein; er ist zur selbstkritischen, antwortenden und verantwortlichen Antwort verpflichtet, so die Ethik und Ästhetik Zavattinis: „La presa di possesso da parte della nostra coscienza della correlatività di tutto ciò che esiste, e perciò di una decisiva e costante presenza degli uomini (di qualunque uomo) in tutto ciò che accade, obbliga a una resa di conti continua ora per ora, persona per persona.“19

18 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 75. „Von einem unbewussten und verwurzelten Misstrauen gegenüber der Realität, von einer illusorischen und zweideutigen Evasion ist man zu einem unbegrenzten Vertrauen in die Dinge, in die Fakten, in den Menschen gekommen. Eine derartige Position bringt natürlich die Notwendigkeit mit sich, zu graben, der Realität jene Potenz, jene Kommunikation, jene Reflexe zu verleihen, von denen man bis zum Neorealismo meinte, dass die Realität sie nicht besitzt.“ (Alle Übersetzungen Vittoria Borsò [V.B.]) 19 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 76. „Das Ergreifen seitens unseren Bewusstseins der Korrelativität von all dem, was existiert, und deshalb auch einer

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Das Kino ist aber gerade wegen des Zwangs zum Sehen ohne Derivate ein analytisches Medium, das dazu führt, über die eigene Position gegenüber den Anderen zu reflektieren, weshalb es einen ethischen Impuls hat: „il prepotente desiderio del cinema di vedere, di analizzare, la sua ‚fame di realtà‘, è l’omaggio concreto verso gli altri, verso tutto ciò che esiste“.20 Das unbändige Begehren nach dem Sehen des Realen heißt in Bezug auf das Kino auch ein unbändiges Begehren, den eigenen ,Hunger nach Realität‘ zu analysieren, und dies nennt Zavattini eine konkrete Hommage an das Andere, an all das, was existiert.21 So enthält die analytische Haltung des Kinos eine potente Bewegung zu den Dingen hin: „Per ora siamo piuttosto in un ‚atteggiamento‘ analitico. Ma già in questo atteggiamento c’è un potente movimento verso le cose: un desiderio di comprensione, di adesione, di partecipazione di convivenza, insomma.“22

Wir müssen hier eine weitere Kategorie besprechen, die in den bisherigen Diskussionen noch eine geringe Rolle gespielt hat, nämlich die Position des Subjekts. Bei der von Zavattini aufgerufenen Konstellation ändert sich diese. Weil sich das Subjekt in der Relation zum Anderen konstituiert und autorisiert, muss es als schwache Kategorie gedacht werden. Es geht nicht um das Bild der sozialen Beziehungen, sondern um das Bild als soziale Bezie-

entscheidenden und konstanten Präsenz der Menschen (von irgendeinem Mensch) in alldem was sich ereignet, zwingt zu einer kontinuierlichen wechselseitigen Rechenschaft, Stunde für Stunde, Mensch für Mensch.“ [Übersetzung V.B.] 20 Ebd., S. 76-77. „Der unbändige Wunsch des Kinos zu schauen, den eigenen Hunger nach Realität zu analysieren, ist die konkrete Hommage gegenüber den anderen, gegenüber all dem was existiert.“ [Übersetzung V.B.] 21 So spricht auch André Bazin von Rosellinis „Liebe nicht nur zu seinen Figuren, sondern zum Realen überhaupt“ (André Bazin: „Verteidigung von Rossellini“, in: ders.: Was ist Kino, Köln 1975, S. 156-165, hier: S. 161). 22 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S.78. „Wir befinden uns derzeit in einer analytischen Haltung. Aber schon in dieser Haltung besteht eine potente Bewegung zu den Dingen hin: ein Wunsch nach Verstehen, nach Adhäsion, Partizipation, Mitleben.“ [Übersetzung V.B.]

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hung. Bezüglichkeit und Bindung an die Dinge ist die philosophische Antwort von Zavattini und von der Nachkriegsliteratur auf jene Krise, die sich in Philosophie und Gesellschaft als subjektive Erfahrung der Entfremdung in einer von der Katastrophe zerrütteten Welt ausgedrückt hat, aber schon im Marxismus als Folge der Beherrschung durch die Welt der Dinge, der Waren (später der Technik und Kybernetik) angesprochen wurde. Deshalb sollen die Dinge Pathos ausstrahlen. Darin finden wir auch das gemeinsame Merkmal der neorealistischen Ästhetik auf der Suche nach einer Neudefinition des Verhältnisses von Mensch und Welt. Zavattini macht klar, dass die heute notwendige Positionierung des Menschen dazu verpflichtet, das Problem der Erkenntnis der Wirklichkeit radikal zu buchstabieren.23 Dies impliziert eine Rücknahme des Subjektes und eine Absage an die Intervention des Schriftstellers oder Kinoautors, damit die Bedeutsamkeit und Ausdrucksstärke der Dinge, wie sie sind, zum Tragen kommt: „In sostanza oggi non si tratta più di far diventare ‚realtà‘ (far apparire vere, reali) le cose immaginarie, ma di fare diventare significative al massimo le cose quali sono, raccontate quasi da sole. Perchè la vita non è quella inventata nelle ‚storie‘, la vita è un’altra cosa. E per conoscerla è indispensabile una ricerca minuziosa e continuata, parliamo finalmente di pazienza.“24

Zavattini präzisiert, dass mit der Bedeutsamkeit der Dinge, ,wie sie sind‘, etwas gemeint ist, was Leben genannt werden kann. Um dem näher zu kommen, lässt der Neorealismo den Antagonismus von Subjekt und Objekt

23 „Ecco che è necessario precisare un altro punto di vista. Secondo me il mondo continua ad andar male perché non si conosce la realtà. E la più autentica posizione di un uomo oggi è quella di impegnarsi a scandire fino alle radici il problema della conoscenza della realtà.“ (Zavattini: „Alcune idée sul cinema“, S. 78) 24 Ebd., S. 78: „Im Grunde handelt es sich heute nicht mehr darum, imaginäre Dinge ‚Wirklichkeit‘ werden zu lassen (wahr, real erscheinen zu lassen), sondern die Bedeutsamkeit der Dinge wie sie sind, von sich selbst erzählt, hervortreten zu lassen. Weil das Leben nicht das ist, was in ‚Geschichten‘ erfunden wird; das Leben ist etwas anderes. Und um es kennen zu lernen ist eine minuziöse, kontinuierliche Suche notwendig; wir sprechen schlussendlich von Geduld.“ [Übersetzung V.B.]

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hinter sich und setzt die Bindung von Mensch und Welt an dessen Stelle. Dies ist die Leistung des Bildes als soziale Beziehung. Auf das Beziehungsverhältnis von Menschen und Dingen sowie Mensch und Mensch geht auch Italo Calvino in einem literaturtheoretischen Essay aus dem Jahre 1955 ein.25 Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sind verbürgte Bindungen zusammengebrochen, stellt Calvino in „Il midollo del leone“ fest.26 Die Suche nach neuen, verantwortlichen Formen der Bindung wird in diesem Essay als die zentrale Aufgabe der Schriftsteller in der Nachkriegszeit gesehen.27 So ist auch im späteren Werk die Kon-

25 Vgl. Italo Calvino: „Il midollo del leone“ [1955], in: ders.: Una pietra sopra: Discorsi di letteratura e società, Turin 1980, S. 3-18. 26 Im Prolog zu Gargantua et Pantagruel vergleicht Rabelais den Akt des Lesens mit der Tätigkeit eines Hundes, der einen Knochen aufbricht, um die innere Substanz aufzusaugen, nämlich das Knochenmark „A l’exemple d’icelluy [un chien rencontrant quelque os médulare] vous convient estre saiges, pour fleurer, sentir et estimer ces beaulx livres de haulte gresse, legiers au prochaz et hardiz à la rencontre; puis, par curieuse leçon et meditation frequente, rompre l’os et sugcer la sustantificque mouelle.“ (François Rabelais: „Prologue“, in: ders.: Gargantua et Pantagruel, Paris 1973[1534], S. 38-41, hier : S. 39). Rabelais verknüpft die christliche Hermeneutik der vier Schriftsinne (buchstäblich, allegorisch, moralisch, anagogisch) mit der Medizin, die im 16. Jh. die Substanz des Knochenmarks ähnlich dem Gehirn einschätzte. Diese Verknüpfung und die Metapher des Saugens profaniert den theologischen Bezug, denn bei der Suche eines „höheren Sinns“ spielen in subversiver Weise die sinnliche und körperliche Dimension eine wichtige Rolle. In seinem Bezug auf Rabelais übernimmt Calvino die subversive Geste und betont, die Oberfläche formaler Experimente sei der Träger einer Ethik des Subjektes. 27 Das Verhältnis von Mensch und Welt ist auch der bisher kaum beachtete rote Faden in den so unterschiedlichen Phasen des Schreibens und Formen des politischen Engagements bzw. der Distanzierung Calvinos von der Politik. Der als postmoderner Kybernetiker missverstandene Schriftsteller hört nicht auf, den neorealistischen Kompromiss mit der Welt in Form des Kampfes gegen Ideologie und Zeichenlabyrinthen zugunsten der Diversität und des „Gewichts“ der konkreten Welt auf sich zu nehmen. Dies verfolgt ihn bis zur letzten EssaySammlung Collezione di sabbia und bestimmt die Visualitätsexperimente von Palomar. Vgl. Vittoria Borsò: „Die Exteriorität des Blickes oder die Ethik der

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sistenz der Welt, deren Undurchdringlichkeit28 und ein „Meer von Objektivität“29 eine Grenze für das Ich, aber diese Grenze wird zur Chance, sich in der Beziehung zum Fremden, Differenten zu erfahren. Die Expressivität der Literatur30 und die im Essay von 1955 thematisierte, unhintergehbare Relationalität zu den Dingen sind für Calvino der Weg zur Solidarität gegenüber dem Leben. Deshalb ist die Funktion von Literatur auch schon in „Il midollo del leone“ die Anregung eines ethischen Impetus mittels formaler Experimente, die zur Verantwortung, zur Selbsterfahrung als antwortendes Individuum führen sollen. Wie sieht aber die Ästhetik aus, die dieses an die Dinge gebundene Konzept des Lebendigen verwirklicht?

D IE M ATERIALITÄT DES R EALEN – W IDER DIE Ü BERDETERMINIERUNG DURCH DAS N ARRATIV FÜR DAS ORNAMENTALE S CHREIBEN Zavattini macht klar, dass es beim Kino des Neorealismo um die Relation der Wirklichkeit zum Menschen geht, der jedoch ohne Vororientierung vor

Rahmenverschiebungen (Calvino, Levinas)“, in: Claudia Öhlschläger (Hrsg.): Narration und Ethik, München und Paderborn 2009, S. 127-144. 28 Vgl. Italo Calvino: „La nuvola di smog“, in: ders.: La nuvola di Smog e la formica argentina. Turin 1958, S. 9-81. 29 Vgl. Italo Calvino: „Il mare dell’oggettività“, in: ders.: Una pietra sopra, Turin 1980, S. 39-45, hier: S. 39. Die Dinge limitieren zwar das Subjekt, indem sie es von ihnen abhängig machen, aber es ist – gerade dieser – mit Merleau-Ponty gesprochen – phänomenologische Chiasmus, der den Menschen zu einem „schwachen“, weil profund relationalen Subjekt macht. Vgl. Vittoria Borsò: „Jenseits der Vernunft des Dritten oder ZusammenLeben als affirmative Lebenspolitik. Überlegungen zu einer Theorie des Zusammenlebens aus Sicht von Literatur und Kunst“, in: Ottmar Ette (Hrsg.): ZusammenLebenWissen (im Druck). 30 Calvino sieht in der „volontà di esprimere“, nämlich dem „Willen zum Ausdruck“, einen Gegensatz zum Dokument oder zur Information und eine dringende Aufgabe der Nachkriegsautoren. Vgl. auch Calvinos „Prefazione“ [1964], in: Sentiero dei nidi di ragno, Turin 1970, S. 7-24, hier: S. 8. Ich verweise auch auf den Aufsatz von Federico Bertoni in diesem Band.

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der Welt steht. Diese phänomenologische Problematisierung der Wahrnehmung führt zu einer Aufwertung der Materialität des Realen, einer Materialität ohne ideologische Matrix.31 So wird von Zavattini die für diese Ziele ästhetisch nutzbare Unbestimmtheit des Kameraauges hervorgehoben, ähnlich wie Walter Benjamin im technologischen Auge der neuen Medien, dem Kino und der Photographie, eine „andere Optik“ sah:32 „Nessun altro mezzo espressivo infatti ha come il cinema questa originaria e congenita capacità di fotografare le cose che secondo noi meritano di essere mostrate nella loro ‚quotidianità‘, che vuol dire nella loro più lunga, più vera durata; la macchina ha infatti ‚tutto davanti‘ e vede le cose e non il concetto delle cose, ci aiuta almeno in questo senso.“33

André Bazin hat die Unbestimmtheit des vororientierten Schnittes der Wirklichkeit mit der beeindruckenden Metapher eines Stücks Ton oder von Felsenblöcken ausgedrückt, die in einer Furt verstreut liegen – anders als die Quadersteine, die eine Brücke bauen, was eher dem klassischen Realismus entspreche. Solche opaken, aber materiell dichten Formationen verlangen es, dass man sie so ,wie sie sind‘ zur Kenntnis nimmt, ohne durch

31 Judith Butler nennt „Materialität“ ohne Matrix die Ebene von Konsistenzen, Energien und Affekten, die aus der Subjektivität erst hervorgeht. Judith Butler: Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 31. 32 Die „andere Optik“ sei im Arrangement des Materials vor der Kamera, d.h. in der „mise en scène“, sowie auch im Aufnahmerhythmus oder in der Einstellung zu finden. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.) in Kooperation mit Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. I,2. Frankfurt a. M. 1978, S. 471-508, hier: S. 498f. 33 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 79. „Kein anderes Ausdrucksmedium als das Kino besitzt in der Tat diese ursprüngliche und angeborene Fähigkeit, die Dinge zu fotografieren, die es unserer Meinung nach verdienen, in ihrer ‚Alltäglichkeit‘ gezeigt zu werden, was meint, in ihrer längsten, wahren Dauer; die Maschine hat tatsächlich ‚alles vor sich‘ und sieht die Dinge und nicht das Konzept der Dinge, dies hilft uns in dieser Hinsicht.“ [Übersetzung V.B.]

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eine Sinnprojektion von ihrer materiellen Erscheinung zu abstrahieren.34 Wegen der materiellen Ereignishaftigkeit der ,Wirklichkeit‘ inszeniert das Kino des Neorealismo nicht die Krise von Fakten, sondern die Krise der Interpretation der Fakten. Dies führt auch zu einer anderen Ästhetik, zu der u.a. die Entrahmung von Einstellungen gehört, wie wir sie in allen Filmen des Neorealismo kennen. Zavattini veranschaulicht den Unterschied in der Ästhetik des Neorealismo in Bezug auf das kommerzielle Hollywood-Kino anhand der Logik der Handlung. Die Szene eines vorbeifliegenden Flugzeugs entspreche im amerikanischen Kino folgender Dramaturgie: Ein Flugzeug fliegt vorbei….Gewährmaschine schießt….Flugzeug stürzt ab. In Italien dagegen wäre dagegen die Dramaturgie: Ein Flugzeug fliegt vorbei…..es fliegt erneut vorbei….es fliegt noch einmal vorbei. Aber es reiche nicht drei Mal, es müssten 20 Mal sein, so Zavattini.35 Die Wiederholungsschleifen sind also Oberflächenmuster, in denen der Rhythmus der Wiederholungen und der Differenzen die eigentliche Mitteilung ist. Es ist eine Gebärde, die keine Nützlichkeit besitzt und gleichwohl durch ihre Bewegung materiell konkretisiert wird. Die Schleifen von Wiederholungen sind keine zusätzliche Manier, vielmehr ist in ihrem Manierismus etwas Grundsätzliches enthalten, eben der Versuch, sich den Dingen anzunähern, ohne ihre Eindeutigkeit erreichen zu können. Die Konstruktion einer Serie stößt sich immer an ihrer Kohärenz: diese bleibt zufällig, kontingent, von einem fremden, doch der Serie inhärenten Element36 am Leben erhalten. Aby Warburg hatte mit dem Begriff des „dekorativen Pathos“ das Ornamentale innerhalb der starken Expressivität von Botticelli beschrieben, dessen Pathos eben nicht allein von bewegten Körpern oder von den Formeln des gesteigerten körperlichen bzw. seelischen Ausdrucks ausgeht,

34 Vgl. Bazin: „Verteidigung von Rossellini“, in: ders.: Was ist Kino, S. 162f. 35 „Per noi quindi si può parlare non di crisi di soggetti (di fatti) ma se mai di crisi di contenuti (di interpretazione cioè di questi fatti). Questa sostanziale differenza è stata sottolineata benissimo da un noto produttore americano, quando mi disse: Da noi la scena di un aeroplano che passa viene concepita così: Passa un aeroplano….mitragliatrice che spara….l’aeroplano cade. Da voi: Passa un aeroplano…l’aeroplano passa di nuovo…l’aeroplano passa ancora una volta. Ed è vero. Ma siamo ancora indietro. Non basta far passare l’aeroplano tre volte, occorre farlo passare venti volte.“ (Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 77) 36 Vgl. Gilles Deleuze: Différence et Répétition, Paris 1969.

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sondern sich im „bewegten Beiwerk“, also in Haar, Gewandung und Gestik befindet.37 Das Ornament ist dabei nicht eine zusätzliche Verzierung, sondern selbst Teil des Körpers bis hin zum Ornamentwerden des Körpers. Ornamentale Ästhetik als Träger von Pathosformeln ist im Kino des Neorealismo selbst bei den Filmen zu finden, die den Gesetzen des Melodramas nachgeben,38 wie etwa LADRI DI BICICLETTE. Im ,ornamentalen Schreiben‘ sind Wiederholungen die Markierung der materiellen Spur von Leben.

Abbildung 1: Still aus De Sicas LADRI DI BICICLETTE

In: LADRI DI BICICLETTE (I 1948, R: Vittorio de Sica)

Diese ,ornamentale‘ Materialisierung des Lebens in einer konkreten Welt ohne symbolische Wiedererkennung und ohne Funktion für die Handlung ist ein hervorstechendes Merkmal der Ästhetik von Elio Vittorinis Conver-

37 Vgl. Aby Warburg: „Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührennaissance“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Horst Bredekamp et al., Bd. I,1, Berlin 1998, S. 1-60, hier: S. 54. 38 Dies räumt auch Bazin ein: „Unglücklicherweise hat der Dämon des Melodram [sic!], dem die italienischen Regisseure nur schwer widerstehen zu können scheinen, hier und da die Partie gewonnen, indem er für genau vorhersehbare Effekte die dramatische Notwendigkeit nachlieferte. Aber das ist eine andere Geschichte.“ (Bazin: Was ist Kino, S. 147)

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sazione in Sicilia.39 Die Wiederholungen materialisieren die Gegenstände. Es sind Dinge des Alltags, welche die Spuren von Verletzungen tragen („pioggia, massacri sui manifesti dei giornali, e acqua nelle mie scarpe“40), oder Dinge in der Erinnerung an Sizilien: „fichidindia“, „zolfo“, Macbeth, die Rolle, die sein Vater, Straßenbahnfahrer, im Laientheater spielte. Wiederholungen führen aber auch ein differenzielles Moment ein, das die Erscheinung der Dinge entidentifiziert, das Fremde in das Bild der Welt einbrechen lässt und Unbestimmtheiten produziert, die die visuelle Begegnung mit der Welt zum Ereignis werden lassen. Wiederholungsschleifen sind z.B. die Krankenbesuche der Mutter, die sich das Leben als Krankenschwester verdient, und ihre conversazioni mit den jeweiligen Familien. Mit den immer gleichen Worten stellt sie der jeweils besuchten Familie ihren Sohn vor, immer wieder kommen aus den dunklen Löchern der Häuser Stimmen unsichtbarer Menschen, die aber Silvestro, den Protagonisten, sehen, immer wieder kommentiert die Mutter das Geschehen mit den gleichen Worten, deren Sinn sie aber umdreht:41 Die Menschen sind an Malaria und/oder Typhus erkrankt, mal hat die eine, mal die andere Krankheit eine bessere therapeutische Infrastruktur in Sizilien. Das Reale ist dicht, reibt sich, leistet Widerstand. So findet Vittorini ein Bild für Sizilien, dessen Materialität intensive und affektive Sinneserfahrungen anregt, ohne den Sinn zu verdeutlichen, wobei das Bild von der entdifferenzierenden Wiederholungsschleife der Aussagen der Mutter begleitet wird: „Era una piccola Sicilia ammonticchiata, di nespoli e tegole, di buchi nella roccia, di terra nera, di capre, con musica di zampogne che si allontanava dietro a noi, e diventava nuvola o neve, in alto. Domandai a mia madre: - Che malattia ha quell’uomo?

39 Der Roman wurde zunächst in der Zeitschrift Letteratura (1938-1939), schließlich 1941 als Conversazione in Sicilia bei Bompiani publiziert. 40 Elio Vittorini: „Conversazione in Sicilia“, in: ders.: Le opere narrative, Mailand 1966, S. 568-710, S. 571. 41 Im Gespräch mit seinem Sohn widerspricht sich die Mutter ständig: einmal ist es besser, dass die Frau krank ist, da der Mann der Verdiener in der Familie ist, mal ist es besser, dass der Mann krank ist, da die Frauen im Überleben kreativer sind, u.s.w.

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- Che malattia ha quell’uomo? - Qualcuno ha un po’ di tisi.“42

Diese Textstellen wollen symbolisch nicht viel sagen. Vielmehr geht es bei diesen Krankenbesuchen um das Ereignis des Sehens für den Erzähler und den Protagonisten, der vor dieser im Dunklen wahrgenommenen Welt steht. Wir haben hier ein Beispiel für die materielle Konkretisierung, ohne dass die Dinge oder Menschen bestimmbar werden.43 Vielmehr bietet sich ihre materielle Existenz zwischen Nähe und Ferne, zwischen Präzision und Vagheit (Wolke, Schnee) dem Auge und den Sinnen an. So auch im oben genannten Bild, in dem der Blick zwischen Nähe (nespoli, tegole, buchi nella roccia, etc.) und Ferne (nuvola, neve) schwankt. Weiterhin bemerkenswert ist auch die bereits erwähnte Unbestimmtheit in der Antwort der Mutter. Diese Widerständigkeit der materiellen Welt und die ornamentale Textur sind eine Geste des ,Sagens‘, welche die begriffliche Sprache auf den

42 Vittorini: „Conversazione in Sicilia“, S. 637. „Es war ein kleines, sich als Berg schmiegendes Sizilien, aus Nussbäumen und Dachziegeln, aus Löchern im Stein, aus schwarzer Erde, aus Ziegen, mit Zampogne-Musik, das sich hinter uns entfernte, und Wolke oder Schnee wurde, dort oben. Ich fragte meine Mutter: / -Welche Krankheit hat dieser Mann? / - Jemand hat ein wenig Lungentuberkulose“. [Übersetzung V.B.] 43 In seiner neuen Studie zu Stimmungen identifiziert Hans Ulrich Gumbrecht Konkretheit und historische Unmittelbarkeit als ein bedeutendes Funktionspotential literarischer Texte: „Mit dem Wort ‚Konkretheit‘ möchte ich unterstreichen, dass jede Stimmung, so ähnlich sie anderen Stimmungen sein mag, ihre singuläre Qualität als materielles Phänomen hat.“ Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S. 26.

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Prüfstand stellt und die intensive, auch affektive Präsenz44 und Konsistenz von Welt,45 aber zugleich auch ihre Undurchdringlichkeit erfahrbar macht.

„I MPARARE A G UARDARE “: DAS A NTLITZ

DAS

A FFEKTBILD

UND

Erst im Raum der Medialität kann die Anrede des Anderen als Ereignis von Welt erfahren werden. Die Wirkungsform dieses Ereignisses lässt sich als Antlitz beschreiben. Emmanuel Levinas’ bildkritische Philosophie und Theologie machen klar, dass Antlitz kein Bild des Gesichtes, sondern das Ereignis der Nähe zum anderen Menschen ist. So Levinas: „Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen“.46 Antlitz ist bedeutsam ohne Bedeutung, es ist kontextlos und unbestimmt, aber auch ambivalent, denn es ist zugleich eine Ansprache zur antwortenden Nähe und – wenn von der Ferne eines souveränen Subjektes gesehen – ein schutzlos der Gewalt ausgestelltes Ding. Die Kontextlosigkeit des Antlitzes hat im Bereich der visuellen Kunst eine Analogie mit dem Affektbild, wie es Gilles Deleuze beschreibt.47 Ein Affektbild ist nicht das

44 Wie weit dieser Zugang zum Neorealismo reicht, zeigt sich an der „Ontologie der Literatur“, die Hans Ulrich Gumbrecht in Stimmungen lesen systematisch offen legt. Dabei betont Gumbrecht die Unterscheidung von Wahrheit und Leben: „Ein auf Stimmungen konzentrierter Essay wird nicht zu der im Text artikulierten Wahrheit gelangen, sondern zum Text als Teil des Lebens seiner Gegenwart.“ (Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 30) 45 Calvino hatte „Konsistenz“ als letzten Begriff seiner Lezioni Americane konzipiert. 46 Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien und Köln 1986, S. 64. 47 Im zweiten Bergson-Kommentar bezieht sich Deleuze auf die immanente Dynamik des Materie-Begriffs bei Bergsons Matière et mémoire (1896): „Cet ensemble infini de toutes les images constitue une sorte de plan d’immanence. L’image existe en soi, sur ce plan. Cet en-soi de l’image, c’est la matière: non pas quelque chose qui serait caché derrière l’image“ Gilles Deleuze: L’imagemouvement, Paris 1983, S. 86. Aus der fließenden, deshalb unstrukturierten vi-

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Bild einer Emotion. Im Gegenteil. Es ist eine Ansprache, die Affekte auslöst und zugleich Sinnstrukturen permanent entzieht oder unterbricht. Deshalb ist dem Affektbild eine Bewegung inhärent, eine affektive Expressivität bzw. Potenz ohne Fixierung auf einzelne, ausdifferenzierte Emotionen. Wir erkennen die Nähe zum dritten Sinn (sensus obtusus) von Roland Barthes, der übrigens am Beispiel bestimmter Fotogramme von Eisensteins OKTOBER die ornamentale Oberflächenstruktur des Gesichts nachweist, welche materiell bedeutsam ist, ohne zu einer Allegorie von Gefühlen (Schmerz, Wut etc.) zu werden. Darin begründet sich auch die Potenz des Visualisierungsprozesses: „le sens obtus est le contrerecit […] dissiminé, réversible, acchroché à sa propre durée“.48 Der sensus obtusus ist eine disseminierte, reversible, an seiner eigenen Dauer festgehaltene Gegenerzählung. Zusammenfassend ist die Ästhetik des Affektbildes und der Unterbrechung sensomotorischer Verkettungen ein privilegiertes Moment des Neorealismo,49 das wir auch in der Erfahrung des Fremden beim sogenannten Dokumentarfilm von Buñuel (LOS OLVIDADOS) finden und die für die spätere Filmästhetik entscheidend sein sollte: vom cinema di poesia von Pasolini (z.B. ACCATTONE) bis hin zu den Filmen der nouvelle vague, und sogar in einigen der sogenannten Metafilme von Jean-Luc Godard (VIVRE SA VIE). In allen diesen Beispielen geht es um die Frage der Errettung des Lebensimpulses in einer Gesellschaft, in der Leben prekär geworden ist. Neben der Spannung zwischen einer banalen Symbolik und dem vagabundierenden Erzählen in den frühen Filmen des Neorealismo muss also auf die ornamentale Syntagmatik der Bilder hingewiesen werden, die mehr Pathos als eine symbolische Botschaft vermitteln. In Vittorinis Romanen

suellen Materie differenzieren sich Bildtypen, so Deleuze. Das Affektbild ist eine Überformung des Materiellen, die – wie die Großaufnahme – kontextlos ist. Es manifestiert sich als eine den Betrachter affizierende körperliche Bewegung, als Intensitätsreihe oder Potentialität und betrifft nicht allein die Großaufnahme. Auch Dinge können ein „Gesicht bekommen“ (visagéifiée), so dass sie uns betrachten und affizieren können. Vgl. auch Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, Frankfurt a. M. 1989, S. 124f. 48 Roland Barthes: „Le sens obtus“, in: Eric Marty (Hrsg.): Œuvres Complètes III, Paris 2002, S. 492-506, hier: S. 501. 49 Deleuze: L’image-temps, S. 11f.

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kann man von verschiedenen Graden der Unterbrechung der Handlungslogik zugunsten der Kontingenz alltäglicher Ereignisse und einer Entdifferenzierung der Sprache sprechen, wobei die Körperlichkeit des Bildes und dessen Fremdwerden dazu führen, dass konkrete Intensität des Weltbezugs wie auch Differenz zur Welt erfahren werden. In Conversazione in Sicilia hat die Materialdichte der Dinge ein Pathos, das mit dem Affektbild vergleichbar ist, etwa bei der Erinnerung des Protagonisten an die lange Krankheit: „noi e le cose di stoffa del letto, le cose di metallo della cucina, e il legno delle seggiole, della tavola, dell’armadio.“50

Die Dinge stehen da vor den Augen und widerstehen dem Zugriff einer abstrakten Symbolik. Ihre materielle Erscheinung ist dicht und undurchdringlich, sie drücken Unsichtbares in der Sichtbarkeit aus – letzteres insbesondere in den letzten Szenen von Conversazione in Sicilia, an der Grenze zum Traum und zur Halluzination trotz des realistisch-unbeteiligten Stils der Narration. Aber es ist auch die Erfahrung einer radikalen Immanenz,51 die mit der Sinnverweigerung intensiv erlebt wird – etwa wenn die Begegnung

50 Vittorini: „Conversazione in Sicilia“, S. 643: „wir und die Dinge des Bettes aus Stoff, die Dinge aus Metall der Küche, und das Holz der Stühle, des Tisches, des Schrankes“ [Übersetzung V.B.]. Eine weitere Passage lautet: „Io carezzavo caldo pelo di capra davanti a me […] stavo fermo, nel buio freddo, a scaldarmi le mani in quel pelo vivo.“ (635); „Ich streichelte das Ziegenfell vor mir […] ich stand still, in der dunklen Kälte, und erwärmte mir die Hände an diesem lebendigen Fell.“ [Übersetzung V.B.] 51 Auf die Immanenz der wahrgenommenen Welt weist auch André Bazin in Bezug auf die Schlussepisode von PAISÀ hin: „Diese Permanenz in den Proportionen zwischen Wasser und Himmel in allen Einstellungen des Films arbeitet eine der für diese Landschaft wesentlichen Eigenschaften heraus. Sie entspricht unter den durch die Leinwand gestellten Bedingungen ziemlich genau dem subjektiven Empfinden, das die zwischen Himmel und Wasser lebenden Menschen kennenlernen, deren Leben fortwährend von einer winzigen Verschiebung des Winkels zum Horizont abhängt“. Bazin: Was ist Kino, S. 152.

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des Protagonisten mit dem toten Bruder erzählt wird: „I lumi dei morti brillavano senza rischiarare anche più in alto di me, ora.“ 52 Das Bild ist trotz der Bezüge zur Phantastik zugleich intensiv und opak, fern und nah, eine Präsenz- und Raumerfahrung, deren Intensität durch die elliptische Syntax betont wird. Es ist die Intensität der Erfahrung der Nähe zu jemandem, der familiär und zugleich unheimlich ist, es entzieht sich und ist konkret, etwa im wiederholten Hinweis auf ein Feld aus Schnee und Blut, ohne dass Silvestro diese Erscheinung deuten könnte.53 Es sind kontextlose Affektbilder, Ausdruck einer verletzten Sprache, indexikalisches Zeichen einer verletzten Welt, sichtbare Unsichtbarkeit. Entzug von Sinn heißt hier auch Widerstand gegen eine logische Sprache, die die biopolitische Verletzung von Körpern mit verantwortet. Entzug von Sinn ist die Suche nach einem nicht differenzierenden Blick, wie der Blick eines Kindes, so wichtig im Roman des Neorealismo, bei Pavese oder bei Calvino von Sentiero dei nidi di ragno, und im Film (PAISÀ, LADRI DI BICICLETTE).54 L’impegno, das Engagement, drückt sich darin aus, dass die Verantwortung des Menschen nicht in einem die Welt ,eröffnenden‘, sondern in einem der Welt ,antwortenden‘ Blick liegen kann.55

52 Vittorini: „Conversazione in Sicilia“, S. 692. „Die Lichter der Toten glänzten ohne auch den Raum über mir zu erhellen, jetzt.“ [Übersetzung V.B.] 53 Erst spät erfährt Silvestro von der Mutter, dass der Bruder im Krieg gestorben ist (Vittorini: „Conversazione in Sicilia“, S. 695). Darin hat man eine Selbstkritik hinsichtlich des späten Erkennens der sich 1933 anbahnenden Katastrophe seitens des zunächst mit den Faschisten sympathisierenden Vittorini. 54 Zavattini betont dabei die am Blick des Kindes gebundene Elementarität und Kontingenz der Fakten bei intensivem Lebensgefühl: „Il primo sforzo perciò fu quello di rendere il racconto il più elementare, direi quasi il più ‚banale‘ possibile. Era il principio di un discorso che fu poi interrotto. Un tipico esempio in proposito si può trovare in Ladri di biciclette. Il bimbo segue il padre lungo la strada; a un certo momento sta per andare sotto un’automobile. Il padre non se ne accorge nemmeno […] un fatto quotidiano, minimo (tanto minimo che gli stessi protagonisti non gli danno peso) e tuttavia carico di vita.“ (Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 80) 55 Vgl. Bernhard Waldenfels: „Leibliche Erfahrung zwischen Selbstheit und Andersheit“ und „Aufmerksamkeitsschwellen“, in: ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006, S. 68-108.

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D IE P OTENZ

DER

S ZENE

Die Techniken des Films sind also darauf ausgerichtet, die Potentialität der Szene zum Ereignis werden zu lassen, weil dieses Ereignis das Echo aller Möglichkeiten in sich trägt. So Zavattini: „[…] mentre prima il cinema da un fatto ne faceva nascere un altro poi un altro, poi un altro ancora e ogni scena era fatta e pensata per essere subito abbandonata […] oggi, pensata una scena, sentiamo il bisogno di ‚restare‘ in quella scena poichè sappiamo che ha in sè tutte le possibilità di echeggiare lontanissimamente e di porre tutte le instanze che vogliamo.“56

Die Ästhetik dieses analytischen Kinos verlässt sich nicht auf die Kontinuitätsmontage, sondern auf die Potenz der mise en scène: es ist die Spannung zwischen cadre und cache, also zwischen Rahmen und Off, aus dem jederzeit ,Fremdes‘ in das Bild einbrechen kann;57 oder es ist die Dauer des Zeitbildes, etwa in der Plansequenz, die den Raum zur Dauer transformiert, was das unorientierte Kameraauge umso bedeutsamer werden lässt, denn „die Maschine hat tatsächlich ‚alles vor sich‘ und sieht die Dinge und nicht das Konzept der Dinge“.58 Deshalb ist das Kino eine Schule des Sehens, nicht das Sehen von Konzepten der Dinge. Es ist eine mise en scène, die alles vor die Maschine setzt und damit die Differenzierungen fraglich werden

56 Zavattini, „Alcune idee sul cinema“, S. 76. „Während früher das Kino einem Ereignis ein anderes und dann noch ein anderes folgen ließ und jede Szene gedreht und konzipiert war, um sie sofort zu verlassen, haben wir heute, nachdem eine Szene konzipiert ist, das Bedürfnis, in dieser Szene zu verbleiben, weil wir wissen, dass die Szene alle Möglichkeiten in sich trägt, ganz weite Echos und alle gewünschten Instanzen aufscheinen zu lassen.“ [Übersetzung V.B.] 57 In Rossellinis ROMA, CITTÀ APERTA erkennt man in den Szenen des GestapoHauptquartiers den Wechsel zu einer realillusionistischen Ästhetik. Der Rahmen schließt die Einstellungen und macht deren Innenraum homogen; alles ist zentriert und naturalisiert, u.a. zugunsten des deutlichen Melodramas dieses Filmteils. Diese Technik steht im Kontrast zu den anderen Szenen, in denen – der neorealistischen Ästhetik entsprechend – der Rahmen zum Off gespannt ist. 58 Zavattini: „Alcune idee sul cinema“, S. 80.

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lässt. Man könnte hier auf die Einstellungen von Rossellinis Filmen hinweisen, in denen sich Mensch und Welt, Mensch und Materie gegenüberstehen und die Übergänge zwischen ihnen sichtbar werden lassen.59 Diese Ästhetik, die der Dauer der Szene den Vorzug gibt, verlangt eine minimalistische Handlung, die fatti minimi erzählt, banale, kontingente Handlungen, die aber das Gewicht des Lebens in sich tragen, wie bei LADRI DI BICICLIETTE die banale Story des zufälligen Laufs des Kindes mit dem Vater und hinter ihm, sagt Zavattini, der Blick des Kindes und seine Transformationen vom Staunenden zum Mitfühlenden, oder auch der mögliche Unfall des Kindes, der den Wert des Lebens erfahren lässt. Die Kontingenz der Handlung ist ein zentrales Moment auch in der Literatur. So wird in Conversazione in Sicilia materiell inszeniert, wie Silvestro, die Hauptfigur, am Bahnhof von Bologna vor der Entscheidung steht (574), ob er in Bologna bleibt oder seine Mutter in Sizilien zum Geburtstag besucht. Die Handlung des Romans besteht dann aus seinen visuellen Erfahrungen mit Menschen und Dingen, denen er begegnet und die rätselhaft vor seinen Augen stehen. Der Lebensraum dieses Romans ist voller Kontingenzen. Aber die Kontingenz ist ein entscheidendes Moment der Offenheit des Raums im neorealistischen Film wie im Roman. In der Kontingenz materialisiert sich eine Krise, die aber zur Chance werden könnte, das Leben anders zu begreifen, nämlich als offenen topologischen Raum persönlicher Beziehungen in einer dynamischen und sich stets veränderbaren Anordnung – gewiss eine Utopie, die als nicht realisierbar markiert ist, aber in den Bildern aufscheint. Es ist die Potenz des Lebens, das noch nicht zum Opfer privilegierter Lebensformen geworden ist. Dies zu erfahren bedeutet für die Schriftsteller der Nachkriegszeit ein politisches Ethos, das heute nach wie vor beden-

59 So etwa in ROMA, CITTÀ APERTA (1945) oder FRANCESCO, GIULLARE DI DIO (1950). Der Austausch zwischen System und Umwelt ist ein zentrales Theorem biologischer Kognitionswissenschaften (Humberto R. Maturana und Francisco J.Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologische Wurzel menschlichen Erkennens, München 1987) bis hin zum Konzept des situated knowledge von Donna Haraway: „Situated Knowledge. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives“, in: dies.: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century, New York 1991.

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kenswert ist. Als bedeutendster Vertreter des pensiero vivente60 hat Roberto Esposito anhand der Dekonstruktion des Konzepts der Person die zerstörerischen Konsequenzen der Festlegung der Dignität des Lebens durch das „schreckliche Dispositiv“ der Person gezeigt. Dieses Dispositiv ist daran gescheitert, „Geist und Leib, Verstand und Körper, Recht und Leben in einem Sinnzusammenhang zu vereinen“, 61 weshalb Esposito für das Unpersönliche als Absage an die erste Person und als Ort des Sich-Ereignens von Leben plädiert.

W ISSEN – L EBEN . Ä STHETIK DES L EBENS

UND

U NBESTIMMTHEIT

Die Debatte zwischen der Symbolisierungs- und Verweisfunktion der Kunst einerseits, und der Materialität der Kunst als Bild oder Schrift andererseits, findet im Neorealismo interessante Ansatzpunkte; umgekehrt schärft das Materialisierungsparadigma das noch heute spannende Moment des Neorealismo, nämlich die in der Materialität des Mediums eingeschriebene Erfahrung des Pathos der Dinge und der Fremdheit des Realen. Wir haben gesehen, dass der Neorealismo an der Visualität als derjenigen Dimension arbeitet, an der im Abendland die Bedingungen des Verhältnisses von Medium und Welt, von Subjekt und Welt artikuliert wurden. Deshalb

60 Vgl. Roberto Esposito: Pensiero vivente, Turin 2010. Esposito rekonstruiert bei Niccolò Macchiavelli, Giambattista Vico und Giordano Bruno die Genealogie einer Philosophie des Lebendigen, in der Konzepte, die jeweils das Verhältnis von Politik und Geschichte zum Leben regeln, aus dem Prozess des Lebens selbst hervorgehen. 61 Roberto Esposito: Person und menschliches Leben, Zürich und Berlin 2010, S. 47. Die in „La personne et le sacré“ (1957) von Simone Weil durchgeführte Kritik an der Kategorie der Person als doppelte Distanzierung – von der Gemeinschaft und vom Körper des Einzelnen – liegt Espositos Entscheidung zu Grunde, analog zur Absage an Carl Schmitts Kategorien des Politischen (Categorie dell’impolitico, Bologna 1988), auch die Leere im Zentrum des Dispositivs der Person zu zeigen.

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bleibt der Neorealismo ein Laboratorium für Reflexionen über die Wissensgewinnung über die Realität. Es war Gaston Bachelard, der in seinem „Essai de la connaissance Approchée“ die aisthesis als eine Form von „connaissance approchée“, eine Erkenntnis von der Nähe und deshalb eine verkörperte Erkenntnis nannte.62 Gaston Bachelard betonte, wie sehr die Nähe ein Problem für die Epistemologie dargestellt hat und darstellt. Es ist ein „conflit intime qu’elle [la science] ne peut jamais apaiser totalement“.63 Die Wissenschaft kann diesen inhärenten Konflikt nicht definitiv schlichten. Eben die Bearbeitung dieses Konfliktes ist eine ausgeprägte Domäne der Ästhetik. Diesem Problem geht Georges Didi-Huberman in Devant l’image nach. Der französische Kunsthistoriker unterscheidet zwischen dem Sehen als vision und dem Sehen als visibilité, ersteres verstanden als die Potenz des Schauens, letzteres als der Nachvollzug der Ordnung des Sichtbaren durch das Auge.64 Deshalb wird man, heuristisch gesprochen, niemals ein Tableau „schauen“ können.65 Die Betonung liegt auf „schauen“. Das Tableau kann nicht angeschaut werden; vielmehr rekonstruiert das Auge im Tableau die Ordnung

62 Gaston Bachelard: Essai de la connaissance approchée, Paris 1927, S. 9. 63 Bachelard: Essai de la connaissance approchée, S. 9. 64 So gibt es zwei Modi des Blickes: als Träger eines diskursiven Sinns und der Ordnung der Sichtbarkeit (visibilité) oder als Ereignis der Visualität (vision), das diese Ordnung u.a. durch die Kopräsenz heterogener Zeiten perturbiert (Georges Didi-Hubermann: Devant l’image, Paris 1990, S. 27f., 46-47). Ich stelle eine derartige Unterscheidung auf eine topologische Grundlage und differenziere zwischen Visibilität bzw. Sichtbarkeit und Visualität. Entsprechend der lateinischen Etymologie sind ‚visibilia‘ die sichtbaren Dinge entsprechend dem Regime des Sagbaren. ‚Visualität‘ geht dagegen etymologisch auf ‚visus‘ zurück und drückt die Potentialität des Sehens aus, die entsteht, wenn die Materialität von Bild oder Sprache dem naturalistischen Regime widersteht. Dies verändert auch die topologische Position des Subjektes, wie wir hier gesehen haben (Gilles Deleuze: „Topologie: Anders Denken“, in: ders.: Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 69-172). Siehe zuletzt Vittoria Borsò: „Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren: zur Ethik der Materialität“, in: Roger Lüdeke et al. (Hrsg.): Poetische Gerechtigkeit (im Druck). 65 „On ne saura donc jamais, heuristicament parlant, regarder un tableux“. (DidiHubermann: Devant l’image. S.273).

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des Sichtbaren als ein Effekt der Ferne. Der Blick, der schaut, ist dagegen ein „Voir en detail“, also eine Phänomenologie der Nähe. Die Spannung zwischen Ferne und Nähe des Blickes ist aber auch das Problem des Sehens: einerseits als kolonialistische Appropriation (und Interpretation) der diskreten und stabilen Figur aus der Ferne, andererseits als Annäherung an die Instabilität des Erscheinens – dies kennen wir auch aus der Komplexität der Positionen des Erzählers in der Literatur. Es ist die Unterscheidung zwischen Wissen der Ferne und der ,quasi-Form‘ der Nähe, eine unbestimmte Materialität, die sich dem Wissen nicht ganz preisgibt. DidiHuberman kommentiert dies anhand des Sturz[es] von Ikarus (1558) von Pieter Bruegel dem Älteren. Das Tableau dieses Bildes zeigt eine arkadische Landschaft an einem antiken Hafen, in der ein Bauer, der den Boden pflügt, ein Schäfer und ein Fischer ihrer Arbeit friedlich nachgehen. Es vermittelt symbolisch die klassische Harmonie zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur. Lediglich aus der Nähe betrachtet, entdeckt man ein Detail, das dem Bild den Titel gibt und zunächst kaum merklich ist. Es erscheint am rechten unteren Rand wie die Wasserperlen der Brandung. Aus der Nähe sieht man darin die Füße und Teile der Beine des gerade abgestürzten und noch nicht in die Tiefe versunkenen Ikarus. Dieser scheinbar periphere, kontingente Teil des Tableaus und ein noch kleineres Detail in diesem Feld, nämlich das Detail der Federn, die sich auf der Oberfläche des Meeres um den verschwindenden Körper zerstreuen, sind von eminenter Bedeutung. Erst dieses Detail ist für die Geschichte und für die Ästhetik des Bildes entscheidend; es führt in eine Dramatik ein, die nicht im Tableau, sondern nur im Detail liegt, das den Blick zur Phänomenologie der Nähe zwingt. Nun kommt der Konflikt auf, den Bachelard hervorgehoben hat. Denn dieses Detail gibt einerseits den narrativen Kern des Gemäldes preis, nämlich den Sturz von Ikarus, dessen Federwerk durch die Sonne geschmolzen ist, weshalb er in der Tiefe des Meeres versinkt; andererseits bindet es aber an die Komplexität der Nähe. Hier kann die Wahrnehmung des Figuralen zwischen den weißen Federn und den Wasserperlen auf der Oberfläche des Meeres nicht unterscheiden; die kognitive Arbeit kann nicht entdifferenzieren. Die Wellen, die vom Wasser „geboren werden“ (naissance), sind zugleich die Federn, die eben abgestürzt sind: Die Erscheinung (apparition) ist zugleich das Verschwinden (la disparition).66

66 „Or, si l’on regarde le comme-si, le quasi, si l’on prête quelque attention à la

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Die figurale Unbestimmtheit verlangt nach einer Positionierung des Betrachters. Je nach Position vor dem Bild können wir das Bild als Symbol der Harmonie Arkadiens lesen oder im Bild den sich eben eröffnenden Abgrund sehen. Die Narration des Details ist eine andere als die des Tableaus. Was heißt also ,Sehen‘? Und was heißt Wissen über das ,Sehen‘? Zunächst eine analytische Reflexion über unsere Position. Devant l’image, also vor dem Bild und analog vor der Welt, ist das zur kognitiven Strukturierung gewählte Narrativ – die Indifferenz der Ordnung gegenüber dem Schrecken oder Unruhe des Blickes – eine Entscheidung des Betrachters. Narrative sind überdies nur eine der Bedingungen des kognitiven Zugriffs auf die Welt. Vielmehr geht es um die Operationen des Bildes als Bild und nicht lediglich als Derivat eines referentiellen Verweises auf die Welt oder eines entschleiernden Blickes.67 Kunst- oder Literaturhistoriker mögen die Historizität dieser Frage monieren; und sie hat ihre Berechtigung – aber auch nur teilweise. Horst Bredekamp konnte bspw. die Annahme eines in den kunsthistorischen Narrativen der 2. Hälfte des Quattrocento vorherrschenden Platonismus revidieren, wobei er mit dem Abgesang des Platonismus auch das Ende des darauf aufbauenden, entkörperten Wissens der europäischen Kulturgeschichte mit ausgerufen hat.68 Was ist nun real: die Stabilität der sichtbaren Ordnung oder die Instabilität des Erscheinens der Welt? Wo räumen wir dieser Paradoxie in unserer Epistemologie Platz ein? Die historische Rückversicherung der hier bespro-

matière, on constate que les détails nommés ‚plumes‘ n’ont aucun trait distinctif déterminant qui les ‚sépare‘ tout à fait de l’écume que produit, dans la mer, la chute du corps: ce sont des accents de peinture blanchâtre, des scansions de surface par-dessus le ‚fond‘ (l’eau) et tout autour de la ‚figure‘ (les deux bouts du corps humain qui s’immerge). C’est comme l’écume, et pourtant ce n’est pas cela, tout à fait. Rien, d’ailleurs, n’est la ‚touta fait‘. Tout es quasiment.“ (DidiHuberman: Devant l’image, S. 284) 67 Ich verweise auf Horst Bredekamps Theorie des Bildaktes, Berlin 2010. Bredekamp zeigt, dass der Handlungsspielraum des Bildes weit über den darauf gerichteten Blick hinausgeht. 68 Horst Bredekamp: „Götterdämmerung des Neuplatonismus“, in: Andreas Beyer (Hrsg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin 1992, S.75-83. Ich verweise auch auf Horst Bredekamp: Sandro Botticelli:

La Primavera. Florenz als Garten der Venus, Berlin 2002 [1988].

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chenen Thesen zur Sichtbarkeit ist weiterführend. Wir finden ein Beispiel im berühmten Kommentar von Denis Diderots im Salon de 1759 über La Raie (1728), das Gemälde von Siméon Chardin: „l’objet est dégoûtant, mais c’est la chair même du poisson, c’est sa peau, c’est son sang; l’aspect même de la chose n’affecterait pas autrement.“69 Die Ausführungen Diderots lenken uns erneut zu dem am Beginn unserer Überlegungen erwähnten mimetischen Vermögen, das in diesem Bild in potenzierter Weise wirksam wird. Diderot meint zu Recht, das Bild sei beeindruckender als die Sache, da es Affekte auslöst. Die Unbestimmtheit des Bildes beeindruckt wegen des materiellen, biologischen Lebens, das sich dem Blick anbietet: Haut und Blut. So erfahren wir in der Expressivität des Abjekten70 auch Spuren des Lebens in diesem Bild. Der ausgelöste Affekt ist viel bedeutender als die kognitive Wiedererkennung eines toten Rochens im Tableau. Das Unbestimmte im Bestimmbaren, das Oszillieren zwischen der Diversität des Lebendigen (Fleischiges? Fischiges?), der taktile Blick,71 der uns das Fleischige am Fisch spüren lässt, führen zu einer Erfahrung der Wirklichkeit, die intensive Lebensspur ist, ohne dass sich das fremde Ding der Kognition voll preisgibt. Dieses Bild hat die Potenz des Lebens, das dem Zugriff der Erkenntnis ausgestellt ist und diesem zugleich widersteht. Der Widerstand ist im Bild und dies ist der Vorteil ästhetischer Repräsentationen gegenüber der Erkenntnis. Denn wie problematisch letztere ist, weiß schon Diderot in einem Brief an Voltaire zu berichten: „De toutes les sciences physiques auxquelles on a prétendu appliquer la géométrie, il paraît qu’il n’y en a pas où elle puisse moins pénétrer que dans la Médecine.“72 Wie auch in Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient (1749) misstraut Diderot den wissenschaftlichen Rahmungen der Wahrnehmung und damit auch dem Sensualismus des Blickes. Die Wissenschaft ist blind gegenüber dem Leben; das Wissen macht das Leben zum Objekt und fängt es ein.

69 Denis Diderot: Œuvres complètes de Diderot, Hrsg. v. Jules Assézat und Maurice Tourneux, Bd 10, Paris 1875, S. 195. „[…] das Ding ist ekelerregend, aber es ist das Fleisch selbst des Fischers, es ist seine Haut, es ist sein Blut; die Erscheinung des Dings an sich würde nicht anders affektieren.“ [Übersetzung V. B.] 70 Vgl. Julia Kristeva: Pouvoirs de L’horreur. Essai Sur L’abjection, Paris 1980. 71 Diese Synästhesie des Blickes geht auf Merleau-Ponty zurück (L’oeil et l’esprit, Paris 1964). 72 Denis Diderot: „À Voltaire“ (19 février 1758), in: ders.: Correspondance, hrsg. v. Laurent Versini, Paris 1997, S. 73.

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Dieser biopolitisch pointierte Verweis auf Diderot zeigt die longe durée einer Fragestellung, die den Widerstreit von Leben und Erkenntnis als Frage der Visualität und der Repräsentation formuliert hat. In La Connaissance de la vie (1952) fragt sich Georges Canguilhem, einer der Begründer der französischen Epistemologie und Lehrer von Michel Foucault, nach den Modalitäten der Erkenntnis in der Biologie. Er sucht nach Methoden eines rationalisme raisonnable, nämlich eines vernünftigen Rationalismus, der fähig ist, über die Grenzen der eigenen Praktiken im Umgang mit dem Leben zu reflektieren und Methoden zu entwickeln, welche gegenüber den Technologien des Wissens Rechenschaft über die Autonomie des Lebens ablegen können.73 Es geht um ein „Denken des Lebendigen“, d.h. um eine Konstellation, in der das Lebendige nicht zum Objekt gemacht wird, um es gegen das Leben aufzurechnen,74 und um Artikulationsräume, die in der Repräsentation des Lebenswissens die Erfordernisse des Lebens als Differenz einschreiben.75 Deshalb dürfte die Ästhetik, die wir in der historischen Vergewisserung und im Neorealismo beobachtet haben, auch für die Neuro- und Biowissenschaften spannende Fragen aufwerfen.76

73 So formuliert Canguilhem in den Vorträgen am Collège philosophique aus den Jahren 1946-47 (Aspects du Vitalisme, Machine et Organisme, Le Vivant et son Milieu) seine Forderung: „Si le vitalisme traduit une exigence permanente de la vie dans le vivant, le mécanisme traduit une attitude permanente du vivant humain devant la vie. L’homme c’est le vivant séparé de la vie par la science et s’essayant à rejoindre la vie à travers la science. Si le vitalisme est vague et informulé comme une exigence, le mécanisme est strict e impérieux comme une methode.“ Georges Canguilhem: La connaissance de la vie, Paris 1992, S. 86; dt. Die Erkenntnis des Lebens, übers. von Till Bardoux, Köln 2009. 74 Canguilhem: La connaissance, S. 12f. 75 Ebd., S. 86. 76 Bezüglich der Kognitionswissenschaften verweise ich auf den Aufsatz von Robert Pepperell in diesem Band. Was die Biogenetik betriff, so müsste sie lernen, „produktiv mit Unbestimmbarkeiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen und einzusehen, dass Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genomik Unsicherheiten gerade nicht verringern, sondern steigern.“ Nicolas Rose: „Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung“, in: Martin G. Weiß (Hg.): Biós und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 152-178, hier: S. 171.

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Genau solchen Spuren sind wir in der Ästhetik des Neorealismo begegnet. Das Auge macht zwar das Leben zum Objekt, doch beleben gerade bestimmte Operationen der Repräsentation das Ding und ermöglichen es, dass die Ansprüche des Lebendigen Raum und Ausdruck finden.77 Im Neorealismo fanden wir in der Unbestimmtheit des visuellen Ereignisses bedeutende Momente dieser Weise des Lebens, sich als Ereignis zu artikulieren. Von Bedeutung sind dabei Prozesse der Depersonalisierung gegenüber der Potenz der materiellen Kontingenz einzelner Menschen und Dinge. Dies ist, so auch Roberto Esposito in Person und Menschliches Leben, die Voraussetzung für eine Politik des Lebens, also dafür, dass das Leben, „in seiner zugleich körperlichen und immateriellen Körnung, […] aus den ihm eigenen Normen den ständigen Referenten eines Rechts bildet, welches den individuellen und den allgemeinen Bedürfnissen zu entsprechen vermag“.78

77 So bezeichnet auch Gilles Deleuze die Funktion der Literatur, die eine „Fremdsprache“ gegenüber der Sprachnorm entwickelt: „Die Syntax ist die Gesamtheit von notwendigen Abwegen, […] um das Leben in den Dingen sichtbar zu machen“. Gilles Deleuze: „Die Literatur und das Leben“, in: ders.: Kritik und Klinik, Frankfurt a. M. 2000, S. 11-17, hier: S. 12. 78 Esposito: Person und menschliches Leben, S. 62.

Realismus und Biopolitik Von der pädagogischen Funktion der Darstellung bis hin zu ihrer bioökonomischen Auflösung L AURA B AZZICALUPO 1

E INFÜHRUNG : EINE NEUTRALE D ARSTELLUNG EINE DEM L EBEN FUNKTIONELLE P OLITIK

UND

Dieser Artikel geht von der Frage aus, ob es einen stilistisch-diskursiven Code gibt, der speziell auf jene Form von Macht- und Lebensgestaltung zugeschnitten ist, die seit den letzten Jahren als „Biopolitik“ bekannt wurde. Die Verfahren eines Realismus als Schreibweisen realistischer Darstellung visueller oder literarischer Art scheinen auf eben gestellte Frage die exakt richtige Antwort zu geben. Dennoch ist es vonnöten, die Verbindung von Biopolitik und Realismus und weitere sich daraus ergebende Problematiken näher zu beleuchten und zu klären. Sollte sich der Realismus für das biopolitische Projekt als funktionell erweisen, muss dennoch beachtet werden, dass der konzeptuelle Knotenpunkt, das Reale/Realität in der Spätmoderne, großen Spannungen ausgesetzt ist, während das Paradigma biopolitischer Herrschaft wiederum in den letzten 30 Jahren eine tiefgreifende Umwandlung mit unbestrittenem Triumph des neoliberalen Kapitalismus erfährt. Es

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Dieser Beitrag wurde von Nadine Benz aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen.

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muss vorangestellt werden, dass meine Frage aus einer politiktheoretischen Perspektive gestellt wird, und somit zwangsläufig mit der inadäquaten Position der traditionellen liberalen Kategorisierung, ihrer Dichotomisierung Privat/Öffentlich und der Separierung der herrschenden Macht zu tun hat: Kategorien, die der verbreiteten sozialen Macht, der Governance und der direkten Machtübernahme über die Subjektivierung und über die Körper der Lebewesen keine Beachtung schenken. All dies bedeutet, dass meine Kompetenzen zum Thema Realismus nicht über die Verflechtungen der Kernstränge Realität/das Reale in der Darstellung und im biopolitischen Dispositiv hinausreichen können. Eine Verflechtung, die jedoch von dem Moment ab von großer Bedeutung ist, ab dem der biopolitische Modus seinen Angelpunkt in der Verbindung Wahrheit/Macht festlegt. Der Stand der Wahrheit – als dasjenige, was man in einer bestimmten Epoche als wahr behaupten oder denken kann – ist niemals neutral, sondern besitzt Machteffekte in den Subjektivierungsprozessen, in der Disziplinierung der Körper, in der Kontrolle und in der Vergrößerung der Produktionskapazitäten. Und es ist wirklich das wahr, was als Realität, als treue Darstellung des Realen anerkannt und bezeichnet wird. Es scheint, dass die Biopolitik mit der Darstellung der Realität auf ambivalente Weise verbunden ist: Auf der einen Seite liefert die ontologische/beschreibende Darstellung das Gerüst jeglichen biopolitischen Dispositivs, das, wie wir sehen werden, sich an das Konkrete der Kontexte anpasst. Auf der anderen Seite ist jede Darstellung, jeder deskriptive Logos auch ein normatives Urteil, das dasjenige als wahr, real und natürlich betrachtet, was von dem, was es nicht ist, selektiert wurde. Die scheinbar neutrale Darstellung treibt – mit Deleuze gesprochen – ein Urteil voran, welches das ‚als falsch behauptete‘ ausschließt, um das, was wahr ist, zu bestimmen: den wahren Menschen, die wahre Familie, das wahre Tier, die wahre Liebe und die wahre Arbeit.2 Die Realität wird dargestellt, in dem ein unvermeidliches und unausgesprochenes Konformitätsurteil mit dem, was wirklich real, wirklich wahr ist, über Doxa und äußere Erscheinung hinaus, angenommen wird. Dessen Anspruch auf Objektivität, Neutralität und Natürlichkeit wird auch zum Vorspiel jenes Typs von Herrschaft, der keine Kriterien auferlegt, sondern behauptet, sie aus der Realität selbst zu beziehen. Wir werden sehen, wie sehr dieses Paradigma von Herr-

2

Vgl. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt a. M. 1993.

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schaft in der aktuellen soziologischen Ontologie verändert wurde, und wie das Konzept ‚Realität‘ mit seiner geheimen und doch so grundlegenden Seite, mit Lacan das ‚Reale‘ genannt, zusammenstößt. So wird der Weg nachgezeichnet, der von einer Überlagerung der pädagogisch-normalisierenden Dimension durch eine deskriptive und ontologische ausgeht (in der Hochphase von Biopolitik und Realismus), um zu einer mittleren Phase der Spannung zwischen biopolitischer Realität und dem Realen zu führen, einhergehend mit der Entstehung von Ästhetiken (der Leere und des Anamorphen), die dann ein Nachgeben der Biopolitik dem Ereignis gegenüber ausdrücken; und schließlich bis hin zur aktuellen Bioökonomie, die das Reale selbst kurzschließt, und die die begleitende Bestätigung der Ausdrucksform in der ‚direkten Inbesitznahme des Realen‘ oder des ‚Wörtlichen‘ sieht. Es handelt sich um einen Weg, der die Wichtigkeit dieser Verbindung attestiert. Das Prinzip Realität ist in der Bildung und in der Kontrolle des Subjekts von enormer Effizienz. Und um die Definition des ‚Realen‘ oder der ‚Realität‘ spielen sich die wichtigsten politischen Schachpartien ab.

B IOPOLITIK UND REALISTISCHE D ARSTELLUNG ( SWEISE ) In der Hochphase der Biopolitik (in der Ära Ford und im Welfare) wird mit den Eigenschaften und den Ambivalenzen der Verflechtung mit dem Realismus im Vollen experimentiert. Letzterer bringt in den darstellerischen Dualismus eine Ambivalenz ein, die die Biopolitik teilt, in dem sie den realistischen Kanon als Bild der Wahrheit akzeptiert; in der Tat: Auch wenn der Realismus dem Dualismus des Bildes und somit der normativen Strukturierung des Logos nicht flieht, tendiert der Realismus doch zu dessen Annullierung, weil er eine direkte, unmittelbar transkribierte Ausdrucksweise der Realität verlangt, die ohne Konstruktivismus auskommt. Auf die selbe Weise geht die Biopolitik – im Realismus der statistischen, biologischen, und umweltverbändischen Erhebungen, innerhalb derer sie arbeitet und in denen sie eine Immanenz derjenigen Macht wiederherstellt, die das Leben nach internen und natürlichen Normen der Beherrschten selbst beherrscht – einem künstlichen Konstruktivismus des Gesetzes, der von oben das Reale zu ordnen verlangt, – gegenläufig vor. Aber die Immanenz der Norm

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schwächt nicht, ganz im Gegenteil: Sie macht die Kontrolle über das Leben und die normativen Eingriffe effizienter und totalisierender. Denn wenn die Einzelheiten in der Immanenz derjenigen spezifischen Instanzen, die sie selbst vorschlagen, organisiert werden, wird das Projekt der Herrschaft nicht weniger. Vielmehr gibt es (das Projekt der Herrschaft) vor, sich nicht den Subjekten aufzuoktroyieren, sondern sie zu begleiten, und ihr natürliches, konkretes Potential zu erhöhen.3 Zu diesem Zweck werden die Aktionsräume konkrete Räume sein, spezifisch und von mal zu mal verschieden: ‚Umgebungen‘, die zu modifizieren sind, deren Produktivität in einer ökonomischen Logik der Effekt-Optimierung zu verbessern sind. Der Anspruch auf Natürlichkeit und Immanenz lebt mit dem Projekt zur Normalisierung in ambiguer Weise zusammen. Die realistische Beschreibung einer Statistik zum Betragen der Arbeiter des späten 19. Jh. ist z.B. einem Herrschaftssystem und einem Normalisierungsprozess genau diesen Betragens funktionell. Ein anderes Beispiel: In einem Welfare-System werden oft – herausgefordert durch die Denunzierung des literarischen Naturalismus – unter der Klassifizierung ‚realistisch‘ Daten gesammelt und geordnet, die zu einer Selektion von Bedürfnissen führen, welche in der Wirtschaft des sozialen Staates erfüllt und befriedigt werden können: gemeine Güter für allgemeine Bedürfnisse und allgemeine Subjekte. Hier liegt somit das Kernproblem. Der pädagogische und herrschaftsverbundene Zweck operiert mit der Art Selektion, die Deleuze denunziert – und dies anhand von realistischer Darstellung: die Darstellung haftet nur scheinbar der Immanenz des Lebens an, wenn sie diese in einem dem biopolitischen Eingreifen funktionellen Schema anordnet. Die Besonderheiten erscheinen als abweichende Ausnahmen, so ‚unnormal‘, dass sie in einem Ausnahmezustand organisiert und ‚normalisiert‘ werden müssen. Der ‚reale Zustand‘ schreibt den Überschuss und die Unordnung (das, was das ‚Ereignis‘ ausmachen sollte) in die administrativen Typologien ein, die die Realität blockieren und wählt das beherrschbare, das verbesserbare, das normalisierbare aus. Dickens wählt Bilder der ausgebeuteten Kindheit und der gesundheitsschädlichen und gefährlichen Arbeitsbedingungen, Balzac zeichnet die Sozialaufsteiger nach, deren amouröse Unterfangen auch immer von ökonomischem Streben geleitet sind, Fontanes Effi Briest verklagt eine weibliche Situation der Ent-

3

Vgl. Laura Bazzicalupo: Biopolitica. Una mappa concettuale, Rom 2010.

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fremdung, der Naturalismus Zolas setzt krankhafte Perversion in Szene, um sie zu verurteilen, und dazu wird die Biopolitik aufgerufen etc. Realismus und Naturalismus sind auch immer pädagogisch und bieten der Biopolitik adäquatere Instrumente, um über das Leben zu herrschen, als die der abstrakten juristischen Theorie, weil sie – anders als eben genannte – den Körper nicht ignorieren: Sie erzählen ihn, sie zeigen seine Plagen und seine Wünsche, seine Leidenschaften und Hoffnungen. Somit verleiht der biopolitische Realismus der Konkretheit und dem Leiden (von der liberalen politischen Philosophie und der idealisierenden Ästhetik verschwiegen) eine Stimme. Trotzdem: Wenn die Verknüpfung Biopolitik-Realismus im Schatten des Positivismus dominanter Diskurs wird, bildet sich in der realistischen Darstellung das Gespenst von etwas anderem heraus, das die Szene stützt, das man aber nicht sieht. Und, wie gleichermaßen in der Biopolitik, versteckt das konkrete Lebewesen, das in seiner angeborenen Fähigkeit zur Selbstregulierung erscheinen müsste, das Gespenst der Ausnahme, der unbeherrschbaren Reibung, das nicht in die biopolitische Typologie passt. Beide sind, wie alle Gespenster, dazu verdammt, entlarvt zu werden. Die Darstellung verrät den ‚realen‘ Überschuss der Einzelheiten, das Ereignis, den unversöhnlichen Widerspruch, und transferiert sie in die Kohärenz eines geordneten Diskurses, mit einer Lösung der Probleme, die, wenn vielleicht auch schwierig, doch nicht unmöglich ist. Es gibt keine Ausnahmen, wenn nicht behandelbare, und es gibt kein Subjekt, das nicht sozial anhand seines eigenen Status identifiziert werden könnte: der Arbeiter, der Arbeitslose, die alleinerziehende Mutter, der Polizist, der Eisenbahner etc. Man denke nur an das Wiederaufkommen des Realismus nach dem Zweiten Weltkrieg – an das große italienische Kino Rossellinis, De Sicas und Zavattinis, durchaus fähig, das Land aus dem rhetorischen Rausch der Illusionen und Lügen, der mit den Bedürfnissen und Grundbegehren des gemeinem Volkes so gar nichts zu tun hatte, herauszuholen. Und so auch der Film FAHRRADDIEBE mit Schauspielern aus dem gemeinen Volk, von der Straße weg ausgewählt, von den Straßen, die die Leute damals sahen. Aber verschwindet dadurch das ‚Urteil Gottes‘, die normierende und normalisierende und somit biopolitische Darstellung? Umgekehrt: Der pädagogische Impetus ist evident. Die Realität, die sich in ihrer Objektivität ausdrücken soll, ist konstruiert, wie auch das Weinen des Kindes konstruiert ist, weil der Regisseur De Sica es so wollte, und nicht etwa, weil es

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‚wahr‘ ist. Man vermutet (in der Tradition schlechter und leider zu berühmter Vorbilder), dass die unvereinbar scheinenden Differenzen oder der kranke Konflikt (der unheilbar bleibt) im Neorealismus das Obszöne und das Uninszenierte der Darstellung und, noch mehr, dass sie sein wahrer Sinn, sein Geheimnis sind: das Reale der Realität.

B IOPOLITISCHE R EALITÄT

UND OBSZÖNES

R EALES

Das Reale wird zum Problem und zur Obsession, wie es sich schon in der Krise der realistischen Darstellung, in der Wende vom 19. zum 20. Jh. durch den Riss, der die realistische Narration Thomas Manns in den Buddenbrooks durchzieht, ankündigt. Immer noch sehr realistisch, aber nicht mehr pädagogisch: unbrauchbar für die Biopolitik, weil durch den Sinnverlust, durch die Auflösung des symbolischen Wertes zerstochen. Was ist real? Wenn jede realistische Darstellung eine unterstellte Kenntnis der Realität, mit dem Ziel, die Macht in die Knie zu zwingen, ist, gibt es dann etwas, was ihr entgeht? Ein quid vor und über das Wort, über den Code hinaus, oder nur die Leere, die Grenze, das Negative? Die Teilung von (beherrschter, unterworfener, realistisch geordneter) Realität und Realem (als Grenze der Darstellung, als beherrschbares quid) wird in Lacan’schen Termini ausgedrückt, aber über die Psychoanalyse hinaus (die nicht zufällig auftaucht, wenn der Name des Vaters, also die Ordnung Wahrheit/Macht ins Wanken gerät) erscheint sie nützlich, um auf das konstitutive Versagen jedweder kompakten Subjektivierung hinzuweisen. 4 Die biopolitische Produktion der Subjektivierungen mittels Unterdrückung hat ihr Schicksal in der Unmöglichkeit der Abschließbarkeit und der ausreichenden Darstellung. Der ontologische Horizont wird immer gespalten bleiben. Das wirkliche Reale ist das Negative, ist die Undarstellbarkeit der Realität, ihre Grenze, aber auch das Gespenst, das von der Darstellung ausgeschlossen ist, sie aber im Geheimen ermöglicht und ihre Ordnung bewahrt. Überschuss, Rest, der der Gouvernementalität widersteht: Das ist das Reale, das zweideutig schillernd zur Obsession wird – wie das griechische Wort Caos mit seiner doppelten Bedeutung zwischen Ur-Materie und

4

Vgl. Slavoj iek: Das Unbehagen im Subjekt, Wien 2010 und Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim 1996.

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Unordnung. Eine Metonymie für ‚das Ding‘, das die Kunst des 20. Jh. anstrebt, um ‚wirklich realistisch‘ zu sein, und das den selben flüchtigen Status wie das Ereignis, wie die Einzigartigkeit im biopolitischen Dipositiv hat. So treten an die Stelle des pädagogischen und biopolitischen Realismus zwei Modalitäten von Ästhetik: 1) eine Ästhetik der Leere, für die sich der Ausdruck um das versteckte Zentrum, um das Reale herum drückt, sich in der Verleugnung, oder besser auf negative Weise ausdrückt – und diese Negation wird nicht in der Synthese aufgelöst, wie es in der traditionellen realistischen Darstellung der Fall ist, welche das Negative verdaut und zum Guten wendet: Sie bleibt, wie/was sie ist. Oder eben 2) eine Ästhetik, die den Durchlass des Zugangs zum Realen, zum Chaos freihält, indem sie gerade mit dem Ereignis arbeitet (in der Biopolitik gab es das Ereignis nicht, es war unmöglich), mit einem Fleck, der der Ordnung widerspricht: eine somit anamorphe Ästhetik. Im ersten Fall verläuft das Werk entlang der Leere: Nicht alles kann gesagt werden. Die Kunst kann die Leere nicht ausfüllen, oder sättigen, wie es Wissenschaft und Religion vermögen, aber sie stellt sich als (leerer) Ort dar, der den Ursprung für jede mögliche Darstellung bietet. Die Filme Bergmans erzählen nicht nur, sie sind vielmehr Zeugen eines Verhältnisses zu einem nicht gesagten, vielmehr unsagbaren Realen, aber nichtsdestoweniger entziehen sie sich der Verfälschung der Realität: DAS SCHWEIGEN z.B., oder DAS GESICHT, oder DAS SCHLANGENEI. Wir entdecken, dass das Reale nicht nur dasjenige ist, das die Grenzen der Darstellung markiert: Sein härtestes Angesicht, seit langem von den friedfertig ‚realistischen‘ Darstellungen vermieden, ist das einer Leere, die anziehend wirkt, die zum Strudel wird, zum Brandherd, zum Abgrund, der dich aufsaugt, Exzess des Genusses, Horror. Die Biopolitik als ‚Technik‘ der Macht, die Leben (zu-)lässt, die Leben und Überleben schützt, in dem sie das Banale dem utilaristischen und vorgeblich natürlichen Prinzip der Lust ausliefert, wird verleugnet und umgestürzt. Die Wahrheit ist, dass der Mensch von einem destruktiven Strudel – dem Todestrieb – angezogen wird, und nur zum Schutz praktiziert er das Prinzip der Realität, die naturalistischen Techniken des Wohlstands, der Lust, des Nützlichen, während er das Reale, das Ding, in geschuldetem Abstand hält. Aber das Kunstwerk entzieht sich diesem ‚Prozess‘: Seine Wahrheit ist jener unbeherrschbare Exzess des Realen. Das große Prinzip der anamorphen Ästhetik ist hingegen das des Werkes als Zusammentreffen mit dem Realen, das nicht dargestellt werden

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kann. Wie kann dieses Zusammentreffen bewirkt werden? Indem die prinzipielle Idee des traditionalen Realismus umgedreht wird, in der das Subjekt das Objekt betrachtet. Hier ergreift die Exteriorität des Werkes das Subjekt, es wird, wie Roland Barthes sagt, bestochen, verwundet, getroffen, und einem von außen, vom Realen von jenseits der Darstellung der Realität kommenden Blick anvertraut.5 Der unheimliche Effekt, der von der Erfahrung, angeschaut – und somit zum Objekt zu werden – erzeugt wird, lässt das Leben wie überflüssig erscheinen, als zu viel, als von seinen sozialen Erscheinungen entledigt, kein bios, Form des Lebens mehr, sondern nur noch bloße zoè. Aber wie kann das Nicht-Figurierbare über die Figur erzeugt werden? Das Reale ist nicht, wie vorher, leeres Zentrum, sondern Treffpunkt, tyche, unvorhersehbares, unerwartetes Ereignis: die gemalten oder filmischen Bilder lassen eine Diskontiunität enstehen, einen ‚Fleck‘ in der Vision, ein Unerwartetes, das einen aufspringen lässt. Es ist das, was versteckt bleiben sollte: der Horror des Todes, das undarstellbare Reale des Dings. Denken wir an Cronenbergs Film DEADZONE, in dem der Protagonist nach einem zufälligen Ereignis in Kontakt mit dem Jenseits tritt. Oder an den Film DIE FLIEGE, in dem das Insekt dem Horror des Realen Einlass gewährt. Diese Art von paradoxalem Realismus stellt für die Biopolitik einen geheimen und doch aufscheinenden Widerstand gegenüber einer sich immer weiter ausbreitenden Beherrschbarkeit des Lebens dar.

B IOÖKONOMIE , H YPERREALITÄT

UND

W ÖRTLICHKEIT

Jedoch befindet sich diese Spannung zwischen biopolitisch beherrschter Realität und dem unfolgsamen und negativen Realen in stetem Fortschreiten. Sie ändert sich unter dem Antrieb derselben Kräfte, die sie erzeugt hat.

5

„Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“. Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1999, S. 36.

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Von der neurotischen und insgeheim resistenten Subjektivität geht eine Moral aus, eine Wahrheit, die dazu bestimmt ist, einerseits die wankende Gouvernementalität neu zu schreiben, wie auch das Reale an das Schlechte auszuliefern. Und all dies geschieht über den Körper. Ein Diktum Cronenbergs: Der Körper ist das erste Faktum der Existenz. Der Körper ist das, was allgemein ist, wie die Biopolitik sehr wohl weiß, aber eben auch das, was trennt: Genuss, Begehren, Leidenschaften sind idiosynkratisch und der Markt weiß, dass diese genau in dieser übertriebenen Personalisierung gefordert werden müssen. Die bioökonomische Wende bedingt den Untergang eines verbindenden seelsorgerischen Projekts: Jedem ist die Verantwortung und die Wahl desjenigen, was ihn befriedigt, selbst anheimgestellt, insofern als sich im Inneren des einzigen geltenden Codes – dem des kapitalistischen Marktes, hier verstanden als soziale, integrierte und integrierende, mit Produktion und Konsum einhergehende Verbindung – die Subjektivierung mit ihrer normativen und perfekt verinnerlichten Bilderwelt herausformt: Verwirkliche Dich, fange an zu genießen, lebe deinen Genuss, erfülle ihn! Der Ort, an dem die Wirtschaft, nicht die Politik direkt für die Produktion von Subjektivität verantwortlich ist, befindet sich in der bioökonomischen Herrschaft über die Leben.6 Der Gemeinsinn, die soziale Bilderwelt, die Herrschaft von Wahrheit/Macht, die bestimmt, was ‚real‘ ist, sie haben sich verändert: Es handelt sich nicht etwa um eine Veränderung, die von einem Artaud oder Deleuze ausgeht, die suggeriert, mit dem ‚Urteil Gottes‘ ein Ende zu machen, sondern um eine Veränderung, die stattfindet, weil das Urteil kein Problem mehr ist. Wenn es ein Problem gibt, liegt es darin, den Zugang zum Markt zu finden, ohne an die Armutsgrenze gedrängt zu werden: Aber die Freiheit und die Verantwortung zum Zugang liegt beim Einzelnen. Ich selbst bin derjenige, der sich das Gesetz auf Basis der eigenen Triebe auferlegt. Jeder und alle konkurrieren mit dem eigenen anarchischen Drang, der nur durch den eigenen Wunsch nach Genussbefriedigung eindämmbar scheint, nach der Freiheit, ein Bild zu entwerfen, ein freies Bild ohne Sinn, ohne Ordnung, ohne Gesetz, endlich mittendrin im uneinnehmbaren Realen, endlich eingetaucht im Ding. Oder etwa nicht? Oder bildet sich da etwas mit einem ganz neuen Zwang heraus, der noch mehr zu fürchten ist als der alte?

6

Vgl. Laura Bazzicalupo: Il governo delle vite. Biopolitica e economia, Rom, Bari 2006.

300 | LAURA BAZZICALUPO

Ohne die Identifikation von etwas als ‚realistisch‘ und ohne einen Sinn für ein der ‚Realität‘ untergeordnetes typisches normatives Zurechtrücken wird das Reale in seiner Unvermitteltheit ausgeführt und ausgedrückt. Dann zeigt sich (wie in Deleuzes’ Mille Plateaux) der Caosmos: ein in sich harmonisches und kosmisches Chaos. Das Ende der disziplinierenden Organisation ist gleichzeitig auch das Ende der Darstellung. Es gibt keinen Dualismus, kein Urteil, weil alle Dinge und alle Ausnahmen sich an der Oberfläche des Seins bewegen, und von nichts Zeichen sind außer von sich selbst. Keine Darstellung, weder eine realistische noch normative, sondern Immanenz, die zulässt, dass Kräfte, dass nicht organisierte Wunschautomaten, dass Begehrensflüsse von Emotionen, die nicht unter den düsteren Bedingungen der Abwesenheit, der Abhängigkeit (Abwesenheit des Anderen, Begehren des Anderen), sondern in der Fülle des Lebens und des Virtuellen gedacht werden. Endlich das Reale in Fülle, vom Urteil befreit! Und außerdem ist die Realität nicht ausgelöscht, sondern wird – wenn auch in der immer penetranter werdenden Form der fiction economy, des immateriellen Kapitalismus – in der technischen wie auch organischen Reproduktion des Lebens umgeschrieben. Das experimentelle Kino Jean-Luc Godards, David Lynchs und die Video-Kunst, die sich in der Informationsökonomie der neuen Medien weiterentwickeln, öffnen Raum für einen Realismus, der sich keinem transzendenten Kanon unterordnen lässt, sondern der den Raum lebt, welcher sich folgendermaßen präsentiert: komplex, heterogen, anarchisch, friedlich bevölkert von Trivialem und Kulturellem, von Öffentlichem und Privatem, von Geschichtlichem und Anekdotischem, vom Bildergut und vom Realen, und, die Welt der Wörter betreffend, von den Diskursen, Kommentaren, Familienzeugnissen und ähnlichem durchsetzt: Die Information ersetzt die Natur, wie sie sich auch in ihrer ganzen Komplexität und Heterogenität als ein in seiner Unordnung belassener Raum zeigt, in dem sich der hohe Diskurs mit dem vulgären, das Private mit dem Öffentlichen, und das Imaginäre mit dem Realen vermischt – Wörter, Zeugenschaften und Informationen anhäufend.7 Godard also. Die Biopolitik wird affirmativ, weil sie die vielfältige und unendliche Macht der sich ihrer eigenen Produktivität überlassenen Leben überhöht. Es ist nicht leicht, diesen neu-spinozischen Realismus zu erobern, da wir kontinuierlich in den Code der Realität eingeschrieben werden, dies

7

Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Frankfurt a. M. 1991.

R EALISMUS UND B IOPOLITIK | 301

zeigt der Markt ganz offensichtlich, indem er eine gesichtslose Heteronomie generiert, während er gleichzeitig auf unsere völlige Wahlfreiheit besteht. Die Wahl bezüglich was? Ganz offensichtlich die des Objekts, des Gadgets. Und das Objekt trägt sein Signifikat unvermittelt in sich, auf dieselbe Weise, wie es seinen Genuss ohne Verbote, ohne Verweise auf anderes anbietet, so wie es in der Zensur des Symbolischen und des Realismus geschieht. Wenn alles unmittelbar Leben ist, alles real ist, ist auch alles Zeichen von allem,8 weil es kein Zeichen gibt, das auf das Reale verweist, sondern nur Immanenz des Realen selbst. Die euphorische, freudige Ankündigung der Immanenz ohne Hierarchie aller Einzelheiten wird von einem angstmachenden Hinterhalt begleitet. Zeitgleich mit dem Untergang der normalisierenden Darstellung des alten Realismus kann auch das Reale eines ‚Un-Gesetzes‘ aufkommen, welches sich als destruktiver, tödlicher, also noch härter als das alte erweist. Die Grenze, die Distanz zu dem Ding, das den Sinn erlaubt, die Spannung zwischen Realität und Realem, sie heben sich auf. Wenn es wahr ist, dass die repressive Neurose untergeht, eröffnet sich ein paranoides und psychotisches Szenarium. Wer nicht das Gesetz der Realität hat, verkörpert es in sich selbst, nicht jedoch, ohne das Außen des Realen, des Dings miteinzubeziehen. Das Reale und die Realität kollabieren eine ums andere. Es handelt sich dabei um die psychotische Position. Wenn sich die Realität im gelebten, erfüllten Realen eines jeden auflöst, dann spricht, handelt ein Subjekt, das sich für vollständig frei hält und das vor allem eine ihm ganz eigene ‚reale‘ Ordnung schafft, von allen Abhängigkeiten gelöst; die Paranoia des Psychotischen liefert sich einem dunklen Gott aus. Es ist die neoliberale Hegemonie, in der die totale Freiheit und die totale Determination zusammentreffen. Jedwede Unterscheidung oder Unterscheidbarkeit bricht zusammen. Es ist die Ästhetik der unmittelbaren Inbesitznahme des Realen, ausgedrückt durch den Ding-Kult: der psychotische Realismus der Gegenwartskunst z.B.; der post-avantgardistische Experimentalismus der Body-Art, der den Körper des Künstlers als Reinkarnation des obszönen Ding-Realen exhibiert. Gina Pane, Orlan, Franko B., Stelarc inszenieren das Ding-Reale unvermittelt, in dem sie den Körper des Artisten als Ort eines Acting Out des Horrors verwenden: malträtierter Körper, zerschnitten, deformiert, von technischen Instrumen-

8

Vgl. Alain Badiou: Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, Wien, Berlin 2007.

302 | LAURA BAZZICALUPO

ten zerschunden, in seinen Funktionen pervertiert. Die ihrer insignifikanten Expressivität geöffnete Immanenz, immer wieder in den fiktiven Scheinbildern des Marktes aufgelegt und repliziert, manifestiert den Todestrieb. Unter einem ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet treten wir in den Zustand des Wörtlichen. Die Bilder sagen nichts anderes aus als das, was sie sind. Sie umkreisen keine Abwesenheit des Dings (Ästhetik der Leere) und erzeugen auch keinen gefilterten Kontakt mit dem Realen (Ästhetik des Flecks). Sie treten auf wie die Figuren eines amerikanischen Hyperrealismus mit ihren schillernden Objekten, ohne Verweis, ohne Begründung, wörtlich, immanent, reine Flüchtigkeit und Sinnlosigkeit des Seins. Psychose und Wörtlichkeit. Das Reale drückt sich unmittelbar wörtlich, in der Wörtlichkeit der Dinge und der Handlungen aus. Man fragt sich, ob es möglich sei, einen nicht-psychotischen Ausdruck und eine nichtpsychotische Koexistenz von ‚Ungleichem‘ mit in ihrer Einzigartigkeit belassenen Dingen und Ereignissen ohne gesetzliche oder herrschaftsbedingte Konstruktionen zu finden? Man könnte da vielleicht an die frühen Filme von Emir Kusturica UNDERGROUND oder SCHWARZE KATZE, WEIßER KATER denken. Stimmen, Zeiten, verschiedene, sich überlagernde Farben, die sich aber nicht überdecken, nicht aufheben, die aber auch nicht bewertet, oder selektiert werden. Das molekuläre Ereignis befreit sich, wie Deleuze gehofft hat. Die Vielfältigkeit ist nicht mehr dem Einen untergeordnet, sondern wird in sich selbst konsistent, in den verketteteten und einzelnen Haecceitas – absolut: nicht transzendent, wörtlich, weil einzig; alle präsent, wortwörtlich. Alle Bilder sind wörtlich und beim Wort zu nehmen. Wenn ein Bild eben ist, soll ihm keinesfalls, noch nicht einmal im Geiste, eine Tiefe gegeben werden, dies würde das Bild deformieren. Das ist die große Schwierigkeit: die Bilder in ihrer unvermittelten Gegebenheit zu erfassen. Ein Bild stellt nicht eine angenommene Realität dar, es ist an und für sich die ganze Realität.9 Aber in diesem Punkt liegt nun einmal, wie gesagt, die größte Schwierigkeit.

9

Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild.

Geschichte, Fiktion, Wahrheit Die Erzählung vom Partisanenkrieg F EDERICO B ERTONI 1

C APORETTO Ich möchte den Anfang meines Beitrags den Worten eines großen Schriftstellers überlassen, Carlo Emilio Gadda. Ich entnehme sie einem relativ unbekannten Text, d.h. dem von Gadda verfassten Tagebuch während der Jahre des Ersten Weltkrieges, an dem er als Freiwilliger in der Gebirgsjägertruppe teilgenommen hat. Es ist eine Notiz, geschrieben am 15. Mai 1918, in der tragischsten Zeit seiner Kriegserfahrungen, nach der schweren Niederlage von Caporetto, der Gefangennahme und der Inhaftierung in ein deutsches Strafgefangenenlager: „La guerra finirà, speriamo che finisca, e io non ci sarò più stato: non fatiche amorosamente portate, non sacrifici di stomaco e di cervello e di gambe con gioia compiuti, non solitudine gioiosa sotto la tenda mentre croscia la pioggia autunnale, non i divini momenti del pericolo, i sublimi atti della battaglia […] Questa è la mia rabbia, questo è l’ossessionante dolore, che mi porta alla demenza. […] Manco all’azione: non la vivrò più.“2

1

Dieser Beitrag wurde von Friederike Römhild und Lucia Perrone Capano vom

2

Carlo Emilio Gadda: „Giornale di guerra e di prigionia“ (Celle-Lager, 15 mag-

Italienischen ins Deutsche übertragen. gio 1918), in: ders., Claudio Vela (Hrsg.): Saggi, giornali, favole e altri scritti II, Mailand 2008, S. 784-785.

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„Der Krieg wird enden, hoffen wir, dass er endet, und ich nicht mehr in ihm sein werde: kein liebevoll getragenes Aushalten, kein mit Freude abgeschlossenes Opfer des Magens und des Gehirns und der Beine, keine fröhliche Einsamkeit unter dem Zelt während der herbstliche Regen fällt, keine herrlichen Gefahrenmomente, keine herausragenden Schlachthandlungen. […] Das ist meine Wut, das ist mein quälender Schmerz, der mich zum Wahnsinn bringt. […] Ich fehle bei der Aktion: Ich werde sie nicht mehr erleben.“

Es könnte der Eindruck entstehen, dass das Zitat außerhalb des Titels und der Argumentation meines Beitrags liegt, weil es auf eine andere historische Periode verweist und von einem Autor stammt, mit dem ich mich in meinen Studien nicht direkt beschäftige, der jedoch einige ziemlich strikte Urteile über den Neorealismus und über die Literatur des Zweiten Weltkriegs geäußert hat. Dennoch helfen mir die Worte Gaddas, seine Verzweiflung, die tragische, emotionale Intensität, in der er lebt und mit der er sein „Nicht-Agieren“ umschreibt, in den konzeptionellen Kern meines Diskurses einzuführen: die problematische Beziehung zwischen historischer Erfahrung (insbesondere der Erfahrung des Krieges) und ihrer Erzählbarkeit, d.h. die Möglichkeit sie zu erzählen und ihr durch die Schrift einen Sinn zu verleihen. Sicherlich, für jemanden wie Gadda (wie für andere Anhänger seiner Generation und seines sozialen Status’) stellt sich der Krieg als „große Gelegenheit“3, als ein Mittel dar, sich selbst auf die Probe zu stellen, als eine Möglichkeit zur Befreiung, mit welcher dem Leben, das keine Hoffnungen und Perspektiven anbietet, das gezeichnet ist von der Frustration, von ökonomischer Verarmung und einem starken Bewusstsein von existentieller Nutzlosigkeit, seine Bedeutung wiedergegeben werden kann. Eine „große Gelegenheit“ in jedem Fall, der jedoch ebenso sehr eine große Enttäuschung folgt: die des tragischen Scheiterns einer Generation, welche auch von einem weiteren großen Protagonisten der italienischen Kultur dieser Jahre bezeugt wird, Renato Serra, der wie folgt in Esame di coscienza di un letterato (Prüfung des Gewissens eines Gelehrten) konstatiert:

3

So hat es Antonio Gibelli in Grande guerra degli italiani (Mailand 1998) definiert.

G ESCHICHTE , F IKTION , W AHRHEIT | 305

„Invecchieremo, falliti. Saremo la gente che ha fallito il suo destino. […] Fra milioni di vite, c’era un minuto per noi; e non l’avremo vissuto. Saremo stati sull’orlo, sul margine estremo; il vento ci investiva e ci sollevava i capelli sulla fronte; nei piedi immobili tremava e saliva la vertigine dello slancio. E siamo rimasti fermi. Invecchieremo, ricordandoci di questo. Noi, quelli della mia generazione; che arriviamo adesso al limite, o l’abbiamo passato di poco; gente sciupata e superba.“4 „Wir werden alt, Gescheiterte. Wir werden diejenigen sein, die ihr Schicksal haben scheitern lassen. […] Zwischen Millionen Leben war es eine Minute für uns; und wir haben sie nicht gelebt. Wir werden am Rand gewesen sein, am extremen Rand; der Wind umstürmte uns und trieb uns die Haare über der Stirn hoch; mit unbeweglichen Füßen zitterte und stieg der Schwindel des Auftriebs. Und wir sind stehen geblieben. Wie werden alt werden und wir werden uns daran erinnern. Wir, diejenigen meiner Generation; die wir jetzt an der Grenze ankommen, oder sie ein Stückchen überschritten haben; erschöpfte und überhebliche Leute.“

In gewissem Sinne erscheint dieses kollektive Scheitern (und das historische Trauma, das es begleitet) mit einer großen symbolischen Kraft einen der fundamentalen Kernpunkte der Moderne zu verdichten, wie er schon mitten im 19. Jh. von Flaubert ins Zentrum gestellt wurde, vor allen Dingen in jenem dumpfen und schonungslosen Monument der Niederlage, das Die Erziehung des Herzens ist: d.h. die Möglichkeit – oder sogar die Nutzlosigkeit – an der Geschichte teilzunehmen, dem wirklichen Schicksal eine Richtung und eine lesbare Bedeutung einzuprägen; und etwas allgemeiner, der unabwendbare und unumkehrbare Kontaktverlust mit der Erfahrung in all ihren Bedeutungsabstufungen, sei es als direkt gelebte Erfahrung im Sinne eines Erlebnisses, sei es als angehäufte, und somit durch die Erzählung überlieferbare Erfahrung. In diesem Sinne scheint der Fall Gadda wirklich exemplarisch, weil er diese beiden Ebenen der Erfahrung einbezieht und der fortschreitenden Geschlossenheit jeglichen Interventionsspielraums gewahr wird: Zunächst löschen das Trauma der Niederlage von Caporetto und die schreckliche Ohnmacht der Inhaftierten jede Möglichkeit, unmittelbar Erfahrung zu leben, zu handeln, an der Geschichte teilzunehmen, aus; und dann versucht Gadda dieses Scheitern über die Schrift zu lösen, über eine Erzählung – das Tagebuch selbst – die dem, was man erlebt

4

Renato Serra: Esame di coscienza di un letterato, Bologna 2002, S. 74-76.

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hat, Bedeutung zurückgeben kann. Aber seinerseits ist auch dieses Instrument (oder Ersatzmittel) zum Scheitern verurteilt, soweit, dass eine seiner bedeutenden Schriften der folgenden Jahre einen emblematischen Titel haben wird, Impossibilità di un diario di guerra (Unmöglichkeit eines Kriegstagebuchs)5: so, als ob diese Erzählung unmöglich geworden wäre, jene Erfahrung endgültig verloren sei, nicht länger eingelöst noch kommuniziert werden könne.

D AS S CHWEIGEN

DES

E RZÄHLERS

Von diesen Anregungen ausgehend und ein paar Jahre weitergehend, scheint es unausweichlich, Walter Benjamin und seinen Aufsatz „Der Erzähler“ (1936) heranzuziehen, der mit einer berühmten, melancholischen Diagnose über den Niedergang der Erzählung eröffnet wird: „Sie (die Kunst) sagt uns, daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht. […] Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. […] Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht.“6

Auch Adorno machte 1944 ziemlich ähnliche Beobachtungen zum Verhältnis von Kriegserfahrung und Erzählung, sah er überdies auch eine substanzielle Analogie zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg:

5

Der Text ist im zweiten von Gadda publizierten Buch Il castello di Udine (1934)

6

Walter Benjamin: „Der Erzähler“, in: Gesammelte Schriften II, 2, Aufsätze, Es-

aufgenommen. says, Vorträge, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 468-464, hier: S. 439.

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„Schon das vorige Mal machte die Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht eigentliche Erfahrung unmöglich. Keiner hätte davon erzählen können, wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Bonaparte erzählt werden konnte. […] Der Zweite Weltkrieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers […]. Sowenig der Krieg Kontinuität, Geschichte, das „epische“ Element enthält, sondern gewissermaßen in jeder Phase von vorn anfängt, sowenig wird er ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinterlassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet.“7

Es scheint schließlich, dass die Kriege des 20. Jhs die hundertjährige Verbindung zwischen historischer Erfahrung und epischer Erzählbarkeit zerbrochen haben: die fragmentarische, mechanisierte und entfremdete Natur der modernen Kriegsereignisse, hat jenen Sinn der Totalität vollständig zerstört, in dem Hegel die tatsächlich epische Verfassung des „Konflikts des Kriegszustandes“8 sah.

8. S EPTEMBER 1943 Jetzt, da wir versuchen, in dieses historische und kulturelle Bild den italienischen Krieg der Zivilisten, die zwanzig Monate des Partisanenkriegs, einzufügen, bemerken wir etwas tiefgründig Abweichendes, das die radikalen Thesen der Frankfurter Philosophen zu dementieren – oder zumindest zu relativieren – scheint. Wenn ich von Gadda und der schweren Niederlage von Caporetto ausgegangen bin, so um tatsächlich ein anderes entscheidendes Datum der italienischen Geschichte, den 8. September 1943, den jemand emphatisch als „nationale Katastrophe“ oder „Tod des Vaterlandes“ definiert hat, aber keine zweite Niederlage darstellt, zu erreichen: Es ist

7

Theodor W. Adorno: Minima moralia: Reflexionen aus einem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1994 (11950), S. 63.

8

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, (III, III, 3), Bd. II, Frankfurt a. M. 1965, S. 420.

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nicht nur eine Niederlage, nicht nur ein Zusammenbruch des Militärs und eine Auflösung der staatlichen Macht, sondern auch die verwirrte Vorahnung einer möglichen Wiedergeburt. Diese hat in einer überzeugenden Weise einer der größten Historiker des italienischen Widerstands, Claudio Pavone, erklärt, der im 8. September eine entscheidende Wasserscheide gesehen hat, jenen Moment der Wahl, nach dem er das erste Kapitel seines wichtigen Buches Una guerra civile. Saggio storico sulla moralità nella Resistenza (Ein ziviler Krieg. Historischer Aufsatz über die Moralität im Widerstand) (1991) benannt hat: „Eventi grandi, eccezionali, catastrofici pongono i popoli e gli uomini davanti a drastiche opzioni e fanno quasi di colpo prendere coscienza di verità che operavano senza essere ben conosciute o la cui piena conoscenza era riservata a pochi iniziati. Il vuoto istituzionale creato dall’8 settembre caratterizza in questo senso il contesto in cui gli italiani furono chiamati a scelte alle quali molti di loro mai pensavano che la vita potesse chiamarli.“9 „Große, außergewöhnliche, katastrophale Ereignisse stellen die Völker und die Menschen vor drastische Optionen und lassen sie fast mit einem Schlag von Wahrheiten Kenntnis nehmen, die wirkten ohne gut bekannt zu sein oder deren volle Kenntnis wenigen Mitwissern vorbehalten war. Das institutionelle Vakuum, das der 8. September schuf, charakterisiert in diesem Sinne den Kontext, in dem die Italiener zu den Wahlen berufen wurden, von denen die meisten nicht dachten, dass das Leben die Wahlen einberufen könnte.“

Offensichtlich wäre es besser, das Bild nicht dualistisch oder sogar romanhaft zu vereinfachen, auch weil die historische Situation extrem verwirrend war. In Wirklichkeit war es einerseits nicht so einfach zu wählen, auf welcher Seite man steht, wie es Nuto Revelli in seinen Tagebüchern geschrieben hat: „den 8. September zu verstehen war nicht einfach!“10 Andererseits darf die Ausdehnung dessen, was Primo Levi die „graue Zone“ genannt hat,

9

Claudio Pavone: Una guerra civile. Saggio storico sulla moralità nella Resistenza, Mailand 1994, S. 23.

10 Nuto Revelli: La guerra dei poveri (annotazione del 12 ottobre 1943), Turin 1962, S. 143.

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nicht unterbewertet werden, die Zone, in der jemand gewusst hat, die Wahl zu umgehen und keine Position zu beziehen, um dann möglicherweise in den Tagen der Befreiung, die Fahnen der Sieger schwenkend, wieder aufzutauchen. Trotzdem, wie es Pavone, einen Ausdruck Sartres wieder aufnehmend, sagt, gibt es keinen Zweifel, dass der 8. September eine „Erweiterung des Möglichkeitsfeldes“ produzierte, die die Gelegenheit zur Befreiung nach zwanzig Jahren Diktatur eröffnet hat. Auf diese Weise scheinen viele Italiener mit der verlorenen historischen Erfahrung wieder Kontakt aufzunehmen: Sie finden einen Verbindungspunkt zwischen dem individuellen Schicksal und dem historisch-kollektiven Prozess, sie weisen oft auf eine heikle, wunderbare Übereinstimmung zwischen Sein und Tun, zwischen idealem Willen und konkreter Handlung, den Körpergesten, der aktiven Präsenz in der Geschichte hin. Das sagt Luigi Meneghello – Partisan auf den Bergen in der Nähe von Vicenza – in einem sehr schönen Interview mit Marco Paolini: „Sapevi di essere dalla parte giusta, e in pochi altri momenti della vita – parlo per la mia generazione e per quelli che erano con me allora – ciò che volevi fare coincideva con ciò che dovevi fare. Il senso di concordanza tra dovere e volere era straordinario.“11 „Du wusstest, dass du auf der richtigen Seite warst, und in wenigen anderen Momenten des Lebens – ich spreche für meine Generation und für jene, die damals mit mir waren – deckte sich das, was du machen wolltest mit dem, was du machen musstest. Die Bedeutung der Übereinstimmung zwischen müssen und wollen war außergewöhnlich.“

Es gibt eine sehr berühmte Episode in Sentiero dei nidi di ragno (Wo die Spinnen ihre Nester bauen) von Calvino (1947, dt. 1965), in der zwei anführende Partisanen, der Kommandant Ferriera und der Kommissar Kim, über die Motivationen diskutieren, die ihre Männer zum Kämpfen antreiben:

11 Carlo Mazzacurati; Marco Paolini: Ritratti, Luigi Meneghello: il viaggio nella memoria di uno degli autori più significativi del Novecento italiano, Rom 2006, S. 57.

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„Perché combattono, allora? Non hanno nessuna patria, né vera né inventata. Eppure tu sai che c’è coraggio, che c’è furore anche in loro. […] E basta un nulla, un passo falso, un impennamento dell’anima e ci si trova dall’altra parte, […] dalla brigata nera, a sparare con lo stesso furore, con lo stesso odio, contro gli uni o contro gli altri, fa lo stesso. Ferriera mugola nella barba:  Quindi, lo spirito dei nostri... e quello della brigata nera... la stessa cosa?... La stessa cosa, intendi cosa voglio dire, la stessa cosa...  Kim s’è fermato e indica con un dito come se tenesse il segno leggendo;  la stessa cosa ma tutto il contrario. Perché qui si è nel giusto, là nello sbagliato. Qua si risolve qualcosa, là ci si ribadisce la catena. […] Ma allora c’è la storia. C’è che noi, nella storia, siamo dalla parte del riscatto, loro dall’altra. Da noi, niente va perduto, nessun gesto, nessuno sparo […]. L’altra è la parte dei gesti perduti, degli inutili furori, perduti e inutili anche se vincessero, perché non fanno storia, non servono a liberare ma a ripetere e perpetuare quel furore e quell’odio, finché dopo altri venti o cento o mille anni si tornerebbe così.“12 „Warum kämpfen sie also? Sie haben keine Heimat, weder eine wahre noch eine fiktive. Trotzdem weißt du, dass es Mut gibt, dass es eine Wut in ihnen gibt. […] Und es reicht sehr wenig, ein falscher Schritt, eine seelische Anwandlung und man findet sich auf der anderen Seite, […] von der schwarzen Brigade, um mit derselben Wut zu schießen, mit demselben Hass, gegen die einen oder gegen die anderen, es ist dasselbe. Ferriera murmelt in seinen Bart: – Also, der Geist der unseren…ist jener der schwarzen Brigade…dieselbe Sache?... Dieselbe Sache, verstehe, was ich meine, dieselbe Sache… – Kim hält inne und zeigt mit einem Finger wie als wenn er die Stelle lesend festhalten würde; – dieselbe Sache, aber das totale Gegenteil. Weil man hier im Recht, dort im Unrecht ist. Hier löst man etwas, dort bleibt man gefesselt […] Aber dann gibt es die Geschichte. Es gibt den Fakt, dass wir, in der Geschichte, auf der Seite der Befreiung sind, sie auf der anderen Seite. Von uns geht nichts verloren, keine Geste, kein Schuss […]. Die andere Seite ist die Seite der verlorenen Gesten, der nutzlosen Wut, verloren und nutzlos, auch wenn sie gewonnen hätten, weil sie keine Geschichte machen, sie nützen nicht zu befreien, aber jene Wut und jenen Hass zu wiederholen und zu verewi-

12 Italo Calvino: Il sentiero dei nidi di ragno, Mailand 1993 (11947), S. 106.

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gen, bis nach weiteren zwanzig oder hundert oder tausend Jahren man erneut zurückkehren würde.“

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BUNTES

U NIVERSUM

VON

G ESCHICHTEN

Es scheint, dass das Abenteuer der Partisanen mitten im 20. Jh. wieder eine authentische Form der Erfahrung zugänglich gemacht hat, sowohl eine erlebte Erfahrung der Dringlichkeit und der Intensität des historischen Moments („in jenem außergewöhnlich großen Moment“, wie ihn Giorgio Caproni definiert hat)13 als auch die gesammelte Erfahrung, wiedererlebt über die Erinnerung und übermittelt durch die Erzählung. Es ist jener Moment, den Calvino selbst in einem anderen grundlegenden Text, dem „Vorwort“ 1964 in einer neuen Ausgabe des Wo Spinnen ihre Nester bauen, nennt, wenn er erklärt, dass der Roman ihm nicht einmal als sein eigenes Werk erscheint, aber als ein Text, der aus dem „allgemeinen Zeitgefühl“ geboren wurde: „Questo ci tocca oggi, soprattutto: la voce anonima dell’epoca, più forte delle nostre inflessioni individuali ancora incerte. L’essere usciti da un’esperienza – guerra, guerra civile – che non aveva risparmiato nessuno, stabiliva un’immediatezza di comunicazione tra lo scrittore e il suo pubblico: si era faccia a faccia, alla pari, carichi di storie da raccontare, ognuno aveva avuto la sua, ognuno aveva vissuto vite irregolari drammatiche avventurose, ci si strappava la parola di bocca. La rinata libertà di parlare fu per la gente al principio smania di raccontare: nei treni che riprendevano a funzionare, gremiti di persone e pacchi di farina e bidoni d’olio, ogni passeggero raccontava agli sconosciuti le vicissitudini che gli erano occorse, e così ogni avventore delle ‚mense del popolo‘, ogni donna nelle code dei negozi; il grigiore delle vite quotidiane sembrava cosa d’altre epoche; ci muovevamo in un multicolore universo di storie.

13 Giorgio Caproni: „Il labirinto“, in: ders. (Hrsg.): Racconti della Resistenza, Turin 1975, S. 33-56, S. 43.

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Chi cominciò a scrivere allora si trovò così a trattare la medesima materia dell’anonimo narratore orale […].“14 „Das berührt uns heute vor allen Dingen: die anonyme Stimme der Zeit, stärker als unsere noch unsicheren individuellen Tonfälle. Die Tatsache, dass von einer Erfahrung – von der des Krieges, des zivilen Krieges – die niemandem erspart geblieben ist, ausgegangen wurde, stellte eine Unmittelbarkeit der Kommunikation zwischen dem Schriftsteller und seinem Publikum her: man stand von Angesicht zu Angesicht auf der gleichen Ebene, beladen mit zu erzählenden Geschichten, jeder mit seiner eigenen, jeder mit einem dramatischen und abenteuerlichen Leben voller Unregelmäßigkeiten hinter sich – man nahm sich das Wort gegenseitig aus dem Mund. Die wiedergeborene Freiheit zu sprechen, war für die Leute hauptsächlich die Gier zu erzählen: in den Zügen, die wieder funktionierten, gefüllt mit Personen und Mehlpäckchen und Ölkanistern, jeder Fahrgast erzählte den Unbekannten die Mißgeschicke, die ihnen widerfahren waren, und so jeder Kunde in der ‚Mensa des Volkes‘, jede Frau in der Schlange vor den Geschäften; die Eintönigkeit der täglichen Leben erschien aus einer anderen Zeit; wir bewegten uns in einem bunten Universum der Geschichten. Wer damals zu schreiben begann, befand sich so in der Behandlung desselben Stoffs eines anonymen mündlichen Erzählers […].“

Ich habe viele Male diese Worte von Calvino wieder gelesen, und oft habe ich mich gefragt, ob er nicht ein wenig übertrieben hat mit dieser ‚antibenjamin’schen‘ Vision. Teilweise vielleicht ja. Vielleicht gibt es – auch für einen so glänzenden und für Sentimentalitäten wenig anfälligen Geist – eine gewisse Sehnsucht nach seiner Jugend und einer euphorischen Phase aus historischer und politischer Perspektive, die an einen Moment tiefer Krise erinnert, in der die Gründe der Literatur und die Erzählbarkeit der Welt keine festen Werte mehr sind, aber fortwährend und mühevoll verhandelt sein müssen. Andererseits sollten wir ein sehr komplexes und nuanciertes Bild nicht verallgemeinern und nicht vereinfachen. Es würde genügen, an den problematischen Fall des ‚weiblichen‘ Widerstands zu denken, der aufgrund einer starken Zurückhaltung seitens der Frauen, aufgrund einer Tendenz nicht zu erzählen, was geschehen ist, im Schatten geblieben ist. Nicht

14 Italo Calvino: „Prefazione “, in: ders.: Sentiero dei nidi di ragno, Mailand 1993, S. 7-24, hier: S. 7.

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zufällig trägt ein Band, der Zeugnisse einiger Partisaninnen aus dem Piemont versammelt und 1976 von Anna Maria Bruzzone und Rachele Farina herausgegeben wurde, den programmatischen Titel La Resistenza taciuta (Der verschwiegene Widerstand), wie mit großer, wirkungsvoller Einfachheit eine der Zeuginnen beglaubigt: „Wir Frauen sind abgeneigt zu sprechen. Während die Männer von sich selbst eingenommen sind, bevorzugen die Frauen zu schweigen.“15 Trotz der Vorbehalte glaube ich, dass Calvino es dennoch schafft, ein tatsächliches Faktum dieser Zeit, dieser allgemeinen Atmosphäre zu treffen, zumindest auf einer vordergründigen Ebene. Es ist der Fakt ein Beweis, dass die Resistenza-Erfahrung eine große Menge an Erzählungen und Zeugenberichten produziert hat, oft in einer bewusst nicht literarischen Form (Tagebücher, Erinnerungen, Briefe, Autobiographien etc.), eine Menge, die mit den Jahren gewachsen ist und die weiterwächst bis in unsere Tage, wahrscheinlich solange, wie der letzte Zeuge leben wird, wie viele jüngste Fälle von im späten Alter veröffentlichten Erinnerungen zeigen. Andererseits gibt es eine unzählbare Fülle von Nachweisen darüber, dass die Erzählung – vor allem die mündliche Erzählung – integraler Teil der Partisanenerfahrung und des täglichen Lebens in den Banden war und es ist sehr richtig, dass die metadiegetische Erzählung eine der am weitesten verbreiteten narrativen Strategien in der Literatur der Resistenza ist.

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Ein sehr interessanter Aspekt dieser narrativen Blütezeit ist das epische Element, das sie begleitet, als wenn die neue Wahrnehmung der Geschichte, die Überschneidung zwischen individuellem Schicksal und historischkollektivem Prozess auf eine Weise wiedergeben kann, was Lukács, über das Epische sprechend, die Immanenz des Lebenssinns16 genannt hat. In der

15 Anna Maria Bruzzone; Rachele Farina (Hrsg.): La Resistenza taciuta: dodici vite di partigiane piemontesi, Turin 2003 (11976), S. 64. 16 Vgl.: Georg Lukács: Die Theorie des Romans, 2. Aufl., Neuwied am Rhein, Berlin 1962, S. 56.

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Tat, von der Epik bezüglich der Resistenza-Literatur zu sprechen, bedeutet nicht, unwahrscheinlichen kritischen Fantasien oder rückblickenden Urteilen nachzugeben, weil dieselben Protagonisten der Zeit sie zu verschiedenen Anlässen diskutiert haben. Es gibt z.B. einen Artikel Calvinos, „Omero antimilitarista“ („Der antimilitärische Homer“), am 15. September 1946 in der Zeitung Unità veröffentlicht, in dem die historische Bedeutung des 8. Septembers auf eine universale, gleichsam epische Dimension ausgeweitet wird, die der in der Odysee erzählten ähnelt: „Was ist die Odyssee tatsächlich? Es ist der Mythos des Heimkehrens […]. Es ist die Geschichte des achten Septembers, die Odyssee, die Geschichte aller achten September in der Geschichte: Mit den vorzufindenden Verkehrsmitteln nach Hause zurückkehren zu müssen, in Länder voller Feinde.“ Etwa zwei Jahre später bringt der Verantwortliche der Kulturpolitik des PCI, Emilio Sereni, eine Debatte über den Realismus und über den Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft in Gang, in der er den Schriftstellern das homerische Modell vorschlägt, das Modell einer neuen Epik. Und in der Tat „Saremo come Omero“ („Wir werden wie Homer sein!“) ist ein Titel eines neuen Beitrags Calvinos (Rinascita, Dezember 1948), in dem er sich wünscht, dass die Schriftsteller „jenen ‚totalen‘ Realismus erreichen (könnten), jene Fähigkeit Homers, die Poesie unmittelbar aus der Natur und der Geschichte zu gebären, ‚als wenn der Autor nicht da wäre‘.“17 Offenbar handelt es sich mehr um ein Vorzeichen, ein ideales Streben als um ein vollständig erreichtes Ergebnis. Dieselben Schriftsteller werden bald ein substanzielles Scheitern dieser Bestrebungen feststellen müssen, wenigstens wegen der Unfähigkeit, jenen Sinn der Totalität, der Chorartigkeit, der organischen Geschlossenheit zu erfassen, die wirklich Teil der epischen Erzählung ist (nicht zufällig wird Calvino in seinem „Vorwort“ 1964 von einem „fragmentarischen Epos“ sprechen).18 Außerdem entzieht dieses unausweichliche Scheitern nichts von dem spannungsgeladenen Wunsch, die Pläne zu realisieren, von dem großen politischen und kulturellen Enthusiasmus, der die Jahre des zivilen Kriegs und die unmittelbare Nachkriegszeit charakterisiert hat. Calvino schreibt noch in einem Aufsatz von 1960,

17 Italo Calvino: „Saremo come Omero!“, in: ders. (Hrsg.): Saggi 1945-1985, I, Mailand 2007 (11948), S. 1483-1485, hier: S. 1485. 18 Calvino: „Prefazione“, S. 21.

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„Tre correnti del romanzo italiano d’oggi“ („Drei Strömungen des italienischen Romans von heute“): „I giovani letterati della mia generazione […] si trovarono a vivere una stagione straordinaria dello spirito italiano, quella che accompagnò e seguì la Resistenza, la vittoriosa lotta popolare contro il fascismo. Fu un periodo crudo e miracoloso, un risveglio unico nella nostra storia […]. La Resistenza fece credere possibile una letteratura come epica, carica d’un’energia che fosse insieme razionale e vitale, sociale ed esistenziale, collettiva e autobiografica.“19 „Die jungen Literaten meiner Generation […] erlebten eine außergewöhnliche Zeit des italienischen Geistes, diejenige, die den Widerstand begleitete und folgte, der siegreiche Kampf des Volkes gegen den Faschismus. Es war eine harte und wunderbare Zeit, einzigartiges Erwachen in unserer Geschichte […]. Der Widerstand machte es möglich, an eine Literatur wie die Epische zu glauben, aufgeladen von einer Energie, die gleichzeitig rational und lebhaft, sozial und existentiell, kollektiv und autobiographisch wäre.“

D ER

ERBITTERTE

G ESCHMACK

DES

L EBENS

Ich erreiche so den zentralen Punkt meines Beitrags. In Wirklichkeit ist das, was mich interessiert, weniger ein Problem der Periodisierung oder der historisch-literarischen Bewegungen, um z.B. den Zusammenhang zwischen Literatur der Resistenza und dem italienischen Neorealismus (zwei Phänomene, die viele Überschneidungsbereiche haben, aber nicht in allem übereinstimmen, auch wenn sie manchmal irrtümlicherweise identisch verstanden werden) zu definieren. Mich interessiert hingegen ein spezieller theoretischer Aspekt, weil ich der Meinung bin, dass die Literatur der Resistenza einen privilegierten Beobachtungsstandpunkt auf ein sehr kompliziertes Gebiet des Realismus und der literarischen Mimesis anbietet. Schließlich,

19 Italo Calvino: „Tre correnti nel romanzo italiano d’oggi“, in: ders. (Hrsg.): Una pietra sopra: discorsi di letteratura e società, Mailand 2011 (11980), S.61-75, hier: S. 66.

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weil es eine Literatur ist, die aus einem starken Spannungsverhältnis zwischen dem Wort und der Wirklichkeit, zwischen geschriebener Erinnerung und erlebter Erfahrung, die aus dem Versuch, die ontologische Barriere zwischen Sprache und Welt einzureißen (oder neu zu formen), entsteht. Und dann, weil die besten Schriftsteller dieser Zeitspanne auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht haben, ihre Ausdrucksinstrumente neu zu erfinden, die konventionellen Schemen erneut zur Diskussion zu stellen, um sich mit den unbekannten Aspekten der Realität und einem dramatischerweise lebenden und harten Referenten zu messen – der eben der Krieg ist, das intensive Gefühl des Kampfes, das Leben, das Leiden, der Tod, das unerklärliche Glück der Gefahr und im Allgemeinen jener hinreißende Sinn der Geschichte, von dem ich vorher gesprochen habe. Calvino macht im „Vorwort“ 1964 eine einzigartige und interessante Aussage über den Neorealismus, die oft auf eine etwas naive, einfältige Inhaltlichkeit reduziert wurde, den Vorwürfen des Chronikstils oder der oberflächlichen Nähe zu einer brutalen und unausgesprochenen Realität ausgesetzt wurde. Calvino erklärt hingegen, dass seine Generation sich vor allen Dingen dem formalen Problem, dem Problem des Ausdrucks stellen musste: „Mai fu tanto chiaro che le storie che si raccontavano erano materiale grezzo: la carica esplosiva di libertà che animava il giovane scrittore non era tanto nella sua volontà di documentare o informare, quanto in quella di esprimere. Esprimere che cosa? Noi stessi, il sapore aspro della vita che avevamo appreso allora allora, tante cose che si credeva di sapere o di essere, e forse veramente in quel momento sapevamo ed eravamo. […] Mai si videro formalisti così accaniti come quei contenutisti che eravamo, mai lirici così effusivi come quegli oggettivi che passavamo per essere. Il ‚neorealismo‘ per noi che cominciammo di lì, fu quello […].“20 „Nie war es deutlicher, dass die Geschichten, die erzählt wurden, unbearbeitetes Material waren: die explosive Ladung der Freiheit, die die jungen Schriftsteller antrieb, bestand nicht so sehr aus ihrem Willen zu dokumentieren oder zu informieren, sondern aus jenem etwas auszudrücken. Was auszudrücken? Uns selbst, den herben Geschmack des Lebens, den wir nach und nach angenommen hatten, die vielen Dinge, die man glaubte zu wissen oder zu sein, und vielleicht wussten und waren wir sie in diesem Moment tatsächlich. […] Nie hatte es so verbissene Formalisten gegeben

20 Calvino: „Prefazione“, S. 8.

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wie jene Inhaltsbezogene, die wir waren, nie gab es Lyriker so emotional wie jene Objektivisten, als die wir betrachtet wurden. Das war der ‚Neorealismus‘ für uns, die wir dort begannen […].“

Calvino erfasst hier wirklich einen ausschlaggebenden Aspekt, der den besonderen historischen Moment und die Poetik des Neorealismus übersteigt, aber die weiteste Dimension der literarischen Mimesis anlegt, weil jeder authentische Realismus von einer formalen Suche ausgeht. Es ist eine Arbeit an der Sprache, die versucht „den Ausdruck zu dekonstruieren und zu rekonstruieren“, wie es Gadda sagt,21 bedenkt man, dass die gewöhnlichen Darstellungsmodi – in Italien – durch Rhetorik, Zensur, Propaganda und Lügen, die die zwanzig Jahre des Faschismus gekennzeichnet haben, unangemessen und im Übrigen verdorben waren. In diesem Sinne erscheinen mir der italienische Widerstand und der italienische Neorealismus zwei der uneingeschränkt bedeutendsten Momente des Realismus in der Literatur, auch wenn vielleicht die konkreten Resultate bisweilen die Erwartungen, die großen Hoffnungen dieser „außergewöhnlichen Zeit des italienischen Geistes“, enttäuscht haben.

D IE W AHRHEIT

DER

F IKTION

Die Partisanenliteratur wirft mit einer großen Dringlichkeit das entscheidende Problem jeder authentisch-realistischen Poetik auf: wie ist es möglich das zu erzählen, was geschehen ist? Wie ist es möglich die „Realität“ zu erzählen? Wie kann man das „rohe Material“ der Fakten bearbeiten, um es an die Modi und an die Konventionen des literarischen Textes anzupassen? Wie kann man mit Worten, mit der Schrift, über den Filter der Erinnerung jene so intensive und entscheidende Erfahrung ausdrücken, ohne sie

21 Carlo Emilio Gadda: „I viaggi la morte“, in: ders., Clelia Martignoni, Dante Isella und Liliana Orlando (Hrsg.): Saggi, giornali, favole I, hrsg. v. Clelia Martignoni, Dante Isella und Liliana Orlando, Mailand 1991, S. 419-667, hier: S. 487.

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zu verraten, ohne jenes flüchtig zu machen, was Calvino die „wahre Essenz“ des Partisanenkriegs nennt?22 Fakt ist, dass die glänzendsten und bedachtesten Autoren sofort verstehen, dass dieses Ziel nicht mit einer literarischen Reproduktion der Ereignisse, mit einem Vertrauen in die Objektivität der Daten der Chronik erreicht werden kann. Es ist der Fall eines anderen Schriftstellers, der diese Probleme ebenso kritisch aufgestellt hat, Luigi Meneghello. In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1984, „L’esperienza e la scrittura“ („Die Erfahrung und die Schrift“), entwickelt Meneghello in der Tat seine grundlegende Idee, dass die Schrift „eine Funktion des Verstehens“, eine unersetzliche Form der Erkenntnis, ein Instrument zur Interpretation der Realität sei: „Mi interessa in particolare quello che si presenta come l’aspetto meno ovvio dei rapporti tra esperienza e scrittura; l’effetto della seconda sulla prima, il modo in cui la scrittura si oppone alla transitorietà dell’esperienza. L’esperienza è flusso, attorno a noi tutto scorre, siamo immersi in un fiume, c’è il fluire del tempo, il fluire della vita biologica e quello della vita sociale, la società cambia attorno a noi, con ritmi che a volte paiono perfino più rapidi dei ritmi biologici…Scrivendo si sottrae qualcosa a questo flusso, è come attingere acqua da un fiume con una scodella, e sembra di avere preservato almeno qualcosa del senso delle nostre esperienze.“23 „Mich interessiert insbesondere das, was sich wie ein weniger offensichtlicher Aspekt der Beziehungen zwischen Erfahrung und Schrift präsentiert; der Effekt der letzteren [der Schrift] auf die erstere, die Art, in der die Schrift sich der Vergänglichkeit der Erfahrung widersetzt. Die Erfahrung ist ein Strom, um uns herum fließt alles, wir sind versunken in einen Fluß, es gibt das Fließen der Zeit, das Fließen des biologischen Lebens und jenes sozialen Lebens, die Gesellschaft wandelt sich um uns herum, mit Rhythmen, die manchmal schneller als die des Lebens sind… Schreibend entzieht sich etwas diesem Fließen, es ist wie mit einer Schale Wasser aus einem Fluß zu schöpfen, und es scheint als habe man wenigstens etwas des Sinns unserer Erfahrungen bewahrt.“

22 Calvino: „Prefazione“, S. 18. 23 Luigi Meneghello: „L’esperienza e la scrittura“, in: ders.: Jura: Ricerche sulla natura delle forme scritte, Mailand 2003 (11987), S. 63-74, hier: S. 65.

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Doch Menghello erklärt deutlich, dass diese Suche nach dem Sinn nichts zu tun hat mit einem naiven Realismus: „La riproduzione letterale della realtà, il rifarla così com’è, non sarebbe molto interessante; e la spinta che sembra in atto nella direzione di questo rifacimento meccanico non porta in nessun luogo.“24 „Die wörtliche Reproduktion der Realität, sie wieder so machen wie sie ist, würde nicht sehr interessant sein; und der Drang, in die Richtung dieser mechanischen Reproduktion zu gehen, führt zu nichts.“

Schließlich bringt Meneghello schon auf einer Seite des Libera nos a malo (1963) ähnliche Reflexionen zum Ausdruck: „Il narratore, il mimo scelgono, compongono, costruiscono. Il fondo ‚vero‘ è essenziale, ma via via ci si allontana dal puro resoconto di cronaca, e si avverte spesso una tensione tra la verità materiale dei fatti, e la bellezza del racconto, la purezza della linea. Finisce che cronaca e favola diventano indistinguibili, alcuni dei nostri personaggi (spesso ancora vivi tra noi) sono maschere poetiche […].“25 „Der Erzähler, der Mime wählen, komponieren, konstruieren. Der „wahre“ Grund ist essenziell, aber nach und nach entfernen sie sich von dem reinen Bericht, und man empfindet oft eine Spannung zwischen der materiellen Wahrheit der Fakten und der Schönheit der Erzählung, der Reinheit der Zeile. Es endet damit, dass Chronik und Fabel ununterscheidbar werden, einige unserer Personen (oft leben sie noch unter uns) sind poetische Masken […].“

Vielleicht überrascht es folglich nicht, dass der größte Schriftsteller des italienischen Widerstands der am meisten isolierte, ideologisch weniger verpflichtete ist, weit entfernt von allen Debatten über den Realismus, über das Verhältnis von Literatur und Politik oder über die soziale Funktion des Schriftstellers. Derjenige, der sein ganzes Leben lang den Partisanenkrieg

24 Ebd., S. 68. 25 Luigi Meneghello: Libera nos a malo, Mailand 2006 (11963), S. 226.

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erzählt und sich fortschreitend von der Dringlichkeit der Autobiografie und der erlebten Erfahrung entfernt hat, um Formen einer vollständig romanhaften Bearbeitung zu erlangen. Wenn Calvino an das Ende des „Vorworts“ 1964 nach einer ziemlich katastrophalen Bilanz der Resistenza-Literatur ankommt, sagt er, dass an einem bestimmten Punkt – wenn es inzwischen niemand mehr erwartet – ein Schriftsteller es schließlich geschafft hat, „den Roman, den alle erträumt hatten“, „ein Buch, das unsere Generation machen wollte“ zu schreiben, indem er jene unwiederholbare menschliche und kulturelle Zeit zur Vollendung gebracht hat. Jener Schriftsteller war Beppe Fenoglio und das Buch Una questione privata (Ein private Frage), postum 1963 erschienen: „Una questione privata è costruito con la geometrica tensione d’un romanzo di follia amorosa e cavallereschi inseguimenti come l’Orlando furioso, e nello stesso tempo c’è la Resistenza proprio com’era, di dentro e di fuori, vera come mai era stata scritta, serbata per tanti anni limpidamente nella memoria fedele, e con tutti i valori morali, tanto più forti quanto più impliciti, e la commozione, e la furia. Ed è un libro di paesaggi, ed è un libro di figure rapide e tutte vive, ed è un libro di parole precise e vere. Ed è un libro assurdo, misterioso, in cui ciò che si insegue, si insegue per inseguire altro, e quest’altro per inseguire altro ancora e non si arriva al vero “26

perché.

„Eine private Frage wurde mit der geometrischen Spannung eines Romans über den liebevollen Wahnsinn und ritterliche Verfolgungen konstruiert wie Orlando furioso, und in derselben Zeit gibt es den Widerstand wie er wirklich war, von innen und außen, so wahr wie er nie geschrieben worden war, für viele Jahre rein in der getreuen Erinnerung bewahrt, und mit allen moralischen Werten, je stärker desto impliziter, und die Ergriffenheit, und die Wut. Und es ist ein Buch der Landschaften, und es ist ein Buch schneller Abbildungen und alles lebt, und es ist ein Buch der genauen und wahren Worte. Und es ist ein absurdes Buch, mysteriös, in dem das, was man verfolgt, man verfolgt, um anderes zu verfolgen, und dieses andere, um wieder anderes zu verfolgen und man deshalb das wirkliche Warum nicht sagt.“

26 Calvino: „Prefazione“, S. 22.

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Es ist vielleicht die paradoxe Schärfe, die dieses Urteil Calvinos so effektvoll und außergewöhnlich macht, geeignet für ein wirklich uneinnehmbares und mysteriöses Buch, ein Buch, das auf einer Mischung von „wahr“ und „außergewöhnlich“ aufbaut, wie es auch Meneghello angemerkt hat, auf jener Kombination von „Überraschung“ und „absoluter Glaubwürdigkeit“, die die „Tugend ohne Namen größerer literarischer Schriftsteller, ihre höchste abstrakte Eigenschaft“27 ist. Tatsächlich hat Fenoglio den Roman der Resistenza geschrieben, das Buch, mit dem es schließlich gelugen war, die wahre Bedeutung des Partisanenkriegs zu vermitteln – und dies mit sorgfältig gewählten literarischen Mitteln, unabhängig von seiner eigenen Erfahrung als Mitkämpfer und mit einer Serie von Motiven, intertextuellen Beziehungen und typisch romanhaften narrativen Paradigmen (ausgehend von einem der Archetypen der westlichen Tradition, la quest). Wir werden schließlich mit einer sehr deutlichen Forderung nach der Erkenntnisfunktion der Fiktion im Zusammenhang mit der erlebten Erfahrung, der Geschichte, die wir gewöhnt sind „Realität“ zu nennen, konfrontiert. Sogar im historiographischen Bereich gibt man zu, dass das narrative Werk Fenoglios den Widerstand auf eine effektivere Weise repräsentiert als vieles, was historische Forschungen gemacht hätten, weil er es schafft – wie es Gianni De Luna geschrieben hat – „die ganze Komplexität des Realen, die sich hartnäckig den Historikern entzieht“,28 zu erfassen. Es soll schließlich eine letzte Stimme hinzugezogen werden, um diesen ganzen Diskurs zu versiegeln. Es ist die Stimme, die in einem wunderschönen Buch wiederklingt, La scrittura o la vita (Die Schrift oder das Leben) von Jorge Semprun (1994), das eine außergewöhnliche Zeugenschaft nicht nur über seine direkte Erfahrung der Deportation nach Buchenwald ablegt, sondern auch über die Sorgen und Schmerzen des Intellektuellen, der über die Erinnerung und die Schrift etwas Unwahrscheinliches, Unerhörtes darstellen muss, etwas, das die Möglichkeiten der Repräsentation selbst umgeht und das vielleicht nicht in seiner wahren Essenz kommuniziert werden kann.

27 Luigi Meneghello: „Il vento delle pallottole“, in: ders.: Quaggiù nella biosfera. Tre saggi sul lievito poetico delle scritture, Mailand 2004, S. 34-55, hier: S. 50. 28 Giovanni De Luna: „La Resistenza tra storiografia e letteratura“, in: Il Ponte, LI, 1 (1995), S. 108-127, hier: S. 121.

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„Si sarebbero potute passare delle ore a fornire testimonianze sull’orrore quotidiano, senza sfiorare l’essenziale dell’esperienza della vita nel campo. Anche se si fosse testimoniato con un’assoluta precisione, con una costante oggettività […], anche in quel caso si sarebbe perso l’essenziale. […] Si potrebbe raccontare una qualunque giornata, a cominciare dal risveglio alle quattro e mezzo del mattino, fino all’ora del coprifuoco […] senza con questo toccare l’essenziale, né svelare il mistero glaciale di questa esperienza, la sua tetra scintillante verità: la tenebra che ci era toccata in sorte.“29 „Man hätte stundenlang Zeugnisse über den alltäglichen Horror, ohne das Essenzielle der Erfahrung des Lebens im KZ zu streifen, sammeln können. Auch wenn es mit einer absoluten Präzision, mit einer beständigen Objektivität […] bezeugt wäre, auch in jenem Fall würde man das Essenzielle verloren haben. […] Man könnte irgendeinen Tag erzählen, beginnen mit dem Erwachen um halb fünf morgens, bis zur Stunde der Ausgangssperre, […] ohne damit das Essenzielle zu berühren, noch das eiskalte Geheimnis dieser Erfahrung, die trostlose funkelnde Wahrheit zu enthüllen: die Finsternis, die uns vom Schicksal gegeben war.“

Und jenes, was Semprun zu verschiedenen Anlässen suggeriert, ist eine paradoxe und provokative These, die auch Gegenstand starker Einsprüche sein könnte: d.h., dass nur die Literatur und zu einem bestimmten Grad die Fiktion, die künstlerische Bearbeitung die finstere Wahrheit dieser Erfahrung retten und vermitteln könnte: „La verità essenziale dell’esperienza non è trasmissibile… O meglio, lo è solo attraverso la scrittura letteraria […] Attraverso l’artificio dell’opera d’arte. Non che l’esperienza vissuta sia indicibile. È caso mai invivibile, che è tutt’altra cosa, e si capisce. È qualcosa che non riguarda la forma di un racconto possibile, ma la sua sostanza. Non tanto la sua articolazione quanto la sua densità. Soltanto coloro che sapranno fare della loro testimonianza un oggetto artistico, uno spazio di creazione, o di ricreazione, riusciranno a raggiungere questa sostanza, questa densità trasparente. Soltanto l’artificio di un racconto abilmente condotto riuscirà a trasmettere in parte la verità della testimonianza.“30

29 Jorge Semprun: La scrittura o la vita, Parma 1996, S. 86-87. 30 Ebd., S. 120 und 20.

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„Die essenzielle Wahrheit der Erfahrung ist nicht zu vermitteln…oder besser, ist es nur über das literarische Schreiben […]. Über die Kunstfertigkeit des Kunstwerks. Nicht, dass die erlebte Erfahrung unsagbar wäre. Sie kann nicht nachgelebt werden, das ist etwas ganz Anderes und man versteht das. Es ist etwas, das nicht die Form einer möglichen Erzählung betrifft, sondern seine Substanz. Weniger ihre Artikulation als vielmehr ihre Dichte. Lediglich die, die wissen, werden aus ihrer Zeugenschaft ein künstlerisches Objekt zu machen verstehen, einen Schaffensraum, oder einen Raum der Neuschöpfung, nur sie werden es schaffen, diese Substanz, diese transparente Dichte zu erreichen. Nur die Kunstfertigkeit einer gekonnt gelenkten Erzählung wird es schaffen, teilweise die Wahrheit der Zeugenschaft zu vermitteln.“

Sicher, niemand glaubt, dass die Literatur uns retten könnte, aber vielleicht – wie es auch Primo Levi dachte, kann sie uns helfen, der Welt, in der wir leben, einen Sinn zu geben. Es wird genügen, nicht aufzuhören, zu schreiben und zu erzählen. „Das Unsagbare, von dem man viel spricht, ist nur ein Alibi“,31 sagt Semprun noch. Und ich glaube, dass er absolut recht hat.

31 Ebd., S. 20.

Der Realismus neuer Kriege Amerikanische Reportageliteratur aus Afghanistan und Irak

C HRISTOPH R IBBAT

Das Problem des von George W. Bush geführten Krieges im Irak bestand laut Victor Davis Hanson darin: Die Amerikaner hätten erwartet, dass „150.000 professionelle Soldaten den Feind in die Flucht schlagen, während wir anderen uns um SEX AND THE CITY und JACKASS: THE MOVIE kümmern.“1 Diese Aussage lässt sich einerseits als Diagnose eines konservativen amerikanischen Patrioten lesen (Hanson ging es wohl nicht um nuancierte Kulturanalyse, sondern um die Frage, ob die Amerikaner psychologisch auf die „Last des Konflikts“ vorbereitet seien.2) Doch die Beobachtung führt auch zu einem anderen und für Literatur- und Kulturwissenschaftler sicherlich interessanteren Problem. Inwieweit zeitigen die Kriege der Gegenwart, geführt von westlichen Militärmächten, Effekte auf die Kultur, die Literatur, das Erzählen unserer Zeit? Als Literaturhistoriker nehmen wir selbstverständlich an, dass Katastrophen und Kriege Repräsentationsmuster verändern. Kollektive und individuelle Traumata, miteinander verknüpfte Opfer- und Tätergeschichten, die Grenzen der Darstellbarkeit, die Stunde Null: All diese Phänomene wirken auf literarische Tex-

1

Zit. nach Tarak Barkawi: „Globalization, Culture, and War: On the Popular Mediation of ‚Small Wars‘“, in: Cultural Critique 58 (2004), S. 115-147, hier: S. 116. Übers. CR.

2

Ebd.

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te, Gattungen, ganze Schriftstellergenerationen. Bruno Falcetto etwa beschreibt den italienischen Neorealismus als Ergebnis der Kriegszeit und somit als „Produkt eines ungewöhnlichen Drucks des außerliterarischen Kontextes auf die Literatur“, der zur „endgültige[n] Unterbrechung in der Kontinuität des Lebens“ führte.3 Genereller zeigt John Limon, wie Literatur und Krieg seit Homer eine extrem enge und problematische Beziehung unterhalten, die durchaus die Frage aufwirft, ob Literatur und literarische Innovation überhaupt ohne die Repräsentation militärischer Konflikte auskommen könnten.4 Lidia Yuknavitch verweist in ihrer Studie zu Kriegsdarstellungen in der zeitgenössischen Epik auf den literaturwissenschaftlichen Konsens, dass sowohl der Erste wie auch der Zweite Weltkrieg fundamentale Einwirkungen auf den Roman hatten – und dass der Vietnamkrieg, als erster postmoderner (weil televisionär verbreiteter) Krieg, ähnlich breite Transformationen in der amerikanischen Literatur des späten 20. Jhs. bewirkte.5 Die Kriege allerdings, die westliche Militärverbünde im letzten Jahrzehnt geführt hatten, scheinen diesen Druck bisher nicht ausgelöst zu haben – vielleicht aufgrund der von Hanson beobachteten Ignoranz westlicher Kulturen? Romane über die angebliche Zeitenwende im September des Jahres 2001 sind mittlerweile zu einer Untergattung der Gegenwartsliteratur geworden, bearbeitet von diversen namhaften Schriftstellern. Die Ereignisse in Afghanistan und Irak haben dagegen eher marginale Bedeutung. Romanciers mögen sich für SEX AND THE CITY oder JACKASS: THE MOVIE interessieren oder nicht – die Schicksale von Soldaten und Zivilisten in den Konfliktzonen bleiben ihnen offenbar definitiv fremd.

3

Bruno Falcetto: „Neorealismen in der Literatur“, in: Enrica Viganò (Hrsg.): Neorealismo: Die neue Fotografie in Italien 1932-1960, Winterthur 2007, S. 38-50, hier: S. 42.

4

John Limon: Writing After War: American War Fiction from Realism to Post-

5

Lidia Yuknavich: Allegories of Violence: Tracing the Writing of War in Late

modernism, New York 1994, S. 3f. Twentieth-Century Fiction, New York 2001; siehe auch: Lucas Carpenter: „‚It Don’t Mean Nothin‘: Vietnam War Fiction and Postmodernism“, in: College Literature 30:2 (2003), S. 30-50, hier: S. 34.

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Diese Auseinandersetzungen bleiben – ein zynischer Begriff – „kleine Kriege“.6 Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, das Schweigen amerikanischer Literaten gegenüber den heutigen Kriegen mit der gebotenen Präzision zu erklären. Allerdings wirkt die von Hansons Sottise abgeleitete allgemeinere Beobachtung aus heutiger Perspektive nicht mehr korrekt – und zwar selbst dann nicht, wenn man Spielfilm, Dokumentarfilm, Fotografie, Graphic Novel und weitere in erster Linie bildmediale Repräsentationen der heutigen Kriege ausblendet. Tatsächlich haben es signifikante amerikanische Erzählungen mit den Ereignissen und Katastrophen in Afghanistan und Irak aufgenommen. Jedoch handelt es sich bei diesen Texten eben nicht um Romane, nicht also um Werke aus der Hauptgattung des amerikanischen Literaturbetriebs, sondern um ihre mit weit weniger Renommee ausgestatteten Verwandten. Die bedeutendsten narrativen Interpretationen der gegenwärtigen Kriege finden sich in Reportagebüchern: in Tatsachenerzählungen also, die das herkömmliche Format des Zeitungs- oder Zeitschriftenartikels (oder das des Weblogs) überschreiten und in romanhafter Länge, aber journalistischer Form berichten. Ihre Urheber sind in der Regel zuvor nicht als Belletristen in Erscheinung getreten. Ihre Texte könnten mit einem relativ engen Literaturbegriff vorgehende Interpreten gelegentlich ins Zweifeln bringen. Die kulturelle Sichtbarkeit dieser Werke (und der Mangel an formidabler fiktionaler Kriegsliteratur) zwingt den Beobachter zeitgenössischen amerikanischen Erzählens aber förmlich dazu, sich ihnen zu widmen. Und es ist durchaus möglich, so ergibt es die nähere Betrachtung, dass sich in dieser spezifischen amerikanischen Untergattung des Nichtfiktionalen ein neuer Neorealismus entwickelt hat. Beginnt man diese Untersuchung allerdings im Kontext des Krieges, den Soldaten aus der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan führen, kommt man zu ähnlichen Erkenntnissen wie einst Victor Hanson. Dieser Konflikt, so scheint es, ist den meisten Deutschen wohl tatsächlich ein „kleiner Krieg“. Er spielt sich in einer geografisch weit entfernten Region ab und berührt die Alltagskultur nur am Rande. Mehr als 50 deutsche Soldaten kamen seit 2002 in Afghanistan ums Leben, als Opfer von Gefechten, Selbstmordanschlägen, Unfällen. Die Zahl der von Deutschen getöteten af-

6

Vgl. Barkawi, der einen Begriff C.E. Caldwells aus dem Jahre 1906 benutzt (und problematisiert) („Globalization, Culture and War“, S. 115).

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ghanischen Männer, Frauen und Kinder dürfte höher liegen. 7 Deutsche Medien berichten extensiv über die Todesfälle deutscher Soldaten und die von ranghohen Politikern und Militärs besuchten Trauerfeiern. Dennoch kümmern sich die Deutschen, frei nach Hanson, eher um GERMANY’S NEXT TOPMODEL, Fußballspiele und Dissertationsskandale von Spitzenpolitikern als um die Ereignisse in Afghanistan. Auch sie erwarten von den Soldaten, den ihnen aufgetragenen Job zu erledigen. Und angesichts der deutschen Geschichte erschiene es tatsächlich als grotesk, den Kriegseinsatz der Bundeswehr am Hindukusch als ‚Katastrophe‘ zu bezeichnen, der die Literatur analog zu früheren deutschen Katastrophen nachhaltig verändern könnte. Jedoch ist auf dem Buchmarkt zumindest eine Tendenz auszumachen: Mit Kriegsbraut, einem Roman Dirk Kurbjuweits, und Feldpost, einer von Journalisten herausgegebenen Sammlung von Briefen, E-Mails und anderen Ego-Dokumenten von Bundeswehrsoldaten im Afghanistan-Einsatz, haben zwei strukturell sehr unterschiedliche Erzählwerke sich im Frühjahr 2011 den Erfahrungen von Deutschen in diesem Krieg zugewandt. Kriegsbraut und Feldpost besetzen zwei extreme Positionen in einem neorealistischen Feld. Feldpost, die Quellensammlung, sucht nach den Kriegserfahrungen in Alltagstexten. Das Buch komponiert eine Erzählung des Auslandseinsatzes in Kapiteln wie „Ankunft“, „Der Einsatz beginnt“, „Leben mit dem Tod“, „Weihnachten in Afghanistan“ und „Abschied“. Die Herausgeber von Feldpost setzen nicht auf Kunstprosa, sondern auf die Gattung der Chronik, 8 die die authentischen Stimmen von Soldaten zu erfassen sucht. Ihrer Anthologie verleihen sie allerdings einen fast schulbuchartigen Charakter; die einzelnen Textminiaturen der Soldaten werden weniger als nuancierte Äusserungen denn als reine Belege für Aspekte des Militäreinsatzes behandelt. Feldpost wird so zu einem Beispiel für die besonders ‚kunstlose‘ Tendenz des Neorealismus: Das Buch wird zum (fast) reinen Tatsachenkatalog.

7

„Die Gefallenen – eine traurige Liste“, in: Frankfurter Rundschau Online 15.06.2009,URL:http://www.fr-online.de/politik/spezials/einsatz-inafghanistan/die-gefallenen---eine-traurige-liste/-/1477334/2678456/-/index.html, [30.07.2011].

8

Marc Baumann et al. (Hrsg.): Feldpost: Briefe deutscher Soldaten aus Afghanistan, Reinbek 2011.

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Am anderen Ende des Spektrums – und dennoch weiterhin im Bereich neorealistischen Erzählens – lokalisiert sich Dirk Kurbjuweits Kriegsbraut.9 Zwar ist auch Kurbjuweit Journalist, wie die Herausgeber von Feldpost, und als Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros tatsächlich einer der einflussreichsten Publizisten der Bundesrepublik. Kriegsbraut allerdings definiert sich stilistisch und narrativ durchaus als Kunst-Roman. Er operiert mit zahlreichen Rückblenden. Er imaginiert ausgiebig das Innenleben der Heldin, einer Bundeswehroffizierin in Afghanistan. Und der Roman konstruiert eine Handlung (die Soldatin beginnt eine Liebesbeziehung mit einem afghanischen Zivilisten) die – als verbotene, geheime Liebe – charakteristisch fiktional und literaturhistorisch fast schon überdeterminiert erscheint. Sprachlich aber schließt Kurbjuweit mit einfachem, oftmals zynischen Duktus an den Neorealismus an. Ernest Hemingway, Übervater des wortkargen, wirklichkeitsgefüllten Erzählens, wird direkt zitiert. In einer (wenn auch nicht unbedingt wahrscheinlichen) Wendung des Romans empfiehlt ein Soldat einer mit ihm kurz liierten Soldatin den Roman A Farewell to Arms und stirbt wenige Tage später bei einem Anschlag.10 So wie sich die deutschen Literaten der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Lakonie des hemingway’schen Stils orientierten, so scheint sich auch Kurbjuweit die neorealistische Prosa des mittleren 20. Jhs. zum Vorbild zu nehmen.11 Auch wenn Afghanistan einen neuen Erzählraum für deutschsprachige Fiktion bereitstellt: Die intertextuellen Muster reichen zurück zum Zweiten Weltkrieg – auf den sowohl Kriegsbraut wie auch die Anthologie Feldpost schon qua Titel anspielen. Die amerikanistische Lektüre der beiden Werke macht allerdings deutlich, dass zwischen diesen beiden zeitgenössischen Positionen eine Lücke klafft. Das eine Buch, die Anthologie, sammelt nur Alltagstexte. Das andere, der Roman Kurbjuweits, entwickelt relativ konventionelle Fiktion. Es fehlt eine vermittelnde Methode, von der Realität des Krieges zu erzählen. Sie ist im deutschen Kontext kaum bedeutend – in den Vereinigten Staaten allerdings extrem signifikant.

9

Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Berlin 2011.

10 Kurbjuweit: Kriegsbraut, S. 263. 11 Siehe etwa Kerstin Möller Osmani, In einem andern Land: Ernest Hemingway und die „Junge Generation“. Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption eines amerikanischen Autors in der frühen westdeutschen Nachkriegsliteratur, Würzburg 1996.

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Als die erste Bombe explodiert, wechselt der Autor in den freien indirekten Stil. Er nimmt die von Kraftausdrücken durchsetzte Sprache seiner Protagonisten, amerikanischer Soldaten im Irak, auf und reflektiert: „everything was anger, everything was fucking, everything was fuck.“ Er lässt das Kapitel in den Wahrnehmungen der Soldaten enden. Diese sehen nun, so legt es die Erzählung nahe, alles in den gleichen Begriffen: „fucking dirt […] fucking wind“, einen „fucking water buffalo“, einen „fucking goat“, einen „fucking man on a fucking bicycle“. Schließlich fährt der Militärkonvoi mit den dem Leser gut bekannten Protagonisten an einem fremden Mädchen vorbei. Es trägt ein schmutziges rotes Kleid. Es hebt die Hand und winkt. Der Offizier Kauzlarich, schockiert von der soeben erlebten Explosion, betrachtet das Mädchen aus seinem Fenster, hebt langsam seine Hand, und: „waved at the fucking child.“12 Es handelt sich hier um eine Passage aus David Finkels Reportage The Good Soldiers. Das Buch beschreibt den Einsatz von US-Soldaten zwischen Januar 2007 und Juni 2008 in einem besonders umkämpften Stadtteil Bagdads. Es gilt als eine der am besten recherchierten Auseinandersetzungen mit dem Irakkrieg, als nah am Leben der Soldaten orientierte Dokumentarliteratur, die aus der Masse von politischen Analysen, Militärgeschichten und Helden-Autobiografien herausragt. Militär- und sozialhistorisch gesehen spielt The Good Soldiers eine bedeutende Rolle in der Aufarbeitung der Kriegserfahrung einfacher Soldaten. Über die Beobachtungen in Bagdad hinaus erkundet Finkel die Konsequenzen schwerer Kriegsverletzungen für Veteranen und schlägt so eine Brücke zwischen dem Konfliktschauplatz in der Distanz und dem amerikanischen Alltag. Für Literaturwissenschaftler allerdings sind insbesondere die erzählerischen Mittel von The Good Soldiers interessant: die romanhafte Struktur seines Buchs, seine präzisen, ausführlichen Charakterzeichnungen und erzählerischen Experimente wie die freie indirekte Rede, die eine Szene wie die eingangs beschriebene hervorbringt. The Good Soldiers ist nur ein Beispiel für die neue Reportageliteratur, die sich den Kriegen des frühen 21. Jhs. in einer epischen, jedoch im nichtfiktionalen Register angesiedelten Form nähert. Dexter Filkins, einer der Auslandskorrespondenten der New York Times, legte mit The Forever War eine Sammlung seiner Reportagen vor, die als fragmentiertes Erzählwerk

12 David Finkel: The Good Soldiers (2009), London 2010, S. 60f.

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Szenen aus Irak und Afghanistan aneinander montiert. Im Unterschied zu vornehmlich an Transparenz orientierten tagesaktuellen Reportagen thematisiert und reflektiert Filkins die eigene Rolle in diesen Kriegen, seine durchaus auch schuldhafte Verstrickung in Kampfhandlungen. Der Autor Jon Krakauer, sonst eher für seine literarischen Essays über Wildniserfahrungen in Alaska und am Mount Everest bekannt, verfasste mit Where Men Win Glory ein breit angelegtes Reportagebuch über den in Afghanistan von „friendly fire“ getöteten ehemaligen Profi-Football-Spieler Pat Tillman. Ziel des Werkes ist es, die übergreifende Geschichte des „War on Terror“ und die Lebensgeschichte eines jungen Athleten und Patrioten miteinander zu verknüpfen und daraus eine charakteristische Erzählung des frühen 21. Jhs. zu komponieren (ob dieses Ziel erreicht wird, ist eine andere Frage.) Rajiv Chandrasekarans Imperial Life in the Emerald City, ein wesentlich konzentrierteres Reportagebuch, erzählt vom Leben in der sogenannten „grünen Zone“ in Bagdad – also im Zentrum des US-Besatzungsapparats. Sebastian Junger, zuvor mit einem nichtfiktionalen Bestseller über den Untergang amerikanischer Fischer in einem sogenannten „perfekten Sturm“ aufgefallen, begleitete für sein Buch War eine Gruppe von USSoldaten bei einem langen Einsatz in einem entlegenen und umkämpften afghanischen Tal.13 Fünf ausgedehnte Reisen unternahm der Autor an den Schauplatz seines Buches. Das Resultat ist, unter anderem, eine fast komplette Identifikation mit seinen Protagonisten und dem Konflikt selbst (Die endgültige Wunde, die der Krieg hinterlasse, so Junger, sei „the one that makes you miss the war you got it in“14). Ähnlich nah kommt Evan Wright seinen Protagonisten in Generation Kill, einer Reportage über die ersten Monate der amerikanischen Invasion des Irak.15 Nur in seltenen Momenten gelingt es Wright, seine eigene Rolle als teilnehmender Beobachter zu reflektieren. Allerdings konstruiert sein Text die Soldaten als vielschichtige Persönlichkeiten – und die seine Protagonisten stets respektierende Langzeitschilderung reicht weit über die konventionellen Kurznarrative amerikanischer Kriegsberichterstattung hinaus.

13 Sebastian Junger: War. New York 2010. 14 Junger: War, S. 268. 15 Evan Wright: Generation Kill: Devil Dogs, Iceman, Captain America, and the New Face of American War, New York 2004. Wrights Buch wurde zur Grundlage einer Fernsehserie im amerikanischen Kabelsender HBO.

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Immer wieder wird der Weblog als charakteristische Gattung heutiger Kriegsrepräsentationen genannt. Schließlich sind Soldaten auch im Irak und in Afghanistan online. Ihre Eindrücke konnten und können sie, zumindest wenn die Militärzensur es zulässt, in Echtzeit, improvisiert und unabgeschlossen, einer globalen Öffentlichkeit zugänglich machen.16 Ein viel beachtetes autobiografisches Erzählwerk, Colby Buzzells My War: Killing Time in Iraq, basiert folglich auch auf Blog-Einträgen des Autors. Buzzells Fall demonstriert allerdings auch, dass diese neuen Darstellungsformen schließlich doch öfter als erwartet im abgeschlossenen Narrativ, dem erzählten Buch, münden.17 Und die hier skizzierten Reportagebücher machen besonders deutlich, dass auch die Kriege der digitalisierten Gegenwart insbesondere literarisch strukturierte, abgeschlossene Texte zu inspirieren scheinen. In einem im englischen Guardian erschienenen Essay hat der Romancier und Essayist Geoff Dyer Autoren wie Finkel, Filkins und Junger zu Vertretern einer neuen Generation von Literaten erklärt. Diese hätten, so Dyer, „some of the greatest books of our time“ verfasst. Der Roman erscheine nun „überflüssig“, da die Reportagen amerikanischer Autoren die Charaktere, die Sprache, die Geschichten der neuen Kriege besser erfassten als die Autoren von Fiktion. Hier handle es sich schlicht um eine „Rekalibrierung“ narrativer Kunst schlechthin.18 Dyers Essay erschien etwa zeitgleich mit dem Essayband Reality Hunger des amerikanischen Autors David Shields, der ähnlich provokant mit dem Roman abrechnet. Shields plädiert für eine neue, genreüberschreitende Kunst des Dokumentarischen, die nicht Fiktionen konstruiert, sondern den Umgang mit der Realität ganz bewusst in den Vordergrund rückt.19 Es handelt sich hier um zwei breit wahr-

16 Kate McLoughlin: „Introduction“, in: Kate McLoughlin (Hrsg.): The Cambridge Companion to War Writing, Cambridge 2009, S. 1-3, hier: S. 1-2. 17 Stacey Peebles: „Lines of Sight: Watching War in Jarhead and My War: Killing Time in Iraq“, in: PMLA 124:5 (2009), S. 1662-1676, hier: S. 1663-64. 18 Geoff Dyer: „The Human Heart of the Matter“, in: The Guardian Online 12.06.2010,

URL:

http://www.guardian.co.uk/books/2010/jun/12/geoff-dyer-

war-reporting, [23.05.2011]. 19 David Shields: Reality Hunger: A Manifesto, New York 2010. Shields bezieht sich auf einen früheren Krieg, wenn er polemisch schreibt: „A while ago the imaginative thing – the supposedly great thing – would have been to write a ‚novel

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genommene, manifestartige Texte, die zu belegen scheinen, dass sich die angloamerikanische Literatur um die neuen Kriegsreportagen herum tatsächlich zu verändern scheint. Wir beobachten nicht nur neue Kriege, sondern auch, möglicherweise, eine neue Form des Realismus. Zu fragen wäre, wie neu sie wirklich ist. Nicht allzu neu – so könnte man aus literaturhistorischer Sicht argumentieren. Denn der Realismus ist in der amerikanischen Literatur stets zentral gewesen. Auch in der Hochphase postmodernen und metafiktionalen Erzählens (vertreten durch Autoren wie Thomas Pynchon, John Barth und Donald Barthelme) gehörte die realistische Epik – von John Updike, Richard Ford, Philip Roth und Joyce Carol Oates – zu den Hauptströmungen der US-Literatur. Der im späten 20. Jh. neu entwickelte dirty realism orientierte sich zudem an der Unterschicht und unteren Mittelschicht der amerikanischen Gesellschaft, ihren populären Medien und Konsumpraktiken. Mit seinem prominentesten Autor, Raymond Carver, stand diese Form des Realismus wieder – wie zu Hemingways Zeiten – für eine extreme Lakonie im Ton, für eine Nüchternheit, die sowohl die wortkargen Charaktere 20 definiert wie den stilistisch extrem zurückhaltenden Erzähltext. Anders als bei Hemingway hatte der Minimalismus des späten 20. Jhs. auch eine soziale Bedeutung und entwickelte eine Sprache, um ‚bildungsferne‘ Protagonisten imaginieren zu können – ein Aspekt, der angesichts der sozialen Hintergründe amerikanischer Soldaten von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Es ist davon auszugehen, dass sich ein literarisch ambitionierter Journalist wie David Finkel eher am Erzählen Raymond Carvers orientiert als an den Experimenten des ‚high postmodernism‘. Das Gegeneinander von verspielter Metafiktion und ‚hartem‘ Neorealismus erscheint wie ein Grundkonflikt amerikanischen Erzählens. (Nach Günter Leypoldt wirkt es allerdings eher, als würden die neorealistischen Autoren die Experimente ihrer postmodernen Kollegen ignorieren, als dass

‚novel about Vietnam‘, but I just feel in my bones how little I could read that“ (193). 20 Patrick O’Donnell: The American Novel Now: Reading Contemporary American Fiction Since 1980, Chichester 2010, S. 34-47.

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sie sich mit ihnen in tiefgreifender Form auseinandersetzten.21) Neorealistische Prosa gilt in den Vereinigten Staaten eben nicht als konventionell und anachronistisch, sondern als nach wie vor lebendige Form literarischen Schreibens. Und so nutzt etwa Finkels The Good Soldiers konsequent die von Carver etablierte Lakonie in Ortsbeschreibungen, Charakterisierungen, im Evozieren innerer Prozesse. Rau wird der Text strukturiert: Einzeilige Absätze stoppen immer wieder den Erzählfluss, brechen die Darstellung mit der Abruptheit genau jener Gewalttaten und Schocks, die die Welt der Soldaten immer wieder erschüttern – und repetitive Passagen reflektieren andererseits die Monotonie des Militäralltags. Ähnlich wie die Minimalisten fiktionaler Kurzgeschichten spröde Stilistik und kantige Identitäten zusammen dachten, nähert sich Finkel auch sprachlich den Protagonisten seines Buches an. Die jungen Soldaten fluchen exzessiv – und Finkels Sprache nimmt dies auf, übertreibt es noch, um die Exzessivität des Fluchens in einer Welt von exzessiver Gewalt und ebenso exzessivem Zynismus sichtbar zu machen. Wie in ‚harten‘ amerikanischen Fiktionen zielt auch Finkels Reportage auf die Oberfläche durchbrechende Intensität. 22 Vorbilder für die heutigen Kriegsreportagen finden wir jedoch nicht nur im Roman, sondern natürlich auch in der Tradition des erzählenden Journalismus selbst. Die Geschichte der Gattung reicht um einiges weiter zurück als in die Epoche des Vietnamkriegs. Allerdings hat kein Werk mehr Einfluss auf die literarisch ambitionierte Kriegsreportage der Gegenwart als Michael Herrs 1977 erschienenes Reportagebuch Dispatches. Das Werk basiert auf Aufzeichnungen des Autors, der einige Jahre zuvor den Krieg in Vietnam verfolgt hatte. Es wirkt gleichzeitig improvisiert und distanziert: Das Reporter-Ich reagiert intensiv auf die Brutalität des Krieges – gleichzeitig reflektiert es sorgfältig die eigene, problematische Rolle als Außenseiter und Kriegs-Voyeur. Auf diese Weise schien Herr die militärischen, kulturellen und intellektuellen Nuancen des Vietnamkonflikts genau auszuloten. In seiner Geschichte amerikanischer Kriegsliteratur begreift John

21 Günter Leypoldt: „Recent Realist Fiction and the Idea of Writing ‚After Postmodernism‘“, in: Amerikastudien/American Studies 49:1 (2004), S. 19-34, hier: S. 32. 22 Vgl. Winfried Fluck: „Surface Knowledge and ‚Deep‘ Knowledge: The New Realism in American Fiction“, in: Kristiaan Versluys (Hrsg.): Neo-Realism in Contemporary American Fiction, Amsterdam 1992, S. 65-86.

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Limon Dispatches als das intellektuell interessanteste Werk der Gattung, weil es in seinen Anekdoten, Episoden und Metaphern gleichzeitig die katastrophale Gewalt des Vietnamkriegs und seine letztlich nicht darstellbaren Dimensionen fokussierte.23 Interessanterweise – und trotz der Konkurrenz durch eine Vielzahl fiktionaler Vietnam-Texte – schien somit ein journalistisches Werk am besten geeignet, die erkenntnistheoretischen Implikationen des ersten postmodernen Krieges zu erfassen. Es ist allerdings kein Zufall, dass ein nichtfiktionales Buch wie Dispatches zum Schlüsselwerk des Vietnamkriegs wurde. Michael Herrs hier zusammengefasste Reportagen sind im Kontext des New Journalism zu lesen, jener Bewegung von Journalisten und Essayisten, die in den 1960er und 1970er Jahren die Gattungsgrenzen von erzählender und berichtender Literatur überschritt, Vorgaben von Objektivität, Neutralität und Nüchternheit in Frage stellte, und Journalismus als Ausdruck einer „intensiven Subjektivität“ verstand.24 Autoren wie Tom Wolfe, Hunter S. Thompson, Joan Didion und Norman Mailer hatten schon lange vor Dispatches die Form eines postmodernen und doch an den Fakten orientierten Essays entwickelt. Mailers The Armies of the Night hatte sich bereits, wenn auch aus der amerikanischen Innenperspektive, den gesellschaftlichen Konflikten um den Vietnamkrieg gewidmet. Und Michael Herr bezog sich bewusst auf diese innovative Form der Reportage. Er argumentierte: „Conventional journalism could no more reveal this war than conventional firepower could win it.“25 Dispatches, eines der späten Schlüsselwerke des New Journalism, liest sich als ebenso fragmentarischer wie ausgreifender Kommentar über den Akt des Schreibens selbst, über die Unmöglichkeit, trotz oder wegen eines nicht enden wollenden Informationsflusses klar und verständlich über den Krieg zu kommunizieren. Das Buch endet etwa mit den enigmatischen Worten „Vietnam Vietnam Vietnam, we’ve all been there.“ Es lässt mit dieser so offensichtlich falschen wie richtigen Coda, die die Präsenz vor Ort selbst als reine Konstruktion erscheinen lässt, den Leser sowohl an der Intensität der Kriegsberichte teilhaben wie an der grundlegenden Problematik, von diesem Krieg zu berichten.26

23 Limon: Writing After War, S. 5-7. 24 Carpenter: „‚It Don’t Mean Nothin‘“, S. 36. 25 Zit. nach Carpenter: „‚It Don’t Mean Nothin‘“, S. 37. 26 Michael Herr: Dispatches (1977), New York 1991, S. 260.

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Angesichts der zentralen Bedeutung von Dispatches in der Geschichte amerikanischer Kriegsliteratur könnten wir fast vermuten, dass sich die heutigen Reportagebände aus Irak und in Afghanistan nur innerhalb von dessen Kraftfelds verstehen lassen. Es scheint zudem, als wären diese Kriege tatsächlich vergleichbar – und als lebten wir noch immer in der Epoche, die mit dem Vietnamkrieg begann. Militärische Konflikte sind nach wie vor globalisiert wie in den 1960er und 1970er Jahren. Sie werden von geopolitisch ambitionierten westlichen Mächten in Entwicklungs- oder Schwellenländern geführt. Sie werden, wichtiger noch, von ausgetüftelter multimedialer Propaganda begleitet. Und sie bieten jenes Bild, das schon Michael Herr beschäftigte: Die Brutalität des Krieges trifft auf eine auch im Alltag der Soldaten stets aktive westliche Populärkultur. Filme, Musik, Fernsehshows kombinieren sich zu einem kulturellen Kontext, der die Kriegserfahrung selbstständig formt und jede Rede von Authentizität problematisiert. Der Vietnamkrieg war vom Rock’n’Roll der späten 1960er und frühen 1970er Jahre und von Westernfilmen geprägt (insbesondere das Œuvre John Waynes war entscheidend). Irak- und Afghanistankrieg werden ähnlich von der populären Musik ihrer Epoche, von Filmen und Computerspielen begleitet. Kaum ein amerikanischer Soldat, das verraten uns die vorliegenden Reportagen, zieht nicht mit einer von Kino und Computerspiel definierten Kriegswahrnehmung in den Kampf. Eine realistische Darstellung soldatischer Erfahrung müsste sich also, ähnlich wie Herrs Dispatches, nicht an der vorgeblich objektiven Nüchternheit des Mainstreamjournalismus orientieren und nicht an den scheinbar nackten Tatsachen, sondern vielmehr an den Fiktionen und Effekten, die Soldaten und Offiziere umgeben. Der New Journalism der 1960er Jahre formierte sich als Reaktion auf eine stark beschleunigte mediale Kultur, auf ein kollektives Gefühl von Irrealität und Zynismus. Diese Phänomene haben im frühen 21. Jh. nicht nachgelassen. Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der literarischen Reportage zeigt jedoch, dass der New Journalism nicht mehr die prägende Kraft hat, die nichtfiktionalen Narrative aus Irak und Afghanistan zu formen. Längst haben sich neue Programmatiken entwickelt – und insbesondere eine neue Ästhetik des erzählenden Journalismus. Besonders bedeutsam erscheint hier eine 2005 erschienene Anthologie Robert Boyntons. The New New Journalism unternimmt eine programmatische Auseinandersetzung mit einer neuen Generation literarisch ambitionierter Reporter. Der New New Journalism, so verkündet Boynton in diesem Band, verschreibt sich explizit weni-

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ger den postmodernen Oberflächen als vielmehr den „einfachen Leuten“ und ihrem Alltag.27 Die Reporter, stilistischen Experimenten eher abgeneigt, verbrächten extrem viel Zeit mit ihren Protagonisten. Sie interessierten sich, so Boynton, für die minutiösen Details des Gewöhnlichen – und bohrten sich „into the bedrock of ordinary experience“.28 Ähnlich bezeichnet Mark Kramer die Zielrichtung des heutigen literarischen Journalismus: Die Reporter beabsichtigen, authentischer Erfahrung auf die Spur zu kommen. Kramers Motto: „Truth is in the details of real lives“.29 Wenn eine solche Ästhetik vertreten wird, wieder von der Wahrheit gesprochen wird und weniger von Fiktionen, dann scheint es fast, als würden die literarischen Reporter sich einem traditionellen amerikanischen Realismus zuwenden, der sich aus dem Bedürfnis speist, jedes Berichten von der Welt noch einmal ganz von vorn zu beginnen: „from scratch“, wie es die Amerikanistin Shelley Fisher Fishkin formuliert.30 Ein von solchen programmatischen Gedanken inspiriertes Erzählen aus Irak und Afghanistan würde quasi einen Schritt zurück machen. Es würde sich von der erkenntnistheoretischen Intelligenz eines Michael Herr verabschieden. Der New New Journalism, so ließe sich vor dem Hintergrund verschiedener Neorealismen der Literatur- und Kulturgeschichte vermuten, wäre dann, wieder einmal, eine durchaus charakteristische Bewegung ‚zurück zur Wirklichkeit‘. Den New Journalist Tom Wolfe las man, weil er einen grotesken Zerrspiegel, einen „fun house mirror“ für seine Weltdarstellung verwandte; Michael Herr bewunderte man analog für seine Studien an den kommunikativen Verzerrungen in und um Vietnam. Im Falle der vom New New Journalism inspirierten Reportagen aus Irak und Afghanistan wäre man im Umkehrschluss wieder beim realistischen Spiegel angelangt, bei jener Scheibe Glas also, die nicht verzerren möge, sondern scheinbar klar, präzise, objek-

27 Robert Boynton: „Introduction“, in: Robert Boynton: The New New Journalism: Conversations with America’s Best Nonfiction Writers on Their Craft, New York 2005, S. xi-xxxii, hier: S. xv. 28 Boynton: „Introduction“, S. xv. 29 Mark Kramer: „Breakable Rules for Literary Journalists“, in: Norman Sims/Mark Kramer (Hrsg.): Literary Journalism: A New Collection of Best American Nonfiction, New York 1995, S. 21-34, hier: S. 34. 30 Shelly Fisher Fishkin: From Fact to Fiction: Journalism and Imaginative Writing in America, Oxford 1985, S. 5.

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tiv darstellt.31 Und tatsächlich: In den wenigsten Reportagebänden zu den Kriegen der Gegenwart (Dexter Filkins’ Forever War stellt eine Ausnahme dar32) wird der Akt der Repräsentation selbst in Frage gestellt. Michael Herrs Stil wird durchaus imitiert, nicht jedoch seine Neigung dazu, den eigenen Bericht vor den Augen der Leser implodieren zu lassen. Realitätseffekte wie Fußnoten, Bilder, Landkarten und Erklärungen zu eigenen Recherchemethoden sollen fast jedem dieser Bücher Autorität und Authentizität verleihen. Sebastian Jungers War annonciert schon im Titel die universellen Wahrheiten, die der Text zum Verständnis des Krieges beitragen soll. Evan Wrights Generation Kill wird, möglicherweise aus Marketinggründen, zwar als Nachfolgetext des New Journalism beworben: Der Untertitel (Devil Dogs, Iceman, Captain America, and the New Face of American War) und Paratexte (die Werbeprosa auf dem Umschlag schlägt Verbindungen zum schillernden Hunter S. Thompson) inszenieren Wrights Reportage als Produkt einer rebellischen, gegenkulturellen, popkulturellgrotesken Ästhetik.33 Den Leser erwartet allerdings, wie in den meisten vergleichbaren Werken, geduldiger, detailliert erzählender Journalismus, der auf stilistische Feuerwerke verzichtet und nur dann Fiktionsüberschuss und leere Referenten thematisiert, wenn sie im Feld von Soldaten beobachtet und kommentiert werden. Wright ist, wie viele seiner Zeitgenossen, auf der Suche nach den Tatsachen – nicht nach erkenntnistheoretischen Problemen. Lediglich an innovativer Ästhetik interessierte Literaturwissenschaftler dürften also von den nichtfiktionalen Kriegserzählungen der Gegenwart

31 Boynton: „Introduction“, S. xiii. 32 S. etwa eine Schlüsselpassage in Filkins’ Buch, in der der Reporter reflektiert, „zu lange“ im Irak gewesen zu sein, abgestumpft zu sein – eine Beobachtung, die die recherchierten Fakten zweitrangig werden lässt. Der Reporter beschreibt einen Informanten und sagt: „I could tell by how jaded he looked that he’d been in Iraq a long time. Probably too long. He reminded me of myself“ (S. 285). Zuvor schreibt Filkins über die Schwierigkeiten mit der Wahrheit im Irak: „And that was the thing about Iraq: you were untethered, floating free, figuring out the truth by a different set of standards.“ (S. 275f.) 33 Ein Pressezitat aus Newsday verkündet etwa: „His style owes more to Hunter S. Thompson than to any sort of political correctness.“ (Wright: Generation Kill, o. S.)

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enttäuscht werden. Es empfiehlt sich jedoch in diesem Fall ganz besonders, diese Reportagen innerhalb ihrer kulturellen, politischen und medialen Kontexte zu lesen. Es handelt sich bei diesen Büchern – das macht sie so signifikant – um Reaktionen auf die amerikanische Kriegskultur des frühen 21. Jhs. und damit auf eine Kultur, in der Authentizität und Wahrheit gerade bei den politisch Verantwortlichen der George W. Bush-Administration kaum noch etwas zählten. Medienkritiker des frühen 21. Jhs. attestierten den Vereinigten Staaten dieser Epoche geradezu eine nationalkulturelle Abkehr von Prinzipien der Faktentreue. Der Begriff „truthiness“, bezeichnenderweise von einem Fernsehkomiker geprägt, wurde zu einem Signet, das den sorglosen bzw. zynischen Umgang mit den Tatsachen sowohl in der amerikanischen Publizistik wie in der Präsidentschaft George W. Bushs beschrieb.34 Durch die rasante Entwicklung des Internets als unkontrollierbares, Gerüchte, Zitate und Kolportagen verbreitendes Netzwerk, und durch die kaum legitimierte Außen- und Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten zwischen 2001 und 2008 hatte sich die amerikanische Gesellschaft, so Farhad Manjoo, zu einer „post-fact society“ entwickelt.35 Diese Transformation war besonders für den Journalismus relevant. Die langen Reportagen sind auch Reaktionen auf die Krise authentischer Darstellung und, spezifischer noch, auf das Versagen des kritischen Journalismus in den frühen Jahren des „War on Terror“. Viele dieser nichtfiktionalen Erzählwerke (ganz besonders Finkels Good Soldiers und Krakauers Where Men Win Glory) thematisieren direkt den Umgang der US-Regierung mit der Wahrheit in Zeiten des Krieges und verstehen die ausgreifende, langfristig recherchierte und im Gestus realistischer Nüchternheit verfasste Reportage als Gegengewicht zur Propagandamaschinerie in Washington. Die New Journalists, Michael Herr insbesondere, sind in Erinnerung geblieben, weil sie die Modi faktischer Darstellung selbst in Frage stellten.

34 S. Barbie Zelizer (Hrsg.): The Changing Faces of Journalism: Tabloidization, Technology, and Truthiness, New York 2009; darin insbes.: Jeffrey P. Jones: „Believable Fictions: Redactional Culture and the Will to Truthiness“, S. 127143; Michael Schudson: „Factual Knowledge in the Age of Truthiness“, S. 104113; s. a. Frank Rich: The Greatest Story Ever Sold: The Decline and Fall of Truth from 9/11 to Katrina, New York 2006. 35 Farhad Manjoo: True Enough: Learning to Live in a Post-Fact Society, Hoboken 2008.

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Sollen wir nun den „neuen neuen Journalisten“ schlicht deshalb Relevanz zubilligen, weil sie der Authentizität, jener gefährdeten Ressource, wieder einen Ort in der amerikanischen Kultur verschaffen? Möglicherweise. Ihre gelegentlich konventionelle Ästhetik zumindest disqualifiziert sie nicht nur, sondern rückt sie, je nach Interpretation des historischen Kontexts, in gute Gesellschaft zu anderen signifikanten Bewegungen in der westlichen Literatur. Auch Italo Calvino blickte schließlich einst auf den italienischen Neorealismus und sah eine „Flut roher Machwerke, von anonymen Schreibern, von Schilderungen rohester Erfahrungen, nackten Dokumenten […], unreifer literarischer Versuche.“36 Zudem werden die hier skizzierten Kriegsreportagen des ‚neuen neuen Journalismus‘ dann interessant, wenn sich unsere Lektüre von jenem ohnehin zynischen Begriff der „kleinen Kriege“ löst. Es empfiehlt sich, die militärischen Einsätze westlicher Soldaten der Gegenwart vor einem transnationalen Horizont zu lesen. Judith Butler verweist in einer Serie jüngst erschienener Essays auf die „frames of war“, die eine sorgsame Darstellung etwa der zivilen irakischen und afghanischen Toten und Verletzten verhindern und somit die zahlreichen nicht-westlichen Opfer dieser Kriege unsichtbar und so unbetrauerbar machen.37 Aus ähnlicher Warte verweist Tarak Barkawi darauf, dass die militärischen Konflikte unserer Zeit eben nicht Kommunikation unterbrechen, sondern vielmehr Ideen, Ideologien zum Zirkulieren bringen.38 Die hier diskutierten Kriegsreportagen nehmen an diesen Zirkulationsprozessen teil. Die genaue Betrachtung ziviler Schicksale vor Ort wird auch in ihnen nicht immer und wohl viel zu selten geleistet. Implizit aber befassen sich auch sie, wenn auch kaum aus sprachphilosophischer Sicht, mit den „frames of war“, den Rahmen, die jedermanns Wahrnehmung der militärischen Ereignisse und ihrer Opfer steuern. Da es nach Butlers Logik niemandem gelingen kann, einen auch nur annähernd unparteiischen Realismus des Krieges zu entwickeln, scheinen die hier diskutierten Reporter sich für die zweitbeste Option entschieden zu haben – für die betont nüchterne Erzählung, die sich von der Kriegspropaganda möglichst weit zu distanzieren sucht. Das sind die Experimente, denen sich diese Werke widmen: mal mit größerem, mal mit geringerem Erfolg.

36 Zit. nach Falcetto, „Neorealismen“, S. 39. 37 Judith Butler: Frames of War: When Is Life Grievable?, London 2009. 38 Barkawi: „Globalization, Culture, and War“, S. 116.

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Es scheint sich hier auf den ersten Blick um einen rein amerikanischen Problemkomplex zu handeln – eine für die Vereinigten Staaten des frühen 21. Jhs. charakteristische Konstellation von organisierter Unwahrheit einerseits und der Nostalgie nach authentischen Ausdrucksformen andererseits. Allerdings betrifft die Konstellation von Propaganda, Zensur, Realismus und Reportage auch die jüngste deutsche Literatur- und Militärgeschichte. Darauf verweisen zumindest die Herausgeber des Bandes Feldpost, jener Anthologie von Ego-Dokumenten deutscher Bundeswehrsoldaten im Afghanistaneinsatz. Der Versuch dieser Journalisten, möglichst authentische Texte der Männer und Frauen in Uniform wiederzugeben, wurde von der Militärhierarchie konsequent unterdrückt: „Anfragen [der Herausgeber] nach Kontakten zu Soldaten sind […] abzulehnen“, so der Presse- und Informationsstab der Bundeswehr. „Wenn bekannt ist, dass Soldaten sich freiwillig an dem Bericht mit Briefen beteiligen wollen, sind sie durch Vorgesetzte auf die geltenden Bestimmungen zur Weitergabe sicherheitsrelevanter und dienstlicher Informationen hinzuweisen.“39 Nicht nur in den Vereinigten Staaten also ist es das Anliegen von Realisten, an den Rahmen der neuen Kriege vorbeizuschreiben.

39 Baumann et al. (Hrsg.): „Von Bunkermentalität, ungewollten Einsichten und einem umstrittenen Krieg“, Feldpost, S. 9-20, hier: S. 13.

Autorinnen und Autoren

Bazzicalupo, Laura, Prof. Dr., Professorin für Politikwissenschaft, Dipartimento di Dritto Publico e Teoria e Storia delle Istituzioni, Università di Salerno Bertoni, Federico, Prof. Dr., Professor für Literaturtheorie, Dipartimento di Italianistica, Università di Bologna Borsò, Vittoria, Prof. Dr., Professorin für Romanistische Literaturwissenschaft, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Frank, Gustav, PD Dr., Privatdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Ludwig-Maximillians-Universität München Glasenapp, Jörn, Prof. Dr., Professor für Literatur und Medien, OttoFriedrich-Universität Bamberg Meder, Thomas, Prof. Dr., Professor für Medientheorie, Fachhochschule Mainz Ochsner, Beate, Prof. Dr., Professorin für Medienwissenschaft, Universität Konstanz Öhlschläger, Claudia, Prof. Dr., Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn Pepperell, Robert, Dr., Professor in Fine Art, Cardiff School of Art&Design

344 | AUTORINNEN UND AUTOREN

Perrone Capano, Lucia, Prof. Dr., Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Dipartimenti di Studi Umanistici, Università di Salerno Poole, Ralph J., Prof. Dr., Professor für Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Salzburg Ribbat, Christoph, Prof. Dr., Professor für Amerikanistische Literaturund Kulturwissenschaft, Universität Paderborn Römhild, Friederike, M.A., Doktorandin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn Scherer, Stefan, Prof. Dr., Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Scherpe, Klaus R., Prof. Dr., Professor em. für Neure Deutsche Literaturwissenschaft (Literatur- und Kulturwissenschaft, Medien), HumboldtUniversität zu Berlin Solte-Gresser, Christiane, Prof. Dr., Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität des Saarlandes

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Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.) Integration und Explosion Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans April 2012, ca. 298 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1785-6

Angela Jannelli Wilde Museen Zur Museologie des Amateurmuseums Mai 2012, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1985-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Mai 2012, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen Mai 2012, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1795-5

Andreas Rauh Die besondere Atmosphäre Ästhetische Feldforschungen März 2012, 285 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2027-6

Johanna Roering Krieg bloggen Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien Mai 2012, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2004-7

April 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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