Metropole, Provinz und Welt: Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus 9783110309652, 9783110309508

In German-language literature of the realist period, the metropolis, the province, and the world stand in a state of ten

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German Pages 356 [358] Year 2013

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Table of contents :
Einleitung
I. Metropole, Provinz und Welt in der Literatur des Realismus: literarhistorische und systematische Perspektiven
»Tom Jensen war in Indien«: Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus
Die nahen und die fernen Räume: Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe
II. Raumwandel, Natur und Nation im Modernisierungsprozess
Nester an der Eisenbahn: Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach
Flutkatastrophen und Binnenkolonisation: Eroberte Natur, deutsche Nation und männliche Subjektbildung in der Erzählliteratur des Kaiserreichs (1870–1891)
»Das ist der deutsche Wald«: Raum der Natur als Raum der Nation im Werk Berthold Auerbachs
Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt: Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne
III. Globale Vernetzungen – eurozentrische symbolische Landkarten
»Quer durch Afrika, was soll das heißen?« Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane
Tigerjagd in Altenbrak: Poetische Topographie in Theodor Fontanes »Cécile«
»Wo soll man am Ende leben?« Zur Verschränkung von Raumund Zeitsemantik in Raabes »Stopfkuchen« und Fontanes »Stechlin«
Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen: Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien
Mobilität und Ehebruch, Frauen in der Stadt, Reisende: Provinz, Metropole und Welt bei Fontane und Ebner-Eschenbach
IV. Chronotopologische Kontrapunkte aus der Natur-, Stadt- und Zeitgeschichte
Erosive Entschleunigung: Stifters Semiotisierung des Raums im Modus der Geologie
Frühneuzeitliche Munizipien in religiös-sozialen Hassausbrüchen: Raabes »Höxter und Corvey« (1874) und Fontanes »Grete Minde« (1879)
Vom Nebeneinander zur Durchkomponierung: Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Karl Gutzkows »Die neuen Serapionsbrüder« und Friedrich Spielhagens »Sturmflut«
Siglenverzeichnis
Zu den Autorinnen und Autoren
Personen- und Werkregister
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Metropole, Provinz und Welt: Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus
 9783110309652, 9783110309508

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Metropole, Provinz und Welt

Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der

Theodor Fontane Gesellschaft e.V. Wissenschaftlicher Beirat

Hugo Aust Helen Chambers

Band 9

De Gruyter

Metropole, Provinz und Welt Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus

Herausgegeben von

Roland Berbig Dirk Göttsche

De Gruyter

ISBN 978-3-11-030950-8 e-ISBN 978-3-11-030965-2 ISSN 1861-4396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Porträt von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Roland Berbig, Dirk Göttsche Einleitung ....................................................................................................... 1

I. Metropole, Provinz und Welt in der Literatur des Realismus: literarhistorische und systematische Perspektiven Dirk Göttsche »Tom Jensen war in Indien«: Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus .................... 17 Rolf Parr Die nahen und die fernen Räume: Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe ............................. 53

II. Raumwandel, Natur und Nation im Modernisierungsprozess Hans-Joachim Hahn Nester an der Eisenbahn: Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach ............................................................................ 79 Lynne Tatlock Flutkatastrophen und Binnenkolonisation: Eroberte Natur, deutsche Nation und männliche Subjektbildung in der Erzählliteratur des Kaiserreichs (1870–1891) ............................. 99 Jana Kittelmann »Das ist der deutsche Wald«: Raum der Natur als Raum der Nation im Werk Berthold Auerbachs ................................................................. 123 David Darby Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt: Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne .......... 145

VI

Inhalt

III. Globale Vernetzungen – eurozentrische symbolische Landkarten Daniela Gretz »Quer durch Afrika, was soll das heißen?« Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane ............................................ 165 Katharina Grätz Tigerjagd in Altenbrak: Poetische Topographie in Theodor Fontanes »Cécile« ................................................................. 193 Dirk Oschmann »Wo soll man am Ende leben?« Zur Verschränkung von Raumund Zeitsemantik in Raabes »Stopfkuchen« und Fontanes »Stechlin« ... 213 Kerstin Stüssel Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen: Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien .. 237 Helen Chambers Mobilität und Ehebruch, Frauen in der Stadt, Reisende: Provinz, Metropole und Welt bei Fontane und Ebner-Eschenbach ...... 257

IV. Chronotopologische Kontrapunkte aus der Natur-, Stadt- und Zeitgeschichte Franziska Frei Gerlach Erosive Entschleunigung: Stifters Semiotisierung des Raums im Modus der Geologie ........................................................................... 273 Hans-Jürgen Schrader Frühneuzeitliche Munizipien in religiös-sozialen Hassausbrüchen: Raabes »Höxter und Corvey« (1874) und Fontanes »Grete Minde« (1879) ...................................................... 289 Jeffrey L. Sammons Vom Nebeneinander zur Durchkomponierung: Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Karl Gutzkows »Die neuen Serapionsbrüder« und Friedrich Spielhagens »Sturmflut« .................................................. 321

Inhalt

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Siglenverzeichnis ....................................................................................... 335 Zu den Autorinnen und Autoren ........................................................... 337 Personen- und Werkregister .................................................................... 343

Einleitung In der Exposition seines Romans Pfisters Mühle (1884) lässt Wilhelm Raabe seinen Erzähler melancholisch-humoristisch über den grundlegenden Wandel der Raum- und Zeiterfahrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts räsonieren. Das »›alte romantische Land‹«, das »die Leute vor hundert Jahren« noch im imaginären Orient der Märchen von Tausendundeiner Nacht vermutet hätten, sei nun im wirklichen Bagdad nicht mehr zu finden, denn: »Wer dort nicht selber gewesen ist, der kennt das doch viel zu genau aus Photographien, Holzschnitten nach Photographien, Konsularberichten, aus den Telegrammen der Kölnischen Zeitung, um es dort noch zu suchen.« (BA 16, S. 7) Der »›Vorwelt Wunder‹, die wir in weiter Ferne vergeblich suchten«, seien den Menschen des späten 19. Jahrhunderts stattdessen »dicht unter die Nase gelegt worden […] im Laufe der Zeiten und unter veränderten Umständen«: Zehn Schritte weit von unserer Tür liegen sie – zehn, zwanzig, dreißig Jahre ab –, als die Eisenbahn noch keine Haltestelle am nächsten Dorfe hatte – als der Eichenkamp auf dem Grafenbleeke noch nicht […] niedergelegt war – […] als die Weiden den Bach entlang noch standen […]. (BA 16, S. 8)

Im Zuge sprunghafter Modernisierung hat sich der heimische Raum der deutschen Provinz ebenso radikal verändert wie sein Verhältnis zur exotischen Ferne in Übersee; die fernen Räume sind erreichbar geworden und wirken, auch wenn man sie nicht selbst bereist, über die Massenmedien wie Zeitschrift und Zeitung in eine Heimat zurück, die umgekehrt über moderne Infrastruktur (die Eisenbahn) mit Metropole und Welt verbunden ist. Dieser Schritt in Richtung einer dynamisierten Raumordnung, die heute als Globalisierung diskutiert wird, geht einher mit einer beschleunigten »Verzeitlichung« (Reinhart Koselleck)1 aller Lebensbezüge und allen Wissens; schon nach wenigen Jahren, allemal aber nach einer Generation gilt L. P. Hartleys Diktum »The past is a foreign country; they do things differently there.«2 _____________ 1 2

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 13 u. ö. Leslie Poles Hartley, The Go-Between, London 1953, S. 9.

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Raabe präludiert also seinen Gründerzeit-Zeitroman über den unabwendbaren Wandel der Lebenswelt im Zuge beschleunigter Modernisierung, über Industrialisierung, Urbanisierung, Umweltverschmutzung und die psychologische und gesellschaftliche Bewältigung dieser Herausforderungen, mit einer grundsätzlichen und zugleich poetologischen Reflexion über das veränderte Raum- und Zeitverständnis seiner Zeit. Provinz und Metropole treten in ein neuartiges Verhältnis zueinander und zu jener zunehmend globalen Welt in Übersee, die Gegenstand kolonialer Erkundung und Expansion ist. Zugleich rekonfigurieren sich Zeit und Raum dialektisch; die Zeit wird in der literarischen Reflexion der Modernisierungsprozesse verräumlicht, der Raum verzeitlicht. Und wenn der Erzähler mit melancholischem Gestus und in altmodischer Diktion eingesteht: »Wir haben unsern Hippogryphen um die ganze Erde gejagt und sind auf ihm zum Ausgangspunkt zurückgekommen« (BA 16, S. 7), so gibt der Text zwei grundlegende, scheinbar gegenläufige Aspekte der literarischen Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozess im Erzählen des bürgerlichen oder poetischen Realismus zu erkennen: Das Erzählen des deutschen Realismus partizipiert durchaus an der »ernste[n] Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung«, die in Erich Auerbachs Augen den »europäischen Realismus« des 19. Jahrhunderts auszeichnet,3 aber es tut dies in spezifischer Brechung. Um im Bild zu bleiben: Raabes Erzähler stellt seinen »Ausgangspunkt« in den globalen Resonanzraum einer von sprunghafter Modernisierung geprägten Welt; aber er kehrt in seinem Erzählen auch zu diesem Ausgangspunkt zurück, d. h. anders als in der Abenteuer- und Reiseliteratur der Zeit, anders als bei Sealsfield, Gerstäcker oder später im Kolonialroman sind die erreichbar gewordenen, mit deutschen Provinzen und Metropolen zunehmend vernetzten Welten in Übersee nicht als solche Gegenstand der Darstellung. Pfisters Mühle spielt vor der Folie zunehmender infrastruktureller, kommerzieller und kolonialer Globalisierungsprozesse »im letzten Viertel dieses neunzehnten Jahrhunderts« im Spannungsfeld zwischen deutscher Provinz und deutscher Metropole, nicht aber in »Bagdad« (BA 16, S. 7). Weitere Belege für die Auseinandersetzung der Autoren und Werke des deutschen Realismus mit dem radikalen Wandel des Raum- und Zeitbewusstseins im Zuge beschleunigter Modernisierung im späteren 19. Jahrhundert ließen sich unschwer aufzählen. In der Einführung zu ihrem Realismus-Band Magie der Geschichten verweisen Michael Neumann _____________ 3

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946]. 8. Aufl., Bern 1988, S. 480.

Einleitung

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und Kerstin Stüssel beispielsweise auf den ganz ähnlichen, aber unmelancholischen Befund Berthold Auerbachs aus dem Jahre 1880: Die Begriffe von Zeit und Raum haben sich in unseren Tagen der Eisenbahnen und Telegraphen [...] viel geändert, und ein späteres Geschlecht, ja sogar schon das heutige findet sich schwer in Verlegenheiten bei Conflicten, die mit den früheren Anschauungen von Zeit und Raum verbunden sind.4

Fontanes Stechlin spielt bekanntlich nicht nur im Spannungsfeld zwischen Märkischer Provinz und Metropole (Berlin, aber hintergründig auch London), sondern rückt diese dargestellte Welt vermittels der untergründigen »Weltbeziehungen« (HFA I/5, S. 135) des Stechlin-Sees auch in einen globalen Horizont. Die Beiträge dieses Buches werden in unterschiedlichen Perspektiven zahlreiche weitere Belege zur Raum-Zeit-Thematik und ihrer spezifisch ›realistischen‹ Brechung untersuchen und so (im Anschluss an den ›spatial turn‹ in den Kulturwissenschaften) die literarische Reflexion von Raum und Mobilität im späteren 19. Jahrhundert literarhistorisch und literaturtheoretisch neu vermessen. Der vorliegende Band beruht auf der gleichnamigen Tagung »Metropole, Provinz und Welt: Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus«, die die Theodor Fontane Gesellschaft und die Internationale Raabe Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität vom 23. bis 25. September 2011 in Berlin ausgerichtet haben. Dieser Entstehungskontext spiegelt sich in der zentralen Rolle wider, welche die Werke Fontanes und Raabes in den Beiträgen spielen. Ein Teil der Aufsätze konzentriert sich auf diese beiden literaturgeschichtlich herausragenden Autoren des deutschen Realismus und erkundet – ganz im Sinne des Tagungsthemas – thematisch-motivische sowie diskursive, poetologische und ästhetische Verbindungen und Unterschiede zwischen ihren Erzählwerken. Dieser Schwerpunkt wird jedoch durch Beiträge ergänzt, deren vergleichende Untersuchungen Werke anderer zeitgenössischer Autoren einschließen oder zum Gegenstand haben. Dass die Auswahl von Gewicht ist, dafür sorgen Namen wie Adalbert Stifter, Berthold Auerbach, Karl Gutzkow, Friedrich Spielhagen, Gottfried Keller, Marie von Ebner-Eschenbach, Wilhelm Jensen und Theodor Storm. Doch nicht zufällig und allemal mit Ertrag fällt der Blick auch auf einige weniger bekannte Unterhaltungsautorinnen. Damit ent_____________ 4

Berthold Auerbach, Aus der Schule der Dichtkunst. In: Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte 49 (Oktober 1880–März 1881), Nr. 289, S. 51–58, hier S. 58, Anm. 1. Zitiert nach Michael Neumann und Kerstin Stüssel, Einführung: ›The Ethnographer’s Magic‹. Realismus zwischen Weltverkehr und Schwellenkunde. In: Michael Naumann und Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichte. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 9–25, hier S. 13.

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steht insgesamt ein perspektivischer Aufriss der Auseinandersetzung der Literatur des Realismus als ganzer mit der »Mobilisierung überlieferter Lebensbestände, -verhältnisse und -regelungen«5 im Zuge beschleunigter Modernisierung und der Ausbildung einer globalen Infrastruktur in Verkehrswesen, Handel und Kommunikation. Die Akzentsetzung bei Fontane und Raabe und der Versuch, im Anschluss an den ›spatial turn‹ übergreifend einen neuen Blick auf den literarischen Realismus im deutschsprachigen 19. Jahrhundert zu gewinnen, ergänzen sich gegenseitig, wobei das Werk der beiden an sich ja so verschiedenartigen Autoren zugleich eine Konzentration auf Erzählliteratur, auf Roman, Erzählung und Novelle, bedingt. Hier stehen Raabe und Fontane für durchaus voneinander abweichende, aber gleichermaßen anspruchsvolle und innovative Wege einer selbstreflexiven Weiterentwicklung, selbstkritischen Infragestellung, partiellen Dekonstruktion, nicht aber Überschreitung jenes bürgerlichen bzw. poetischen Realismus, der in den 1840er und 1850er Jahren stilistisch, literaturtheoretisch und literaturpolitisch begründet worden war. Es ist ein bleibendes Verdienst der Neuansätze in der Realismusforschung seit den 1990er Jahren (Marianne Wünsch, Claus-Michael Ort, Hugo Aust, Gerhard Plumpe u. a.),6 den ›Systemcharakter‹ des ›bürgerlichen‹ und ›poetischen‹ Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dessen »poetologisches Koordinatensystem«7 auf neuer kulturwissenschaftlicher, zeichen-, system- und diskurstheoretischer Grundlage in aller Deutlichkeit herausgearbeitet zu haben. Die neuere Forschung in dieser Tradition bietet implizit oder explizit auch den hier vorgestellten Beiträgen wesentliche Anknüpfungspunkte. Als maßgeblich erweisen sich insbesondere Einsichten wie jene in die zentrale Bedeutung von »Grenzziehungen« für die literarischen Welten des Realismus,8 das historisch differenzierende Verständnis des Realismus »als ein Verfahren [...], das sich fortwährend entwickelt, verändert und verfeinert«,9 oder die spezifische Engführung von Epistemologie und Poetologie in dieser Epoche. Sie _____________ 5 6

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Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. 3. Aufl., München 1993, S. 188. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Edward McInnes und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München 1996 (= Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6); Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998; Hugo Aust, Literatur des Realismus. 3., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2000; Marianne Wünsch, Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker, Peter Klimczak, Hans Krah und Martin Nies, Kiel 2007. Claus-Michael Ort, Was ist Realismus? In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 11–26, hier S. 20. Marianne Wünsch, Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹. Modell eines literarischen Strukturwandels. In: Wünsch, Realismus (wie Anm. 6), S. 337–359. Aust, Literatur des Realismus (wie Anm. 6), S. 3.

Einleitung

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ermöglicht den Werken des Realismus »das imaginative Durchspielen und Variieren von Wirklichkeitskonstruktionen, die die Gesellschaft ernsthaft beschäftigen, d.h. die Simulation von Alternativen gerade da, wo üblicherweise Unausweichlichkeit vermutet wird«.10 Dass es realistischem Erzählen nicht um »Abbild[er] des Vorfindlichen« geht, sondern um den »Bezug auf eine wesentliche und sinnstiftende Dimension der Wirklichkeit« – und sei es ex negativo oder in aporetischer Form –, »das führt dazu, dass auf der Inhaltsebene der literarischen Texte immer wieder ausdrücklich die Frage nach der Realität selbst aufgeworfen wird«.11 Dies gilt auch für das Thema ›Raum und Mobilität‹ bzw. die literarische Kartierung von Metropole, Provinz und Welt. Darüber hinaus macht es Selbstreferentialität zu einem prägenden Kennzeichen vor allem des Spätrealismus, insbesondere auch hinsichtlich der literarischen Auseinandersetzung mit den prägenden Globalisierungs- und Modernisierungsprozessen der Epoche, auch wenn diese oftmals kontrapunktisch verfährt. Der Band beginnt mit zwei Aufsätzen, die das Untersuchungsfeld zunächst in literarhistorischer bzw. systematischer Perspektive abstecken. Von einem Zitat aus Fontanes Unwiederbringlich ausgehend (»Tom Jensen war in Indien«), gibt Dirk Göttsche einen literatur- und diskurshistorischen Einblick in die differenzierte »Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus«, der neben Fontane und Raabe auch Keller, Storm und Jensen im Fokus hat und zugleich nach Kontinuitäten und Verschiebungen zwischen dem Nachmärz und den 1890er Jahren fragt. Die postkoloniale Re-Lektüre des literarischen Kanons und neuere historische Forschung zu Globalisierungsprozessen im 19. Jahrhundert bilden die Ansatzpunkte für den Nachweis, dass sich realistisches Erzählen intensiver und reflektierter mit der »Verwandlung der Welt« (Jürgen Osterhammel)12 im Zeichen sprunghafter Modernisierung und Mobilisierung auseinandersetzt als in der Nachfolge Erich Auerbachs in der Regel angenommen.13 Zugleich aber reproduzieren die symbolischen Landkarten des Realismus die Asymmetrie und Eurozentrik der kolonialen Welt selbst dort, wo diese ästhetisch ausgestellt und reflektiert wird. Göttsche analysiert die Verknüpfung von europäischen und außereuropäischen Welten als literarische Reflexion eines zunehmend globalen Lebens- und Wissensraumes zunächst am Beispiel der Darstellung koloni_____________ 10 11 12 13

Edward McInnes und Gerhard Plumpe, Vorbemerkung. In: McInnes und Plumpe (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit (wie Anm. 6), S. 7–15, hier S. 7. Begemann, Einleitung. In: Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke (wie Anm. 7), S. 7–10, hier S. 8f. Siehe Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Auerbach, Mimesis (wie Anm. 3).

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aler Handels- und Finanzbeziehungen, die insbesondere in den Gründerzeitromanen das als bedrohlich empfundene Ineinander von kolonialer und kapitalistischer Globalisierung illustrieren, um dann drei zentrale Figurationen gewachsener personaler Mobilität herauszuarbeiten: die Auswanderung (nicht nur nach Amerika), den neuen Topos der Welt als Karriere und den für das Erzählen des deutschen Realismus so prägenden Chronotopos (Michail Bachtin)14 der Heimkehr mit seiner charakteristischen Verschränkung von Zeit- und Raumerfahrung. Von postkolonialem Interesse ist darüber hinaus insbesondere die bislang wenig beachtete Auseinandersetzung der Autoren mit kolonialer Transkulturalität im eigenen, europäischen Raum – also die Darstellung kolonialer Immigranten und transkultureller Familien, mit deren Hilfe insbesondere Raabe die koloniale Dichotomie und Hierarchie von Eigenem und Fremdem kritisch unterläuft, die im Exotismus und Orientalismus der Zeit besonders scharf hervortritt. Als ebenso wichtig für die Raumkonstruktionen realistischen Erzählens erweisen sich die mit den europäischen Nationalstereotypen verwandten kulturellen Sonderdiskurse zu einzelnen Weltregionen (wie Nord- und Lateinamerika, Afrika, Asien), die jeweils ihre eigene Geschichte und Dynamik besitzen. In ihnen wird die koloniale Dialektik von Eigenem und Fremdem je unterschiedlich gebrochen, zumal realistisches Erzählen sie in seinen avancierten – selbstreflexiven, kontrapunktischen, multiperspektivischen oder dialogischen – Formen ästhetisch ausstellt und bricht. Neben diese literatur- und diskurshistorische Einführung in das Thema tritt mit Rolf Parrs ebenfalls grundlegendem Beitrag »Die nahen und die fernen Räume: Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe« eine neue systematische Grundlegung zur Raumfrage in den Sozial- und Literaturwissenschaften, die von einem knappen Forschungsüberblick ausgeht. Zwischen der älteren Tradition induktiver Raumanalyse in der Literaturwissenschaft und den eher (kultur-) theoretisch orientierten Ansätzen des ›spatial‹ bzw. ›topographical turn‹ vermittelt ein an Jurij M. Lotmans Semiotik anschließender semanalytischer Ansatz, der die literarische Semantisierung tatsächlicher geographischer Räume ebenso in den Blick nimmt wie den Entwurf literarisch imaginierter Räume und das Verhältnis beider Formen literarischer Raumkonstruktion zueinander. Parr kann zeigen, dass die ›mental maps‹ realistischen Erzählens bei Fontane und Raabe (wiederum auf voneinander sich unterscheidende, aber mittelbar korrespondierende Weise) durch die Überblendung räumlicher und sozialer Hierarchien gekennzeichnet sind, _____________ 14

Siehe Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner, aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989, S. 7 und passim.

Einleitung

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wie sie sich etwa in der Stadt- und Wohntopographie ihrer Texte zeigen, sodann durch die Verschränkung von Raum und Zeit in der Semantisierung historisch signifikanter Örtlichkeiten als »lieux de mémoire« (Pierre Nora)15 im tripolaren Spannungsfeld von Region, Metropole und (kolonialer) Welt, sowie (bei Fontane) im Spiel mit innerdeutschen und europäischen Nationalstereotypen. In diesem Punkt wie hinsichtlich der Asymmetrie der symbolischen Landkarten des Realismus trifft sich Parrs semanalytischer Ansatz mit Göttsches literarhistorischem. Hinzu kommt nämlich als vierter Bereich der Semantisierung die Abbildung von Ferne auf Nähe und umgekehrt, durch die bei Fontane die (koloniale) Welt in den eigenen Raum hereingeholt wird, während Raabes Raum-ZeitVerschränkungen die Dichotomie von Eigenem und Fremdem immer wieder unterlaufen; beide Autoren lassen sich so als frühe Diagnostiker und Kritiker der Globalisierung lesen, zumal ihr Erzählen zeittypische Raum- und Zeitvorstellungen auf eine reflexive Ebene hebt. Der abschließende Vergleich mit der frühen Moderne zeigt gleichwohl, wie Fontanes und Raabes Erzählkunst auch in ihrer Reflexivität weiterhin den binären Raumstrukturen und Grenzziehungen verpflichtet bleibt, welche die Forschung als für den Realismus charakteristisch herausgestellt hat. Im zweiten Teil des Bandes betrachtet die erste Gruppe der Fall- und Vergleichsstudien dann Werke, die sich unmittelbar mit der Verwandlung des Raumes im Prozess beschleunigter Modernisierung auseinandersetzen, wobei Naturbeherrschung durch technischen Fortschritt und Nationsbildung in jenem liberalen Diskurs, den die Texte propagieren oder kritisch reflektieren, eine markante Allianz eingehen. Hier bildet die ›Welt‹ jenseits der Grenzen des 1871 schließlich ›von oben‹ gegründeten deutschen Nationalstaats weithin nur den Horizont der Modernisierungsreflexion; im Mittelpunkt steht die Refiguration des nationalen Raumes im Zeichen der Eisenbahn (des Epochensymbols der Beschleunigungserfahrung und der neuen Mobilität schlechthin), der Metropolenbildung (Berlin) und der Katastrophenbeherrschung. Berthold Auerbach, Friedrich Spielhagen und Unterhaltungsschriftsteller wie Wilhelmine von Hillern und E. Werner repräsentieren einen literarischen Mainstream, dessen Anfänge in den 1840er Jahren liegen und dessen Werke realistisches Erzählen im Sinne des programmatischen bürgerlichen Realismus im Nachmärz mit politischem Liberalismus verbinden und bis in die 1880er Jahre tradieren. Mit diesem Vergleich wird eingelöst, was sich das Tagungs- und nun das Bandkonzept vorgenommen hat: diskursive, literarische und politische Brechungen zu markieren, die den Spätrealismus von seinen bürgerlichrealistischen Grundlagen abheben. _____________ 15

Siehe Pierre Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Paris 1984ff.

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Wie die Eisenbahn und die moderne Zeitung mit dem geographischen Raum auch die sozialen Verhältnisse und das Denken dynamisieren und zugleich den Nationalgedanken mobilisieren, das zeigt Hans-Joachim Hahn (»Nester an der Eisenbahn: Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach«) anhand von Berthold Auerbachs später Dorfgeschichte Das Nest an der Bahn (1876), einer Fortsetzung seiner Sträflinge (1846), und Wilhelm Raabes Roman Alte Nester (1879). Indem er die Industrielandschaft der Eisenbahn als Idylle, als Raum des sozialen Aufstiegs, der Resozialisierung und Konfliktlösung entwirft, gestaltet Auerbach sie als Modell einer Synthese aus Moderne und Tradition, die angesichts der Krise des liberalen Bürgertums beinahe gegen jede Vernunft am Fortschrittsglauben des Vor- und Nachmärz festhält. Bei Raabe wird die Eisenbahnfahrt dagegen zur Metapher einer komplexen Zeit- und Erinnerungspoetik, und bürgerliches Selbstverständnis mutiert unversehens in antikapitalistische Gesellschaftskritik. Die Spannung von ›Welt‹ und ›Nest‹ imaginiert jedoch zumindest in ironischer Form auch hier idyllische Schutzräume gegen die Modernisierung, und der Vergleich der Texte erhellt das nationalliberale Substrat auch in Raabes Erzählen. Eine ähnliche Konstellation aus literarischer Diskursreproduktion und kritischer Diskursreflexion kennzeichnet die Romane zu dem seinerzeit viel behandelten Themenkomplex »Flutkatastrophen und Binnenkolonisation«, die Lynne Tatlock in ihrer Studie zu »Eroberter Natur, deutscher Nation und männlicher Subjektbildung in der Erzählliteratur des Kaiserreiches (1870–1891)« untersucht: nämlich Spielhagens Erfolgsroman Sturmflut (1878), Else Kobert Schmiedens Lebensräthsel (1878) zur selben Naturkatastrophe sowie Gartenlaube-Romane von Wilhelmine von Hillern und E. Werner einerseits – sowie Storms Schimmelreiter (1888), Fontanes Unterm Birnbaum (1885) und Raabes Die Innerste (1876) und Stopfkuchen (1891) andererseits. In Werners Alpenfee (1888) ist wiederum der Eisenbahnbau das Symbol des Fortschritts und nationaler (männlicher) Leistung, während er in Spielhagens Roman bereits die Gründerzeitkrise indiziert, als deren Natursymbol die Ostsee-Sturmflut vom 13. November 1872 fungiert. In den anderen Texten steht das heute weniger bekannte Thema des Deichbaus, der Entwässerung und Landgewinnung, die durch solche Flut- und Überflutungskatastrophen herausgefordert wird, im Vordergrund. Refiguration der Landschaft durch Wasserbau und heroische Katastrophenbewältigung sind bei Spielhagen und von Hillern unmittelbar mit der epochentypischen Engführung von Nationaldiskurs und bürgerlich-heroischem Männlichkeitsideal verknüpft. Bei Raabe und Fontane dagegen legen die Naturkatastrophen jene Gewalten frei, die den Machtstrukturen der Zivilisation selbst eingeschrieben sind; als ästhetische Reflexionsmodelle der Modernisierung

Einleitung

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stellen sie den Mythos der mächtigen Nation ebenso in Frage wie jenen heldenhafter Männlichkeit. Den gleichen Fragenkomplex beleuchtet Jana Kittelmann in ihrer Fallstudie zur Literatur- und Mythengeschichte des »deutschen Waldes«, die Auerbach in seinem Drama Andree Hofer (1850) und seinem Roman Waldfried (1874) dergestalt fortschreibt, dass der »Raum der Natur als Raum der Nation« sinnfällig Konturen gewinnt. Politisch-ideologische und ästhetische Raumkonzepte gehen bei Auerbach Hand in Hand, Sakralisierung der Nation und Fortschrittsglaube ergänzen sich gegenseitig. Im Hofer-Drama gehen Natur und Volk eine Symbiose ein, infolge derer der Wald – in der Nachfolge von Tacitus’ Germania – geradezu wörtlich in den Kampf für die nationale Unabhängigkeit eingreift. In Waldfried imaginiert Auerbach die nationale Vermittlung von Metropole, Provinz und Welt, indem er die Erfahrung der Fremde und Ferne zur Voraussetzung von Heimatgefühl, Gemeinschaft und Einschluss der (jüdischen) ›Anderen‹ macht. Diesem optimistischen Raum- und Nationenmodell steht in Fontanes historischem Roman Vor dem Sturm eine konventionellere kulturkritische Kontrastierung von Stadt und Land gegenüber, die das prominente Konzept der deutschen Kulturnation resignativ mit dem ländlichen Raum assoziiert. David Darbys Aufsatz »Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt: Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne« zeigt anhand der Wanderungen durch die Mark Brandenburg allerdings, wie brüchig und widersprüchlich Fontanes literarische Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Metropole, Provinz und Welt im Modernisierungsprozess ist. Wird die auch hier als Wasserlandschaft gezeichnete Mark Brandenburg einerseits als in sich abgeschlossener, von der Moderne provinzialisierter Raum mit eigener, in Überlieferungen und Legenden bis in die germanisch-wendische Frühzeit zurückreichender Geschichte entworfen, so ist ihre literarische Erschließung im Projekt der Wanderungen doch auf die Infrastruktur moderner Transport- und Kommunikationsmittel und insbesondere auf das Eisenbahnnetz angewiesen. Entstehung und Darstellung unterminieren so die projizierte Fiktion einer vormodernen Welt und schreiben Fontanes Text die Refiguration des Raumes um das neue Zentrum, die Metropole Berlin als Wirtschaftszentrum und Ausgangspunkt des Tourismus, wieder ein. Der vergleichende Blick auf die Berliner Gesellschaftsromane – von Vor dem Sturm über Cécile bis zum Stechlin – veranschaulicht nicht nur Fontanes Auseinandersetzung mit der technischen Vernetzung von Metropole und Provinz untereinander und mit der Welt fortschreitender Globalisierung, sondern – in Umkehrung der Diskurskonstellation der Wanderungen – auch die Verwendung vormoderner ›azentrischer‹ Raum- und Naturbilder als Subversion der konzentrisch vernetzten industriellen Moderne.

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Mit dem Thema globaler Vernetzungen leitet Darbys Aufsatz zum dritten Hauptteil des Bandes über, in dem es nun genauer um die Frage geht, wie sich die Erzählliteratur des Realismus mit der »Verwandlung der Welt« (Osterhammel) im Zuge kolonialer Expansion, moderner Infrastruktur und kapitalistischer Globalisierung auseinandersetzt und welche symbolischen Landkarten oder ›mental maps‹ der zumeist deutlich eurozentrische Blick auf den globalen Horizont heimischer Entwicklungen und Verhältnisse produziert. Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang dem Afrika-Diskurs zu, da dieser Kontinent im Zuge der breit rezipierten Entdeckungsreisen und des imperialen ›scramble for Africa‹ besondere Faszinationskraft als ›Ort des ganz Anderen‹ entfaltete. In diesem Sinne untersucht Daniela Gretz »Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane«, indem sie die Aufmerksamkeit vor allem auf das thematisch-diskursive Wechselverhältnis zwischen den einschlägigen Werken beider Autoren und jenen populären (Familien-)Zeitschriften lenkt, in denen ihre Texte zumeist zuerst erschienen, und zwar neben vielfältigen Reiseberichten, ethnographischen Aufsätzen, technischen Innovationen, infrastrukturellen Neuerungen und politischen Notizen zu kolonialen und Übersee-Themen. Raabes Romane Abu Telfan (1867), Meister Autor (1874) und Stopfkuchen (1891) sowie Fontanes Romane Cécile (1886), Effi Briest (1895) und Die Poggenpuhls (1896) lassen sich so überraschend umstandslos als selbstreflexive, ironische oder kritische Auseinandersetzungen mit dem kolonialen und Afrika-Diskurs ihrer Zeit lesen. Im Mittelpunkt dieser literarischen Globalisierungskritik steht eindeutig nicht das reale Afrika des 19. Jahrhunderts, sondern die Rückwirkung der kolonialen Expansion und Imagination auf Provinz und Metropole in Deutschland, und damit die Funktion Afrikas als Projektionsfläche innereuropäischer Identitätsdiskurse. Mehr als nur augenfällig wird dies an der insbesondere in Stopfkuchen und bei Fontane nachweisbaren symbolischen Spiegelung zwischen dem Topos des inneren Afrika und seiner (durch Jean Paul und Freud bekannten) Funktionalisierung als Metapher der menschlichen Psyche und der ›inneren Kolonisierung‹ der als ›Wilde‹ konnotierten Frau in der bürgerlichpatriarchalen Gesellschaft. Cécile dient in dem Beitrag von Katharina Grätz (»Tigerjagd in Altenbrak: Poetische Topographie in Theodor Fontanes ›Cécile‹«) überdies als aufschlussreiches Beispiel für die eurozentrische Verschaltung von Provinz, Metropole und Welt bei Fontane. Das kartographische Prinzip seines Erzählens erweist sich als Indiz für die primär räumliche Strukturierung des Geschehens und die durchkomponierte Anordnung miteinander kontrastierender Handlungsorte. Wie die einleitende Eisenbahnfahrt weniger Beschleunigungserlebnisse vermittelt als den Blick auf die Rückseite groß-

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städtischen Lebens freigibt, so unterläuft der Roman durchgängig den scheinbar eindeutigen Kontrast zwischen der Metropole Berlin und dem provinziellen Erholungsraum Harz und entwirft sogar den kosmopolitischen Repräsentanten der Globalisierung (Gordon) als Anhänger problematisierter, tradierter bürgerlicher Moral. Räume und Landschaften erhalten ihre Bedeutung durch multiperspektivische Diskursivierung und Zuschreibung – und dies gilt gleichermaßen für die hereinzitierte Welt technisch-kolonialer Globalisierung. Noch kritischer sieht Dirk Oschmann in seinem Aufsatz (»›Wo soll man am Ende leben?‹ Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes ›Stopfkuchen‹ und Fontanes ›Stechlin‹«) die literarische Beurteilung der globalen Vernetzungen bei Raabe und Fontane. Beide Romane stellen sich der Kontingenz der Orte in der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft, in der der Einzelne seinen Platz erst – quasi kolonial – erobern und behaupten muss; in beiden Büchern verschränken sich Zeit und Raum in den komplementären Bewegungen der Verzeitlichung des Raumes und der Verräumlichung der Zeit. Während die hierarchisierten Oppositionen von Provinz und Welt, Enge und Weite, drinnen und draußen, oben und unten in Stopfkuchen jedoch – jedenfalls im Medium der Titelfigur – die Provinz, das Statische und die Weltabwendung gegen die weite Welt und moderne Mobilität privilegieren, sieht Oschmann im Stechlin einen Perspektivismus gestaltet, der beweglicher auf die Dynamisierung der Räume und Werte reagiert. Vor der Folie der aktuellen Forschungsdebatte über die unterschiedlich beurteilte Welthaltigkeit realistischer Texte thematisiert Kerstin Stüssel das Thema globaler Vernetzungen im Spannungsfeld von Metropole, Provinz und Welt noch einmal gewissermaßen ex negativo, anhand »Entlegener Orte, verschollener Subjekte, verdichteten Wissens« im »Problematischen Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien« bei Fontane, Raabe und Storm. Im Kontext des China-Diskurses der zeitgenössischen Zeitschriften gelesen, belegt das bekannte Motiv des Chinesen in Fontanes Effi Briest die nur scheinbar periphere Auseinandersetzung des Romans mit jenem prägenden »Weltverkehr« des späten 19. Jahrhunderts, in dem wachsendes geographisches Wissen mit der Verdichtung und Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation zusammenwirkt, um zugleich bürgerliches Subjekt- und Weltverständnis zu dynamisieren. Die zunehmende Vernetzung der Welt provoziert in der Umkehr aber auch die Faszination für entlegene Räume, verschollene Menschen und den Ausnahmezustand der Verschollenheit, die in Werken Fontanes, Raabes und Storms ebenso verhandelt wird, wie sie sich in der Presse – etwa mit Bezug auf verschollen geglaubte Afrika-Reisende – zeigte. Von dem Verdichtungsbegriff der zeitgenössischen Völkerpsychologie (Moritz Lazarus,

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Heymann Steinthal) ausgehend, zeigt Stüssel abschließend, wie Vernetzung und Verdichtung in spätrealistischem Erzählen – wie in Effi Briest – poetologische Qualität gewinnen. Mit der Analyse unterschiedlicher Konstellationen von »Provinz, Metropole und Welt bei Fontane und Ebner-Eschenbach« sowie dem Motiv der Eisenbahn kehrt Helen Chambers in ihrem Aufsatz »Mobilität und Ehebruch, Frauen in der Stadt, Reisende« noch einmal zu der Leitfrage der Darstellung globaler Vernetzungen in den eurozentrischen Landkarten realistischen Erzählens zurück, nun jedoch aus einer gendertheoretischen Perspektive, wie sie sich schon bei Gretz im Hinblick auf den AfrikaDiskurs und bei Tatlock bezüglich der Darstellung bürgerlich-liberalen Fortschrittsdenkens als unabdingbar erwies. Im Vergleich geschlechtsspezifischer Mobilitätsmuster wird den männlichen Figuren beider Autoren immer wieder der Topos der Heimkehr in die Provinz aus der Welt und/oder Metropole zugeordnet, der regelmäßig – beispielsweise in Fontanes Unwiederbringlich (1891) und Ebner-Eschenbachs Unsühnbar (1899) – Orientierungskrisen im Modernisierungsprozess aufwirft und Männlichkeitsvorstellungen problematisiert. Bei den Frauenfiguren steht imaginierte Mobilität (in Unwiederbringlich) neben Wechseln zwischen Metropole und Provinz (Unsühnbar), der performativen Eroberung weiblicher Mobilitätsspielräume in der Stadt (z. B. in Fontanes Irrungen, Wirrungen, 1888, oder Ebner-Eschenbachs Lotti die Uhrmacherin, 1880) und der auffälligen Darstellung von Eisenbahnreisen als dem Chronotopos der Mobilisierung gesellschaftlicher Spielregeln bis hin zum Tabubruch, wie etwa in Fontanes Erzählung Im Coupé (1888) und Ebner-Eschenbachs Die Reisegefährten (1901). Hier werden in den betrachteten Texten herrschende Geschlechterrollen infrage gestellt oder doch entschieden neu gewogen. Das von Stüssel analysierte Faszinosum der Verschollenheit und Oschmanns Hinweis auf das kulturkritische und zugleich poetologische Programm der Entschleunigung in Raabes Stopfkuchen bilden zwei der Anknüpfungspunkte für den ersten Beitrag der letzten Aufsatzgruppe, die sich chronotopologischen Kontrapunkten zur globalen Vernetzung und beschleunigten Modernisierung in realistischen Texten zur Natur-, Stadtund Zeitgeschichte zuwendet. Unter dem Stichwort »Erosive Entschleunigung« untersucht Franziska Frei Gerlach zunächst »Stifters Semiotisierung des Raums im Modus der Geologie«, deren erdgeschichtlich langsame Verzeitlichung des Naturverständnisses im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmende Faszinationskraft erlangte. Zwar finden sich schon bei Stifter die für realistisches Erzählen charakteristischen Chronotopoi des Aufbruchs und der Rückkehr sowie die auf die Aufklärung zurückgehende modernisierungskritische Kontrastierung von Stadt und Land; zentral ist für sein Erzählen statt der Beschleunigung jedoch kontrapunktisch die

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Entschleunigung, für die das geologische Zeit-Raum-Modell Orientierungsfunktion besitzt. Anhand des Romans Der Nachsommer (1857), einiger Erzählungen Stifters und ausgewählter Skizzen aus dessen Sammlung Wien und die Wiener (1844) kann Frei Gerlach zeigen, wie dem auf Übersicht und systematisches Wissen drängenden Gipfelblick das geologische Gesetz der Erosion als poetologisch gewendetes Reflexionsmotiv epistemologischer Verunsicherung und einer entschiedenen Dezentrierung des Menschen gegenübergestellt wird. Die Orientierung an der Naturwissenschaft bringt Stifter hier zu einer über Raabe und Fontane hinausweisenden Modernität. Ganz andere Herausforderungen der Moderne – nämlich jene der heraufziehenden Massengesellschaft, des durch Kapitalismus und Gründerzeit bestärkten Materialismus sowie der religiösen, ideologischen und zunehmend auch rassistischen Ausgrenzungen im immer stärker autokratisch geprägten Deutschen Reich – entdeckt Hans-Jürgen Schrader in seiner Untersuchung »Frühneuzeitliche Munizipien in religiös-sozialen Hassausbrüchen: Raabes ›Höxter und Corvey‹ (1874) und Fontanes ›Grete Minde‹ (1879)«. Im historischen Gewand frühneuzeitlicher Stadtgeschichte reflektieren beide Schriftsteller kritisch die Konflikte des Bismarck’schen ›Kulturkampfes‹ und des heraufziehenden Antisemitismus, wobei innerstädtische und regionale machtpolitische Konflikte ineinander greifen. Ex negativo wird deutlich, wie weit Metropole, Provinz und Welt im späten 19. Jahrhundert schon vernetzt sind und darin einer Neudefinierung bedürfen. Wie unterschiedlich die Globalisierungs- und Modernisierungsdynamik allerdings von den Autoren des Realismus aufgefasst wird, das zeigt noch einmal pointiert Jeffrey L. Sammons’ Abschlussbeitrag »Vom Nebeneinander zur Durchkomponierung: Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Karl Gutzkows ›Die neuen Serapionsbrüder‹ und Friedrich Spielhagens ›Sturmflut‹«, zweier 1877 fast gleichzeitig erschienener Gründerzeitromane. Beide machen die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, die das Ende der Gründerzeit markiert, zum Gegenstand panoramatischer Gesellschaftsdarstellung und Zeitkritik, in der die vielgestaltigen Verflechtungen von Metropole, Provinz und überseeischer Welt deutlicher hervortreten, und beide zielen auf eine Rettung bürgerlich-liberaler Grundüberzeugungen. Gleichwohl zeigen sich markante Unterschiede sowohl in der politisch-sozialen Darstellung – Industrie und Arbeiterklasse werden von Spielhagen überraschenderweise genauer dargestellt als von Gutzkow, die koloniale Welt spielt bei Gutzkow praktisch keine Rolle – als auch in Erzähltechnik und Poetologie. Sammons’ Vergleich belegt jedoch einmal mehr, dass Autoren des einstigen Jungen Deutschland und des Vormärzes trotz der literaturpolitischen Auseinandersetzungen des Nachmärz-Jahrzehnts in der zweiten

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Jahrhunderthälfte nicht unwesentlich zum Spektrum realistischer Schreibweisen im deutschen Sprachraum beitragen. Solche Mehrsträngigkeit wird aber auch von Akzentverschiebungen im Laufe der Jahrzehnte begleitet, in denen das realistische Paradigma dominiert. Es gilt: Hinsichtlich der Raumsemantik realistischen Erzählens führen die Beiträge dieses Bandes vor Augen, wie der notwendige Versuch, das spezifische Raummodell ›des (bürgerlichen/poetischen) Realismus‹ herauszuarbeiten, durch phasenund autorspezifische Differenzierungen ergänzt werden muss, die sich im Einzelfall durchaus kontrapunktisch zum dominanten Diskurs verorten können. Zum Abschluss danken die Herausgeber allen, die zum Gelingen der Berliner Tagung und zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen haben. Unser Dank gilt den Referenten und Referentinnen, Beiträgerinnen und Beiträgern, aber auch den Vorständen der Fontane- und RaabeGesellschaften, die die Organisation und Finanzierung der Tagung und dieses Bandes ermöglicht haben. Er gilt darüber hinaus der HumboldtUniversität zu Berlin für die Kooperation, den Helfern und Helferinnen aus dem Mitgliederkreis, die für den reibungslosen und angenehmen Ablauf der Tagung gesorgt haben, und Christine Henschel für die Satzbearbeitung des Buchmanuskripts. Roland Berbig, Dirk Göttsche im Januar 2013

I. Metropole, Provinz und Welt in der Literatur des Realismus: literarhistorische und systematische Perspektiven

»Tom Jensen war in Indien« Die Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten in der Literatur des Realismus Dirk Göttsche

In seiner Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts nennt der Historiker Jürgen Osterhammel (neben Emanzipationstendenzen und neuen Hierarchisierungen) drei Grundmerkmale des Zeitalters, die in der zweiten Jahrhunderthälfte im Zuge der epochalen »Verwandlung der Welt« zur Neuvermessung des Raumes beitragen: »asymmetrische Effizienzsteigerung« vor allem in den Bereichen »Wirtschaft, Militär und Staat« in dem sich herausbildenden Zusammenspiel von Industrialisierung, Nationalstaatenbildung und Imperialismus; beschleunigte und »gesteigerte Mobilität« im Zuge der Entstehung eines globalen Transport-, Kommunikations- und Handelssystems samt »sprunghaft« gewachsener »menschlicher Mobilität« und beispielloser transkontinentaler Migration; und schließlich »asymmetrische Referenzverdichtung« durch die »Zunahme interkultureller Wahrnehmungen und Transfers«, wobei der koloniale Imperialismus »[a]n die Stelle einer Vielzahl modellhafter kultureller Zentren« nun den »›Westen‹ als weltweit maßstäbliche kulturelle Bezugsgröße« setzt.1 Während koloniale Globalisierung die Welt vergrößert und den Europäern zuvor unbekannte Räume erschließt, lassen die Beschleunigungen in Verkehr und Kommunikation sowie zunehmende Vernetzung die Welt zugleich schrumpfen. Seit den 1850er Jahren »dominierte [Europa] die Welt«, stellt auch Reinhard Wendt in seiner Studie Vom Kolonialismus zur Globalisierung fest; die »revolutionäre[n] Veränderungen im Nachrichten- und Verkehrswesen« machten erstmals »[d]ie ganze Welt […] tendenziell zu einem Erfahrungsraum […], und mehr Menschen als in früheren Perioden hatten die Möglichkeit, ihn zu nutzen und sich in ihm zu bewegen«.2 _____________ 1 2

Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1286–1300. Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 2007, S. 221, 224, 287 (Hervorhebungen D. G.).

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Diese Refiguration und Dynamisierung des Raumes geht einher mit einer Intensivierung des Welthandels und einer Professionalisierung und Popularisierung kolonialer Wissensdiskurse, die ›die Welt‹ auch im deutschsprachigen Europa bis an den »häuslichen Herd«3 tragen – sei es in der Form von Kolonialwaren, Erfahrungsberichten oder im medialen Format der erfolgreichen Familienzeitschriften, von Gutzkows Unterhaltungen am häuslichen Herd über die Gartenlaube und Über Land und Meer bis zu Westermanns Monatsheften. Die untergründigen, als Naturmysterium eingeführten, aber politisch interpretierten »Weltbeziehungen« (HFA I/5, S. 135) des Stechlin-Sees in Fontanes gleichnamigem Roman (1898)4 und das Motto-Zitat in Raabes historischem Roman aus dem Siebenjährigen Kriege, Das Odfeld (1888), »[d]aß, wenn über die Grenzen am Oronoco Zwist entstand, er in Deutschland mußte ausgemacht, Canada auf unserm Boden erobert werden« (BA 17, S. 6), exemplifizieren in unterschiedlicher Akzentuierung das neue Welt- und Raumbewusstsein auch der Autoren des deutschen Realismus. Die Fontane- und Raabe-Forschung der vergangenen zwanzig Jahre hat bereits herausgearbeitet, wie intensiv sich diese beiden Autoren mit den sozio-kulturellen Umbrüchen auseinandersetzen, die sich aus dem radikalen Wandel der Lebenswelt im Zeichen beschleunigter Modernisierung und aus der »Perspektivausweitung von europäischen, deutschen und regionalen auf überseeische, weltweite Räume«5 im Zeitalter kolonialer Expansion ergeben.6 An diese Vorarbeiten anschlie_____________ 3 4

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Siehe Karl Gutzkows Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd (1852–1864). In der Erzählerrede des Eröffnungskapitels »regt sich’s auch hier« in der Brandenburger Provinz, wenn »weit draußen in der Welt« Naturkatastrophen passieren (HFA I/5, S. 7), die Figuren interpretieren die untergründigen »Weltbeziehungen« des Stechlin-Sees aber als »Anpochen derartiger Weltereignisse« wie »Revolutionen« (HFA I/5, S. 28) oder erklären den See gar »für einen richtigen Revolutionär« (HFA I/5, S. 54). Zur Deutungsgeschichte des Motivs siehe Eda Sagarra, ›Der Stechlin‹. Roman. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 662–679, hier S. 673f.; Günter Häntzschel, Die Inszenierung von Heimat und Fremde in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 157– 166, hier S. 157. Florian Krobb, Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt, Würzburg 2009, S. 10. Siehe zu Raabe z. B. Peter J. Brenner, Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und Verfremdung der Heimat in Raabes ›Abu Telfan‹. In: JbRG (1989), S. 45–62; Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000; John Pizer, Wilhelm Raabe and the German Colonial Experience. In: Todd Kontje (Hrsg.), A Companion to German Realism 1848–1900, Rochester 2002, S. 159–181; Dirk Göttsche, Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. In: JbRG (2005), S. 53– 73; Patrick Ramponi, Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefanie Kugler (Hrsg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 17–59; Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives, London 2009; Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5). – Zu Fontane siehe z. B.

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ßend, versuche ich im Folgenden noch einmal spezifischer der Frage nachzugehen, wie sich die Werke des deutschen Realismus mit der »asymmetrischen Referenzverdichtung« in einem zunehmend globalen »Erfahrungsraum« sowie mit der sprunghaft gewachsenen Mobilität und Migration ihrer Zeit auseinandersetzen. Angesichts der Grundierung realistischer Poetologie in idealistischer Ästhetik und bürgerlichem Selbstverständnis geht es dabei auch um die Frage, inwieweit postkoloniale und interkulturelle Lektüren das von Gerhard Plumpe erneuerte Urteil revidieren, »[d]ie Phänomene der sich modernisierenden Lebenswirklichkeit gingen kaum als Themen« in die Literatur des Realismus ein; diese verharre vielmehr »in traditionale[n] Orientierungsformen«.7 Im Anschluss an Karl S. Guthkes Studien zur »Erfindung der Welt«8 hat Florian Krobb dagegen für Raabe gezeigt, dass in dessen Werk »die Globalisierung« und der populäre »Übersee-Diskurs« der Zeit »die Motive bereit[stellen], gesellschaftlichen Wandel als Krise ins Bild zu setzen«.9 Patrick Ramponis These eines »›weltläufigen Provinzialismus‹« in der »literarische[n] Epistemologie« des Realismus nimmt auf gleicher Grundlage eine vermittelnde Position ein, der zufolge sich realistisches Erzählen »den Verstrickungen Deutschlands in ein globales Empire dezidiert von der kontinentalen Peripherie her nähert, sie von der Provinz her kartiert und gleichermaßen lokalen Patriotismus wie globalen Kosmopolitismus verhandelt«.10 Diese Diskussion aufgreifend, soll im ersten Teil des Aufsatzes anhand von Keller, Storm, Fontane, Raabe und Jensen un_____________

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Peter Utz, Effi Briest, der Chinese und der Imperialismus. Eine ›Geschichte‹ im geschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 212–225; Reinhard Finke, ›...der Äquator läuft ihnen über den Bauch.‹ Namen und Geschichten zu Afrika in Fontanes ›Effi Briest‹ und anderswo. In: Bettina Gruber und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, Würzburg 1999, S. 297–313; Dietmar Storch, ›… unterm chinesischen Drachen … Da schlägt man sich jetzt herum‹. Fontane, der Ferne Osten und die Anfänge der deutschen Weltpolitik. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, 13.–17. September 1998 in Potsdam, Würzburg 2000, S. 113–128; Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde (wie Anm. 4), S. 212–228; Claudius Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor. Der Kolonialdiskurs und das Hirngespinst vom spukenden Chinesen in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 544–563. Gerhard Plumpe, Einleitung. In: Edward McInnes und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890 (= Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München 1996, S. 17–83, hier S. 26. Karl S. Guthke, Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur, Tübingen 2005. Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 24. Ramponi, Orte des Globalen (wie Anm. 6), S. 20, mit begrifflichem Bezug auf H. Glenn Penny und Matti Bunzl (Hrsg.), Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003.

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tersucht werden, wie realistische Texte sich thematisch-motivisch der Neuvermessung des zunehmend globalisierten Raumes im 19. Jahrhundert stellen. Der Blick richtet sich auf drei paradigmatische Aspekte der Relationierung europäischer und außereuropäischer Welten: den kolonialen Überseehandel und den transatlantischen Kapitalmarkt; menschliche Mobilität in der Form von Auswanderung, beruflicher Mobilität und Heimkehr – im realistischen Erzählen ein zentraler Chronotopos11 der kritischen Reflexion beschleunigter Modernisierung –; und schließlich, in Umkehrung des hegemonialen Blicks von Europa auf die Welt ›draußen‹, das Phänomen kolonialer Transkulturalität im eigenen Raum, das insbesondere in postkolonialer Perspektive von Interesse ist. Die Frage nach der Darstellungsfunktion solch thematisch-motivischer Verarbeitung kolonialer Globalisierungserfahrungen führt im zweiten Teil der Studie dann zur Diskussion der diskursiven Modellierung des Verhältnisses von ›Deutschland‹ und außereuropäischer ›Welt‹ in den ›mental maps‹12 des Realismus. Ist realistisches Erzählen, wie Gerhard Plumpe schreibt, wesentlich durch »das imaginative Durchspielen und Variieren von Wirklichkeitskonstruktionen, die die Gesellschaft ernsthaft beschäftigen«,13 geprägt, also durch eine reflexive Distanz zu den fraglichen Modernisierungs- und Globalisierungsphänomenen, so brechen sich die literarischen Modellierungen der neuen »Weltbeziehungen« – wie zu zeigen sein wird – in der Konkurrenz und Interferenz unterschiedlicher Diskurse zum Verhältnis von Eigenem und Fremdem, Nähe und Ferne. Bei aller Konstanz durch fünf Jahrzehnte des bürgerlichen oder poetischen Realismus hindurch sind im Übrigen nicht nur autorspezifisch unterschiedliche Modellierungen des neuen globalen Erfahrungsraumes zu berücksichtigen, sondern auch signifikante Verschiebungen zwischen den 1850er und 1890er Jahren. Konnte Raabe etwa in seinem Roman Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) trotz genauer Bezugnahme

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Siehe Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegener. Aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt am Main 1989, S. 7. Der Begriff ›mental maps‹ hat sich zur Analyse topographischer, kulturgeographischer und geopolitischer Vorstellungen mittlerweile interdisziplinär eingebürgert, wenngleich in unterschiedlicher Akzentuierung in der Geographie, der Geschichtswissenschaft, der Psychologie und den Kulturwissenschaften; vgl. einführend z. B. Peter Gould und Rodney White, Mental Maps. 2. Aufl., London 1992; Sabine Damir-Geilsdorf, Angelika Hartmann und Béatrice Hendrich (Hrsg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005. Edward McInnes und Gerhard Plumpe, Vorbemerkung. In: Dies. (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit (wie Anm. 7), S. 7–15, hier S. 7.

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auf den Bau des Suezkanals und koloniales Afrika-Wissen14 noch das weithin modellhafte Afrika des Kritischen Exotismus satirisch gegen die sächsische Heimat des Protagonisten ausspielen, so bedurfte es in Stopfkuchen (1891) 24 Jahre später eines realen südafrikanischen Siedlungsraumes für den Heimkehrer Eduard. Mit wachsendem Wissen über die außereuropäischen Welten verändern sich im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte die Maßstäbe realistischer Darstellung, und der Übergang von nichtstaatlicher deutscher Beteiligung an europäischen Kolonialprojekten zum Kolonialimperialismus des Deutschen Reiches verschiebt in den 1880er Jahren auch die historisch-politischen Parameter der Raumerfahrung. Reinhard Finke hat mit Blick auf die genauen kolonialen Anspielungen in Fontanes Effi Briest (1895) in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass »Afrika [in der Phase aktiver Kolonialpolitik] nicht mehr jener poetische Kontinent [war], den man vor allem auf dem Pegasus erreichte«.15 Es ist daher auch kein Zufall, dass der Horizont der außereuropäischen Welt in dem zehn Jahre älteren Roman Graf Petöfy (1884) im nostalgisch romantisierenden Rückblick auf die Handelsbeziehungen einer Ostsee-Hansestadt evoziert wird (HFA I/1, S. 743f.), die das dargestellte Österreich-Ungarn provinziell wirken lässt, während später in Effi Briest und den Poggenpuhls (1896) der neue Raum des Kolonialimperialismus konkrete Karriereoptionen eröffnet, die allerdings als Fluchtwege diskreditiert sind.16 Im Stechlin schließt das Bewusstsein für die Revolutionen im »moderne[n] Leben« gleich nach der als dominant gesetzten sozialen Frage in diesem Sinne die weltpolitischen Spekulationen ein, »[o]b es gelingt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf aufwacht und, seine Hand erhebend, uns und der Welt zuruft: ›Hier bin ich‹« (HFA I/1, S. 142). Obwohl die Autoren des Realismus der kolonialen Expansion und insbesondere dem Kolonialimperialismus des Deutschen Reiches weithin kritisch gegenüberstanden,17 _____________ 14

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Siehe Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 178–198; Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 103–131. Finke, ›der Äquator läuft ihnen über den Bauch‹ (wie Anm. 6), S. 300. Siehe Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest (wie Anm. 6), S. 213, der ab ca. 1884 in Fontanes Werk vermehrte Bezüge auf »Wissen aus den Kolonien« feststellt. Die kolonialismuskritische Linie in Raabes Werk, von Sankt Thomas bis Stopfkuchen, ist unübersehbar; siehe zusammenfassend Pizer, Wilhelm Raabe and the German Colonial Experience (wie Anm. 6); Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 29, 224f. Für Fontane wird immer wieder auf ein Briefzitat vom 26.10.1897 verwiesen – »Die ganze Kolonialpolitik ist ein Blödsinn: ›Bleibe zu Hause, und nähre dich redlich.‹« (HFA IV/4, S. 671) – sowie auf den Seitenhieb auf Carl Peters und die deutsche Ostafrika-Politik in einer Bemerkung des Superintendenten Koseleger im Stechlin: »Bedenken Sie, was wir neuerdings in unsern Äquatorialprovinzen erlebt haben. Die Zivilisation ist noch nicht da, und schon haben wir ihre Greuel.« (HFA I/5, S. 325) Siehe Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im

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setzten sie sich sehr genau mit diesem prägenden Aspekt der Zeitgeschichte auseinander. Zugleich zeigen »kontrapunktische Lektüren« im Sinne Edward Saids18 jedoch auch, dass ihre Kolonialismuskritik sie nicht notwendig aus den kolonialen Diskursen und Wahrnehmungsmustern ihrer Zeit befreit. 1.

Kolonialer Handel und Gründerzeitkritik

Die Rolle christlicher Missionare als Pioniere kolonialer Expansion19 wird im Erzählen des Realismus nur gestreift, beispielsweise wenn Wilhelm Raabe in seiner Novelle Sankt Thomas (1866) über einen westafrikanischen Nebenschauplatz des spanisch-niederländischen Krieges von 1599 einen niederländischen Pastor vom Repräsentanten des kolonialen Bundes zwischen ›Bibel und Schwert‹ zum Fundamentalkritiker der »europäischen Kolonialexpansion« sich wandeln lässt und dessen antikolonialem Schlussmonolog, wie Florian Krobb gezeigt hat, in entschiedener »Umkehr der kolonialen Logik« eine fiktive afrikanische Stimme zur Seite stellt.20 Auch die Abenteuer der Entdeckungsreisen, eines der großen populären Themen im Zeitschriften- und Buchmarkt der zweiten Jahrhunderthälfte,21 finden in der Erzählkunst des Realismus erstaunlich wenig Resonanz. Eine der wenigen Ausnahmen, Wilhelm Jensens Erzählung Unter heißerer Sonne (1869), schickt seinen deutschen Protagonisten zwar in der Nachfolge Alexander von Humboldts als naturwissenschaftlichen Touristen in den venezolanischen Urwald am Orinoko, verschiebt die Thematik jedoch charakteristischerweise in die erotische Begegnung mit der exotischen Fremde – hierauf wird zurückzukommen sein – und unterlegt die Antithetik der Räume mit deutsch-venezolanischen Handelsbeziehungen.22 In der Tat ist der Überseehandel jener Aspekt der kolonialen Globalisierung, der die Erzähler des Realismus neben dem Auswanderungsthema am meisten interessiert, während die Durchsetzung deutscher _____________

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Hause Briest (wie Anm. 6), S. 222–225; Hans Otto Horch, ›Christlich Kulturelles‹ als Camouflage. Theodor Fontanes antikolonialistische Ballade ›Die Balinesenfrauen auf Lombok‹. In: Helmut Scheuer (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane, Stuttgart 2001, S. 247–258. Edward Said, Culture and Imperialism, London 1994, S. 78; siehe Axel Dunker, Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008. Siehe Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005, S. 91–107. Florian Krobb, ›Wohin soll ich fliehen vor den Gespenstern, so mich folgen?‹ Fremderfahrung, Selbsterkenntnis und Kolonialismuskritik in Wilhelm Raabes Erzählung ›Sankt Thomas‹. In: Hermann Rasche und Christiane Schönfeld (Hrsg.), Denkbilder – Festschrift für Eoin Bourke, Würzburg 2004, S. 138–148, hier S. 139, 145f. Siehe Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus (wie Anm. 14). Siehe Wilhelm Jensen, Unter heißerer Sonne, Berlin: Ullstein o. J. [1869].

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Kolonialherrschaft in Übersee nach 1884 erst von den jüngeren Autoren der Kolonialliteratur seit den 1890er Jahren thematisch aufgegriffen wird.23 Das zunehmend globale Zusammenspiel von Überseehandel, eurozentrischer Wirtschaftsstruktur, Modernisierung und bürgerlichem Wohlstand im 19. Jahrhundert ist der wohl offensichtlichste Bereich für »kontrapunktische Lektüren« des literarischen Kanons, die im Sinne Edward Saids die kolonialgeschichtliche Grundierung auch solcher Texte aufweisen, die kein ausdrücklich koloniales Thema entfalten. In seinem realistischen Programmroman Soll und Haben (1855) konnte Gustav Freytag den Handel mit Kolonialwaren noch gegen die industrielle Modernisierung ausspielen, indem er das vormärzliche Kontor und transkontinentale »Warengeschäft« des Kaufmanns Schröter als Modell bürgerlicher Weltordnung idealisierte.24 Dagegen hat »die beschleunigte Mobilisierung von Ressourcen über Staats- und Zivilisationsgrenzen hinweg«25 mit der Gründerzeit und deren Krise ihren romantischen Glanz verloren; die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandene Verflechtung der deutschen, österreichischen und Schweizer Wirtschaft im transkontinentalen Warenund Kapitalverkehr einer globalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung rückt kritischer in den Blick. Gottfried Kellers Zeitroman Martin Salander (1886), der in diesem Sinne Entwicklung und Krise der Gründerzeit reflektiert,26 ist zugleich eines der deutlichsten Zeugnisse für das prekäre Bewusstsein der Abhängigkeit bürgerlichen Wohlstands von der transatlantischen Vernetzung von Produktion und Kapital und der expandierenden kolonialen Infrastruktur – ganz unabhängig von der Frage eigener Kolonien. Zweimal muss der zum Importkaufmann aufgestiegene Lehrer Martin Salander in den 1860er Jahren nach Brasilien gehen, das erste Mal sogar für sieben Jahre, um die existenzbedrohenden Vermögensverluste durch die Schwindelgeschäfte seines vermeintlichen Freundes Louis Wohlwend auszugleichen und die Zukunft seiner Familie zu sichern.

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Siehe z. B. Joachim Warmbold, Germania in Africa. Germany’s Colonial Literature, New York/Bern 1989; Stefan Hermes, ›Fahrten nach Südwest‹. Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904–2004), Würzburg 2009. Die Ausnahme bildet wiederum Wilhelm Jensen mit seinem historischen Kolonialroman Brandenburg’scher Pavillon hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit (1902). Siehe Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern, München 1977, S. 56; siehe Christine Achinger, Gespaltene Moderne. Gustav Freytags ›Soll und Haben‹. Nation, Geschlecht und Judenbild, Würzburg 2007, v. a. S. 295–301; Ramponi, Orte des Globalen (wie Anm. 6), S. 40f. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 1), S. 1291. Siehe Dirk Göttsche, Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 725–727.

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Dirk Göttsche

Wohlwends dreimalige Betrugsintrigen, Salanders Naivität und die Welle der »Veruntreuungen und Bestechlichkeiten«,27 in die auch Salanders gierige Schwiegersöhne Isidor und Julian Weidelich verstrickt sind, indizieren zwar die moralische und satirische Ausrichtung von Kellers Kritik an dem Wirtschaftswachstum und der Aufsteigermentalität der Gründerzeit; hier steht die Schweiz kaum besser da als der Abenteuerraum Brasilien mit seiner betrügerischen »atlantische[n] Ufer-Bank«,28 die bezeichnenderweise auch noch mit dem »Wirtschaftskriminelle[n]« Wohlwend29 zusammenarbeitet. Die gehäuften Betrugsmotive zeigen aber auch, dass im globalisierten Raum des Kolonialzeitalters die wohlfeile Antithese zwischen gesicherter ›Heimat‹ und gefährlicher ›Welt‹ kollabiert.30 Zwar sträubt sich der Roman gegen die normativen Konsequenzen dieser Globalisierung: Es sind die Betrüger, wie die Weidelich-Zwillinge, die »drüben, überm Meere« »eine neue Welt« erhoffen, während Salander sich ausdrücklich nicht als »Auswanderer« sieht und »das Abenteuer des Werdens« in der »neue[n] Welt jenseits des Meeres« zugunsten des Engagements für »unsere Volksentwicklung auf dem alten Boden« verwirft;31 auch sein Sohn Arnold, Symbolfigur einer besseren Bürgerlichkeit jenseits der Gründerzeit,32 befindet nach seinem eigenen Brasilien-Aufenthalt, »es [sei] doch am besten in der Heimat«.33 Dennoch aber beruhen Wohlstand, Ansehen und Karriereoptionen der Familie, sogar Marie Salanders ergänzender Kleinhandel mit Zigarren und »Paraguay-Tee«, auf ihren Unternehmungen in einem unabhängigen Brasilien, das gleichwohl den »Kolonien« zugerechnet wird.34 Im Übrigen zeigt der Roman schlaglichtartig sehr genau den zeittypischen Übergang vom reinen Warenimporthandel zur »direkte[n] Kontrolle über die Urerzeugung in Plantagen«,35 verbunden mit anderen Investitionen in die Infrastruktur des eurozentrischen Welthandels. Muss Salander bei seinem ersten Brasilien-Aufenthalt zunächst auf abenteuerliche Weise _____________ 27

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Gottfried Keller, Sieben Legenden. Das Sinngedicht. Martin Salander. Hrsg. von Dominik Müller (= Sämtliche Werke in 7 Bdn., hrsg. von Thomas Böning et al., Bd. 6), Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1991, S. 623. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 401. Dominik Müller in seinem Kommentar zu Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 1131. Vgl. zum Heimat-Diskurs grundsätzlich: Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman, Heimat – A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture, 1890–1990, Oxford 2000. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 654, 400, 441. Vgl. Kellers Entwurfsnotiz: »Sal. ist der Zustand der Gegenwart. / Arnold. Zukunft.« (Keller, Martin Salander [wie Anm. 27], S. 1075). Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 684. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 445, 444. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 1), S. 1034.

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»in den Kolonien herum hausieren« und wird abermals betrogen, so baut er sich dort dann »mit Kauf und Verkauf« ein Binnenhandelsnetz auf, aus dessen »Verbindungen« er beim zweiten Aufenthalt einen dauerhaften, wenngleich nicht näher detaillierten transatlantischen Kolonialwarenhandel entwickeln kann, den er und sein Sohn durch den Ankauf von »Pflanzland« absichern.36 So wird die Schweiz zum eigenen Vorteil in das System des europäischen Kolonialismus integriert, ohne durch einen »schrecklichen Kriegszug [...] nach Asien oder Afrika«, wie Marie Salander ihn satirisch an die Wand malt, »Arbeitssklaven« rekrutieren oder eigene Kolonien erobern zu müssen, um den Wohlstand der Schweizer Demokratie sicherzustellen.37 Kolonialismus und ein sich globalisierender Wirtschaftsraum sind unmittelbar mit »dem Zentralthema des Romans, der sozialen Mobilität«,38 verbunden. Auch Fontane thematisiert die wachsende ökonomische Bedeutung der kolonialen Verflechtung, durch die ›Heimat‹ und ›Welt‹ in neuer Qualität zueinander in Beziehung treten. In Graf Petöfy sind »der türkische Halbmond oder der chinesische Drache« (HFA I/1, S. 743) auf den Handelsvertretungen der entsprechenden Länder in der Ostsee-Heimatstadt der preußischen Burg-Schauspielerin Franziska Franz noch wenig mehr als ein nostalgisches Fenster zur Welt. In Unwiederbringlich (1891) wird die Bedeutung des Überseehandels für den Wohlstand der dargestellten dänischen Gesellschaft greifbarer. Im Motiv der »Chinafahrer« (HFA I/2, S. 639), zu denen der Schwiegersohn von Graf Helmuth Holks Kopenhagener Vermieterin Hansen ebenso gehört wie deren verstorbener Ehemann, und im Pendelverkehr dieser Kaufleute »zwischen Singapor und Shanghai« (HFA I/2, S. 640) greift Fontane »die fortdauernde Bedeutung der Kaufleute« als »die wichtigsten Verflechter der globalen Wirtschaft« auf.39 Leitmotivische Funktion für die Kritik des Romans an aristokratischer Kultur gewinnt aber bezeichnenderweise das assoziierte Nebenmotiv der »wundervolle[n] Geschichte von dem Kaiser von Siam« in Bangkok, der die Schönheit der jüngeren Brigitte Hansen »mit märchenhaften Huldigungen und Geschenken« gewürdigt haben soll (HFA I/2, S. 677, siehe S. 643–645, 660, 700, 743). Holks Zweifel, »ob er die Geschichte glauben […] solle« (HFA I/2, S. 645), rückt das China dieses Romans trotz der Handelsthematik noch einmal in den Raum exotischer Phantasie. Auch in Effi Briest wird die ökonomische Dimension der »Chinafahrer«, hier des Kapitäns Thomsen (HFA I/4, S. 84), überlagert durch die exotis_____________ 36 37 38 39

Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 588, 401, 442. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 569. Dominik Müller in seinem Kommentar zu Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 1130. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 1), S. 1031.

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tisch inszenierte Spuk- und Angst-Thematik um den im pommerschen Kessin verstorbenen Chinesen.40 Dagegen führt Fontanes Gründerzeit-Roman Frau Jenny Treibel (1892) nicht nur in die gleiche Welt bürgerlicher Aufstiegsmobilität wie Kellers Martin Salander, sondern reflektiert auch den Zusammenhang von Kolonialhandel, Industrialisierung und bürgerlichem Wohlstand in einem Figurenpanorama, das mit ironischer Spitze die Beziehungen und Reibungen zwischen Bildungsbürgertum, Berliner Klein- und Wirtschaftsbürgertum und Hamburger Patriziat porträtiert. Wenn die Schwiegertochter des Berliner Fabrikanten Treibel mit Hamburger Patrizierstolz »Material- und Kolonialwaren« gegeneinander ausspielt und in komischer Arroganz darauf pocht, dass die »Schiffe« ihrer mütterlichen Familie »schon nach Messina [gingen], als deine Mutter [die Mutter ihres Ehemanns Otto Treibel] noch in dem Apfelsinenladen [ihrer Eltern, D. G.] spielte« (HFA I/4, S. 380), so ruft der Roman auf klein- wie großbürgerlicher Stufe die Begründung deutschen Wohlstands und sozialen Aufstiegs durch die koloniale Expansion ins Bewusstsein. Die wachsende Bedeutung des kolonialen Raumes im späteren 19. Jahrhundert wird in der Generationenkonstellation zudem noch einmal dadurch gespiegelt, dass dem erfolgreichen Fabrikanten Treibel in seinem ältesten Sohn Otto ein Importkaufmann »von der höheren Observanz« zur Seite steht, der mit lateinamerikanischen »Farbehölzer[n], Fernambuk- und Campecheholz« handelt (HFA I/4, S. 309) – Materialien, die für Luxusmöbel ebenso Verwendung fanden wie in der Farbstoffgewinnung. Durch den englischen Gast und Geschäftspartner Nelson wird darüber hinaus die imperiale Konkurrenz zwischen Deutschland und Großbritannien zum Thema, während in dem bildungsbürgerlichen Kreis um den Gymnasiallehrer Wilibald Schmidt der pensionierte Gymnasialdirektor Distelkamp mit seiner Faszination durch den »modernen Aristokratismus« des Fürsten Pückler-Muskau und dessen »märchenhafte, von ›Semilassos Weltfahrten‹ mit heimgebrachte Abessinierin« (HFA I/4, S. 363) die Omnipräsenz kolonialer Kultur in der Gründerzeitgesellschaft vor Augen führt. Über die Allgegenwart von Kolonialwaren wie Tabak, Kaffee, Rum usw. in den Texten des Realismus hinaus ist dies – wie das Reden über »Datteln« (HFA I/4, S. 437), »Curry-Powder und Soja« (HFA I/4, S. 413), »Crème de Cacao« (HFA I/4, S. 418) oder den Treibel’schen Kakadu – in Frau Jenny Treibel eines von vielen Beispie_____________ 40

Vgl. zu diesem viel diskutierten Motiv Judith Ryan, The Chinese Ghost. Colonialism and Subaltern Speech in Fontane’s ›Effi Briest‹. In: Williams C. Donahue und Scott Denham (Hrsg.), History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke, Tübingen 2000, S. 367–384; Storch, ›unterm chinesischen Drachen‹ (wie Anm. 6), S. 115; Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor (wie Anm. 6), S. 548f.

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len für die dialogische Reflexion der vergrößerten kolonialen Welt in der Gesprächskunst von Fontanes Romanen.41 Abgründiger und schärfer fällt die literarische Kritik des gründerzeitlichen Zusammenspiels von Kolonialismus, industrieller Modernisierung und Kapitalismus in Raabes Novelle Zum wilden Mann (1874) aus, dem zweifellos am häufigsten interpretierten Raabe-Text der vergangenen fünfzehn Jahre.42 Obwohl auch der scheinbar so bescheidene Apotheker Philipp Kristeller mit seinem gleichnamigen Magenbitter und dessen Annoncierung »in den Zeitungen« bereits einen Handel »durch ganz Deutschland ins Unermeßliche« treibt (BA 11, S. 232, 175), ist der Repräsentant kolonialer Globalisierung sein vermeintlicher Jugendfreund August Mördling, der als »Kaiserlich Brasilianischer Gendarmerieoberst« »Dom Agostin Agonista« (BA 11, S. 200, 216) gezielt nach Deutschland zurückkehrt, um jenes Erbe wieder einzutreiben, das er dem jungen Kristeller dreißig Jahre zuvor als Startkapital zur Familien- und Geschäftsgründung überlassen hatte. Dieser zum »Abenteurer« (BA 11, S. 233) mutierte Exilant der bürgerlicher Ordnung erklärt seine Schenkung, die von Kristeller und seiner noch vor der Hochzeit verstorbenen Verlobten nur als »Darlehn« akzeptiert worden war (BA 11, S. 197), nun rückwirkend zu einem Kredit, den er mit den »Zinsen seit dreißig Jahren« zurückfordert (BA 11, S. 245); aus 9.500 Talern werden »zwölftausend« (BA 11, S. 196, 255), die Kristeller ruinieren. Diese Umkehr des internationalen Kapitalflusses – in Kellers Martin Salander fließen die kolonialen Erträge im Wesentlichen doch in die Schweiz – ist an sich schon eine Provokation der bürgerlichen Ordnung und der vermeintlichen Überlegenheit Europas über den kolonialen Raum in Übersee. Ironischerweise begründet Agonista alias Mördling seine Forderung mit einer Travestie bürgerlicher Lebensplanung, nämlich der Absicht, das Soldatenleben aufgeben, in Brasilien »eine Hazienda kaufen« und sich endlich verheiraten zu wollen, und zwar mit einer weiteren deutschen Emigrantin, der reichen Witwe Julia Fuentalacunas, die »jung als Julchen Brandes von Stettin nach Rio« kam (BA 11, S. 234).

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Siehe Ramponi, Orte des Globalen (wie Anm. 6), S. 23f.; Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest (wie Anm. 6), S. 213, wo solche Motive als »Wissen aus den Kolonien« zusammengefasst sind. Siehe die Literaturliste in Anmerkung 1 des Aufsatzes von Michael Dobstadt, ›unter das schützende Dach dieser neuen Geschichte zu gelangen‹. Wilhelm Raabes Erzählung ›Zum wilden Mann‹ als Versuch, der Moderne literarisch beizukommen. In: Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes. Anlässlich des 100. Todestages hrsg. von Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider, Würzburg 2010, S. 19–39, sowie die Jahrbücher der Raabe-Gesellschaft der letzten Jahre.

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Ihre koloniale Note erhalten diese Motive, deren Auswanderungskritik43 der gleichen moralischen Gründerzeitkritik folgt wie in Martin Salander, durch die abenteuerliche Biographie, die aus August Mördling, dem gebildeten und verzweifelten Erben eines deutschen Henkersamtes, in der dargestellten Gegenwart der 1860er Jahre den brutalen Kapitalisten und rücksichtslosen brasilianischen Polizeisoldaten Agostin Agonista gemacht hat, der die Gewalt seines Ausgangsmilieus nun noch einmal dämonisch überbietet. Auf der Flucht vor dem ererbten Henkersamt wandert Mördling in den 1830er Jahren nach New Orleans aus und durchläuft eine abenteuerliche Marine- und Soldatenkarriere in der Karibik und diversen Ländern Südamerikas, bevor er im Dienst des Kaisers von Brasilien zu einer Hauptstütze kolonialer Gewaltherrschaft avanciert. Raabe verknüpft diese Kolonialismuskritik mit der Reflexion globaler Modernisierung, indem er Mördling zugleich als Agenten der Industrialisierung und eines transatlantischen ›Weltmarktes‹ auftreten lässt. Nicht nur verleitet er leichtgläubige Deutsche zum unkalkulierbaren Abenteuer der Auswanderung nach Brasilien; er versucht auch Kristeller als Chemiker für die industrielle Produktion von »Fleischextrakt« in Brasilien zu gewinnen, um nach dem Vorbild Justus von Liebigs den erfolgreichen Firmen in Uruguay und Argentinien »Konkurrenz« zu machen: »ich liefere dir das Vieh, und du lieferst mir den Extrakt« (BA 11, S. 235). Als Kristeller ablehnt, besteht er stattdessen auf dem »Rezept für den ›Kristeller‹«, den »Kristellerschen Magenbitter«, von dem er sich verspricht, dass die Massenproduktion »noch rentabler« sein werde (BA 11, S. 237f.). Jenseits der moralischen Sprengkraft der Figur für die soziale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland dient Agonista alias Mördling also zur Verschränkung europäischer und außereuropäischer Räume in einer neuen, zugleich kolonial und kapitalistisch organisierten transatlantischen ›Welt‹,44 aus deren Modernisierungs- und Globalisierungsdynamik es keinen einfachen Rückzug mehr gibt, nicht einmal in einem abgelegenen Harzdorf. Ein Jahrzehnt später geht Raabes Gründerzeit-Zeitroman Prinzessin Fisch (1883) in seiner Verschränkung von deutscher Provinz und kolonialer Welt insofern noch einen Schritt weiter, als zum einen Kolonialismus und Modernisierung noch enger aufeinander bezogen werden, zum anderen, stärker noch als in Kellers Martin Salander, die als bedrohlich dargestellte internationale Kapitalwirtschaft in den Mittelpunkt rückt. Indem das nach Bad Harzburg modellierte Ilmenthal des Romans in einem gründerzeitlichen Investitions- und Modernisierungsschub zum »internationa_____________ 43 44

Siehe Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 142–154. Siehe Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 133, 142.

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len ›Luftkurort‹« (BA 15, S. 194) aufsteigt, wird es zum Ziel eines »modernen Weltverkehrs«, »fremder Kulturbewegung und auswärtigen Menschengetriebes« (BA 15, S. 238, 232), die als Zeichen der »neue[n] Zeit« globale Mobilität bis in die vermeintliche einstige »Idylle« (BA 15, S. 250) tragen: »Neue Wege! Neue Gesichter! Neue Baulichkeiten!… Es geht nicht mehr von Nachbar zu Nachbar – es geht mächtig, sozusagen, von Erdteil zu Erdteil.« (BA 15, S. 247). Hervorgehobene Beispiele sind die zwielichtige Berlinerin, die nach fragwürdigen Pensionen in London und Veracruz nun in Ilmenthal zu investieren gedenkt (BA 15, S. 278), vor allem aber der pensionierte »Kaiserlich Mexikanische Kriegszahlmeister« schwäbischer Herkunft Joseph Tieffenbacher (BA 15, S. 244), der mit seiner deutlich jüngeren mexikanischen Ehefrau Romana in das einstige Elternhaus des Protagonisten Theodor Rodburg einzieht und dem Roman zugleich Gelegenheit zu kritischen Streiflichtern auf ein prominentes Beispiel imperialer Politik gibt, nämlich den vergeblichen Versuch, Maximilian von Habsburg als Kaiser von Mexiko durchzusetzen. Eigentlicher Agent der Globalisierung aber ist der aus den USA und Mexiko zurückkehrende einstige Rebell und ältere Bruder Alexander Rodburg, der »als Zeitungskorrespondent, Handelsmann und Kriegsmann« (BA 15, S. 313) Freiheit, Macht und Reichtum jenseits der engen Grenzen seiner deutschen Herkunftswelt suchte und nun die Rücksichtslosigkeit kolonialer Eroberung und Ausbeutung auf seine eigene Heimat zurückwendet. Als »Pionier im alten abgebrauchten Europa« (BA 15, S. 300) und »Eroberer vom Ilmenthal und Umgebung« (BA 15, S. 313) trägt er maßgeblich zur radikalen Umwandlung des Bergstädtchens in einen mondänen Kurort und darin zugleich zum Untergang seiner eigenen traditionalen Herkunftswelt bei. (Ich fasse meine frühere Analyse hier nur knapp zusammen.45) Die hierzu nötigen »Praktiken der Welt« hat Alexander Rodburg nicht erst in Übersee erworben, sondern dort nur perfektioniert: »alles brachte er verbessert mit, was er an Talenten und Finessen schon von uns auf den Weg mitgenommen hatte«, wie der Mentor des anfangs faszinierten Protagonisten Theodor feststellt (BA 15, S. 372). Prinzessin Fisch inszeniert das Verhältnis von deutscher Provinz und außereuropäischer ›Welt‹ also als eine Dialektik, in der nun die Heimat selbst Gegenstand gewissermaßen reimportierten kolonialen Handelns wird. Der in Zum wilden Mann bereits aufscheinende ›Boomerang-Effekt‹ der Rückkehr kolonialer Praktiken in den eigenen Raum wird nun handlungsleitend. Die vermeintliche Antithese zwischen Eigenem und Fremdem kollabiert, zumal es »das spekulative _____________ 45

Siehe Dirk Göttsche, ›Pionier im alten abgebrauchten Europa‹. Modernization and Colonialism in Raabe’s ›Prinzessin Fisch‹. In: Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives (wie Anm. 6), S. 38–51.

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Bedürfnis einheimischer Grundbesitzer, zugereister und einheimischer Kapitalisten und Streber« (BA 15, S. 194) ist, das die Investitions- und Spekulationswelle trägt. Wie Keller pointiert Raabe seine Gründerzeitkritik durch das Motiv des Finanzbetrugs moralisch; Alexander Rodburg veruntreut offensichtlich u. a. Tieffenbachers im Kolonialdienst erworbenes Vermögen und muss seine Heimatstadt daher ein zweites Mal fluchtartig verlassen. Zugleich erscheint nun die deutsche Provinz selbst als kolonialer Raum: Den »jungfräulichen Urwald und Boden unserer hiesigen Naivität« betrachtet Alexander Rodburg als erheblich lukrativer denn die Natur »drüben beim Uncle Sam«; Deutschland scheint ihm um »fünfundzwanzig Jahre« sogar hinter »Mexiko und Nicaragua« hinterherzuhinken (BA 15, S. 301), und der Lehrer Drüding sieht sich im vergeblichen Kampf gegen die »neue, glorreiche Zivilisation« umgekehrt als der »Coopersche Lederstrumpf« (BA 15, S. 302). Das satirische Motiv der Inversion kolonialer Ordnung und die angedeuteten internationalen Kapitalströme unterstreichen die scharfe Auseinandersetzung mit einer neuen globalen Wirtschafts- und Raumordnung, in der Kolonialismus und Modernisierung als zwei Seiten derselben problematischen, aber irreversiblen Entwicklungsdynamik erscheinen. Dieser neue globale Handlungs- und Erfahrungsraum wird im Leitmotiv des »Zusammenhangs der Dinge« reflektiert (BA 15, S. 230, 247, 260, 385), in dem zugleich alltagsphilosophisch die normativen Herausforderungen dieser Erweiterung und »Verwandlung der Welt« für den Einzelnen und die Gesellschaft angedeutet sind. Von einem geradezu metaphysischen Vertrauen »in den mächtigen Strom der Kapitalien, dessen Bewegung das Menschenleben erhält und verschönert«, wie Freytag dreißig Jahre zuvor in Soll und Haben schrieb,46 ist in den Gründerzeitromanen nichts mehr zu spüren. 2.

Personale Mobilität: Auswanderung – die Welt als Karriere – Heimkehr

Martin und Arnold Salanders Optionen gegen die Auswanderung und ihr emphatisches Bekenntnis »es ist doch am besten in der Heimat«47 exemplifizieren die kritische Funktion der Auswanderungsmotive in der Erzählliteratur des Realismus. In Raabes Erstlingsroman Die Chronik der Sperlingsgasse (1856) führen gleich drei Auswandererszenen – an der Weser, in einer armen Schusterfamilie der Berliner Sperlingsgasse und in der kontrapunktischen Evokation des Traumes vom Ankunftsglück in Amerika (BA 1, _____________ 46 47

Freytag, Soll und Haben (wie Anm. 24), S. 818. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 684.

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S. 148, 166f., 72) – die soziale Not vor Augen, die diese Menschen zum Verlassen ihrer Heimat treibt. Von hier aus zieht sich das Auswanderungsmotiv durch Raabes Gesamtwerk, von Die Leute aus dem Walde (1862) und Abu Telfan über Zum wilden Mann und Alte Nester (1879) bis zu Prinzessin Fisch, Stopfkuchen und Die Akten des Vogelsangs (1896), wobei es sich allerdings zugleich in charakteristischer Weise verschiebt. In Stopfkuchen geht es erstmals nicht um Amerika, sondern Südafrika als Siedlungsraum, und die in allen diesen Texten vorliegende Verknüpfung der Auswanderungsthematik mit dem Chronotopos der Rückkehr oder vollständigen Heimkehr reflektiert nicht nur die Verbesserung der transkontinentalen Reisemöglichkeiten, sondern evoziert auch emblematisch die Verschränkung der Räume in einer sich globalisierenden Welt. Das gilt für die zwielichtigen Migranten in Meister Autor, Zum wilden Mann und Prinzessin Fisch (van Kunemund, Agostin Agonista alias August Mördling, Alexander Rodburg), die als Akteure der Globalisierung charakteristisch zwischen Abenteurer, Kaufmann und Spekulant changieren, ebenso wie beispielsweise für Helene Trotzendorff und ihren Vater in den Akten des Vogelsangs; beide pendeln zwischen den USA und Deutschland, auch wenn die phantastischen Aufschwünge und Abstürze des Vaters wie der spätere märchenhafte Reichtum seiner Tochter Amerika einmal mehr als Abenteuerraum eines entfesselten Kapitalismus konturieren. Dagegen sichert der in den USA über sich hinausgewachsene »›gelehrte Bauer‹« Just Everstein in Alte Nester (ähnlich wie Martin Salander) in Amerika nur seinen heimatlichen Besitz, um – auch in Umkehr der Metapher von Amerika als der ›neuen Welt‹ – »das Alte neu [zu] machen« (BA 14, S. 96, 213). International erfahrene Figuren wie der Ingenieur Ewald Sixtus in Alte Nester stehen jenseits der Aus- und Rückwanderungsthematik dagegen für eine modernere Variante der im späteren 19. Jahrhundert sprunghaft gewachsenen Mobilität: die koloniale Welt als Karriere und beruflich bedingte Mobilität im Weltmaßstab, zwei Phänomene, die in Fontanes Porträt der wilhelminischen Gesellschaft eine eigenständigere Rolle spielen. In Effi Briest evozieren die »Gerüchte, [...] Innstetten würde als Führer einer Gesandtschaft nach Marokko gehen« (HFA I/4, S. 173), die imperiale ›Weltpolitik‹ des Deutschen Reiches, während die scherzhafte Bemerkung der Sängerin Trippelli, »die Welt sei so klein, und in Mittelafrika könne man sicher sein, plötzlich einem alten Bekannten zu begegnen« (HFA I/4, S. 267), die neue Erfahrung globaler Mobilität vorgreifend schon als Selbstverständlichkeit ironisiert. Innstettens zivilisationsmüdes Gedankenspiel einer Afrika-Karriere gibt Anlass zu satirischen Seitenhieben auf den populären Mythos der Entdeckungsreisen und die Anfänge deutscher

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Kolonialherrschaft (HFA I/4, S. 288).48 Mit diesen Spitzen folgt sein Kollege Wüllersdorf allerdings dem gleichen bürgerlichen Eurozentrismus wie Heinrich Schaumann in seinen Attacken auf die vermeintliche Überlegenheit des erfolgreichen kolonialen Emigranten Eduard in Raabes Stopfkuchen. In den Poggenpuhls veranschaulichen die schon ernsthafteren Überlegungen des 22-jährigen Leutnants Leo von Poggenpuhl, seinen Schulden durch den Dienst in »Afrika« und womöglich durch Elfenbeinhandel zu entkommen (HFA I/4, S. 505f.), die dargestellte Krise des preußischen Kleinadels im Widerspruch zwischen Standesanspruch und prekärer ökonomischer Realität. Nur eine glückliche Erbschaft rettet die Familie und bewahrt Leo vor dem ungeliebten Ausweg »nach dem Äquator« (HFA I/4, S. 576). In beiden Beispielen changiert der Afrika-Diskurs zwischen populärem Exotismus und neuer kolonialer Realität. Von dem analogen Motiv der Flucht nach Amerika in Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1890) – Bogislaw von Rexin will nicht um einer unstandesgemäßen Liebe willen »in Texas Cowboy [...] werden oder Kellner auf einem Mississippidampfer« (HFA I/2, S. 461), und Graf Waldemar von Halderns entsprechende Neuanfangspläne werden mit den gleichen Stichworten als »Lederstrumpf«-Phantasie ironisiert (HFA I/2, S. 536)49 – unterscheidet sich das Motiv der kolonialen Karriere in den Poggenpuhls durch seinen primär ökonomischen Kontext, seinen größeren Realismus und seine geringere Abgenutztheit. Aber es bleibt, anders als im Kolonialroman seit den 1890er Jahren, bei Fontane doch nur ein möglicher Fluchtweg, den die Figuren nicht wirklich beschreiten.50 Der einstige »preußische Pionierlieutnant« (HFA I/2, S. 310) von Gordon in Cécile (1886), der ebenfalls »Schulden halber« seinen Abschied von der Armee nehmen musste (HFA I/2, S. 192), fungiert dagegen geradezu als Verkörperung moderner globaler beruflicher Mobilität im Zuge der Vernetzung der Welt. Seit »Mitte der siebziger Jahre« treibt er eine erfolgreiche technische »Laufbahn« als Ingenieur für transkontinentale Telegraphenkabel in erst russischen, dann englischen Diensten voran, die ihn bereits nach Suez, an »das Rote Meer und den Persischen Golf«, nach Samarkand und bis in den Himalaya geführt hat; der Kongo ist ein mögliches weiteres Ziel (HFA I/2, S. 192, 210, 186). Nicht das Berufsbild als solches allerdings beschäftigt Figuren und Erzähler des Romans, sondern – ähnlich wie bei Raabe – die Frage nach den Rückwirkungen solcher _____________ 48 49

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Siehe Finke, ›der Äquator läuft ihnen über den Bauch‹ (wie Anm. 6), S. 302–305. Sein Onkel beantwortet Waldemars Mitteilung, »mit der Alten Welt Schicht zu machen und drüben ein anderes Leben an[…]fangen« zu wollen, mit der ironischen Alternative: »Und wenn nicht Hinterwäldler, so doch cowboy, und wenn nicht cowboy, so vielleicht Kellner auf einem Mississippidampfer. Ich gratuliere.« (HFA I/2, S. 536f.) Siehe Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest (wie Anm. 6), S. 224.

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Mobilität auf den Pionier der Globalisierung selbst sowie auf deutsche Vorstellungen von der »weite[n] Welt« (HFA I/2, S. 192), und hier ist der Befund, den die dialogische Polyperspektivität des Erzählens vorführt, durchaus zwiespältig. Einerseits wird Gordon zugeschrieben, als »Mann, der die Welt gesehen hat«, »die kleinen Vorurteile hinter sich geworfen« zu haben (HFA I/2, S. 258); wenn Céciles Ehemann St. Arnaud abfällig auf den »Durchschnitts-Gordon«, »diese[n] Kabelmann und internationale[n] Drahtzieher« schimpft, dem »das Weltfahren zu Kopfe gestiegen« sei, so spiegelt dies in erster Linie seinen verletzten Stolz (HFA I/2, S. 310, 315). Andererseits vermeidet Fontane auffällig jede Heroisierung der Figur, lässt Gordon die altmodische Institution des Duells mit tödlicher Konsequenz mitspielen und legt ihm widersprüchliche Bewertungen seiner siebenjährigen Welterfahrung in den Mund. Wo es darum geht, den Harz-Tourismus aufzuwerten, behauptet Gordon, er gebe »für dieses bescheidene Plateau sechs Himalajapässe hin« (HFA I/2, S. 215); wo er sich in neuem Aufbruch »in die Welt und in die Fremde« sieht, thematisiert er umgekehrt die menschliche Neigung, auf die Heimat »zurückblickend, das Bild für die Wirklichkeit« zu nehmen (HFA I/2, S. 297), und schreibt: »Ich liebe Weltreisen« (HFA I/2, S. 186). All dies ist »angeführte Rede« in dem von Bachtin inspirierten Sinne Norbert Mecklenburgs, dient also dem Zweck literarischer »Bewußtseinsdarstellung«.51 Grundlegender als diese jeweils kontextgebundenen Figurenaussagen ist daher die Tatsache selbst, dass das Gespräch über Gordons Biographie die »Heimat« (HFA I/2, S. 215) beständig in den Horizont einer tendenziell globalen Welt stellt, deren Verwandlung durch reale Be- und Erfahrbarkeit Gordon verkörpert. Wenn Cécile beispielsweise bemerkt, Samarkand sei »doch eigentlich bloß ein Märchen«, kontert Gordon: »Oder schreckliche Wirklichkeit« und tritt Exotismen jeglicher Art entgegen (HFA I/2, S. 164). Wenn Gordon in einem Brief an seine Schwester satirisch eine »totale Reform der Medizin« an die Wand malt, deren »Rezepte« in Zukunft »drei Wochen Lofoten, sechs Wochen Engadin, drei Monate Wüste Sahara« lauten würden (HFA I/2, S. 185), so stellt der Roman freilich auch in einer für Fontane charakteristischen Weise diesen neuen globalen Realismus wiederum in ein ironisches Licht. Auf kleinstem Raum enggeführt werden Globalisierungsthematik und Exotismus- bzw. Kolonialismuskritik in einer Passage, in der Gordon von einem »Großindustrielle[n], Vorstand einer Fabrik für Maschinenwesen und Kabeldrähte«, einer weiteren Galionsfigur der Globalisierung also, mit der Begründung eingeladen wird, seine Frau sei »passioniert für Nilquellen und _____________ 51

Norbert Mecklenburg, Figurensprache und Bewußtseinskritik in Fontanes Romanen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 65 (1991), S. 674–694, hier S. 682f.

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Kongobecken«, aber »wenn es Afrika nicht sein könne, so werde sie sich auch mit Persien und Indien zufriedengeben« (HFA I/2, S. 248f.). Die koloniale und imperiale Expansion produziert einen populären Exotismus ultimativer Abenteuer, dem gegenüber die Pragmatik der so viel revolutionäreren Verkabelung der Welt schon wieder in Rechtfertigungsnot gerät. Fontane hat das gleiche Sujet in Irrungen, Wirrungen (1888) zwei Jahre später in anderer Gewichtung noch einmal durchgespielt. Hier ist es der Amerika-Rückkehrer und erfolgreiche Fabrikingenieur Gideon Franke, der die moderne Welt der Industrialisierung und transkontinentalen Mobilität verkörpert, und zwar in entschieden ungebrochenerer Weise als Gordon. Als »ein ordentlicher und gebildeter Mann« (HFA I/2, S. 424), der »drüben in den States« »anders sehen« gelernt (HFA I/2, S. 444) und keine Scheu hat, die ehemalige Offiziersgeliebte Magdalene Nimptsch zu heiraten, verkörpert er ein neues kleinbürgerliches Selbstbewusstsein, das entschieden mit den Standesregeln des Adels bricht. Er repräsentiert in diesem Roman recht eindeutig die Zukunft, während Botho von Rienäckers ungeliebte Ehefrau als Repräsentantin der alten Adelswelt die erfolgreiche technisch-industrielle Welt ähnlich exotisiert wie die Frau des Großindustriellen in Cécile die koloniale: Sie hat »eine Passion« »für Industrielle«, »[d]enn entweder haben sie neue Panzerplatten erfunden oder unterseeischen Telegraphen gelegt oder einen Tunnel gebohrt oder eine KletterEisenbahn angelegt« (HFA I/2, S. 429). In der geselligen Konversation ist der neue globale Erfahrungsraum in erster Linie ein Faszinosum, das ästhetisiert und so re-exotisiert wird. Die zahlreichen (quasi-)kolonialen und globalen Karrieren in Raabes Romanen bleiben oft in die Topik exotischer Abenteuer oder anderweitige Darstellungsfunktionen eingebunden. Das Berufsprofil des Ingenieurs Ewald Sixtus in Alte Nester ließe sich zwar mit Gordon und Franke vergleichen, steht aber in scharfem Kontrast zu seiner Funktion als Verkörperung der Unmöglichkeit, »Verlorenes wiederzugewinnen« (BA 14, S. 173).52 Die logistische und publizistische Mitwirkung des jugendlichen ›Europamüden‹ Leonhard Hagebucher an der Vorbereitung des Suezkanals bringt in Abu Telfan zwar ein wichtiges Globalisierungsphänomen zur Darstellung, wenn der Protagonist durch »Zeitungsartikel für alle möglichen europäischen und außereuropäischen Blätter […] die öffentliche Meinung in das rechte Bett zu leiten« versucht (BA 7, S. 25). Seine anschließende Verwicklung in den ostafrikanischen Elfenbeinhandel aber führt zurück in den Raum exotischer Abenteuer, deren traumatischer Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt die persönliche Erfahrung der Sklaverei und damit die Inversion der kolonialen Ordnung ist. Sein Befreier Korne_____________ 52

Siehe Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Raabes (wie Anm. 6), S. 84.

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lius van der Mook alias Viktor von Fehleysen setzt als kolonialer Tierhändler, der »die europäischen Menagerien« mit »Löwen, Affen und andere[n] merkwürdige[n] Bestien« beliefert (BA 7, S. 29), einen weiteren kolonialismuskritischen Akzent, der jedoch nicht über die Abenteurertopik hinaus konturiert wird. Auch die transatlantischen Karrieren von Figuren wie Alexander Rodburg, van Kundemund und August Mördling verharren trotz ihrer Modernität im Resonanzraum exotischer Abenteuer; die globale Mobilität des Mentors »Hauptmann a. D. Konrad von Faber« (BA 5, S. 13) in Die Leute aus dem Walde beruht sogar noch auf dem älteren Figurentypus des Kosmopoliten. Velten Andres in den Akten des Vogelsangs setzt der globalen Mobilität die Krone auf, wenn er nach Studium und Lehre für den Berliner Bekleidungskaufmann des Beaux »als internationaler Reisender in Herrenkonfektion« Helene Trotzendorff in die USA folgt (BA 19, S. 302), mit Leon des Beaux dann »eine Reise um die Erde« unternimmt (BA 19, S. 330), »als Dolmetscher auf einem Pilgerschiff« zwischen Ägypten und Saudi-Arabien arbeitet (BA 19, S. 402) und überhaupt »in seinem kurzen Leben alles gewesen ist«, und zwar international: »Gelehrter, Kaufmann, Luftschiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungsschreiber« (BA 19, S. 318). Statt die Welt globaler Modernisierung zu repräsentieren, stellt Velten Andres sie aber radikal infrage: Er hat »es nach bürgerlichen Begriffe zu nichts [gebracht]« (ebd.) und wird durch seine materielle wie moralische »Eigentumsmüdigkeit« und sein tragisch-selbstdestruktives »Vernichtungs- und Befreiungswerk« (BA 19, S. 373, 389) zur stärksten Herausforderung bürgerlicher Ordnung und bürgerlichen Selbstverständnisses.53 In einem abgestuften Bezug zu Velten Andres’ Weg vom phantastischen »Welteroberer« über den scheiternden »Weltüberwinder« (BA 19, S. 296, 354) zum nihilistischen Repräsentanten transzendentaler Heimatlosigkeit ist es bei Raabe das Motiv der Heimkehr, das die neue globale Mobilität in reflexiver Brechung vor Augen führt und deutsche Provinz und überseeische Welten auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung setzt. Von dem frühen Roman Die Kinder von Finkenrode (1859) bis zu dem späten Fragment Altershausen (1902) dient der Chronotopos der Rück- und Heimkehr Raabe immer wieder zur Verknüpfung von Identitätsproblematik und Modernisierungskritik im Rahmen eines selbstreflexiven Erzählens.54 Durch die Verschränkung von Zeit und Raum, genauer: die Verspannung mindestens zweier, durch die Figurenerinnerung miteinander _____________ 53 54

Siehe Hubert Ohl, Der Bürger und das Unbedingte bei Wilhelm Raabe. In: JbRG (1979), S. 7–26. Siehe Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Raabes (wie Anm. 6), S. 74–80 und passim; Regina Schmidt-Stotz, Von Finkenrode nach Altershausen. Das Motiv der Heimkehr im Werk Wilhelm Raabes als Ausdruck einer sich wandelnden Lebenseinstellung, dargestellt an fünf Romanen aus fünf Lebensabschnitten, Bern/Frankfurt am Main 1984.

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kontrastierter Zeitebenen und zweier, zumeist kontrapunktisch gegeneinander gestellter Räume ermöglicht das Heimkehrmotiv dem realistischen Erzählen die konzentrierte Reflexion der sprunghaften »Mobilisierung überlieferter Lebensbestände, -verhältnisse und -regelungen«55 durch den Modernisierungs- und Globalisierungsschub der zweiten Jahrhunderthälfte. Es geht darin immer auch um die Geschichtlichkeit individuellen und sozialen Lebens, das sich nicht umkehren lässt, und die moderne »Heimatlosigkeit in der Heimat« (BA 15, S. 368), deren psychologische, soziale und moralische Sprengkraft die zurückkehrenden Auswanderer vor Augen führen. In Texten wie Zum wilden Mann, Prinzessin Fisch und Stopfkuchen verschränken die kontrapunktischen Raumkonstellationen dieses Chronotopos ausdrücklich deutsche Provinz und ›Welt‹, in der Gestalt Brasiliens, der USA und Südafrikas. In anderen Romanen (wie Abu Telfan, Alte Nester, Meister Autor und Die Akten des Vogelsangs) arbeitet Raabe mit dreipoligen Raumkonstellationen, die Orte der deutschen Provinz, Residenzstädte bzw. später die Metropole Berlin und Länder in Übersee zu symbolischen Landkarten konfigurieren. In beiden Varianten werden diese kontrapunktischen Raumkonstellationen durch kontrapunktische Figurenkonstellationen ergänzt, die – zumeist im Horizont einer Erinnerungspoetik – gegensätzliche und zunehmend unvereinbare Erfahrungs- und Betrachtungsweisen der dargestellten »Verwandlung der Welt« (Osterhammel) zur Reflexion und darin zugleich bürgerliche Werte und bürgerliches Selbstverständnis zunehmend skeptischer zur Diskussion stellen, ohne es doch je ganz aufzugeben. Dagegen wendet Wilhelm Jensen den Chronotopos der Heimkehr aus Übersee in seiner Novelle Späte Heimkehr (1877) ganz ins Sentimentale; die Amerika-Erfahrungen des Protagonisten bleiben folgenlos.56 3.

Koloniale Transkulturalität

Mit Recht sieht Ramponi »das Heimkehrer-Motiv mit seiner topologischen Bewegung von außen nach innen« als charakteristisch für das »kognitive Mapping« realistischen Erzählens.57 Rolf Parrs Beobachtung zum Werk Fontanes, »daß die ›Ferne der Welt‹ auf die ›Regionalität‹ […] der Nähe bezogen wird, und nicht umgekehrt«,58 ist im Kern verallgemeine_____________ 55 56 57 58

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. 3. Aufl., München 1993, S. 188. Wilhelm Jensen, Späte Heimkehr. Novelle. 2. Aufl., Berlin: Patel 1877. Ramponi, Orte des Globalen (wie Anm. 6), S. 30f., 33; siehe auch Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 14. Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest (wie Anm. 6), S. 216.

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rungsfähig und indiziert zugleich, wie realistisches Erzählen die von Osterhammel herausgestellte Asymmetrie in der globalen »Referenzverdichtung« des späten 19. Jahrhunderts59 literarisch spiegelt. Obwohl das Verhältnis zwischen Deutschland bzw. der Schweiz und der weiten ›Welt‹ bei Keller und Raabe stärker dialektisch gestaltet ist, bleiben die Karrieren ihrer Migranten in Übersee recht skizzenhaft; im Vordergrund stehen »die heimische Vorstellung und Konstruktion von Ferne und Fremde«60 und die Rückwirkungen der kolonialen Welt auf den Herkunftsraum. Gleichwohl ist die eurozentrische Akzentuierung der symbolischen Landkarten des Realismus nicht mit Provinzialität gleichzusetzen. Ein entsprechendes weiteres Beispiel für die literarische Modellierung des neuen Weltbewusstseins bietet das Thema kolonialer Transkulturalität als einer weniger beachteten Variante »gesteigerter Mobilität«61. In Fontanes Roman Unwiederbringlich beispielsweise erzählt das Hoffräulein Ebba von Rosenberg im Gespräch mit dem Protagonisten Helmuth Holk auf einem Spaziergang bei Schloss Frederiksborg als ein Beispiel für den »Klatsch«, für den ihre gemeinsame Dienstherrin, die alternde dänische Prinzessin, sich besonders interessiere, drei Kurzanekdoten, von denen die erste unerwartete heimische Rückkopplungen kolonialer Mobilität zum Gegenstand hat: »Tom Jensen war in Indien und hat eine Schwarze geheiratet, und die Töchter sind alle schwarz, und die Söhne sind alle weiß […].« (HFA I/2, S. 723). Die Anekdote wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Weder wird mitgeteilt, in welcher Eigenschaft Tom Jensen, mutmaßlicher Bewohner des gerade besuchten dänischen Dorfes, in Indien war, noch ist angesichts seiner Heirat mit einer Schwarzen ganz klar, ob er tatsächlich in Indien war und von dort eine einstige ostafrikanische Sklavin heimgebracht hat – Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler (2006) hat erst kürzlich an das Phänomen der ›Bombay Africans‹ erinnert62 –, ob die Bezeichnung ›schwarz‹ die sehr dunkle Hautfarbe mancher Völker Südindiens und Ceylons meint oder ob Tom Jensen nicht vielmehr in Westindien war und sich in eine afro-karibische Frau verliebt hat. Darüber hinaus aber thematisieren seine Heimkehr mit einer schwarzen Ehefrau und das Kuriosum seiner ›schwarzen‹ Töchter und ›weißen‹ Söhne koloniale Migration, koloniale Anthropologie (gefiltert durch biologische Vererbungslehre) und die Präsenz Schwarzer Dänen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Der Roman registriert koloniale Transkulturalität im mittleren 19. Jahrhundert und ihren diskursiven Re_____________ 59 60 61 62

Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 1), S. 1292. Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 15. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 1), S. 1290. Siehe Ilija Trojanow, Der Weltensammler. Roman. 5. Aufl., München 2008, v. a. S. 355–364, 457–464 (Erzählstrang Sidi Mubarak Bombay).

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sonanzraum, und zwar nicht nur in den kolonialen Kontaktzonen, wo sie längst zum literarischen Topos geworden war, sondern auch in der eigenen europäischen Welt. Die Anekdote veranschaulicht also exemplarisch die epochale Verschränkung der Welten und damit auch die Tatsache, dass der koloniale Prozess nicht nur draußen in Übersee stattfand. Allerdings tut sie dies mit prononcierter Beiläufigkeit; es geht der Anekdote um europäische Wahrnehmungsmuster, nicht um die Realitäten afrikanischer Diaspora im Dänemark der 1850er Jahre. Diese indirekte Form der Reflexion kolonialer Transkulturalität scheint charakteristisch für Fontanes Umgang mit dem Thema. Das bekanntere Beispiel ist des Mohrenapothekers Alonzo Gieshübler afrikanischer »Kohlenprovisor Mirambo«, dessen stumme Rolle in Effi Briest Claudius Sittig herausgearbeitet hat.63 Gemeinsam mit dem verstorbenen Chinesen löst dieser afrikanische Migrant die (das entsprechende Motiv in Graf Petöfy variierende)64 Ankündigung Baron Innstettens ein, »in den kleinen See- und Handelsstädten« Pommerns, wie dem Schauplatz Kessin, lebten »von weither Eingewanderte«, deren Leben und Arbeit »auf die Gegenden« ausgerichtet sei, »mit denen sie Handel treiben, und da sie das mit aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung stehen, so findest du [Effi] zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt Ecken und Enden« (HFA I/4, S. 45). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Rückwirkungen dieser Weltbeziehungen auf die eigene Welt, nicht auf die außereuropäischen Räume als solche oder die Probleme kolonialer Migranten. Mirambos Versagen als Schlittenkutscher beispielsweise (HFA I/4, S. 148f., 156) bietet Anlass zur Komik, während das interessante Motiv von Gieshüblers ›unerklärlichem‹ Vertrauen in seinen afrikanischen Diener (HFA I/4, S. 148f.) nicht weiter entwickelt wird. Größere Bedeutung gewinnt das Thema kolonialer Transkulturalität bei Storm, Jensen und Raabe, bei denen es auch deutlicher auf die »Verwandlung der Welt« (Osterhammel) im Zuge kolonialer Globalisierung bezogen wird. Theodor Storm erzählt in seiner Novelle Von Jenseit des Meeres (1865) aus der Perspektive ihres deutschen Kindheitsfreundes, jugendlichen Liebhabers und schließlich Ehemannes die Migrationsgeschichte der aus der dänisch-westindischen Kolonie St. Croix stammenden Tochter Jenni eines deutschen Plantagenbesitzers und einer Einheimischen, die Jenni einen »Tropfen schwarzen Sklavenblutes« vererbt; schon die dunkleren »kleinen Halbmonde an den Wurzeln der Nägel« reichen, _____________ 63 64

Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor (wie Anm. 6), S. 554f. Siehe oben, S. 25. An einer Folgestelle geht es in ironischer Färbung sogar noch einmal ausdrücklich um die Vielzahl der Kaufmänner mit Konsulfunktion und die internationale Beflaggung Kessins an Festtagen, »wenn [man] ganz Europa von unsern Dächern flaggen [sieht] und das Sternenbanner und den chinesischen Drachen dazu« (HFA I/4, S. 57).

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um sie trotz ihrer weißen Hautfarbe in der Rassengesellschaft der Karibik als Schwarze und damit als minderwertig abzustempeln.65 Von ihrem Vater zur Erziehung und zum Schutz vor dem kolonialen Rassismus nach Deutschland geschickt, wo sie lediglich durch ihre »Kühnheit« und »Schönheit« auffällt,66 gelangt sie eigenständig zu einem Schwarzen Diasporabewusstsein und erzwingt auf der Suche nach ihrer eigenen Identität die Rückkehr zu ihrer Mutter in Westindien. Dort führt die Konfrontation mit der Realität der kolonialen Rassengesellschaft und die Begegnung mit der als obszön und primitiv wahrgenommenen Mutter die verzweifelte Remigrantin an einen »Abgrund«,67 vor dem sie der anreisende Freund Alfred, der Erzähler der Binnenerzählung der Novelle, durch Heirat und Heimführung nach Deutschland rettet. In seiner Liebe läutern sich ursprünglich exotistische Erwartungen – »ich dachte sie mir am liebsten als eine schöne ebenholzschwarze Negerin«68 – zur Wertschätzung Jennis als eines gleichwertigen Individuums, dessen »Erlösung« vom Dilemma seiner Herkunft den bürgerlichen Neuanfang in Deutschland und damit »ein neues Haus« ermöglicht.69 Axel Dunker hat im Einzelnen gezeigt, wie Storms Novelle die kulturelle Hybridität der kolonialen Migrantin inszeniert, das Bedrohungspotential kolonialer Hybridität durch eine »Verschiebung auf die Mutter« entschärft, den durch die Verbindung von Alfred und Jenni scheinbar suspendierten kolonialen Diskurs so implizit doch wieder in Geltung setzt und damit insgesamt »die kolonialen Triebkräfte und Mechanismen des 19. Jahrhunderts bündelt und vor Augen führt«.70 Ebenso bemerkenswert ist aber Storms Auseinandersetzung mit dem kulturellen Raum des Schwarzen Atlantik,71 sowohl in der mehrfachen Bewegung der Figuren zwischen Deutschland und der Karibik wie in der genauen psychologischen Ausgestaltung der inneren und familiären Konflikte der Migrantin in ihren Versuchen, mit ihrer wahrgenommenen Andersartigkeit, ihrer tabuisierten Schwarzen Herkunft und dem daraus entstandenen Gefühl fertig zu werden, »heimat- und mutterlos« zu sein.72 Homi Bhabhas be_____________ 65

66 67 68 69 70 71 72

Theodor Storm, Von Jenseit des Meeres. In: Ders., Gedichte. Novellen 1848–1867. Hrsg. von Dieter Lohmeier (= Sämtliche Werke in vier Bänden, hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 1), Darmstadt 1998, S. 649–693, hier S. 655. Ebd., S. 651. Ebd., S. 691. Ebd., S. 650. Ebd., S. 692. Dunker, Kontrapunktische Lektüren (wie Anm. 18), S. 97–109, hier S. 108f. Siehe Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge/MA 1993. Storm, Von Jenseit des Meeres (wie Anm. 65), S. 666.

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freienden »Dritten Raum« jenseits der kolonialen Dichotomie73 vermag sich Storms Novelle noch nicht vorzustellen; es bleibt nur die Wahl zwischen der als korrupt dargestellten, gewaltgetränkten Welt der Karibik und der gesicherten Ordnung des deutschen Großbürgertums, in das die Heirat Jenni zurückzukehren erlaubt. Im Übrigen reflektiert die Novelle ihre eigene Befangenheit in kolonialen Denkmustern in der Figur von Jennis Vater, der vergeblich gegen seine Verstrickung in den kolonialen Rassismus ankämpft.74 Solche Komplexität erreicht Wilhelm Jensens Erzählung Unter heißerer Sonne nicht. Wenn der Bremer Kaufmannssohn und Naturforscher Dr. Friedrich Woldmann von seiner abgebrochenen Forschungsreise in den venezolanischen Urwald nach lebensbedrohlichen Abenteuern statt der geplanten Naturobjekte die Kreolin Donna Juana, die erst für tot erklärte, dann nachträglich geschiedene Gattin seines Gastgebers und väterlichen Geschäftsfreundes Don Amedeo Miguel di Velasquez, mit nach Deutschland zurückbringt, so ist dies ein Akt der Anerkennung und gleichzeitigen Domestizierung jener »glühende[n] Sinnlichkeit«,75 deren symbolischer Raum die südamerikanischen Tropen der Erzählung sind. Der Blick auf die koloniale Gesellschaft Venezuelas, auf die Kreolen, Indianer und schwarzen Sklaven und die vielfachen Konflikte und Grenzüberschreitungen zwischen diesen als Rassen wahrgenommenen hierarchisierten Bevölkerungsgruppen ist ein ganz und gar kolonialer und die Psychologie, mit der Donna Juana ihre Leidenschaft für den Deutschen gegen alle Widerstände durchsetzt, zutiefst schablonenhaft. Zwar weist die exotistische Kulturkritik der Erzählung insofern bereits auf entsprechende Raumkonstellationen der Jahrhundertwende voraus, als der tropische Raum der entfesselten Sinnlichkeit, der elementaren, ebenso faszinierenden wie gefährlichen Ursprünglichkeit zugleich verstörende Entindividualisierung und ein gesteigertes Leben vermittelt, dem gegenüber die geordnete Welt des deutschen Nordens so blass wirkt, als habe der Protagonist _____________ 73 74

75

Siehe Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994, S. 78. Zum einen versucht er Jenni durch die Trennung von ihrer Mutter, seiner Mätresse, und die Erziehung in Deutschland vor dem Rassismus des kolonialen Systems zu schützen, kann aber nicht verhindern, dass sie sich ihrer Herkunft gleichwohl bewusst wird und – ohne die Stütze einer Schwarzen Diaspora-Gemeinschaft oder Weiße Mentoren mit entsprechender Erfahrung – diese Herkunft als zentrales Problem ihres Lebens dramatisiert. Zum anderen lässt er sich angesichts von Jennis eigenwilliger und heimlicher Rückkehr nach St. Croix zu einem rassistischen Fluch hinreißen – »diese Rasse ist nicht zu bessern; verflucht der Tag, wo ich das geglaubt habe« –, um sich dann selbst ins Wort zu fallen: »Was red’ ich da! Es ist mein eigen Blut«; Storm, Von Jenseit des Meeres (wie Anm. 65), S. 688. Jensen, Unter heißerer Sonne (wie Anm. 22), S. 109.

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dort »nicht gelebt«.76 Aber die bürgerliche Idylle des siebten und letzten Kapitels, die Friedrich und Juana Woldmann als glückliche Eltern zweier reizender Kinder zeigt, überdeckt die aufgebrochenen Konflikte und Fragen in einer geradezu rabiat durchgesetzten Verklärung: Der von Donna Juana verkörperte »Funken tropischer Liebe«77 ist gewissermaßen die Sahne im deutschen Kaffee; angesichts einer verschneiten deutschen Winterlandschaft »wölbt sich« »drinnen über dem engen Gemach […] der unendliche Azur des Äthers« in der Erinnerung an die überstandenen gefährlichen »Traumestiefen des Urwaldes«.78 Für die möglichen Probleme einer lateinamerikanischen Migrantin im Deutschland der Gründerjahre hat Jensen keine Aufmerksamkeit. Solch exotistischem Schematismus stellt Wilhelm Raabe in seinem Gründerzeit-Roman Meister Autor (1874) das bemerkenswerte Porträt eines Schwarzen Deutschen gegenüber, dessen Familiengeschichte und Leben Afrika, den Schwarzen Atlantik und Deutschland in einen großen Mobilitäts- und Erfahrungszusammenhang bringt.79 (Auch hier fasse ich frühere Ergebnisse nur knapp zusammen.80) Zum Zeitpunkt der Handlung ein weißhaariger Siebzigjähriger (BA 11, S. 43, 96), Diener zunächst des aus dem holländischen Kolonialreich zurückgekehrten Mynheer van Kunemund, dann der Agentin gründerzeitlicher Aufstiegsmobilität, Christine von Wittum, die schließlich den Erzähler Emil von Schmidt heiratet, erweist sich der in Bremen geborene Ceretto Meyer oder Wichselmeyer als ein Repräsentant der afrikanischen Diaspora in Deutschland. In seinen Vorfahren ruft der Roman schlaglichtartig die Geschichte der Sklaverei auf und verknüpft zugleich seine bewusstseinskritische Variation des Mohrenmotivs intertextuell mit dem Kritischen Exotismus des Romans Abu Telfan. Mit kritischem Bezug auf den transatlantischen Sklavenhandel als Inbegriff der Amoralität des ›Geldes‹ führt dieser »rein bremisch[es]« Deutsch sprechende Schwarze seine Familie bis zu seinen Urgroßeltern zurück, einem Sklaven aus »Abu Telfan im Tumurkielande« und seiner Frau »aus dem Lande Kongo«, die »auf Kuba« zueinander fanden (BA 11, S. 27, 46). Wie seine Eltern nach Deutschland gekommen sind, bleibt offen; er selbst aber präsentiert sich als eine subalterne, da über die Dienerrolle auch als ›gebildeter Mohr‹ (BA 11, S. 97) nicht hinausgelangende Komplementärgestalt zu den weißen europäischen Figurationen der Glo_____________ 76 77 78 79 80

Ebd., S. 221. Vgl. zur Jahrhundertwende Volker Zenk, Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Oldenburg 2003. Jensen, Unter heißerer Sonne (wie Anm. 22), S. 302. Ebd., S. 304. Ob Ceretto Meyer im Dienst des Mynheer van Kunemund auch bis nach Indonesien und Surinam gekommen ist, bleibt aus den Angaben des Romans unklar. Siehe Göttsche, Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ (wie Anm. 6).

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balisierung. Er hat »auf mehr als einem Schiff und unter mehr als einer Flagge als Koch oder Stewart die Welt befahren«, spricht neben seiner Muttersprache Deutsch »ein bißchen Spanisch, Englisch oder Malaiisch – das Holländische ganz ungerechnet« und ist vor seiner Altersstellung bei Mynheer van Kunemund offenbar lange Jahre als »wilde[r] Meß- und Jahrmarktsindianer« beim Zirkus durch die Lande gezogen (BA 11, S. 29, 97). Raabes Charakterisierung dieses Schwarzen Deutschen im Vorfeld von Deutschlands eigener kolonialer Expansion enthält Aspekte kultureller Hybridisierung, wenn Ceretto Meyer mal als »so sehr europäisch gewitziger Afrikaner« (BA 11, S. 100), mal als ›afrikanisch‹ hartgesotten und diabolisch (BA 11, S. 148, 155) und dann wieder als der »gute Genius« des Erzählers erscheint (BA 11, S. 156). Vor allem aber wird er als ›schwarzer Freund‹ des Erzählers, als ein mit ›Weltweisheit‹ und Humor ausgestatteter »schwarze[r] Philosoph« (BA 11, S. 109, 128) dargestellt, dessen Anspruch auf Gleichwertigkeit und dessen praktische Überlegenheit über andere Figuren durch seine hervorgehobene Rolle in der Figurenkonstellation unterstrichen wird. Dort vermittelt er zwischen der bildungs-, ja großbürgerlichen Modernität des Erzählers und dem kleinbürgerlichen Antimodernismus der Titelfigur Meister Autor Kunemund und rückt – zusammen mit Mynheer van Kunemunds Investition seines in den holländischen Kolonien erworbenen Vermögens in gründerzeitliche Grundstücksspekulationen – den deutschen Schauplatz und die familiären Konflikte des Romans in einen globalen Horizont. Raabe verbindet diese Darstellung kolonialer Transkulturalität im eigenen, deutschen Raum darüber hinaus mit einer selbstreflexiven und hoch ironischen Kritik rassistischer Stereotype und fremdkultureller Wahrnehmung. Von dem Punkt seiner Einführung als »kohlenpechrabenschwarzer Mohr« (BA 11, S. 27) an fungiert Ceretto Meyer geradezu leitmotivisch als Projektionsfläche jener stereotypen, xenophoben und teils bereits rassistischen Bilder Afrikas und der Afrikaner, deren charakteristisches ambivalentes Profil Peter Martin in seiner Studie Schwarze Teufel, edle Mohren herausgearbeitet hat.81 In zahllosen Variationen führt Raabes Roman die Spannung zwischen den angst- und lustbesetzten Wahrnehmungen Ceretto Meyers als »schwarzes Untier« und »Zaubermohr« vor (BA 11, S. 143, 45), die den Schwarzen Deutschen mit ständigen Ausgrenzungserfahrungen konfrontieren, das Erzählen von der kolonialen Interferenz der Kulturräume aber zugleich auf eine selbstreflexive und diskurskritische Ebene heben. _____________ 81

Peter Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001 [1993].

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Diese kolonialismus- und rassismuskritische Offenheit für Erfahrungen des Andersseins unterscheidet Meister Autor und andere Texte Raabes nicht zuletzt von solchen Werken des Realismus, die – nun schon im Zeitalter des deutschen Kolonialimperialismus geschrieben – den dominant werdenden kolonialen Diskurs und Blick propagieren, wie z. B. Paul Heyses Novelle Medea (1896) oder Wilhelm Jensens historischer Kolonialroman Brandenburg’scher Pavillon hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit (1902). In Heyses Novelle ist die Enkelin des »Kammermohren eines der Söhne Louis Philipps«,82 die erste schwarze Medea der literarischen Mythengeschichte,83 bereits nach den Regeln des kolonialen Rassismus konstruiert. Ihre »Mulattenphysiognomie« scheint »von einer sehr fremdartigen Häßlichkeit«, und ihr Charakter und Auftreten leiden unter dem »Widerspruch« zwischen »afrikanische[r] […] Phantasterei« und deutschem »Sinn für Ordnung, Ehrlichkeit und Solidität«;84 die Probleme individueller Selbstbehauptung gegen die Zumutungen rassistischer Ausgrenzung lassen sich nur gegen den Strich aus dem Text herauslesen. Jensens historischer Afrika-Roman vom Ende der brandenburgischen Kolonie an der Goldküste im Jahre 1717 folgt dem gleichen kolonialrassistischen Diskurs. Die Westafrikaner erscheinen als barbarisches »Schwarzvieh«, als eine »auf zwei Beinen gehend[e] Abart wilden, afrikanischen Gethiers«, unter dem sich nur Einzelne als nicht minder stereotype ›edle Wilde‹ abheben.85 Zwar wird der Sklavenhandel, den die Kolonie betreibt, kritisiert und der Erzähler zeigt historisches Verständnis für den Verkauf der unrentablen Kolonie an die holländisch-westindische Companie; in scharfem Kontrast zur Kolonialismuskritik Raabes und Fontanes gilt seine Sympathie aber eindeutig dem kolonialen Expansionsstreben des Großen Kurfürsten als einer Antizipation des neuen deutschen Kolonialreichs. Der Schluss des Romans überführt brandenburgischen Patriotismus ausdrücklich in kolonialimperialistischen deutschen Nationalismus.

_____________ 82

83 84 85

Paul Heyse, Medea. In: Ders., Novellen und Erzählungen 1888–1900 (= Gesammelte Werke, hrsg. von Markus Bernauer und Norbert Miller, Reihe IV, Bd. 2), Hildesheim 1995, S. 319– 355, hier S. 323. Siehe Heike Bartel, A Medea Called Wally. Race, Madness and Fashion in Paul Heyse’s Novella ›Medea‹. In: German Life and Letters 64 (2011), S. 56–70. Heyse, Medea (wie Anm. 82), S. 199, 203f. Wilhelm Jensen, Brandenburg’scher Pavillon hoch! Eine Geschichte aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit, Berlin 1902, S. 32, 190. Vgl. zu diesem Diskursmuster grundsätzlich Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren (wie Anm. 81).

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4.

Dirk Göttsche

Mental Maps: Raumkonstruktion und Diskurskonkurrenz

Die thematisch-motivische Analyse der literarischen Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten hat bereits deutlich gemacht, dass die Auseinandersetzung der Erzählliteratur des Realismus mit der »Verwandlung der Welt« (Osterhammel) im 19. Jahrhundert durch bestimmte diskursive Dispositive oder Denkmodelle vermittelt wird. Nun kann Literatur prinzipiell die Diskurse ihrer Zeit reproduzieren oder propagieren, sie kann sie ästhetisch ausstellen und so allererst sichtbar machen, sie kann sie aber auch kritisieren und modellhaft Alternativen zur Reflexion stellen. Hinsichtlich des neuen, durch koloniale Globalisierung, beschleunigte Modernisierung und erhöhte Mobilität und Migration geprägten Raumverständnisses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint die Literatur des Realismus sich in einem Spannungsfeld zu bewegen, in dem die literarische Auseinandersetzung mit »der sich modernisierenden Lebenswirklichkeit«86 gebrochen wird durch eine dichotomische und eurozentrische Konstruktion des Verhältnisses von europäischen und außereuropäischen Welten, die wenig Spielraum zur Differenzierung lässt und normativen Aus- und Abgrenzungen Vorschub leistet. Zugleich aber zeigen sich in den analysierten Texten – als vermittelnder dritter Pol des Spannungsfeldes – spezifischere Diskurstraditionen zu einzelnen außereuropäischen Räumen, die zwar jeweils ebenfalls antithetisch auf Europa bezogen sein mögen; in ihrer Vielfalt und ihrer je eigenen historischen Dynamik eröffnen sie jedoch Differenzierungsmöglichkeiten, indem sie das wachsende geographische, politische und kulturelle Wissen der Zeit über die fraglichen Welten verarbeiten, und zwar typischerweise in widersprüchlicher, zwischen positiven und negativen Zuschreibungen oszillierender Stereotypisierung. Diese regionenspezifischen Diskurse spielen in den ›mental maps‹ der Texte eine wesentliche Rolle, spiegeln in der Überzeugung europäischer Überlegenheit – oder kritischen Reaktionen auf diesen kolonialen Blick – aber auch die asymmetrische Struktur der kolonialen Weltordnung. Diese These sei abschließend zumindest stichwortartig erläutert. Am deutlichsten ist die auf der normativen Kontrastierung von Eigenem und Fremdem beruhende dichotomische Raumkonstruktion in der Tradition des Exotismus, der einen wichtigen Aspekt der Kulturgeschichte des Kolonialismus darstellt.87 Ein Paradebeispiel bietet Jensens Erzählung Unter heißerer Sonne, die in drastischer Schematik die Hitze der venezo_____________ 86 87

Plumpe, Einleitung (wie Anm. 7), S. 26. Siehe Thomas Koebner und Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt am Main 1987; Klaus von Beyme, Die Faszination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst, München 2008.

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lanischen Tropen gegen die Kälte des verschneiten Deutschland, südliche Sinnlichkeit und Leidenschaft gegen nördliche Rationalität stellt, kreolische Lethargie gegen deutsche Tatkraft, »senegambische« Impulsivität88 gegen deutsche Moderation, das »Verschlagen-Listige […] der Indianerphysiognomie«89 gegen deutsche Treue und Redlichkeit, die ›magische Gewalt der Fremde‹90 gegen die Ordnung der Heimat, lateinamerikanische Rückständigkeit gegen europäische Moderne, das »unermeßliche, erbarmungslose, ewig wechselnde und ewig gleiche Meer des Urwaldes«91 gegen »die Kultur Europas« und ihren »Geist, den Gedanken, der sich über das Heute, das eigene Ich hinausschwingt«.92 Allerdings schwingt sich der eurozentrische »Geist« des kolonialen Exotismus hier nicht allzu weit. Wie der erinnerte Bremen-Aufenthalt des venezolanischen Gastgebers bei diesem keine Spuren hinterlassen zu haben scheint – außer dem Bewusstsein, dass das Leben in Deutschland jenem in Venezuela überlegen sei –, so ist auch die Ehe zwischen Juana und Friedrich Woldmann nicht interkulturell gedacht. Die Erzählung ironisiert zwar ein Stück weit die kolonialen Entdeckungsreisen der Zeit und legt kulturkritisch nahe, dass es erst der tropischen Leidenschaft bedarf, um dem kühlen Norddeutschen zu seinem Lebensglück zu verhelfen, doch reduziert sich der damit verbundene Kulturtransfer auf den Status von kolonialen Luxuswaren. Die Erzählung folgt in plakativerer Form dem gleichen kolonialen Abgrenzungsdiskurs, wie er sich subtiler beispielsweise in Kellers nicht-exotistischem Zeitroman Martin Salander zeigt, dessen Protagonisten sich auf Kosten der brasilianischen Fremde zur »Heimat« bekennen93 und doch ihren brasilianischen Unternehmungen ihren Wohlstand verdanken. Kellers Brasilien ist allerdings wie jenes in Raabes Zum wilden Mann als durchaus real zu denken, während Jensens Venezuela sich ganz aus der Topik des literarischen Exotismus speist. Eine partielle Inversion der exotistischen Kontrastierung von europäischen und außereuropäischen Räumen stellt der Kritische Exotismus dar, der in der Nachfolge von Aufklärungstexten wie Montesquieus Lettres persanes (1721) oder Knigges Roman Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (1790/91) eine erfundene Fremde und deren Außenblick auf Europa modellhaft gegen die kritisierten Verhältnisse im eigenen Raum stellt. Die Modellhaftigkeit der Welten im Kritischen Exotismus gerät außerhalb satirischen Erzählens im Laufe des 19. Jahrhunderts aller_____________ 88 89 90 91 92 93

Jensen, Unter heißerer Sonne (wie Anm. 22), S. 141. Ebd., S. 169. Ebd., S. 99. Ebd., S. 183. Ebd., S. 108, 110. Keller, Martin Salander (wie Anm. 27), S. 684.

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dings in Konflikt mit literarischen Realismuskonzepten und dem wachsenden Wissen über die außereuropäischen Welten. Es ist daher sicher kein Zufall, dass das vielleicht prominenteste Beispiel im Realismus, Raabes Zeitroman Abu Telfan, fast zwanzig Jahre vor der Etablierung von Deutschlands eigenem Kolonialreich entstanden ist. Dort stellt der Protagonist in einem öffentlichen Vortrag, mit dem der Roman ironisch auf die Popularität des Afrika-Diskurses im Gefolge der Entdeckungsreisen reagiert, »Vergleichungen« zwischen dem innerafrikanischen Darfur, in dem er zwölf Jahre lang als Sklave gefangen saß, und Deutschland an, die provozierenderweise Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit der beiden Kulturräume voraussetzen: Er erlaubte sich, von den Verhältnissen des Tumurkielandes wie von denen der eigenen süßen Heimat zu reden und Politik, Staats- und bürgerliche Gesetzgebung, Gerechtigkeitspflege, Abgaben, Handel und Wandel, Überlieferung und Dogmen, Unwissenheit und Vorurteile

so »zu verarbeiten«, dass der kritische Vergleich als Instrument von Raabes satirisch pointierter Kritik an den politischen und kulturellen Verhältnissen im Deutschland der 1860er Jahre fungiert (BA 7, S. 186f.) und zugleich stereotype Vorstellungen vom »allerunbekanntesten, allerinnersten Afrika« ironisiert (BA 7, S. 11).94 In subtilerer Form finden sich antithetische Relationierungen von europäischen und außereuropäischen Räumen auch in Texten, die nicht – oder jedenfalls nicht als ganze – exotistisch konstruiert sind. Für diesen dichotomisierenden Diskurs gilt prinzipiell, was Edward Said für den europäischen Orientalismus herausgearbeitet hat, also jene koloniale Dialektik von Eigenem und Fremdem, in der sich Europa im Spiegel des diskursiv entworfenen Anderen selbst definiert, indem es die ›Anderen‹ und ihre Welt zugleich als minderwertig, ordnungs-, schutz- und leitungsbedürftig ausgrenzt und abqualifiziert.95 Das Erzählen des Realismus arbeitet mit diesem Diskursmodell, führt es in seinen avancierten Formen aber auch immer wieder kritisch vor. Wenn Raabe beispielsweise das »Exotische« in einem Aphorismus als »die Formel« versteht, »unter der der Mensch die Welt zu sehen wünscht«, und ergänzt: »Der deutsche Spießbürger aber ist ein Exotisches für den Pariser und umgekehrt« (BA Erg.-Bd. 5, S. 399), so macht dies auch auf jene Verfahren selbstreflexiven und kontrapunktischen Erzählens aufmerksam, die den Projektionscharakter des Exotischen und den Perspektivismus fremd_____________ 94

95

Vgl. ausführlicher Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Raabes (wie Anm. 6), S. 48– 65; Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus (wie Anm. 14), S. 178–198; Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 103–131. Siehe Edward Said, Orientalism, London 1995 [1978].

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kultureller Wahrnehmung ausstellen, beispielsweise in Meister Autor anhand der ebenso widersprüchlichen wie komisch abwegigen Zuschreibungen, mit denen der Schwarze Deutsche Ceretto Meyer sich konfrontiert sieht, oder in Prinzessin Fisch, dieser »Geschichte von der Erziehung des Menschen durch die Phantasie« (BA 15, S. 348). Hier werden nicht nur die exotischen Welten kolonialer Abenteuerliteratur entzaubert, sondern es kursieren auch die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Bilder der Mexikanerin Romana Tieffenbacher und geben Anlass zum Nachdenken darüber, dass »die für uns buntesten Bilder« aus Lateinamerika für die dort Heimischen bloße Normalität repräsentieren (BA 15, S. 331). Raabes Verbindung von selbstreflexivem Erzählen, konsequentem Perspektivismus und kontrapunktischer Figurenkonstellation nutzt exotistische Motive in diesem Sinne, um koloniale und eurozentrische Blicke prinzipiell in Frage zu stellen und die Standortgebundenheit aller Wahrnehmungen und Urteile vorzuführen. Die dialogische Technik von Fontanes literarischer Gesprächskunst hat ähnliche Funktion, vor allem wo sie »ein vielstimmig differenziertes Spektrum deliberativen Abwägens von Eigenem und Fremdem [entfaltet]«.96 Und dennoch hat die jüngere Forschung zu beiden Autoren zeigen können, dass sich ihre Texte damit nicht vollständig aus dem kolonialen Diskurs befreien, den sie kritisieren.97 Zwar arbeitet auch der Exotismus mit komplementär-gegensätzlichen Zuschreibungen – die Tropen als Paradies und Hölle, die primitiven Barbaren als ›edle Wilde‹ –, historisch variabler und erfahrungsoffener aber sind die Diskurse zu den einzelnen außereuropäischen Regionen, in denen das dichotomische Denkmodell des 19. Jahrhunderts sich in unterschiedliche, je spezifische »system[s] of knowledge«98 mit zumeist widersprüchlichen Stereotypisierungen ausfaltet. Gelegentlich, etwa mit Bezug auf Nordamerika oder China, nähern sich diese Diskurse dem älteren europäischen Diskursmodell der Nationalstereotypen.99 Am stärksten sind die exotistischen Elemente in dem von Said analysierten Orientalismus, der allerdings im Realismus, anders als in der Goethezeit und der Klassischen Moderne, nur eine untergeordnete Rolle spielt.100 Ähnliches gilt für den (in der Reise- und Zeitschriftenliteratur relativ konstanten) Südsee-Diskurs, _____________ 96

Norbert Mecklenburg, ›Alle Portugiesen sind eigentlich Juden.‹ Zur Logik und Poetik der Präsentation von Fremden bei Fontane. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde (wie Anm. 4), S. 88–102, hier S. 91. 97 Siehe exemplarisch zu Abu Telfan: Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus (wie Anm. 14), S. 197f.; zu Effi Briest: Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor (wie Anm. 6), S. 562. 98 Said, Orientalism (wie Anm. 95), S. 6. 99 Siehe Manfred Beller und Joep Leerssen (Hrsg.), Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam/New York 2007. 100 Siehe zuletzt Alexander Honold (Hrsg.), Ost-westliche Kulturtransfers. Orient – Amerika, Bielefeld 2011.

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dessen exotistischer Zentral-»Topos vom irdischen Paradies« in den 1880er Jahren für die koloniale Expansion funktionalisiert wird.101 Im Vordergrund steht bei den namhaften Autoren des Realismus eindeutig der Nordamerika-Diskurs, der zugleich der am besten erforschte ist.102 Als primäres Ziel deutscher Auswanderung im 19. Jahrhundert ist die ›neue Welt‹ zur Verschränkung eines neuen Weltbewusstseins mit kulturkritischer Zeitreflexion geradezu prädestiniert, zumal die USA gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend an internationalem Gewicht gewinnen. Die transatlantische Mobilität vieler Figuren und der Topos der Rück- oder Heimkehr verschränken die Darstellung von Mobilität und Selbstreflexion, wobei die Opposition von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, ›Heimat‹ und ›Welt‹ sich im literarischen Amerika-Bild selbst noch einmal wiederholt, da das Nordamerika jedenfalls der Romane von Spielhagen, Raabe und Fontane, wie Jeffrey Sammons gezeigt hat, fast ausschließlich von Deutschen bevölkert ist.103 Diese Autorengeneration, die anders als Sealsfield und Gerstäcker keine eigenen Amerika-Erfahrungen verarbeiten kann, modelliert Nordamerika weniger als geographisch-kulturelle Welt eigener Prägung denn als einen Raum deutscher Wandlung, Selbstfindung und Heilung104 im Spannungsfeld der gegensätzlichen Topoi klassischer Abenteuer, verwirklichter bürgerlicher Freiheit und eines ungezügelten Kapitalismus und Materialismus. Mit Abstand folgen die Karibik-, Lateinamerika- und Afrika-Diskurse, in denen sich zugleich unterschiedliche Stadien der Kolonialgeschichte spiegeln, sowie der Diskurs zu China und Ostasien. Die literarische Kari_____________ 101 Gabriele Dürbeck, Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914, Tübingen 2007, S. 344f. Dürbeck verzeichnet keinen Text aus dem Kreis der bekannteren Autoren des Realismus, also keinen Anschluss an Gerstäckers Südsee-Romane des Nachmärz. 102 Siehe Fritz Martini, Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.), Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, Stuttgart 1976, S. 178–204; Jeffrey L. Sammons, Land of Limited Possibilities. America in the Nineteenth-Century German Novel. In: Ders., Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York/Bern 1988, S. 217–236; Juliane Mikoletzky, Die deutsche AmerikaAuswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, Tübingen 1988; Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig (Hrsg.), Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung, Bielefeld 2009. Die Herausgeber weisen in ihrem Vorwort darauf hin, dass aber auch bzgl. dieses Diskurses die (kanonisierte) Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte bislang wenig beachtet worden ist (S. 11). 103 Siehe Jeffrey L. Sammons, Representing America Sight Unseen. Comparative Observations on Spielhagen, Raabe, and Fontane. In: Göttsche und Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe (wie Anm. 6), S. 87–99. 104 Siehe Sammons, Representing America Sight Unseen (wie Anm. 103), S. 95; Martini, Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer (wie Anm. 102), S. 182.

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bik des Realismus bewegt sich zwischen den Polen des Abenteuerraumes, wie er beispielsweise in der Piratenmotivik von Raabes Novelle Zum wilden Mann aufscheint, und einem spezifischen Blick auf den Schwarzen Atlantik, der (wie in Storms Novelle Von Jenseit des Meeres) durch die Sklavereibzw. Abolitionsfrage geprägt ist und im Haiti-Diskurs durch den Bezug auf die Haitianische Revolution zur interkulturellen Reflexion bürgerlicher Aufklärungsideale und eurozentrischer Vorstellungen zwingt.105 Hier scheint der Realismus im Wesentlichen das Diskursprofil der Goethezeit weiterzuschreiben, wobei der Themenkreis amerikanische Südstaaten/Rassenfrage/Bürgerkrieg beispielsweise in Berthold Auerbachs Zeitroman Das Landhaus am Rhein (1869) und Friedrich Spielhagens Ein neuer Pharao (1889) Bezüge zwischen der Auseinandersetzung mit dem Schwarzen Atlantik und dem Amerika-Diskurs herstellt.106 Hinsichtlich des Realismus bedarf es hier allerdings ebenso noch weiterer Forschung wie zum Lateinamerika-Diskurs. Jensens Unter heißerer Sonne zeigt exemplarisch die koloniale Umkehr des älteren, von den utopischen Topoi des ›edlen Wilden‹ und des ›El Dorado‹ geprägten Lateinamerika-Diskurses.107 Mexiko ist in Raabes Prinzessin Fisch ein abenteuerliches Konfliktfeld zwischen kreolischer Alterität, europäisch-imperialer und nordamerikanisch-hegemonialer Intervention. Kellers Martin Salander und Raabes Zum wilden Mann modellieren Brasilien paradoxer als einen zugleich kolonialen und zunehmend modernen Raum, der bei Raabe sogar als »Spiegel einer entfesselten und skrupellosen Modernität« gedacht ist, »die sich in die Strukturen eines ebenso unmoralischen ancien régimes kleidet«.108 Das unabhängige Lateinamerika erhält hier also in ähnlicher Weise die Funktion eines kulturkritischen Zerrbilds deutscher Zustände wie sonst in anderer Pointierung Nordamerika. Den umgekehrten Weg von der Vorstellung der Vergleichbarkeit der Kulturräume in ihrer Differenz zur kolonialen Inferiorität der ›Anderen‹ prägt im 19. Jahrhundert die Diskursgeschichte zu China und dem Fernen Osten. Von Leibniz noch als asiatisches Pendant zur europäischen Aufklä_____________ 105 Siehe Herbert Uerlings, Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte, Tübingen 1997; Marie Biloa Onana, Der Sklavenaufstand von Haiti. Ethnische Differenz und Humanitätsideale in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Köln/Wien 2010; Christopher Michael Geissler, ›Die schwarze Ware‹. Transatlantic Slavery and Abolitionism in German Writing, 1789–1871, Diss. Cambridge 2012 (Veröffentlichung geplant). 106 Siehe Göttsche, Zeit im Roman (wie Anm. 26), S. 703–708, 728–731. 107 Vgl. allgemeiner für das 19. Jahrhundert José Manuel López de Abiada, Lateinamerika. In: Beller und Leerssen (Hrsg.), Imagology (wie Anm. 99), S. 208–211. Vgl. allgemein Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004, wo das 19. Jahrhundert allerdings leider ausgespart wird. 108 Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 142.

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rung und Zivilisation idealisiert,109 gilt China im Vorfeld europäischer kolonialer Interventionen im späten 19. Jahrhundert »nunmehr als rückständig, unbeweglich, ja entwicklungsunfähig«, und es ist dieser »Paradigmenwechsel«, wie Dietmar Storch gezeigt hat, der die Folie abgibt für Fontanes kulturkritisches Interesse an »China als Gegenpol zur überlegenen Modernität Europas«.110 Im literarischen Diskurs zum Fernen Osten, China und Japan spielt (wie im Orientalismus insgesamt) zweifellos auch das Interesse an alten außereuropäischen Hochkulturen eine Rolle, auch wenn die beiden Siam-Geschichten in Unwiederbringlich und im Stechlin Südostasien erneut exotistisch entwerfen. Die gegenläufige Konstruktion des subsaharischen Afrika als geschichtsloser ›dunkler Kontinent‹, die kontrapunktisch vermeintliche Inseln der Kultur wie das legendäre Timbuktu und das christliche Äthiopien umso faszinierender leuchten lässt, prägt auch die Autoren des Realismus, die zu Zeitzeugen der kolonialen Erschließung und imperialen Unterwerfung dieses Raumes wurden. In Fontanes Poggenpuhls gibt Leo von Poggenpuhls Verzweiflungsplan einer kolonialen Karriere dem Roman Gelegenheit zur Vorführung des populären Afrika-Diskurses, der den fremden Kontinent weiterhin als Projektionsfläche europäischer Wünsche und Ängste inszeniert. Nicht zufällig liegt Afrika auf dem Familienglobus »hier unten, wo gar nichts ist« (HFA I/4, S. 507). Den Stereotypen des gefährlichen Afrika – »wilde Tiere, Schlangen und Krokodile« sowie »die richtigen Schwarzen«, »die […] alles tot [machen] und […] uns armen Christenmenschen die Hälse ab[schneiden]« (HFA I/4, S. 505f.) – wird der nicht minder exotistische Topos kolonialer Freiheit gegenübergestellt (»dafür hat man auch alles frei«; HFA I/4, S. 506), zugleich aber auch, ähnlich wie in Raabes Abu Telfan, der ironische Vergleich afrikanischer und deutscher Verhältnisse, der den fremden Raum in den einen Erfahrungsraum kolonialer Globalisierung zurückholt und so ein Stück weit normalisiert: Das am Viktoria-See in Deutsch-Ostafrika gelegene Bukoba, bemerkt Leo, sei »so’n Ort zweiter Klasse, also so wie Potsdam« (HFA I/4, S. 506). Bei Raabe spielt Afrika sicher nicht zuletzt deshalb eine besondere Rolle, weil es auf der Grundlage geläufiger Stereotype (oder deren Umkehrung) sowohl als kritischer Spiegel deutscher Verhältnisse entworfen werden kann als auch als paradigmatischer Raum kolonialer Ambitionen und Praktiken im Zeitalter des ›Scramble for Africa‹. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass, wie John Pizer gezeigt hat, es der _____________ 109 Siehe Irmy Schweiger, China. In: Beller und Leerssen (Hrsg.), Imagology (wie Anm. 99), S. 126–131, hier S. 127. 110 Storch, ›unterm chinesischen Drachen‹ (wie Anm. 6), S. 114.

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holländische Kolonialismus ist, der Raabe immer wieder als kritisches Reflexionsmodell deutscher Kolonialprojekte dient.111 Die sich ergänzenden, thematisch-motivischen und diskursgeschichtlichen Analysen dieser Studie haben einmal mehr gezeigt, dass sich namhafte Autoren des Realismus wie Storm, Keller, Fontane und Raabe intensiver und reflektierter mit der »Verwandlung der Welt« im Zeichen von Modernisierung und Kolonialismus, »gesteigerte[r] Mobilität« und »asymmetrischer Referenzverdichtung«112 auseinandersetzen, als es jener Zweig der Realismusforschung wahrhaben will, der mit Erich Auerbach113 am Weltgehalt der Erzählkunst des Realismus zweifelt. Die ästhetische Relationierung europäischer und außereuropäischer Welten ist ein entscheidendes Kennzeichen realistischen Erzählens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Überzeugender als die wiederum wertende, bewusst paradoxe Formel vom »weltläufigen Provinzialismus«114 realistischen Erzählens erscheint mir allerdings der Gedanke der literarischen »Erprobung des Verhältnisses von Nähe und Ferne«.115 Mangels eigener Erfahrung der dargestellten außereuropäischen Räume übersetzen die Autoren das epistemologische Kerninteresse realistischen Erzählens in die kritische und selbstreflexive Arbeit mit den Diskursen ihrer Zeit über die ÜberseeWelten. Ihre Texte fungieren also als ästhetische Reflexionsmodelle sprunghafter Modernisierung, Globalisierung und Mobilisierung, wobei der Schwerpunkt des Interesses letztlich im eigenen Raum liegt: in der Funktion der außereuropäischen Welten als kritische Spiegel der eigenen, in der Vorführung heimischer Diskurse und Erfahrungen zur »Verwandlung der Welt« sowie in der Frage nach den heimischen Triebkräften und Rückwirkungen kolonialer Expansion. Trotz der Dominanz literarischer Kolonialismuskritik und der deutlichen Distanz zum entstehenden Kolonialdiskurs bedeutet dies in historischer Sicht allerdings auch, dass die Asymmetrie der kolonialen Weltordnung in einer Asymmetrie der literarischen Welt-Diskurse realistischen Erzählens gespiegelt wird. Trotz der metakritischen Ausstellung kolonialer Blickregime und der lange übersehenen Darstellung kolonialer Transkulturalität ist die literarische Auseinandersetzung mit dem neuen globalen Erfahrungsraum auch in avancierten Werken immer wieder durch jenes dichotomische Denkschema _____________ 111 Siehe John Pizer, Raabe and Dutch Colonialism. In: Göttsche und Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe (wie Anm. 6), S. 74–86. 112 Osterhammel, Die Verwandlung des Welt (wie Anm. 1), S. 1286–1300. 113 Siehe Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 8. Aufl., Bern 1988, S. 420, 478f. 114 Ramponi, Orte des Globalen (wie Anm. 6), S. 20. 115 Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 5), S. 29 (Hervorhebung D. G.).

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gebrochen, das im Exotismus am deutlichsten hervortritt, in subtilerer Weise aber auch die historisch variableren und jeweils in sich widersprüchlichen regionenspezifischen Sonderdiskurse durchzieht, die in der literarischen Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Welten eine noch nicht hinlänglich erforschte Vermittlungsrolle spielen. Wo die epistemologische Spannung selbstreflexiven, kontrapunktischen oder dialogischen Erzählens zusammenbricht – wie in den genannten Texten Wilhelm Jensens –, fällt realistisches Erzählen in jene herrschenden Diskursmuster zum Verhältnis von Eigenem und Fremdem, ›Heimat‹ und ›Welt‹ zurück, die im glücklichen Fall ihr Material sind.

Die nahen und die fernen Räume Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe Rolf Parr

I.

Raum und Literatur: Forschungsstränge

»Ick bün all hier!«. Dieser triumphierende Ausruf des Igels aus dem Märchen vom Wettlauf mit dem Hasen1 enthält im Kleinen nahezu die gesamte Problematik von Raum und Zeit: Das »hier« markiert einen aktuellen Ort des ›hic‹ im Raum; das »all« verweist in Verbindung damit auf eine vergangene Zeitspanne und indirekt auf einen zweiten Ort im Raum, den Ausgangspunkt, und zugleich auch noch auf den Zeitpunkt des ›nunc‹, sodass Raum und Zeit im ›hic et nunc‹ eng aufeinander bezogen sind, da Raum erst durch die Bewegung der handelnden Figuren in der Zeit konstituiert wird.2 »Ick bün all hier!«, so hätte aber auch die Antwort der Literaturwissenschaft auf die in den letzten zehn Jahren in der Humangeografie3 und den Kulturwissenschaften um die Kategorie ›Raum‹ besonders intensiv geführte theoretische Diskussion lauten können, wie sie das von Stephan Günzel

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Der Hase und der Igel. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Große Ausgabe. 5., stark vermehrte und verbesserte Aufl., Göttingen 1843, Bd. 2, Nr. 187, S. 456– 460. Darauf, dass »Räume in literarischen Texten immer in einer Beziehung zu sich darin bewegenden oder zu wahrnehmenden Individuen stehen«, haben neben Hartmut Böhme (Raum – Bewegung – Topographie. In: Hartmut Böhme [Hrsg.], Topographien der Literatur, Stuttgart/Weimar 2005, S. IX–XXIII) für Raum und Zeit in der Literatur auch noch einmal Wolfgang Hallet und Birgit Neumann hingewiesen (Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 17). Denn indem ›Raum‹ und ›Bewegung‹ eng aufeinander bezogen werden, wird ›Raum‹ zugleich »zu einer dynamischen, prozessualen Größe, die mit dem Konzept der ›Raumbeschreibung‹ nicht zu fassen ist« (ebd., S. 21). Vgl. dazu Benno Werlen, Sozialgeographie. Eine Einführung, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl., Bern et al. 2008.

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vorgelegte Handbuch inzwischen resümiert hat.4 Denn sieht es die sozialund kulturwissenschaftliche Raumforschung als eines ihrer Verdienste an, zwischen sozial-konstruierten und physisch-geografischen Räumen unterschieden zu haben, wenn auch nur, um beide im nächsten Schritt gleich wieder in Beziehung zueinander zu setzen und von ›Raum‹ nicht als einer absoluten, sondern einer relationalen Größe zu sprechen,5 so sind solche Überlegungen für die Literaturwissenschaft doch gar nicht so neu. Denn mit literarischen Texten als ihrem Gegenstand sah sich die Literaturwissenschaft immer schon vor dem Problem, es zugleich mit Referenzen auf reale und imaginierte, auf jeden Fall aber mit ästhetisch konstruierten Räumen zu tun zu haben. Literatur kann nämlich bei empirisch vorhandenen Räumen ansetzen und diese weiterverarbeiten, sie kann aber auch imaginäre Topografien entwerfen oder mit Mischformen operieren. Weiter ist es für die Literaturwissenschaft keine so sonderlich neue Erkenntnis, dass literarische Texte mit ihren Raum- und Zeitbezügen zwei grundlegende Rahmenbedingungen menschlicher Existenz nicht nur thematisieren, sondern auf einer Metaebene auch reflektieren und sie zudem eng auf die ihnen jeweils zugrunde liegenden poetischen Konzepte beziehen. Trotzdem wird man jedoch sagen müssen, dass durch den ›spatial turn‹ in Geografie und Sozialwissenschaften6 sowie den darauf schon kritisch Bezug nehmenden ›topographical turn‹ der Kulturwissenschaften7 auch die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ›Raum‹ und ›Zeit‹ einen neuen theoretischen Bezugsrahmen bekommen hat, den sie nicht einfach ausblenden kann und das auch nicht getan hat. Klaus Scherpes Aufsatz zu »Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie« von 1998 etwa stellt ein recht frühes Beispiel für das gewinnbringende Aufgreifen der französischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung

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Stephan Günzel (Hrsg., unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010; Christian Berndt und Robert Pütz (Hrsg.), Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007; Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. So sieht beispielsweise Bruno Latour (Wir sind nie modern gewesen, Reinbek 1998) Raum als Hybrid aus physisch-absolutem und sozialem Raum an; ein Befund auf den auch die raumtheoretischen Überlegungen Henri Lefebvres hinauslaufen, denn dessen Trias der Gleichzeitigkeit von a) räumlicher Praxis (sämtliche Formen der Einschreibung sozialer Praktiken in den Naturraum), b) Raum des Wissens (Repräsentationen von Räumen durch Zeichen und Codes) und c) Raum der Repräsentationen (subjektive Erfahrung von Raum durch die Subjekte) lässt Differenzierungen in reale vs. imaginierte Räume ebenfalls wenig sinnvoll erscheinen (vgl. Bruno Latour, La production de l’espace, Paris 1974, S. 30–33). Jörg Döring, Spatial Turn. In: Günzel (Hrsg.), Raum (wie Anm. 4), S. 90–99. Kirsten Wagner, Topographical Turn. In: Günzel (Hrsg.), Raum (wie Anm. 4), S. 100–109.

Überlagerungen von Raum und Zeit

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dar.8 Das heißt aber noch nicht, dass literatur- und sozialwissenschaftliche Raumforschung bereits auf breiter Front produktiv zusammengekommen wären, vielmehr lässt sich zwischen beiden eine Art Positionstausch beobachten: Während die Geografie im Zuge des ›spatial turn‹ ihre kulturelle Dimension entdeckt hat und Geografen es selbst untereinander kaum mehr wagen, ohne gestisch deutlich gemachte Anführungsstriche von tatsächlichen empirischen Räumen zu sprechen, hat die Literaturwissenschaft (ebenso wie die Literatur selbst!) genau umgekehrt Landkarten und überhaupt jede Art von Mapping für sich entdeckt und in vielfältiger Weise die gleichsam ›harten‹ geografischen Bezüge der literarischen Texte herausgearbeitet.9 Bezieht man auch die ältere literaturwissenschaftliche Forschung zur Raumfrage ein, dann stellt sich die Situation vor diesem Hintergrund im Moment so dar, dass man es zum einen mit einem teils älteren, innerliteraturwissenschaftlichen Strang der Forschung zu tun hat, der eher auf Einzeltexte oder einzelne Autoren und deren Raumpoetiken abzielt. In der Regel von textinternen Befunden zur Raumdarstellung ausgehend, versucht dieser Strang der Forschung auf ganz unterschiedliche Art und mit ebenso unterschiedlichen Zielrichtungen meist auch Anschlüsse an mal generellere poetologische, mal philosophische, mal anthropologische, mal eher weltanschauliche oder psychologische Theoreme herzustellen, einschließlich der denkbaren Kombinationsmöglichkeiten. Das Spektrum dieses Typs literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit der Raumfrage reicht – bezogen auf die beiden hier interessierenden Autoren – von Wolfgang E. Rosts Arbeit zu Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken (1931) über Bruno Hillebrands Mensch und Raum im Roman (1971) bis hin zu Gisela Wilhelms Untersuchung zur Dramaturgie des epischen Raums bei Theodor Fontane (1981). Für Raabe sind die Arbeiten von Herman Meyer, Karl Hotz, Rolf-Dieter Koll und Uwe Heldt zu nennen.10 _____________ 8

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Klaus Scherpe, Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, 13.–17. September 1998 in Potsdam. 3 Bde., Würzburg 2000, Bd. III, S. 161–169. Das Spektrum reicht hier von Barbara Piatti (Die Geographie der Literatur: Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen 2008) bis hin zu Franco Moretti (Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt am Main 2009 [= es 2564]). – »Alle die unterschiedlichen Versuche, Literaturlandkarten herzustellen, scheitern allerdings immer dann, wenn literarische Texte […] Räume entwerfen, die sich der Kartographierung entziehen: Phantastische Räume, fiktive Orte oder Utopien, in denen Raumund Zeitverhältnisse herrschen, die weder physikalisch, mathematisch noch geographisch belegbar und darstellbar sind« (Sylvia Sasse, Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik. In: Günzel [Hrsg.], Raum [wie Anm. 4], S. 294–308, hier S. 298). Herman Meyer, Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: Hermann Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht, Stuttgart et al. 1968, S. 98–129; Karl Hotz, Bedeutung und Funktion des

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Diesen Arbeiten steht seit Beginn der 1990er Jahre zum anderen die sozial- bzw. kulturwissenschaftlich orientierte Raumforschung gegenüber, die bisher nicht in erster Linie an einzelnen medialen und literarischen Texturen interessiert war, sondern zunächst einmal herausgearbeitet hat, dass Räume stets je spezifische soziale bzw. imaginäre kulturelle Konstruktionen sind. Ähnlich wie die für eine Kultur relevanten Diskurse im Theoriegebäude Michel Foucaults können Räume demnach sowohl als materielle Praktiken als auch als soziale oder imaginäre Konstruktionen mit übergreifenden Dispositiven und Machteffekten verknüpft sein, denn Räume sind immer auch »Projektionsfläche für die Vorstellungen, Werte und Normen sozialer Gruppen«.11 Damit hat die neuere Raumforschung einen Weg nachvollzogen, den die Medienwissenschaft bereits zu Beginn der 1980er Jahre eingeschlagen hatte, nämlich die nahezu ausschließlich textorientierten diskurstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults konsequent auf die medialen Voraussetzungen von Texten zu beziehen. Der ›globale‹ Befund der gesamtkulturellen Relevanz von Raumkonstruktionen allein hilft aber weder für eine genauere Analyse einzelner Texte noch für die Frage des Umgangs einzelner Autorinnen und Autoren mit Raum und Zeit noch für die Untersuchung des generellen Verhältnisses von Literatur und Raum weiter, denn er müsste für den Zugriff auf konkrete Texte methodisch zunächst so heruntergebrochen und operationalisiert werden, dass analysierend auf einzelne Textstrukturen zugegriffen werden kann. Was fehlt, ist also das Bindeglied zwischen einer an konkreten Einzeltexten interessierten Literaturwissenschaft, die gleichsam von einzelnen Textstrukturen ›hinauf‹ zu generelleren Aussagen gelangt, und einer eher von allgemeineren Theoremen ›hinab‹ nach ›unten‹ orientierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung, die bisher aber noch nicht bis zur Ebene der Einzeltextanalyse gelangt ist. Es gilt also, wie Wolfgang Hallet und Birgit Neumann in der Einleitung zum Sammelband Raum und Bewegung in der Literatur betont haben, eine literaturwissenschaftliche Raumtheorie zu entwickeln, die kulturell präfigurierte (und prämediierte) Räume und Raumvorstellungen, deren literarische Konfiguration und die daraus resultierenden Refigurationen (und Remediationen) in der kulturellen Wirklichkeit zueinander in Bezug setzt.12

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11 12

Romans im Werk Wilhelm Raabes, Göppingen 1970 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 21); Rolf D. Koll, Raumgestaltung bei Wilhelm Raabe, Bonn 1977 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 29); Uwe Heldt, Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes, Frankfurt am Main 1980 (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur, Bd. 5). Wagner, Topographical Turn (wie Anm. 7), S. 101. Hallet und Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur (wie Anm. 2), S. 22.

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Wie aber könnte das für ein solches ›In-Beziehung-Setzen‹ nötige Bindeglied aussehen? Als ein dritter, bisher noch nicht thematisierter Strang der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Raum, der in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zwar immer wieder einmal aufgegriffen wurde, dessen Potenzial als ›Bindeglied‹ in der aktuellen Forschungssituation aber noch zu wenig genutzt wird, bietet sich der aus der Semiotik kommende und vor allem auf Jurij M. Lotmans Überlegungen zum »Problem des künstlerischen Raums«13 zurückgehende semanalytische Ansatz an, wie er seit Mitte der 1970er Jahre in der struktural-semiotisch orientierten Literaturwissenschaft der München-Kiel-Passauer Schule weiterentwickelt wurde.14 Dieser semanalytische Ansatz, der in der lotmanschen Fassung auch schon Anwendung auf Texte Raabes (beispielsweise mit der 2008 erschienenen, auf einer Masterarbeit basierenden Studie von Astrid Schneider zur Raumsemantik in Wilhelm Raabes Roman ›Fabian und Sebastian‹, 200815) und Fontanes gefunden hat (so mit dem Aufsatz von Evgenij Volkov zum Raumbegriff in Fontanes später Prosa16), soll im Folgenden zunächst näher vorgestellt werden, um davon ausgehend dann in einem zweiten Teil vier für die Romane Fontanes und Raabes relevante Felder semantischer _____________ 13

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15 16

Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 311–329. Siehe dazu auch Michael C. Frank, Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Hallet und Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung (wie Anm. 2), S. 53–80. Siehe Michael Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft. In: Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin/New York 2003, Bd. 13.3, S. 3028– 3103; Marianne Wünsch, Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker, Peter Klimczak, Hans Krah und Martin Nies, Kiel 2007 (= LIMES, Bd. 7); Claus-Michael Ort, Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 64); Jan Oliver Decker, Der Raum als Metapher zwischen ›Auflösung‹ und ›Transzendenz‹. Strategien der Raumsemantik, Sexualitätsdiskurs und Madonna im Musikvideo. In: Kodikas/Code Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics 22 (1999), Nr. 1/2, S. 131–164; Hans Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen. In: Kodikas/Code Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics 22 (1999), Nr. 1/2, S. 3–12; ders., Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse, Kiel 2009 (= LIMES, Bd. 6), bes. S. 296–326; vgl. darüber hinaus die Arbeiten von Karl Nikolaus Renner, Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von J. M. Lotman. In: Gustav Frank und Wolfgang Lukas (Hrsg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft, Passau 2004, S. 357–381; ders., Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel. In: Ludwig Bauer, Elfriede Ledig und Michael Schaudig (Hrsg.), Strategien der Filmanalyse. Zehn Jahre Münchner Filmphilologie. Prof. Dr. Klaus Kanzog zum 60. Geburtstag, München 1987 (= Reihe diskurs film, Münchner Beiträge zur Filmphilologie, 1), S. 115–130. Astrid Schneider, Von unten nach oben und von oben nach unten. Raumsemantik in Wilhelm Raabes Roman ›Fabian und Sebastian‹ 1881/82, Saarbrücken 2008. Evgenij Volkov, Der Begriff des Raumes und Fontanes späte Prosa. In: Fontane-Blätter 63 (1997), S. 144–151.

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Raumkonstruktionen näher zu untersuchen. Das geschieht für Fontane vor allem am Beispiel der Romane Unwiederbringlich (1891), Die Poggenpuhls (1896) und Der Stechlin (1899); für Raabe an Im alten Eisen (1887), Stopfkuchen (1891) und Altershausen (1902, gedruckt 1911). Dabei werden die Erzähltexte Fontanes als Ausgangspunkt genommen und diejenigen Raabes jeweils vergleichend herangezogen. Den Schluss bildet die Frage nach möglichen Charakteristika der Raumkonzeption von Erzähltexten des bürgerlichen Realismus in Abgrenzung zur frühen Moderne. I.1

Semanalytische Raumforschung

Nach Lotman weist die abstrakte Handlungsstruktur eines literarischen Textes drei konstitutive Elemente auf: erstens eine erzählerisch evozierte Welt, die sich als strukturiertes semantisches Feld darstellt und in (mindestens) zwei deutlich voneinander unterschiedene Räume aufgeteilt ist; zweitens eine Grenze zwischen diesen Teil-Räumen, die dadurch zu semantischen Gegenorten werden; drittens einen handlungstragenden Protagonisten, der in der Regel Bewegungen zwischen den Räumen ausführt, also semantische und damit zugleich räumliche Grenzen überschreitet.17 Solche strukturierten Felder mit distinkten Teil-Räumen und entsprechenden Grenzen zwischen ihnen können binär, triadisch oder noch komplexer strukturiert sein. Für die Konstitution dieser Teil-Räume nimmt Lotman an, dass sich bei literarischen Texten noch vor jeglichem Bezug auf konkrete Topografien (also Räume im engeren geografischen Sinne) zunächst einmal topologische Gegensätze feststellen lassen, also solche, die Achsen der Bedeutung wie ›innen/außen‹, ›links/rechts‹ oder ›oben/unten‹ konstituieren. Diese topologischen Gegensätze sind zudem vielfach mit Wertungen wie ›wertvoll/wertlos‹, ›vertraut/fremd‹, ›gut/böse‹ oder ›alt/jung‹ versehen. Beide zusammen können zudem mit topografischen (also räumlichen) Elementen im engeren geografischen Sinne wie beispielsweise ›Stadt/Land‹, ›Berg/Tal‹, ›Himmel/Bergwerk‹ verknüpft werden, müssen dies aber nicht sein. Wenn sie es sind, erhalten sie dadurch jedoch einen gewissen Grad an Konkretion, der bei Rekurs auf empirisch tatsächlich vorhandene Räume Effekte von Realismus hervorbringen kann. _____________ 17

Für Lotman »gliedert die Grenze den Raum des Textes in zwei sich nicht überschneidende Abschnitte. Mit dieser räumlichen Unterteilung geht eine semantische einher: Jeder Teilraum wird mit einer bestimmten Bedeutung versehen und konstituiert somit ein distinktes semantisches Feld. Die semantischen Felder bilden in ihrem Verhältnis zueinander binäre Oppositionen. […] Nur durch den räumlichen Wechsel kommt die Dynamik des Plots, eine Handlung – oder, wie Lotman sagt, ein Sujet – zustande« (Frank, Die Literaturwissenschaften und der spatial turn [wie Anm. 13], S. 67).

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›Raum‹ ist bei Lotman demnach als Menge von Relationen zwischen semantisch gleichartigen Objekten zu verstehen, die ein Paradigma bilden. Dieses kann, muss aber nicht unbedingt mit topografischen Elementen verknüpft sein. Allerdings haben Lotman und seine Nachfolger festgestellt, dass sich »Anhaltspunkte für die Bestimmung« der topologischsemantischen Raumkonstruktion »oftmals in den topografischen Verhältnissen eines Textes« finden lassen.18 Beispiele sind in Fontanes Effi Briest das Dreieck Hohen-Cremmen, Kessin und Berlin; in Raabes Zum wilden Mann die semantisch deutlich geschiedenen Räume von umhegter Kleinstadt vs. guter Natur vs. wilder Natur. Gibt es dabei auf einer untergeordneten Ebene noch einmal kleinere Binäroppositionen (wie die von Metropole vs. Provinz in Fontanes Roman Stine), so auf einer übergeordneten Ebene Korrespondenzen von Räumen, die Großstädte wie Berlin mit kolonialen Orten und Topografien in Konnex bringen. Das ist bei Fontane beispielsweise in Die Poggenpuhls und in Der Stechlin, bei Raabe unter anderem in Abu Telfan, Fabian und Sebastian, Zum wilden Mann und Stopfkuchen der Fall. Prägnant hat Hans Krah das Lotman’sche Modell zusammengefasst. ›Raum‹ lässt sich danach zunächst einmal als eine »Grundkategorie und Rahmenbedingung menschlicher Existenz« verstehen, die nicht definiert, sondern nur erlebt werden kann. Das noch ungeordnete und »kontinuierliche Universum« des geografischen ›Raums‹ werde in seiner kulturellen (und das heißt auch literarischen) Aneignung dann aber »segmentiert und klassifiziert«, womit ›Raum‹ »zum Ergebnis einer Konstruktionsleistung« werde. Als eine solche, im Falle der Literatur ästhetische Konstruktionsleistung ist ein literarisch entworfener Raum immer auf das jeweilige Bedeutungspotenzial ›seines‹ Textes bezogen. Die dabei entstehenden »Muster« oder Formen der Anschauung von ›Räumen‹ können dann »wieder funktionalisiert werden«,19 das heißt, dem jeweiligen literarisch konstruierten Raum können semantische Mehrwerte zugeschrieben werden.20 _____________ 18 19

Krah, Einführung (wie Anm. 14), S. 299. Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen (wie Anm. 14), S. 3f.: »In Texten bilden Räume als konkrete Erscheinungsformen den notwendigen Hintergrund, vor dem Figuren agieren, gleichzeitig bilden sie als abstrakte Beschreibungskategorien den Träger, der eine Anlagerung semantischer Mehrwerte erlaubt. Räume und die aus ihrer (mentalen) Verarbeitung resultierenden Möglichkeiten stellen die Elemente dar, mit denen Texte beim Aufbau ihres Bedeutungspotentials und der Bereitstellung eines Deutungsangebots operieren (können).« – Ganz ähnlich Paweł Zimniak: »Räumlichkeit in einem literarischen Text kann […] niemals als unmittelbares und getreues Abbild von außerliterarischen Wirklichkeiten genommen werden, denn sie hat nicht die Aufgabe einer Wirklichkeitsrepräsentation, sondern stellt eine spezifische Form der Weltbemächtigung dar. Sie fungiert als eine mit Sprachzeichen und narrativ erzeugte Konstruktion […]« (ders., Erzählter Raum als Sinnträger – Zur Raumerfahrung als Generationsfrage am Beispiel der deutschen Kurzgeschichte. In: Magdalena Kardach und Ewa Plominska-Krawiec [Hrsg.], Literarische Erfahrungsräume. Zentrum und Peripherie in der

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Als mögliches ›Bindeglied‹ besonders geeignet ist der semanalytische Analyseansatz, da er nicht nur zu den wenigen gehört, die das Verhältnis von Raum und Literatur zu systematisieren versuchen, sondern zudem auch gleichermaßen nach der Übersemantisierung tatsächlicher geografischer Räume in der Literatur, den Semantisierungen literarisch imaginierter Räume und nach dem Zusammenspiel beider fragt. Weiter ermöglicht dieses Konzept »sowohl eine Anwendung auf konkrete räumliche Gegebenheiten als auch eine« semantisch-strukturelle »Beschreibung von nichträumlichen Phänomenen, bei der die Bezeichnungen für räumliche Relationen metaphorisch verwendet werden«,21 denn beide manifestieren sich als semantisch in sich kohärente »homogene Objekte«,22 als – in der Terminologie von Algirdas J. Greimas – ›Isotopien‹23 oder – im Denkgebäude Roman Jakobsons – als ›Paradigmen‹.24 Von daher kann der semanalytische Ansatz es leisten, literarische Texte entlang der Semantik ihrer Raumkonstruktionen sehr genau auch auf kulturelle und soziale Raumkonstruktionen außerhalb literarischer Texte zu beziehen. Insgesamt ist er damit geeignet, als das gesuchte Bindeglied zwischen dem Interesse an übergreifenden sozialen Raumkonstruktionen auf der einen und demjenigen an konkreten literarischen Texten auf der anderen Seite zu fungieren. Wie wichtig das ist, hat Sylvia Sasse in ihrem Handbuch-Artikel »Poetischer Raum: Chronotopos und Geopolitik« betont. Eine »topographisch ausgerichtete Literaturwissenschaft« reflektiere und kommentiere »nicht nur die Konstruktion von Räumen in der Literatur, sondern« stelle »auch Methoden zur Verfügung, die das Benennen und Herstellen von (geographischen) Räumen in anderen Disziplinen analysierbar« machen.25 _____________ 20

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deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main et al. 2009 [= Posener Beiträge zur Germanistik, Bd. 22], S. 245–260, hier S. 245). Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen (wie Anm. 14), hat ausgehend von Lotman fünf Dimensionen der Raumkonstruktion unterschieden (erstens eine topografisch-geografische, zweitens eine topologische, drittens eine perzeptive, viertens eine der narrativen Aspekte und fünftens eine konzeptionelle), für die er jeweils eine Reihe von Aspekten bzw. Detailfragen auflistet, die insgesamt ein dichtes ›Frageraster‹ zu literarischen Raumkonstruktionen ergeben. Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin/New York 2009 (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory, Bd. 22), S. 29. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (wie Anm. 13), S. 312. Algirdas J. Greimas, Strukturale Semantik, Braunschweig 1971. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik. In: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt am Main 1971, S. 142–178. Sasse, Poetischer Raum (wie Anm. 9), S. 297. – Ähnlich argumentiert auch Ansgar Nünning: »Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Analyse außertextueller Referenzen insofern von Bedeutung, als sie nicht nur Aufschluss über den Wirklichkeitsbezug eines Romans vermittelt, sondern auch über das Verhältnis zwischen erzählten Räumen, realen Räumen und kulturellen Raummodellen« (ders., Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung:

Überlagerungen von Raum und Zeit

II.

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Semantische ›mental maps‹ bei Fontane und Raabe

Nun können auch noch so differenzierte theoretische Ansätze ihre Praktikabilität nicht in sich selbst unter Beweis stellen, sondern erst in der konkreten Anwendung; und auch ihre Weiterentwicklung ist nur im Zusammenspiel mit konkreten Textanalysen möglich, die anzeigen, welche Modifikationen nötig und welche Weiterentwicklungen möglich sind. Das soll im Folgenden exemplarisch geschehen, nämlich indem einzelne Verfahren der Raumdarstellung bei Fontane und Raabe in mal engerer, mal weiterer Anlehnung an das semanalytische Raummodell erprobt werden. Denn auch in den literarischen Texten Fontanes und Raabes stellen sich Räume bzw. Topografien in der Regel als Formen der Übersemantisierung von ›Weltausschnitten‹ und damit als konstruierte Räume bzw. ›mental maps‹26 dar. Solche Semantisierungen bzw. Übersemantisierungen von Räumen sind dabei in der Regel mehrdimensional angelegt, und zwar in Form von sich überlagernden sozialen, ökonomischen, historischen, nationalen und auch internationalen Räumen, die untereinander nicht unbedingt homogen sein müssen, sondern durchaus Friktionen aufweisen können. II.1 Die Semantik räumlich-sozialer Hierarchien Zu diesen ›Raumsystemen‹ gehört bei Fontane wie Raabe an erster Stelle die bereits vielfach diagnostizierte, sich wechselseitig stabilisierende Semantik von Räumen und sozialen Hierarchien. So werden bei Fontane die Berliner Stadtviertel, Straßen, Häuser und Etagen sowie all dies zusammenfassend die Adressen auf die Charaktere einzelner Figuren, aber auch auf übergreifende soziale Stratifikationen abgebildet:27 »Der Kommerzienrat van der Straaten, Große Petristraße 4, war einer der vollgiltigsten Fi_____________ 26

27

Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Hallet und Neumann, Hrsg., Raum und Bewegung [wie Anm. 2], S. 33–52, hier S. 40). Von ›mental map‹ oder ›kognitiven Karten‹ wird hier im Sinne der Wahrnehmungsgeografie gesprochen, die nach den gegenüber der geografischen Realität meist vereinfachenden individuellen Repräsentationen dieser Realität fragt. Vgl. Roger M. Downs und David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982 (UTB). Diese sozial-räumliche Verortung stellt neben anderem auch die Grundlage dafür dar, im Verlauf der Romane und Erzählungen zu sehen, ob die Figuren an ihrem rechten Platz oder deplatziert sind. Vgl. zu dieser Frage des ›Ortes‹ im übertragenen Sinne Bettina Plett, Der Platz, an den man gestellt ist. Ein Topos Fontanes und seine bewußtseinsgeschichtliche Topographie. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts (wie Anm. 8), Bd. II, S. 97–107; sowie Scherpe, Fontanes literarische Topographie (wie Anm. 8), S. 165f.: »Die gezielten individualpsychologischen und sozialen Plazierungen geben der Erzählung [»Irrungen, Wirrungen«, R. P.] zunächst einmal die von jedermann identifizierbare Façon. Markante De-Plazierungen geben sodann den Figuren ihre unverwechselbaren Konturen.«

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nanziers der Hauptstadt« (HFA I/2, S. 7), »Möhrings wohnten Georgenstraße 19, dicht an der Friedrichstraße« (HFA I/4, S. 577), »In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich« (HFA I/2, S. 477), »Die Poggenpuhls […] wohnten […] in einem […] noch ziemlich mauerfeuchten Neubau der Großgörschenstraße« (HFA I/4, S. 479). Über die per Straßennamen aufgerufenen Wohnlagen können sogar kleine Binnenerzählungen in den Romanen generiert werden. Als Frau von Gundermann im Stechlin auf »Czakos Achselklappen« den »Namenszug des Regiments Alexander« erkennt (Regiment steht ja auch für einen Standort und damit indirekt eine Adresse), erzählt sie die Geschichte ihres Lebenswegs in kurzen, letztlich auf Adressen reduzierten Sätzen: »›Gott …, Alexander. Nein, ich sage. Mir war aber doch auch gleich so. Münzstraße. Wir wohnten ja Linienstraße, Ecke der Weinmeister – das heißt, als ich meinen Mann kennenlernte. Vorher draußen, Schönhauser Allee‹« (HFA I/5, S. 32). Was also nahezu jeder Fontane’sche Roman zu Beginn und immer dann, wenn neue Figuren eingeführt werden, an integrierter räumlicher und sozialer Platzierung qua Adressen durchspielt, findet sich im Stechlin dann durch den Berliner Hausbesitzer Schickedanz als Lebensweisheit prägnant formuliert: »Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste. Straßenname dauert noch länger als Denkmal.« (HFA I/5, S. 120) Hinzu kommt bei Fontane allerdings noch das Stockwerk, das es als Kriterium allererst erlaubt, die Abstufungen in den bisweilen gar nicht mal so ›feinen Unterschieden‹ deutlich zu machen, wie die Prosafragmente Berliner Umzug und Die Drei-Treppen-hoch-Leute zeigen, denn »je höhere Treppen man steigt, desto mehr kommt man auf der Rangleiter nach unten«.28 Solches Festmachen von Stratifikationen an sozial übersemantisierten räumlichen Hierarchien stellt bei Raabe eher die Ausnahme dar, und wenn damit gearbeitet wird, dann nur, um die kulturell eingespielten Muster zu irritieren und bisweilen sogar zu dekonstruieren. So bringt der Roman Im alten Eisen das Ordnungsmuster der Stockwerke und mit ihnen die symbolischen Positionen von ›abgehobener Höhe‹ und ›realem Boden der Tatsachen‹ ziemlich durcheinander.29 Die Ärmsten wohnen zwar auch hier hoch oben in den Dachwohnungen, nur noch übertroffen durch die luftige Höhe der Mansarde, in der die Prostituierte »Rotkäppchen« sich vor der Polizei versteckt, also da, wo sonst meist Künstler oder Intellektuelle verortet werden, da sich das ihnen zugesprochene Charaktermerkmal ›abgehoben‹ auf diese Weise auch räumlich semantisieren lässt. Sie woh_____________ 28

29

Theodor Fontane, Die Drei-Treppen-hoch-Leute. In: Ders., Prosafragmente und Entwürfe, Frankfurt am Main/Berlin 1984 (Theodor Fontane. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Werke und Schriften, Bd. 26), S. 279f., hier S. 279; ders., Berliner Umzug. In: Ebd., S. 280–282. Siehe dazu auch Rolf Parr, Raabes Effekte des Realen. In: JbRG (2011), S. 21–38.

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nen aber auch in der ›Tiefe‹ des Kellers, da, wo die Altwarenhändlerin Frau Cruse lebt. Die ›Höhe‹ der Dachwohnung und die ›Tiefe‹ des Kellers stellen dabei tendenziell komplementäre Besetzungen der gleichen sozialen, wenn auch nicht gleichen räumlichen Position dar und können trotz gradueller sozialer Unterschiede in der ihnen zugeschriebenen Semantik aufeinander abgebildet werden. Der ›Höhe‹ der Mansarde entspricht nämlich symbolisch eigentlich die ›harte Realität‹ des ›Bodens der sozialen Tatsachen‹, die ›Höhe der Illusion‹ dagegen besetzt in Raabes Roman nur der wohlsituierte Schöngeist Hofrat Dr. Albin Brokenkorb, der in der 2. Etage wohnt und nicht standesgemäß in der Belle Etage. Seine Position im sozialen Raum ist aber weder die des abgehobenen Intellektuellen in der Mansarde (das hat Thomas Mann dann erst 1904 als spezifische Künstlerposition in der Erzählung Beim Propheten realisiert30) noch die des ›Bodens der Tatsachen‹, sodass wir es auch hier mit einer Brechung der Verteilung gegenüber dem zu tun haben, was man hätte erwarten können. Die Korrelation zwischen der Semantik des Raumes und der Semantik der Charaktere, die für Raabes Werk charakteristisch ist,31 wird irritiert, wenn auch letzten Endes dann doch wieder hergestellt. Denn macht man sich klar, dass in Raabes Text Mansarde und Keller einander entsprechen, was durch etliche Austauschbeziehungen zwischen diesen beiden Teilräumen, die gerade keine Grenzüberschreitungen darstellen, deutlich gemacht wird, dann kann man die Mansarde gleichsam in Richtung Keller um die 2. Etage als Drehpunkt herunterspiegeln, sodass Albin Brokenkorb in seinem zweiten Stockwerk dann doch wieder die räumlich ›richtige‹ Position des ›abgehobenen Intellektuellen‹, des – wie es bei Raabe heißt – »unpraktische[n], eigensinnige[n] Phantaste[n] und Schwärmer[s]« (BA 16, S. 369) innehat. Parallelen zu diesen zunächst einmal auf Irritationen hin angelegten Raum/Charakter-Korrespondenzen finden sich bei Raabe auch in Fabian und Sebastian. Wenn dort die Figur des Lorenz Pelzmann mal als »im Sumpfe« (BA 15, S. 56) versunken, dann aber anscheinend konträr dazu als »Luftflieger« (ebd., S. 12) charakterisiert wird, dann geht es auch hier um eine Abbildung der beiden Positionen aufeinander, um einen in seinen

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Thomas Mann, Beim Propheten. In: Ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1987, Bd. 1, S. 355–363, bes. S. 355. Siehe Heldt, Isolation und Identität (wie Anm. 10), der betont »wie sehr Raabe Individuum und Raum zusammen sieht […]. Der Raum ist eine Charaktereigenschaft, er ist nicht beliebiger Tauschwert, sondern unlöslich an die Person gebunden, er ist Objektivation einer subjektiven Verfassung« (S. 27). Räume dienen demnach »zur Hervorhebung bzw. Infragestellung einer subjektiven Position« (S. 35).

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Luftfantasien (semantisches Merkmal ›hoch oben‹) wie in einem Sumpfe (semantisches Merkmal ›tief unten‹) versunkenen jungen Mann.32 Während Fontane also auf dem Weg über Adressen und Straßen soziale Hierarchien entwirft, die die literarisch erzählten Räume so strukturieren, dass jede Figur letzten Endes ihren ›richtigen‹ Platz darin erhält, setzt Raabes Verfahren diese Folie bereits voraus und spielt mit ihr, indem er sie bisweilen bricht, dabei aber nicht gänzlich außer Kraft setzt. II.2 Semantisierung von historisch signifikanten Örtlichkeiten Ein zweites räumliches semantisches System bilden historisierende (Über-) Semantisierungen von Sub-Räumen wie Denkmälern, Gräbern, Straßen, Straßenkreuzungen, Orten und Regionen durch die Namen historischer Figuren und durch historische Ereignisse und Jahreszahlen mit besonderer Signifikanz.33 Sie stellen jene historischen Rückbindungen, ja geradezu Rückversicherungen her, die den für Kontinuität so wichtigen preußischen Werte- und Normenkanon selbst da noch behaupten, wo er bereits gefährdet oder gar im Verschwinden begriffen ist.34 Häuser beispielsweise werden bei Fontane nicht einfach nur bewohnt, sondern sind stets auch Endpunkte einer historischen Entwicklung. So fällt der »Sonnenschein« nicht einfach nur auf das »von der Familie Briest« bewohnte Herrenhaus, sondern auf die »Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie Briest bewohnten Herrenhauses« (HFA I/4, S. 7). Ähnliches gilt für Orte und Ortsnamen, wenn sie so etwas wie ›historische Tiefe‹ über viele Generationen hinweg anzeigen, wie im Stechlin. Hier ist es Rex, der die »große Feldsteingiebelwand« von Kloster Wutz auf »das Jahr 1375, also Landbuch Kaiser Karls IV.«, datiert, woraufhin Woldemar erwidert: »›Landbuch Kaiser Karls IV.‹ paßt beinah immer« (HFA I/5, S. 77f.). Das klingt fast so, als würde Fontane sagen: ›Schaut her, das ist mein Verfahren der Historisierung von Räumen und Örtlichkeiten, so _____________ 32 33

34

Schneider, Von unten nach oben und von oben nach unten (wie Anm. 15), S. 38, hat zwar die Dominanz der Vertikalsemantik gesehen, diese aber nicht auf den Charakter der LorenzFigur bezogen. Siehe dazu Wulf Wülfing, Nationale Denkmäler und Gedenktage bei Theodor Fontane. Zur Beschreibung, Funktion und Problematik der preußisch-deutschen Mythologie in kunstliterarischen Texten. In: Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr (Hrsg.), Historische Mythologie der Deutschen 1798–1918, München 1991, S. 210–230. Hallet und Neumann (Raum und Bewegung in der Literatur [wie Anm. 2], S. 11) weisen darauf hin, dass Raum »in literarischen Texten nicht nur Ort der Handlung, sondern stets auch kultureller Bedeutungsträger« ist, sodass »vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem […] im Raum eine konkrete anschauliche Manifestation« erhalten.

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mache ich es!‹ Weiter ist die »Landschaft« sowie »das Panorama des Gutes« im Stechlin, worauf Volkov in seinem Aufsatz zum Raumbegriff Fontanes hingewiesen hat, »durch kulturhistorische Exkurse in großem Maße angereichert«, wobei das »Ausmaß der Erfassung von Geschichte […] außerordentlich weit gefächert« ist, »vom 19. Jahrhundert rückwirkend bis zu jener fernen Zeit, als an den Ufern des Sees wendische Stämme siedelten«. Mit Bachtin, so Volkov, könne man sagen, dass »sich die Landschaft bei Fontane und anderen deutschen Realisten seiner Zeit (vor allem bei W. Raabe) in ›sein Stück Geschichte der Menschheit‹, in eine im ›Raum komprimierte historische Zeit‹ verwandelt« habe.35 Das hatte auch schon Hubert Ohl im Blick, als er von »Verräumlichung der Zeit« und komplementär dazu von »Verzeitlichung des Raumes« sprach, denn auch Ohl ging es darum, unter dem Paradigma des Raumes mehrere zeitliche Ebenen zu subsumieren, was in Bezug auf Raum nichts anderes heißt, als dass diese Zeitebenen zumindest einige durchgehend anzutreffende semantische Merkmale aufweisen müssen, die auch den jeweiligen Raum charakterisieren.36 Es scheint also kaum etwas an Orten oder auch Gegenständen zu geben, das Fontane in seinem Katalog der »lieux de mémoire«37 nicht hätte gebrauchen und nicht in eine historisierende Ahnenreihe stellen können. Denn werden Räume und Namen mit historisch signifikanten Jahreszahlen kurzgeschlossen, dann stabilisiert das ein Denken, bei dem das ›hic‹ und das ›nunc‹ immer nur den momentanen raum-zeitlichen Endpunkt einer langen historischen und damit vielfach auch geneaologischen Entwicklung darstellt. Das aber musste im 19. Jahrhundert konsequenterweise zu einer Aufwertung des beständigen Regionalen (und als dessen Element der Provinz) gegenüber dem unbeständigen Metropolitanen und auch gegenüber dem Einbruch der (kolonialen) Welt in beide führen, sodass man es mit einer tripolaren Konstellation zu tun hat. Im Gegensatz dazu stellt es einen enormer Bruch mit einer solchen Form der Traditionsbildung dar, wenn ein Adliger nicht nur ein neues Haus baut, sondern dies auch noch an anderer Stelle als zuvor und zudem in ›importiertem italienischem Stil‹, wie Graf Holk in Unwiederbringlich (vgl. HFA I/2, S. 567). Für Holk fallen Zeit und Raum dann auch auf ganz andere Weise zusammen, nämlich indem der neue Wohnsitz ihn, wie sein Schwager Arne konsta_____________ 35 36 37

Volkov, Der Begriff des Raumes (wie Anm. 16), S. 149 (zitiert wird Michail M. Bachtin, Estetika slovesnogo tvorcestva, Moskau 1979, S. 231). Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 144. Zum Konzept vgl. Pierre Nora, Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005; vgl. für Deutschland auch Etienne François und Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bde. I–III, München 2001ff.

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tiert,38 um fünfzehn Jahre verjüngt. Das aber ist ein geradezu gegenhistoristisches Programm. Machten die bisherigen Beispiele diachrone Formen der Kopplung von ›Zeit‹ und ›Raum‹ deutlich, so gibt es jedoch auch eher synchrone. Denn wenn Raum und Zeit ein gemeinsames semantisches Paradigma bilden können, dann ist es nicht ausgeschlossen, ein solches auch noch um weitere synchrone Elemente zu expandieren. In solchen Fällen würde es die Darstellung von Raum ermöglichen, einen Zusammenhang der Dinge zu evozieren, der diachron möglicherweise nie vorhanden war und synchron vielleicht gar nicht mehr vorhanden ist. In Fontanes Roman Der Stechlin wird das dadurch realisiert, dass – wie Claus-Michael Ort gezeigt hat – ein regelrechtes Stechlin-Paradigma entwickelt wird. Denn neben »der kausal determinierten Beziehung zwischen fernen Naturereignissen und der ›Sprudel- und Trichterstelle‹ […] des Sees Stechlin befindet sich« dieser auch »in räumliche […] Beziehungen zu seiner gleichnamigen Umgebung eingebettet«, und zwar erstens »zum ›Wald, der ihn umschließt‹«, zweitens »zum ›Dorf, das sich […] um seine Südspitze herumzieht‹«, drittens »zum ›Herrenhaus […] Schloß Stechlin‹« und viertens zum Schloßherrn Dubslav, von dem es ja heißt, dass auch er ein Stechlin sei. Im nachfolgenden Text wird das Paradigma dieser vier Elemente dann syntagmatisch in eine Abfolge »einzelne[r] Stationen« mit ihren jeweiligen kleineren »erzählten Geschichten« überführt. Dabei folgt – wie Ort weiter herausgearbeitet hat – sowohl »die räumliche Bewegung der Rezipienten […] diesem Raum-Syntagma« als auch die Abfolge der einzelnen SubGeschichten. Das bedeutet aber nichts anderes, als – so Orts Befund – das »im räumlichen Nebeneinander Angeordnet[e]« in eine »zeitliche Sukzession« zu überführen. »Genau solche, nur in temporaler Sukzession erfahrbaren, synchronisch-räumlichen wie diachronischen Beziehungen bilden jenen ›großen Zusammenhang der Dinge‹, den laut Melusine »›der Stechlin uns lehrt‹«.39 Die diachrone wie synchrone Verzeitlichung des Räumlichen im Sinne von Historisierung erscheint also geradezu als Erfordernis des Erzählens im bürgerlichen Realismus. Nahezu durchgängig weisen die übersemantisierten Räume bei Raabe und Fontane daher auch eine historisierendzeitliche Dimension auf, sodass man es bei beiden Autoren mit Raumkon_____________ 38 39

»Ich glaube, Holk, als du hier einzogst, hast du dir fünfzehn Jahre Leben zugelegt« (HFA I/2, S. 573). Ort, Zeichen und Zeit (wie Anm. 14), S. 158f. – Dieses Paradigma entwickelt – ohne es so zu nennen – implizit auch schon Gotthart Wunberg, Rondell und Poetensteig. Topographie und implizite Poetik in Fontanes ›Stechlin‹. In: Jürgen Brummack et al. (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 458–473, hier S. 461. Wunberg zeigt auch, wie sich das Große im Kleinen wiederfindet. So entspricht das Rondell vor Schloss Stechlin bis hin zur Fontäne dem See Stechlin (vgl. ebd., S. 464).

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struktionen zu tun hat, die nicht ohne die dazugehörige Zeitdimension zu denken sind, also mit Raum/Zeit-Überlagerungen.40 Sie prägen sich den literarisch dargestellten Räumen ein, bei Fontane vor allem über historisch signifikante Daten, Namen und Orte, bei Raabe bisweilen sogar ganz wörtlich, wie im Falle der im Giebeldreieck steckenden Kanonenkugel aus dem Siebenjährigen Krieg in Stopfkuchen,41 oder eben, indem unter einer Symbolik mehrere Zeitebenen zu einem semantischen Paradigma gebündelt werden. Das geschieht in der Erzählung Höxter und Corvey, indem die reale Flut des Handlungsraums Weser symbolisch genutzt wird, um Verwüstungen und Verheerungen durch Hochwasser und Kriege über mehrere Jahrhunderte hinweg miteinander zu verkoppeln (vgl. BA 11, S. 262). Das Ergebnis ist die schon von Hans Oppermann diagnostizierte »komplizierte Verschachtelung verschiedener Zeitebenen«,42 die eine ganz andere Form des Bezugs von Zeit auf Raum darstellt als Fontanes historisierende Rückverankerungen. Ihre geradezu sinnbildhafte Darstellung findet solche Zeitenschichtung dann in Stopfkuchen in den geologischen Schichtungen, mit denen sich Heinrich Schaumann beschäftigt. Ein Element des literarischen Handlungsraums steht damit zugleich als Bild für Raabes literarisches Verfahren. II.3 Die ›mental map‹ der Nationalstereotype bei Fontane Ein ganz anders geartetes semantisches Raumsystem bilden – drittens – die insbesondere von Theodor Fontane in spezifischer Weise genutzten Nationalstereotype,43 über die er so etwas wie eine semantisch aufgeladene räumliche Metastruktur für seine Romanwelt gewinnt. Darin lassen sich geografische Verbundräume der ›Naturalität‹ (von Skandinavien über Russland, Polen, Bayern und Österreich bis Ungarn reichend) und als deren Komplement Räume der ›Steifheit, Nüchternheit und Kulturalität‹ (von England über Hamburg und Hannover bis Holland) unterscheiden. _____________ 40 41

42 43

Für Wilhelm Raabe hat darauf als einer der Ersten Herman Meyer hingewiesen (Herman Meyer, Raum und Zeit [wie Anm. 10]). Raabe, Stopfkuchen (BA 18, S. 68): »›Und wenn du auch die halbe neue Weltgeschichte miterlebt und in Afrika selber mitgemacht hast, Eduard, das mußt du doch auch noch wissen, daß in meines Vaters Hausgiebel eine Kanonenkugel stak und heute noch steckt, die er – der Xaverl – damals im Siebenjährigen Kriege zu uns in die Stadt hineingeschossen hat! […]‹.« Hans Oppermann, Zum Problem der Zeit bei Wilhelm Raabe. In: Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht (wie Anm. 10), S. 294–311, hier S. 295. Vgl. zum Folgenden ausführlich Rolf Parr, ›Der Deutsche, wenn er nicht besoffen ist, ist ein ungeselliges und furchtbar eingebildetes Biest.‹ – Fontanes Sicht der europäischen Nationalstereotypen. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts (wie Anm. 8), Bd. I, S. 211–226.

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In toto sichert das der Mark Brandenburg und speziell noch einmal Berlin eine favorisierte Mittelstellung im Schnittpunkt der beiden damit konstituierten Achsen. Nimmt man das demgegenüber gängige System der europäischen Nationalstereotype als Folie,44 dann lässt sich über ihre literarische Weiterverarbeitung bei Fontane sagen: Er spielt, kalkuliert, bricoliert im System der Nationalstereotype mit den Nationalstereotypen seiner Zeit, wertet sie gegenüber der Normalmatrix punktuell um und hat so die Möglichkeit, sie in neuen, interessanten Konstellationen aufeinandertreffen zu lassen. Vergleichend kann man sagen, dass Fontane mit dem semantischen Raum der europäischen Nationalstereotype ähnlich verfährt, wie Raabe mit dem sozialhierarchischen Potenzial der Adressen. Solche Systeme von Nationalstereotypen finden sich bei Fontane auf zwei Ebenen: einer regionalen und einer gesamteuropäischen Ebene der Nationen (mit Ausblicken auch auf andere Kontinente). Auf regionaler Ebene – um es nur an einem Beispiel deutlich zu machen – werden die preußisch-deutschen Landsmannschaften systematisiert und zugleich um eine symbolische Mitte gruppiert, wobei ziemlich genau das herauskommt, was Tante Adelheid ihrem Neffen Woldemar von Stechlin als Orientierung für die Brautwahl an die Hand gibt, nämlich eine verbalisierte und narrativ expandierte West/Ost-Achse rechts und links um die bestmögliche Mitte: Ich habe sie von allen Arten gesehen. Da sind zum Beispiel die rheinischen jungen Damen, also die von Köln und Aachen; nun ja, die mögen ganz gut sein, aber sie sind katholisch, und wenn sie nicht katholisch sind, dann sind sie was andres, wo der Vater erst geadelt wurde. Neben den rheinischen haben wir dann die westfälischen. Über die ließe sich reden. Aber Schlesien. Die schlesischen Herrschaften […] sind alle so gut wie polnisch und leben von Jesu […]. Und dann sind da noch weiterhin die preußischen, das heißt die ostpreußischen, wo schon alles aufhört. […] Und nun wirst Du fragen, warum ich gegen andre so streng und so sehr für unsere Mark bin, ja speziell für unsre Mittelmark. Deshalb, mein lieber Woldemar, weil wir in unsrer Mittelmark nicht bloß äußerlich in der Mitte liegen, sondern weil wir auch in allem die rechte Mitte haben und halten. (HFA I/5, S. 161)

Auf gesamteuropäischer Ebene geht es um das System der europäischen Nationalstereotype insgesamt. Allerdings bleibt eine solche, eine ganze Reihe von Nationen einschließende systematische Exploration der Nationalstereotype bei Fontane eher die Ausnahme und wird – wenn sie denn _____________ 44

Jürgen Link, Anhang: Nationale Konfigurationen, nationale ›Charakter-Dramen‹. In: Jürgen Link und Wulf Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991 (= Sprache und Geschichte, Bd. 16), S. 53–71; siehe auch Ute Gerhard und Jürgen Link, Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Ebd., S. 16–52.

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vorkommt – eher referiert als selbst entwickelt. Exemplarisch ist hier die in Kriegsgefangen wiedergegebene Stelle aus dem englischen »Schul- und Kinderbuch ›Peter Parley’s Reise um die Welt, oder was zu wissen not tut‹«: Der Holländer wäscht sich viel und kaut Tabak; der Russe wäscht sich wenig und trinkt Branntwein; der Türke raucht und ruft Allah. Wie oft habe ich über Peter Parley gelacht. Im Grunde genommen stehen wir aber allen fremden Nationen gegenüber mehr oder weniger auf dem Peter-Parley-Standpunkt; es sind immer nur ein, zwei Dinge, die uns, wenn wir den Namen eines fremden Volkes hören, sofort entgegentreten: ein langer Zopf, oder Schlitzaugen, oder ein Nasenring. (HFA III/4, S. 550)

Durch solches Referieren werden die Stereotype in Umlauf gebracht bzw. gehalten, ohne direkt auf das Konto Fontanes zu gehen. Das macht es ihm möglich, sowohl Kritik an solchen Zuschreibungen zu üben, als auch selbst von ihnen abzuweichen, etwa indem er verschiedene Figuren je andere Nationenbilder entwickeln lässt, was beispielsweise die ganz unterschiedlichen England-Bewertungen im Gesamtwerk erklärt, ein Verfahren, das man im Stechlin – Günter Häntzschel hat darauf hingewiesen – in nuce beim England-Gespräch im Salon der Familie Barby findet.45 In raumsemantischer Hinsicht ist Fontanes spezifischer Entwurf der europäischen Nationalstereotype also durch eine Reihe von Achsenspiegelungen rechts und links um eine symbolische ›Mitte‹ gekennzeichnet. So sind Frankreich und Polen hinsichtlich solcher Merkmale wie ›Spieler sein‹, ›unberechenbar sein‹, ›leichtfertig sein‹ tendenziell austauschbar. Eine zweite Spiegelachse ist die nord-südliche der ›Vitalität‹, wobei der Süden tendenziell ›vitaler‹ ist. So erscheint Österreich – in Verlängerung Bayerns – geradezu als Hort der ›Natürlichkeit‹ bzw. ›Vitalität‹, und auch Russland ist im Vergleich mit Preußen-Deutschland ein ›Naturvolk‹. Sowohl die Nord/Süd- als auch die West/Ost-Achse sind dabei nach dem Modell von Zentrum und Peripherie angelegt, wobei Skandinavien jedoch nicht einfach nur die noch deutlicher ausgeprägte Variante des norddeutschen Wesens darstellt, sondern mit der ›Reinheit‹ dieser Ausprägung die ›Natürlichkeit‹ Bayerns und Österreichs im Norden spiegeln kann. Die NordSüd-Achse wird also nicht strikt durchgehalten. Auch Hamburg fällt heraus und wird – wie in Frau Jenny Treibel – England zugeschlagen. Diese Anordnung der Nationalstereotype ergibt insgesamt so etwas wie ein geografisches Mapping semantischer Verbundräume oder, wenn man so will, ein Bild von Fontanes literaturinterner Raumpolitik am Leit_____________ 45

Günter Häntzschel, Die Inszenierung von Heimat und Fremde in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 157–166, hier S. 163.

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faden der Nationenbilder. Auch wenn die ›mental map‹ der europäischen Nationalstereotype in den einzelnen Texten Fontanes nur punktuell realisiert wird, bleibt sie doch im einzelnen Text wirksam, da das System der den Nationen zugeschriebenen Merkmale und Charaktere auf Distinktionen beruht und im Hintergrund stets präsent ist. So sind in Unwiederbringlich eine ganze Reihe der einem auf Schritt und Tritt begegnenden Grenzüberschreitungen auch solche im System der Nationalstereotype: Die semantische Grenze zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein ist nur deshalb so groß, weil sie zugleich eine zwischen ›für deutsch erachteter Provinz‹ und einer qua Hofkultur ›französisch‹ übersemantisierter dänischer Residenzstadt ist, und zudem auf andere Grenzziehungen abgebildet bzw. mit diesen kurzgeschlossen werden kann: zwischen Land- und Hofadel, zwischen höfischer und pietistischer Moral, zwischen religiöser Norm und gelebter Normalität. Die topografischen Grenzen werden bei Fontane auf diese Weise zu symbolischen sozialen und zugleich mehrdimensionalen kulturellen Grenzen. Von daher kann man Fontanes Romane, wie White vorgeschlagen hat, »als eine literarische Umsetzung des Themas Grenzen lesen«: Es gibt »begrenzt[e] […] und nicht begrenzt[e] […] Räume« mit einer Dialektik von »Grenzüberschreitung und dem Respekt vor Grenzen. […] Die dargestellten Landschaften reproduzieren diese Antithetik und fungieren somit als symbolische Karte«,46 auf der die Handlung ihre räumliche Entfaltung findet. Holks, von Ebba dann als zu deutsch-ernst charakterisierte Frage: »›Hier ist die Grenze, Ebba. Wollen wir darüber hinaus?‹« (HFA I/2, S. 749) zeigt so prägnant wie vielleicht keine andere Stelle im Werk Fontanes diese Form der Übersemantisierung von Räumen und Grenzen auf. Der fällige Parallelblick auf das Werk Raabes kann für das Mapping der Nationalstereotype denkbar kurz ausfallen: Sie kommen bei ihm so gut wie nicht vor, geschweige denn bilden sie über mehrere Texte hinweg ein System distinkter Zuschreibungen semantischer Merkmale, was einzelne Bezüge auf die den Nationen zugeschriebenen Merkmale nicht ausschließt, so etwa auf die ›deutsche Innerlichkeit‹ in Stopfkuchen. II.4 Nahe Räume, ferne Räume Als vierter und letzter vorzustellender Bereich der Konstruktion von Räumen ist für Fontane wie auch Raabe die Abbildung von Ferne auf Nähe und umgekehrt charakteristisch, also der Anschluss der Provinz an _____________ 46

Michael White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹ Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 129 (2010), S. 109–123, hier S. 109.

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die ›Welträume‹ und der ›Welträume‹ an die Provinz. Die ›Fernrohreffekte‹, die die geografische wie mentale Ferne in die Nähe, also den Raum der Welt gleichsam in den der Provinz hineinholen (auch dann, wenn diese innerhalb der Metropole angesiedelt ist), gibt es bei Fontane ebenso wie bei Raabe, aber jeweils in signifikant anderer Form. In Die Poggenpuhls beispielsweise werden die Fernrohreffekte auf dem Weg der Symbolisierung erzielt, so im Gespräch Leopold Poggenpuhls mit der Haushälterin Friederike über die Möglichkeit, seine prekäre finanzielle Situation durch Heirat zu lösen, womit man »mit einemmal raus« ist.47 ›[…] Wenn es aber nichts wird, na, dann Friederike, dann müssen die Schwarzen ran, das heißt die richtigen Schwarzen, die wirklichen, dann muß ich nach Afrika.‹ ›Gott, Leochen! Davon hab’ ich ja gerade dieser Tage gelesen. Du meine Güte, die machen ja alles tot und schneiden uns armen Christenmenschen die Hälse ab.‹ (HFA I/4, S. 505)

Die Transformation von ›Ferne‹ in eine die Personen unmittelbar betreffende ›Nähe‹ wird im Folgenden dann durch uneigentliche Verwendung des zunächst noch durchaus wörtlich gemeinten ›Hälse-Abschneidens‹ erzielt: »Das tun sie hier auch; überall dasselbe.« (ebd.) Das zumindest als realistisch imaginierte ›Hälse abschneiden‹ in Afrika wird übertragen auf die Situation des Schuldners Leo und von diesem auf den mit dem Bild ›Halsabschneider‹ gar nicht explizit genannten, wohl aber gemeinten heimischen Finanzmarkt. Das Prinzip des Rückbezugs von Ferne auf Nähe intensiviert Leo noch einmal, indem er spezifisch Afrikanisches zunächst auf den Mittelpunkt eines jeden preußischen Offizierskasinos, den Billardtisch, umlenkt, um von da aus die imaginäre Freiheit in den Kolonien wieder auf die ihm konkret in Berlin drohende Schuldhaft zu beziehen: ›Ja, das ist richtig. Aber dafür hat man auch alles frei, und wenn man einen Elefanten schießt, da hat man gleich Elfenbein, so viel man will und kann sich ein Billard machen lassen. Und glaube mir, so was Freies, das hat schließlich auch sein Gutes. Hast du mal von Schuldhaft gehört? Natürlich hast du. Nu sieh, so was wie Schuldhaft gibt es da gar nicht, weil es keine Schulden und keine Wechsel gibt und keine Zinsen und keinen Wucher, und wenn ich in Bukoba bin – das ist so’n Ort zweiter Klasse, also so wie Potsdam –, da kann sich’s treffen, daß mir der Äquator, von dem du wohl schon gelesen haben wirst und der so seine guten fünftausend Meilen lang ist, daß mir der gerade über den Leib läuft.‹ (HFA I/4, S. 506)

_____________ 47

Dieser Abschnitt folgt passagenweise Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde (wie Anm. 45), S. 212–228.

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Ist in Fontanes Die Poggenpuhls die Provinz, in die die (koloniale) Welt per Fernrohreffekt hineingeholt und in Nähe konvertiert wird, noch als prekär gewordene Idylle innerhalb der Metropole Berlin angesiedelt, so ist sie im Stechlin auch räumlich davon abgerückt, bei Beibehaltung der medialen Verkürzungen von Raum und Zeit (etwa durch das Telefonieren des Stechlinsees mit Java und Island). Etwas anders aber als in den Poggenpuhls, in denen das ferne Afrika in die Berliner Küche geholt wird, wird die Welt im Stechlin nicht nur durch ›Fernrohreffekte‹ in die Nähe geholt, sondern auch umgekehrt der See an die ferne Welt angeschlossen, denn er hat »vornehme, geheimnisvolle Weltbeziehungen« (HFA I/5, S. 135).48 Dominant aber bleibt die umgekehrte Richtung, was sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Überlagerung der nahen durch die fernen Räume manifestiert, denn die Elemente aus und die Bezüge auf die Kolonien bilden eine nahezu stets präsente zweite Raumkonstruktion, mit Mohrenfiguren vor Kolonialwarenläden, Straußenfedermode, roten Ampeln als Beleuchtung im Schlafzimmer und exotischen Pflanzen. Diese zweite Ebene der Raumkonstruktion und ebenso die Fernrohreffekte lassen die Romanfiguren bei Fontane fast schon als ›Immobilien‹ erscheinen, die nicht in die Welt hinaus müssen, sondern diese zu sich hineinholen können bzw. sich ihr ›anschließen‹. Dadurch gewinnen sie für ihre Gespräche, Vorstellungen und Reflexionen einen zweiten semantischen Referenzraum, ohne den ersten verlassen zu müssen. Wilhelm Raabes Protagonisten müssen demgegenüber reisen, denn er nutzt solche Nähe/Ferne-Konstruktionen in wiederum ganz anderer Form.49 Der Protagonist seines Romanfragments Altershausen hat ›die Welt‹ gleichsam im Rücken, räumlich und zeitlich hinter sich und sucht mit dem Gang zurück in die Provinz zugleich auch zurück in die Vergangenheit seiner Jugend zu gelangen. Damit werden Raum- und Zeitsemantiken geradezu übereinander kopiert, was um 1900 auch ein gängiges Modell in der ›Verheimatung‹ der Kolonien war. Denn die Reise in die Ferne der Kolonien wurde vielfach auch als eine Reise zurück in eine bessere Vergangenheit imaginiert, die damit eigentlich schon wieder eine auf Kommendes hin orientierte Utopie war. Insofern hat man es aber auch bei den Kolonialdiskursen der Jahrhundertwende mit raum-zeitlichen Übergängen zwischen kulturell-räumlichen und zeitlichen Diachronien zu tun. Der Blick zurück und der Gang in die Ferne fallen tendenziell zusammen, Raum und Zeit korrespondieren auf das Engste, die Kolonien werden in _____________ 48 49

Mit solcher tendenziellen Umkehr der Perspektive wird aber das Grundmodell nicht außer Kraft gesetzt. Das ist genau die Perspektive, die auch Rundschau- und Familienzeitschriften wie Nord und Süd, Über Land und Meer usw., in denen Fontane und Raabe publizieren, als ihren ›heimholenden Blick in die Welt hinaus‹ praktizieren. Siehe auch Parr, Kongobecken (wie Anm. 47).

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einem sehr wörtlichen Sinne zum ›ZeitRaum‹ einer Utopie, wie ihn auch Altershausen herstellt, dabei jedoch die Friktionen zwischen der Aktualität des Raums und der Asynchronität der (versuchten) Erinnerung betont. Raabe geht es dabei aber nicht um eine idealisierende Projektion von Heimatvorstellungen auf eine dann real wie auch immer geartete Fremde, sondern vielmehr darum, herauszustellen, dass Heimat und Fremde letztlich von den gleichen Problemen bestimmt sind. Damit entwickelt er ein Gegenmodell zur einfachen Dichotomie ›eigen/fremd‹. Die bei Raabe so häufig anzutreffende Figur des Heimkehrers, wie Peter J. Brenner sie untersucht hat,50 ist aus Perspektive der semanalytischen Raumanalyse daher kein typischer Grenzüberschreiter oder gar Grenzverletzer, der von dem einen semantischen Raum in einen davon deutlich unterschiedenen anderen wechselt. Das ist lediglich in der Erzählung Zum wilden Mann der Fall, in der Agostin Agonista als ein solcher Grenzüberschreiter fungiert, der als Fremder in den semantischen Raum der Kristeller’schen Apotheke eintritt, um ihn dann letztlich zu vernichten. Was den ›Hinweg‹ nach Brasilien angeht, korrespondiert im Falle Agonistas mit dem Raum- auch ein Namenswechsel und damit wiederum ein Wechsel der Figurencharakteristik. In der umgekehrten Richtung von Brasilien in den Harz ist das nicht mehr der Fall, sodass Agonista in die alte Heimat als Grenzüberschreiter zurückkehrt, nicht aber als ›Heimkehrer‹ im emphatischen Sinne. Ganz anders sieht es in Die Innerste aus. Der junge Bodenhagen zeigt sich nach der Rückkehr aus dem Krieg in die kleine Welt der väterlichen Wassermühle alles andere als ›wild‹. Vielmehr unterwirft er sich der Semantik des Wassermühlen-Raumes, auch wenn ihn das fast zugrunde richtet. Auch die Erzählung Höxter und Corvey ist zunächst einmal in zwei semantische Räume geteilt, den ›katholischen‹ und den ›evangelischen‹, die sich in einem mittleren Raum der Vermischung und Tumulte begegnen. Dem entspricht in Zum wilden Mann der verbindende Raum der ›guten Natur‹, die zwischen der ›unbeherrschbar-wilden Natur‹, in der das Gehöft der Familie Mördling liegt, und der eingefriedeten Kleinstadt, in der Philipp Kristeller wohnt. Der Zwischenraum ist dabei lediglich einer der Begegnung, nicht aber einer der Vermittlung zwischen semantischen Antagonismen und den ihnen zugeordneten Figuren.51

_____________ 50 51

Peter J. Brenner, Die Einheit der Welt – Zur Entzauberung der Fremde und Verfremdung der Heimat in Raabes ›Abu Telfan‹. In: JbRG (1989), S. 45–62. Siehe dazu Rolf Parr, Tauschprozesse in Wilhelm Raabes Erzählung ›Zum wilden Mann‹: materiell und semantisch. In: Georg Mein und Franziska Schössler (Hrsg.), Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen, Bielefeld 2005, S. 275–290.

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Räume und handelnde Figuren (Aktanten) sind, wie Lotman herausgearbeitet hat, wechselseitig konstitutiv füreinander:52 »Die Figur, die den Raum durchquert, die Grenzen überschreitet und auf diese Weise einen Aktionsraum schafft, löst Instabilitäten aus und initiiert hiermit den Plot.«53 Auch im Falle von Abu Telfan und dem Afrika-Heimkehrer Leonhard Hagebucher könnte man daher zunächst an zwei antagonistische Räume von ›Fremde‹ und ›Heimat‹ denken, doch ist es gerade dieser Gegensatz, den Raabes Text unterläuft und der – wie Brenner gezeigt hat – damit auch die gängige Heimatkritik vom Ort des in der Fremde Gewesenen aushebelt: »Die Erfahrung, die Leonhard Hagebucher aus dem Mondgebirge mitbringt, ist nicht die einer besseren Welt; seine Erfahrung ist vielmehr die, daß sich die Heimat und die Fremde in ihren grundsätzlichen Strukturen gleichen«:54 Heimat in Deutschland und Fremde in Afrika sind zwar weiterhin ganz verschiedene topografische Räume, hinsichtlich der mit ihnen jeweils verknüpften semantischen Paradigmen weisen sie aber deutliche Parallelen auf. Von daher stellen sich auch die Transferbewegungen zwischen ihnen letztlich als alles andere denn als Grenzübertritte dar, sondern sie sind ›nur noch‹ Bewegungen in ein- und demselben semantischen Raum. In spielerisch-kondensierter Form macht dies auch Fontanes Gedicht Afrikareisender deutlich, in dem Kamerun und Berlin, Gelbfieber und industrielle Umweltverschmutzung, Nähe und Ferne zu Äquivalenten werden: ›… Meine Herren, was soll dieser ganze Zwist, Ob der Congo gesund oder ungesund ist? Ich habe drei Jahre, von Krankheit verschont, Am grünen und schwarzen Graben gewohnt, Ich habe das Prachtstück unsrer Gossen, Die Panke, dicht an der Mündung, genossen Und wohne nun schon im fünften Quartal Noch immer lebendig am Kanal. Hier oder da, nah oder fern Macht keinen Unterschied, meine Herrn, Und ob Sie’s lassen oder tun, Ich gehe morgen nach Kamerun.‹ (HFA I/5, S. 389)

_____________ 52

53 54

Siehe Lotman, Die Struktur literarischer Texte (wie Anm. 13). Siehe auch Volkov, Der Begriff des Raumes (wie Anm. 16), S. 144: »In Fontanes Erzählwerk bleibt der Raum niemals einfach nur Hintergrund oder erstarrte tote Dekoration; er lebt mit den Gedanken und Gefühlen der Figuren und tritt als Generator ihrer Emotionen in Erscheinung, im Kontrast oder Einklang mit deren Stimmungen.« Hallet und Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur (wie Anm. 2), S. 17. Brenner, Die Einheit der Welt (wie Anm. 50), S. 48.

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Raabe und Fontane zeigen sich mit solcher Parallelführung als frühe Globalisierungsdiagnostiker und nicht zuletzt auch als Globalisierungskritiker. Beide verschieben, wenn auch hier wieder jeder auf ganz verschiedene Weise, koloniale Diskurse auf eine reflexive Ebene, die den Blick auf eine in mancher Hinsicht für analog zur Ferne erachtete Nähe einschließt. III. Gibt es spezifisch ›realistische‹ Raumkonstruktionen? Bleibt zu fragen, ob es für die Texte des ›bürgerlichen Realismus‹ Spezifika in der Semantisierung imaginärer Räume bzw. der Übersemantisierung realer Räume gibt, die vorher und nachher so nicht anzutreffen sind, ob – noch einmal mit Lotman gefragt – es beispielsweise spezifische Formen der Grenzziehung bzw. Grenzüberschreitung im Realismus gibt. In einer Reihe von Arbeiten zum bürgerlichen Realismus hat Marianne Wünsch festgestellt, dass »sowohl die Strukturen der dargestellten Welt als auch die des Textes selbst […] im Realismus durch ein System von Grenzziehungen charakterisiert« sind, »durch die jeweils lebbare und beherrschbare Innenräume von gefährlichen und bedrohlichen Außenräumen abgegrenzt werden«. Festgemacht am Beispiel Unwiederbringlich lässt sich sagen, dass hier die »Errichtung einer […] Grenze die zentralen Handlungskonflikte« hervorbringt, weiter, dass »das realistische Subjekt« die für es relevante Grenze auf einer »psychologischen Ebene« »gegen alles andere innerhalb und außerhalb seiner selbst zu verteidigen sucht«, wie im Falle der pietistischen Christine. Auf einer »moralischen Ebene« wird »ein System von Normen, das schon im Realismus selbst nicht mehr theoretisch begründbar scheint, gleichwohl praktisch aufrechterhalten« (man denke für Effi Briest an Wüllersdorfs Legitimation des Duells).55 Das sieht in der Frühen Moderne ganz anders aus, denn dort können die im »Realismus relevante[n] Grenzziehungen unsanktioniert überschritten werden, wobei Grenzen »im Akt ihrer Überschreitung« auch durchaus »getilgt werden« können. Zugleich können bisher gültige Grenzen weiter hinausgeschoben werden, das heißt, fixierte normative Grenzen werden zu normalistischen Grenzen, die verhandelbar sind. Insgesamt werden damit die tendenziell eher binär angelegten antagonistischen Räume des Realismus in »Gliederungen vom Typ der kontinuierlichen Skala« überführt.56 Um dies zu illustrieren, sei auf Eduard von Keyserlings Roman Wellen von 1911 hingewiesen, in dem es eine Vielzahl von naturalen _____________ 55 56

Wünsch, Realismus (wie Anm. 14), S. 355. Ebd., S. 356. Siehe dazu auch Rolf Parr, Die Auseinandersetzung mit flexiblem Normalismus als Charakteristikum der ›Klassischen Moderne‹. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 59 (Oktober 2010), S. 57–61.

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Grenzziehungen zwischen Dünenlandschaft, Strand, seichtem Wasser, erster Sandbank, tieferem Wasser, zweiter Sandbank und offener See gibt, die auf soziale Grenzziehungen wie auch solche erotischer Art abgebildet werden. Die Figuren agieren ständig als Grenzüberschreiter, ohne dass dies normative Folgen hätte.57 Das wäre bei Fontane trotz aller vorsichtigen Ansätze in Effi Briest oder Unwiederbringlich noch nicht möglich gewesen und auch bei Raabe ist ein solches Denken in kontinuierlichen Übergängen noch nicht anzutreffen.

_____________ 57

Siehe dazu Rolf Parr, Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität. Eduard von Keyserlings Roman ›Wellen‹. In: Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hrsg.), Grenzräume der Schrift, Bielefeld 2008 (= Literalität und Liminalität, Bd. 2), S. 143–165.

II. Raumwandel, Natur und Nation im Modernisierungsprozess

Nester an der Eisenbahn Nation, Welt und Bewegung bei Raabe und Auerbach Hans-Joachim Hahn

Eine Landschaft, durch welche die Eisenschienen gestreckt werden, verwandelt sich durch Ausgrabungen und Aufböschungen, und alles rings umher – die Einwohner und die Früchte des Feldes – wird in eine neue Beweglichkeit versetzt. Aehnlich ist es in einem Hause, in das zum erstenmal eine Zeitung kommt und nun täglich sich einstellt.1

In dieser Passage aus Berthold Auerbachs (1812–1882) später Dorfgeschichte Das Nest an der Bahn, 1876 in einem Band zusammen mit zwei weiteren nachgetragenen Dorfgeschichten und einer Vorbemerkung des Autors erstmals erschienen, die alle drei an frühere Erzählungen aus den 1840er Jahren anknüpfen, werden die beiden traditionellen Raummodelle Landschaft und Haus mit Mobilität verschränkt. Die Schienen der Eisenbahn verwandeln eine bereits kulturell geformte Landschaft und die in ihr lebenden Menschen ebenso, wie es nach Auffassung des Erzählers die Zeitung im Hinblick auf die Menschen tut. Technik und Zeitung bringen Bewegung in zuvor weniger mobile räumliche und mentale Verhältnisse und werden ausdrücklich als Erzeuger von Verwandlung begrüßt. Zentrale Themen des bürgerlichen Realismus wie etwa das Verhältnis von Großem und Kleinem, von Peripherie und Zentrum, oder die »Bewußtmachung einer noch im Kleinsten zu beobachtenden Gesetzlichkeit des Lebensganzen«, wie es Andreas Huyssen im Blick auf Stifters Erzählsammlung Bunte Steine formuliert hat,2 deuten sich im Vergleich der Raumordnungen Landschaft und Haus an. Die behauptete Harmonie zwischen Haus und Landschaft dient aber vor allem der Konstruktion und Bestätigung der deutschen Nation. Auch Auerbachs Dorfgeschichten beteiligen sich am _____________ 1

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Berthold Auerbach, Das Nest an der Bahn [1876]. In: Ders., Berthold Auerbachs Schriften. 18 Bde., Bd. 18: Schwarzwälder Dorfgeschichten, 10. Bd., Stuttgart: Cotta [o. J.], S. 3–126, hier S. 35f. Andreas Huyssen, Einführung zu ›Aus der Vorrede zu Bunte Steine‹ [1853]. In: Ders. (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus. 2. Aufl., Stuttgart 1978 (= Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 11), S. 46.

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»project of nation-building«,3 das in der Zeit zwischen 1789 und dem Ersten Weltkrieg das kulturelle Imaginäre nicht nur in den deutschen Kleinstaaten und dann im Deutschen Reich umtrieb. Im Kern spiegelt die angeführte Passage Auerbachs Gesellschaftsmodell der 1870er Jahre wider, das Aufklärung, Bildung und industriellen Fortschritt mit einem liberal-konservativen Wertesystem verbindet und die Reichsgründung von 1871 ebenso wie den vorausgegangenen deutschfranzösischen Krieg als konstitutive Elemente der deutschen Nationsgründung bekräftigt. Wie sich soziale Räume unter dem Einfluss von Zeitung und Eisenbahn verändern bzw. idealtypisch verändern sollen, wird in der Erzählung am Beispiel eines badischen Bahnwärterhäuschens und seiner Bewohner/innen durchgespielt. Als »Nest« apostrophiert, verweist es ebenso auf einen Ort in der Provinz mit Verbindungen zur Hauptstadt und in die ›Welt‹ wie es gleichzeitig als Schutzraum für das Heranwachsen neuer Bürger und Bürgerinnen zu verstehen ist, denen Familie und Haus das ›Flüggewerden‹ ermöglichen sollen. In dieser spezifischen Raumsemantik der Erzählung erscheint die Nation als familiäre ›Gemeinschaft‹, die auch ehemaligen Sträflingen eine Reintegration und ihren Nachkommen Aufstiegschancen und soziale Mobilität ermöglicht. Eine Analyse der Erzählung vor allem im Hinblick auf ihre Raumsemantik soll hier mit einer Relektüre von Wilhelm Raabes Roman Alte Nester kontrastiert werden, der erstmals im Juli und August 1879 in Westermanns Illustrirten Deutschen Monatsheften veröffentlicht wurde und im November desselben Jahres in Buchform erschien.4 Wenn wissenschaftliches Vergleichen mit anderem Vergleichen gemein hat, »daß räumlich oder zeitlich Entferntes in eine Nachbarschaft gerückt wird und dadurch Züge der Verwandtschaft oder Fremdheit, der Verträglichkeit oder Unverträglichkeit zu erkennen gibt«,5 dann eignet auch dem hier unternommenen Versuch eine raumzeitliche Perspektive. Idealerweise versetzt die wissenschaftliche Versuchsanordnung dieses Vergleichs auch den Kommunikationsraum der Realismusforschung und ihrer Fragestellungen ein kleines Stück weit »in eine neue Beweglichkeit«. Das Thema des Raums, dem nicht zuletzt unter den Vorzeichen eines ›spatial turn‹ in den Kulturwis_____________ 3

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Irene S. Di Maio, Nation and Gender in Wilhelm Raabe’s Pre-Unification Historical Narratives. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives, London 2009, S. 114–125, hier S. 114. Grundlegend Benedict Andersons Studie mit der bekannten Formel von der Nation als »vorgestellte(r) politische(r) Gemeinschaft« (Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2., um ein Nachwort von Thomas Mergel erweiterte Auflage der Neuausgabe 1996, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 15). Siehe den Herausgeberkommentar in BA 14, S. 459. Klaus Heinrich, Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt am Main 1992 [1964], S. 63.

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senschaften seit geraumer Zeit zunehmend Bedeutung zugesprochen wird, besitzt vielfältige Dimensionen, die als Ausgangspunkte unterschiedlicher Erkenntnisinteressen dienen.6 Dazu zählt auch die Frage nach dem jeweiligen wissenschaftlichen Ort, von dem aus ein solcher Vergleich angestellt wird, der nie neutral ist, sondern immer einer mehr oder weniger bewussten Auswahl und Perspektivierung folgt. Die Wissenssoziologie Karl Mannheims nennt das die »Standortgebundenheit«.7 Insofern steht auch die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissenschaft zur Debatte, das die Literatur des Realismus selbst reflektiert und zu reflektieren aufgibt. In der Einleitung eines Sammelbandes zur Realismusforschung wurde kürzlich vor allem im Hinblick auf Fontanes Texte festgestellt, »dass eine strikte Trennung von Wissenschaft, Technik und Medien nicht nur Fontanes spezifische Erzähltechnik meist impliziter Bezugnahmen auf ineinander verschränkte zeitgenössische wissenschaftliche und technische Diskurse verfehlen muss«, sondern auch verkenne, dass während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Trennung zwischen »reiner« und »angewandter« Forschung noch nicht existiert habe.8 Schon vor Jahrzehnten wurden erste Versuche unternommen, nach der Bedeutung der literarisch gestalteten Räume in Raabes Werken zu fragen.9 Im Hinblick auf Alte Nester ist aber vor allem ein wesentlich aktuellerer Ansatz grundlegend: So hat Dirk Göttsche gezeigt, dass die Veränderungen der sozialen Wirklichkeit im Text durch kontrastive Erinnerungen deutlich werden, denen Verwandlungen der Orte ebenso wie der Beziehungen unter den Protagonisten korrelieren.10 Durch eine Struktur von Wiederholungen werde im Roman der »Wandel seines Sozialraums« veranschaulicht.11 Grundsätzlich stellen Raum und Zeit konstitutiv aufeinander bezogene Kategorien der Darstellung dar. Während bei Raabe so die Verschränkung von Raum- und Zeitkonstruktionen im Fokus der Erinnerung als grundlegend gelten kann für die Erzählstruktur und zu einer Re_____________ 6 7 8

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Siehe Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 284–328. Karl Mannheim, Wissenssoziologie, Neuwied 1964. Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke, Die Signatur der Epoche. Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 7–14, hier S. 8f. Siehe Herman Meyer, Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst [1953]. In: Hermann Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht, Stuttgart/Berlin 1968, S. 98–129; Frank C. Maatje, Der Raum als konstituierendes Moment in Wilhelm Raabes ›Hungerpastor‹ [1961]. In: Ebd., S. 185–191. Weder beziehen sich die beiden Aufsätze jedoch auf Alte Nester noch stellen sie ihre Überlegungen zur Raumsemantik in den Kontext von Nation und Weltpolitik. Siehe Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 78–88, hier S. 79f.; Hans-Jürgen Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an ›Alte Nester‹. In: JbRG (1989), S. 1–27, hier S. 21. Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik (wie Anm. 10), S. 80.

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flexion der Bedingungen von Erinnerung führt, erscheint bei Auerbach Erinnerung als unproblematischer Vorgang, bei dem nur das Erinnerte selbst – die Vergangenheit der Protagonist(inn)en Jakob und Magdalene – ein Problem darstellt.12 Beide Erzähltexte lassen ihre Protagonisten im Alter auf Erlebnisse aus der Jugend zurückblicken und besitzen auch darüber hinaus noch Gemeinsamkeiten, auf die schon die jeweilige Titelmetapher des ›Nests‹ verweist. Nicht nur stellt die Einbeziehung der Eisenbahn einen wichtigen Berührungspunkt beider Narrative dar; sowohl Das Nest an der Bahn als auch Alte Nester nehmen jeweils auf einen früheren Text ihres Autors Bezug. Dies geschieht allerdings in durchaus unterschiedlicher Intention. Schließlich liegen die Entstehungszeiten beider Texte im Gegensatz zu der ihrer jeweiligen Vorgängertexte nach der deutschen Reichsgründung von 1871. Vor diesem Hintergrund wird hier gefragt, wie in den beiden Texten der übergreifende Sozialraum Nation im Unterschied zu ›Welt‹ und Provinz auf der Grundlage beschleunigter Bewegung organisiert wird. I.

Auerbachs Nester als fiktive Räume sozialer Mobilität

In Das Nest an der Bahn wird die Geschichte von Jakob und Magdalene aus Sträflinge, einer Dorfgeschichte, die 1846 – genau dreißig Jahre vor Das Nest an der Bahn – veröffentlicht wurde, bis in die Erzählgegenwart der 1870er Jahre fortgeführt. Von den neun Kindern, die Magdalena in dieser Zeit zur Welt brachte, haben fünf überlebt. Ihr ältester Sohn Emil, auf den seine Eltern zunächst ihre größten Hoffnungen setzten, erweist sich als Enttäuschung. Zunächst als Dorflehrer angestellt, später als persönlicher Sekretär des Liberalen Dr. Heister tätig, der sich für die früheren Sträflinge Jakob und Magdalene eingesetzt und ihre Reintegration bewirkt hatte, beteiligt er sich am Preußisch-Deutschen Krieg 1866 und wird danach vermisst. Dagegen entwickelt sich der zweitgeborene Sohn Albrecht zum Wohlgefallen der Eltern und macht bei der Bahn Karriere. Technische Beschleunigung wird so mit sozialer Mobilität enggeführt. Albrecht wird sich am Ende der Erzählung mit Theodora, der Enkeltochter eines Jugendfreundes von Dr. Heister, einem konservativen Regierungsrat, verloben, der zunächst gegen die Ehe opponiert hatte. Albrecht wird so die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch Tüchtigkeit besonders veranschaulichen. Das Bahnwärterhäuschen wird dann von dem »Nestling« Lis_____________ 12

Siehe dazu Auerbachs ›Erinnerungstheorie‹ in Berthold Auerbach, Gesammelte Schriften. Zweite Gesammtausgabe. Bd. 20: Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur [1846], Stuttgart 1864, S. 15–18.

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beth,13 der jüngsten Tochter der beiden, übernommen, die einen ehemaligen Hilfswärter geheiratet hat, der so ebenfalls einen sozialen Aufstieg vergegenwärtigt. Auerbach nutzt hier die Figurenkonstellation als Organisationsprinzip zur Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse.14 Ohne die schwierigen Ausgangsbedingungen von Jakob und Magdalena zu verharmlosen, sogar die Möglichkeit einer negativen Entwicklung am Beispiel Emils miterzählend, zielt dennoch die Geschichte von Reintegration und sozialem Aufstieg, die Auerbach hier erzählt, auf eine Idealisierung der Verhältnisse. Bereits am Ende seiner Dorfgeschichte Sträflinge wird das Haus Jakobs und seiner Frau als ein »Idyll an der Eisenbahn« eingeführt.15 Der Topos Idylle selbst besitzt ja bereits einen raumsemantischen Aspekt, wenn wie in den klassischen Idyllen des Theokrit ländliche Landschaften und ländliches Leben zum Ideal erhoben werden. In seiner im selben Jahr veröffentlichten literaturtheoretischen Arbeit Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur rechtfertigt Auerbach die Idylle als Gegenstand realistischen Schreibens: »Die Idylle kehrt vorzugsweise auf das Jugendleben der Menschheit, oder auf das eigene Kindesleben zurück; dort verliert sie sich leicht in vagen Idealismus, hier gewinnt sie einen realen Boden.«16 In Sträflinge führt der auktoriale Erzähler den Lesern und Leserinnen deren behütete Kindheiten vor Augen, um das Antiidyll der Situation von Magdalene besonders hervorzuheben.17 Vor diesem Hintergrund erscheint das Ende der Erzählung eher als eine Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht denn als wirkliche Idylle. Allerdings nutzt Auerbach zur ästhetischen Darstellung dieser Rehabilitierung mit dem Haus an der Bahn einen Ort, der als modernisierte Form eines ›locus amoenus‹ gelten kann. Bereits in Sträflinge stellen Haus und Eisenbahn eine ästhetisch geglückte und zusammengehörige neue Kulturlandschaft dar, in der »sich die Schienen in kühngeschweiftem Bogen durch das Thal« ziehen, während nebenan bei den Bahnwärterhäusern »der uneigennützige Schönheitssinn« über »nüchterne Gewinnsucht« triumphiert.18 Anders als in dem mit der Errichtung erster Eisenbahnstrecken in den 1830er Jahren aufkommenden negativen Topos einer »Vernichtung von _____________ 13 14

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Auerbach, Das Nest an der Bahn (wie Anm. 1), S. 126. Zur Figurenkonstellation als Strukturprinzip in der Literatur des bürgerlichen Realismus siehe Dieter Kafitz, Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Freytag, Spielhagen, Fontane, Raabe), Kronberg im Taunus 1978. Berthold Auerbach, Sträflinge [1846]. In: Ders., Berthold Auerbachs Schriften. 18 Bde., Bd. 10: Schwarzwälder Dorfgeschichten, 2. Bd., Stuttgart: Cotta [o. J.], S. 131–192, hier S. 191f. Auerbach, Schrift und Volk (wie Anm. 12), S. 18. Siehe Auerbach, Sträflinge (wie Anm. 15), S. 181. Ebd., S. 191.

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Raum und Zeit«, von dem Wolfgang Schivelbusch in seiner grundlegenden kulturgeschichtlichen Studie zur Eisenbahnfahrt berichtet,19 zeichnet Auerbach von Anfang an ein technikfreundliches und optimistisches Bild der Eisenbahn. Mit einem signifikanten Wechsel des Erzählmodus hin zur direkten Leseransprache am Ende der Erzählung ist ein programmatisches Moment verbunden: die Einbeziehung der Leser in die hier entworfene Industrielandschaft. Das keinesfalls fortschrittsfeindliche Idyll erhält so Modellcharakter für die Mitglieder des größeren Kollektivs der Nation. Die Bewohner der Hauptstadt werden direkt mit den Menschen in der badischen Provinz verbunden:20 Wenn ihr von der Hauptstadt aus auf der Eisenbahn dahinrollt, an den Feldern vorbei, die sich vor dem schnellen Blicke wie ein Fächer ausbreiten und zusammenlegen; wenn ihr sehet, wie die Pferde auf dem Felde sich bäumen, ungewiß, ob sie jauchzen oder zürnen ihrem Nebenbuhler, dem schnaubenden Dampfroß; wenn ihr sehet, wie der Ackersmann eine Weile die Hacke ruhen läßt, euch nachschaut und dann wieder emsig die Scholle wendet, die ihn festhält; wenn ihr dann immer rascher dahinbrauset und das Dampfroß schrillend jauchzt, dann wendet schnell einen Blick nach jenem Wärterhäuschen am Saume des Waldes. Dort steht ein Mann kerzengerade und hält die zusammengewickelte Fahne; unter dem Hause steht eine Frau und hat ein kleines Kind auf dem Arm, das die Hände hinausstreckt ins Weite. – Grüßt sie! Es ist Jakob und Magdalene, die ihren erstgeborenen Sohn, den Paten Heisters, auf dem Arme trägt.21

Zwar erscheinen die Bahnreisenden »als hastig keuchende Welt«22 von der provinziellen Stille, die nach der Durchfahrt des Zuges wieder einkehrt, zunächst deutlich unterschieden und die erhöhte Mobilität gar nicht von Vorteil. Tatsächlich werden aber beide Sphären und Gegensätze miteinander versöhnt, die Eisenbahn als das Symbol des Industriezeitalters schlechthin mit der an spezifische Regionen gebundenen traditionellen sozialen Lebenswelt der Protagonist(inn)en der Dorfgeschichten. Unter der Perspektive der menschlichen Sterblichkeit, die auch den nach dem Tod gerade noch benötigten engen Raum taxiert – »zwei Schritt Erde, ein vergessener Hügel«23 ist alles, was bleibt –, verlieren die räumlichen Dimensionen und sozialen Unterschiede ohnehin an Bedeutung. Im Kontext einer pantheistischen Vorstellung, die schon die raumsemantische Grundfigur einer Verschränkung des Kleinsten mit dem Größten aufweist, wer_____________ 19 20 21 22 23

Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1977, S. 35. Im gegebenen Kontext dürfte sich Auerbach auf die badische Hauptstadt Karlsruhe beziehen. Auerbach, Sträflinge (wie Anm. 15), S. 192. Ebd. Ebd., S. 191.

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den die gesellschaftlichen Differenzen weiter nivelliert: »Wir lernen schon hinieden eingehen in das All, in das wir einst aufgehen«.24 In diesem Lichte erscheint auch der immanente Fortschrittsoptimismus des Narrativs einer erfolgreichen Resozialisierung seiner Protagonist(inn)en als Aussöhnung gegenläufiger gesellschaftlicher Kräfte. So endet der Text mit der widersprüchlichen Aussage: »Das selig stille Glück stirbt nicht aus, es siedelt sich hart neben den unbeugsam eisernen Geleisen der neuen Zeit an«.25 Mit Hilfe heroischer Adverbien (»hart«, »unbeugsam«) rettet Auerbach die Idylle. Das hier im Kern entwickelte und um die Eisenbahn herum zentrierte soziale Raum-Zeit-Gefüge, das dreißig Jahre später in Das Nest an der Bahn in kaum veränderter Form von Auerbach wieder aufgegriffen wird, ist eines der integrierenden Transformation sozialer Verhältnisse vor dem Hintergrund der technischen Neuerungen. Dagegen steht die von Schivelbusch rekonstruierte Wahrnehmung der Eisenbahn vor allem als eine Schock-Erfahrung, die die bisherige Raum-Zeit-Wahrnehmung radikal verändert. Diese bezieht sich auf eine Dialektik von Raumverkleinerung einerseits und Raumerweiterung andererseits: »Die Dialektik des Vorgangs ist, daß die Verkleinerung, d. h. die zeitliche Verkürzung des Transports, die Erweiterung des Verkehrsraums bewirkt.«26 Dabei hätten die Zeitgenossen des beginnenden Eisenbahnzeitalters den »Topos, daß die Eisenbahn den Raum und die Zeit vernichte«, gerade nicht auf diese durch die Eisenbahn erst ermöglichte Erweiterung der Verkehrsräume bezogen. Vielmehr hätten sie eine Vernichtung des »überlieferte[n] Raum-ZeitKontinuum[s]« erlebt.27 Eine solche Wahrnehmung findet sich nicht bei Auerbach. Er beschreibt die durch die technischen Neuerungen hervorgerufenen Veränderungen nicht als radikalen Bruch, sondern als Kontinuität und Verwandlung. Im Nest an der Bahn wird die Eisenbahn selbst zum Mittel der Aufklärung gegen rückständigen Aberglauben. Das zeigt die folgende Sentenz: »Soweit der Dampf der Lokomotive streicht, gedeiht keine Raupe und kein Aberglaube.«28 Jakob deutet so den potentiell umweltschädigenden Ausstoß der Lokomotiven ganz materiell als Vorteil für die Ernte des Bauern, der er neben seiner Tätigkeit für die Bahn auch noch geblieben ist. Außerdem schreibt er dem Dampf die aufklärerische Bedeutung zu, Aberglauben zu vertreiben. Eine solche Funktion der Eisenbahn hatte Auerbach schon in der nur wenige Seiten umfassenden Erzählung Auf _____________ 24 25 26 27 28

Ebd. Ebd., S. 192. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise (wie Anm. 19), S. 37. Ebd. Auerbach, Das Nest an der Bahn (wie Anm. 1), S. 25.

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einem Acker an der Eisenbahn (1845) entworfen und seither an ihr festgehalten. Paul A. Youngman hat vor wenigen Jahren an diese Erzählung erinnert, in der Auerbach die Eisenbahn nicht nur einen »eisernen Engel« nennt, sondern sie darüber hinaus als »Leichenwagen des Absolutismus« bezeichnet.29 Der Protagonist dieser Erzählung ist ein Bauer, der uneingeschränkt vom Eisenbahnbau profitiert. Während sein Feld durch den Bau trockengelegt wird, erscheint ihm die Bahn sogar regelrecht als »Kulturbeförderungsmittel«.30 Obendrein preist er verwandte Technologien, wie das mit der Eisenbahn einhergehende Telegraphensystem.31 Unverkennbar teilt Jakob dieselben Überzeugungen wie sein Vorgänger aus der Erzählung von 1845 und sein Autor. Auerbach hat die früh gefasste, fortschrittsoptimistische Positionierung gegenüber der Eisenbahn beibehalten. In Jakob sind bäuerliche Lebenswelt und technischer Fortschritt miteinander versöhnt; auch wenn er eine neue Epoche verkörpert, in der die Eisenbahn Mobilität erzeugt und »die einzelnen Menschen aus der gesellschaftlichen Enge befreit«, indem sie »neue Berufe außerhalb der alten Gesellschaftsstrukturen schafft«, bleibt eine Kontinuität zu tradierten Lebensformen gewahrt.32 Auerbach kritisiert Zensur und politische Unterdrückung spätabsolutistischer Staaten, will aber an die ländliche Lebenswelt mit ihrem spezifischen Erfahrungswissen und ihren Traditionen anknüpfen. Die Synthese aus Modernisierung und Tradition entwickelt sich auf mehreren Ebenen. Zum einen sind es kleine Passagen, in denen durch das erzählte Handeln einer Person deren Einstellungen veranschaulicht werden. So bestellt etwa der aufgeklärte Jakob, der früher aus Enttäuschung über erfahrene Ungerechtigkeiten nichts von der ›Welt‹ hatte wissen wollen, sich nun eine Zeitung.33 Durch deren tägliche Lektüre kann er in der Vorstellung unter anderem an der Ägyptenreise seines Förderers, des Liberalen Dr. Heister, teilnehmen, der von unterwegs über die Reise in der Zeitung berichtet. In diesen Reiseberichten wird dann, wiederum exemplarisch, auch Jakob einmal erwähnt – wenn auch nicht namentlich, so doch für den Zeitungsleser kenntlich –, den Heister im Zeitungsbericht einem ägyptischen Bahnwärter gegenüber als »braven Freunde« und als _____________ 29

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Auerbach, Auf einem Acker an der Eisenbahn [1845]. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 17, Stuttgart: Cotta 1857/58, S. 214–17. Hier zitiert nach Paul A. Youngman, Black Devil and Iron Angel. The Railway in Nineteenth-Century German Realism, Washington D. C. 2005, S. 30. Ebd. Ebd. Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, München 1982, S. 50. Auerbach, Das Nest an der Bahn (wie Anm. 1), S. 26.

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dessen »Berufsgenosse[n]« schildert.34 Nicht nur zeichnet Auerbach ein idealisiertes Bild einer durch die Zeitung vermittelten gesellschaftlichen Kommunikation im Rahmen der Nation, sondern er erweitert diesen Kommunikationsraum noch in Richtung einer potentiellen Weltgesellschaft. Diese wiederum entsteht nach Vorbild der hiesigen kommunikativen Verhältnisse. In einigen anderen Dorfgeschichten sowie vor allem im Roman Das Landhaus am Rhein (1869) kontrastiert Auerbach seine häufig in der badischen Provinz angesiedelten Geschichten mit dem wichtigsten Ziel deutscher Auswanderung während des 19. Jahrhunderts, mit den Vereinigten Staaten von Amerika.35 Schon der Titel des Romans deutet jedoch voraus auf eine im Text anzutreffende Auseinandersetzung mit deutschen Fragen, der die Beschäftigung mit Amerika untergeordnet ist, wobei auch die Situierung der Geschichte am Rhein inhaltlich begründet ist. Gegen eine politische Inanspruchnahme des Rheins als symbolisch aufgeladener Grenze zwischen Frankreich und Deutschland in nationalistischen Texten, gegen die sich auch Heines Kritik in Deutschland. Ein Wintermärchen richtet, wird hier von Auerbach ein anderes raumsemantisches Modell gestellt, das Kit Belgum wie folgt beschreibt: »An der Stelle einer nationalen Funktionalisierung des Rheins steht eine sanfte Romantisierung der Flußlandschaft.«36 Ein Selbstzeugnis Auerbachs über Nest an der Bahn unterstreicht noch einen weiteren Aspekt. In einem Brief an seinen Freund Jakob Auerbach äußerte er sich sehr positiv über die Erzählung und benennt als ihr Thema das »der Reue und Buße und Reinigung«.37 Auch daraus erhellt der enge Zusammenhang zwischen Sträflinge und der Fortsetzung. Denn ein moralisch-didaktisches Anliegen gehörte schon in den 1840er Jahren zu Auerbachs Vorstellung einer »volksthümlichen«, realistischen Literatur. Genau wie Raabe will Auerbach seine Leser/innen zum Selbstdenken ermutigen, wobei er auf moralische Bildung einen deutlichen Akzent setzt. Dabei besitzt auch die Bibel für ihn zentrale Bedeutung. In Schrift und Volk bezeichnet sie Auerbach – in der Übersetzung Martin Luthers – als »deutsches Volksbuch«.38 Schon mit den Namen seiner Protagonisten beider Geschichten, Jakob und Magdalene, ruft Auerbach zwei zentrale Figuren _____________ 34 35

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Ebd., S. 36. Siehe Kit Belgum, ›Wie ein Mensch sich selbst bilden kann.‹ Zur Funktion von Amerika in Auerbachs ›Landhaus am Rhein‹. In: Christof Hamann, Ute Gerhard et al. (Hrsg.), Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung, Bielefeld 2009, S. 59–82. Ebd., S. 67. Auerbach in einem Brief vom 1. August 1876, in: Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach. Ein biographisches Denkmal. Mit Vorbemerkungen von Friedrich Spielhagen und dem Herausgeber. Bd. 2, Frankfurt am Main 1884, S. 288. Auerbach, Schrift und Volk (wie Anm. 12), S. 198–203.

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der Bibel auf. Jakob, den Stammvater Israels, aus dem Alten Testament und Maria Magdalena, eine Anhängerin von Jesus Christus, der er die Auferstehungsbotschaft an seine Jünger auftrug, aus dem Neuen Testament. Auch auf dieser Ebene geht es um die Transformation von Tradition und um Versöhnung, in diesem Fall um die zwischen Christentum und Judentum. Die große Kontinuität zwischen den drei nachgelegten Dorfgeschichten und ihren Vorgängern veranlasste schon Auerbachs Biographen Anton Bettelheim zu der hellsichtigen Aussage: »Mit Liebe hat Auerbach Lorles Reinhard, den Sohn des Tolpatsch, die Sträflinge und ihre Nachkommen in anderen Zeitläuften gezeigt: alles hatte sich erneuert, nur der Erzähler nicht.«39 Dies ist durchaus als Kritik gemeint und so erscheint Bettelheim zwar Das Nest an der Bahn noch als »das leidlichste« unter den drei Stücken, aber »ohne deshalb preisenswert zu sein«.40 Am auffälligsten ist wohl, dass Auerbach in der Erzählung kaum auf die mit der Reichsgründung verbundenen Krisen reagiert, die Raabe in Alte Nester reflektiert. Im Gegenteil, in dem vom Autor seinen drei Erzählungen vorangestellten Geleittext »Das Dorf an der Eisenbahn« erscheinen die mit dem Eisenbahnbau einhergehenden Veränderungen regelrecht als Erfüllung liberaler Visionen von Freizügigkeit, offener Gesellschaft und nationaler Einheit: Die Thäler und Berge meiner Heimat sind nun von der Eisenbahn durchzogen, durch unwegsame Höhen, bald in den Bergstock sich bohrend, bald wieder zu Tage kommend, braust der Dampfzug dahin. Eisenbahn und Freizügigkeit haben Grundformen des wirtschaftlichen und sozialen Dorflebens umgestaltet. Das Deutsche Reich ist erstanden! Es ist keine Hütte so abgeschieden, in der nicht das Lied vom Vaterlande erklingt. Im Kampf um die Freiheit und Reinheit des humanen Gedankens bildet sich nun die allgemeine geistige Wehrpflicht. Es ist keine Seele so in sich verschlossen, daß nicht das Aufgebot zu ihr dränge.41

An diesem Lobpreis auf das Deutsche Reich hielt Auerbach in seiner Literatur noch 1876 und bis zu seinem Tode nur wenige Jahre später fest, obwohl er in seinen Briefen vor allem vor dem Hintergrund des beginnenden Antisemitismus seine Vision nationaler Einheit, die sich nicht aus der Dämonisierung Anderer herleitet und die technischen Fortschritt und kapitalistische Mobilisierung begrüßte, längst gefährdet sah. _____________ 39 40 41

Anton Bettelheim, Berthold Auerbach. Der Mann. Sein Werk. Sein Nachlaß. Mit einem Bildnis des Dichters, Stuttgart/Berlin 1907, S. 356. Ebd., S. 357. Berthold Auerbach, Das Dorf an der Eisenbahn [1876]. In: Ders., Berthold Auerbachs Schriften. 18 Bde., Bd. 17: Schwarzwälder Dorfgeschichten, 9. Bd., Stuttgart: Cotta [o. J.], S. 3f., hier S. 3.

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II.

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Die »deutsche Welt« zwischen Mondenlicht und scharfem Wort – Raabes Roman Alte Nester

Die Spannung zwischen dem Regionalen, der deutschen Provinz und der Welt jenseits der Grenzen des deutschen Nationalstaats gilt als wichtiges Charakteristikum von Raabes Werk, dem die Forschung nicht zuletzt vor dem Hintergrund postkolonialer Perspektivierungen in den letzten Jahren zunehmend Interesse entgegengebracht hat.42 Tatsächlich finden sich in einer ganzen Reihe von Raabes Texten auch Hinweise auf die außereuropäische Welt, wie sie in den deutschen Lebenswirklichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahrbar war und in diese hineinwirkte.43 Dass die »global issues« und »das Fremde« in Raabes Texten lange nur unzureichend erfasst wurden, monierte noch kürzlich Florian Krobb. Zwar habe sich in den letzten Jahren das Forschungsinteresse zunehmend auch auf die Orte in Übersee und Problemstellungen aus Übersee in Raabes Texten gerichtet, dabei sei aber weder Ausmaß noch Zusammenhang dieser Thematik im Gesamtwerk Raabes schon umfassend analysiert worden: »In his works, the foreign does not only have a presence in the domestic conscience, it physically intrudes into the domestic realm, challenging the integrity and self-containedness of the domestic, and forcing the Europeans to define themselves with reference to larger spaces.«44 Ungeachtet dieser richtigen Einschätzung gilt für den Roman Alte Nester, der mit Stopfkuchen (1891) und Akten des Vogelsangs (1896) zu den bedeutendsten Werken des Autors zählt, dass er kein von der Forschung vernachlässigter Gegenstand ist.45 Hans-Jürgen Schrader zeigte an Alte Nester, dass »die Darstellung des Erzählvorgangs selbst und seine beständige theoretische Durchdringung« den eigentlichen Gegenstand der Erzählung ausmachen und sich daher am Roman die implizite Erzähltheorie Raabes exemplifizieren lasse.46 Schrader konnte so die in Selbstzeugnissen überlieferte hohe Wertschätzung Raabes für Alte Nester aus der Reflexion _____________ 42 43

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Siehe Göttsche und Krobb (Hrsg.), Raabe. Global Themes (wie Anm. 3), London 2009, S. 1. Einen Überblick gibt Florian Krobb, Watching the World Shrink and Grow. Globalism in the Works of Wilhelm Raabe. In: Göttsche und Krobb (Hrsg.), Raabe. Global Themes (wie Anm. 3), S. 13–24. Ebd., S. 15. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien nur einige Arbeiten angeführt: Herman Meyer, Der Sonderling in der deutschen Dichtung, Frankfurt am Main 1990 [1942], S. 270–276; Hartwig Schultz, Werk- und Autorintention in Raabes ›Alten Nestern‹ und ›Akten des Vogelsangs‹. In: JbRG (1979), S. 132–154; Wieland Zirbs, Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt am Main/Bern 1986 (Literarhistorische Untersuchungen, Bd. 8); Stefan Diebitz, ›Wiederlesen im eigenen Lebensbuche‹. Wilhelm Raabes ›Alte Nester‹, interpretiert als Palimpsest auf die ›Kinder von Günderode‹. In: JbRG (1991), S. 95–116. Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie (wie Anm. 10), S. 15.

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auf textkonstituierende Vorgänge erklären und damit eine neue Perspektive auf den Roman eröffnen. Wolfgang Jehmüller geht in seiner Studie über die Gestalt des Biographen in Raabes Werk ebenfalls ausführlich auf Alte Nester ein.47 Auch hinsichtlich raumsemantischer Fragestellungen wurde der Roman bereits untersucht, worauf ich eingangs schon hingewiesen habe. Dirk Göttsche charakterisiert die Raum-Zeit-Struktur des Romans unter Einbeziehung eines von Michail Bachtin übernommenen Begriffs als »Chronotopos der Heimkehr«, der »zu einem Reflexionsmodell unterschiedlicher Formen des Zeitbewußtseins und des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit« erweitert werde, und unternimmt damit eine Deutung des Erzähltextes, die vor allem die Bedeutung raum-zeitlicher Darstellung im Roman fokussiert.48 Zuletzt hat Alexander Ritter in einem Aufsatz die Bedeutung der Amerika-Episode im Roman untersucht.49 An diese Arbeiten knüpfen die nachfolgenden Überlegungen an, die um Aspekte der Raummetaphorik kreisen. Die beiden zentralen Gestalten des Romans sind der Erzähler Fritz Langreuter, der ebenso wie der eigentliche Held der Geschichte, Just Everstein, aus einer fiktionalisierten Provinz an der Weser stammt. Innerhalb dieser »bipolaren Struktur« zweier Erzählerfiguren lässt sich in Alte Nester wie überhaupt in Raabes Spätwerk die »Wiedereinsetzung des Helden als appellatives Leitbild für eine desorientierte Gesellschaft« beobachten.50 Der Herkunftsraum der beiden Hauptfiguren und ihrer Freunde stellt (etwa im Sinne der im Aufsatz von Rolf Parr in diesem Band aufgestellten Kategorien) eine Mischform dar, in der Realia in bearbeiteter Form – das Adelsgeschlecht derer von Everstein z. B. war seit dem Mittelalter in Holzminden ansässig – in die ästhetische Konstruktion eingehen. Dass es dabei aber weder um plastische Schilderung und Ausgestaltung der erinnerten Schauplätze und Landschaften geht noch um topographische Genauigkeit – obwohl mit Bodenwerder und Kemnade tatsächliche Orte aufgerufen werden –, hat schon Schrader dargestellt.51 Eine Apo_____________ 47 48

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Wolfgang Jehmüller, Die Gestalt des Biographen bei Wilhelm Raabe, München 1975. Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik (wie Anm. 10), S. 79. Bachtin definiert Chronotopos als »wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-RaumBeziehungen«. Vgl. Michel Bachtin, Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt am Main 2008, S. 7. In der aktuellen Debatte um einen ›spatial turn‹ blieb Bachtins Essay vor allem in Deutschland lange weitgehend unbeachtet. Alexander Ritter, Einmal deutscher ›Steinhof‹ – ›Wisconsin‹ hin und zurück. Die ›Schulmeisterin‹ USA und ›old German-text-writing‹ als patriotische Selbstfindung in Wilhelm Meisters ›Alte Nester‹. In: Hamann, Gerhard et al. (Hrsg.), Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 (wie Anm. 35), S. 171–189. Kafitz, Figurenkonstellation (wie Anm. 14), S. 213 u. 230. Siehe Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie (wie Anm. 10), S. 17. Vielmehr werde über beide Ortsnamen, in deren Nähe der fiktive Steinhof platziert ist, eine »Zuordnung zur Sphäre

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strophe, eine früh schon in den Erzähltext eingeschobene Leseransprache, gibt grundsätzlich zu bedenken, dass es sich bei der Provinz, der die Protagonisten von Raabes Roman Alte Nester entstammen und die in den 1840er Jahren zu Beginn der deutschen Zollunion noch einen eigenen Kleinstaat ausmachte, um eine literarische Provinz handelt, die keiner gegebenen geografischen Wirklichkeit entsprechen soll: »(auf die Landkarte bitte ich dabei nicht zu sehen)« (BA 14, S. 8). Beim fiktionalen Raum der Alten Nester handelt es sich daher ebenso wenig um »Widerspiegelungen zeitgeschichtlicher Realität« wie um die Abschilderung ›realer‹ Landschaftsräume als vielmehr um deren Reflexion, in die die bürgerlich liberalen Ansichten des Autors eingegangen sind.52 Während Langreuter in der Erzählgegenwart als promovierter Gelehrter in der Hauptstadt des Deutschen Reiches lebt und dort eine marginalisierte Existenz führt, ist Just Everstein nach dem Verlust des väterlichen Steinhofs, der an einen Spekulanten fiel, nach Amerika gegangen, um von dort geläutert, erfolgreich und nicht zuletzt auch vermögend in die alte Heimat zurückzukehren, wo er für sich und seine alte Liebe den väterlichen Hof wieder erwirbt. Ritter schreibt dazu, »Raabes gesellschafts- und zeitkritischer Roman« biete »mit der Identitätssuche des Helden Just Everstein eine im Grundzug parabolische Geschichte zur deutschen Geschichte an«, wobei der Amerika-Episode keine Bedeutung als Darstellung amerikanischer Verhältnisse, wohl aber als einem wichtigen narrativen Funktionselement zukomme.53 Vom Umfang her mit den Kapiteln zehn bis zwölf im Ersten Buch der Alten Nester (BA 14, S. 85–110) eher knapp, gilt sie ihm bezogen auf die Entwicklung der Erzählhandlung, die Autorintention und auf die Biographie Just Eversteins aber als »Schlüsselphase«.54 Tatsächlich dient der Amerika-Aufenthalt, wie Ritter herausgearbeitet hat, zur Entwicklung des Helden, der hier seine ihm mitgegebenen Anlagen erproben und vollenden kann. Raabe sei es dabei »um das metaphorische Verständnis einer räumlichen wie autobiographischen Grenzüberschreitung als Annäherung an sich selbst« gegangen sowie um eine Funktionalisierung von Amerika, »nach der die Auswanderer als zurückkehrende Mediatoren verstanden werden, die die Prinzipien für eine regressive Utopie agrarkultureller, gemäßigt industriegesellschaftlicher Zukunft Europas vorleben«.55 _____________ 52 53 54 55

des ›Lügenbarons‹ von Münchhausen gestiftet«, denn: »Der historische, in Bodenwerder beheimatete Münchhausen nämlich liegt in Kemnade begraben.« (ebd., S. 21). Kafitz, Figurenkonstellation (wie Anm. 14), S. 228. Alexander Ritter, ›Steinhof‹ – ›Wisconsin‹ hin und zurück (wie Anm. 49), S. 172f. Ebd., S. 173. Ebd., S. 176.

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Während die Heimkehr des Just Everstein als erfolgreich vorgeführt wird, steht ihm kontrastiv eine Parallelerzählung gegenüber, in der ebenfalls einer aus der Fremde wieder in die Heimatregion der Kindheitsjahre zurückkehrt. Der Vetter Ewald, der Sohn des Försters Sixtus, war in Irland erfolgreich und will nun durch den Erwerb des ebenfalls durch Spekulation verloren gegangenen Schlosses Werden seine Jugendliebe zurückgewinnen. Auch hier erhält der Raum in der Ferne, Irland, kaum mehr als die funktionelle Bedeutung, dass von dort aus eine Heimkehr unternommen werden kann. Dass der Erwerb eines alten Schlosses wiederum zum Scheitern verurteilt ist, da das Schloss als Zeichen und raumgewordener Ausdruck für ein zu überwindendes Gesellschaftsmodell steht, braucht kaum eigens erwähnt zu werden. »Auf das alte brave Nest, Schloß Werden, gebe ich dabei gar nichts« (BA 14, S. 237f.), mit diesen Worten kommentiert Just Everstein den missglückten Versuch Ewalds, sich so der Liebe seiner Jugendfreundin Irene zu versichern. Die beiden Worte »Nest« und »Welt« sind Schlüsselbegriffe des Romans mit teilweise raumsemantischer Denotation, die in funktionaler Spannung zueinander stehen und im Text immer wieder aufgerufen werden. Zum Teil bezeichnen sie unterschiedliche Erfahrungsräume – etwa zur Kennzeichnung der Jugendjahre im Unterschied zu den späteren Wohnorten einzelner Protagonist/innen wie Wien, Berlin, Irland oder Amerika. Zusätzlich gibt es eine metareflexive Ebene sowie eine fast durchgängig formelhafte Verwendung beider Begriffe. Schon durch diese Wiederholungen werden sie als poetologische Hinweise lesbar, die Schraders Deutung des Romans als »gedichtete Dichtungstheorie« bekräftigen.56 Wenn Just Everstein seiner Verwunderung darüber Ausdruck verleiht, sich nach seiner Rückkehr aus Amerika wieder zu Hause im Heimatdorf zu finden, wo er mit seiner Jugendliebe Eva Sixtus im Försterhaus und im wieder erworbenen Steinhof zusammenkommt, beschreibt er die Rückkehr ins »alte Nest« als gegenläufige Bewegung gegenüber den Naturgesetzen: »Naturgeschichtlich besteht es ganz und gar nicht zu recht, daß jeder Vogel wieder in dasselbe Nest fällt, in welchem er flügge geworden ist, sondern ganz im Gegenteil.« (BA 14, S. 228) Damit erhält seine Rückkehr ins Heimatdorf samt Erwerb des Steinhofs den Charakter einer Ausnahmeerscheinung. Was im Hinblick auf das marode Schloss Werden ironisiert wird, affirmiert der Text jedoch beim Försterhaus und dem Steinhof. _____________ 56

Durch das Mittel des uneigentlichen Sprechens, durch Metaphern, Allegorien, Symbole und wiederkehrende Leitmotive, zu denen die zentralen Topoi ›Nest‹ und ›Welt‹ mit ihrem jeweiligen Bedeutungsfeld gerechnet werden müssen, sowie durch Polysemien und Amphibolien werde die Lektüre immer wieder vom Dargestellten, der Erzählhandlung, zur Ebene der Reflexion über das Erzählen gelenkt; siehe Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie (wie Anm. 10), S. 24.

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Insofern ist der Deutung von Kafitz zuzustimmen, dass mit »der Verbindung von Just und Eva« ebenso »die Tradition der ›alten Nester‹ in die Zukunft hinein« verlängert werde wie zugleich Vergangenheit und Gegenwart zur Einheit gelangten.57 In dieser Hinsicht kann, wenn auch nur als Ausnahme, der Sozialraum eines ›alten Nests‹ zum Schutzraum eines besseren Lebens stilisiert werden.58 Auch der Gegentopos »Welt« findet häufige und formelhafte Verwendung; etwa bei der Mademoiselle Martin, der früheren französischen Gouvernante auf Schloss Werden, die im Hinblick auf die Trauer der Komtesse Irene Everstein von der »argen, schlimmen, schlimmen Welt!« (BA 14, S. 115) spricht. Ebenso in einer Rede von Just Everstein, wo er die Komtesse Irene als diejenige schildert, die mehr als die anderen Jugendfreunde »in der boshaften, stürmischen Welt« (BA 14, S. 195) erlebt habe.59 Raabe konstruiert im Verlauf dieses Dialogs zwischen seinem Erzähler und Just Everstein den letzteren wiederum als Ausnahmegestalt, über den Langreuter reflektiert: »Das stille Licht des Mondes lag über uns und um uns, und der Vetter Just sprach, ohne es zu wissen, von dem Unterschied zwischen den vornehmen Naturen innerhalb der Menschheit und den gewöhnlichen.« (BA 14, S. 196) Dass »Welt« interpretiert als »Welt der Gesellschaft« oft bei Raabe abgewertet wird,60 bestätigt auch diese Relektüre von Alte Nester. Vielfach schon wurde in der Forschung bemerkt, dass sich Raabes politisches Engagement vorrangig auf die Einheit der deutschen Nation richtete; Raabe habe sich »gegen territoriale Interessenzersplitterung« gerichtet, »auf die er das schlechte Ansehen der Deutschen im Ausland ebenso zurückführt wie die Not weiter Bevölkerungsschichten«.61 Insbesondere die noch die 1840er Jahre bestimmende absolutistische Kleinstaaterei, die durch Deutschen Bund und Reichsgründung überwunden werden konnte, nimmt der Roman aufs Korn. _____________ 57 58

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Kafitz, Figurenkonstellation (wie Anm. 14), S. 212. Zur Konstruktion dieser idyllischen Heimkehr passt die Unveränderlichkeit des Ortes Werden in der Wahrnehmung des Erzählers: »In und an dem Dorfe Werden hatte sich in den Jahren, während ich es nicht sah, nichts verändert. Es dehnte sich genügend weit in die Länge aus, daß wir vollkommen Zeit hatten, während wir es durchwanderten, uns alles das mitzuteilen, was ich eben hier niedergeschrieben habe.« (BA 14, S. 196) Dieses Beispiel führt auch Hartwig Schultz an, der im Zusammenhang einer Charakterisierung Just Eversteins als eines von den Zeitgeschehnissen weitgehend unabhängigen Sonderlings zusätzlich noch den Ausdruck von der »wilden Welt« (BA 14, S. 105) anführt sowie ein weiteres Zitat der Gouvernante Martin, die den Steinhof als eine Insel im Meer der »sehr bösen Welt« (BA 14, S. 241) bezeichnet; siehe Schultz, Werk und Autorintention (wie Anm. 45), S. 134. Hubert Ohl, Der Bürger und das Unbedingte bei Wilhelm Raabe. In: JbRG (1979), S. 7–26, hier S. 12. Kafitz, Figurenkonstellation (wie Anm. 14), S. 165.

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Zog der eine deutsche Bruder seinen Grenzkordon, so zog ihn der andere ebenfalls. Daß wir im ganzen das Deutsche Volk und der erlauchte Deutsche Bund dabei blieben, konnte den Zeitungsleser nur mäßig erquicken und ihn höchstens ganz kosmopolitisch in seiner Selbstachtung über dem Wasser erhalten. (BA 14, S. 8)

Die Biographie des Erzählers ist, wie gleich zu Beginn des Romans geschildert, unmittelbar von diesen politischen Raumverhältnissen geprägt: Langreuters Vater wurde von Salzschmugglern an einer dieser innerdeutschen Grenzen erschossen: Ich aber habe wahrlich später keine Verlustliste, die um des deutschen Volkes Einheit ausgegeben wurde, gelesen, ohne an den alten Griesgram auf seinem Felde der Ehre wehmütig und kopfschüttelnd zu denken. Der Donner der tausend Kanonen in den großen Siegesschlachten der Gegenwart hat die Schüsse, die seinerzeit hinüber und herüber gewechselt wurden, nicht übertönen können. (BA 14, S. 9)

Offenkundig gilt die Sympathie des Autors beiden zentralen Protagonisten, dem Erzähler Langreuter und dem triumphierenden Heimkehrer Just Everstein. Im Blick auf Alte Nester trifft zu, was schon Georg Lukács 1940 in einem langen Essay zu Raabe herausgestellt hat: Die Ironie des Autors Raabe richte sich gegen die Kleinlichkeit und Spießerhaftigkeit der deutschen Verhältnisse und gehe einher mit einem »leidenschaftlichen Haß auf die feudal-monarchistische Kleinstaaterei«.62 Als begeisterter Patriot habe Raabe an allen Bewegungen teilgenommen, die die deutsche Einheit befördert hätten, und sich für die preußischen Siege von 1866 und 1870/71 begeistert, die die deutsche Einheit brachten. Auf seine Frage, wer für Raabe der Feind sei, antwortet Lukács: »Es ist einerseits das alte feudalmonarchistische, reaktionäre, zerstückelte Deutschland, in dem jeder Mensch mit wirklichem Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl ›mißliebig‹, verhaßt werden muß.«63 Als solcher Mensch mit »wirklichem Anstandsund Gerechtigkeitsgefühl«, der auch in der schlimmen Welt der Gegenwart keinen Ort hat, ist Just Everstein entworfen. Für Lukács kommt aber noch ein zweites Moment hinzu: »Andererseits ist es der diese veralteten Gesellschaftsformen durchdringende, teils zerstörende, teils sich anpassende Kapitalismus.«64 Diese antikapitalistische Gesellschaftskritik unterscheidet Raabe von Auerbach. Die resignative Haltung des Erzählers bei Raabe hat darin ihren Grund, dass ihm die Möglichkeit aktiver Teilhabe an der Gesellschaft, wie _____________ 62 63 64

Georg Lukács, Wilhelm Raabe [1940]. In: Helmers (Hrsg.), Raabe in neuer Sicht (wie Anm. 9), S. 44–73, hier S. 46. Ebd., S. 52. Ebd.

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sie Auerbach idealistisch in den beiden Erzählungen für seine Protagonisten entwirft, versagt bleibt. Auch nach Verlassen der nicht länger durch die Grenzen von Kleinstaaten abgeschnittenen Provinz füllt Langreuter in der Nation und im Machtzentrum des Deutschen Reiches nur einen liminalen Raum aus. Aus der räumlichen Distanz zum Wohnort denkt er zwar »nicht ohne ein Gefühl stiller Sicherheit an die große Stadt Berlin«, die ihm aber weder politische Teilhabe einbringt noch das Gefühl, dort zu Hause zu sein: Sonderbarerweise aber dachte ich in dieser hellen, schönen Nacht, auf dieser Wanderung durch das friedliche vergessene Heimatdorf, nicht ohne ein Gefühl stiller Sicherheit an die große Stadt Berlin, meine kleine Stube und meine Tätigkeit, kurz an das Dasein, das mir dort zuteil geworden war. Es lag ein Gefühl von Wehmut darin, aber doch zugleich eine innerlichste Beruhigung: sie, die anderen alle konnten und durften heimkehren in das alte Leben, wann sie wollten, sie waren da zu Hause, ich aber nicht oder doch nie mehr so, wie sie noch zu jeder Zeit sein konnten. Resignation nennt man das mit einem Fremdwort, das wir wohl nicht so leicht aus dem deutschen Sprachgebrauch loswerden. (BA 14, S. 196f.)

Beide Autoren beziehen ihre Leser in ihre jeweilige Ästhetik ein. So gehört zum impliziten poetologischen Konzept der Alten Nester eine wirkungsästhetische Absicht, die eng mit Raabes Verständnis von Realismus verbunden ist: »Es ist, als schwände der Vetter in immer unbestimmtere, idealere Ferne. Aber wir erreichen ihn und das Seinige doch; und wenn wir ihn haben werden, so wird er hoffentlich um so näher zu Sinn und Herzen wirken und also in der einzig wahren Weise ganz realistisch dasein.« (BA 14, S. 44) Zugleich nutzt er seine Geschichte als ein »Reflexionsmodell«, wie es Göttsche genannt hat, in dem Bewegungen weniger erzählt als benannt werden.65 So eröffnet etwa die Darstellung einer Eisenbahnfahrt von Berlin zum fiktiven Ort Sauingen in der Nähe von Schloss Werden vor allem einen Erinnerungsraum, in dem Raabe über die Gestalt des Bösenberg aus seinem 1859 erschienenen Roman Die Kinder von Finkenrode eine ironische Selbstreflexion auf den elegischen Ton seiner früheren Schrift anstellt. Raumsemantisch lässt sich abschließend für Alte Nester eine grundsätzliche Spannung festhalten. Einerseits postuliert Langreuter eine Absage an bleibende Verortung, wie sie in der Phrase zum Ausdruck kommt, die sich als ironisches Bekenntnis zur Imagination lesen lässt: »Mein Luftschloß ist mein Haus!« (BA 14, S. 148) Lektüren des Romans, die ihn vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner poetologischen Reflexion und Komplexität _____________ 65

Die auf den Handlungsverlauf bezogene relative ›Bewegungslosigkeit‹ lässt sich auch im Zusammenhang mit Raabes Ablehnung des ›Dichter-Journalisten‹ verstehen; siehe dazu Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie (wie Anm. 10), S. 22f.

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fokussieren, können sich darauf beziehen. Andererseits aber stellt das ›alte Nest‹ des Steinhofs mit seinem neu-alten Besitzer einen positiv besetzten Gegenort innerhalb einer ›schlimmen Welt‹ dar. Diese Tatsache markiert den Ausgangspunkt von Lektüren, die nach den Wertorientierungen und normativen Voraussetzungen von Raabes Gesellschaftskritik fragen. So kann ein Blick auf raumsemantische Aspekte des Romans an grundlegende Fragestellungen der Raabe-Forschung anknüpfen. III. Zweierlei Idyllen als Antwort auf die Krise des liberalen Bürgertums Im Gegensatz zu Raabe bleibt Auerbach bis kurz vor seinem Lebensende in seinen veröffentlichten Geschichten im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung optimistisch. Seine Dorfgeschichten rund um die Eisenbahn lesen sich geradezu als Werbetexte für soziale Mobilität und die Öffnung einer Gesellschaft, die technische Neuerungen mit der Beibehaltung von Traditionen ohne größere Verluste verbinden kann. Sein Bild der deutschen Nation und der Zeitumstände erscheint dabei deutlich positiver und vor allem offener gegenüber der ›Welt als Gesellschaft‹ und der globalen Welt als bei Raabe, der Just Everstein etwa auch »völkerpsychologisch schwadronierend« seinen Erfolg als Rückkehrer »deutscher Mentalität« zuschreiben lässt.66 Auerbach bewegt sich, trotz des beachtlichen Erfolgs seiner Literatur, durch seine jüdische Zugehörigkeit angreifbar in einem Diskursfeld, in dem er selbst potentiell von Ausschluss bedroht ist. Seine Vorstellung realistischen Schreibens zeigt sich am Wunschbild einer offenen Gesellschaft orientiert, die auch den gesellschaftlich Marginalisierten Aufstiegschancen und die Möglichkeit zur Partizipation eröffnet, wobei er die von der kapitalistischen Warengesellschaft erzeugten Machtverhältnisse kaum reflektiert. Bei Raabe, der in den meisten seiner Texte wie auch in Alte Nester Außenseiter zu Protagonisten macht, verbindet sich die ironische Darstellung und Kritik an der trotz Reichsgründung und nationaler Einheit fortbestehenden territorialen Kleinteiligkeit und Kleinlichkeit deutscher Verhältnisse mit einem Ideal ursprünglicher Menschen, dem seine resignative Skepsis gegenüber sozialer Mobilität unter den Bedingungen kapitalistischer Verhältnisse eingeschrieben ist. Bei aller poetologischen Reflektiertheit, die Alte Nester literarisch deutlich von Auerbachs beiden Dorfgeschichten an der Eisenbahn abhebt, entwerfen beide Autoren jedoch in Antwort auf die Krise des liberalen Bürgertums nach der Reichsgründung, darin einander überraschend ähnlich, idyllische Orte in der Provinz. Diese peripheren Räume sind jedoch nicht von den von den Metropolen ausgehenden Neuerungen im Verkehrswesen und der Nach_____________ 66

Alexander Ritter, ›Steinhof‹ – ›Wisconsin‹ hin und zurück (wie Anm. 49), S. 182.

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richtentechnologie abgeschnitten. Die literarische Gestaltung von Eisenbahnfahrten, die insbesondere bei Raabe auch als Autor-Reflexion genutzt wird, verweist auf das bei beiden Autoren keinesfalls provinzielle Verhältnis zum neuen Verkehrsmittel. In den hier analysierten Texten dominiert dabei eine am Modell der Individualreise orientierte Darstellung von Eisenbahnfahrten, während Erscheinungen wie etwa der mit der Beschleunigung und Erleichterung der Reisemöglichkeiten durch die Eisenbahn aufkommende Massentourismus dabei nicht in den Blick geraten. Generell kommt dem Motiv der Eisenbahn, die das Raum- und Zeitgefühl im Industriezeitalter wie keine andere technische Erfindung veränderte, für die Literatur im 19. Jahrhundert eine wohl kaum zu unterschätzende Bedeutung zu. Allein bei Theodor Fontane, der bereits in seinen frühen Gebrauchstexten und Gedichten die revolutionäre Bedeutung der Eisenbahn reflektierte und später für die Zeitschrift Eisenbahn schrieb, lässt sich ein vielschichtiges Verhältnis zum Thema Eisenbahn aufzeigen.67 Der Topos Eisenbahn, der in der Literatur des Realismus fast omnipräsent erscheint, verspricht als zentraler Analysegegenstand Aufschlüsse über die durchaus heterogenen Haltungen der realistischen Autoren und Autorinnen zu den raum-zeitlichen ebenso wie den gesellschaftlichen Transformationen ihrer Zeit.

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Siehe dazu Eda Sagarra, Kommunikationsrevolution und Bewußtseinsänderung. Zu einem unterschwelligen Thema bei Theodor Fontane. In: Theodor Fontane am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3: Geschichte. Vergessen. Großstadt. Moderne. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger, Würzburg 2000, S. 105–118.

Flutkatastrophen und Binnenkolonisation Eroberte Natur, deutsche Nation und männliche Subjektbildung in der Erzählliteratur des Kaiserreichs (1870–1891) Lynne Tatlock

Nachdem der »Schimmelreiter«, Hauke Haien, sein Leben durch einen Sprung in die wütende »Sündflut«1 geopfert hat, mag es schwer fallen, in Hauke nicht den heroischen Visionär zu sehen, der die Landschaft neu konfiguriert, um seiner undankbaren Gemeinschaft zu helfen. Trotz der vielen Schwächen des Protagonisten legt das Ende der Novelle nahe, dass er mit Wohlwollen beurteilt werden soll, denn sein Meisterwerk legt beredtes Zeugnis von seinem Genie ab: Der fortbestehende Deich offenbart das tiefe und sensible Verständnis seines Schöpfers seiner physischen Umwelt gegenüber und bildet damit einen Gegensatz zu dem unnachgiebigen Verhalten, das Hauke nach außen an den Tag legt. Wie stur und tyrannisch Hauke den Bau des Deiches auch verfolgt haben mag, so zeigt dessen Design doch einen Ansatz der Landgewinnung, der nicht »steil und unvernünftig« ist. Indem sein »milde[r] Abfall nach der Seeseite den Wellen keinen Angriffspunkt entgegenstellt«,2 belegt das Design eine respektvolle Anerkennung der Kraft der Natur, auch wenn es diese Natur erobern soll. Der Schimmelreiter (1888 in der Deutschen Rundschau erschienen) ist heute das herausragende literarische Werk des deutschen Kaiserreichs, das Wasserlandschaften und Wasserbau behandelt.3 Aber zu seiner Entstehungszeit war es nur ein Werk unter vielen, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Wie ich in diesem Beitrag skizzieren werde, benutzt die _____________ 1

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Theodor Storm, Der Schimmelreiter. In: Ders., Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main 1988, Bd. 3, S. 752. Ich bin Katrin Völkner für die Übersetzung dieses Beitrags aus dem Amerikanischen sehr zu Dank verpflichtet. Der endgültige deutsche Text ist eine behutsam überarbeitete Version ihrer Übersetzung. Ebd., S. 707. Der deutsche literarische Prototyp ist Goethes Faust II.

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deutsche Erzählliteratur der 1870er und 1880er Jahre oft das Thema ›Überflutungen‹, um ein heroisches männliches Subjekt und dessen Beitrag zur Entstehung des modernen Deutschland darzustellen. Diese meist optimistische Literatur trägt somit zu den Diskursen bei, die den 250jährigen Prozess der Modernisierung mitgestaltet haben und von ihm auch gestaltet wurden. Der Historiker David Blackbourn hat in seiner Studie The Conquest of Nature: Water, Landscape and the Making of Modern Germany gezeigt, wie die verschiedenen Bedeutungen und Konsequenzen dieses Prozesses in der Verwandlung der deutschen Landschaft durch Wasserbau und die dazugehörigen Diskurse zum Ausdruck kommen. Die Projekte schlossen die Trockenlegung von Feuchtgebieten, den Bau von Deichen, Dämmen und Kanälen, die Begradigung von Flüssen und das Ausbaggern von Häfen ein. Sie haben die Landschaft genau so sehr (wenn nicht mehr) verändert, so Blackbourn, wie die bekannten Symbole der Moderne – der Fabrikschornstein, die Eisenbahn und die sich ausdehnenden Städte.4 Diese ›Eroberung der Natur‹ galt bei den Befürwortern des Wasserbaus als ein heroisches Unternehmen, und dementsprechend wurden sie und die Männer, die sie ausführten, oft mit Kriegsmetaphern beschrieben.5 Im Folgenden werde ich Erzählliteratur analysieren, in der das heroische männliche Subjekt am Wasserbau und an Rettungsaktionen bei Flutkatastrophen beteiligt ist. Wie zu zeigen sein wird, setzt sich diese Prosaliteratur aus den Jahren 1870 bis 1891 mit dem Entstehen des modernen deutschen Nationalstaates durch die Darstellung von Wasserbau und Flutkatastrophen auseinander. Ferner erfährt in diesen Texten das deutsche männliche Subjekt eine Neubestimmung – oft in Grenzregionen –, die es ihm ermöglicht, aus dem Schatten der modrigen Sumpfgebiete in den Dienst der Staats- und Nationenbildung zu treten. Die negativen Konsequenzen dieses Prozesses kommen dabei selten zur Sprache.

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David Blackbourn, The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, New York 2006, S. 5. Deutsche Übersetzung: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007. Wie Rita Gudermann gezeigt hat, weisen die Berichte von hydraulischen Ingenieuren im 19. Jahrhundert eine hohe Dichte von Kriegsmetaphern auf; Rita Gudermann, Conviction and Constraint: Hydraulic Engineers and Agricultural Amelioration Projects in Nineteenth-Century Prussia. In: Thomas Lekan und Thomas Zeller (Hrsg.), Germany’s Nature. Cultural Landscapes and Environmental History, New Brunswick/New Jersey 2005, S. 32–54, hier S. 36.

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I. Die Philosophin Wendy Hamblet bietet in ihrem Buch The Sacred Monstrous eine Analyse des Widerspruchs zwischen den guten Absichten von Individuen und Nationen und deren blutigen Taten in der realen Welt, auf die ich mich in diesem Beitrag besonders bei der Analyse der Gegenstimmungen zum heroischen Projekt der Eroberung der Natur stützen werde. Hamblet beschreibt Identitätsstiftung bei Individuen und Nationen mit Hilfe der räumlichen Metapher von »home-craft«, übersetzbar etwa mit der ›Schaffung einer Heimatumgebung‹.6 Indem man diese Heimatumgebung schafft, so Hamblet, grenzt man sich vom Fremden ab, verriegelt gleichsam Tür und Fenster. Dabei wird jeder, der vor der Tür erscheint, notgedrungen als bedrohlich, als Monster wahrgenommen. So wird nach Hamblet der Fokus der Identitätsstiftung auf dem existentiellen ›Jetzt‹ von einer ethischen Blindheit begleitet, die dem Individuum einerseits eine reine und unschuldige Auffassung seiner selbsterschaffenen heimatlichen Umgebung erlaubt und es andererseits ermöglicht, auch noch so gewalttätige Lebensstrategien, die diese Umgebung schützen, als gerechtfertigt und unausweichlich anzusehen.7 Das Gleiche gilt, nach Hamblet, im Großen für Nationen. Besonders wichtig für meine Untersuchungen von Überflutungen und Landgewinnung in der Erzählliteratur des Kaiserreichs ist Hamblets Einsicht, dass der Egoismus des Subjekts ihm erlaubt, das eigene Handeln in der Welt als »innocent, necessary and inevitable« zu sehen und so als Teil eines »heroic ›ontological adventure‹«8 auszuführen, egal wie sehr andere in der Umgebung dadurch unterdrückt werden. Das Individuum erfährt sein Leben als unschuldig und heldenhaft, aber die tatsächlichen Auswirkungen, die sein Handeln auf Menschen innerhalb und außerhalb dieser Heimatumgebung hat, sind es keineswegs. Hamblets kritische Analyse der Identitätsstiftung des heroischen Subjekts verweist somit auf die Dubiosität des Doppelprojekts der Konstruktion von Männlichkeit und Nation im Erzählen von Wasserbau und Flutkatastrophen. In den zu besprechenden literarischen Überflutungs- und Landgewinnungstexten stellt die Landschaft, die aus den Katastrophen neu hervorgeht, in Hamblets Sinne einen Raum zur Bedeutungsschöpfung dar, in dem erneute Produktivität imaginiert werden kann. Und mit Sinnerneuerung und Aktivität gehen die Rettung und Wiederherstellung des männlichen Subjekts einher. Dessen Regeneration ist wiederum grundlegend für _____________ 6 7 8

Wendy C. Hamblet, The Sacred Monstrous. A Reflection on Violence in Human Communities, Lanham/Boulder et al. 2004, S. 67. Ebd., S. 65. Ebd., S. 63f.

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den modernen deutschen Nationalstaat. Die meisten dieser Romane sind nicht selbstreflexiv, und die Erzählstränge über heldenhafte Eroberung und Wiedergewinnung werden nicht von kritischen Anspielungen auf die Gewalt und die Unterdrückung, die diesen Handlungen innewohnen, begleitet. Ich werde jedoch am Ende meiner Ausführungen auch Gegenstimmen bei Raabe und Fontane berücksichtigen. II. Wilhelmine von Hillerns Aus eigener Kraft,9 erschienen 1870 als Fortsetzungsroman in der Gartenlaube, erzählt die Geschichte eines behinderten Jungen, der seine körperlichen Defekte mit seinem Intellekt und seiner Menschlichkeit besiegt und in »unsere[m] denkenden Jahrhundert«10 ein erfolgreicher Mann wird. Um den heldenhaften Gang der Geschichte zu fördern, ist Aus eigener Kraft von defekten männlichen Körpern bevölkert, die nach Wiederherstellung verlangen: Alfred, der schlecht sehende und lahme Protagonist; ein Junge, der ohne Nase geboren wurde; und ein schwarzer Amerikaner, der vormals Sklave war. Diese drei vermeintlich behinderten Männer triumphieren am Ende durch ihren Intellekt, ihr Talent, ihren guten Charakter und vor allem durch ihr gemeinnütziges Verhalten in der Öffentlichkeit. Der Roman schließt mit einer Ermahnung an alle denkenden Männer: »Die Arena des Geistes ist aufgethan, Jeder ist zum Kampfe zugelassen und Jeder kann siegen aus eigener Kraft!«11 In diesem Romantext besiegt der Geist die Natur sowohl bei persönlichen Kämpfen gegen Behinderungen als auch bei politisch-wirtschaftlichen Herausforderungen in schweren Zeiten. In Aus eigener Kraft ›findet sich‹ Alfred, indem er ein angesehener Arzt wird, der während des deutsch-dänischen Krieges und des österreichischpreußischen Krieges als Sanitäter arbeitet und außerdem das Rote Kreuz unterstützt. Der Text stellt ihm aber trotz dieser Errungenschaften eine letzte schwere Aufgabe: Er muss seine Kräfte in Masuren auf dem »stets durchtränkten Grund«12 unter Beweis stellen, wo die Weite seines Landbesitzes als Bühne zur Neuerschaffung seiner selbst und seiner Umwelt fungiert. _____________ 9

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Wilhelmine von Hillern, Aus eigener Kraft. 3 Bde., Leipzig 1872, Bd. 3, S. 228. Die Buchausgabe ist eine Bearbeitung des 1870 in der Gartenlaube erschienenen Fortsetzungsromans und um zwei Kapitel länger. Ebd. Ebd. Ebd., Bd. 3, S. 129.

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Obwohl Alfred danach strebt, den Mann aus dem Volk zu verkörpern, ist er von Geburt her ein Aristokrat, der auch die Pflichten seiner Herkunft erfüllen muss. Er bemüht sich, Masuren Eingang in die Moderne zu verschaffen. Er fördert zum Beispiel ein Bahnprojekt, das die Hauptstadt mit der polnisch-russischen Grenze verbindet. Seine Anwesen sind modellhaft in einer Landschaft, die sonst ein wildes und »feuchtes Diluvialgebiet« ist, das »einer fließenden schlecht verbundenen Wunde« gleicht, »in der sich nur Eiter und Fäulnis erzeugt«.13 In diesem »arme[n] verkommene[n] Land« stechen seine Besitztümer »wie glückliche Inseln« heraus.14 Er baut mit Hilfe einer Leinenfabrik eine »Arbeiterstadt«, wo Industrie und Wohlhabenheit vorherrschen; seine Fabrik ist der einzige »warme, trockene Zufluchtsort auf Meilen im Umkreis«.15 Masuren trauert ansonsten »in Sack und Asche und büßt für die Unterlassungssünden der Cultur«.16 Hillern hat die Buchausgabe ihres Romans von 1872 Julius Naundorff gewidmet, um seine Arbeit für das Rote Kreuz zu ehren. In ihrer Widmung behauptet sie, in ihrem Roman »das unsichtbare Banner des rothen Kreuzes schützend« über die »im Kampf ›um’s Dasein‹ Niedersunkenen« ausbreiten zu wollen.17 Diese »Niedersunkenen« erscheinen dann im letzten Teil des Buches buchstäblich, als sich die Handlung Überflutungen im entlegenen Masuren zuwendet. Während Alfred in Berlin für seine abgelegene Region kämpft, birgt das Tauwetter im Frühling des Notstandsjahrs 1867 neue Gefahren. Eisblöcke stauen den Fluss Lyck, der dadurch über die Ufer tritt und die schon wassergesättigte Landschaft überflutet. Alfreds Erzfeind, Graf Egon, befiehlt arbeitslosen Eisenbahnarbeitern, den Deich, der Alfreds kultiviertes und stark bevölkertes Land schützt, zu durchbrechen. Die zerstörerischen Fluten stiften Chaos und die in Panik geratene Bevölkerung wird rebellisch und ist zur Gewalt bereit, als Egon sich weigert, seine Türen zu öffnen. Erst Alfred mit seiner Kombination aus Vernunft und Gesetz kann die Menschen wieder zur Ruhe bringen. Alfreds Waffe in diesem Kampf ist ein Dokument, das er heldenhaft dem Parlament abgerungen hat und das der Region dreieinhalb Millionen Taler für den Wiederaufbau garantiert. Dieses Dokument unterstreicht die Rolle, die der Staat mithilfe von Männern wie Alfred in der Zukunft spielen wird, um menschliche Arbeitskraft und Maschinen zur Kultivierung und Wiedergewinnung dieser abgelegenen Gebiete einzusetzen. Alfred _____________ 13 14 15 16 17

Ebd. Ebd., Bd. 3, S. 131. Ebd., Bd. 3, S. 142. Ebd., Bd. 3, S. 128. Ebd., Bd. 1, Widmung.

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sprengt das Eis, um die Überflutung zu beenden und verleiht der Flut und ihren Folgen zusätzlich Bedeutung: »Das Eis des Winters ist gebrochen und der neue Frühling bringt Euch eine bessere Zeit!«18 Der Roman heißt die Moderne in Masuren willkommen, aber Hillerns Version von menschlichem Unternehmungsgeist und Eroberung stützt sich auf die Kultivierung und Ausdehnung von Land und nicht etwa auf moderne Eisenbahnverbindungen, die Entfernungen verkürzen.19 Der Kampf mit den Flutwassern fungiert hier als entsetzlicher und gleichzeitig klärender Höhepunkt sowohl für ein Gebiet, das der Natur trotz menschlichem Versagen abgerungen wurde, als auch für den Roman als Ganzes. Aus eigener Kraft endet aber nicht in der Weite der sumpfigen Masurengebiete, denn die Eroberung von Natur und Landschaft ist bei Hillern eng mit Domestizität und Heirat verbunden. Alfred kehrt in die Schweiz zurück, wo er seinen Anspruch auf seine Kindheitsfreundin Anna geltend macht. In ihrer Vergangenheit hatte die körperlich starke und große Anna den behinderten Alfred abgelehnt und ihm in einer Umkehrung von Geschlechtsnormen in ihren Spielen die Rolle des Kindes zugewiesen. Jetzt beharrt Anna darauf, sein Kind zu sein – nun kann er, ihr »liebes schönes Väterchen«,20 mit ihr machen, was er will. III. Hillerns Aus eigener Kraft gehört zu einer Gruppe von zwischen 1870 und 1888 erschienenen Romanen, die ihren Höhepunkt in einem Kampf mit Flutwassern finden. Als Auflösung des Konflikts folgt immer ein harmonisches Ende, das durch die Vereinigung von Mann und Frau in häuslicher Eintracht zu Stande kommt. In zwei in den 1880er Jahren in der Gartenlaube erschienenen Fortsetzungsromanen von E. Werner – Gebannt und erlöst (1883, Nr. 1–29) und Die Alpenfee (1888, Nr. 24–50) – verwandeln sich wie bei Aus eigener Kraft zwei defekte Protagonisten in Männer, die Familien gründen und Land bewirtschaften können, was sie durch ihre Reaktionen auf katastrophale Fluten unter Beweis stellen. Gebannt und erlöst dreht sich um die Rehabilitation von Raimund von Werdenfels. Die Geschichte spielt auf den Gütern des Landadels und in den benachbarten Dörfern in einer ungenannten süddeutschen Region, und ebenso wie in Aus eigener Kraft müssen hier rückständige soziale Be_____________ 18 19 20

Ebd., Bd. 3, S. 388. Siehe Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 35–38. Hillern, Aus eigener Kraft (wie Anm. 9), S. 226.

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dingungen durch die Führungskraft eines visionären Mannes und Änderungen in der Landschaft verbessert werden. Am Anfang von Werners Roman kehrt die kürzlich verwitwete Anna in ihre alpenländische Heimat zurück, wo aus ihrer ersten Liebe, dem aristokratischen Raimund, ein grübelnder Einzelgänger geworden ist, der sich nicht von seiner schwierigen Vergangenheit lösen kann. Raimund hatte sich mit seinem Vater wegen seiner Zuneigung zur bürgerlichen Anna gestritten. Auch hatten die Dorfbewohner ihn der Brandstiftung und des Mordes verdächtigt, und Anna schloss sich unter dem Einfluss des Priesters Gregor, der auch ihr Vormund war, diesen Verdächtigungen an. Sie verließ Raimund, um einen weitaus älteren, wohlhabenden Aristokraten zu heiraten. Annas Rückkehr lässt Raimund aus seiner Starre erwachen und er nimmt sich vor, seine Kräfte für das Dorf einzusetzen, obwohl ihm die Bauern misstrauen und ihn nicht respektieren. Er will seine Rehabilitation durch die Durchführung eines Hochwasserschutzprojektes vollziehen. In der Vergangenheit hatte Raimunds autokratischer Vater eine Hochwassermauer zum Schutz des Gutshauses und der angrenzenden Gebiete gebaut, die die Sicherheit des Dorfes nicht berücksichtigte. Um das unverantwortliche Verhalten seines Vaters wieder gut zu machen, beschließt Raimund, auf eigene Kosten einen Staudamm zu bauen. Weil aber der Pfarrer die Dorfbewohner überredet, öffentliche Gelder für einen Dammbau zu beantragen, gelingt es Raimund nicht, ihre Kooperation für sein Projekt zu gewinnen, und der Staudamm wird nicht gebaut. Das Frühlingstauwetter löst die Katastrophe aus, die schon im ersten Hinweis des Textes auf die Schwachstelle des Dorfes angedeutet wurde, und die Raimund eine Möglichkeit gibt, sich zu rehabilitieren. Er durchbricht den alten Staudamm, um das Dorf zu retten, und leitet damit die Fluten in Richtung seines Schlosses, Parks und der fruchtbaren Felder. Außerdem riskiert er sein eigenes Leben, um das Kind des Mannes zu retten, den er angeblich umgebracht haben soll. Das Überflutungskapitel schließt voll Trauer und Triumph: Glockenklänge einen sich mit dem »Rauschen des jetzt gebändigten und bezwungenen Elementes«.21 Raimunds Opfer führt zu besseren sozialen Bedingungen und zur eigenen Wiederherstellung. Er ist nun kein zurückgezogener Träumer mehr, sondern er kann ein aktives neues Leben mit größerer Verantwortung führen, bei dem ihn Anna begleitet. Er hat sich den Respekt der Dorfbewohner verschafft, die ihm jetzt nicht nur vertrauen, sondern ihn auch bewundern. Der Roman schließt mit der optimistischen Feststellung, dass _____________ 21

E. Werner, Gebannt und erlöst (= E. Werners gesammelte Romane und Novellen. Illustrierte Ausgabe, Bd. 5), Leipzig [o. J.], S. 350.

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das glückliche Paar und die Gemeinde die Vergangenheit hinter sich gelassen haben: »Der alte Bann versank, wie die Nebel und Wolken jener stürmischen Frühlingstage, und ein erlöstes, befreites Leben rang sich daraus empor!«22 Reinhold greift zu Bildern der Eroberung und des Kampfes, wenn er unerschrocken an die vor ihm liegende Arbeit denkt, die nötig ist, um »die Verwüstungen jenes Tages zu tilgen«: »Verloren gebe ich meine Besitzungen trotzdem nicht, wenn ich mir sie auch erst wieder erobern und jeden Fußbreit Boden der Verheerung abtrotzen muß.«23 Werners Roman Alpenfee, dessen erste Folgen 1888 in der Gartenlaube erschienen und so nur um ein paar Monate der Veröffentlichung des Schimmelreiters in der Deutschen Rundschau folgten, teilt mit Gebannt und erlöst die vorwärtsgewandte Siegesgewissheit. Das Buch endet mit der Einweihung eines Bahnhofs und einer Bahnstrecke durch die Alpen. Trotz schrecklicher Überflutungen und einer Schlammlawine konnte das Projekt abgeschlossen werden, was vom Erzähler in fulminanter Sprache festgehalten wird: »Neu geschaffen und fest gesichert stieg der eiserne Weg aus der Tiefe empor, mächtig schwang sich die Brücke über die Felsenschlucht und entschleiert blickte der Wolkenstein darauf nieder.«24 Werner mystifiziert die Natur im Roman, vor allem durch die »Alpenfee« aus dem Titel, die sich auf den Geist des höchsten Berges in der Region bezieht, aber gerade diese mystifizierte Natur muss erobert werden. Trotz der Einwände der Einheimischen gegen den Lärm und die Belästigung der Eisenbahn schließt der Roman dennoch mit einer Szene, in der die Natur durch harte Arbeit und deutsche Einfallskraft »entschleiert« und bezwungen wird und im Dienst einer glücklicheren Zukunft steht. Die Alpenfee führt mehrere mögliche Partien für die weibliche Hauptfigur Erna vor. Der Auserkorene ist der ehrgeizige Ingenieur Wolfgang Elmhorst, der zunächst eine Konvenienzehe mit der Tochter seines Gönners, des Präsidenten Nordheim, eingehen will und dadurch unpassend für Erna erscheint. Als praktisch veranlagter Mann möchte Wolfgang Geld haben, »um frei schaffen zu können«.25 Stolz schaut er auf die Eisenbahnbrücke als seine größte Leistung. Diese Errungenschaft ist aber von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn Wolfgang hat beim Brückenbau eben nicht frei geschafft, sondern er hat sich von dem Geld seines Gönners abhängig gemacht, der das Projekt durch Spekulation und schmutzige Geschäfte finanziert hat. Erna bemerkt verächtlich, dass der Mann, der in der Lage war, die Brücke zu erschaffen, auch »den Mut [haben sollte], der _____________ 22 23 24 25

Ebd., S. 366. Ebd., S. 365. E. Werner, Die Alpenfee (= E. Werners gesammelte Romane und Novellen. Illustrierte Ausgabe, Bd. 10), Leipzig [o. J.], S. 367. Ebd., S. 167.

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eigenen Kraft zu vertrauen und allein vorwärts zu schreiten«.26 Dank Ernas moralischer und emotionaler Unterstützung gibt Wolfgang den Plan einer Konvenienzehe auf und wendet sich dem steinigeren Weg des »Ringen[s] und Streben[s]«27 zu, um sein Glück zu erreichen. Die Brücke jedoch ist der zerstörerischen Gewalt der Natur ausgeliefert. Als Winterstürme die neu gebaute Eisenbahnstrecke bedrohen, zeigt sich der arrogante Weltenbummler Ernst Waltenberg, der mit Wolfgang um Erna konkurriert, als bloßer Beobachter, der die Szene leidenschaftslos als Naturspektakel betrachtet. Wolfgang hingegen bringt eine Energie auf, die mit der Hauke Haiens zu vergleichen ist: Er »war überall, bald stand er hoch oben auf den Dämmen an der am meisten preisgegebenen Stelle, bald war er mitten auf der Brücke und stemmte sich gegen den Sturm, der an dem eisengefügten Gitterwerk rüttelte […] bald eilte er wieder nach dem Stationshause und gab dort seine Befehle.«28 Die Kraft der Natur zerstört aber »all die Spuren, die der Menschengeist in jahrelanger, mühevoller Arbeit geschaffen hatte«.29 Als Wolfgang die gänzliche Zerstörung seiner prächtigen Eisenbahn mit ansehen muss, beteuert Erna ihre Absicht, »in Arbeit und Ringen, in Not und Gefahr«30 an seiner Seite zu stehen. Im Gegensatz zu Storm operiert Werner im Modus des Happy Ends. Man kann also sicher sein, dass Ernas Entscheidung die richtige ist. Während Hauke einen Moment lang über einen Wiederaufbau des Deiches nachdenkt, um dann aber kurz darauf verzweifelt Selbstmord zu begehen, lebt Wolfgang unverzagt für den Wiederaufbau. Der Erzähler kommentiert hier in sentimentalem Ton: »doch keimte aus dieser Zerstörung ein hohes, reines Glück empor, das sich schwer genug durchgerungen hatte durch all die Stürme«.31 Das Resultat ist schließlich die Ehe von Wolfgang und Erna und ein Wiederaufbau mit »Energie und Ausdauer«.32 Innerhalb der Handlung ist die Flutkatastrophe notwendig, um Wolfgang neue Kraft und ein ehrenhaftes Motiv zu geben, wodurch er dieses Mal die Landschaft besiegen kann.

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Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 318. Ebd., S. 313. Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Ebd., S. 352.

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IV. Die katastrophale Flutwelle vom 13. November 1872 bildet den Höhepunkt in zwei Romanen aus den 1870er Jahren, in denen sich wie in Werners und Hillerns Romanen Männer beweisen müssen: Friedrich Spielhagens Sturmflut (1876 u. a. im Berliner Tageblatt erschienen; Buchausgabe 1877 bei Stackmann)33 und E. Junckers (d. i. Else Kobert Schmiedens) Lebensräthsel (Deutsche Roman-Zeitung, 1878; Buchausgabe 1878 bei O. Janke).34 In beiden Romanen folgt der Flut am Ende eine Eheschließung. Lebensräthsel spielt auf einem Landsitz an der Ostsee und erzählt die Geschichte einer rasch geschlossenen Ehe, in der schnell Probleme sichtbar werden. Der weitaus ältere, reiche Graf Günther von Randau heiratet unerklärlicherweise die junge und naive Margarethe Treutler, die Tochter eines Kaufmannes. Trotz dieser Mesalliance akzeptiert die modern und demokratisch gesinnte Familie die Heirat. Aber das Paar unterscheidet sich auch in Charakter und Erfahrung. Günther langweilt sich bald mit seiner kindlichen und unerfahrenen Frau und erliegt fast den Schmeicheleien der weltgewandten Editha von Massow. Margarethe wiederum findet den intellektuellen und skeptischen Ton des Kreises um Randau befremdlich, der im Widerspruch zu ihrer engstirnigen und naiven Frömmigkeit steht. In einer bizarren Szene beobachtet die schwangere Margarethe Editha im Spiegel, wie diese ihren Kopf auf Günthers Schulter legt. Margarethes naive Weltauffassung bricht zusammen, als sie begreift, dass ihr Ehemann eine andere Frau liebt. Sie erleidet dann eine Fehlgeburt. Eine Transfusion mit Günthers Blut rettet ihr zwar das Leben, aber die Blutspende führt nicht zur Versöhnung des Paares. Unzählige Seiten müssen gelesen werden, bevor das Paar wiedervereint wird. Die Versöhnung kommt erst zustande, als sich Günther häuslicher zeigt und lernt, durch Selbstdisziplin seinen Pflichten als Landeigentümer nachzukommen. Nicht nur wird er Repräsentant seines Kreises im Reichstag, wo er sich für liberal fortschrittliche Ziele einsetzt, sondern er kümmert sich auch um seinen Landbesitz und die Interessen seiner Pächter. Trotzdem vollzieht sich die Versöhnung mit seiner Frau – und deshalb seine Rehabilitation als Mann – erst, als er vor deren Augen einen Hirten rettet, nachdem ein Deich durch die Flutkatastrophe von 1872 zerstört worden ist. _____________ 33

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Laut Reinhart Wittmann wurde Sturmflut gleichzeitig im Berliner Tageblatt, Petersburger Harold, Hannoverischen Courier, in der Breslauer Zeitung und Elberfelder Zeitung vorabgedruckt (Reinhart Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. 2., durchgesehene Aufl., München 1999, S. 282). E. Juncker, Lebensräthsel. In: Deutsche Roman-Zeitung 15. Jg. (Berlin 1878), Bd. 2, Sp. 417–464, 481–532, 583–610, 667–692, 749–776, 822–854. Die im gleichen Jahr erschienene deutsche Buchausgabe hat mir beim Verfassen dieses Beitrages nicht zur Verfügung gestanden.

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Die Versöhnung des Paares ist damit abhängig von einer eindrucksvollen Auseinandersetzung mit der Natur, besonders mit »d[en] beiden Giganten, Meer und Sturm«,35 in einer Landschaft, die der Text als »endlose Wasserwüste«36 beschreibt. Erst diese dramatische Rettungsaktion führt Margarethe zur Erkenntnis, dass sich ihr Mann verändert hat. Außerdem ermöglichen ihr die Geschehnisse während der Flut, den intoleranten Pfarrer Friedmann zu durchschauen, der zum Auseinanderleben des Ehepaars beitrug. Während der Sturmflut kehrt der feige Friedmann denen, die Hilfe brauchen, den Rücken zu, um sich einigen selbstsüchtigen und ängstlichen alten Damen zu widmen. Margarethe bemerkt im Stillen, dass er »selbst ein Weib«37 ist. Trotz des Happy Ends für Günther und Margarethe inmitten einer Sturmflut setzt der Roman einen melancholischen Schlusspunkt: In der letzten Szene wird der Schiffskapitän Willy, Sohn des idealistischen Reformers Pastor Dossow, auf See bestattet. Dieselbe Flut, durch die Günther sich als Mann beweisen konnte, kostet den männlichen Willy das Leben. In dem Moment, als der Sturm ausbrach, hatte Willy seine Pflichten vernachlässigt, sich der Leidenschaft für seine neue Frau hingegeben und kurzfristig sein Schiff verlassen. Am Ende bietet ihm aber die Sturmflut Gelegenheit zur Sühne, indem er sich selbst opfert, um seine Pflicht zu erfüllen. Der Roman preist am Ende den Humanismus von Pastor Dossow und vertritt ein Konzept der Transzendenz, das sich von der Bibel löst und dem »denkenden Jahrhundert« angemessen ist, das Hillern in Aus eigener Kraft evoziert hatte. »Göttliches schauend, Ewiges ahnend«,38 sind die Worte, die Juncker Pfarrer Dossow zuschreibt, als er das Grab seines Sohnes im Wasser betrachtet. Der Text ringt der »Wasserwüste« eine positive Bedeutung ab, indem einerseits ein Ehepaar wieder vereint wird und andererseits Humanismus und Vernunft mit Transzendenz versöhnt werden. In seinem sozialkritischen Roman Sturmflut greift auch Friedrich Spielhagen auf diese entsetzliche Flutkatastrophe zurück, und auch dieser Roman endet für das Hauptpaar glücklich.39 Während Berlin als Ort der Spekulation, des sozialen Konflikts und der politischen Intrige mit Flutmetaphern belegt wird, wird am Ende des Romans die historische Flutkatastrophe im Norden des Kaiserreichs ausführlich dargestellt. Hier im _____________ 35 36 37 38 39

Ebd., Sp. 845. Ebd., Sp. 843. Ebd., Sp. 842. Ebd., Sp. 854. In der vierten Ausgabe, die 1878 bei Staackmann erschien (der ältesten Ausgabe, zu der ich Zugang hatte), nimmt die Beschreibung der Sturmflut ca. 100 Seiten in Anspruch.

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Norden wird der beherzte Reinhold Schmidt, dessen Name von Tugend und Bescheidenheit zeugt, zum Held des Tages und ist am Ende mit der aristokratischen Else vereint. Das Buch schließt jedoch mit einer Grabrede, die die Katastrophe mit Bedeutung anreichert: Das Unglück »mußte sein, auf daß wir uns wieder lieben lernten!«40 In dieser Rede folgt diese Affirmation auf eine Kritik des ständigen und rohen Wettbewerbs und des Egoismus der Gründerjahre. Nach der schrecklichen ›Sintflut‹ wird, so der Grabredner, ein neuer Tag anbrechen. Auch wenn der Roman im rosaglühenden Abendlicht endet, übt er starke Kritik an der Umgestaltung und Ausbeutung der Randregionen unter der Herrschaft der Hauptstadt; die dargestellten Eingriffe in den ländlichen Norden machen den verrotteten Kern der Metropole sichtbar. Der Roman beginnt auf einem Schiff, das Kurs auf eine Ostseeinsel hält, und endet auf derselben Insel direkt nach der Sturmflut. Somit verankert das Buch die Erforschung der Gründerjahre in einer provinziellen Kulisse. Diese abgeschiedene Region hat Probleme, die vor allem das Resultat von Fehlplanungen in Berlin sind. Man erfährt schon im ersten Kapitel von der »Unrentabilität«41 eines privaten Eisenbahnprojekts, das die Insel mit dem Festland verbinden soll. Die Sturmflut zerstört auch dieses Projekt, das durch unsaubere Geschäfte in Berlin von Anfang an schwer belastet war. Der Bau eines Kriegshafens auf der gleichen Insel ist ebenso fehlgeleitet. Wie der Text offenlegt, hätte der Bau nie begonnen werden sollen, denn der Hafen kann Sturmfluten nicht Stand halten.42 Die Zerstörung des Hafens kostet das Land Millionen, die man anderswo besser hätte investieren können. Die Katastrophe wird schon am Anfang des Romans angedeutet, als ein Schiff auf Grund läuft. Wie Reinhold fachmännisch _____________ 40

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Friedrich Spielhagen, Sturmflut, Leipzig 1906, Bd. 2, S. 459. Im zweiten Band des Romans behauptet der Präsident, dass, wenn es eine Sturmflut geben sollte, er dieses Naturereignis als »ein Gleichniß dessen nehmen [würde], was über uns hereindroht, ja! für ein Zeichen des Himmels, ob wir vielleicht, aus unserm frevelhaften Taumel, aus unserm Schaum- und Traumleben erwachend, emporschreckend, uns den gleißenden Schein aus den Augen reiben, um – wie unser Fichte sagt, zu sehen, – ›das, was ist.‹« (Bd. 2, S. 156). So verbindet der Text eine eventuelle Naturkatastrophe explizit mit der alttestamentlichen Sintflut. Ebd., Bd. 1, S. 4. Während Spielhagens Roman der korrupten Reichshauptstadt die Schuld für die Flutkatastrophen gibt, hat Norbert Fischer darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert zahlreiche Überflutungen, wie z. B. die Kehdingener Überschwemmung von 1825, davon zeugen, dass der regionale Wasserbau dringend der Normierung und Lenkung des Staats bedurfte, denn das »an konkreter Erfahrung geschulte ›personalisierte‹ System der regionalen Gesellschaft« war Naturkatastrophen nicht gewachsen, so gut es auch unter normalen Umständen funktionierte (Norbert Fischer, Die ›hydographische Gesellschaft‹ und ihre fünf Katastrophen. Kehdingen, Februarflut 1825. In: Ortwin Pelc, Hrsg., Katastrophen in Norddeutschland. Vorbeugung, Bewältigung und Nachwirkungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Neumünster 2010, S. 119– 133, hier S. 132).

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erklärt, sind die alten Seekarten nicht mehr gültig. Der Text spielt somit darauf an, dass die neuen Zeiten neue Mittel brauchen, um die Veränderungen bewältigen zu können. Es ist schließlich nicht die Rekonfiguration der Landschaft durch menschliche Arbeit und Vorstellungskraft an sich, die falsch ist, sondern die arrogante, kurzsichtige und korrupte Art und Weise, wie diese Projekte ausgeführt werden. Die neue Zeit wird im Gegensatz dazu »voll von ehrlicher Arbeit« und somit voll »echter goldner Saat« sein und unter dem Schutzschirm von Wahrheit, Respekt der Menschenehre und Vaterlandsliebe stehen.43 V. Solche Erzählliteratur bewertet den Kampf mit der Natur und die Land(wieder)gewinnung dann positiv, wenn sie mit persönlichen und sozialen Werten gekoppelt und so Teil eines größeren optimistischen Unterfangens sind. Sie drückt ein Vertrauen in instrumentelle Vernunft aus, die ländliche Gebiete kultiviert und weiterentwickelt und sie in die moderne Nation mit einbindet. Theodor Fontanes Kriminalgeschichte Unterm Birnbaum (1885) und zwei Romane von Wilhelm Raabe, Die Innerste (1876) und Stopfkuchen (1890/91), bieten Gegenstimmen zu diesen triumphierenden Diskursen, in denen Männlichkeit wieder hergestellt und Deutschland aus einer »Wasserwüste« wiedergeboren wird.44 Die Handlung von Raabes Die Innerste (1876 in Westermanns illustrirten deutschen Monatsheften erschienen) spielt hauptsächlich in zwei Mühlen am Fluss Innerste im Harz während des Siebenjährigen Krieges. Obwohl der Erzähler behauptet, dass die Geschichte, die er erzählt, in einer der Gegenwart wenig ähnelnden Vergangenheit spielt, wird dieser Unterschied ironisch hinterfragt, wenn der Text eine direkte Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt: Der Harz »ist seitdem kultiviert worden […] was die Menschen angeht, so haben die sich weniger verän_____________ 43 44

Spielhagen, Sturmflut (wie Anm. 40), Bd. 2, S. 459. Theodor Storms Carsten Curator (1877), eine Novelle, die von unzulänglicher Männlichkeit handelt, bietet auch einen Kontrast zur heroischen Darstellung vom Kampf des sich rehabilitierenden Mannes gegen die Gewalt einer Flutkatastrophe an. Wie Fischer bemerkt, kommt Heinrich, der moralisch kompromittierte Sohn des Protagonisten, in der FebruarÜberschwemmung von 1825 um (Fischer, Die ›hydographische Gesellschaft‹ [wie Anm. 42], S. 119). In dieser Erzählung entspricht Heinrichs weiblich anmutender Tod im Wasser dem eines Mannes, der seinen sozialen Verpflichtungen und Rollen als Mann nicht gewachsen ist. Während in Carsten Curator Männlichkeit schon thematisiert wird, wird dieses Thema im Gegensatz zu den anderen Werken, die hier besprochen werden, nicht direkt mit Wasserbau oder Nation verbunden. Die Sturmflut dient im Text lediglich dazu, einem verfehlten Leben und dem Leiden des Vaters ein Ende zu setzen.

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dert, wenn sie gleich unendlich viel gebildeter geworden sind […]« (BA 12, S. 160). Das sich drehende Mühlrad evoziert hier eine Vergangenheit, in der ein idyllisches Leben vorherrscht, das durch die Jahreszeiten bestimmt und durch die Gewässer des Flusses genährt wird. Wenn aber der gleiche Fluss über die Ufer tritt, erinnert die Überflutung an die Gewalt der Natur, die die traditionellen Gemeinden in ihren Grundfesten erschüttern kann. In Raabes Roman hat die Überflutung noch eine weitere Bedeutung; die beiden Mühlen existieren nebeneinander in einer brutalen, sich ständig verändernden Welt, die nicht nur durch die Natur geformt und gefährdet wird, sondern auch durch menschliches Verhalten. Raabe verbindet die Wildheit des Flusses Innerste und sein Potential zur Überschwemmung und Zerstörung zweimal direkt mit den nach der Schlacht von Lutter am Barenberge geänderten Lebensumständen, d. i. verändert als Ergebnis menschlicher Geschichte (BA 12, S. 109f.). Eines der Mühlräder gehört zu einer Sägemühle »mit gefräßigen Zähnen« (BA 12, S. 160), die aufgrund der kriminellen Aktivitäten des Besitzers stillsteht. Die zweite Mühle, die noch in Betrieb ist, ist trotz ihrer guten äußeren Erscheinung auch in Gewalt verstrickt. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, deckt der Text das gewalttätige Fundament des häuslichen Idylls in dieser zweiten Mühle auf und verbindet es mit einem globalen Krieg.45 Hier ist es vor allem wichtig darauf hinzuweisen, dass Raabe durch die Überflutungsthematik sichtbar macht, wie die Zivilisation ihre eigenen blutigen Fundamente maskiert und verdrängt. Wie bereits ausgeführt, argumentiert Hamblet, dass die Konstruktion einer Heimatumgebung die Dämonisierung von Anderen erfordert. Nur durch die Austreibung dieser Dämonen kann das Heim als heiliger Ort gereinigt und konserviert werden. In seinem Roman beschreibt Raabe eben diesen Prozess, aber er hinterfragt ihn auch. Zum Beispiel wird das heitere Spiel eines jungverheirateten Paares im Garten der in Betrieb stehenden Mühle beschrieben, während in der Ferne Kriegskanonen grollen, die zwar das selbstvergessene Paar nicht hört, die aber vom Leser wahrgenommen werden können. Die Infragestellung des Idylls weitet sich aus, wenn es kurz vor Weihnachten zu großräumigen Überflutungen kommt, die die Mühle fast vom Rest der Welt abschneiden. Albrecht, ein früherer Soldat, der jetzt Müller ist, hatte vormals gehofft, dem Krieg in diesem Idyll zu entfliehen, hatte aber nicht vermutet, dass sein Wunsch wörtlich erfüllt wird, »daß er […] mit seiner jungen Frau von aller Welt abgeschnit_____________ 45

Die folgende Besprechung dieser Erzählung bearbeitet und erweitert einen Aspekt meines Beitrags: Resonant Violence in ›Die Innerste‹ and the Rupture of the German Idyll after 1871. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe: Global Themes – International Perspectives, London 2009, S. 126–137.

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ten auf einer Insel im Wasser wohnen« könnte (BA 12, S. 184). Nun steht die Innerste »ihm auf zwei Seiten um das Haus« und überschwemmt »den Garten bis unter die Fenster seiner Mühle« (ebd.). Der Fluss hat die Mühlenidylle zuerst überhaupt möglich gemacht, birgt jetzt aber deren Zerstörung. Das gesamte Land zwischen Sarstedt und Hannover ist überflutet, und es ist nicht klar, ob nicht auch die Mühle mit hinweggeschwemmt wird. Die Überflutung fällt zeitlich mit der Ankunft von Korporal Jochen Brand zusammen. Des Soldatenlebens müde geworden, versucht dieser einarmige Veteran, sich von den blutigen Kampfstätten zurückzuziehen, und wendet sich stattdessen der idyllischen Mühle von Albrecht und Lieschen zu. Das Paar heißt ihn willkommen und hat sogar vor, ihn zum Patenonkel ihres Kindes zu machen. Wenn dann auch noch die Fluten zurückgehen und der Fluss zufriert, scheint der Roman denselben sentimentalen Konventionen zu folgen, die schon Hillern, Werner, Juncker und auch Spielhagen verwendet hatten. Diese Konventionen werden scheinbar bestärkt, wenn Jochen sich während der Adventszeit erholt und der Text Weihnachtsfreude antizipiert. Das nahende Fest und die paar verbleibenden Textseiten wecken wahrscheinlich bei einigen Lesern die Erwartung, dass die Feierlichkeiten in eine gänzliche Wiederherstellung Jochens kulminieren werden. Am 24. Dezember ist die Mühle sauber und für das Fest vorbereitet. Der versehrte Veteran schätzt sich glücklich, dass er sich am deutschen Weihnachtsfest erfreuen kann, was der Krieg bisher unmöglich gemacht hatte, und dass er dadurch Abstand von seiner gewalttätigen Vergangenheit gewinnen kann. Im Text versammeln sich dann schließlich alle Mitglieder des Haushalts, einschließlich Jochens, um den erleuchteten Weihnachtsbaum. Der Erzähler beobachtet dabei die Versunkenheit der Anwesenden in der vermeintlich unschuldigen Gegenwart und ihr Desinteresse am Krieg. Sie knacken Nüsse, sehen den brennenden Kerzen zu und singen ein Weihnachtslied. Auch Jochen genießt diese heile Welt, die scheinbar von allem Bösen entfernt ist. Aber Doris, die ungezähmte Außenseiterin, die die Wildheit des Flusses widerspiegelt, zerstört die fadenscheinige Harmonie. Doris und der wilde Fluss entsprechen Hamblets »Monstern« vor der Eingangstür, also dem dämonischen Fremden, gegen das man bereit ist, sein Heim mit Gewalt zu verteidigen.46 Der Müller schützt sein Haus, indem er wortwörtlich Türen und Fenster verriegelt, aber zur gleichen Zeit kämpfen Jochen, der versehrte Soldat, und Doris, die Dämonin und Ausgestoßene, bis zum Tod. Albrechts und Lieschens Akzeptanz des ehemaligen Soldaten hätte seine kurz bevorste_____________ 46

Hamblet, The Sacred Monstrous (wie Anm. 6), S. 67.

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hende Wiederherstellung und -eingliederung in die Gesellschaft signalisieren können. In der Lesart des Texts, die die affirmative Perspektive der Idylle einnimmt, muss man Jochen als Helden deuten, der die Dämonin aus der Mitte vertreibt und sich dabei selbst opfert; er ist der Mann, der sich selbst beweist, während er die Heimatwelt verteidigt. Aber Raabes Text ermöglicht seinen Lesern auch, hinter die Idylle zu blicken und Jochen als Symbol für die Unmöglichkeit einer unschuldigen Idylle und eines Happy Ends zu sehen. Als die Mühle von außen bedroht wird, verfällt Jochen wieder in die Kriegerrolle, sucht nach Doris und tötet sie. Er ist weder vom Schmutz des Schlachtfelds gereinigt – und das Schlachtfeld, ebenso wie der Fluss, machen die Idylle erst möglich – noch konnte er sich am heimatlichen Herd beweisen. Während Albrecht und Lieschen den Soldaten als Schutzengel und Helden der Idylle sehen und sich der weiteren Implikationen nicht bewusst sind, hält der Text das mit Gewalt durchzogene Fundament der Idylle nicht versteckt. Obwohl die Leiche von Doris zunächst unter dem Eis verschwindet, kommt sie schließlich dennoch an die Oberfläche. Der Text deutet somit an, dass die Gewalt, die durch Doris zum Ausdruck gekommen ist, nicht verschwunden ist, so wie die Natur durch die Flussbegradigungen in modernen Zeiten nicht endgültig gezähmt werden kann. Aber noch wichtiger hier ist, dass ihre Leiche die Erinnerung an die Gewalt wachruft, die der Idylle zu Grunde liegt. Während also das MüllerEhepaar eine Welt wahrnimmt, die von Dämonen befreit ist, von Helden beschützt wird, und die ruhig und kontrolliert ist, konfrontiert der Text die Leser mit einer weniger angenehmen Perspektive. Die dämonischen Geister mögen vertrieben sein und die Flutwasser zurückgegangen, aber die Gewalt selbst ist nicht verschwunden. In der sogenannten Friedenszeit ist die Gewalt in den Status Quo mit eingebaut und wird wie ein Fluss reguliert. So kann sie nicht als das Fremde und Andere Schrecken stiften, sondern sie lebt verborgen und verdrängt in der geläuterten Vision des Subjekts bzw. der Nation von sich und der Heimat fort. VI. Weder Fontanes Unterm Birnbaum noch Raabes Stopfkuchen stellen Wasserbau oder Flutkatastrophen dar, doch beide spielen auf sie an. Die beiden Werke untersuchen das, was auf dem trockenen Land wiederaufgebaut wird, sobald das Wasser zurückgeht, und zweifeln somit genau jene Aktivitäten rund um den Wiederaufbau nach der Sintflut an, die in den meisten Flutnarrationen dieser Epoche positiv bewertet werden. In diesem letzten Abschnitt steht die literarische Behandlung der Landgewinnung

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und der Menschen, die daran teilnehmen und davon betroffen sind, im Zentrum. Theodor Fontanes Unterm Birnbaum untermauert das blutige Fundament des Reichsgebiets, das durch Friedrich den Großen gelegt wurde. Der Ort der Handlung ist das Oderbruch, eine moderne deutsche Landschaft, die als Resultat der Trockenlegung von Sumpfland im 18. Jahrhundert (1746–1753) entstanden ist. Diese Trockenlegung, von dem die Zeitgenossen, wie Fontane in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg bemerkt, als einem in der »Stille geführten Siebenjährigen Krieg« (HFA II/1, S. 570) sprachen, führte zu starken Veränderungen der Landschaft und machte die Sümpfe Preußens zu Kornkammern. David Blackbourn spezifiziert den gewaltigen Umfang dieser Transformation: Militäreinsatz war nötig, um die Bevölkerung zur Kooperation zu zwingen und das Projekt voranzutreiben. Die Trockenlegung von Gebieten für die Landwirtschaft nahm Fischern ihr Einkommen; Lebensweisen wurden zerstört und Bevölkerungsgruppen ihrer Heimat beraubt, als Kolonialisten eintrafen, um das trockengelegte Land zu bearbeiten.47 Zu Fontanes Zeiten ehrte das Oderbruch Friedrich den Großen mit Denkmälern, während die Gewalt der Binnenkolonisation, aus der es hervorging, vergessen war. Fontane erinnert versteckt an diese Vergangenheit, indem er als Ort für Unterm Birnbaum das fiktive Tschechin wählt, das auffällig nah an einem Deich liegt, denn im Oderbruch hat der deutsche Kampf mit der Natur des 18. Jahrhunderts zu den »übermütig-sittenlosen Zustände[n]« (HFA II/1, S. 586) im 19. Jahrhundert geführt.48 Mit seiner Kriminalgeschichte, die in eben diesem ominösen Gebiet spielt, bietet er also ein Gegenbeispiel zu den Geschichten, in denen Überschwemmungen und deren Folgen für das männliche Subjekt und die deutsche Nation Bedeutung stiften und Wiederherstellung versprechen. Damit stellt er das heldenhafte männliche Subjekt und die ruhmreiche Schaffung der deutschen Nation in Frage. Unterm Birnbaum wurde wie Hillerns und Werners Romane zunächst in der Gartenlaube veröffentlicht und behandelt mehrere Verbrechen. Ein Mord, der um 1813 begangen wurde, dient dazu, einen zweiten Mord zu verdecken, der zwanzig Jahre später begangen wird. Der frühere Mord bleibt den Bewohnern als ein Verbrechen, das nach Aufklärung verlangt, verborgen. Der Titel der Geschichte weist aber deutlich auf das Corpus Delicti hin, nämlich die Leiche eines französischen Soldaten »unterm Birnbaum«. In der Anspielung auf diesen vernachlässigten fiktiven ›Fremdkörper‹ hat Fontane den historischen Körper eines französischen Soldaten, der in Dreetz in der Nähe von Neuruppin begraben wurde, _____________ 47 48

Blackbourn, Conquest of Nature (wie Anm. 4), S. 64–66. So kennzeichnet Fontane das Oderbruch in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die Kolonisten seien »nur reich geworden« (HFA II/1, S. 585).

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gleichsam an einen neuen Ort verlagert, wieder eingeführt und mit neuer Bedeutung versehen. Fontane interessierte sich für diese Geschichte nicht nur als ein ungelöster Fall aus dem Jahre 1806, sondern auch in Beziehung zur Rekonfiguration eines Ortes. Das Dorf Dreetz hatte nicht nur versäumt, den Tod des Franzosen aufzuklären, sondern hatte am gleichen Ort, wo der Leichnam vergraben wurde, um 1873 dem französischpreußischen Krieg und der darauffolgenden Reichsgründung ein Denkmal gesetzt.49 Fontane vermutete, dass sich hinter zwei solch brutalen Taten eine größere Geschichte verbarg. In Unterm Birnbaum hatte er die Gelegenheit, einem mutmaßlichen Mordfall nachzugehen, bei dem die Entdeckung der Leiche das Vergessen des Verbrechens ermöglichte. Der Deich des fiktiven Tschechin spielt auf die hydraulischen Projekte an, die der Region im 19. Jahrhundert ihre Gestalt verliehen, und weist damit auf eine Vergangenheit hin, an die sich die Bewohner selbst nicht erinnern. Obwohl Schulze Woytasch »de[n] alte[n] Fritz« als Aufklärer lobt (HFA I/1, S. 491), zeigen die Tschechiner wenig Interesse, in irgendeiner Form Aufklärung in der Gegenwart zu betreiben. Die Hradschecks, das Mörderpaar, setzen sich dann auch zum Ziel, genau diesen Deich, das Hochwasser der Oder und die Tendenz der Tschechiner zur Abgelenktheit und zum Vergessen auszunutzen. Der Mord soll wie ein Unfall aussehen, der am Deich als Resultat des turbulenten Novemberwetters geschieht. Das aufgewühlte Wasser des Flusses soll ferner erklären, warum die Leiche nicht an die Oberfläche treibt. Doch als Fremde kennen die Hradschecks die Umgebung und das Land zu schlecht und merken nicht, dass die örtlichen Bedingungen ihrer Fassung der Geschichte widersprechen. Daher scheitert die erste Ablenkung, die zum Ziel hat, den Argwohn zu mildern. Die Leiche des Franzosen dient dagegen als effektives Täuschungsmittel, das den Schwachpunkt der Einwohner ausnützt, die Vergangenheit zu unterdrücken. Am Ende der Geschichte sind beide Hradschecks tot, aber es gibt kein Geständnis. Der Pastor Eccelius versucht dennoch den störenden Konsequenzen ihres Verbrechens mit einer moralisierenden Volksweisheit ein Ende zu bereiten: »Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.« (HFA I/1, S. 554) Die Botschaft dieser simplen Moral scheint andere Lesarten auszuschließen. Besonders ein Lesepublikum, das an klare und eindeutige Schlüsse und Happy Ends gewöhnt war, dürfte von Fontanes Geschichte eine ähnliche Gangart und Auflösung wie in den Ge_____________ 49

Irene Ruttmann verweist auf diesen Brief und seine Bedeutung für Unterm Birnbaum im Nachwort zu Theodor Fontane, Unterm Birnbaum, Stuttgart 2002, S. 129–136, hier S. 130; Theodor Fontane an Schwester Lischen (12. und 13. Oktober 1873). In: Theodor Fontane, Briefe II. Briefe an die Tochter und an die Schwester. Hrsg. von Kurt Schreinert, Frankfurt am Main 1969, S. 321–323.

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schichten von Hillern, Werner und Spielhagen erwartet haben. Kurz ausgedrückt: Szulskis Fall ist gelöst und die Welt ist wieder in Ordnung. Aber es reicht nicht aus zu wissen, wer der Täter war, um alle Fragen zu beantworten. Pastor Eccelius, der das oben zitierte Sprichwort als Lösung anbietet, ist zwar eine Stütze der Gemeinde, hat aber mit seiner Parteilichkeit für Ursel Hradschek bewiesen, dass er kein guter Menschenkenner ist, und dadurch verhindert, dass sich Gerechtigkeit durchsetzt. Seine simple Volksweisheit wird einerseits der Komplexität der Situation nicht gerecht und verhindert weitere Untersuchungen, entspricht aber andererseits dem Modus Operandi der Tschechiner. Wichtiger noch: Der Mord des Franzosen, auf den der Titel anspielt, wird nicht gelöst, obwohl die Leiche ›an die Sonne gekommen ist‹. Kein Tschechiner, nicht einmal die alte Jeschke, will diesem ungelösten Fall nachgehen und so riskieren, den Frieden zu stören. Stattdessen wird die zwanzig Jahre alte Leiche zu einem Witz. Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart hat Tschechin das Bedürfnis, die Erinnerungsarbeit auszuführen, die nötig wäre, um seine Rolle in dem Krieg zu erforschen, der vor zwanzig Jahren auf seinem Boden gefochten wurde. Der Ort hat auch kein Interesse, seine eigene Entstehung zu untersuchen, die untrennbar ist von dem sechzig Jahre zurückliegenden Landgewinnungsprojekt, das die Landschaft gewaltsam veränderte. Stattdessen leben die Tschechiner selbstvergessen in der Gegenwart, frönen leerem Klatsch, glauben an Schicksal und Magie und sind nur allzu bereit, Außenseiter zu verfemen. In Hamblets Terminologie sind die Tschechiner ihrer gewalttätigen Vergangenheit gegenüber blind, weil das egoistische Existieren im Jetzt die Wahrnehmung der historischen Bedingungen ausschließt. Angefangen bei den selbstgerechten Bauern, die das Kreuz auf Ursels Grab herunterreißen und finden, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, bis zum frommen Pastor, der sich mit einem platten Sprichwort zufrieden gibt, geht das Leben der Tschechiner auf gewaltsam gewonnenem Land seinen »unschuldigen, notwendigen und unausweichlichen« Gang.50 Auf den ersten Blick scheint Wilhelm Raabes 1890/91 in der RomanZeitung erschienener Roman Stopfkuchen eine ähnliche Geschichte wie Hillerns Aus eigener Kraft zwanzig Jahre zuvor zu erzählen. Die Hauptfigur hat sich trotz Widerständen und körperlicher Mängel zu einem weisen und imposanten Mann entwickelt, der eine Frau, ein Anwesen und den Respekt seiner Umgebung hat.51 Er nimmt außerdem die Rolle eines Detek_____________ 50 51

Hamblet, The Sacred Monstrous (wie Anm. 6), S. 63. Hans Erich Blaich kennzeichnete Stopfkuchen zum Beispiel als eine »Geschichte von dem Mann, der aus dem Kasten ging, ›heraus aus dem Herdenkasten‹, dem der Begriff gar nichts und die Anschauung alles war, der keineswegs ›so was Besonderes‹ an sich hatte,

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tivs an, um einen ungeklärten Kriminalfall zu lösen und dabei die Brutalität der mitteldeutschen Kleinstadt bloßzulegen. In seiner Kindheit litt Heinrich Schaumann wie Hillerns Alfred unter Verhöhnung und Ausgrenzung. Die anderen Kinder ließen ihn »unter der Hecke« sitzen (BA 18, S. 82), ebenso wie Anna den lahmen Alfred schlecht behandelt hatte. Und wie bei Alfred erfüllen sich Heinrichs Wünsche als Erwachsener, aber im Unterschied zu dem bescheidenen Menschenfreund Alfred ist Heinrich ein Misanthrop, der seine Leistungen in die Welt posaunt. Als einer der besten Redekünstler in der deutschen Literatur fordert uns Heinrich zu einer Interpretation heraus, die ein Gegengewicht zum heroischen Mythos bildet, der die Erzählliteratur der Zeit sonst prägt. Indem Heinrich die Rote Schanze erobert und sie von ihren Dämonen befreit, führt er eine Binnenkolonisation durch, in der Land wiedergewonnen wird und die Bewohner vor Missbrauch und Vernachlässigung geschützt werden. Im Zuge der Eroberung dieses winzigen Gebietes und der Herstellung von Ruhe hat er außerdem sein wichtigstes Vorhaben erreicht: die Vervollkommnung seiner Persönlichkeit. Hierin scheint er also dem Modell, das dem Roman Aus eigener Kraft und den darauffolgenden Texten zu Grunde liegt, zu folgen. Mit Stopfkuchen ruft Raabe aber die literarischen Themen ›heldenhafte männliche Errungenschaften‹ und ›Wiedergutmachung‹, ›deutsche Nation‹, ›Flutkatastrophen‹ und ›Wiederaufbau‹ wach und kehrt sie um, ohne jedoch Überflutungen darzustellen. Er führt die Idee der Überflutung durch Wiederholungen einer Paraphrasierung von Gottes Ermahnung an Noah ein, die zunächst als Schriftzug über Schaumanns Tür eingeführt wird: »Geh aus dem Kasten« (BA 18, S. 17). Genau 19-mal wird diese Anspielung gemacht, wobei sie sich zweimal auf das Gegenteil bezieht, nämlich im Haus zu bleiben. Folgen wir der ›heroischen‹ Interpretation, so hat Heinrich eine metaphorische Flut überlebt, sich und seine Umgebung neu erschaffen, einen Mordfall gelöst und Bedeutung gestiftet. Und dennoch bleibt etwas Zweifelhaftes an Heinrich Schaumann. Jeffrey L. Sammons hat darauf hingewiesen, dass der sich selbst täuschende und unverlässliche Erzähler Eduard die Verantwortung für jegliche Tendenz, Widersprüche in Heinrichs Charakter zu verdecken, übernehmen muss und dass sie nicht dem Autor Raabe zugeschrieben werden kann.52 Eduard muss, so Sammons, eine glückliche und heldenhafte Version von Heinrichs Errungenschaften erschaffen, um die Nachwirkungen _____________

52

aber als scheinbarer Phlegmatiker sich selber fand, seine Straße ging, und seine Schanze gewann […] und der nun, wohl vertraut mit dem Schüdderump sich doch ›den Sonnenschein des Daseins‹ warm auf den Bauch scheinen läßt« (zitiert nach BA 18, S. 435). Jeffrey L. Sammons, Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community, Princeton 1987, S. 283–299.

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von dessen Rache an ihm zu lindern, denn das Wiedersehen mit seinem Kindheitsfreund hat zu Eduards Schande und seinem geistigen und emotionalen Zusammenbruch geführt. Wir können also hier nicht annehmen, dass Eduard durch diese Erfahrung dazugelernt hat. Laut Sammons ist es der Prozess, mit dem Eduard seine Erinnerungen neu ordnet und Unangenehmes verdrängt, der zur Wiederherstellung seines Gleichgewichts führt: »Schaumann’s vengeance has struck a target that is too flaccid for it […]. In the process of organizing his memories, [Eduard] regains much of his equilibrium.«53 Wie gleich klar werden wird, ist die Zwiespältigkeit von Eduards Wiederherstellung in der letzten Zeile des Romans sowohl sichtbar als auch verdeckt. Wie Heinrich bemerkt, kann nicht jeder eine Nation gründen, aber er hat gewissermaßen diese Leistung im Kleinen vollbracht. So ähnelt und unterscheidet er sich von den Helden, die die Überflutungs- und Wiederherstellungsdiskurse der meisten bisher analysierten Texte dominieren. Eduard versucht, Heinrich nachträglich als Helden darzustellen, doch Heinrichs aggressiver, selbstverherrlichender und selbstverräterischer Monolog deckt die Widersprüche im Mythos auf, an den sich Eduard bei seiner Konstruktion Heinrichs anlehnt. Damit weist der Text auf die Unmenschlichkeit hin, die dieses männliche Subjekt in dem Prozess, sich selbst und seine Umgebung neu zu erschaffen, an den Tag legt. Heinrich hat mit Gewalt Kontrolle über seine Umgebung und sein Heim ergriffen, hat Ordnung gestiftet und seine Umwelt verschönert. Er hat sein Gebiet für andere verschlossen und sich – in den Worten von Hamblet – in einen sicheren Innenraum (›safe interiority‹)54 zurückgezogen. Scharfe Hunde sind nicht nötig, um dieses Gebiet zu sichern; diese Aufgabe hat der aggressive, intellektuell übergroße Heinrich selbst übernommen. Selbst seine Gastfreundschaft stellt sich als Rache an denen heraus, die sich außerhalb seiner Mauern befinden. Bei der Abreise sieht Eduard Heinrich zum letzten Mal »als einen sonnenbeleuchteten Punkt im schönsten Heimatsgrün« und zieht sich dann zur Sicherheit in »die lichtblaue Dämmerung« des Zugabteils zurück (BA 18, S. 206). Heinrichs Geschichte offenbart nicht nur Heldenhaftigkeit, sondern die Widersprüche, die dem Projekt, sich selbst und seine Umgebung zu formen, innewohnen. Und dieser Prozess reicht von der Subjektwerdung bis zur Nationenbildung. Wenn Eduard die letzte Zeile seines Berichts teilweise auf Afrikaans schreibt, signalisiert er unfreiwillig, dass die unangenehmen Wahrheiten, die sich während seines Tages mit Heinrich offenbart haben, wahrscheinlich im Übersetzungsprozess verlo_____________ 53 54

Ebd., S. 295. Hamblet, The Sacred Monstrous (wie Anm. 6), S. 67.

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ren gehen werden. In Eduards Fassung des heldenhaften männlichen Subjekts im deutschen Kaiserreich, in »het Vaterland« (BA 18, S. 207), wird also das männliche Subjekt nicht entlarvt, sondern wieder inthronisiert, um ein Simulacrum eines glücklichen Ausgangs bereit zu stellen. Bedenkt man die Vorliebe des breiteren Lesepublikums im Kaiserreich für Triumphe und Helden, so liegt die Vermutung nahe, dass ihm die Ironie in der letzten Zeile dieses Romans entging. Auf jeden Fall las es weiterhin gerne vom Triumph des behinderten Alfred. 1890, im selben Jahr, in dem die ersten Folgen von Stopfkuchen erschienen, veröffentlichte die Union Deutsche Verlagsgesellschaft die vierte Auflage von Aus eigener Kraft. Mindestens sieben weitere Auflagen erschienen bis 1923, also noch ein halbes Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch eben jenes Reiches, das Hillerns Aus eigener Kraft in ›unserem denkenden Jahrhundert‹ optimistisch vorweggenommen hatte. VII. Indem die Erzählliteratur der ersten zwei Jahrzehnte des Kaiserreichs wiederholt Überflutung, Wasserbau und Land(wieder)gewinnung thematisiert und darstellt, setzt sie sich mit der Modernisierung, die sich nach der Reichsgründung beschleunigte, und der aus heutiger Sicht zweifelhaften Rolle des heroischen männlichen Subjekts in diesem Prozess auseinander bzw. reflektiert die Diskurse, die die Modernisierung mitgestaltet haben. Im Jahre 1870 konnte Hillern bar jeglicher Ironie die triumphale Geschichte eines behinderten Protagonisten erzählen, der (wie in der Gartenlaube zu lesen) einen humanitären Beruf ergreift, sumpfiges Land in der entlegensten Provinz neu gestaltet, um dort Arbeit zu schaffen und den Menschen Glück zu ermöglichen, und der seine Jugendliebe heiratet. So kümmerlich seine Anfänge waren, erzielt der Roman im Dezember 1870 im 52. Heft der Familienzeitschrift erstaunliche Erfolge, d. i. ein paar Monate nachdem das deutsche ›Bruderheer‹ Napoleon III. zu Fall gebracht und so die Reichsgründung vorbereitet hatte. 1890/91, kurz nach dem Rücktritt Bismarcks, stellt Raabe dagegen ein solches heroisches Unterfangen infrage, indem er die Geschichte kleinstädtischer Brutalität erzählt, die durch einen ebenso kleinstädtischen und brutalen Noah entlarvt wird, der aus der metaphorischen Sintflut ein winziges Stück Land für sich erobert hat. In der Zwischenzeit dienten, wie ich zu zeigen versucht habe, in der Erzählliteratur Überflutung, Wasserbau und Landgewinnung der meist heroischen Darstellung der männlichen Subjektbildung im erfolgreichen Kampf mit der Gewalt der Natur im Schatten des Kaiserreichs. Der glückliche Ausgang – sogar bei der Tragödie des »Schimmelreiters« kann man

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wegen des Weiterbestehens des Hauke-Heien-Deiches vielleicht doch von einem glücklichen Ausgang sprechen – stützt sich auf die Raumerschaffung in der deutschen Provinz, die Konsequenzen hat – sowohl für den Protagonisten als auch für die Gemeinschaft (und damit auch für die deutsche Nation), zu der er gehört, und die er zu gestalten und zu lenken versucht. Während in diesen Werken allerdings konkrete Landschaften bzw. Territorien gezeichnet werden und die Darstellung sich auf einen älteren territorialen Begriff von Raum zu stützen scheint, ist der Raum, der ›aus eigener Kraft‹ erschaffen wird, stark subjektiviert. Er ist »von Machtverhältnissen durchzogen« und im Sinne des ›spatial turn‹ relational und dynamisch, das Produkt eines Prozesses »der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung«.55 Somit wird der Raum in der Darstellung von Überflutungen, Wasserbau und Landgewinnung in der Erzählung des Kaiserreichs zum kulturellen Bedeutungsträger und aussagekräftigen Symptom dieses unruhigen Zeitalters.

_____________ 55

Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 292.

»Das ist der deutsche Wald« Raum der Natur als Raum der Nation im Werk Berthold Auerbachs Jana Kittelmann

1.

Einführung

Die Worte stammen aus einem Brief Berthold Auerbachs an den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der als späterer Kaiser Friedrich III. – wegen der Kürze seiner Regierungszeit auch »99-Tage-Kaiser« genannt – in die Geschichte einging. Anlass des Ausspruches war eine Begegnung zwischen dem von den Hohenzollern sehr geschätzten Dichter Berthold Auerbach und dem Kronprinzen im »Karlsbader Walde«, wo sich beide zur Kur aufhielten. Auerbach beschreibt das Treffen so: Kaiserliche und Königliche Hoheit! Das ist der deutsche Wald! riefen mir Ew. Kaiserliche und Königliche Hoheit bei einer Begegnung im Karlsbader Walde zu meiner freudigen Ueberraschung als Citat aus dem Landhaus am Rheine zu und die Nachricht, daß Eure k. u. k. Hoheit das Buch auf dem Nil gelesen bleibt mir eine so wundersame als erquickende Erinnerung. Nun sei es mir gestattet, ein Buch aus dem deutschen Wald Ew. Kaiserlichen u. Königlichen Hoheit nach Italien zu senden, vielleicht ergiebt sich dort ein stiller Abend zum Zurückversetzen in die Heimat.1

Auerbach spielt hier auf die Ägyptenreise Friedrichs anlässlich der Eröffnung des Suezkanals im Jahr 1869 an. Friedrich, der unter anderem von dem Ägyptologen Richard Lepsius begleitet wurde, fand demnach noch Zeit für die Lektüre heimatlicher Dichtung. Auf dem Nil, dem Fluss aller Flüsse, dem Symbol vergangener Hochkulturen, las er Auerbachs Roman. Dass ihm dabei nicht nur der Rhein, sondern gleichsam der Autor Auerbach selbst zum Inbegriff der deutschen Kultur, zum Sinnbild einer Verknüpfung ideeller und topographischer Räume wurde, zeigt sein Zuruf »das ist der deutsche Wald«. Über die Verwendung eines bloßen Zitates _____________ 1

Berthold Auerbach an Friedrich III. Briefentwurf vom 15. Oktober 1879, DLA Marbach, Signatur A: Auerbach, Z 2996/1–2.

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hinausgehend erklären die Worte Auerbach bzw. seine Dichtung selbst zum Symbol eines Symbols. Der deutsche Wald als Symbol nationaler Bestrebungen, als Teil einer Ikonographie der Nation rückt seit der Romantik in den Fokus. Auch durch ein wachsendes Interesse an der germanischen Vergangenheit feiert der Wald eine »Auferstehung, von der die Deutschen sich nie mehr so recht erholt haben«.2 Tatsächlich ist die deutsche (Literatur-)Geschichte auch eine Waldgeschichte. Im Wald schlägt Arnim die Römer, hier herrscht Ruhe über den Wipfeln, im Wald wohnen nicht nur (Schillers) Räuber, hier sammeln sich auch Lützows Jäger. Im Wald spielen die meisten deutschen Märchen und die erste deutsche Nationaloper, Webers Freischütz. Im nationalen Verve des Kaiserreiches gewinnt die Waldeuphorie weiter an Fahrt. Theodor Fontane berichtet im Band Havelland seiner Wanderungen von einer Eiche in Brieselang als »Sinnbild alter deutscher Treue«.3 Bismarck – von Auerbach wenig, von Fontane umso mehr geschätzt – wird zum Alten vom Sachsenwalde. Der Krieg kann den Waldenthusiasmus der Deutschen nicht bremsen. Der Kaiser zersägt im Exil nicht nur zahlreiche Bäume, sondern bereitet mit seiner Stigmatisierung des jüdischen Volkes als »Giftpilz am deutschen Eichenbaum«4 den Nazis – allen voran Hermann Göring, der seit 1934 auch Reichsforstminister war – einen ideologischen Boden, auf dem eine innenpolitische Instrumentalisierung und »Nazifizierung«5 des Waldes gedeiht, die das Gespräch über Bäume zu einem Verbrechen werden lässt. Canetti ist es, der den Wald schließlich als Massensymbol entzaubert.6 Berthold Auerbach liebte den Wald. Überliefert sind mehrere pantheistische Erweckungserlebnisse, die ihn und seine Literatur prägen. Sein Biograph Anton Bettelheim, auch heute noch eine der wichtigsten Quellen zu Auerbach, berichtet von einem Tagebucheintrag, in dem Auerbach vermerkt, dass er nackt, aller Kleider entledigt, auf einer Bergwiese »das höchste Mysterium des Waldes«7 feiert. Dem nicht genug: Für Auerbach, der sich einmal in einem Brief an Fanny Lewald als »immer arbeitend für

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Hubertus Fischer, ›Draußen vom Walde…‹. Der Wald im Spiegel der Literatur und der Geschichtsschreibung. In: Deutscher Forstverein (Hrsg.), Waldfacetten. Begegnungen mit dem Wald, Leinfelden-Echterdingen 1998, S. 74–92, hier S. 85. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Havelland. Hrsg. von Rolf Toman, Köln 1998, S. 119. Alexander Demandt, Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln 2002, S. 268. Ebd., S. 269. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main 1980, S. 190. Anton Bettelheim, Berthold Auerbach – der Mann, sein Werk, sein Nachlass, Stuttgart 1907, S. 67.

Raum der Natur als Raum der Nation

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das Vaterländische«8 bezeichnete und der in seiner Jugend wegen »demagogischer Umtriebe« auf dem Hohenasperg inhaftiert war, geht sein innigster Wunsch – die Reichseinigung – wie selbstverständlich im Wald in Erfüllung. In der Schrift Wieder Unser, die nicht frei von antifranzösischer Hetze ist,9 heißt es: »Durch die Wälder meiner Heimat wanderte ich, als der Kriegsruf überm Rhein erscholl.«10 Als Prophet der Reichseinigung wird er zu einem der meistgehassten Deutschen in Frankreich. Eine zeitgenössische französische Abbildung zeigt ihn gemeinsam mit Napoleon und Courbet in der Hölle. Interessanterweise begründet er den Sieg über Frankreich mit einer Waldmetapher: »Auf unseren Bergen grünen die Wälder – die Franzosen haben ihre Wälder verwüstet.«11 Der 1812 in Horb am Neckar geborene gläubige Jude Auerbach wurde mit Schriften wie Was will der Deutsche und was will der Franzos? oder Wieder Unser zu einem der intellektuellen Weichensteller des Nationalbewusstseins und eines damit verbundenen Waldenthusiasmus des jungen Kaiserreiches. Die Einigungskriege sah Auerbach als »nationale Nothwendigkeit«12 an. Allerdings war er nicht für »ein Großpreußen, sondern für ein wirkliches Deutschland«.13 Gleichwohl zeigte er sich überzeugt davon – das wird uns auch der Roman Waldfried bestätigen –, dass Preußen dabei eine gewisse Rolle zu spielen habe, ja vielleicht sogar »berufen« sei. Diese Überzeugung rückt ihn wiederum in die Nähe von Historikern wie Heinrich von Treitschke. Dass über der Beziehung mit Treitschke14 ein »Unstern waltete«,15 wie dieser vorausahnend schreibt, lag jedoch daran, dass sich im Gegensatz zu Treitschke bei Auerbach das »Glaubenssys_____________ 8

9

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Berthold Auerbach an Fanny Lewald, Berlin, 22. März 1881. Vollständig zitiert in: Jana Kittelmann, Der Briefwechsel zwischen Berthold Auerbach und Fanny Lewald. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), S. 49–77, hier S. 74. So heißt es unter anderem: »Diese Großmäuligkeit der Franzosen, hinter der sich noch dazu die Länderraubsucht versteckt, muß den Schlag bekommen, den sie verdient. Das Blut, das nicht mehr als Schamröthe über eigene Verkommenheit ins Gesicht steigen will, muss verspritzt werden.« (Berthold Auerbach, Wieder Unser. Gedenkblätter zur Geschichte dieser Tage, Stuttgart 1871, S. 28) Berthold Auerbach, Was will der Deutsche und was will der Franzos? Anhang zu: Waldfried. Eine vaterländische Familiengeschichte, Berlin/Stuttgart 1915, S. 372. Ebd., S. 373. Auerbach an Jakob Auerbach, 28. Februar 1870. In: Friedrich Spielhagen (Hrsg.), Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach. Ein biographisches Denkmal. 2 Bde., Frankfurt am Main 1884, Bd. 2, S. 11. Ebd. Auerbach korrespondierte mit Treitschke seit den 1860er Jahren. Im Berliner Antisemitismusstreit wird Auerbach Opfer zahlreicher Diffamierungen Treitschkes. Heinrich von Treitschke an Berthold Auerbach, Freiburg im Br. 8. Dezember 1865, DLA Marbach, Signatur A: Auerbach Z 3650/3.

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tem«16 Nation mit einem anderen mächtigen Glaubenssystem des 19. Jahrhunderts verbindet. Gemeint ist der Pantheismus, den Auerbach synonym mit dem Spinozismus verwendet.17 Von Spinoza, dem er einen Roman widmet, übernimmt Auerbach den Punkt, »daß der Mensch mitten hinein gestellt ist in die Gesammtheit der Natur«.18 Diese Synthese aus Natur und Mensch wird bei Auerbach weniger um Gott, als um die Nation als geistigen und topographischen Raum ergänzt. Kurz vor dem 1870er Krieg schreibt er: »Der Raum muss wieder unser werden!«19 Aus legitimatorischer Sicht kommt dem Wald eine Schlüsselrolle zu. Auerbach, dem nicht verborgen bleibt, dass »bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Buchen- und Eichenwälder beträchtlich geschrumpft«20 waren, schreibt in seinem Beitrag Vom kranken Wald um Karlsbad in der Augsburger Allgemeinen Zeitung: Der Wald mit seinem Rauschen und Klingen, mit seiner wonnigen Kühle und seinem erfrischenden Duft ist nicht nur vom poetischen Duft umflossen, er stellt auch eine Idealität des Rechtes dar, die über das gemeine Besitzrecht hinausragt. Der Waldesgrund und der Forstbestand gehören dem Eigentümer, die Umgebung aber hat einen Rechtsanspruch auf die Segnung, die vom Wald ausgeht.21

In Anlehnung an Feuerbachs Naturreligion, deren Radikalität Auerbach allerdings nicht folgt, wird die Natur hier mit Gott gleichgesetzt. Sie kann segnen. Darüber hinaus wird der Wald als zu schützender Lebensraum mit spiritueller Kraft deklariert und zugleich ideologisiert. Sieht man von dem ökologischen Ansatz einmal ab, so liefert Auerbach hier wie in anderen Texten narrative Muster für die Verbindung von Wald und Gemeinschaft, von Naturraum und Nationalidee. Wie diese Muster konkret aussehen, wollen wir uns am Beispiel zweier Texte näher anschauen. Das Drama Andree Hofer (1850) und der Roman Waldfried (1874) sind zwar in unterschiedlichen Werk- und Lebensphasen entstanden. Sie dokumentieren aber beide eine für Auerbachs Werk charakteristische Verbindung von ästhetischen, politischen und ideologischen Raumkonzepten. Hans Otto Horch hat darauf verwiesen, dass der durch die jungdeutsche Bewegung geprägte Auerbach »als Schriftsteller immer _____________ 16 17

18 19 20 21

Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970, S. 27. Siehe Ulrich Johannes Schneider, Spinozismus als Pantheismus. Anmerkungen zum Streitwert Spinozas im 19. Jahrhundert. In: Volker Caysa und Klaus Dieter Eichler (Hrsg.), Praxis. Vernunft. Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft, Weinheim 1999, S. 163–177. Berthold Auerbach an Jakob Auerbach, 23. Februar 1877 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 301. Auerbach, Wieder Unser (wie Anm. 9), S. 18. Fischer, ›Draußen vom Walde…‹ (wie Anm. 2), S. 85. Zitiert nach Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 325.

Raum der Natur als Raum der Nation

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der Strategie des ›Ideenschmuggels‹ verhaftet bleibt«.22 In Rekurs auf Horch und Auerbach selbst, der behauptete, man könne »Dichtkunst mit Staatskunst in Parallele setzen«,23 soll hier erläutert werden, wie der Raum zum Ideenträger avanciert. Wie werden in der Darstellung von Natur, Wald und Bergwelt zentrale, um die Nation und die nationale Identitätsfindung kreisende Ideen kolportiert und dem Leser literarisch vermittelt? Inwieweit ist also der Raum der Natur als Raum der Nation wahrnehmbar? Neben den philosophischen Impulsen, die Auerbach vor allem von Spinoza, Feuerbach und Fichte empfing, soll der Blick auch auf andere literarische Raumkonzepte des Realismus geworfen werden. Konkret bedeutet das: Theodor Fontane, als vaterländischer Dichter von Auerbach geschätzt, präsentiert in seinem Roman Vor dem Sturm ebenfalls ideologisch aufgewertete Raumkonzepte, die mit denen Auerbachs zunächst vergleichbar zu sein scheinen. Dass sich bei näherem Hinsehen allerdings doch prägnante Unterschiede, vor allem mit Blick auf eine Sakralisierung der Nation und einen nationalen Fortschrittsglauben ergeben, macht deutlich, wie breit die Spanne an verschiedenen Raum- und Nationkonzepten im Realismus ist. Darüber hinaus werden neben den erwähnten Texten auch einige unveröffentlichte Briefauszüge aus dem Nachlass Berthold Auerbachs24 vorgestellt. 2.

Die Natur im Krieg – »Andree Hofer« (1850)

Mit seiner Waldeuphorie traf Auerbach den Nerv der Zeit und der Hohenzollern, denen er zum Sprachrohr des Waldes wird, wie ein weiterer Brief aus der Korrespondenz mit dem Kronprinzen zeigt: Kaiserliche Hoheit! Wie ist’s im deutschen Wald? Fragten mich Ew. Kaiserliche und Königliche Hoheit am Dienstag den 10. und ich konnte darauf antworten, daß Freude herrscht durch Ihre ruhmvollen Siegesthaten und daß die Antwort wundersamer Weise bereits gedruckt sei. Hier ist nun Waldfried. Mögen Ew. Kaiserliche Hoheit bald Muße finden, denselben zu lesen.25

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Hans Otto Horch, Gustav Freytag und Berthold Auerbach – Eine repräsentative deutsch-jüdische Schriftstellerfreundschaft im 19. Jahrhundert. Mit unveröffentlichten Briefen beider Autoren. In: JbRG (1985), S. 138–154, hier S. 139. Auerbach, Wieder Unser (wie Anm. 9), S. 52. Für die Unterstützung bei der Sichtung des Nachlasses von Berthold Auerbach danke ich dem DLA Marbach, das mir im Jahr 2010 ein Stipendium gewährt hat. Berthold Auerbach an Friedrich III. Briefentwurf o. O. u. J. DLA Marbach, Signatur A: Auerbach Z 2996/1.

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Die Botschaft des Briefes ist eindeutig: Dem Wald geht es gut, dort herrscht Freude wegen des Sieges über Frankreich und der damit verbundenen Reichseinigung, ein Ereignis, das Auerbach propagierte und dem er in dem hier erwähnten Waldfried – der Name ist Programm – ein literarisches Denkmal setzen wollte. Doch bevor Frieden im Wald herrscht, muss erst einmal Krieg geführt werden. Die Assoziation von Naturdarstellung und nationaler Idee taucht schon früh in Auerbachs Werk, insbesondere in seinem dramatischen Schaffen auf. Auerbachs Dramatik fällt vor allem in seine Dresdner Jahre. Die Freundschaften mit Wilhelm Wolfsohn, Otto Ludwig, Gustav Freytag, dem Intendanten Franz von Dingelstedt und dem Schauspieler Bogumil Dawison26 förderten seine Dramenproduktion, die allerdings schon bei den Zeitgenossen ohne große Nachwirkung blieb. Heute ist dieser Teil des Auerbach’schen Werkes nahezu vergessen.27 Auerbach konnte sich lange Zeit nicht damit abfinden, als Dramatiker gescheitert zu sein. Erst spät stimmte er seinem früh verstorbenen Freund Otto Ludwig zu, der gesagt hatte, er tauge nicht zum Dramatiker.28 Ein Urteil, das wiederum Fontane als Kritiker der Vossischen Zeitung nur bestätigen konnte. Auerbachs Stücke Das erlösende Wort und Eine seltene Frau tat er mit den Worten »Das ist nichts«29 ab. Und auch zum 1850 erschienenen Andree Hofer, ein Volksdrama, erklangen kaum positive Töne. Franz von Dingelstedt, der das Stück grundsätzlich wohlwollend besprach, schrieb an Auerbach: »Es fehlt an dramatischer Concentration des Stoffes, der Handlung, der Charaktere.«30 Auerbach nahm die Kritik durchaus an und umschrieb sie in einem Brief an Jakob Auerbach mit einer Waldmetapher: »Ich habe einen Wald gegeben statt eines einzigen Baumes. Ich habe erst spät erkannt, welch ein eigenthümlich widerstrebender Stoff der Hofer ist, der Kerl ist wie ein Baum.«31 Interessant im Hinblick auf unser Thema ist weniger die Allegorisierung Hofers als die Rolle der Natur selbst. Die Geschichte Andreas Hofers ist bekannt und schnell erzählt. Hofer, Sandwirt im Passeiertal, kämpft als Anführer des Tiroler Landsturms gegen die Franzosen und Bayern, residiert zeitweilig in Innsbruck, wird verraten, auf einer _____________ 26 27

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31

Vgl. die Briefe Auerbachs an Bogumil Dawison. Nachlass Dawison, Sächsische Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Signatur Hs 192 t. 1863. Eine Ausnahme bildet: Jesko Reiling, ›[D]a steh' ich wie ein armes Pflänzchen‹. Zum Heroismus in Auerbachs ›Andree Hofer‹. In: Jesko Reiling und Carsten Rhode (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-) Heroischen, Bielefeld 2011, S. 65–99. Vgl. Auerbach an Jakob Auerbach, 30. März 1878 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 338. HFA III/2, S. 344. Franz von Dingelstedt an Berthold Auerbach, München, 31.1.1855. Nachlass Dingelstedt, Sächsische Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Signatur 1205,48 b. Auerbach an Jakob Auerbach (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 78.

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Almhütte gefangen genommen und auf Befehl Napoleons in Mantua erschossen. Diese Ereignisse bilden auch den Rahmen in Auerbachs Drama. Allerdings besitzt das Schicksal Hofers für Auerbach, wie für viele andere politisch ambitionierte Autoren, noch eine ganz eigene Bedeutung. Auerbachs Hofer, an dessen Ende die Worte »Deutsches Volk opfere dich nur dir selbst«32 stehen, muss man als Reaktion auf die gescheiterte Revolution von 1848 lesen. In der Fülle von Hofer-Dramen33 kommt dem Auerbach’schen Stück eine gewisse Sonderstellung zu. Ist doch in keinem anderen Drama die Darstellung der Natur so eng mit dem Nationalgedanken – Hofer und seine Mitstreiter kämpften für ein freies Tirol – verbunden. Der Raum ist hier nicht nur Hintergrund oder Handlungsort. Er nimmt eine eigenständige Position ein, ja – salopp formuliert – er spielt eine eigene Rolle in Auerbachs Stück. Hier muss man vorwegnehmen, dass Auerbach beim Verfassen des Stückes nicht den Bergisel, wo 1809 die Schlachten zwischen dem Tiroler Landsturm und den bayerischen, französischen und sächsischen Truppen stattfanden, vor Augen hatte, sondern die Sächsische Schweiz bei Dresden. Auerbach wohnte zeitweilig in Bad Schandau und bekam die touristische Erschließung dieser schrecklich-schönen Felslandschaft hautnah mit.34 Diese touristische Eroberung der wilden Natur, die im alpinen Raum schon früher einsetzt, ist zugleich Signatur und Ausdruck nationaler Bestrebungen, innerhalb derer die Landschaft als identitätsstiftender und nicht mehr als feindlicher Raum angesehen wird. Von dieser Entwicklung profitiert Auerbachs Hofer. Gleich zu Beginn lässt Auerbach den Erzherzog Johann von Tirol sagen: »Ich liebe Tyrol wie die Burg meiner Väter und fast mehr. Ich bin dort zum zweitenmal geboren. Dort ist mir Auge und Sinn aufgegangen für die Größe der Natur und die unverwüstliche Biederkeit des frommen Volksgemüths.«35 Natur und »Volksgemüth« bilden eine Symbiose. Doch die Tiroler sind in Auerbachs Drama nicht nur in die »Gesammtheit der Natur hineingestellt«.36 Sie sind mit ihr identisch. So bekennt Hormayr, Intendant von Tirol und Verfasser einer Geschichte des Volksaufstandes, auf die Auerbach zurückgriff, den Tirolern: »Ihr seid wie _____________ 32 33 34

35 36

Berthold Auerbach, Andree Hofer, Leipzig 1850, S. 165. Manfred Mumelter, Andreas Hofer im deutschen Drama, Wien 1907; Ilse Wolfram, 200 Jahre Volksheld Andreas Hofer auf der Bühne und im Film, München 2010. Unter den Touristen war auch Emilie Fontane, die den berühmten Auerbach auf Vermittlung Wolfsohns hin treffen wollte. Das Treffen kam allerdings nicht zustande. Auerbach sagte kurzfristig ab. Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 19. Auerbach an Jakob Auerbach (wie Anm. 18).

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die Berg- und Waldbäche.«37 Ausgehend von dieser Symbiose von Natur und Volk gewinnt die Natur vor allem innerhalb des Kriegsgeschehens und der Schlachtbeschreibungen an Bedeutung. Die Befreiung von der französischen Besatzung und Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit werden dann auch zur Sache der Natur, wenn es heißt: »Es ist Zeit! und alle Wälder und Felsen rufen: Es ist Zeit! es ist Zeit!«38 Die Natur und damit verbunden der Raum wechseln bei Auerbach aus einer reinen Staffage- in eben jene identitätsstiftende Funktion und übernehmen eine aktive Rolle im Stück. Besonders deutlich wird diese Entwicklung am Beispiel der Darstellung der Schlacht in der sogenannten Sachsenklemme im Eisacktal nahe der Festung Franzensfeste. Dort wurden die Truppen unter Führung des französischen Generals Lefebvre von fünfhundert Tirolern aufgerieben. In Auerbachs Drama erweist sich diese Szene als ein Höhepunkt der Symbiose von Volk und Natur. Der Berg und seine Bewohner verschmelzen vor der Schlacht geradezu miteinander und haben den gleichen Atemrhythmus, wie Maidele, Hofers Tochter, registriert: Wie still’ ist’s jetzt überall, wie am Sommermittag vor einem Gewitter, da regt sich kein Laub und schwingt sich kein Vogel und hört man kein’n Laut. Es ist als wenn der Berg selber den Athem anhielt’, wie die tausend und aber tausend Menschen, die überall auf der Lauer liegen.39

Der anschließende Angriff gegen die Franzosen wird zu einem Angriff der Natur. Die Figur Frau Schenk, die in ihrer Verrücktheit und prophetischen Deutungsgabe an das Hoppenmarieken in Fontanes Vor dem Sturm erinnert, bemerkt als erste den Eingriff des Raumes ins Kampfgeschehen: Himmel! der ganze Berg lauft das Thal hinab! Dort kommen die Franzosen … grad unter sie hinein stürzen die Felsen. Der ganze Zug stockt … Immer mehr Felsen! Sie stoßen einander an, wie wenn einer dem andern sagen wollt’: mach fort, geh’ an dein Geschäft. […] Dort werfen sich ganze Reihen Franzosen auf die Knie und bitten mit aufgehobenen Händen … Herr im Himmel! Da stürzen die Felsen mitten in sie hinein und zerquetschen sie.40

Ausgehend von der historisch verbürgten Szenerie, in der die Tiroler tatsächlich mit Steinen und Felsbrocken auf die Franzosen warfen, lässt Auerbach, der kein Militarist war, hier in surrealistisch anmutenden Bildern den Wald, den Berg und die Felsen aufmarschieren. _____________ 37 38 39 40

Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 58. Ebd., S. 37. Ebd., S. 53. Ebd., S. 52.

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Diese Mobilmachung des (Natur-)Raumes hat mit Blick auf eine für Auerbachs Werk charakteristische harmonische Grundtendenz etwas Befremdliches. Erinnern diese Szenen doch an Texte wie den 1934 erschienenen Fotoband Walther Schoenichens,41 in dem »Waldaufnahmen mit Untertiteln in Form der Frontberichterstattung«42 zu finden sind. Zitate wie »Fichte und Bergahorn vereinigen sich in treuer Kameradschaft am nebelfeuchten Bergeshang«43 zeigen, dass sich der Wald 1934 bereits im Krieg befindet. Und im Krieg befindet er sich auch in Auerbachs Drama. So bemerkt General Lefebvre erschöpft: Das ist kein Krieg mit Menschen, das ist ein Kampf mit der ganzen empörten Natur. Die alte bärenhäutige teutonische Raserei wüthet in den Reihen des verblendeten Volkes, sie machen fast gar keine Gefangenen mehr. Alles, Alles wird geschlachtet. Sollte in der That jetzt eine neue unbezwingliche Macht sich gegen uns erheben?44

Tatsächlich überträgt Auerbach hier das Motiv des ›furor teutonicus‹, also jene ›teutonische Raserei‹, die den wütenden, mit sich selbst mitleidlosen Kampf- und Todeswillen des germanischen Stammes beschreibt, auf die Tiroler bzw. deren Bergwelt. Zugleich offeriert er eine weitere antike Quelle. In Tacitus’ Germania fällt der Begriff der ›Silvis Horrida‹. Damit sind jene schrecklichen Wälder gemeint, von denen Germanien bedeckt war. Ihren Kampfeswillen zogen die Germanen laut Tacitus aus den heiligen Hainen, von denen sie glaubten, dass »dort die allbeherrschende Gottheit wohne, der alles andere unterworfen sei«.45 Um Offenbarung geht es auch in Auerbachs gewalttätigen und schrecklichen Naturerscheinungen. In Abwandlung von Tacitus und dem von ihm beschriebenen germanischen Baumkult ist es allerdings nicht ein Gott, der sich hier offenbart, sondern der Genius des Volkes. So läßt Auerbach Buol sagen: Das war eine Schlacht und ein Sieg, wie keine Kriegskunst im Voraus berechnen kann. Urgewalten stiegen aus der Erde und fragten nichts nach Linien, die wir auf dem Papier gezeichnet. Da gab’s kein Kommando mehr und doch arbeitete alles wie die Glieder Eines Körpers.46

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Für den Hinweis auf Schoenichen danke ich Hubertus Fischer. Fischer, ›Draußen vom Walde…‹ (wie Anm. 2), S. 89. Walter Schoenichen, Urwaldwildnis in deutschen Landen: Bilder vom Kampf des deutschen Menschen mit der Urlandschaft, Neudamm 1934. Zitiert in: Fischer, ›Draußen vom Walde…‹ (wie Anm. 2), S. 89. Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 59. Tacitus, Germania. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1972, S. 9. Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 45.

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Und der Intendant Hormayer resümiert an anderer Stelle: »Das ist der Genius des Volkes, der unergründliche, unverwüstliche, der sich offenbarte. Der Riese macht alle Fechtkunst zunichte.«47 Auerbach beschwört mit dieser Entfesselung der Naturgewalten und der Aneinanderreihung der Vokabeln »Volk«, »Genius«, »Urgewalten«, »unergründlich« und »unverwüstlich« nichts anderes als den – militärisch nicht bezwingbaren – Mythos der Nation. Die Mobilisierung der Urgewalten stellt für Auerbach dabei die Bedingung für einen Sieg der Nationalidee dar. »Urgewalt« erscheint bei Auerbach in Anlehnung an Fichtes Reden an die deutsche Nation auch als Sinnbild von »Urvolk«. Tatsächlich existieren im Hofer Hinweise auf Fichte, mit dem sich Auerbach intensiv auseinandersetzte. So auch in einer Rede auf Fichte,48 die er 1862 im Berliner Viktoriatheater hielt. Nach einer Skizzierung des Lebensweges Fichtes schließt der kleine Text mit einer nationalen emphatischen Geste, die den Philosophen als Baum und als Sinnbild der »Urkraft des deutschen Volkes«49 beschreibt: Er war ein Mann gleich dem Baume an der Bergeshalde, dessen Name er trägt, der in dürftigem Erdreich gradauf wächst, seinen Stamm einheitlich durchzieht bis zur Spitze, seine Wurzel ist voll Leuchtkraft und die Saat, die er ausstreut, zieht geflügelt und hellschimmernd durch die Lüfte und senkt sich nieder und gedeiht selbst dort an steilen Felsenwänden, wohin nur des Vogels Flug zu tragen vermag. Du Urkraft des deutschen Volkes laß neue solche Stämme aus Deinem Grunde erwachsen und schaffe ihnen eine bessere hellere Zeit.50

Bei allem Pathos sticht ein wesentlicher Punkt hervor. Fichte steht für »Geistesthaten« und den »Plan einer National-Erziehung«,51 der gleichsam Auerbach kontinuierlich antreibt. Wie Fichte verwendet Auerbach die Begriffe Volk, Raum und Nation nicht biologisch, sondern kultursoziologisch und pädagogisch. Auerbach geht es nicht um die Identifikation der völkischen Rasse, sondern um die Ausbildung der Kulturnation. So heißt es in der Rede: »Der Geist allein kann retten, der Geist allein ist die unbesiegbare Großmacht.«52 Und pathetisch ruft Auerbach aus: »Das ist deutsch […], das ist grunddeutsch.«53 _____________ 47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 54. Berthold Auerbach: Denkrede auf Fichte. In: Deutsche Abende. Neue Folge, Stuttgart 1867, S. 103–117, hier S. 111. Ebd., S. 117. Ebd., S. 117. Ebd., S. 114. Ebd., S. 111. Ebd., S. 114.

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Ähnlich offenbaren sich Natur und Raum auch in dem zehn Jahre zuvor entstandenen Hofer als wesentliche Bestandteile nicht allein der räumlichen, sondern der geistigen Identität des Volkes. Die Darstellung dieser Identität bildet ein wesentliches Anliegen des Dramas. So bemerkt Reiling, dass sich der an anthropologischen Prozessen interessierte Auerbach bemüht, »möglichst unvoreingenommen Wesen und Verlauf des Tiroler Volksaufstandes in den Blick zu nehmen«.54 Dass Auerbach zudem die Schwierigkeiten eben jener nationalen Erziehung und Einheit darstellen wollte – im Stück heißt es »Ist’s nicht erbärmlich? Kaum haben wir unser Vaterland frei gemacht, wird es wieder aufgegeben«55 –, zeigt die Charakterisierung Andreas Hofers. Reiling hat herausgearbeitet, dass Auerbach Hofer weder als »übermenschlichen Helden noch als einfältigen Bauerntrampel«56 beschreibt.57 Hofer handelt »unheroisch« und zeigt sich von der Situation überfordert, zugleich verkörpert er den Tiroler Nationalcharakter58, das heißt die »fromme Naivität des Volkes«.59 Auerbach registriert dabei den »katholisch-konservativ-fundamentalistischen«60 Charakter des Aufstandes und seines Anführers Hofer, der sich politischen Neuerungen verweigert und zu dem der fortschrittliche General Lefebvre sagt: »Ihr glaubt für Eure Freiheit zu kämpfen und ihr kämpft für eure Knechtschaft.«61 An anderer Stelle betont Auerbach die Judenfeindlichkeit der Tiroler, die über Napoleon sagen, er sei ein »Heid’ und ein Jud’«.62 Diesen ideologiekritischen Tendenzen zum Trotz verweigert sich Auerbachs Hofer jedoch einer »moralischen Bewertung«63 der Personen und der Ereignisse. In seinem Drama offeriert Auerbach zahlreiche Ideen, deren Unabgeschlossenheit zum Spiegelbild der politischen Situation wird. Die Mobilisierung der Natur als Signum geistig-nationaler Identität und Unabhängigkeit steht neben der Forderung nach einer Öffnung für politische, das heißt demokratische Neuerungen. Hier äußert sich ein für das Werk _____________ 54 55 56 57

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Reiling, ›[D]a steh' ich wie ein armes Pflänzchen‹ (wie Anm. 27), S. 77. Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 42. Reiling, ›[D]a steh' ich wie ein armes Pflänzchen‹ (wie Anm. 27), S. 74. Auerbach unterscheidet sich dadurch stark von der zeitgenössischen Hofer-Rezeption und -Verehrung. Siehe dazu: Markus Neuwirth, Schlegel, Metternich, Eichendorff, Müller, Bartholdy, Humboldt. Bildstrategien der Hofer-Verehrung als Dilemma der Romantik. In: Roland Bacher und Richard Schober (Hrsg.), 1809. Neue Forschungen und Perspektiven, Innsbruck 2009, S. 109– 155. Ebd., S. 79. Reiling, ›[D]a steh' ich wie ein armes Pflänzchen‹ (wie Anm. 27), S. 88. Helmut Reinalter, Einleitung. In: Helmut Reinalter et al. (Hrsg.), Außenperspektiven: 1809. Andreas Hofer und die Erhebung Tirols, Innsbruck 2010, S. 9. Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 63. Ebd., S. 31. Reiling, ›[D]a steh' ich wie ein armes Pflänzchen‹ (wie Anm. 27), S. 77.

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Auerbachs wesentlicher Ansatz, der Nationalbewusstsein und Fortschritt vereinigt wissen will und auch in späteren Texten immer wieder als Leitidee auftaucht. Im Hofer gelingt diese Vereinung (noch) nicht. Hier endet die Natur im Chaos und Hofer, unfähig das Volk im aufklärerischen Sinne zu leiten und zu erziehen, im Tod – ein Ende, das auch den vorläufigen Tod der Nation bedeutet. Auerbach kommt zu der Erkenntnis, dass die reine Intention einer Symbiose von Volk und Raum nicht genügt. Vielmehr müssen das Volk und damit verbunden das Verständnis von Raum und Nation erzogen und gebildet werden, denn »als tausendköpfige Masse sind sie Alle toll und kopflos, da sinken sie aus Individuen ins Chaotische und Elementarische zurück, werden Masse, jedem hochtönenden Schmeichler preisgegeben, der der Masse – das ist ein bedeutsames Wort – seinen Odem einbläst«.64 Nicht die Ideologen, sondern die Pädagogen sollen das Volk leiten und erziehen. Dieser Anspruch wie jene Idee der Verbindung von Bildung, Raum und nationalem Interesse begleitete Auerbach weiter bis zu seinem Roman Waldfried, den er selbst einen »vaterländischen« nannte. 3.

»Die Welt muss sich ändern« – Nation und Raum in »Waldfried« (1874)

»Der Waldfried ist der Epitaph der weiland deutschen Vaterlandslosigkeit.«65 So schrieb der junge Max Nordau 1874 über Berthold Auerbachs »Roman des deutschen Volkes«66 in einer Rezension für Pester Lloyd. Nordau67 war einer der wenigen, die das Buch positiv aufnahmen und Auerbachs Anliegen honorierten. Die Mehrheit verriss den Text. Zu den Kritikern gehörten Freunde Auerbachs wie Friedrich Spielhagen, der bemängelte, dass im Waldfried der Stoff »nach allen Seiten hin überquillt«,68 oder Theodor Mommsen, der im Berliner Antisemitismusstreit gegen Treitschke »mit der vollen Wucht seiner Kraft u. Geltung für das ethisch Correcte« eintreten und Auerbach – zumindest zeitweilig – aus seiner »Bitterniß befreien« sollte.69 Dem Waldfried gewann Mommsen dennoch _____________ 64 65 66 67

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Auerbach, Hofer (wie Anm. 32), S. 22. Max Nordau, Ein neuer Roman von Auerbach. In: Pester Lloyd 1, Beilage zu Nr. 74 vom 29.3.1874 [o. S.]. Ebd. Siehe zu Nordaus Rezension und dessen Bekanntschaft mit Auerbach: Petra Zurdell, Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum, Würzburg 2003, S. 98f. Siehe Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883, S. 339. Berthold Auerbach an Theodor Mommsen, Berlin, 17. Dezember 1880, DLA Marbach, Signatur A: Auerbach Z 3425/3.

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nichts ab70 und auch Bettelheim schrieb: »Unzulänglich als Beitrag zur Zeitgeschichte, ist Waldfried verfehlt als Kunstwerk.«71 Dass viele seiner Freunde mit Waldfried nichts anfangen konnten, lag sicher an der kitschigemphatischen Geste, mit der Auerbach hier sein »Innigstes ausgeprochen«72 hatte. Auerbach wollte sich als jener Nationaldichter etablieren und präsentieren, als den ihn nicht nur der Kronprinz, sondern auch jüdische Wegbegleiter schätzten. Zu Letzteren gehört Hermann Tietz – Gründer des gleichnamigen Warenhauses –, der Auerbach einen kleinen Reim zu dessen 60. Geburtstag widmete. Die Verse sind im Nachlass des Dichters im DLA Marbach erhalten geblieben. Die erste Strophe lautet wie folgt: Wenn von einem wahren deutschen Mann, deutsch in Wort, u. Schrift u. That! Man zugleich auch wähnen kann, Welch ein jüd’sches treues Herz er hat!73

Mit der Symbiose aus »wahr deutsch« und »jüdisch treu« verweist Tietz auf einen wichtigen, vielleicht sogar den wichtigsten Aspekt von Auerbachs Biographie und Werk. Die Emanzipation der Juden und die Einheit der deutschen Nation bilden sowohl den Rahmen als auch die wesentlichen Themen, um die Auerbachs Wirken und auch Waldfried kontinuierlich kreisen. Entsprechend der zeitlichen Spanne und thematischen Breite stellte Auerbach einen »ganzen Wald von Gestalten auf«.74 Dessen Mitte bildet die Hauptfigur Heinrich Waldfried. Eingebettet in die symbolischen Lebensdaten 1800 bis 1871, dokumentiert Auerbach hier die Entwicklung Deutschlands von den Befreiungskriegen, über die Märzrevolution bis hin zu den Reichseinigungskriegen, die eine zentrale Rolle im Roman spielen. Wir können mit Bettelheim jedoch vorwegnehmen: »Der Genremaler [Auerbach] taugte nicht zum Schlachtenmaler.«75 Waldfried und seine Familie erscheinen dabei weniger als realistisch gezeichnete Figuren denn als Träger verschiedener Ideen und Lebensentwürfe. Der Süddeutsche _____________ 70

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Vgl. Auerbach an Jakob Auerbach, Berlin, 5. November 1875: »Die Aeußerungen Mommsens waren mir sehr überraschend; daß die Actualität noch zu nahe und frisch, das weiß ich auch, aber daß der Schluß (mit Ludwig Waldfried ec.) den Eindruck machen könnte, ich sähe die Lösung der Culturaufgaben im amerikanischen Wesen, das ist mir neu und jedenfalls war es nicht meine Intention.« (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 264. Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 340. Auerbach an Jakob Auerbach, 19. Februar 1874 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 194. Hermann Tietz an Berthold Auerbach, 28. April 1872, DLA Marbach, Signatur A: Auerbach. Auerbach, Briefe an Jakob Auerbach, 27. März 1874 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 200. Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 338.

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Waldfried setzt seine »Hoffnungen für Deutschland«76 auf Preußen. Auf dessen Seite steht er bei Ausbruch des preußisch-österreichischen Krieges, wenngleich er seinen »Glauben an das Volk gegenüber [seinen] Söhnen hart verteidigen muß«.77 In dieser angespannten Stimmung findet Waldfried Hoffnung in der Natur. Wieder fällt auf, wie eng Auerbach die Konstitution des Raumes und meteorologische Erscheinungen mit der Verfassung seiner Figuren verknüpft. Waldfrieds Angst vor dem Krieg wird zu einer Angst um den Raum und die Heimat – beide »teure Angehörige« –, wenn er sagt: Jetzt, da es verwüstet und zerstört werden sollte, jetzt fühlte ich erst recht, wie ich mein Vaterland und zunächst meine Heimat liebte. Diese Wälder, diese Felder, diese Dörfer sollten zerstört werden, aus den Flammen ringsumher Wehgeschrei ertönen. Mir war’s, wie wenn man leibhaftig ein teures Angehöriges in Todesgefahr sieht.78

Zudem kristallisiert sich eine Verknüpfung der politischen Entwicklung und des aktuellen Entwicklungsstandes der Natur heraus. Wenngleich Auerbach Bismarck nicht sehr schätzte, so wertet er dessen Aktionen doch als positiv für den Nationalstaat. Als Bismarck beim »Bundestag eine konstituierende Nationalversammlung aus direktem und allgemeinem Stimmrecht beantragt […], sproßte der Frühling bereits mächtig, die Luft war erfüllt vom harzigen Duft der Tannensprossen«.79 In seiner Funktion als Förster und Pfleger des Waldes ist er im übertragenen Sinne zugleich Pfleger, Erzieher und Mittelpunkt der Nation – eine Art Gegenbild zu Ernst Jüngers »Oberförster« in Auf den Marmorklippen, der das Volk tyrannisiert und dessen traditionelle Kultur bedroht. Auerbachs Waldfried als »Spion des Guten«80 ist dagegen Sprachrohr des Volkes, seiner Kultur und seines Raumes. Damit erfüllt er die Grundbedingung für die nationale Einheit. So schreibt Auerbach bereits in Wieder Unser: »Wer aus der Vogelschau die deutsche Menschheit betrachten könnte, würde Gruppen sehen, immer nur nach einzelnen Punkten ausgerichtet, nirgends nach einem festen gemeinsamen Mittelpunkt.«81 Und in der Denkrede auf Fichte beklagt er den fehlenden »Mittelpunkt des nationalen Lebens«.82 In Waldfried ist dieses Problem nun topographisch und _____________ 76 77 78 79 80 81 82

Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 67. Ebd., S. 58. Ebd., S. 98. Ebd., S. 76. Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 386. Auerbach, Wieder Unser (wie Anm. 9), S. 4. Auerbach, Fichte (wie Anm. 48), S. 106.

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ideell gelöst. Waldfried lebt nicht nur im Wald, er erkennt und vereint in sich dessen ökologische, nationale und historische Bedeutung. Gleichwohl konzentriert sich Auerbach, über den Bettelheim schrieb (und untertrieb), dass dessen »historischer Horizont […] nicht viel über Friedrich den Großen und Kaiser Joseph«83 hinausreichte, weniger auf die Historie, sondern auf die Gegenwart, die er optimistisch betrachtet. Für einige seiner Zeitgenossen zu optimistisch: Gottfried Keller schrieb dazu an Marie Exner: »Übrigens ist es bei Auerbach nicht gerade das Alter, sondern seine verfluchte Altklugheit und sein Industrialismus.«84 Tatsächlich fordert Auerbachs literarisches Spiegelbild Waldfried: »Machen wir die Industrie heimisch, eröffnen wir hierzulande neue Erwerbsquellen, so stärken wir damit auch das Beste, was wir hier im Walde haben: unsere Liebe zur Heimat.«85 Waldfried forstet selbst Wälder auf, der Wald ist Glaubens-, Identitäts- und vor allem Lebensraum. Damit erweist sich Auerbach als fortschrittsorientiert und überzeugt davon, dass die Verbindung aus Mythos, Historie, Bildung, Fortschritt und Demokratie die Grundlage der Nationalidee darstellen muss. Dafür ist nicht zuletzt eine ständige Dynamik, Mobilität und Bereitschaft zur Veränderung nötig. Auerbachs in Wieder Unser formuliertes Credo »Die Welt muss sich ändern«86 wird gleichsam zum Credo der Protagonisten seines Romans. Dem entspricht, dass der Verfasser seiner Hauptfigur Waldfried als räumlichem und ideellem Mittelpunkt mehrere Raumkonzepte gegenüberstellt, die sich in der Beschreibung der äußerst mobilen Kinder Waldfrieds widerspiegeln. Metropole, Provinz und Welt – alles ist vertreten. Symbolisiert Waldfried die »Großvaterswelt«,87 also die alte Welt und die alte Zeit des Kampfes für die Nationalidee, so repräsentiert sein Sohn Ludwig die neue Welt. Denn Ludwig, der sich 1848 am badischen Aufstand beteiligt, wandert nach Amerika aus und baut dort Wasserleitungen. Mit der Rückkehr Ludwigs – er nimmt als Ingenieur am Krieg 1870 teil – vollzieht Auerbach die Vereinigung zwischen alter Welt (Europa) und neuer Welt (Amerika). Die zweite Welt, die Auerbach als wesentlich für die Entwicklung der deutschen Nation ansieht, ist die Welt des Militärs. Sie wird in der Figur des Sohnes Ernst dargestellt. Ernst, enfant terrible und zunächst fahnenflüchtig, stirbt schließlich den Heldentod im deutsch-französischen _____________ 83 84

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Anton Bettelheim, Berthold Auerbach in Nordstetten. In: Deutsche und Franzosen, Wien 1888, S. 162–211, hier S. 167. Gottfried Keller an Marie Exner, 23. März 1874. In: Gottfried Kellers Briefe und Tagebücher. Aufgrund der Biographie Jakob Baechtolds herausgegeben von Emil Ermatinger. 3 Bde., Stuttgart 1919, Bd. 3, S. 90. Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 215. Auerbach, Wieder Unser (wie Anm. 9), S. 5. Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 6.

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Krieg. Richard, der dritte Sohn, steht für eine Welt, in der sich Auerbach bestens auskannte: die Welt der Wissenschaft. Richard ist Historiker und damit Abbild jener nationalen Vordenker, zu denen der Autor selbst gehörte. Anhand der Schicksale dieser mehr oder weniger mobilen Figuren, die am Ende alle – tot oder lebendig – auf das heimatliche Gut zurückkehren, skizziert Auerbach die nationalen Entwicklungen in Deutschland. Die Mobilität und die Erfahrung der Fremde und der Ferne sind wichtige Aspekte. Bilden sie doch die Bedingung eines für die nationale Einheit grundlegenden Heimatgefühls: »Erst in der Fremde lernt man verstehen, was es heißt, daheim zu sein.«88 Doch die Nationalidee basiert für Auerbach nicht allein auf den Faktoren Tradition, Fremderfahrung, Fortschritt und Militär. Ausschlaggebend, weil prophetisch die Ereignisse ankündigend und nationale Identität stiftend, ist die Natur, genauer der Wald. 4.

»Von ›Werther‹ bis ›Waldfried‹« – Ich und Gemeinschaft

Grundsätzlich geben sich zwei Wald- bzw. Naturkonzepte in Auerbachs Roman zu erkennen. Auf der einen Seite haben wir den Wald und die Natur als Fortschrittsindikatoren. Vaterlandsliebe und Fortschritt schließen sich ebenso wenig aus wie die historische industrielle Relevanz des Raumes. Diesem Raumkonzept gegenüber steht die ungezähmte, wilde, unberechenbare, erotische und amoralische Natur. Sie wird repräsentiert in der Figur der Martella. Martella – für Bettelheim eine »armselige Schwester der Mignon«89 – ist die Verlobte Ernsts. Der findet sie im »rationell durchforsteten Wald« und nennt sie »das reine, unschuldige Urkind«.90 Andere nennen sie den »Waldteufel«.91 Tatsächlich steht sie nicht für den nationalmythischen Wald, sondern für eine egoistische, brutale Natur, wie sie ansatzweise im Hofer zu finden ist: Martella war durchaus keine weiche Natur, vielmehr hart gegen sich und andere; sie hatte kein Mitleid mit dem Schmerz anderer, denn sie meinte, es solle sich jedes selber durchhelfen, wie es kann.92

Im Unterschied zu der Natur im Hofer ist Martella allerdings »völlig unzugänglich« für die »Begriffe Staat und Vaterland«.93 Alle Versuche, sie an die _____________ 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 174. Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 337. Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 23. Ebd., S. 92. Ebd., S. 38. Ebd.

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Menschen zu gewöhnen, sie in die Familie, in die Gemeinschaft zu integrieren, scheitern. In ihrem Drang nach Unabhängigkeit und Einsamkeit ist Martella von Beginn an verloren. Sie stirbt kurz nach Ende der Reichseinigungskriege. Mit ihr begräbt Auerbach auch die Idee des Ich, das außerhalb der Gemeinschaft steht, ja sich vor dieser zurückziehen will. In einem Brief an Karl Frenzel weist er darauf hin, dass die »Verhätschelung des Privatmenschen« vorbei sei: Wie ich eben mein Buch in die Hand nehme, fällt mir ein, welch eine Fülle der Geschichte von Werther bis Waldfried sich aufthut. Ich bin weit davon entfernt, meine Arbeit mit dem Meisterwerk Goethes vergleichen zu wollen, nur das empfand ich: die Verhätschelung des Privatmenschen ist überwunden, ein Jegliches lebt jetzt im Bewußtsein der kosmischen und vor allem der vaterländischen Gemeinschaft. Das ist in unserem Sinne Erlösung. 94

Goethes Werther als »verhätschelter Privatmensch« wird zum Sinnbild des Ich und des Subjektivismus. Mit Gundolf gesprochen, verbindet sich in ihm »heidnisches Welterleben mit modernem Ich-Gefühl«.95 Werthers Empfindung und Wahrnehmung der Natur, sein Wunsch, sich in den Wäldern, Tälern und Bergen zu verlieren, sein Erleben kleinster Regungen wie den Flug der Mücken und den Duft der Moose ist Ausdruck dieser Verbindung und zugleich Stimmungsbild der seelischen Verfassung des Einzelnen, des »Titanischen«.96 Bei Auerbach dagegen tritt an die Stelle des Ich nun ein Wir – nicht nur im Brief an Frenzel, sondern auch in einer zentralen Szene des Romans. Wie in Goethes Werther, wo ein Gewitter bekanntlich zum Kuss zwischen Lotte und Werther führt, wird in Waldfried ein Gewitter zum Ausdruck wichtiger Entwicklungen und Veränderungen. Diese betreffen jedoch nicht den Einzelnen, sondern die Gemeinschaft: Heute Nacht im Gewitter waren die Wiesen frisch genährt. Ich empfand das frohe Aufleben zahlloser Pflanzen. Ich dachte bei mir: So kann es auch mit dem Staate, mit deinem Volke sein; derweil du ruhest, war vielleicht auch draußen das furchtbare und – hoffen wir – auch fruchtbare Gewitter.97

Mit dem Ende des Privatmenschen verkündet Auerbach das Ende eines Natur- und Raumkonzepts, in dem der Einzelne im Mittelpunkt steht. Er bricht damit nicht nur mit sentimentalen und romantischen Naturauffassungen, sondern verdeutlicht zugleich: Die Natur ist nicht nur furchtbar, _____________ 94 95 96 97

Berthold Auerbach an Karl Frenzel, Berlin, 17. März 1874, Goethe-Schiller-Archiv Weimar, Nachlass Karl Frenzel, Sign. GSA 18/I, 1, 3. Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1930, S. 169. Ebd., S. 170. Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 215.

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sie ist auch fruchtbar. Sie ist weder reiner Idyllen- noch ausschließlicher Schreckensraum. Das Chaos, die ungeordnete Wildheit, die Impulsivität und die Amoralität, wie sie Natur und Raum auch noch im Hofer aufweisen, sind im Waldfried überwunden und mit ihr auch Figuren wie Martella, Werther oder Feuerbach, an dessen Naturreligion Engels kritisierte, dass sie nur ein »passives Anbeten, verzücktes Niederknien vor der Herrlichkeit und Allgewalt der Natur«98 sei. Freilich fand Auerbachs Auffassung, dass sich die »messianischen Hoffnungen unseres Vaterlandes« erfüllt hätten und der »Einzelne« in der »großen Seele eines Volkes«99 aufgegangen sei, nicht nur Zuspruch. Ebenso wie sein optimistisches nationales Raumkonzept, das bis heute nur unzureichend beachtet wurde. Obwohl die Kombination aus industriellem Fortschritt, geschichtlichen Mythen, Tradition, Gemeinschaft und Naturempfindung eine bemerkenswerte, weil nicht zuletzt extrovertierte Stellung innerhalb der Literatur des Realismus einzunehmen scheint. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf andere Texte, wie etwa Theodor Fontanes nur wenige Jahre später entstandenen Roman Vor dem Sturm. 5.

Exkurs: Fontanes »Vor dem Sturm« als Pendant zu »Waldfried«

Aus einem Brief Fanny Lewalds wissen wir, dass Auerbach Fontanes Vor dem Sturm unmittelbar nach dessen Erscheinen gelesen hatte. Nach einem gemeinsamen Abend berichtet Lewald von einer »fiebrigen Nacht«, die ihr »die meisterhaften Gestalten aus dem Fontan’schen Buch« bereitet hätten und schränkt zugleich ein, »daß es kein Roman ist«.100 Auf die Fragen der Romantheorie, über die Lewald mit Auerbach häufig diskutierte, können wir hier nicht eingehen. Gleichwohl hätte man doch zu gern Auerbachs Meinung über Fontanes Buch gehört. Treitschkes waren bekanntlich sehr angetan von Fontanes Erstling und auch im Vergleich mit Auerbachs Themen und Figuren finden sich Gemeinsamkeiten.101 Lässt sich also Waldfried mit Berndt von Vitzewitz, die Mark Brandenburg der Befreiungskriege mit dem Süddeutschland von 1866, Hohen-Vietz mit dem Waldgut und der Sägemühle eines Bezirksförsters vergleichen? _____________ 98

Friedrich Engels, Feuerbach. In: Friedrich Engels und Karl Marx, Feuerbach. Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung (1. Kapitel des ersten Bandes der Deutschen Ideologie), Berlin 1985, S. 97. 99 Auerbach an Jakob Auerbach, 15. Juni 1871 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 66. 100 Fanny Lewald an Berthold Auerbach (wie Anm. 8), S. 69. 101 So spielt Fontane in seiner Darstellung der Förster im Kapitel Brieselang seiner Wanderungen (Havelland) durchaus mit Auerbach’schen Motiven. Die Förster haben alle »Waldblut« und fühlen sich nur in Gegenwart von »Eichen und Elsen« wohl.

Raum der Natur als Raum der Nation

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Was zunächst auffällt, ist die an die konservative und romantische Kulturkritik erinnernde Stadt-Land-Dichotomie, die bei Auerbach nicht mehr existiert, bei Fontane allerdings umso mehr akzentuiert wird. Auerbachs Gestalten sind gern in der Stadt und sie sind gern auf dem Land. Sie lieben die Eisenbahn, sind mobil und reisen unendlich viel herum. Auch Fontanes Buch setzt mit einer Reise ein. Im Schlitten fährt Lewin von Vitzewitz aus Berlin kommend »seinem väterlichen Gute Hohen-Vietz«102 zu. Kaum hat er die Stadt hinter sich gelassen, treten die Sterne »immer zahlreicher« hervor, und als er »staunend und andächtig in den funkelnden Himmel« hinauf schaut, da ist ihm, als »fielen alle dunklen Geschicke, das Erbteil seines Hauses, von ihm ab und als zöge es lichter und heller von oben her in seine Seele«,103 und er atmet auf. Dieses Aufatmen, wie auch die Übersiedlung aus dem urbanen in den ländlichen Raum, sind Zeichen jenes politischen Kurswechsel, den Fontane ins Zentrum seines Buches stellt und in dem der »vitale Landadel, dem das Volk nahesteht, das ebenso vital ist und gesonnen handelt«,104 die Leitung der Geschicke Preußens übernimmt. Lewins Rückkehr auf die »Scholle seiner Väter«105 bildet bekanntlich nicht allein den Auftakt des Romans, sondern auch den des Widerstandes gegen die französischen Besatzer. Doch was ist das für ein Haus, in das Lewin zurückkehrt? Im Gegensatz zu dem Gut Waldfrieds, das dieser von seinem bürgerlichen Schwiegervater erbt und technisch auf den modernsten Stand bringt, stammt Hohen-Vietz noch aus den »Tagen der letzten Askanier«.106 Die Pommern und die Hussiten belagern es, Krieg, Pest und sogar ein Brudermord suchen es heim, bevor der »Familiencharakter, der in alten Zeiten ein joviales Aufbrausen gewesen war«, schließlich in einen »Hang zur Selbstpein und Ascese«107 umschlägt. Fontane widmet der Beschreibung der Genealogie der Familie von Vitzewitz und damit auch der Genealogie des Raumes mehrere Seiten. Damit scheint er Auerbach nah zu sein, der zwar keine Genealogie entwirft, aber in seinem Buch ebenfalls auf die enge Verknüpfung von Mensch und Raum setzt. Dennoch ist der Ansatz, der sich bei Fontane dahinter verbirgt, ein anderer. Wird die mit dieser Genealogie einhergehende Historisierung des Raumes doch zum Ausgangspunkt eines Befreiungskampfes, _____________ 102 Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. GBA, Berlin 2011, S. 9. 103 Ebd., S. 11. 104 Bernhard Viel, Utopie der Nation. Ursprünge des Nationalismus im Roman der Gründerzeit, Berlin 2009, S. 186. 105 Fontane, Vor dem Sturm (wie Anm. 102), S. 15. 106 Ebd., S. 16. 107 Ebd., S. 24.

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in dem es anders als bei Auerbach nicht darum geht, die »Welt zu verändern«, sondern sie wiederherzustellen. Dieser Anspruch wird nicht zuletzt in der Figur Berndt von Vitzewitz deutlich. Vitzewitz ist ein Mann des Militärs, der sich nach Abschluss des Basler Friedens voller Abscheu und die »Erniedrigung Preußens«108 vorausahnend verstimmt auf sein Gut zurückzieht. In seinem Patriotismus und seiner Vaterlandsliebe ist er durchaus mit Heinrich Waldfried vergleichbar. Doch was ihn auszeichnet ist, neben seiner Skepsis gegenüber Neuerungen, der Wille zum Kampf und eine Opferbereitschaft, die das auf Diplomatie und Bildung setzende Handeln und Denken Waldfrieds nachhaltig konterkarieren. Werden bei Auerbach der ländliche Raum, der Wald und dessen Bewohner zum Fortschrittsindikator, so scheinen sie bei Fontane vor allem eins zu sein: ein Gegenmodell. Bernhard Viel hat skizziert, wie Fontane in Vor dem Sturm den ländlichen Raum als eigentlichen Kern der Kulturnation und als Gegenmodell zur Stadt beschreibt.109 Darin äußert sich zugleich eine Zivilisationskritik, die dem von Auerbach propagierten optimistisch-nationalen Raumkonzept, das Stadt und Land, Fortschritt und Tradition in sich vereint, diametral gegenübersteht. So lässt Fontane Pastor Seidentopf die Worte sagen: Gott will kein Weltenvolk, Gott will keinen Babelturm, der in den Himmel ragt und wir stehen ein für seine Ordnungen, wenn wir einstehen für uns selbst. Unser Herd, unser Land sind Heiligtümer nach dem Willen Gottes. Und seine Treue wird uns nicht lassen, wenn wir getreu sind bis in den Tod.110

Fontane, der hier mit Seidentopfs Worten zum Turmbau zu Babel die Technikeuphorie seiner Zeit kritisiert, scheint mit der Darstellung des Landes als Heiligtum »nach dem Willen Gottes« nichts anderes als die Sakralisierung des Raumes und damit auch der Nation zu vollziehen. Er beruft sich auf eine »göttliche Ursprünglichkeit und religiöse Weihe« und zeigt so deutliche Anklänge an jenen sich auf Volk, Raum und Rasse beziehenden radikalen Nationalismus des Kaiserreiches, wie ihn unter anderem Walkenhorst beschrieben hat.111 Volk und Raum spielen freilich in Auerbachs Raumkonzept ebenfalls eine wichtige Rolle. Einer Heiligsprechung von Raum und Nation, die dadurch statisch werden und jegliche Fortschrittlichkeit verlieren würden, lehnt Auerbach allerdings ab. So bemerkt Bettelheim zu Waldfried: »Mißlich ist auch, daß die tiefreligiöse _____________ 108 109 110 111

Ebd., S. 32. Viel, Utopie (wie Anm. 104), S. 186ff. Fontane, Vor dem Sturm (wie Anm. 102), S. 50. Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 54.

Raum der Natur als Raum der Nation

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Bewegung jener Tage (mit Gott für König und Vaterland) gar nicht oder nur in kirchenberaubten freireligiösen Charakteren zu Worte kommt.«112 Mit dieser für Auerbach obsoleten Sakralisierung der Nation und mit der beschriebenen Fortschrittsgläubigkeit eröffnen sich markante Unterschiede zu Fontane. Gemeint ist nicht die Thematisierung von Technik und Fortschritt. Diese »Realien des Realismus«113 finden sich im Werk Fontanes ebenso häufig wie bei Auerbach. Gerhard Neumann hat beschrieben, wie in Vor dem Sturm »moderne Kommunikationsgeflechte«114 auf die handelnden Subjekte einbrechen. Und genau hier liegt der Unterschied: Tatsächlich handelt es sich bei Fontanes Vor dem Sturm um einen Einbruch und nicht wie in Auerbachs Waldfried um einen Aufbruch. In ihrer Skepsis und Hilflosigkeit gegenüber den politischen und militärischen Neuerungen der Franzosen zeigen die Figuren, dass Fontanes Roman, der »eigentlich einen politischen Aufbruch schildern sollte, unvermerkt zu einem melancholischen, ja resignativen Buch«115 wird. Indikatoren des Fortschritts führen nicht wie bei Auerbach zu einer Stärkung von Nation und Gemeinschaft, sondern zu einer nicht lösbaren Orientierungskrise des Individuums. Dem optimistischen Raum- und Nationmodell Waldfrieds steht in Vor dem Sturm ein resignatives gegenüber. 6.

Schluss

Was Auerbach bzw. dessen Raumkonzept von der völkischen Bewegung, deren Vokabular er weitaus häufiger benutzt als Fontane – ›Masse‹, ›Gemeinschaft‹, ›Volk‹ und ›Raum‹ kommen zahlreich bei ihm vor –, unterscheidet, ist nicht nur deren zivilisationskritische, sondern vor allem deren rassenideologische Ausrichtung. Auerbach erkannte früh die Gefahr einer ›Gemeinschaft des Blutes‹, wie sie Treitschke für die Nation definierte und die die Juden eindeutig ausschloss. Zwar ist auch in Waldfried davon die Rede, dass »das Blut der Süddeutschen und der Norddeutschen zusammen geflossen« sei.116 Damit ist allerdings nicht eine Vereinigung der Rasse, sondern das Opfer für eine gemeinsame Sache – die Nationalidee – gemeint. Zu den tragischsten Momenten der deutschen Literaturgeschich_____________ 112 Bettelheim, Auerbach (wie Anm. 7), S. 339. 113 Siehe den gleichnamigen von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke herausgegebenen Sammelband: Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010. 114 Gerhard Neumann, ›Vor dem Sturm‹. Medien und militärisches Wissen in Fontanes erstem Roman. In: Braese und Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus (wie Anm. 113), S. 201–230, hier S. 225. 115 Ebd. 116 Auerbach, Waldfried (wie Anm. 10), S. 209.

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te gehört zweifelsohne, dass der jüdische Schriftsteller und deutsche Patriot Auerbach miterleben musste, wie aus der nationalen immer mehr eine völkische Bewegung wurde, wie das biologistische und rassenideologische Element innerhalb des Nationalismus immer mehr an Bedeutung gewann, wie »auf die Tage der Hoffnung und Erfüllung […] Wirrnis und Verrohtheit«117 folgten. Fanny Lewald, die häufiger mit Auerbach im Berliner Tiergarten spazieren ging und wie er zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wurde, schrieb nach Auerbachs Tod 1882 an Karl Frenzel, »der Unbill gegen die Juden habe ihm das Herz gebrochen«.118 Kurze Zeit zuvor hatte Auerbach die berühmten Worte »Vergebens gelebt und gearbeitet« in einem Brief an Jakob Auerbach notiert.119 Darin äußert sich die tiefe Verzweiflung eines Menschen, der seine Ideen und Ideale als gescheitert ansieht. Tatsächlich scheint Auerbachs Projekt einer Kulturnation, die die Begriffe Vaterland und Fortschritt gemeinsam gebraucht, ohne großen Nachhall geblieben zu sein. Und auch sein diesem Projekt untergeordnetes Raumkonzept fand wenig Lob und viel Kritik, wohl auch, weil sich Auerbach schwer damit tat, den »zeitgenössischen Stoff in seiner historischen Bedeutsamkeit und der Fülle seiner Details episch zu strukturieren«.120 Dennoch birgt diese ungeordnete Vielfalt ein für die Zeit- und Literaturgeschichte interessantes Potential: gerade in jener für Auerbach typischen Verbindung aus industrieller, ökologischer und identitätsstiftender Wahrnehmung und Nutzung des Raumes, der als Vaterland und als Fortschrittsindikator erscheint. So eröffnen sich neue Sichtweisen auf eine Epoche, in der Tacitus neben Spinoza, Andreas Hofer neben Hermann dem Cherusker, die Sägemühle neben der Askanierburg bestehen kann.

_____________ 117 Auerbach an Lewald, Briefwechsel (wie Anm. 8), S. 75. 118 Fanny Lewald an Karl Frenzel, Berlin, 9. Februar 1882, GSA Weimar, Sign. GSA 18, III, 3, 3. 119 Auerbach an Jakob Auerbach, 23. November 1880 (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 442. 120 Hans Otto Horch, Enthusiasmus und Resignation. Berthold Auerbach und die Reichsgründung 1871. In: Literatur und Nation (1996), S. 127–152, hier S. 146.

Theodor Fontane und die Vernetzung der Welt Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne* David Darby

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht ein Widerspruch in der Darstellung der Landschaften der Provinz und deren Beziehung zur Großstadt und zur weiteren Welt in den Schriften Fontanes. Einerseits wird der Leser der Wanderungen durch die Mark Brandenburg mit einer Landschaft konfrontiert, die im Großen und Ganzen zur vormodernen Welt gehört, d. h. mit einem Berliner Umland, in dem die Manifestationen der fortschreitenden Industrialisierung nur an gewissen Orten wahrzunehmen sind. Andererseits beschreibt Fontane in seinen Berliner Romanen provinzielle Räume des späten 19. Jahrhunderts, deren Entwicklung und wirtschaftliche Funktion eindeutig im Dienst der Bedürfnisse und Einflüsse der neuen Metropole stehen. Städte und Dörfer werden zu Knotenpunkten, die durch die moderne Infrastruktur von Transport- und Kommunikationsmitteln, Industrie, Kommerz und Tourismus mit Berlin und den anderen Metropolen Europas eng vernetzt sind. Am allerwichtigsten ist in dieser modernen Vernetzung des Raums das neue Eisenbahnnetz, dessen Entwicklung ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der umwälzenden Veränderung von Wirtschaft, Produktion und Demographie Hand in Hand ging. In den Wanderungen handelt es sich aber um Gegenden, die, so Fontanes im August 1864 verfasstes Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Wanderungen-Bandes, nur »in den wenigsten Fällen« (GBA W 1, S. 6)1 mit der Eisenbahn zu erreichen sind, die auf dem Weg nach Hamburg, Stettin oder Frankfurt an der Oder an der scheinbar heilen Welt der Mark Brandenburg einfach vorbeirast. Die Vernetzung dieser Welt – d. h. das Prinzip, welches aus diesem vormodernen Raum eine einheitliche Landschaft macht – hat weder mit moderner Infrastruktur noch mit einer überregio_____________ * 1

Für ihre Unterstützung und ihre stets konstruktive Kritik möchte ich mich bei Barbara Sinnemann recht herzlich bedanken. In diesem Aufsatz wird nach dem Wortlaut der Großen Brandenburger Ausgabe (GBA) der Werke Theodor Fontanes unter Verwendung der Siglen W (Wanderungen durch die Mark Brandenburg) und EW (das erzählerische Werk) zitiert.

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nalen Wirtschaftsordnung zu tun, sondern vielmehr mit einem extrem dichten Gewebe von Geschichten und Legenden, die zum Teil sogar bis in die germanische und wendische Frühgeschichte der Region zurückreichen. Die folgenden Überlegungen befassen sich mit dieser doppelten Konzeption des Raums bei Fontane, d. h. einerseits mit der in den Wanderungen praktizierten erzählerischen Vernetzung des provinziellen Raums und deren Gefährdung durch Aspekte der Modernisierung; und andererseits mit der in den Romanen dominanten, technischen Vernetzung des Raums und deren poetischer Verzögerung durch die Projizierung vormoderner Deutungsmuster auf die Landschaften des späten 19. Jahrhunderts. I.

Wanderungen durch die Mark Brandenburg: Die historiographische Vernetzung der Provinz im Zeitalter der Modernisierung

In den Wanderungen stellt Fontane die Landschaften, Flüsse, Seen, Dörfer und Städte der Region als eine kohärente, einheitliche Welt dar, deren Geographie von Anfang an durch das Element Wasser bestimmt ist. In den drei Bänden des ab 1873 bestehenden vierbändigen Schemas handelt es sich um Regionen, die erst durch ihre namengebenden Flüsse – Oder, Havel und Spree – zu identifizieren sind. Auch im ersten Band, in dem sich Fontane mit der Grafschaft Ruppin auseinandersetzt, geht es von Anfang an um Wasserlandschaften: Im allerersten Abschnitt dieses Bandes ist vom Ruppiner See die Rede, und es geht anschließend von Neuruppin weiter über den Rheinsberger See, Huwenowsee, Molchow- und Zermützelsee, Tornowsee, Stechlinsee, Rhin und Dosse, und so weiter, bis ein zusammenhängendes Bild der Grafschaft entstanden ist. Diese elementare Vorherrschaft des Wassers deutet auf eine Kontinuität hin, die implizit bis zum dritten Tag des biblischen Schöpfungsmythos zurückreicht, an dem »das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte« gesammelt wurde, »daß man das Trockene sehe« (Gen 1,9).2 Seine fundamentale Struktur verdankt Fontanes Wanderungen-Projekt diesem primären Element, wobei die Erde, auf der die alten Familien leben, auf der sie ihre Schlösser, Herrenhäuser und Dorfkirchen bauen und auf der ihre Geschichten spielen, etwas Sekundäres ist, dessen Existenz ohne die Scheidung des Wassers undenkbar wäre. Die Seenketten verleihen der Mark Brandenburg eine einheitliche, überschaubare Geographie, in deren implizit zeitlosen Landschaften die Geschichten der märkischen Familien und Dörfer verankert werden können.

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Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Stuttgart 1985.

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Die »integrierende oder verbindende Funktion«3 der Flüsse und Seen innerhalb der breiteren Topographie der Region wird in Fontanes Darstellung der Mark mehrmals betont, z. B. im ersten Teil des »Radensleben«Aufsatzes: Das Ruppiner Land ist überhaupt eins von den stillen in unsrer Provinz, die Eisenbahn streift es kaum, und die großen Fahrstraßen laufen nur eben an seiner Grenze hin; aber die stillste Stelle dieses stillen Landes ist doch das Ostufer des schönen Sees, der den Mittelpunkt unserer Grafschaft bildet und von ihr den Namen trägt. Durchreisende gibt es hier nicht, und jeder, dem man begegnet, der ist hier zu Haus […]. (GBA W 1, S. 40f., Hervorhebung im Original)

Aus der Unberührtheit und der absoluten demographischen Stabilität dieser beinahe abgeschlossenen Welt folgt ein Netz von Assoziationen, in dem es sich erstens um die fortbestehende Harmonie des Menschen mit einer zeitlosen Umwelt, zweitens um die nahtlose Einheit von Vergangenheit und Gegenwart und drittens um die Vollkommenheit der mythischen Schöpfung von Himmel und märkischer Erde handelt. Bedenkt man die Bedeutung der Flüsse und Seen in diesem Schema, so darf es nicht überraschen, dass Fontane, der in den Wanderungen bekanntermaßen relativ selten vom Laufen langer Strecken berichtet, eine besondere Vorliebe für das Fahren mit Booten verschiedener Art zeigt. Beispielsweise werden die »Wasserreise durch das Herz des [Wustrauer] Luches« (GBA W 1, S. 361– 364), die Dampferfahrt von Frankfurt bis Schwedt (GBA W 2, S. 13–21), die Fahrt mit dem Segelboot auf dem Schwielow (GBA W 3, S. 396–399), die Kahnfahrt im Spreewald (GBA W 4, S. 12–17, 19f.) und die Fahrt an Bord der »Sphinx« von Köpenick bis Teupitz (GBA W 4, S. 62–89) alle mit besonderer Sorgfalt beschrieben. Doch so viel zur Beschreibung der Landschaft. In den Wanderungen wird ausgiebig erzählt, und erst durch die historische Erzählung wird für Fontanes Projekt die Landschaft »wertvoll«.4 Ob im »Plauderton des Touristen« oder unter dem »Vorherrschen des Historischen« (GBA W 4, S. 439) wird in den vier Bänden eine eng zusammenhängende, dicht bevölkerte Welt aus Geschichte, Geschichten, Anekdoten, Balladen und Volksgesängen, Gedichten, Gesprächen, Legenden und Sagen – »eine im Vergleich mit konventionellen Reiseberichten ins Extrem getriebene Diskurspoly_____________ 3

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Wolfgang Albrecht, Kulturgeschichtliche Perspektivierung und Literarisierung des Regionalen in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur, Würzburg 2003 (= Fontaneana, Bd. 1), S. 95–110, hier S. 99. Walter Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818–850, hier S. 835.

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phonie«5 – zusammengestrickt. Es handelt sich am häufigsten, wie oben erwähnt, um die Geschichten der alten märkischen Familien sowie um die Herrenhäuser, Schlösser, Dörfer und Städte, in denen die vielen Generationen der Familien lebten, die Parks und Gärten, wo sie spielten und spazierten, die Kirchen und Friedhöfe, wo sie begraben liegen, »Grab über Grab« (GBA W 2, S. 494), und letztlich um die Wände, an denen ihre Bildnisse noch hängen:6 in Fontanes Worten, »Schloß-, Park- und Landschaftsbeschreibung, Historisches, Anekdotisches, Familienkram und Spukgeschichte«.7 Was hier erzählt wird, bildet ein immer dichter werdendes, historisches Gewebe, »eine poetisierte Historiotopographie«.8 Es ist gerade Fontanes erzielte »Verquickung von Geographischem und Historischem«,9 die seine Mark Brandenburg im Innersten zusammenhält und die Gegend als »ein überschaubar[es] Ganz[es]« bzw. »ein[en] harmonischen Kosmos« erscheinen lässt.10 Die sonst diskreten Familiengeschichten berühren sich in diesem Gewebe immer wieder, am häufigsten an festen historischen Knotenpunkten, d. h. an den bedeutendsten Orten der Geschichte Preußens: Fehrbellin, Großbeeren, Düppel, Königgrätz, Spichern, Gravelotte, Mars-la-Tour, Sédan und so weiter. Dadurch entsteht nicht nur eine unsystematische, aber komplexe Vernetzung des Erzählstoffes im Rahmen der breiteren Geschichte, sondern auch, durch die hervorgehobene Fixierung der langen Familiengeschichten in diesem geographischen Raum, eine sich ständig vertiefende Vernetzung der märkischen Geographie. Diese historiographische Vernetzung dient zur Befestigung der ursprünglichen, durch Flüsse und Seen bestimmten geographischen Einheit der Mark, die nicht nur von den großen Transportwegen abgeschnitten ist, sondern sich auch durch die integrale Komplexität und _____________ 5 6

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Alfred Opitz, Die ›Wurstmaschine‹. Diskurspolyphonie und literarische Subjektivität in den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 3), S. 41–61, hier S. 50. Siehe Michael Ewert, Lebenswege. Formen biographischen Erzählens in Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Fontane als Biograph, Berlin/New York 2010 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 7), S. 95–114, hier S. 96: »Streckenweise erscheinen die Bände [der Wanderungen] wie ein biographisches Nachschlagewerk oder eine Soziographie der Region.« Theodor Fontane, Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hrsg. von Kurt Schreinert und Gerhart Hay, Stuttgart 1972, S. 144. Michael Ewert, Theodor Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 3), S. 471–485, hier S. 481. Siehe Michael Ewert, Heimat und Welt. Fontanes Wanderungen durch die Mark. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde. Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 167–177, hier S. 173. Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, HFA IV/3, S. 211; auch Briefe (wie Anm. 7), S. 26. Siehe Ewert, Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie (wie Anm. 8), S. 481. Walter Erhart, ›Alles wie erzählt‹. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 229–254, hier S. 244, 247.

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Dichte dieses Gewebes von der weiteren Welt abgrenzt. Es entsteht in den Wanderungen das Bild einer unverkennbaren Welt an sich: »Hier« betont Fontane, »hat alles eine Beziehung, eine Geschichte« (GBA W 2, S. 78). Jedoch: Die Vollkommenheit dieser für sich vernetzten Welt wird auf verschiedene Weisen kompromittiert. Einerseits ist der Erzähler in diesen vier Bänden sehr häufig auf den großen Fahrstraßen, mit der Eisenbahn und mit dem Dampfer unterwegs. Andererseits handelt es sich dabei selten um Reisen innerhalb der als azentrisches Rhizom konzipierten Mark Brandenburg, sondern eher um Fahrten zwischen seinem Zuhause in Berlin – der Stadt, die in den Wanderungen als fast unsichtbarer, aber nie ganz abwesender Mittelpunkt einer ganz anderen, konzentrisch-hierarchisch organisierten Kartographie funktioniert – und seinen Reisezielen in der Provinz.11 Darüber hinaus ist Fontane mehrmals auf die Geometrie existierender oder neu projizierter Eisenbahnstrecken angewiesen, um den Raum, mit dem sein Text sich gerade beschäftigt, genau lokalisieren zu können.12 »Fontanes scheinbar heile Geschichtslandschaft«13 wird dadurch destabilisiert, dass die Abgeschlossenheit, welche die Integrität der rein historiographischen Vernetzung des Raumes garantiert, durch die unverkennbare Präsenz der modernen Infrastruktur überraschend oft gestört wird. Wenige Tage nach dem Erscheinen des zweiten Bandes der Wanderungen unterstreicht Fontane Anfang Dezember 1863 seine Absicht, die anspruchsvolle Aufgabe, die er sich gestellt hatte, »mit einer gewissen Vollständigkeit zu lösen«.14 »Es ist«, so schreibt er Anfang 1864, »alles auf ein Ganzes hin angelegt«.15 In der Praxis widmet sich sein märkischer Wande_____________ 11

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Siehe Peter Wruck, Wie Fontane die Mark Brandenburg entdeckte. In: Fontane Blätter 74 (2002), S. 60–77, hier S. 71. Wruck kennzeichnet Fontanes märkische Fahrten als eine »Vielzahl radialer Kurzreisen, Abstecher oder Ausflüge, die fast jedesmal von Berlin ausgingen, das als der Ausgangspunkt insofern mittelbar und nicht immer stillschweigend vorhanden war, obwohl die Stadt ähnlich wie Potsdam in die eigentliche Darstellung nur selten einbezogen wurde«. Z. B. »[d]ie neuprojektierte Eisenbahn zwischen Berlin und Küstrin« (GBA W 2, S. 105), »[d]ie jetzige Stettiner Eisenbahn« (GBA W 2, S. 455), die 1838 eröffnete Eisenbahnstrecke Berlin-Potsdam (GBA W 3, S. 205) und »die Eisenbahn […] die [an Großbeeren] vorüber ins Anhaltische oder Sächsische führt« (GBA W 4, S. 288). In dem Kapitel »Die Werderschen« wird auch die Bedeutung der Eisenbahn für den Transport des werderschen Obstes nach Berlin besprochen (GBA W 3, S. 455). Gerd Heinrich, ›Ein nicht verächtlicher Schatz‹. Fontane und die Historische Landschaft. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 3), S. 15– 38, hier S. 37. Theodor Fontane an Heinrich von Mühler, HFA IV/2, S. 111 (Hervorhebung im Original). Zur Unvollständigkeit der Wanderungen siehe Heinrich, ›Ein nicht verächtlicher Schatz‹ (wie Anm. 13), S. 19–21. Theodor Fontane an Ernst von Pfuel, HFA IV/2, S. 115 (Hervorhebung im Original).

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rer einer »hin- und herschweifend[en] Such- und Sammeltätigkeit«, deren »Ungebundenheit […] den vom Verfasser hervorgehobenen anti-systematischen, spielerischen Charakter« des Textes bestimmt.16 Es handelt sich also um »ein kontrastierendes poetisches Verfahren, das auf ein Ganzes (eine heile altpreußische Welt) zielt, das aber, weil es stets neu am konkret Einzelnen erzählend ansetzt, immer nur einzelnes zauberhaft zu beleuchten vermag«.17 Was zum Zweck der Zusammenstellung dieser scheinbaren Totalität archäologisch18 gesucht und gesammelt wird, sind schließlich nur »Bruchstücke«,19 »Scherben, verstreut[e] Fundstück[e] und vereinzelt[e] Trümmer«,20 »Requisiten, Überreste, Spuren einer zufällig überlieferten Vergangenheit«.21 Aus dieser Bastelarbeit kann bloß die Illusion einer vollständigen, ›heilen‹ Mark Brandenburg entstehen: ein »Phantasieland, welches die geographischen ›lokalen‹ Punkte, die ›Orts- und Geschlechtsnamen‹, zu einem von geschichtlichen Zusammenhängen erfüllten ›Ganzen‹ verbindet«.22 »Dieses ›Ganze‹ einer zuletzt geordneten geschichtsträchtigen Welt bildet«, so Erhart, »das Ziel und den Fluchtpunkt aller Wanderungen«.23 Hier geht es also um den bekannten Kontrast zwischen einer vormodernen Ganzheit und der Fragmentierung der Welt der Moderne:24 Durch die ausgedehnten Dimensionen der Bände der Wanderungen entsteht der Eindruck einer der Vollständigkeit zustrebenden Erfassung der Geographie und Geschichte der Mark, währenddessen die Substanz der darin zusammengesetzten Welt fragmentarisch, porös und gefährdet bleibt. Ob die vormoderne Welt sich wieder in schriftlicher Form als Totalität vernetzen – d. h. sich zusammenschreiben – lässt, bleibt bestenfalls fragwürdig, und die daraus resultierende Spannung bestimmt auf einer fundamentalen Ebene die Struktur des Wanderungen-Projekts: _____________ 16 17 18 19 20 21

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Ewert, Theodor Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie (wie Anm. 8), S. 474, 475. Hanna Delf von Wolzogen, Vorwort. In: Dies. (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 3), S. 11–13, hier S. 12. Siehe Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 4), S. 847; Delf von Wolzogen, Vorwort (wie Anm. 17), S. 12. Erhart, ›Alles wie erzählt‹ (wie Anm. 10), S. 234. Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 4), S. 847. Delf von Wolzogen, Vorwort (wie Anm. 17), S. 12. Siehe Heinrich, ›Ein nicht verächtlicher Schatz‹ (wie Anm. 13), S. 31; Ewert, Theodor Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie (wie Anm. 8), S. 480. Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 4), S. 823; zitiert wird Fontanes Brief vom 18. Januar 1864 an Ernst von Pfuel (HFA IV/2, S. 115). Ebd., S. 829; zitiert wird hier aus Fontanes Wanderungen-Kapitel »Paretz« (GBA W 3, S. 347). Z. B. ebd., S. 843. Siehe Erhart, ›Alles wie erzählt‹ (wie Anm. 10), S. 241, 243–246.

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[D]ie von Fontane anschaulich gemachte Totalität und Ganzheit preußischer Lebensformen [findet] auch keine Entsprechung in der literarischen Form seiner Wanderungen. Im Gegenteil: Je mehr sich der Wanderer auf die Suche nach den verbliebenen Spuren dieser imaginierten Geschlossenheit macht, desto mehr zersplittert die Darstellung dieser Spurensuche. Und je mehr Fontane die verstreuten Objekte seiner historischen Erkundung aneinanderreiht, desto schneller droht sich jede vorab behauptete geschichtliche Kontinuität in eine nur noch ästhetisch oder museal wahrgenommene Diskontinuität der vorgefundenen topographischen Elemente aufzulösen.25

Die moderne Entwicklung Berlins zur Groß- und Weltstadt und dessen schnell wachsender Einfluss auf die Provinz zählen selbstverständlich zu den wichtigsten Vorgängen, die zur Unhaltbarkeit der in den Wanderungen projizierten »Vision einer verlorenen Ganzheit und Totalität«26 beitrugen. Von der Zentralisierung der Geographie der Mark Brandenburg auf den großstädtischen Mittelpunkt schreibt Fontane, nur wenige Monate nachdem die Beiträge »In den Spreewald. Vier Reisekapitel von Th. F.« in der Preußischen Zeitung (August–September 1859) und die ersten »Märkischen Bilder« in der Neuen Preußischen Zeitung (Oktober–Dezember 1859) erschienen waren: Es ist mir im Laufe der Jahre besonders seit meinem Aufenthalte in London Bedürfniß geworden an einem großen Mittelpunkte zu leben, in einem Centrum wo entscheidende Dinge geschehn. […] [D]as Faktum ist doch schließlich nicht wegzuleugnen, daß das was hier geschieht und nicht geschieht direkt eingreift in die großen Weltbegebenheiten.27

In den Kapiteln der Wanderungen, deren Entstehung und Erstveröffentlichung in diese Zeit zurückreichen, ist die implizite Zentralität Berlins innerhalb der zu bereisenden Region, wenn nicht gerade dominant, schon deutlich spürbar. Im Auftakt der Reise »In den Spreewald« wird zum Beispiel die Postkutsche-Verbindung von Berlin aus kurz erwähnt (GBA W 4, S. 9).28 Das »Rheinsberg«-Kapitel beginnt ebenfalls mit einer Be_____________ 25 26 27

28

Ebd., S. 845. Ebd., S. 843. Theodor Fontane an Paul Heyse, HFA IV/1, S. 709. Hierzu Hans-Heinrich Reuter, Zwischen Neuruppin und Berlin. Zur Entstehungsgeschichte von Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), S. 511–540, hier S. 517f. Vgl. den Hinweis in der frühen »Vier Reisekapitel«-Fassung auf die praktischen Vorteile der Nachtpost (GBA W 6, S. 7). In der revidierten Fassung, die im Spreeland-Band der Wanderungen erschien (1882), merkt man eine gewisse Unsicherheit: »Eine Nachtpost fährt oder fuhr wenigstens zwischen Berlin und Lübbenau.« (GBA W 4, S. 9) Die Erklärung liegt zweifellos in der Modernisierung der Verkehrsmittel in dieser Gegend, die in der Zwischenzeit mit der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Berlin-Görlitz 1866/67 stattgefunden hatte.

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schreibung der zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel (Eisenbahn, dann »eine geschickt zu benutzende Verbindung von Hauderer und Fahrpost«), wobei nicht die Einfachheit der Verbindungen (wie bei der SpreewaldReise), sondern deren Schwierigkeit schon im ersten Satz – »Rheinsberg von Berlin aus zu erreichen ist nicht leicht« – deutlich betont wird (GBA W 1, S. 265).29 Trotz einer Reihe von Fällen, in denen Fontanes Reiseziele mit Hilfe der Eisenbahn oder anderer moderner Verkehrsmittel von Berlin aus doch sehr gut zu erreichen sind,30 oder in denen es sich in anderen Zusammenhängen um Teile des auf Berlin zentrierten Eisenbahnnetzes handelt, bleibt die Präsenz der wachsenden Metropole im Text der Wanderungen eher bescheiden.31 Auch wenn der Erzähler sich wiederholt auf das Berliner Straßenbild des späten 19. Jahrhunderts bezieht und von den bekannten Straßen, Plätzen, Kirchen und Palais der Metropole immer wieder als Vergleichs- und Orientierungspunkten für die Interpretation des Gesehenen, Beschriebenen und Erzählten Gebrauch macht,32 bleibt Berlin selbst, wie bereits erwähnt, zum großen Teil unsichtbar. Ausgenommen sind zwei Textstellen im Havelland-Band der Wanderungen: In der ersten wird auf die Eisenbahnstrecke, die von Berlin »[d]as Spreetal hinunter, an dem Charlottenburger Schloß vorbei« (GBA W 3, S. 101) nach Spandau führt, hingewiesen; in der zweiten wird ausführlich über »die ganze Tour zu Fuß« zum Dorf Tegel mit »Berlin als Ausgangspunkt« (GBA W 3, S. 161) erzählt.33 Über die Wanderung nach Tegel schreibt Fontane Folgendes:

_____________ 29

30

31 32

33

Hierzu Reuter, Zwischen Neuruppin und Berlin (wie Anm. 27), S. 528. Die ursprüngliche, von Reuter zitierte Fassung des Rheinsberg-Feuilletons betont die Schwierigkeit noch stärker: »Die Stadt Rheinsberg von Berlin aus zu erreichen ist wirklich schwer.« Siehe Märkische Bilder. I. In: Neue Preußische Zeitung, Nr. 248 (23. Oktober 1859), Beilage. Z. B. Neustadt an der Dosse (GBA W 1, S. 421), Freienwalde (GBA W 2, S. 49), Kloster Chorin (GBA W 3, S. 86), St. Nikolai zu Spandau (GBA W 3, S. 101), der Brieselang (GBA W 3, S. 110, 125f.), Etzin (GBA W 3, S. 353) und Werder (GBA W 3, S. 444, 452); auch Dreilinden in Fünf Schlösser (GBA W 5, S. 333). Hierzu Peter Wruck, Fontanes Berlin. Durchlebte, erfahrene und dargestellte Wirklichkeit (1. Teil). In: Fontane Blätter 6, H. 3 (1986), S. 286–311, hier S. 306 (siehe Anm. 11). Z. B. Pariser Platz (GBA W 1, S. 15), Wilhelmsplatz (GBA W 1, S. 16), Radziwillsches Palais (GBA W 1, S. 27), Tiergartenstraßen (GBA W 2, S. 67), Kroll und Odeum (GBA W 2, S. 68), Nikolaikirche (GBA W 3, S. 97) und Lustgarten (GBA W 4, S. 29). Zu Fontanes Entscheidung, sich im ersten Beitrag (12. August 1860) der Reihe »Bilder und Geschichten aus der Mark Brandenburg«, die im Morgenblatt für gebildete Leser erschien, mit dem Dorf Tegel – Grabstätte der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt, mit denen sich »ein Preußenbild« verbindet, »das auf Geist, nicht auf Gewalt setzte« – zu befassen, siehe Roland Berbig, Fontane als literarischer Botschafter der brandenburgisch-preußischen Mark. Die ›Wanderungen‹-Aufsätze im ›Morgenblatt für gebildete Leser‹. In: Delf von Wolzogen (Hrsg.), ›Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg‹ (wie. Anm. 3), S. 325–350, hier S. 334–338.

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Die erste Hälfte führt durch die volkreichste und vielleicht interessanteste der Berliner Vorstädte, durch die sogenannte Oranienburger Vorstadt, die sich, weite Strecken Landes bedeckend, aus Bahnhöfen und Kasernen, aus Kirchhöfen und Eisengießereien zusammensetzt. Diese vier heterogenen Elemente drücken dem ganzen Stadtteil ihren Stempel auf; das Privathaus ist eigentlich nur insoweit gelitten, als es jenen vier Machthabern dient. Leichenzüge und Bataillone mit Sang und Klang folgen sich in raschem Wechsel oder begegnen einander; dazwischen gellt der Pfiff der Lokomotive und über den Schloten und Schornsteinen weht die bekannte schwarze Fahne. Hier befinden sich, neben der Königlichen Eisengießerei, die großen Etablissements von Egells und Borsig […]. (GBA W 3, S. 161)

Von der Oranienburger Vorstadt geht es weiter, und der Kontrast zwischen jenem »Kind einer neuen Zeit und eines neuen Geistes« und nördlich der Panke dem Wedding, der »noch im Einklang mit dem alten nationalen Bedürfnis, mit den bescheideneren Anforderungen einer früheren Epoche gebaut« ist (GBA W 3, S. 162), deutet auf einen radikalen historischen Bruch, der dem »ewig[en] Gesetz« »einer natürlich fortschreitenden Entwicklung alles Lebenden« (GBA W 1, S. 562) radikal entgegengesetzt ist. Der Bruch ist sowohl ein räumliches als auch ein zeitliches Phänomen: Die Panke fungiert hier ganz anders als die andernorts beschriebenen Flüsse und stellt auf einmal einen nicht zu flickenden Riss in dem landschaftlichen Gewebe der Mark Brandenburg dar. »[W]enige Punkte«, bemerkt der vom Wedding aus zurückblickende Erzähler, »möchten sich hierlandes finden, die so völlig dazu geeignet wären, den Unterschied zwischen dem Sonst und Jetzt, zwischen dem Ursprünglichen und dem Gewordenen zu zeigen, als die Stadtteile diesseits und jenseits des PankeFlüßchens, das wir soeben überschritten haben« (GBA W 3, S. 162). Der symbolische Weg »vom modernen Berlin […] ins alte Preußen«, den Fontanes Wanderer hier geht, ist, so Wruck, kennzeichnend für Fontanes Wanderungen-Projekt insgesamt.34 Merkwürdig in dieser Wegbeschreibung ist aber nicht nur die Länge der Beschreibung des Weges zum eigentlichen Ziel der Wanderung, sondern auch die radikale Plötzlichkeit dieser Grenze zwischen Räumen und Zeiten.35 Es liegt auf der Hand, dass dieser Riss seinen Anfang in der kartographischen Lücke hat, d. h. in der mit dieser Ausnahme unbeschriebenen und unerzählten, also ahistorischen, großstädtischen Mitte von Fontanes Mark Brandenburg. Und dass es mit diesem Riss zu dem weiteren, wohl _____________ 34 35

Wruck, Fontanes Berlin (wie Anm. 31), hier S. 306. Siehe Berbig, Fontane als literarischer Botschafter der brandenburgisch-preußischen Mark (wie Anm. 33), S. 338. Diese Plötzlichkeit wird in der Morgenblatt-Fassung noch stärker betont: Dort offenbart sich der Unterschied zwischen den beiden Zeitaltern »auf einen Schlag«. Siehe: Bilder und Geschichten aus der Mark Brandenburg. Tegel. In: Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 33 vom 12. August 1860, S. 769–775, hier S. 770.

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unaufhaltsamen Ausfransen des jahrhundertealten Gewebes kommt, folgt unvermeidlich aus der Logik der industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Region.36 Die fortschreitende Desintegration dieser abgegrenzten Welt zeigt sich in den Wanderungen in verschiedener Hinsicht. Für den Bau der rasch wachsenden Metropole war man selbstverständlich auf die Rohstoffe und Industrieprodukte des Umlandes angewiesen: hauptsächlich auf eine Unzahl von Ziegeln, die in Petzow und Glindow und eigentlich »[ü]berall an Havel und Schwielow« (GBA W 3, S. 404) hergestellt wurden, so auch in Groß-Köris und am Motzener See.37 Und für die Lebensbedürfnisse der großstädtischen Bevölkerung sind die landwirtschaftlichen Produkte der Mark, sei es Werdersches Obst, Teupitzer »Garten- und Feldfrüchte, Weintrauben und Obst« (GBA W 4, S. 261) oder sogar Spreewaldgurken und -meerrettich, unentbehrlich. Hinzu kommen Holz – wobei wir lesen, dass der gesamte Menzer Forst innerhalb von dreißig Jahren »durch die Berliner Schornsteine geflogen« war (GBA W 1, S. 347) – und Torf, z. B. aus Wustrau bei Neuruppin oder Linum im Havelland, »das Newcastle unserer Residenz« (GBA W 3, S. 104), für die Heizungen Berlins, sowie auch Eis aus den »Kolossalbauten der Berliner Eiswerke« (GBA W 4, S. 70) bei Köpenick. Ein weiteres, neues Bedürfnis der wachsenden großstädtischen Bevölkerung wird von den »Vergnügungsörter[n]« (GBA W 3, S. 163) befriedigt, die rund um Berlin aus dem Boden geschossen waren, wobei das Ländlich-Märkische solcher Gegenden selbst für den Verbrauch der Großstädter vermarktet wird. Es handelt sich in Fontanes Bericht in erster Linie nicht um die Ziele der verhältnismäßig intimen Landpartien der mehr oder weniger vornehmen Gesellschaftskreise in seinen Romanen, sondern um Etablissements, die im Zuge eines relativ neuen, aber »fast epidemisch einsetzenden«38 Massentourismus entstanden waren, wie zum Beispiel der Finkenkrug westlich von Spandau oder die weniger einladenden Wirtshäuser im damals noch relativ grünen Wedding. Wir lesen in jenem Zusammenhang von den Scharen von Ausflüglern, die mit den von Fontane erwähnten Sonderzügen (GBA W 3, S. 110, 126) oder zu Fuß unterwegs sind. Man stelle sich _____________ 36

37

38

Siehe Heinrich, ›Ein nicht verächtlicher Schatz‹ (wie Anm. 13), S. 27: »Dieses Berlin muß sich nolens volens mit seinen Urbanisations- und Zivilisationstendenzen, sie mögen erst einmal sein wie sie wollen, weit in die Provinz Mark Brandenburg hineinschieben […].« Zum Entwicklungsstadium der Industrie und des Verkehrsnetzes Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Philipp Frank, Theodor Fontane und die Technik, Würzburg 2005 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 526), S. 121–127. Siehe Hans-Heinrich Reuter, Fontane, ›Glindow‹. Zugleich Anmerkungen zu besserem Verständnis einiger Aspekte der ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Alexander von Bormann, Karl Robert Mandelkow et al., Tübingen 1976, S. 512–540. Erhart, ›Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ (wie Anm. 4), S. 840.

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bei solchen Reisezielen eine kleinbürgerliche bzw. proletarische SonntagsSubkultur vor, die sich hinsichtlich ihrer mangelnden Vornehmheit und lockeren Moral mit der von Guy de Maupassant beschriebenen Welt der banlieue westlich von Paris wohl sehr gut vergleichen ließe. Diese radikalen Veränderungen, die im wirtschaftlichen Verhältnis zwischen Metropole und Provinz stattfinden, werden Schritt für Schritt von der raschen Erweiterung und Modernisierung des Verkehrswesens begleitet. Dadurch wird innerhalb weniger Jahrzehnte eine völlig neue, doppelte Vernetzung der Region verwirklicht, die die ursprüngliche, durch Wasser bedingte, geographische Integrität der Mark – sowie deren jahrhundertelange, historiographische Befestigung durch die schichtenweise Ablagerung von Erzählungen – völlig zu überwältigen droht. Der erste Aspekt dieser modernen Vernetzung ist der regionale: die schon erwähnte Ablösung des rhizomartigen Gewebes und dessen Ersatz durch ein auf die Metropole orientiertes, konzentrisches Netz. Der zweite ist die Unterordnung der Geographie und Wirtschaft der Mark Brandenburg unter die Strukturen eines überregional verbundenen Wirtschaftsraums, bei dem die im Text der Wanderungen erwähnten Handels- und Transportbeziehungen zu den Hafenstädten Hamburg, Stade und Bremerhaven schon auf eine internationale Reichweite hindeuten. II.

Die Berliner Romane und die technische Vernetzung der modernen Welt

In dieser neuen, viel breiter vernetzten Welt leben die Figuren der Berliner Romane, wobei die Metropole selbst in diesen Texten nicht als unerzählte Lücke erscheint, sondern als sinngebender wirtschaftlicher Mittel- und immer wichtiger werdender Knotenpunkt der Region.39 Auch vor den eigentlichen Gesellschaftsromanen findet man in Vor dem Sturm – trotz der Konzentration des Romans auf die vorindustrielle Welt Preußens – eine deutliche Spannung zwischen dem Provinziellen und dem Weltgeschichtlichen. Gleich am Anfang wird die Handlung unmissverständlich in dem gemütlich engen, historischen Gewebe der Mark Brandenburg situiert, indem der Erzähler erklärt: »Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als die Träger unserer ganzen Geschichte dar und die Berührung der Jahrhunderte untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität.« (GBA EW 1, S. 43, Hervorhebung im Original) Diese Behauptung passt genauso gut zur Beschreibung der Hohen-Vietzer Kirche wie zum Projekt der Wanderungen _____________ 39

Hierzu Geoffrey Baker, Realism’s Empire. Empiricism and Enchantment in the Nineteenth-Century Novel, Columbus 2009, S. 156f., 161, 172.

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überhaupt, wobei die Bezüge zwischen diesem Roman und den Wanderungen längst erwiesen sind.40 Solch ein historiographisches Prinzip, unterstützt von den Archäologen, Altertumsforschern und Sammlern, von denen die Gegend um Hohen-Vietz gewissermaßen wimmelt (GBA EW 1, S. 99–104, 181f., 184f.), gilt aber nur, solange man von einer örtlich oder höchstens regional abgegrenzten Geschichte sprechen kann. Es hört in dem Moment auf, der Wirklichkeit angemessen zu sein, in dem sie mit dem Plötzlichen, dem Welterschütternden konfrontiert wird, d. h. mit einem Ereignis, das Auswirkungen auf ganz Europa hat: nämlich das Scheitern des französischen Feldzuges in Russland. Ab Weihnachten 1812 befindet sich das Oderland nicht mehr am stillen Rande der großen Ereignisse des napoleonischen Zeitalters, sondern auf einmal direkt mittendrin, auf der Strecke zwischen Moskau und Paris. Dass es sich innerhalb der in Hohen-Vietz herrschenden, regional bedingten Horizonte als unmöglich erweist, auf der Weltbühne gut informierte strategische Entscheidungen zu treffen und wirkungsvoll durchzuführen, führt zur lokal traumatischen aber historisch unbedeutenden Katastrophe der Romanhandlung. Der Versuch, durch eine lokale Aktion in die großen Weltbegebenheiten einzugreifen, schlägt vollkommen fehl, und das alte historische Gewebe, das die Bedeutung der alten märkischen Familie von Vitzewitz sichert, wird von den folgenschweren Ereignissen mühelos überwältigt und zerrissen. Gleichzeitig ist die wachsende Bedeutung Berlins als Machtzentrum in den wirklich wichtigen Entscheidungen, die dort getroffen werden, zu spüren.41 Preußen steht noch an der Schwelle einer breiteren geopolitischen Zukunft und beginnt erst wahrzunehmen, wie in Schach von Wuthenow erklärt wird, »daß sich die großen Geschicke […] nicht notwendig zwischen Nuthe und Notte vollziehen müssen« (GBA EW 6, _____________ 40

41

Siehe z. B. Helmuth Nürnberger, ›Der große Zusammenhang der Dinge‹. ›Region‹ und ›Welt‹ in Fontanes Romanen. Mit einem Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten Brief Fontanes an Ada Eckermann. In: Fontane Blätter 55 (1993), S. 33–68, hier S. 51. Siehe Heinrich, ›Ein nicht verächtlicher Schatz‹ (wie Anm. 13), S. 32. Zu den Beziehungen zwischen Vor dem Sturm und dem Oderland-Band siehe z. B. Charlotte Jolles, Theodor Fontane. 4. Aufl., Stuttgart 1993 (= Sammlung Metzler, Bd. 114), S. 38f.; und Christian Grawe, ›Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13‹. In: Fontane-Handbuch (wie Anm. 4), S. 488–509, hier S. 492–494. Siehe Baker, Realism’s Empire (wie Anm. 39), S. 159. Mit Bezug auf die Situation in den früheren Phasen des Romans stimmt diese Interpretation mit Nürnbergers Vision des Verhältnisses zwischen »staatlichem Zentrum und Provinz« in Vor dem Sturm völlig überein; ab dem dritten Buch ist sie jedoch nur bedingt damit in Einklang zu bringen: »Kennzeichnend für dieses Verhältnis ist weniger Polarisierung als ein lebendiges Miteinander. Man ist sich (auch räumlich) nah, und die Kommunikationsfäden sind vielfach verknüpft. ›Provinz‹ […] erweist sich in Vor dem Sturm nicht als ein vom Regierungssitz her mechanisch gelenktes Teilterritorium des Staates, sondern als organisches Glied desselben, von dem eigene Impulse ausgehen.« (siehe Nürnberger, ›Der große Zusammenhang der Dinge‹ [wie Anm. 40], S. 34)

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S. 7).42 1813 geht es in Berlin um Entscheidungen, die die zukünftige Rolle Preußens inmitten eines breiten und sich schnell und radikal verändernden Netzwerks europäischer Machtverhältnisse bestimmen werden. Die Großstädter der späteren Gesellschaftsromane bewohnen natürlich eine Metropole, die durch die modernste Infrastruktur – Gas- und Wasserleitungen, Rohrpost, Pferdebahn, Stadtbahn, Kanalisation, usw. – intern stark vernetzt ist, und durch die Eisenbahn, durch die Modernisierung der großen Straßen, durch Zeitungen, durch Telegraphie und Stephans Reichspost, durch Dampfverkehr auf Flüssen und neuen Kanälen, sowie durch den Zugang zu internationalen Seewegen mit regionalen und weltweiten Netzwerken ebenso verbunden ist.43 Und wie Berlin Teil dieses Netzwerkes ist, so sind es auch mehr oder weniger Charlottenburg, Thale, Quedlinburg, Klein-Haldern, Treptow und Stralau, Köpenick, Königs Wusterhausen, Hankels Ablage, Hohen-Cremmen, Kessin, Rheinsberg und fast alle weiteren Lokalitäten, die in den diversen Romanhandlungen eine bedeutende Rolle spielen. Von Interesse ist die Art und Weise, wie die Beziehung Metropole-Provinz in den Romanen verstanden bzw. missverstanden wird, wie die Landschaften der Provinz von den großstädtischen Bewohnern einer wirtschaftlich, logistisch und technologisch vernetzten modernen Welt erlebt und bereitwillig im Sinne einer archaischen, historiographisch zusammenhängenden Mark Brandenburg romantisierend interpretiert werden. Der Ausflug des Berliner Liebespaares nach Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen lässt sich zum Beispiel sehr gut als ein Versuch verstehen, sich der Illusion zu widmen, dass es möglich sei, die Knoten der vernetzten modernen Welt, wenn auch nur vorübergehend, zu lösen. Die Absicht, »mal hinauszukommen […] in Gottes frei[e] Natur, möglichst fern von dem großstädtischen Getreibe« (GBA EW 10, S. 70), und die gleichzeitige Nutzung der modernen Verkehrsmittel stehen aber in krassem Widerspruch zueinander: Der Gebrauch des auf Berlin zentrierten Transportnetzes macht ein richtiges Entkommen logisch unmöglich. Der er_____________ 42

43

Im Gegensatz zu Reuters Behauptung, dass die Verwandlung Berlins in Fontanes Erzählwerk von peripheralem Ort zum Mittelpunkt sich zwischen Vor dem Sturm und Schach von Wuthenow vollzieht, wird hier argumentiert, dass diese Entwicklung schon im Verlauf der Handlung seines ersten Romans zu verfolgen ist (siehe Hans-Heinrich Reuter, Fontanes Realismus. In: Hans-Erich Teitge und Joachim Schobeß [Hrsg.], Fontanes Realismus. Wissenschaftliche Konferenz zum 150. Geburtstag Theodor Fontanes in Potsdam. Vorträge und Berichte, Berlin 1972, S. 25–64, bes. S. 53). Zu der politischen Bedeutung dieser topographischen Verschiebung des Zentrums innerhalb des Gesamtwerks siehe z. B. Peter Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Fontane Blätter 6, H. 44 (1987), S. 644–667, bes. S. 653–657. Zu der Bedeutung der Technik in den Romanhandlungen siehe Frank, Theodor Fontane und die Technik (wie Anm. 36), S. 178–195.

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wünschte Erfolg dieses Ausflugs hängt von der regressiven Integration von Hankels Ablage in die Wirtschaft der noch vorindustriellen Mark ab. Man hat sich z. B. bei der Umfunktionierung des Fischerhauses bemüht, eine anachronistische Illusion intakt zu halten, um sie dann als so etwas wie ein ›echtes Spreeland-Erlebnis‹ auf dem großstädtischen Tourismusmarkt anbieten zu können: »Alles zeigte, daß man die Fischer- und Schiffer-Herberge mit Geflissentlichkeit beibehalten, aber sie doch zugleich auch in ein gefälliges Gasthaus für die reichen Sportsleute vom Seglerund Ruderclub umgewandelt hatte.« (GBA EW 10, S. 84)44 Eine gewisse Bereitschaft von Seiten des Verbrauchers, an der Illusion mitzuarbeiten, hilft natürlich auch: z. B. die Geneigtheit, die Geräusche der Arbeit, die von der nebenan liegenden Werft herüber wehen, als »doch eigentlich die schönste Musik« (GBA EW 10, S. 88) wahrzunehmen. Ein Tourismus, der auf der Vermarktung idealer provinzieller Räume beruht, bringt natürlich eine unvermeidliche Ambivalenz mit sich: Einerseits existieren diese Illusionen trotz der neuen technischen Infrastruktur, die ein wesentliches Element der modernen Vernetzung Europas darstellt; andererseits sind sie nur mit Hilfe eben dieser Infrastruktur zugänglich – die Provinz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts also als modernes, marktorientiertes Simulacrum: das Spreeland als märkischer ›theme-park‹. Für die Touristen in Cécile beruht eine ähnliche, anachronistische Illusion auf einem konsequenten Missdeuten der Harz-Landschaft. Die Episode beginnt ebenfalls mit einer Bahnreise, diesmal von Berlin nach Thale, die, elliptisch erzählt, von der realistisch wahrgenommenen Metropole in eine poetisierte, von romantisch-märchenhaften Elementen und Motiven durchtränkte Landschaft hineinführt. Der Augenblick des Netzwerkwechsels lässt sich genau identifizieren. Auf der Bahnstrecke westlich der Friedrichstraße fängt Pierre von St. Arnaud an, »eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studiren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab. Er kam aber nicht weit mit seiner Orientirung und erst, als man die Lisière des Zoologischen Gartens streifte, schien er sich zurecht zu finden und sagte: ›Sieh, Cécile, das sind die Elephantenhäuser.‹« (GBA EW 9, S. 7) St. Arnauds kartographische Desorientierung findet unter dem Blick der im Morgennebel »halb gespenstisch« (GBA EW 9, S. 6) aufragenden Figur der Viktoria statt, und die Landschaft, in der er sich wieder zurechtzufinden scheint, ist keine großstädti_____________ 44

Siehe David S. Johnson, The Democratization of Leisure and the Modernities of Space and Place in Theodor Fontane’s Berlin Novels. In: German Quarterly 84 (2011), S. 61–79, hier S. 71; siehe Wolfgang Preisendanz, Reduktionsformen des Idyllischen im Roman des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Fontane). In: Hans Ulrich Seeber und Paul Gerhardt Klussmann (Hrsg.), Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bonn 1986 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 372), S. 81–92, hier S. 84.

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sche mehr, sondern eine fantastische, die jetzt die exotischen Strukturen des Zoologischen Gartens als ersten Orientierungspunkt anbietet.45 Von hier aus reisen die Touristen in eine verdoppelte Welt, die sich gleichzeitig aus zwei entgegengesetzten Perspektiven interpretieren lässt: die eine realistisch, wobei die Stadtbewohner einen Ort besuchen, der durch Eisenbahn und Telegraphie mit den kommerziellen Zentren Europas fast so gut verbunden ist wie Berlin selbst; die andere romantisch, wobei der märchenhafte Aspekt sich als Projektion der intakten vorindustriellen Provinz sofort erkennen lässt.46 Von den Besuchern werden alle Manifestationen der Moderne, insofern sie den Zwecken des Tourismus nicht nützlich sind, einfach ausgeblendet, sei es der Lärm des Thaler Bahnhofs, der Blick auf »die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik« (GBA EW 9, S. 10) oder die Präsenz der Arbeiterfamilien in ihren ärmlichen Hütten. Die Touristen übersehen auch die beinahe totale Orientierung der modernen landwirtschaftlichen Produktion von Werder bis Thale auf die Bedürfnisse des Berliner Marktes oder sogar des Weltmarktes, ganz zu schweigen von den großen Gartenfirmen, deren Inhaber, so Gordon, »mit ihren um die ganze Welt gehenden Quedlinburger BlumensaamenPacketen, ein Vermögen erworben und sich den Zucker-Millionären in der Umgegend mindestens gleichgestellt hätten« (GBA EW 9, S. 45). Es handelt sich hier also um eine anhaltende, regressive Subversion der konzentrisch vernetzten, industriellen Moderne und die illusorische Einblendung des veralteten azentrischen Gewebes vorindustrieller Produktion und lokalen Konsums. Durch die imaginäre Ausblendung aller Manifestationen der technischen und wirtschaftlichen Gegenwart verwandelt sich in Cécile die Harzlandschaft, ähnlich wie die märkische Landschaft der Wanderungen, in »einen poetisch-historischen Phantasie- und Vorstellungsraum«.47 Es _____________ 45

46

47

Zur »Karten-Passion« St. Arnauds siehe Michael Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum. Historische Raumerfahrung in Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: Cord-Friedrich Berghahn, Herbert Blume et al. (Hrsg.), Literarische Harzreisen. Bilder und Realität einer Region zwischen Romantik und Moderne, Bielefeld 2008 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 10), S. 233–256, hier S. 249f. Zum Thema ›Männer mit Landkarten‹ siehe Baker, Realism’s Empire (wie Anm. 39), S. 180. Siehe Christine Hehle, Unterweltsfahrten. Reisen als Erfahrung des Versagens im Erzählwerk Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.– 17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne, Würzburg 2000, S. 65–76, hier S. 67: »An entscheidenden Punkten ihrer Biographie setzen sich zahlreiche Figuren [in Fontanes Erzählwerk] in Bewegung – mit oder ohne Ziel, motiviert oder unmotiviert, auf dem Weg in eine veränderte Zukunft, auf der Flucht vor der Gegenwart oder in Erinnerung an die Vergangenheit. Sie geraten dabei in Räume, die ihnen nicht mehr beherrschbar erscheinen, in denen ihre Zeitwahrnehmung versagt und die äußere Bewegung ebenso wie die Vorgänge in ihrem Inneren nicht mehr gänzlich der Kontrolle durch ihr Bewußtsein unterliegen.« Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum (wie Anm. 45), S. 243.

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kann kaum ein Zufall sein, dass ausgerechnet das Bahnnetz, d. h. das emblematischste Infrastruktursystem der Moderne, im Augenblick dieser Verdoppelung der Welt plötzlich als Orientierungshilfe versagt. Solche Missdeutungen wie in Cécile stellen eine Art Widerstand gegen die Moderne dar, wobei es in solchen Augenblicken um die Wiederherstellung einer veralteten, vorindustriellen Konstellation von Stadt, Provinz und Welt geht. Von Interesse im abschließenden Teil dieser Untersuchung ist die Art und Weise, wie die semiotische Bestimmung der modernen Technik in den Romanen der 1890er Jahre destabilisiert bzw. wie die Modernisierung dieser Welt, wenn auch nur im symbolischen Sinne, verzögert wird. Diese subversiven Störungen der Semiotik der Landschaftsdarstellung finden oft an den unauffälligsten Stellen der Romanhandlungen statt. Vier Beispiele werden hier genannt. An erster Stelle handelt es sich um die Weihnachtskarte, die Effi vom Vetter Briest erhält: »Schneelandschaft mit Telegraphenstangen, auf deren Draht geduckt ein Vögelchen saß« (GBA EW 15, S. 173). Hier setzt sich eine alte Landschaft der Gegenwart entgegen, indem sie eine vernetzende Technologie der Moderne komplett integriert und nach den Prinzipien einer vormodernen – wenn auch vielleicht kitschigen – Landschaftssemiotik neu interpretiert.48 Die Darstellung auf der Weihnachtskarte scheint trotz der Präsenz der Telegraphenstangen nicht weniger romantisch als die Beschreibung einer ebenso stereotypen, durch die Technik unberührten Winterlandschaft mit Rehen zu sein, deren märchenhafter Aspekt im Roman explizit betont wird (GBA EW 15, S. 176). Es handelt sich bei der Weihnachtskarte um eine poetische Lockerung der Knoten im semiotischen Netz, die die alltägliche, funktionale Bedeutung der TelegraphieInfrastruktur sichern, sowie um deren imaginäre, regressive Integration in ein System von eindeutig nostalgischen Bedeutungen aus der vorindustriellen Zeit. Aus der einen Perspektive gehören die Telegraphenstangen eindeutig zur Infrastruktur des technischen Kommunikationsnetzes, das in der Romanhandlung eine wichtige Rolle spielt; aus der anderen spielen sie in der auf Vetter Briests Karte geschilderten imaginären Landschaft eine völlig andere Rolle und dienen dabei einer Art der Kommunikation zwischen Menschen, die mit dem schnellen Austausch von Informationen überhaupt nichts zu tun hat.49 Eine zweite poetische Integration der modernen Technologie in eine sonst vormoderne Landschaftsszene findet man am Ende des Romans, wo Effi, die sonst »so gern« (GBA EW 15, S. 102) Züge sieht, Sommerta_____________ 48 49

Vgl. Wulf Wülfing, Fontane, Bismarck und die Telegraphie. In: Fontane Blätter 52 (1992), S. 18– 31, hier S. 26. Zum Thema Telegraphie in den Romanen Irrungen, Wirrungen, Mathilde Möhring, Der Stechlin und Effi Briest siehe ebd., S. 20–26.

Die Mark Brandenburg zwischen Vormoderne und Moderne

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ge mit dem Betrachten der märkischen Landschaft um Hohen-Cremmen – mit Raps- und Kleefeldern, Lerchen, Vieh, Ziehbrunnen, Tröge und uralten Ulmen – verbringt, ohne dass die Harmonie des Bildes durch die Awesenheit des Bahndamms, durch das Kommen und Gehen der Züge und durch deren Rauchfahnen usw. überhaupt gestört wird (GBA EW 15, S. 343f.). Nicht dass Effi solche Landschaftselemente auszublenden versucht, wie z. B. die Teilnehmer an der Halensee-Landpartie in Frau Jenny Treibel, die das »von Spargelbeeten und Eisenbahndämmen durchsetzte Wüstenpanorama« (GBA EW 14, S. 131)50 konsequent ignorieren, um die Illusion einer Naturlandschaft genießen zu können, die in der Tat alles andere als unberührt ist. Im Gegenteil: Effi sucht ausgerechnet diesen »tägliche[n] Rasteplatz« in der »freie[n] Luft« aus, um »das Treiben auf dem Bahndamm verfolgen« (GBA EW 15, S. 343f.) zu können, und sie empfindet trotz der Platzierung der Eisenbahn im Blickpunkt des Bildes überhaupt keinen Widerspruch in der Komposition dieser Landschaftsszene. Ein drittes, ebenfalls als harmonische Einheit beschriebenes Landschaftsbild, das aus Spree, Baumgruppen, Schilfgürtel, Krickenten, Telegraphenstangen und -drähten und Bahndamm zusammengestellt ist, findet man im 14. Kapitel des Romans Der Stechlin (GBA EW 17, S. 165). Die Integration der im Roman immer wieder erwähnten Elemente der modernen Verkehrs- und Kommunikationstechnologie ins semiotische Netz der ursprünglichen Wasserlandschaft lässt sich hier ebenfalls als symbolische Subversion der Macht der modernen Vernetzung der Welt verstehen. Das friedliche Nebeneinander von Natur und Technik stellt hier einen radikalen Gegensatz zu Dubslavs ausgesprochener Abneigung gegen die wirtschaftliche und geographische Logik des »Industriestaat[es]« (GBA EW 17, S. 72), sowie zu seinem strengem Aufrechthalten der Grenze zwischen alter und neuer Zeit dar. Für ihn, wie für Krippenstapel, besteht das Wesen der märkischen Landschaft seit Jahrhunderten aus nur vier unveränderten Elementen: »Dorf, Kirche, Wald, See«, wobei der See, das Wasser, das schon vor den Menschen, vor dem Land und sogar vor dem Anfang der Zeit da war, die »pièce de résistance« (GBA EW 17, S. 62) darstellt. Der Kontrast mit den Bahnhöfen, Kasernen, Kirchhöfen und Eisengießereien, den »vier Symbolzonen der Moderne«,51 aus denen die in den Wanderungen beschriebene Landschaft der Oranienburger Vorstadt zusammengesetzt ist, könnte kaum deutlicher sein. Der Stechlin stellt Fontanes wohl am breitesten angelegtes Panorama der neu vernetzten Mark Brandenburg dar. Wir lesen in diesem Spätwerk _____________ 50 51

Hierzu Johnson, The Democratization of Leisure (wie Anm. 44), S. 74. Opitz, Die ›Wurstmaschine‹ (wie Anm. 5), S. 55.

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David Darby

von der Industrialisierung märkischer Landschaften (sei es in Berlin, Spindlersfeld, Globsow oder anderswo) sowie von Bahn- und Kommunikationsverbindungen, die in fast jeder Phase der Romanhandlung von Bedeutung sind. Trotz alledem wird ganz am Ende des Romans der allgemein vermutete unpoetische Charakter der Region, die »Dürftigkeit und Prosa dieser Gegenden« (GBA EW 17, S. 454), immer noch subversiv verneint, und zwar jetzt von den Spatzen, die nach Dubslavs Beerdigung ausgerechnet auf den Telegraphendrähten quirilieren. Im allerletzten märkischen Landschaftsbild des Stechlin-Romans zeugt ihr Gesang – allen Manifestationen der technologisch und wirtschaftlich vernetzten Neuzeit zum Trotz – von dem Fortbestehen einer unscheinbaren, jedoch zeitlosen Poesie der »märkische[n] Frühlingslandschaft« (GBA EW 17, S. 454). Dass es sich hier oder bei den anderen zitierten Textstellen um die Wiederherstellung der unberührten Mark Brandenburg oder sogar um eine Rückkehr zu einem mythischen Anfang handelt, kann man natürlich nicht behaupten. Solche flüchtigen Gesten in Fontanes späten Romanen fungieren eher als fragmentarische Versuche, Elemente dieser Landschaften in ein Netzwerk poetischer Konnotationen zu integrieren, so wie das Projekt der Wanderungen selbst durch die Methode, »Vergangenes und Vergehendes kartographisch zu fixieren und topographisch zu bannen«, zum großen Teil als der breit angelegte »Versuch einer Reterritorialisierung« zu verstehen ist.52 Dabei dürfte aber von einer bescheidenen, momentanen Verzögerung, wenn auch nur auf symbolischer Ebene, der »zweiten Schöpfung«53 schon die Rede sein. Zeugen dieser Naturszene sind der Baron Berchtesgaden und der alte Graf, die gerade von der Stechliner Dorfkirche kommen. In diesen wenigen Zeilen gelingt es den beiden älteren Herren, die den von der Dorfkirche bewahrten »Zauber historischer Kontinuität« sowie die schlichte Poesie dieser märkischen Landschaft zu schätzen wissen, die Vollendung der alles verändernden modernen, prosaischen Vernetzung der Welt trotz allem noch ein Stück hinauszuschieben.

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Ewert, Fontanes Wanderungen durch die märkische Historiotopographie (wie Anm. 8), S. 483. Zur »Reterritorialisierungstendenz« in Cécile siehe Ewert, Der Harz als Geschichts- und Erinnerungsraum (wie Anm. 45), S. 248. Ich beziehe mich hier auf den Titel der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, »Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart«, 31. Juli bis 21. Oktober 2002.

III. Globale Vernetzungen – eurozentrische symbolische Landkarten

»Quer durch Afrika, was soll das heißen?« Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane Daniela Gretz

Vor allem aus der Perspektive postkolonialer Theorieansätze rückt im Rahmen der Realismusforschung zunehmend die literarische Verarbeitung der Neuvermessung der Welt im Zeitalter kapitalistischer Globalisierung und kolonialer Expansion ins Zentrum des Interesses, die auch die Konzeption dieses Sammelbandes und der zugrundeliegenden Tagung mittels der räumlichen Dreierrelation von »Metropole, Provinz und Welt« adressiert. Im Anschluss daran beschäftigt sich der folgende Beitrag mit einer spezifischen Ausprägung von Weltbezug, die in diesem Zusammenhang besonders signifikant scheint: Es handelt sich um literarische Bezugnahmen auf Afrika in Texten Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes, mit denen der Rekurs auf ein je unterschiedlich zu verstehendes und meist mit der Provinz assoziiertes ›inneres Afrika‹ verbunden ist, der einerseits einen Reflexionsraum für innereuropäische Zivilisationskritik eröffnet, andererseits jedoch die letztlich eurozentrische Ausrichtung des realistischen Weltbezugs verdeutlicht. 1.

Deutscher Afrikanismus im Zeitschriftendiskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Afrika stellt als ›Ort des ganz Anderen‹ aus europäischer Perspektive traditionell einen Imaginationsraum dar, der als Gegenwelt gleichermaßen der Identitätsstiftung qua Abgrenzung dienen kann wie als Fluchtpunkt innereuropäischer Zivilisationskritik, was sich im Anschluss an Edward Saids Begriff des »Orientalism«1 und Toni Morrisons auf den amerikanischen Afrika-Diskurs bezogenen Begriff des »Africanism«2 auch als eine deut_____________ 1 2

Siehe Edward W. Said, Orientalism, New York 1979. Siehe Toni Morrison, Playing in the dark. Whiteness and the Literary Imagination, Cambridge 1992, S. 38: »What rose up out of collective needs to allay internal fears and to rationalize

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Daniela Gretz

sche Form von Afrikanismus beschreiben lässt. Dies hängt damit zusammen, dass vor allem das Innere Afrikas bis weit ins 19. Jahrhundert, wie die Karte aus Petermanns Mitteilungen von 1875 (Abb. 1) illustriert, noch als weitgehend unerforscht und als einer der letzten ›weißen Flecke‹ auf der Landkarte gilt3 und sich auch deshalb besonders als Imaginationsraum für Projektionen aller Art – nicht zuletzt für Kolonialphantasien4 – eignet.

Abb. 1: Kartenskizze von August Petermann; Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie von Dr. A. Petermann (1875), Tafel 1.

Gleichwohl wird Afrika in dieser Zeit zum Gegenstand sukzessiver wissenschaftlicher Erforschung und somit auch zu einem Wissensraum, der _____________

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external exploitation was an American Africanism – a fabricated brew of darkness, otherness, alarm, and desire that is uniquely American. (There also exists, of course, a European Africanism with a counterpart in colonial literature.)« Siehe Marion Schmid, die das reziproke Verhältnis von geographischer Erforschung und kartographischer Imagination untersucht und dabei zu dem Schluss kommt: »Als weißer Fleck taucht unentdecktes und unerforschtes Land erst relativ spät in den Karten auf, erst zu einem Zeitpunkt, als es weiße Flecken, Metapher für zwar vermutetes, aber noch nicht gefundenes Land, kaum noch gibt, dann erst als wissenschaftliche Genauigkeit schon so viel vermessen und kartographiert hatte, daß redlicherweise nur noch kleinste Landstriche mit weißen Flecken markiert werden mußten.« (Marion Schmid, Der weiße Fleck auf der Landkarte. In: Karl-Heinz Kohl (Hrsg.), Mythen der neuen Welt, Berlin 1982, S. 264–271, hier S. 264) Siehe dazu Susanne Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999.

Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum

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den alten Imaginationsraum allerdings nicht vollständig ablöst, basiert doch die Beschäftigung mit dem afrikanischen Kontinent bei Wissenschaftlern wie Autoren stets auf durch Lektüre eingeübten eigenkulturellen Wahrnehmungsmustern. Dabei sind es seit ca. 1850 neben den auch in Deutschland populären englischen Afrika-Forschern Richard Francis Burton, John Hanning Speke, David Livingston und Henry Morton Stanley vor allem deutsche Afrika-Forscher wie Heinrich Barth, Eduard Vogel, Gerhard Rohlfs, Georg Schweinfurth, Gustav Nachtigal, Paul Pogge und Hermann von Wissmann, die sich an der Exploration des Inneren Afrikas beteiligen. Diese wissenschaftliche Vermessung Afrikas mündet bekanntlich im sogenannten ›Scramble for Africa‹, in dessen Kontext auch das Deutsche Reich seine afrikanischen Kolonien erwirbt. Im Hinblick auf die Afrika-Rekurse in den im weiteren Verlauf diskutierten Texten Raabes und Fontanes ist von Interesse, dass Bildungspresse und Familienzeitschriften den gemeinsamen Publikationskontext für den populärwissenschaftlichen, unterhaltsam aufbereiteten (prä-)kolonialen Afrika-Diskurs und die an diesem partizipierenden literarischen Texte des Realismus darstellen,5 die im weiteren Verlauf thematisiert werden sollen: Wilhelm Raabes Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge erscheint 1867 in Friedrich Wilhelm Hackländers illustrierter Familienzeitschrift Über Land und Meer6 und lässt sich, wie zu zeigen sein wird, u. a. als Roman über den deutschen Afrika-Diskurs lesen, der in Hagebuchers afrikanischem Abenteuer ironisch verdichtet wird. Auch Meister Autor oder die Geschichten vom versunkenen Garten wird ursprünglich für diesen Publikationskontext konzipiert,7 selbst wenn der Text letztlich nicht dort publiziert wird, gibt er erneut einen Einblick in die Wahrnehmungsmuster und Projektionsmechanismen des zeitgenössischen Afrika-Diskurses, die in den Zeitschriften _____________ 5

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7

Zum medialen Publikationskontext realistischer Literatur in der Zeitschriftenkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe u. a. Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998; Günter Butzer, Programmatischer oder poetischer Realismus? Zur Bedeutung der Massenkommunikation für das Verständnis der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25,2 (2000), S. 206–217; ders., Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe et al. (Hrsg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 115–135; Manuela Günter, Die Medien des Realismus. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Werke – Autoren, Darmstadt 2007, S. 45– 62; dies., Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008. Wilhelm Raabe, Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge. In: Über Land und Meer. Allgemeine illustrirte Zeitung, 18 (1867), S. 518–522, 533–535, 549–551, 565–569, 581–585, 597– 602, 613–616, 629–634, 645–650, 661–664, 677–680, 693–696, 709–711, 725–730, 741– 746, 758–760, 773–778, 789–792, 805–808, 821–825. Aus diesem Text zitiere ich im weiteren Verlauf mittels der Angabe der Sigle ›ÜLM‹ und der Seitenzahl in nachgestellter Klammer. Siehe dazu den Kommentar in BA 11, S. 454.

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Daniela Gretz

zu beobachten sind, allerdings diesmal nicht im Rekurs auf die Gestalt eines zurückgekehrten Afrika-Reisenden, sondern anhand der Figur des in Deutschland lebenden Afrikaners Ceretto Meyer. Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte, 1891 in der Deutschen Roman-Zeitung vorabgedruckt,8 die u. a. für die Publikation populärer Kolonialromane bekannt war, spielt schließlich nicht nur im Titel mit den Genrekonventionen des Publikationskontextes.9 Theodor Fontanes ›Frauenromane‹ Cécile, 1886 im Universum veröffentlicht,10 und Effi Briest, 1894/95 in Julius Rodenbergs Deutscher Rundschau erschienen,11 sowie Die Poggenpuhls, 1895/96 in Vom Fels zum Meer publiziert,12 verarbeiten schließlich nicht nur, wie Rolf Parr13 gezeigt hat, »aktualhistorisch verfüg- und abrufbare[s] Konversationswissen« aus den _____________ 8

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Wilhelm Raabe, Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. In: Deutsche Roman-Zeitung (1891) Nr. 1, Sp. 1–30, Nr. 2, Sp. 73–94, Nr. 3, Sp. 145–166, Nr. 4, Sp. 217–238, Nr. 5, Sp. 289– 314, Nr. 6, Sp. 361–384. Aus diesem Text zitiere ich im weiteren Verlauf mittels der Angabe der Sigle ›DRZ‹ und der Spaltenzahl in nachgestellter Klammer. Siehe dazu: Wolfgang Struck, See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten. In: JbRG (1999), S. 60–70; Manuela Günter, Raabes ›Stopfkuchen‹. Zum Verhältnis von Körpergedächtnis und Massenmedien in der frühen Moderne. In: Bettina Bannasch und Günter Butzer (Hrsg.), Übung und Affekt. Aspekte des Körpergedächtnisses, Berlin 2007, S. 99–119; dies., Mund-Art. Grotesker Realismus in Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. In: KultuRRevolution 48 (2004), S. 11–19. Im Anschluss an das ironische Spiel mit den Genrekonventionen des Kolonial- und des Kriminalromans ließe sich zudem zeigen, dass die Struktur des Textes, der im Fortsetzungsdruck erscheint, die medialen Anforderungen des Zeitschriftengenres zugleich erfüllt und ad absurdum führt, indem jede der einzelnen Folgen zwar eine eigene Binnengeschichte (die historische Geschichte der Roten Schanze, die Jugendgeschichte Heinrichs etc.), erzählt, aber dabei meist nicht nur kein eigener Spannungsbogen erzeugt wird, sondern die einzelnen Episoden auch eher als Digressionen erscheinen, die über weite Strecken die eigentliche Detektion der Mordgeschichte und damit den übergeordneten Spannungsbogen in den Hintergrund rücken lassen. Siehe dazu folgende Vorgabe, die vermutlich aus der Redaktion der Gartenlaube stammt: »Die Handlung muß stetig an Spannung zunehmen und in jedem Kapitel muß irgendeine Wendung in der Fabel, ein Ereignis oder dergleichen eintreten.« (zitiert nach Helmstetter, Die Geburt des Realismus [wie Anm. 5], S. 75) Theodor Fontane, Cécile. In: Universum. Illustrirter Hausschatz für Poesie, Natur und Welt, Literatur, Kunst und Wissenschaft (1886), S. 1–12, 49–60, 98–110, 146–156, 217–228, 269–282. Aus diesem Text zitiere ich im weiteren Verlauf mittels der Angabe der Sigle ›UN‹ und der Seitenzahl in nachgestellter Klammer. Theodor Fontane, Effi Briest. In: Deutsche Rundschau 81 (1894), S. 1–32, 161–191, 321–354, und Deutsche Rundschau 82 (1895), S. 1–35, 161–196, 321–359. Aus diesem Text zitiere ich im weiteren Verlauf mittels der Angabe der Sigle ›DR‹ und der Seitenzahl in nachgestellter Klammer. Theodor Fontane, Die Poggenpuhls. In: Vom Fels zum Meer, XV. Jahrgang, Bd. 1 (Oktober 1895 bis März 1896), S. 24–27, 93–99, 134–139, 169–175, 216–227, 258–264, 308–316. Aus diesem Text zitiere ich im weiteren Verlauf mittels der Angabe der Sigle ›VFM‹ und der Seitenzahl in nachgestellter Klammer. Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 212–228, hier S. 213.

Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum

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Kolonien, sondern werden, worauf später ausführlicher Bezug genommen wird, in ihrem unmittelbaren Publikationskontext der jeweiligen Zeitschrift durch aktuelle Berichterstattung über Afrika arrondiert, die sich auf deren Lektüre auswirkt. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass das topographische Verhältnis von Nähe und Ferne, von Eigenem und Fremdem, wie Gerhart von Graevenitz gezeigt hat,14 für die meisten dieser Zeitschriften konstitutiv ist, was sich exemplarisch an Titelvignette, Prospect und Programm von Über Land und Meer verdeutlichen lässt.

Abb. 2: Titelvignette von Über Land und Meer.

So steht im Zentrum der Titelvignette (Abb. 2) die Weltkugel als Symbol des Weltverkehrs und des durch die Zeitschrift repräsentierten Kosmos des Wissens, dessen Bandbereite rechts und links im Hintergrund mittels der Gegenüberstellung von Burgruine/heimatlichem Wald und Pyramiden/Palmen angedeutet wird, was die kontrapunktische Funktion Afrikas in Bezug auf die europäische Heimat unterstreicht. Der Prospect15 reflek_____________ 14

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Gerhart von Graevenitz, Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen ›Bildungspresse‹ des 19. Jahrhunderts. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. XV), S. 283–304. »›Ueber Land und Meer‹ schwingt sich der Gedanke mit des Blitzes Schnelligkeit und des Blitzes Zündkraft, seit der Draht des Telegraphen die entferntesten Pole der Erde verbindet. ›Ueber Land und Meer‹ soll darum das Blatt heißen, das seine Leser durch BilderTelegramme mit allen Welttheilen zu verbinden die große Aufgabe sich gestellt hat. Seit das Reisen sich zum Flug durch weite Länderstrecken umgestaltet, seit der Erdball sich mit einem eisernen Schienenbande umgürtet hat, seit die Meere von zahlreichen Riesendampfern

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Daniela Gretz

tiert parallel dazu im Rekurs auf den »Draht des Telegraphen«, das »eiserne Schienenband« und die »Riesendampfer«, die allesamt die »Organe« des Welt-»Kolosses« »Riesennerven gleich« verbinden, die Effekte der nicht zuletzt medial und infrastrukturell betriebenen Globalisierung auf die Literatur.16 Das Programm der Zeitschrift zeichnet sich mit seinen vielfältigen Inhalten schließlich durch den enzyklopädischen Anspruch aus, das globale Weltwissen der Gegenwart gleichermaßen unterhaltend wie belehrend zusammenzufassen. Infolgedessen wird der Zeitungskontext und das so popularisierte zeitgenössische Wissen nicht nur, wie Axel Dunker jüngst angeregt hat,17 zum Paratext der literarischen Texte, sondern die Zeitschriften bilden insgesamt ein hochgradig komplexes Gefüge von Intertexten. Dieses muss im Zuge der wissenschaftlichen Lektüre der literarischen realistischen Texte, die im Rahmen dieser Zeitschriften erschienen sind, auf mikrostruktureller wie makrostruktureller Ebene aus produktions- wie rezeptionsästhetischer Perspektive berücksichtigt werden. Konkret bedeutet dies im vorliegenden Fall, dass Raabe und Fontane auf ihre bekanntermaßen ausgiebige Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre als Informationsquelle über Afrika zurückgreifen konnten und im Umkehrschluss Allusionen in ihren Texten ausreichten, um entsprechende Lektürefrüchte des zeitgenössischen Publikums abzurufen, die zudem z. T. durch schlichtes Vor- und Zurückblättern im Heft vermehrt werden konnten. Diese Möglichkeit ist den Texten selbstreflexiv auf vielfältige Weise eingeschrieben. So ist Leonhard Hagebucher in Abu Telfan im Rahmen seiner Beteiligung bei der »Durchstechung der Landenge von Suez« primär mit dem Redigieren von »Zeitungsartikel[n] für alle möglichen europäischen und außereuropäischen Blätter« beschäftigt, »um nicht nur den Kanal, sondern auch die öffentliche Meinung in das rechte Bett zu leiten« (ÜLM, S. 534), und auch die daheimgebliebenen Bumsdorfer ordnen seine _____________

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durchfurcht werden, seit die größte Erfindung des Jahrhunderts uns erlaubt, selbst dem kühnsten Reisenden noch die Gedanken vorauszuschleudern, seit man unter den schäumenden Wogen des Meeres die Länder durch gigantische Taue verbindet, Riesennerven gleich, die den getrennten Organismus des Kolosses verbinden, um jede Idee allen Theilen des gewaltigen Erdkörpers zu gleicher Zeit mitzutheilen, seit die endlosen Flächen der Wüste, die Palmenwälder Indiens, die Eisregionen des Nordens, die Urwälder Amerikas keine Entfernung mehr für uns bieten, hat die Literatur einen Umschwung erlebt, wie nie zuvor und vielleicht nie wieder.« In: Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung 1 (1858), o. S. Siehe dazu Patrick Ramponi, Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hrsg.), Kulturelle Ordnungen in der Erzählprosa des Realismus, Würzburg 2007, S. 17–59. Axel Dunker, Die Vervielfältigung des medialen Wissens über die Fremde. (Post-)Koloniale Medien des Realismus. In: Daniela Gretz (Hrsg.), Medialer Realismus, Freiburg im Breisgau 2011, S. 127– 144.

Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum

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Heimkehrergeschichte sofort in den entsprechenden medialen Kontext ein: »So etwas ist ja noch gar nicht dagewesen; kein Mensch hat es für möglich gehalten, das geht über alle Zeitungsblätter und Romangeschichten […], die ›Gartenlaube‹ und den ganzen Alexander Dumas.« (ÜLM, S. 519) In Meister Autor haben wir es in der Person des Barons von Schmidt mit einem Schriftsteller zu tun, dessen »niedliche Novellen […] in verschiedenen Blättern abgedruckt worden« (BA 11, S. 16) sind, der aber stets auf erzählerische »Schwergeburtshülfe« (BA 11, S. 20) durch den titelgebenden »Meister Autor Kunemund« angewiesen bleibt; im Stopfkuchen ist Briefträger Störzer täglich u. a. mit dem Austragen von »Gartenlauben und Modezeitungen beschäftigt« (DRZ, Sp. 10), und Eduard findet seinen alten Freund Schaumann nicht ganz zufällig beim Wiedersehen in die Zeitungslektüre vertieft (DRZ, Sp. 76). Auch Fontanes Figuren erweisen sich als eifrige Zeitungsleser. So beobachtet Gordon-Leslie eingangs Cécile ausdrücklich »über seine Zeitung fort« (UN, S. 4), in der er gerade Artikel über Turkmenien, Indien und Persien liest, Effi empfängt über Gieshübler, der ein »eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser« ist und an der »Spitze eines Journalzirkels steht«, täglich »ein großes, weißes Couvert […] mit allerhand Blättern und Zeitungen« (DR 1, S. 326), und auch in den Poggenpuhls bringt der Briefträger u. a. ein »Zeitungsblatt« (VFM, S. 94), aus dem das Dienstmädchen Friederike womöglich auch ihre einschlägigen Lektürekenntnisse über Afrika und den Orient bezieht (VFM, S. 135). Im Folgenden gilt es entsprechend, den Zeitschriftendiskurs zu Afrika für die konkrete Lektüre dieser Texte fruchtbar zu machen. Prinzipiell bleibt der Rekurs auf Afrika bei Raabe und Fontane im Rahmen der Dreierrelation von Zentrum, Peripherie und Welt an eine bestimmte, meist zivilisationskritische Funktion im Hinblick auf den innerdeutschen Diskurs gebunden. Signifikant ist in diesem Zusammenhang jeweils ein korrelierender oder kontrastierender Vergleich afrikanischer und deutscher Verhältnisse. Bei Raabe gründet sich dieser, wie Dirk Göttsche herausgearbeitet hat, u. a. auf den »Chronotopos der Heimkehr«,18 mittels dessen eine Umkehrung der üblichen ethnographischen Blickrichtung erfolgt und im Rahmen einer inversen Ethnographie eine kritisch verfremdende Perspektive auf die heimatliche Philisterwelt entfaltet wird, die so zum eigentlichen Untersuchungsobjekt avanciert.19 Bei Fontane hingegen erscheinen _____________ 18

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Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 46. Siehe dazu auch ders., Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. In: JbRG (2005), S. 53–73. Siehe dazu auch Doris Bachmann, Die Dritte Welt der Literatur. Eine ethnologische Methodenkritik literaturwissenschaftlichen Interpretierens, am Beispiel von Wilhelm Raabes Roman ›Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge‹. In: JbRG (1979), S. 27–71, bes. S. 52.

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Daniela Gretz

Vergleiche mit Afrika auf den ersten Blick weniger als grundlegendes Strukturprinzip der Texte, sondern entspringen häufig spontanen und stets uneingelösten Fluchtphantasien, in deren Kontext sich diskursives Wissen mit exotistischen Sehnsüchten und Projektionen verbindet; sie wirken entsprechend eher marginal. Es soll allerdings im Folgenden gezeigt werden, dass auch bei Fontane die scheinbar marginalen AfrikaRekurse letztlich eine strukturbildende Funktion haben können. 2.

Afrika als Wissens- und Imaginationsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane

Insgesamt ist Wilhelm Raabes Abu Telfan wohl derjenige Text, der sich am deutlichsten in den zeitgenössischen Afrika-Diskurs einschreibt, weckt er doch bereits im Titel die Erwartungshaltung, es handele sich um einen abenteuerlichen Reiseroman, der den Leser ins ferne Afrika entführe. Allerdings nur um diese Erwartung anschließend gründlich zu enttäuschen, denn es geht im Roman bekanntlich keineswegs um Afrika, sondern allenfalls u. a. auch um den zeitgenössischen deutschen AfrikaDiskurs,20 der sich in Hagebuchers Afrika-Aufenthalt verdichtet, der signifikanterweise nur indirekt, über nachträgliche Berichte des Heimkehrers, thematisiert wird. So bildet die Reiseroute Hagebuchers vom Suezkanal den Nil hinauf bis ins Innere Afrikas die zeitgenössischen Schwerpunkte der Zeitschriftenberichterstattung über Afrika ab.21 Hagebuchers Schicksal als im Inneren Afrikas verschollener weißer Sklave basiert u. a. auf der Amalgamierung von Erlebnissen Afrika-Reisender wie Eduard Vogel,22 Albert Dulk23 und William George Browne,24 und zu vielen Textpassagen _____________ 20

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Siehe Daniela Gretz, Das innere Afrika des Realismus. Wilhelm Raabes ›Abu Telfan‹ (1867) und der zeitgenössische Afrikadiskurs. In: Michael Neumann und Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 197–216; Florian Krobb, Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt, Würzburg 2009, S. 111: »Raabe begibt sich in diesen Diskurs aber augenscheinlich primär, um dessen Leitprämissen in Frage zu stellen«. Siehe dazu Karl Jürgen Roth, Die außereuropäische Welt in deutschsprachigen Familienzeitschriften vor der Reichsgründung, St. Katharinen 1996 (= Siegener Studien zur Entwicklung der materiellen Kultur, Bd. 16). Siehe Gerd Biegel, Die Quelle des Nils erforschen und das Mondgebirge suchen. Das Schicksal deutscher Afrikareisender im 19. Jahrhundert und die Aktualität von Wilhelm Raabes Roman ›Abu Telfan‹. In: Hubert Winkels (Hrsg.), Ralf Rothmann trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis – das Ereignis und die Folgen, Göttingen 2005, S. 68–116. Siehe Astrid Schweimler, Tumurkieland. Albert Dulk – ein mögliches Vorbild für Leonhard Hagebucher? In: JbRG (1991), S. 82–94. Siehe Jörg Thunecke, Deutschlands afrikanische Gefangenschaft. Die ›Neue Ära‹ im Spiegel von Wilhelm Raabes Roman ›Abu Telfan‹. In: E. Iwasaki (Hrsg.), Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Kongresses der Internationalen Vereinigung

Afrika als Wissens-, Imaginations- und Reflexionsraum

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lassen sich in den Zeitschriften einschlägige Parallelen finden, wie die Abbildung des afrikareisenden Ehepaars Baker (Abb. 3), die, wie der zugehörige Reisebericht,25 mit Hagebuchers satirischer Beschreibung der Drawboddys korrespondiert:

Abb. 3: »Die Reise in der Wüste«, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten deutschen Monatshefte. Ein Familienbuch für das Gesammte geistige Leben der Gegenwart. 23. Bd. (1868), S. 409.

Mrs. Lavinia Drawboddy in weiten roten türkischen Hosen, einer weiten gelblichen Flanelltunika und mit einer blauen Drahtbrille auf einer Kamelstute; – Mr. Augustus Montague Drawboddy ganz in gelbem Flanell, mit Revolver, Doppelbüchse, Jagdmesser auf dem merkwürdigsten und zottigsten aller Ponys […], der mehr als mich in seinem Leben taxiert hatte, schätzte meinen Wert auf sechs Schnüre böhmischer Glasperlen, zwei königlich großbritannische ausrangierte Perkussionsmusketen, drei Solinger Faschinenmesser, zwölf Pfund Tabak und sechs Flaschen Rum. Mrs. Drawboddy gestand ein, daß man wohl noch ein Exemplar von Bunyans The Pilgrims Progress zulegen könne, welcher letztere generöse Vorschlag jedoch von Tumurkieland sehr kühl aufgenommen wurde, ja sogar beinahe allen weitern Verhandlungen ein Ende gemacht hätte. (ÜLM, S. 583)

Besonders deutlich wird die Montage stereotyper Versatzstücke des Afrika-Diskurses in Hagebuchers eher kursorischer Beschreibung der Afrika_____________ 25

für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG). Bd. 9, München 1991, S. 32– 44. Sir S. W. Baker und seine Jagdabenteuer in Abyssinien. In: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 23 (1868), S. 403–410, 523–530.

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ner als »übelduftende Neger und Negerinnen mit sehr regelmäßigen Affengesichtern« (ÜLM, S. 534) und der Charakterisierung ihrer barbarischen Lebensweise, die wirklich keines der gängigen Klischees auslässt. Afrika fungiert an dieser Stelle im Anschluss an den kolonialen AfrikaDiskurs, wenn auch in ironisierter, weil überzeichneter Form, als ex negativo identitätsstiftender Konterpart zu den heimatlichen Bürgeridealen von Reinlichkeit, Fleiß, Ordnung und Kultur. Nicht zuletzt die Erwartungshaltung der Daheimgebliebenen, mit denen sich der Heimkehrer konfrontiert sieht – von Nasenring und Tätowierungen über materielle Erträge bis hin zu abenteuerlichen Reise-Erzählungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen – führen noch einmal eindringlich typische Elemente des zeitgenössischen deutschen Afrika-Diskurses vor Augen. Aufschlussreich ist auch das der Buchausgabe hinzugefügte Vorwort: Ich bitte ganz gehorsamst, weder den Ort Abu Telfan noch das Tumurkieland auf der Karte von Afrika zu suchen; und was das Mondgebirge anbetrifft, so weiß ein jeder ebensogut als ich, daß die Entdecker durchaus noch nicht einig sind, ob sie dasselbe wirklich entdeckt haben. Einige wollen an der Stelle, wo ältere Geographen es notierten, einen großen Sumpf, andere eine ausgedehnte Salzwüste und wieder andere nur einen unbedeutenden Hügelzug gefunden haben, welches alles keineswegs hindert, daß ich für meinen Teil unbedingt an es glaube. – (BA 7, S. 5)

In diesem Vorwort werden, ironisch reflektiert, just jene zeitgenössischen Theorien zu Mondgebirge und Nilquellen aufgerufen, die die Leser des Vorabdrucks noch im Zuge der Lektüre aus dem Zeitschriftenkontext selbst ergänzen konnten. Eine solche (mit einer Formulierung Dirk Göttsches) »satirische Mimikry«26 des Afrika-Diskurses prägt auch den skandalösen Vortrag Hagebuchers »Über das innere Afrika und das Verhältnis des europäischen Menschen zu demselben« (ÜLM, S. 661), den der Erzähler als Zentrum des gesamten Romans ausweist. Von diesem Vortrag erfährt der Leser nur, dass die Erwartungshaltung der Zuhörer, die sich durch eine »Lust am Kontrast« (ÜLM, S. 663) auszeichnet, nur bedingt erfüllt wird. Denn Hagebucher macht zwar in der Tat »Vergleichungen«, allerdings »solche, welche nur einen ungewöhnlich verworfenen deutschen Staatsbürger und Untertan angenehm berühren konnten«, weil er nämlich »von den Verhältnissen des Tumurkielandes wie von denen der eigenen süßen Heimat zu reden« (ÜLM, S. 663) sich erlaubt, wie dies im Verlauf des Romans u. a. auch noch Nikola von Einstein und Vetter Wassertreter tun, die die eigene Situation je unterschiedlich mit Hagebuchers afrikanischer Gefangenschaft gleichsetzen. Diese Art von Vergleichen führt im Gegensatz zum Afrika-Diskurs der Zeit jedoch gerade nicht da_____________ 26

Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik (wie Anm. 18), S. 47.

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zu, dass eine grundlegende Überlegenheit der europäischen Zivilisation und des europäischen Menschen konstatiert wird. Umgekehrt implizieren die Vergleiche, das subversive Potential der Mimikry27 nutzend, eine weitgehend negative Angleichung,28 wobei die Verhältnisse der postrevolutionären deutschen Zivilisation – Kleinstaaterei, Korruption und Gier des Adels, vorauseilender Gehorsam von Beamten und Protonormalismus der Philisterwelt – als »inneres Afrika« die afrikanische Barbarei in vielem sogar noch zu übertreffen scheinen, wie es u. a. folgende ironische Äußerung Nikola von Einsteins kalauernd verdeutlicht: Unsere Galatage heben uns hoch über das Gallaland hinaus, mit unsern hohen Geburtstagen kann keine Herrlichkeit an der Gold- und Pfefferküste konkurrieren, und die noch höheren Besuche aus allen himmlischen Reichen wären imstande, das innerste Afrika vor Neid nach außen zu kehren, wenn es nur die geringste Ahnung von ihrer Importance hätte. [...] Und immer wird’s wieder Frühjahr und immer wieder Sommer und immer wieder Winter; aber kein Herr van der Mook will an unserm Horizonte aufgehen, um uns von diesem sanften, mit Sammet ausgeschlagenen Elend zu befreien! (ÜLM, S. 535)

Signifikant ist hier vor allem die Bemerkung, dass sich angesichts der Verhältnisse in Deutschland »das innerste Afrika vor Neid nach außen« kehren würde, da hier die Rede vom »inneren Afrika« neben der wörtlichgeographischen jene metaphorische Bedeutung annimmt, die ihr Jean Paul in Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele zugeschrieben hat: Nur im Ich wohnt Entgegengesetztes, neben der Einheit und Verknüpfung, indes das Äußere nur erst in ihm den Schein derselben annimmt, und zweitens die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, die es außen anschaut und innen selber besitzt. Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika, auslassen.29

Dabei korrespondiert das Entgegengesetzte im menschlichen Ich mit den in Abu Telfan thematisierten ›Gegensätzen der Welt‹ im zeitgenössischen Afrika-Diskurs. Somit wird der anzitierten subjekttheoretischen Lesart des ›wahren inneren Afrika‹ bei Raabe intertextuell eine kulturtheoretische Lesart hinzugefügt, die verdeutlicht, dass beide nicht wirklich voneinander zu trennen, sondern über komplexe Spiegelungsverhältnisse miteinander verbunden sind, mittels derer das mit dem Prozess der Zivilisation konsti_____________ 27 28 29

Siehe Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 125–136, 151–180. Siehe dazu auch Peter J. Brenner, Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und Entfremdung der Heimat in Raabes ›Abu Telfan‹. In: JbRG (1989), S. 45–62. Jean Paul, Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele [1825]. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abt. I, Bd. 6. 4. Aufl., München 1987, S. 1105–1236, hier S. 1182.

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tutiv verbundene ›wahre innere Afrika‹ »nach außen gekehrt« und als Anderes des geographischen (Inneren) Afrikas zur Identitätsbildung qua Abgrenzung abgespalten wird.30 Resultiert im Afrika-Diskurs der Familienzeitschriften aus den strukturbildenden Vergleichungen die Forderung nach der Kolonisierung des geographischen Afrikas, so thematisiert der Roman folgerichtig die Forderung nach einer ›Kolonisierung‹ des eigenen, inneren Afrikas, mittels derer Hagebucher das »Abc des Lebens« und der Zivilisation neu erlernen soll, wobei ihm signifikanterweise die Lektüre »politische[r] und literarische[r] Zeitungen und Journale bis zum Jahr achtzehnhundertundfünfzig rückwärts« (ÜLM, S. 648) von Nutzen sein soll. Dies wird Hagebucher, der im Text durchgängig als »Afrikaner« apostrophiert wird, allerdings nicht gelingen, da er sich als ›Figur des Dritten‹31 gerade nicht mehr in die gängigen binären Wahrnehmungsschemata des Afrika-Diskurses einordnen lässt, die eine rigide Grenzziehung zwischen Wilden und Zivilisierten zu etablieren suchen.32 _____________ 30

31 32

An diesem Punkt wäre der ansonsten instruktiven Lesart Matthias Fiedlers zu widersprechen, der konstatiert, dass es sich trotz aller Ironie bei der Fortschreibung der AfrikaKlischees zu Beginn des Romans »um eine unbewusste Einschreibung in den kolonialen Diskurs der Zeit handele«, wenn Raabe »ohne ironische Vorzeichen« »zur Verdeutlichung der Kritik an der heimatlichen Erstarrung und Bewegungslosigkeit die afrikanische Ferne im Bezugrahmen nationaler Selbstbildung als Abgrenzungskandidaten einsetzt« (Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln et al. 2005, S. 198). Gerade der herausgearbeitete ironische Rückgriff auf Jean Pauls Metaphorik vom ›wahren inneren Afrika‹, die genutzt wird, um das dem Afrika-Diskurs zugrundeliegende Wahrnehmungsmuster und die mit diesem verbundenen Spiegelungs- und Projektionsverhältnisse schlaglichtartig zu erhellen, verdeutlicht, dass Raabes Einschreibung in den Afrika-Diskurs zur Kritik der innerdeutschen Verhältnisse hier durchaus bewusst erfolgt und dabei nicht zuletzt auch das Konstruktionsprinzip des Romans selbst reflektiert wird. Siehe allgemein Eva Esslinger, Tobias Schlechtriemen et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein Paradigma der Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2010. Insofern widerspricht Hagebucher als ›Figur des Dritten‹ im Roman nachdrücklich Christof Hamanns jüngster Lesart des Romans: »Wenn es um die fernen Fremden geht, dann verfällt Raabe zumindest in diesem Roman in gängige Nationalstereotype […], dann zieht auch er eine strikte Grenze zwischen europäischer Kultur und den Barbaren.« (Christof Hamann, Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes ›Abu Telfan‹. In: Michael Hofmann und Rita Morrien (Hrsg.), Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Amsterdam/New York 2012, S. 53–70, hier S. 70) Zwar stimmt es, dass Raabe diese strikte Grenzziehung notwendigerweise vornehmen muss, um seine innerdeutsche Kritik am ›reentry‹ des Barbarischen in die Zivilisation zu entfalten, und darauf liegt auch das Hauptaugenmerk des Romans, aber diese rigide Grenzziehung wird nicht nur allein durch die Möglichkeit dieses ›re-entrys‹ prinzipiell infrage gestellt, sondern auch durch die Reflektion auf die Projektions- und Spiegelungsmechanismen konterkariert, die ihr zugrundeliegen. Zudem wird sie durch Figuren wie Hagebucher und Täuberich Pascha nachhaltig irritiert, die sich nicht auf einer der beiden Seiten der binären Unterscheidung verorten lassen. Reizvoll könnte allerdings sein, Hamanns instruktive Überlegungen zu einem positiven Konzept

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Wird so in Abu Telfan Hagebuchers Irritations- und Subversionspotential als ›Figur des Dritten‹ an der Peripherie des hegemonialen Diskurses in Szene gesetzt, findet sich in Meister Autor mit Ceretto Meyer tatsächlich ein »kohlenpechrabenschwarzer Mohr« (BA 11, S. 127), der allerdings seinerseits aus dem »Schüsselkorb zu Bremen« (BA 11, S. 45) stammt und sich als »europäisch gewitzigter Afrikaner« (BA 11, S. 100) ebenfalls den Zuschreibungen des Kolonialdiskurses entzieht. Diese werden im Text zwar zunächst über die Wahrnehmung der übrigen Figuren aufgerufen, indem z. B. das kleine Trudchen Tofote beim ersten Anblick Cerettos vor Entsetzen »aus voller Kehle Zeter« (BA 11, S. 27) schreit, während die alte Haushälterin nach ebensolcher anfänglicher Abwehr nur mit Mühe davon abgehalten werden kann, der Faszination des Exoten, die erneut ironisch als die Projektion ihrer eigenen erotischen Phantasien entlarvt wird, zu erliegen, so »daß […] es wahrhaftig nicht ihre Schuld war, wenn wir nach allerkürzester Bekanntschaft nicht einen oder zwei oder einige Mulatten mehr in der Welt herumlaufen haben« (BA 11, S. 30). Zudem rufen sowohl Cerettos ehemaliges Engagement als »wilde[r] Meß- und Jahrmarktsindianer« (BA 11, S. 29) als auch seine aktuelle Gestalt als ›Hosenneger‹ und seine Tätigkeit als Diener des Kolonialherrn van Kunemund sowie die ständig wechselnden Apostrophierungen als »Mohr« (BA 11, S. 27), »Teufelsfratze« (BA 11, S. 43), »Tier« (BA 11, S. 28), »Kaffer«, »Hottentott« (BA 11, S. 127) und »Nigger« (BA 11, S. 97) jeweils unterschiedliche Klischees im europäischen Diskurs über die Afrikaner auf.33 Allerdings werden diese Klischees durch Cerettos perfekt bremisches Deutsch, sein durchweg kultiviertes Auftreten und die philosophischen Qualitäten, mittels derer er das Geschehen als Einziger souverän mit einem Grinsen im Gesicht zu überblicken scheint, konterkariert. Daher kann man sich bei Invektiven wie »Ungeheuer« und »Untier« fragen, ob es sich bei diesen tatsächlich noch um die alten Stereotypen oder nicht doch um einen versteckten Kommentar auf die Konstruktionsprinzipien des Diskurses handelt, in dem ein deutscher Afrikaner, noch dazu ein so zivilisierter, kaum Platz hat, womit dessen Regeln zugleich vor- und ad absurdum geführt werden. Im Anschluss daran steht Ceretto als hybride Ausgeburt des globalen Kolonialismus mit Wurzeln in Tumurkieland – anders als der Heimkehrer Hagebucher – trotz unverhohlener Kritik an der Allianz von Kolonialismus und Kapitalismus prinzipiell auf der Seite von ›Metropole‹, ›Fortschritt‹ und ›Modernisierung‹. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen _____________ 33

des Barbarischen im Text, das mit der Figur des Schriftstellers und dem Erzählen verbunden ist, genau mit diesen Aspekten des Textes in Verbindung zu bringen. Siehe zum deutschen Afrika-Diskurs allgemein Peter Martin, Schwarze Teufel, Edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001.

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einer textuellen Engführung von Kolonialismus und Modernisierung die Stoßrichtung des Kolonialismus erneut tendenziell umgekehrt, indem dessen Effekte in der und für die Heimat, repräsentiert im »verholländert[en]« (BA 11, S. 42) Kolonial-Heimkehrer van Kunemund, im Mittelpunkt des Romans stehen. Ceretto als Verkörperung der neuen globalen Wirklichkeit kann folgerichtig am besten mit jenen Modernisierungseffekten umgehen, die nun in Gestalt von Erbschaft, Stadterweiterung und Straßenbau auch in der Provinz Einzug halten. Er hat sich sogar »fest vorgenommen […], noch einen Blick in das zwanzigste Jahrhundert zu tun« (BA 11, S. 97), während ›Meister Autor Kunemunds‹ melancholische Rückzugsbewegung aufs Dorf komplementär zur Expansionsbewegung seines Bruders erneut das moderne- und zivilisationskritische Potential der Provinz bzw. Peripherie in Szene setzt. Parallel dazu ist es in Stopfkuchen mit Heinrich Schaumann wiederum ein Vertreter der Peripherie, der von der ›Roten Schanze‹ aus die zivilisierte Philisterwelt in Gestalt des auf Heimatbesuch befindlichen südafrikanischen Kolonisten Eduard aufs Korn nimmt. Dabei stellt der Text über die Detektion einer Mordgeschichte und die Enthüllung der dieser zugrundeliegenden Jugendgeschichte Störzers alias »Storzhammel[s]« (DRZ, Sp. 370), die zudem mit der von Stopfkuchen und Tinchen Quakatz parallelisiert wird, eine Verbindung zwischen physischen wie psychischen Unterdrückungsmechanismen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und der Expansionsbewegung des Kolonialismus her. Wird doch die in der Rekonstruktion Störzers an Eduard weitergegebene Vorliebe für LeVaillants Reise in das Innere von Afrika kenntlich als von der Verdrängung des aus Frustration über vergangene Demütigungen begangenen Verbrechens ausgelöste Fluchtbewegung in eine exotische Phantasiewelt, auf die Eduards südafrikanisches Kolonistendasein zurückgeht. Über dieses erfahren wir – entgegen der durch die zeitgenössische Kolonialliteratur, wie z. B. Frieda von Bülows einen Jahrgang vorher in der Roman-Zeitung publizierte Erzählung Am andern Ende der Welt, erweckten Erwartungshaltung – kaum etwas. Neben dem von Axel Dunker herausgearbeiteten perfiden intertextuellen Spiel mit Platens ›verhängnisvoller Gabel‹ in der Eingangspassage, das nicht nur den zeitgenössisch als zivilisatorische Kulturmission verbrämten Kolonialismus parallel zur späteren ›Mordgeschichte‹ von Beginn an mit Mord und Profitgier identifiziert, sondern auch Eduard als Karikatur eines Bildungsphilisters entlarvt,34 gewinnt Afrika im Text erneut, wie Florian Krobb zu Recht betont, primär »durch die Projektionen der Da_____________ 34

Siehe Axel Dunker, ›Gehe aus dem Kasten‹. Modell einer postkolonialen Lektüre kanonischer deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. In: Ders. (Hrsg.), (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 147–160.

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heimgebliebenen Kontur«.35 Dabei wird, parallel zum im Namen des Schiffes – der ›Leonard Hagebucher‹, auf der Eduard die Geschichte niederschreibt – anzitierten Abu Telfan, über die Afrika-Bezüge im Text erneut eine diesmal durch den Kolonialismus bedingte negative Angleichung der Verhältnisse in Deutschland und Afrika nahegelegt. Während Eduard selbstbewusst auf »unsere[n] Präsident, meine[n] gute[n] Freund daheim im Burenlande« (DRZ, Sp. 2), auf Paulus Kruger, den Präsidenten der unabhängigen südafrikanischen Burenrepubliken, deren Schicksal zeitgenössisch in einer Reihe von Zeitungsberichten thematisiert wird,36 als Identifikationsfigur Bezug nimmt, mimt Schaumann den Part eines europäischen Verwandten des widerständigen Zuluhäuptlings Ketschwayo (DRZ, Sp. 222, 293), dessen Volk und seinem Widerstandskampf ebenfalls eine Reihe von Artikeln gewidmet werden.37 Dabei geht es aber allenfalls in zweiter Linie um einen Kommentar zu den durchaus wechselhaften Ereignissen und Allianzen der südafrikanischen Zeitgeschichte, die hier primär zur Parallelisierung von Machtstrukturen und Gewalt der Heimat, die sich in der Jugendgeschichte der Protagonisten widerspiegeln, und des kolonisierten Afrika herangezogen werden. Dabei ist entscheidend, dass die Rollen von Unterdrücker und Unterdrücktem eben nicht unveränderlich festgeschrieben sind; der Text belässt es, wie Katra Byram konstatiert hat,38 eben nicht bei deren einfacher Gegenüberstellung. Viel_____________ 35 36

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Krobb, Erkundungen im Überseeischen (wie Anm. 20), S. 162. Siehe exemplarisch: Die Transvaal-Republik I. In: Deutsche Romanzeitung (1869) 1, S. 73–75; Die Transvaal-Republik II. In: Deutsche Romanzeitung (1869) 2, S. 147–149; Georg Gerland, Die Holländer und Engländer in Südafrika. In: Deutsche Rundschau 28 (1881), S. 268–286; Graf von Pfeil, Die Gründung der Boerenstaaten. In: Deutsche Rundschau 86 (1896), S. 446–462; Die Transvaal’sche Republik und das Natal-Land. In: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder und Völkerkunde. Chronik der Reisen und Geographische Zeitung 6 (1864), S. 155f. Zur späteren Entwicklung der Debatte in Deutschland siehe Rolf Parr, Wie die Burenkriege durch ›Stopfkuchen‹ in die Leonhardstraße kamen – auch ein Stück Raabe-Rezeption. In: Herbert Blume (Hrsg.), Von Wilhelm Raabe und anderen. Vorträge aus dem Braunschweiger Raabe-Haus, Bielefeld 2001 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 5), S. 45–93. Siehe exemplarisch Ernst von Weber, Die Zulus und der drohende Racenkrieg in Südafrika. In: Die Gartenlaube 12 (1879), S. 205–208; Die Zulu-Kaffern. In: Globus 26 (1874), S. 81–87; Kaffern-Unruhen. In: Globus 30 (1876), S. 48; Natur- und Kulturleben der Zulus. In: Globus 39 (1881), S. 64f. Siehe dazu auch Philip J. Brewster, Onkel Ketschwayo in Neuteutoburg. Zeitgeschichtliche Anspielungen in Raabes ›Stopfkuchen‹. In: JbRG (1983), S. 96–118. Siehe dazu auch Katra Byram, Colonialism and the Language of German-German Relations in Raabes’s ›Stopfkuchen‹. In: Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives, London 2009, S. 61–73, bes. S. 62: »The novel […] exposes as a myth the simply dichotomous view of the world – colonizers opposite colonized – that colonial discourse propagated […].« Byram zielt in ihrer Argumentation v. a. auf die Tatsache ab, dass bei Raabe eine Differenzierung auf Seiten der europäischen Kolonisatoren stattfindet, indem zwischen dem Kolonisten Eduard und dem daheimgebliebenen Schaumann unterschieden wird, der in der Heimat seine eignes Zivilisierungsprojekt verfolgt, dessen Opfer Valentine vorführt, dass es auch auf der Seite der Kolonisatoren ›Ko-

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mehr erscheint der in der Jugend gedemütigte Schaumann, trotz seiner Inszenierung als Widerstandskämpfer gegen die Unterdrückungsmechanismen der heimatlichen Philisterwelt, zum einen im Gespräch mit Eduard jederzeit als wortgewaltig monologisierender, dominanter Gesprächspartner und zum anderen als erfolgreicher »Eroberer der roten Schanze« (DRZ, Sp. 149). Dabei wird durch die ostentative Parallelisierung von Eduards Kolonialeroberungen mit Stopfkuchens »Eroberung von Quakatzenburg« (DRZ, Sp. 157) inklusive der Domestizierung der »Wildkatze« (DRZ, Sp. 166) Tinchen Quakatz zu einer »Mieze«, ja sogar einem häuslichen »Müschen« (DRZ, Sp. 78),39 zudem erneut eine unterschwellige Verbindung zwischen einer gleichsam ›inneren Kolonisierung‹ im Prozess der Zivilisation – die hier nicht von ungefähr am Beispiel einer weiblichen Figur vorgeführt wird – und dem Kolonialismus etabliert, die sich auch im Hinblick auf Fontanes Texte als aufschlussreich erweist. Auf den ersten Blick bewegen sich die Bezugnahmen auf Afrika in Fontanes Texten ganz im Rahmen des zeitgenössischen Afrika-Diskurses, steht Afrika in der Wahrnehmung der Figuren doch zunächst – parallel zu Orient, Indien und China – allgemein für das Exotische, Aparte, Kuriose, das gleichermaßen Faszination und Abscheu hervorruft und signifikanterweise in der Regel weniger mit der Metropole als mit der Provinz in Verbindung gebracht wird. Dies verdeutlicht Effis begeisterter Ausruf bei der Ankunft in Kessin: »Du sprichst immer von Nest […] und nun finde ich eine ganz neue Welt hier. Allerlei Exotisches […] vielleicht einen Neger oder einen Türken oder vielleicht sogar einen Chinesen.« (DR 1, S. 28) Es zeigt sich ebenso an Friederikes Gespräch mit Leo Poggenpuhl, in das sie, als das Stichwort »Afrika« (VFM, S. 135) fällt, ihr topisches Afrika-Wissen einbringt: »Gott, Leochen! Davon hab ich ja gerade dieser Tage gelesen. Du meine Güte, die machen ja alles tot und schneiden uns armen Christenmenschen die Hälse ab. […] Und soviel wilde Tiere, Schlangen und Krokodile, daß man bei all der Hitze nich mal baden kann«, während Leo in seinen Repliken jeweils den vergleichenden Bezug zu Deutschland herstellt: »Das tun sie hier auch; überall dasselbe«; »[…] und wenn ich in Bukoba bin – das ist so’n Ort zweiter Klasse, also so wie Potsdam –, da kann sich’s treffen, daß mir der Äquator, von dem du wohl schon gelesen

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lonisierte‹ gibt (vgl. ebd., S. 68). Ergänzend dazu würde ich betonen wollen, dass durch den Rekurs auf die Jugendgeschichten zudem deutlich wird, dass nach dem Motto ›Gewalt erzeugt Gegengewalt‹ der ehemals Unterdrückte, wie Schaumann, selbst zum Unterdrücker, das Opfer von Gewalt, wie Störzer, selbst zum Gewalttäter werden kann. Siehe Claudia Liebrand, Wohltätige Gewalttaten Zu einem Paradigma in Raabes ›Stopfkuchen‹. In: JbRG (1997), S. 84–102.

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haben wirst […], daß mir der gerade über den Leib läuft« (VFM, S. 135f.).40 Die doppeldeutige Bemerkung zum ›über den Leib verlaufenden Äquator‹ lässt sich u. a. durch einen Blick auf den Zeitschriftenkontext erhellen. Findet sich doch parallel zum Romanvorabdruck in Vom Fels zum Meer auch ein enthusiastischer Artikel über den ›Tatmenschen‹ Karl Peters,41 den sogenannten ›Schöpfer der Kolonie Deutsch-Ostafrika‹, zu der auch Provinz und Stadt Bukoba gehörten. Dieser Artikel lässt sich, gerade weil er den 1895/96 in Parlament und deutscher Öffentlichkeit kontrovers diskutierten »Fall Peters«,42 eine Untersuchung zu sexuellen Eskapaden und gewalttätigen Übergriffen bis hin zum Mord, die 1897 schließlich zu Peters’ Entlassung führen wird, systematisch ausklammert43 und stattdessen Peters’ Verdienste um den deutschen Kolonialismus betont, als Positionsnahme für den Kolonialbeamten in dieser zeitgenössischen Kontroverse verstehen. »Hänge-Peters« diente allerdings trotz diesem und ähnlichen Verteidigungsversuchen, wie exemplarisch eine Karikatur aus der Zeitschrift Kladderadatsch illustriert (Abb. 4), zeitgenössisch als prototypisches Beispiel für die mit dem Aufenthalt in Afrika verbundene Gefahr der ›Verkafferung‹.

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Siehe die Interpretation Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest (wie Anm. 13), S. 220: »Friederike referiert das Zeitungswissen und Leo ›poetisiert‹ via Symbolisierung«. Gerade durch diese ›Poetisierung‹ wird bei Fontane eine Reflexion des zeitgenössischen Afrika-Diskurses ermöglicht. Rudolf Straß, Unsere Zeitgenossen. Karl Peters. In: Vom Fels zum Meer, XV. Jahrgang, Bd. 1 (Oktober 1895 bis März 1896), S. 294f. Vgl. Heinz Schneppen, Der Fall Karl Peters. Ein Kolonialbeamter vor Gericht. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001) H. 7, S. 869–885. Allerdings lässt sich der Anfang des Artikels als Anspielung auf die kontroverse zeitgenössische Diskussion des »Fall Peters« und das laufende Verfahren lesen, das im weiteren Verlauf ausgeklammert wird: »›Interviewen kann ich mich nicht lassen‹, sagte Peters zum mir, ›aber einen Schnaps werde ich Ihnen einschenken…‹.« (Straß, Unsere Zeitgenossen [wie Anm. 41], S. 294)

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Abb. 4: Karikatur aus Kladderadatsch (1896) H. 12, S. 122.

Gemeint ist damit der Rückfall des zivilisierten Europäers in die barbarischen, vorzivilisatorischen Verhaltensweisen der ›Wilden‹ mangels gesellschaftlich-zivilisatorischer Kontrollinstanzen – waren doch Afrika-Reisen im Verständnis der Zeit immer auch Reisen in die eigene menschheitsgeschichtliche Vergangenheit. In diesem Zusammenhang erweist sich Leo Poggenpuhls Anspielung auf den ›Äquator, der über den Leib verläuft‹ – in Allerlei Glück findet sich die in gewisser Hinsicht präzisere Formulierung »über den Bauch«44 – als erneute Replik auf das Spiegelungs- und Projektionsverhältnis zwischen einer primär individualpsychologischen inneren Grenzziehung im Prozess der Zivilisation und der äußeren, kollektiven Grenzziehung des Kolonialdiskurses zwischen ›Wilden‹ und ›Zivi_____________ 44

Vgl. Reinhard Finke, ›…der Äquator läuft ihnen über den Bauch.‹ Namen und Geschichten zu Afrika in Fontanes ›Effi Briest‹ und anderswo. In: Bettina Gruber und Gerhard Plumpe (Hrsg.), Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, Würzburg 1999, S. 297– 315, bes. S. 306: »der moralische Äquator läuft über den Bauch eines jeden jeweils einzelnen Menschen […]«.

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lisierten‹.45 Es sind jene im Prozess der Zivilisation disziplinierten und verdrängten Anteile der menschlichen Existenz, jenes Konglomerat aus kreatürlichen Trieben und Instinkten, das Jean Paul als das »wahre innere Afrika« des menschlichen Unbewussten bezeichnet hat und Freud später als »inneres Ausland«46 qualifiziert, das so in den Blickpunkt des Interesses rückt.47 Der so in den Poggenpuhls wie zuvor bei Raabe angedeutete Perspektivwechsel vom äußeren zum ›wahren inneren Afrika‹ wird in Fontanes sogenannten ›Frauenromanen‹ Cécile und Effi Briest zum strukturbildenden Prinzip, wobei mit den äußeren Grenzziehungen des Kolonialdiskurses vielfältige innerdeutsche Grenzziehungen zwischen Zentrum und Peripherie einhergehen. Paradigmatisch ist die Umkehrung des kolonialen Blicks in Cécile im Brief Gordons an seine Schwester zu beobachten, in dem dieser, ausgehend von vagen Hinweisen auf einen bevorstehenden Kongoaufenthalt, einen Perspektivwechsel vom Kongo zur deutschen Provinz vornimmt – »Doch was Congo! Vorläufig heißt meine Welt noch Thale […]« –, der mit einer Zoombewegung vom »›Hotel Zehnpfund‹« zur »›Table d’hôte‹« zum neu eingetroffenen Gästepaar einhergeht, die schließlich in der Frage kulminiert: »Vor allem jedoch, wer ist Cécile?« (UN, S. 56f.).48 Die Beantwortung dieser Frage im Verlauf des Romans ist in _____________ 45

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Siehe zu dieser Gegenüberstellung grundlegend Urs Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1982. Den konstatierten Zusammenhang zwischen der individualpsychologischen inneren Grenzziehung im Prozess der Zivilisation und der äußeren, kollektiven Grenzziehung des Kolonialdiskurses zwischen ›Wilden‹ und ›Zivilisierten‹ deutet auch Wolfgang Lukas in seinem instruktiven Aufsatz zur ›Gezähmten Wildheit‹ als der neuen bürgerlichen Anthropologie des 19. Jahrhunderts an; Wolfgang Lukas, ›Gezähmte Wildheit‹. Zur Rekonstruktion der literarischen Anthropologie des ›Bürgers‹ um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Achim Barsch und Peter M. Hejl (Hrsg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914), Frankfurt am Main 2000, S. 335–375, bes. S. 351, 355. Sigmund Freud,, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1991, S. 60. Diese Dimension des inneren Afrikas in der (früh-)realistischen Literatur untersucht jüngst am Beispiel Stifters auch Christian Begemann, Erkundungen im ›inneren Afrika‹. Adalbert Stifter und das Unbewußte. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich 18 (2001), S. 11–29. Allerdings stellt dieser keinen Bezug zum allgemeinen Afrika-Diskurs der Zeit her. Immerhin konstatiert er aber im Hinblick auf die Figur Erwin aus Stifters Erzählung Die drey Schmiede ihres Schicksals, die nach Amerika auswandert und dort erotische Energie in Aggression, Bewältigung der inneren Natur in Bewältigung der äußeren Natur überführt: »Auch Amerika kann eine inneres Afrika sein.« (ebd., S. 21) Dem wäre im Hinblick auf den zeitgenössischen Afrika-Diskurs hinzuzufügen: Auch Afrika kann ein inneres Afrika sein! Rolf Parrs ansonsten instruktiver Lesart, »[i]n Cécile ist es Gordon, der das Kongobecken in die Harzer Berge hineinholt, wobei auch diesmal die Blickrichtung vom ›Kleinen‹ und ›Regionalen‹ im Harz zum ›Großen‹ in der Welt nur gewechselt wird, um den Blick dann umso entschiedener auf das positive markierte ›Nahe‹ zurücklenken zu können« (Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest [wie Anm. 13], S. 221), wäre also hier nur partiell

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diesem Zusammenhang gleich doppelt aufschlussreich, zum einen, weil sowohl die ersten vagen Vermutungen Gordons – »Polin oder wenigstens polnisches Halbblut« (UN, S. 4) bzw. »Brüssel, Aachen, Sacré cœur« (UN, S. 57) – als auch die letztlich bestätigte Herkunft Céciles aus Schlesien erneut auf Provinz bzw. europäische Peripherie verweisen, zum anderen weil auch die enthüllte Vergangenheit Céciles als »Fürstengeliebte, Favoritin in duplo« (UN, S. 227) auf einen weiteren Randbezirk der europäischen Zivilisation verweist: auf das Sexualleben der Frau als »dark continent«.49 Damit ist in Cécile im Kontext der Afrika-Bezüge jene Substitutionsbewegung zu beobachten, die Sigrid Weigel allgemein in ihrer Untersuchung zur strukturellen Analogie zwischen ›Wilden und Frauen im Diskurs der Aufklärung‹ konstatiert hat: In der Funktion einer Projektionsfläche für Wunsch- und Angstbilder, als Objekt der Eroberung und als Territorium für die konfliktreiche Auseinandersetzung zwischen Natur und Zivilisation aus der Perspektive des sich konstituierenden männlichen Subjekts treten Frau und Weiblichkeit in der Nähe an die Stelle der Wilden in der Fremde. In einer Phase, in der das Zeitalter der Entdeckungen fremder Gebiete seinem Ende entgegengeht, in der mit diesem Ende auch die Utopien im Raum unmöglich werden, da die Erforschung der fremden Länder in das Stadium systematischer Feldforschung übergeleitet wird und in Europa die Geschichte der Humanwissenschaften beginnt – in dieser Phase wird die Frau bzw. Weiblichkeit zum Substitut für die Fremde bzw. die Wilden im Prozeß der Begründung des Eigenen über die nahe Abspaltung des Anderen: ein Territorium der nahen Fremde.50

Zwar kann sich diese Lesart des Romans als einer ausgestellten Verschiebung des Blickes von der äußeren auf die vielfältig konnotierte innere Fremde, vom geographischen Inneren Afrikas auf das metaphorische ›innere Afrika‹ nur auf relativ wenige weitere textimmanente AfrikaBezüge stützen – wie die »Passion« der Industriellengattin für »Nilquellen und Congobecken« (UN, S. 153), das »roth[e] Fez« in Gordons Zimmer _____________ 49

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zuzustimmen, da das ›Nahe‹, dem hier der Blick zugewandt wird, nicht positiv markiert ist, sondern durchaus problematisiert wird. Sigmund Freud, Die Fragen der Laienanalyse. Unterredung mit einem Unparteilichen (1926). In: Ders., Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud und Edward Bibring. Bd. 14, Frankfurt am Main 1955, S. 207–296, hier S. 241. Zur Interpretation Céciles als Roman über »verdrängte Sinnlichkeit« und die Relevanz der Naturmetaphorik in diesem Zusammenhang siehe auch Inge Stephan, ›Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.‹ Zum Verhältnis Frau und Natur in Fontanes ›Cécile‹. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur, Königstein im Taunus 1981, S. 118–149, bes. S. 127f. Sigrid Weigel, Zum Verhältnis von ›Wilden‹ und ›Frauen‹ im Diskurs der Aufklärung. In: Dies., Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990, S. 118–148, hier S. 140.

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(ebd.), Rosas scherzenden Vorschlag, der Geheimrat »sollte zum Islam übertreten und Afrikareisender werden« (UN S. 224), die Tatsache, dass Céciles Ausflüge mit dem jüngeren Fürsten sich u. a. bis nach »Algier« (UN, S. 226) ausdehnten und die Engführung von geographischen und moralischen Verirrungen (UN, S. 59). Dennoch aber lässt sie sich erneut im Rekurs auf den engeren Zeitschriftenkontext plausibilisieren. Im unmittelbaren Anschluss an die ersten Folgen des Vorabdrucks wird in Fortsetzungen jeweils eine Reihe mit dem Titel Aus dem Sudan. Briefe aus der Zeit der Gordon’schen Verwaltung unter Ismail Pascha51 abgedruckt, die sich mit der Rolle und dem Tod des populären englischen Generals Charles George Gordon, der zeitgenössisch häufig mit rotem Fes porträtiert wird, im sogenannten Mahdi-Aufstand beschäftigt, in der aber auch eine Reihe deutscher Afrika-Reisender Erwähnung findet, wodurch auch der deutsche Afrika-Diskurs mit den üblichen Implikationen und Grenzziehungen aufgerufen wird. Unabhängig davon, ob sich im Anschluss daran dieser Gordon, neben dem Schiller’schen und den von Fischer als weiteren Vorbildern vorgeschlagenen Schotten »›Zivilingenieur‹ Lewis D. B. Gordon oder Robert von Gordon«,52 als ein weiterer möglicher Namenspatron des Fontane’schen Gordon ausmachen lässt – immerhin hat Fontane dessen Tod bekanntermaßen in der Entstehungszeit des Romans als aktuelle Nachricht in seinem Tagebuch notiert53 –, ergaben sich für den zeitgenössischen Leser allein über die räumliche Nähe innerhalb der Zeitschrift und die Namensgleichheit Verbindungslinien zwischen Fontanes »Zivilingenieur« Gordon und dem Kolonialsoldaten in Diensten der britischen Royal Engineers. Zumal mit diversen Verweisen auf Telegraphie und einen »Telegraphen-Ingenieur« innerhalb der Reihe technisch-infrastrukturelle Globalisierung und Kolonialismus als zwei Seiten einer Medaille identifizierbar werden und zudem persönliche und charakterlicher Ähnlichkeiten zwischen Fontanes Gordon und dem englischen Kolonialisten bestehen. Letzterer war außer in Afrika u. a. auch in China und Indien im Einsatz und wird als ungeduldig, launenhaft, »übellaunig« und egozentrisch beschrieben, was in der Einschätzung gipfelt: »Er besaß nicht den unerschüt_____________ 51 52

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Aus dem Sudan. Briefe aus der Zeit der Gordon’schen Verwaltung unter Ismail Pascha. In: Universum. Illustrirter Hausschatz für Poesie, Natur und Welt, Literatur, Kunst und Wissenschaft (1886), S. 13– 19, 61–66, 111–118. Hubertus Fischer, Gordon oder Die Liebe zur Telegraphie. In: Fontane-Blätter (1999) H. 67, S. 36–58, hier S. 46. Siehe dazu auch Frank Haase, Stern und Netz. Anmerkungen zur Geschichte der Telegraphie im 19. Jahrhundert. In: Jochen Hörisch und Michael Wetzel (Hrsg.), Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870–1920, München 1990, S. 43–61. »Am 5. Februar trifft die Nachricht ein: Chartum gefallen, Gordon tot oder gefangen.« (Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Bd. III/3/II. Hrsg. von Helmuth Nürnberger und Bernd Zand, München 1975, S. 1179)

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terlichen Charakter, den ein Mann besitzen muß, um in der Zivilisation eine hervorragende Rolle zu spielen […].«54 Diese Charakterisierung lässt sich so, trotz dessen Einführung als Mann von Welt, auch auf Fontanes Gordon beziehen, wobei im Rahmen der Zeitschriftenlektüre der äußere Zivilisationsprozess der Kolonisation Afrikas mit Tod und Niederlage der historischen Figur Gordon ebenso zu scheitern scheint55 wie der mit der literarischen Figur Gordon bei Fontane verbundene innere Zivilisationsprozess einer Zähmung der Leidenschaften. Den vielfältigen intertextuellen Bezügen zwischen beiden Texten detailliert nachzugehen, muss zwar einer größeren Untersuchung vorbehalten bleiben, aber die Engführung zwischen dem geographischen Inneren Afrikas und dem metaphorischen ›inneren Afrika‹, von Kolonialismus und ›innerer Kolonisierung‹ im Prozess der Zivilisation in Cécile, sollte bereits angesichts dieser knappen Bemerkungen deutlich geworden sein. Dieser Frage soll nun abschließend noch einmal anhand von Effi Briest nachgespürt werden. Dort wird die strukturelle Engführung von Afrika und ›wahrem inneren Afrika‹ u. a. anlässlich der Sichtung einer Robbe deutlich (DR 1, S. 345), die Crampas sofort zum Vorschlag einer Robbenjagd veranlasst, dem Innstetten mit dem Rekurs auf die »›Hafenpolizei‹« begegnet, worauf Crampas erwidert: »Muß denn Alles so furchtbar gesetzlich sein? Alle Gesetzlichkeiten sind langweilig.« Die Unterredung, an der die ebenfalls anwesende Effi sich signifikanterweise nur nonverbal, in Form eines Crampas’ Sichtweise zustimmenden Händeklatschens beteiligt, umkreist anschließend verklausuliert den im Gesamtroman u. a. anhand von Ehebruch und Duell thematisierten Konflikt zwischen individueller Freiheit und den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen der europäischen Zivilisation. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Reaktion Innstettens, der einen Zusammenhang von weiblichem Geschlechtscharakter und Opposition gegen zivilisatorische Gesetzlichkeiten herstellt, den Crampas zustimmend als »Frauenrecht von alter Zeit her« kommentiert, das nicht zu ändern sei, was schließlich in Innstettens Formulierung kulminiert: »will ich auch nicht, auf Mohrenwäsche lasse ich mich nicht ein« (DR 1, S. 345). Der Rekurs auf den Topos der ›Mohrenwäsche‹56 verdeutlicht in diesem Zusammenhang pointiert die Engführung _____________ 54 55

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Aus dem Sudan. Briefe aus der Zeit der Gordon’schen Verwaltung unter Ismail Pascha. In: Universum. Illustrirter Hausschatz für Poesie, Natur und Welt, Literatur, Kunst und Wissenschaft (1886), S. 115. Zur Interpretation der Niederlage Gordons als Niederlage der europäischen Zivilisation siehe Carl Falkenkorst, Aus dem Reiche Emin Paschas. In: Die Gartenlaube (1888), S. 616–620, hier S. 616: »Das sind die Nachklänge jener Katastrophe, welche einst die civilisierte Welt mit tiefem Schmerz erfüllt, als am 26. Januar 1885 Gordon und mit ihm Chartum gefallen war. Die europäische Kultur wurde damals in jenen Gebieten sozusagen […] geschlagen«. Auf diesen Topos nimmt Fontane auch noch in einem weiteren Roman, im 1880 in Nord und Süd publizierten L’Adultera, in einem Bildergespräch über Carl Joseph Begas’ Gemälde

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von weiblichem Geschlechtscharakter und kolonialem Afrika-Diskurs. Ausgehend vom Rekurs auf eine ›Frauen‹ wie ›Mohren‹ gleichermaßen verbindende unveränderliche Natur,57 die mit Effis Charakterisierung als »›Naturkind‹« (DR 1, S. 22) korrespondiert, hier aber mit Schmutz assoziiert und damit als moralisch verwerflich qualifiziert wird, gerät vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Topos von der besonderen sexuellen Promiskuität der Afrikaner erneut das Sexualleben der Frau als »dark continent« in den Fokus des Interesses. Dieser Assoziationszusammenhang wird zu einem späteren Zeitpunkt im Roman noch einmal aktualisiert, wenn es ausgerechnet eine Verletzung Mirambos ist, der den Namen eines afrikanischen Stammesfürsten und Warlords trägt und, wie Claudius Sittig plausibel gemacht hat,58 vermutlich selbst Afrikaner ist, die den ersten fatalen Moment der Intimität zwischen Crampas und Effi im Zuge der nächtlichen Schlittenfahrt allererst ermöglicht. Im Anschluss daran lässt sich Effi Briest mit Helmstetter als Roman

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»Die Mohrenwäsche« (1841) Bezug. Dieses Gemälde hing in der Kunstsammlung Louis Friedrich Jacob Ravenés, der das historische Vorbild für die Figur van der Straaten war; dort könnte es auch Fontane gesehen haben. Siehe dazu und zum Topos der Mohrenwäsche allgemein: Nina Badenberg, ›Die Bildkarriere eines kulturellen Stereotyps. 14. Juli 1894 Mohrenwäsche im Leipziger Zoo‹. In: Alexander Honold und Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar 2004, S. 173–189, bes. S. 179. Zur zitierten Stelle in Effi Briest siehe Hans-Joachim Jürgens, ›Alle Gesetzlichkeiten sind langweilig‹. Ungeschriebene Gesetze in Theodor Fontanes Roman ›Effi Briest‹. In: Gert Hofmann (Hrsg.), Figures of law. Studies in the interference of law and literature, Tübingen 2007, S. 231–244, bes. S. 233. Siehe zur traditionellen Identifikation der Frau mit Natur auch Stephan, Das Natürliche (wie Anm. 49), und Weigel, Zum Verhältnis von ›Wilden‹ und ›Frauen‹ (wie Anm. 50). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Naturmetaphorik, die von Effis Vater anlässlich der Verlobung bemüht wird: »Geert wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Epheu, der sich darum ranken soll.« (DR, S. 10) Diese Metaphorik ist, wie Karin Hausen herausgearbeitet hat, durchaus zeittypisch (siehe Karin Hausen, ›… eine Ulme für das schwankende Efeu.‹ Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeit im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 85–117, hier S. 85). Interessanterweise führt Hausen diese Metaphorik auf die Erzählung Aus dem Frauenleben der bekannten Zeitschriftenautorin Ottilie Wildermuth aus dem Jahr 1855 zurück (ebd., S. 85), auf die sich Fontane hier entsprechend intertextuell beziehen könnte. Claudius Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor. Der Kolonialdiskurs und das Hirngespinst vom spukenden Chinesen in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 544– 563. Zur prekären Rolle des »Mohrenapothekerleins« (DR, S. 323) Gieshübler im fatalen Handlungsverlauf des Romans siehe Christine Hehle, ›Ich steh und falle mit Gieshübler‹. Die Verführung der ›Effi Briest‹. In: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999, S. 137–162.

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über die »Auslösung, Ablenkung und Verhinderung von Leidenschaft«59 im Prozess der Zivilisation verstehen, der anhand des gescheiterten Erziehungs- und Disziplinierungsprojektes des ›Naturkindes‹ Effi60 den Versuch der ›inneren Kolonisierung‹ des ›wahren inneren Afrikas‹ problematisiert.61 Dieses Scheitern wird im Roman folgerichtig über den Ehebruch mit der Provinz/Peripherie assoziiert,62 wobei die Grenzüberschreitung signifikanterweise erst nach der Übersiedelung in die Metropole Berlin sanktioniert wird. Eine derartige Lektüre der Afrika-Rekurse steht durchaus mit einschlägigen jüngeren Lektüren des Chinesen-Motivs in Effi Briest in Einklang,63 wobei gerade die scheinbar eher marginalen Afrika-Bezüge im Text über die Konnotation der metaphorischen Dimension des ›inneren Afrikas‹ einen Reflexionsraum eröffnen, im Rahmen dessen die Reziprozität von innerer und äußerer Fremde und die entsprechenden Spieglungs- und Projektionsprozesse in den Blick geraten, die an der eigenkulturellen Produktion des in den Texten selbst und in deren Publikationskontext immer wieder anzitierten zeitgenössischen Imaginationsraums Afrika beteiligt sind. _____________ 59

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Rudolf Helmstetter, Literarisch induzierte Liebe und ›salonmäßig abgedämpfte Liebe‹: Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Reingard M. Nischik (Hrsg.), Leidenschaften literarisch, Konstanz 1998, S. 229–251, hier S. 232. Siehe dazu die beinahe leitmotivische Maßregelung Effis durch ihre Mutter im ersten Kapitel: »Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich« (DR, S. 2), in der bereits die für den Roman charakteristische Engführung zwischen Wildheit und (weiblicher) Leidenschaft deutlich wird. Zur Verortung Afrikas im Rahmen einer imaginären kulturell-moralischen Topographie Fontanes siehe Julian Preece, Fear of the Foreigner. Chinese, Poles and other Non-Prussians in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Neil Thomas (Hrsg.), German Studies at the Millennium, Durham 1999, S. 173–195, bes. S. 182: »In the spectrum of values and attitudes represented in the novel black Africans would come at the same end as the Chinese; their reliance on natural instinct at the expense of social convention, considered in every respect to be culturally inferior, appears preferable to Innstetten at this point. The veiled question Fontane is posing is who, Africans or Germans, is the more civilised; in other words, who are the real barbarians«. Siehe auch: Birte Schulz, ›Hier kommt sowas nicht vor‹? Fremdbilder in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Focus on German studies 8 (2001), S. 85–96. Nicht von ungefähr finden die regelmäßigen intimen Treffen von Effi und Crampas in der Nähe eines Wäldchens statt, das »die Plantage« (DR 82, S. 21, 29) genannt wird und so metaphorisch auf Kolonien und Kolonialisierung verweist, womit die Peripherie Kessins wie die moralische Grenzzone des sexuellen Tabubruchs durchaus ironisch mit der kolonialen Peripherie assoziiert wird. Siehe Judith Ryan, The Chinese Ghost. Colonialism and Subaltern Speech in Fontane’s ›Effi Briest‹. In: Williams C. Donahue und Scott Denham (Hrsg.), History and Literature. Essays in Honor of Karl S. Guthke, Tübingen 2000, S. 367–384; Ingrid Schuster, Exotik als Chiffre. Zum Chinesen in ›Effi Briest‹. In: Dies., Faszination Ostasien. Zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China, Bern 2007, S. 163–177; Axel Dunker, ›Unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen.‹ Theodor Fontane: ›Effi Briest‹. In: Ders., Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, S. 151–166.

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In diese Lesart fügt sich dann auch das im Text verbreitete Gerücht von der Abberufung Innstettens als »Kolonisator mit der Eismaschine«64 nach Marokko und dessen zivilisationskritischer »Ausbruchstraum nach Afrika«65 im Gespräch mit Wüllersdorf ein: »[…] weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld.« (DR, S. 353) Diese Inszenierung Afrikas als imaginärer Fluchtpunkt jenseits aller zivilisatorischen Konventionen und Selbstzwänge korrespondiert – darauf sei an dieser Stelle noch kursorisch verwiesen – mit dem parallel in der Deutschen Rundschau publizierten Artikel Afrikanische Eindrücke von Paul Reichard, in dem dieser die enthusiastischen Empfindungen des Europäers bei der Ankunft in Afrika wie folgt schildert: […] wir stehen an der Pforte einer anderen Welt. Eine feierlich fremdartige Stimmung von hohem Ernste überkommt den Reisenden. Frei fühlt er sich nun von den drückenden Fesseln der Convenienz und des gesellschaftlichen Ceremoniells. Gesetzesvorschriften und Polizeiverordnungen können ihm jetzt nichts mehr anhaben.66

Allerdings wird als mentales Korrektiv dort umgehend das »stolze Selbstbewusstsein« des »zivilisierten Menschen«67 mobilisiert, das auch Wüllersdorfs Replik auf Innstettens Fluchtphantasie bestimmt. Diese identifiziert mittels einer Reihe von Anspielungen auf Reiseberichte von AfrikaForschern68 die Unterwerfung unter die von Innstetten als bedrückend _____________ 64

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Michael Andermatt, ›Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben‹. Zur Topographie des Fremden in Fontanes ›Effi Briest‹. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Bd. 3: ›Geschichte – Vergessen – Großstadt – Moderne‹, Würzburg 2000, S. 189–199, hier S. 194. Peter Utz, Die französische Effi Briest, ihre blonde Mutter und die ›pechschwarzen Kerle‹. Fontanes Roman im mehrsprachigen Feld zwischen Deutschland, Frankreich, England und Afrika. In: Susan Arndt, Dirk Naguschewski et al. (Hrsg.), Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007 (= LiteraturForschung, Bd. 3), S. 248–263, hier S. 257. Paul Reichard, Afrikanische Eindrücke. In: Deutsche Rundschau 81 (1895), S. 107–116, hier S. 107. Ebd. Die Einzelbezüge dieser Passage zum zeitgenössischen Afrika-Diskurs (u. a. zu Henry Morton Stanley, Gerhard Rohlfs und Hermann von Wissmann) sind in der Forschung (siehe neben Utz [wie Anm. 65]: Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest [wie Anm. 13], und Finke, ›…der Äquator läuft ihnen über den Bauch‹ [wie Anm. 44]) bereits gut aufgearbeitet und werden deshalb an dieser Stelle nicht mehr detailliert aufgeschlüsselt. Es sei nur darauf verwiesen, dass Finke hier in der Mtesa-Anspielung, parallel zu meiner Lektüre der Poggenpuhls, einen Verweis auf Karl Peters entdeckt, wobei mir die Passage an dieser Stelle allerdings primär auf das bekannte Zusammentreffen Mtesas und Stanleys zu verweisen scheint, von dem Fontane wahrscheinlich in einer deutschen Übersetzung von Stanleys Reisebericht mit dem Titel Quer durch Afrika gelesen haben dürfte. Siehe Theodor

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empfundenen und kritisierten internalisierten »Vorstellungen« und Konventionen als Preis der Zivilisation und gipfelt folgerichtig in der Maxime: »In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste.« (DR, S. 354) Im Anschluss an Wolfgang Lukas ließen sich ergänzend auch die durch gewaltsame Triebkontrolle und ›Zähmung der Leidenschaften‹ ausgelösten psychischen Deformationen der Hauptfiguren sowie deren Pathologisierung69 als weitere Variante der durchaus kritischen Reflexion auf den Preis der Zivilisation in beiden diskutieren ›Frauenromanen‹ Fontanes lesen.70 3.

Das ›innere Afrika‹ als literarischer Reflexionsraum

Im zusammenfassenden Überblick wird deutlich, dass die Bezugnahmen auf Afrika als Imaginations- und Wissensraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane im Zeitschriftenkontext einen nicht zuletzt medial erzeugten literarischen Reflexionsraum eröffnen, innerhalb dessen über eine metonymische verschobene Afrika-Metaphorik selbstkritisch der Preis von Zivilisation und fortschreitender Globalisierung anhand vielfältiger Spielarten eines ›inneren Afrikas‹ thematisierbar wird. Dieses repräsentiert die Gewalt- und Repressionsmechanismen des Prozesses der Zivilisation auf kollektiver wie individualpsychologischer Ebene und wird in den Texten je unterschiedlich im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie verortet. Bei Raabe ist es vor allem der Protonormalismus der Philisterwelt, der in Abu Telfan und Stopfkuchen als ›inneres Afrika‹ zwar Metropole, Provinz und Welt prinzipiell gleichermaßen bestimmt, aber jeweils unterschiedlich von der Peripherie her kritisiert wird. Zum einen in Abu Telfan durch den Afrika-Heimkehrer Hagebucher, Täuberich Pascha und eine Reihe weiterer Außenseiterfiguren, zum andern in Stopfkuchen durch Heinrich Schau_____________

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Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Bd. III/3/II, hrsg. von Helmuth Nürnberger und Bernd Zand, München 1975, S. 1127 und Kommentar, S. 1624, wobei allerdings die gleichnamigen Reiseberichte von Gerhard Rohlfs, Quer durch Afrika, und Hermann von Wissmann, Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost, hier ebenfalls anzitiert werden. Siehe dazu u. a. Manfred Durzak, ›Die Welt ist kein Treibhaus für überzarte Gefühle.‹ Eros und Gewalt in Fontanes ›Cécile‹ und anderen Texten. In: Fontane-Blätter 78 (2004), S. 122–137; Sabina Becker, ›Wer ist Cécile?‹ Der ›Roman einer Phantasie‹; Theodor Fontanes ›Cécile‹. In: JbRG (2002), S. 130–154; Cornelia Blasberg, Das Rätsel Gordon oder: Warum eine der ›schönen Leichen‹ in Fontanes Erzählung ›Cécile‹ männlich ist. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (Sonderheft: Realismus) (2001), S. 111–127. Siehe dazu pointiert Lukas, ›Gezähmte Wildheit‹ (wie Anm. 45), S. 371: »Die Neurotisierung des Subjekts, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzieht, ist der Preis seiner Normalisierung«.

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mann von der roten Schanze aus, der allerdings seinerseits wiederum durch den ›fremden‹ Blick des Afrika-Heimkehrers Eduard auf die Eroberung der roten Schanze und den damit verbundenen Domestizierungsprozess Valentines in die Kritik gerät. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass bei Raabe stets durch eine Reihe von re-entry-Figuren die Komplexität der räumlichen wie moralischen Binärunterscheidungen so gesteigert wird, dass eine pauschale Verortung und Grenzziehung unmöglich scheint. In Meister Autor sind es entsprechend im Gegensatz zu den beiden zuvor genannten Romanen vor allem die mit dem Prozess der Zivilisation verbundenen Globalisierungs- und Modernisierungsphänomene, die mit der ›Metropole‹ verbunden und mit dem deutschen Afrikaner Ceretto assoziiert und so als ›inneres Afrika‹ thematisiert werden, gegen die, allerdings mit einem spürbar resignativen Unterton, die traditionelle, ländliche Lebensweise des Meister Autors ins Feld geführt wird. Im Vergleich mit Raabe ist das ›innere Afrika‹ bei Fontane auf den ersten Blick einfacher und prägnanter konturiert, es sind die im Prozess der Zivilisation verdrängten und marginalisierten Leidenschaften, die meist, wie in Cécile und Effi Briest, gleichermaßen mit dem weiblichen Geschlecht und der Provinz in Verbindung gebracht werden. Der Rekurs auf das zeitgenössisch im kolonialen Kontext verhandelte Problem der Verkafferung in den Poggenpuhls verdeutlicht zudem die grundlegende Engführung von außereuropäischer und innereuropäischer Peripherie und von Kolonialismus und Prozess der Zivilisation. Allerdings ist es bei Fontane vor allem der kritische Blick von der so mehrfach codierten Peripherie auf die negativen Auswirkungen und Effekte der mit dem Prozess der Zivilisation verbundenen gesellschaftlichen wie individualpsychologischen Repressionsmechanismen und somit nicht zuletzt der Prozess der Verdrängung selbst, der als Verdrängtes als eine weitere Facette des ›inneren Afrikas‹ bei Fontane zum Reflexionsraum der Zivilisationskritik wird. Gemeinsam ist beiden Autoren allerdings, dass es sich jeweils um eine wohlfeile Zivilisationskritik handelt, die die negativen Effekte der Zivilisation problematisiert, aber diese keineswegs grundsätzlich – etwa kulturrelativistisch – in Frage stellt. Grundlage für eine derartige Zivilisationskritik im Rückgriff auf das ›innere Afrika‹ bleibt stets der Rekurs auf den traditionellen Imaginationsraum Afrika, auf Afrika als ganz Anderes der europäischen Kultur und Zivilisation, mit dem sich die Autoren in den eurozentrischen, kolonialen Afrika-Diskurs einschreiben, indem sie Afrika lediglich als Projektionsfläche für innereuropäische Identitätsdiskurse funktionalisieren. Aus postkolonialer Perspektive ist jedoch von Interesse, dass Raabes und Fontanes Texte dabei selbstreflexiv immer wieder die Konstruktionsprinzipien des eurozentrischen Afrika-Diskurses thematisieren, indem sie die diesem zugrundeliegenden Projektions- und Spiegelungsver-

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hältnisse performativ vorführen und somit nicht nur dem zeitgenössischen Zeitschriftenleser en passant zumindest potentiell die Möglichkeit eines ebensolchen selbstreflexiven Blicks auf das eigene Afrika-Bild eröffnen.

Tigerjagd in Altenbrak Poetische Topographie in Theodor Fontanes »Cécile« Katharina Grätz

»Fontane ist der Dichter unserer Region. […] Nach eigenem Bekunden im ›märkischen Sand geboren‹, spürt man quasi in allen seinen Büchern die Streusandbüchse«1 − mit diesen Worten eröffnete Manfred Stolpe, damals Ministerpräsident Brandenburgs, 1998 die Potsdamer Tagung zum 100. Todestag des Autors. Wieder einmal wurde Fontane regional vereinnahmt, wieder einmal das Bild vom Provinzdichter bestätigt, wieder einmal präsentierte man ihn als literarischen Detailmaler der Heimat. Freilich untermauert die Mehrzahl der in den drei Bänden zur Tagung erschienenen Beiträge diese Sichtweise nicht, sondern betont im Gegenteil die Weltläufigkeit und Modernität Fontanes und dokumentiert damit einen Umbruch, der sich seit einigen Jahren in der Realismus-Forschung anbahnt, die sich immer stärker an aktuellen kulturwissenschaftlichen Konzepten orientiert. Nicht zuletzt die literarische Raumkonstruktion rückt dabei in den Fokus des Interesses. Statt Verklärungsstrategien zu beschreiben, arbeitet man nun in kontrapunktischen Lektüren koloniale Strukturen heraus.2 Statt von verschrobener Idyllik ist jetzt von einer »globalen Raumpoetik des Realismus«3 die Rede − und Fontane erlebt eine erstaunliche Karriere vom Dichter der märkischen Sandkörner zum Autor einer globalisierten Welt: Das Weltmännische […] des späten Fontane, sein besonderes Interesse für die weltverbindenden Kommunikationsmittel und die weltpolitischen Entwicklungen

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Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-FontaneArchivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam. Bd. 3: Geschichte – Vergessen – Großstadt – Moderne, Würzburg 2000, S. 9. Beispielhaft sei hier auf das Buch von Axel Dunker verwiesen: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008. Patrick Ramponi, Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hrsg.), Kulturelle Ordnungen in der Erzählprosa des Realismus, Würzburg 2007, S. 17−59, hier S. 58.

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im fernen Osten, nicht zuletzt das in seine Zeitromane eingeflochtene ›Wissen aus und um die Kolonien‹ scheinen ihn geradezu für den Rang im Olymp europäischer Weltliteratur zu prädestinieren.4

In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass über Jahrzehnte hinweg festgeschriebene Forschungsmeinungen zum poetischen Realismus ins Wanken geraten. Die zum Stereotyp geronnene Auffassung von der Literatur, die sich im idyllischen Winkel einspinnt, wird abgelöst durch das Konzept einer Literatur, die sensibel auf Modernisierungsprozesse reagiert, die im Kleinräumigen die globale Umgestaltung der Weltordnung spiegelt. Insbesondere Gustav Freytags Roman Soll und Haben hat »als Gründungsdokument geopolitischer Semantiken«5 eine bemerkenswerte Aufwertung erfahren. Insgesamt konzentrieren sich die Umwertungsbemühungen der Forschung bislang auf eine eher schmale Textbasis; die beliebtesten Referenztexte der Modernitäts- und Globalisierungsthese sind ohne Zweifel Wilhelm Raabes Stopfkuchen und Fontanes Stechlin. Es wäre daher kritisch zu überprüfen, ob die aktuellen Bemühungen, das Bild des Realismus zu korrigieren, nicht neue Einseitigkeiten hervor treiben, ob sie nicht zu einer neuen Kanonbildung führen. Diese Frage steht im Hintergrund meiner Überlegungen zu Fontanes literarischer Topographie. Das Hauptaugenmerk liegt auf der konkreten Analyse der poetischen Räume, ihrer narrativen Konstruktion, innertextuellen Verknüpfung und semantischen Aufladung. Zunächst soll ausgehend von der Forschung gezeigt werden, dass für Fontanes literarische Topographie und Raumkonstruktion unterschiedliche Strategien wichtig sind, die in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen. Konkret analysiert wird dann die Raumkonstellation eines Romans, der in der Forschung unter dem Gesichtspunkt des Topographischen bislang noch nicht untersucht wurde, obwohl er konsequent über die erzählten Räume strukturiert wird und alle Aspekte vereint, die für Fontanes poetische Topographie wesentlich sind: der zwischen 1884 und 1886 entstandene Roman Cécile, dessen Handlung ausgespannt ist zwischen der Metropole Berlin und der Landschaft des Harz – und der einen Protagonisten ins Zentrum stellt, der als Kabel verlegender Ingenieur die ganze Welt bereist hat. _____________ 4

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Ebd., S. 24. Siehe auch Eda Sagarra, Fontane in der globalisierten Welt. In: Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.), Realien des Realismus. Wissenschaft − Technik − Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, Berlin 2010, S. 15−26. Michael Neumann, Die Legitimität der Transgression. Zur Rationalität hegemonialer Gewalt in Gustav Freytags Roman ›Soll und Haben‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 129 (2010), S. 265−280, hier S. 265. Vgl. bes. Niels Werber, Geopolitiken der Literatur. Raumnahmen und Mobilisierung in Gustav Freytags ›Soll und Haben‹. In: Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. 456−478.

Poetische Topographie

1.

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Grundprinzipien von Fontanes poetischer Raumkonstruktion

Fontane hat im späten Stechlin-Roman ein einprägsames Bild entworfen für die Verschränkung von Nahem und Fernem. Die Textstelle aus der Eingangspartie des Romans wurde immer wieder zitiert: An den StechlinSee knüpft sich die Sage, dass in ihm ein Wasserstrahl aufsteige, »wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird« (HFA I/5, S. 7). Wie durch kommunizierende Röhren scheint der See mit fernen geographischen Orten verbunden − Rolf Parr hat von einem »Globalisierungssymbol«6 gesprochen, Norbert Mecklenburg aus dem mit »Java telefonierenden« See das Raumkonzept einer »offenen Provinz«7 abgeleitet, die seismographisch reagiert auf Erschütterungen am anderen Ende der Welt. Dennoch lässt sich kaum bestreiten, dass Fontanes literarisches Schaffen auf begrenzte geographische Räume fixiert ist. Er ist doch tatsächlich Dichter der Mark Brandenburg und der Berlin-Autor unter den deutschsprachigen Realisten. Für die Wanderungen durch die Mark Brandenburg ist die kleinräumige literarische Erkundung der Heimat programmatisch und in den Berlin-Romanen hat Fontane die städtische Topographie so genau erfasst, dass sich der Handlungsraum anhand eines Stadtplans abschreiten lässt. Das scheint deutlich gegen die Globalisierungsthese zu sprechen − und fordert dazu heraus, eingehender zu untersuchen, wie das Verhältnis von Provinz und Welt, von nahem und fernem Raum organisiert ist. Die Fixierung auf das Räumliche, die einen Grundzug der Literatur des deutschsprachigen Realismus darstellt, tritt bei Fontane besonders markant hervor. Seine Romane sind primär räumlich strukturiert; Geschehen und Figuren finden sich in ein konkretes räumliches Koordinatengefüge fest eingebunden. Das Zeitgerüst, so wurde in der Forschung festgestellt, ist nicht bloß mit dem Räumlichen koordiniert, sondern wird wesentlich durch die Abfolge der Geschehensräume strukturiert.8 Und der Ort erscheint den Figuren zumindest insofern vorrangig, als die meisten Texte mit einer Schauplatz-Beschreibung beginnen.9 Literaturwissen_____________ 6

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Rolf Parr, Kongobecken, Lombok und der Chinese im Hause Briest. Das ›Wissen um die Kolonien‹ und das ›Wissen aus den Kolonien‹ bei Theodor Fontane. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 212−228, hier S. 216. Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein im Taunus 1982, S. 46. So Klaus R. Scherpe, Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 161–169, hier S. 164. Darauf verweist Ortrud Gutjahr, Kultur der Ungleichzeitigkeit. Theodor Fontanes Berlin-Romane im Kontext der Moderne. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 171–188, hier S. 177.

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schaftliche Untersuchungen sind der Bedeutung des Räumlichen in vielerlei Hinsicht nachgegangen; untersucht wurden etwa: Innenraum- und Interieurschilderungen,10 Erinnerungsräume und Denkmäler, die Darstellung von Großstadt,11 Natur und Landschaft, Grenzen und Grenzüberschreitungen,12 Reisen,13 Topographien des Fremden.14 Der Blick auf die Forschung offenbart allerdings nicht allein, dass Raumgestaltung in Fontanes Texten viele Facetten besitzt, sondern auch, dass diese in ihrem Zusammenspiel bislang noch kaum beschrieben wurden. Es mangelt an einer systematischen Untersuchung zu Konstruktion und Bedeutung des Topographischen bei Fontane. Den folgenden Überlegungen zu Grundzügen seiner Raumgestaltung kann daher nur skizzenhafter Charakter zukommen. Zunächst ist hervorzuheben, dass entsprechend den Darstellungskonventionen realistischer Literatur narrative Strategien dominieren, die auf das Erzeugen von Realitätsillusion zielen. Die realistische Wirkung der poetischen Raumentwürfe Fontanes beruht wesentlich auf zwei Grundpfeilern: auf detailgenauen Innenraumbeschreibungen und, noch wichtiger, auf außertextuellen Referenzen. Fontane orientierte sich bei der Gestaltung der fiktiven Schauplätze an realen Orten. Um möglichst große Wirklichkeitsnähe zu erreichen, betrieb er regelrechte Raumstudien. Aus Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefen etwa weiß man, dass er die Schauplätze des Romans Irrungen, Wirrungen während der Entstehungszeit aufsuchte, um sie möglichst wirklichkeitsgetreu schildern zu können.15 _____________ 10

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So etwa Michael Andermatt: »In der Tat spielen Fontanes Romane vorwiegend in geschlossenen Räumen« (ders., Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka, Bern 1987, S. 77). Rüdiger Steinlein, Die Stadt als geselliger und als ›karnevalisierter‹ Raum. Theodor Fontanes ›Berliner Romane‹ in anderer Sicht. In: Klaus Siebenhaar (Hrsg.), Das poetische Berlin. Metropolenkultur zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus, Wiesbaden 1992, S. 41−68; Walter Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur. Formen der Großstadt-Darstellung in Fontanes Prosa. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 149–160; Helen Chambers, Großstädter in der Provinz. Topographie bei Theodor Fontane und Joseph Roth. In: Ebd., S. 215–225. Michael White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹ Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 129 (2010), S. 109−123. Christine Hehle, Unterweltsfahrten. Reisen als Erfahrung des Versagens im Erzählwerk Fontanes. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 65–76; Katharina Grätz, Landpartie und Sommerfrische. Der Ausflugsort in Fontanes literarischer Topographie. In: Kerstin Stüssel und Michael Neumann (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 77−92. Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002. Siehe auch Michael James White, Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function, London 2012. Selbst die geschilderten Ausblicke sollten perspektivisch ›richtig‹ sein: »Es ist mir selber fraglich, ob man von einem Balkon der Landgrafenstraße aus den Wilmersdorfer Turm

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Leitend ist die Anlehnung an kartographische Koordinaten, was sich in einer Fülle von Toponymika und Ortsnamen niederschlägt. Erzählen nach kartographischem Muster bedeutet, dass sich literarische Texte auf kartographische Darstellungen beziehen lassen bzw. sich deren Verfahren der Raumerfassung annähern. Die Nähe zum Kartographischen − Robert Stockhammer spricht von der »Kartizität« der Literatur16 − erreicht Fontane, indem er das Geschehen durch die Nennung von Stadtteilen, Plätzen, Straßen, Geschäften, Wirtshäusern oder Denkmälern topographisch genau verortet. Das kartographische Prinzip tritt besonders ausgeprägt in den Berlin-Romanen hervor, deren Geschehensräume auf dem Stadtplan zu finden sind. Wie gut das funktioniert, demonstriert der 2011 erschienene, mit zahlreichen Karten und Bildern ausgestattete Band Fontanes Berlin,17 der zu den Schauplätzen seiner Romane führt. Was leisten nun topographische Referenzialität und kartographisches Raumkonzept für die literarische Darstellung? Ihre wichtigste Funktion liegt darin, dass sie dem Romangeschehen Bodenhaftung verleihen. Sie stützen seine Glaubwürdigkeit, indem sie das fiktive Geschehen in die Koordinaten der − kartographisch verbürgten − Realität einfügen. Der Effekt ist ein Verwischen der Grenze zwischen Realität und Fiktion: Der fiktionale Entwurf wird in der dem zeitgenössischen Leser bekannten Realität situiert und fügt sich dieser bruchlos ein.18 Die räumlichen Koordinaten der erzählten Welt stimmen mit denen des Lesers überein. Das evoziert ein Gefühl von Vertrautheit, verschleiert den fiktiven Charakter des Erzählten und fördert Realitätsillusion. Das bedeutet allerdings nicht, dass in Fontanes Romanen das Berliner Großstadtleben realistischen Niederschlag findet. Trotz der exakten topographischen Verankerung und obwohl immer wieder einzelne Realitätspartikel in die Texte einfließen, bieten sie kein Gesamtbild des urbanen Lebens, dafür bleibt die Darstel-

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oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht«, räsoniert er in einem Brief über die Gestaltung der Fensterblicke in Irrungen, Wirrungen (Fontane an Emil Schiff, 15.2.1888; HFA IV/3, S. 586). Robert Stockhammer, Kartierung der Erde. Die Macht und Lust in Karten und Literatur, München 2007, S. 67f. Bernd W. Seiler, Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen, Berlin 2011. Das entspricht der grundlegenden Erwartung Fontanes an den Roman der Gegenwart: »Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren […].« (Theodor Fontane, Paul Lindau. Der Zug nach dem Westen [Fassung aus dem Nachlaß], in HFA III/1, S. 568–570, hier S. 568)

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lung viel zu selektiv.19 In erster Linie leistet die kartographisch-topographische Verortung eine soziale Verortung. Die Texte vergegenwärtigen Berlin als sozialen Kosmos, rufen mit Wohnbezirk und Straßennamen ein spezifisches Milieu auf. Der Wohnort ist Ausdruck des sozialen Status: Wenn die Fabrikantenfamilie Treibel ihr von reputierten Architekten entworfenes, in der Alten Jakobstraße gelegenes Wohnhaus als »nicht mehr zeit- und standesgemäß« (HFA I/4, S. 307) aufgibt, um sich im Industriegebiet eine modische Villa mit Park zu erbauen, ohne sich davon beeindrucken zu lassen, dass diese bei Nordwind den Emissionen der hauseigenen Farbenfabrik ausgesetzt ist, dann zeugt das von typisch neureichem Gebaren. Für den Roman Irrungen, Wirrungen fertigte Fontane selbst eine Skizze der Dörr’schen Gärtnerei an, in der sogar das Spargelbeet eingezeichnet ist. Mit dieser Karte hat es allerdings eine besondere Relevanz. Denn sie referiert nicht auf außerliterarische Realität, sondern sie fingiert Realität. Sie stellt nämlich einen fiktiven Schauplatz dar, bietet die kartographische Abbildung einer virtuellen topographischen Örtlichkeit. Die Skizze belegt, dass Fontane auch erfundene Räume möglichst glaubwürdig zu gestalten sucht – er verhilft ihnen zu realistisch wirkenden topographischen Koordinaten. Das wiederum ist ein Hinweis darauf, dass die Texte weniger um die Mimesis bestehender Realität ringen als vielmehr darum bemüht sind, die literarische Fiktion glaubwürdig zu machen. Das kartographische Raummodell liefert dafür das Gerüst. Das kartographische Schema ist zwar das auffälligste Muster von Fontanes Raumgestaltung (Klaus R. Scherpe sieht darin das vorrangige »Ordnungsprinzip des Fontane’schen Erzählens«20), aber es ist nicht das einzige. Die Texte greifen auf Formen der Konstruktion und Semantisierung von Räumen zurück, die nicht in Realitätstreue und Referenzialität aufgehen, im Gegenteil: Zielt das kartographische Erzählen darauf, den Kunstcharakter zu verschleiern, so tritt in der kompositorischen Anordnung der Räume der Kunstcharakter deutlich hervor. Vergleichendes Gegenüberstellen, Analogisieren und kontrastives Zuordnen ist zentral für Fontanes Raumgestaltung. Leitend sind dabei topographische Oppositionen, die, _____________ 19

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Darauf hat Walter Hettche hingewiesen: »Sucht man Fontanes Prosa nach Stadtbeschreibungen im eigentlichen Sinne ab, nach detailgenauen Schilderungen von Straßen, Plätzen und Gebäuden, wird man alsbald finden, dass es dergleichen nur sehr selten gibt. Meist hat es mit der Nennung der Straßennamen sein Bewenden« (Hettche, Vom Wanderer zum Flaneur [wie Anm. 11], S. 150). Hettche erklärt das plausibel damit, dass Fontane, auf die Ortskenntnis seiner Leser bauend, sich auf den Wiedererkennungswert der kartographischen Daten verlässt. Das heißt dann aber auch, dass er nicht nach mimetischer Wirklichkeitsabbildung strebt. Scherpe, Ort oder Raum? (wie Anm. 8), S. 163.

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ganz im Sinne Jurij M. Lotmans,21 zugleich semantische Oppositionen vorstellen. Die Handlung ist ausgespannt zwischen zwei gegensätzlichen Handlungsräumen, die entsprechend der binären Kulturmuster Stadt/Land, Kultur/Natur, Metropole/Provinz, Heimat/Fremde gestaltet sind. Das »Zwei-Orte-Schema«22 findet sich mit unterschiedlicher Akzentuierung in Unwiederbringlich (mit der politischen Differenz von SchleswigHolstein und Dänemark), in Quitt (mit dem Ortswechsel zwischen Riesengebirge und Amerika), im Stechlin (mit der Gegenüberstellung von Mark Brandenburg und Berlin), in Irrungen, Wirrungen (mit dem Kontrast zwischen der Großstadt Berlin und der vermeintlichen Idylle in Hankels Ablage). Ich werde gleich zeigen, dass auch Cécile durch kontrastiv angeordnete Schauplätze strukturiert wird, auch dort fungiert der Wechsel von einem vertrauten in einen fremden Raum als Motor des Geschehens.23 Zu betonen ist allerdings, dass die Räume nicht als objektive Gegebenheiten präsentiert werden, innerhalb derer sich die Figuren bewegen und sich ihr Handeln vollzieht. Vielmehr beschreiben die Texte eine Wechselwirkung zwischen Figuren und Raum. Die räumliche Umgebung wirkt wie ein Katalysator auf das Figurenbewusstsein, sie treibt verborgene Wünsche, Triebe und Ängste hervor. Besonders deutlich zu sehen ist das an dem Roman Graf Petöfy, dessen Schauplatz wechselt zwischen dem Stadthaus Petöfys in Wien und dem Stammschloss der Familie im österreichisch-ungarischen Arpa. Das Leben unter den Magyaren, die im Text aus betont einseitiger und verzerrender Fremdperspektive dargestellt werden, schürt bei der Protagonistin Franziska das Gefühl der Fremdheit und Unzugehörigkeit und verstärkt ihre Orientierungskrise, die letztlich in den Ehebruch mündet und den Selbstmord Petöfys nach sich zieht. Ähnliches gilt ja auch für Effi Briest, wo das provinzielle Kessin zum Nährboden wird für die Angst besetzte Chinesen-Phantasie, die Effi in die Arme von Crampas treibt. Doch wirkt nicht allein der Raum auf das Figurenbewusstsein, sondern auch umgekehrt wird vorgeführt, wie die Figuren den Raum mit ihren Vorstellungen und Projektionen überziehen. In Irrungen, Wirrungen findet sich dafür ein schönes Beispiel: Weil die Offiziere Wedell, Pitt und Serge sich im Offizierskasino durch die Geräusche der Kegelbahn gestört fühlen, setzen sie sich nach draußen und vernehmen dort statt des »spitzen Klappertons« der fallenden Kegel nur noch ein unterirdisches »Pol_____________ 21 22 23

Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972. Mecklenburg, Erzählte Provinz (wie Anm. 7), S. 34. Verallgemeinernd konstatiert Scherpe: »Ortswechsel sind im Fontane-Roman immer problematisch (und insofern handlungsfördernd), sind fast so unheimlich wie die Fremde« (Scherpe, Ort oder Raum? [wie Anm. 8], S. 162).

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tern und Donnern«. Damit finden sie sich gerne ab, weil sie sich nun, wie Serge es formuliert, »einbilden können, am Vesuv oder Ätna zu sitzen« (HFA I/2, S. 360). Sie bedienen sich also einer Assoziationstechnik, mit deren Hilfe sie den gegenwärtigen Raum auf spielerische Weise mit der Vorstellung fremder Räume überblenden. Die damit offensichtlich werdende Differenz zwischen Handlungsraum und figurengebundener Raumimagination wird aus Figurenperspektive noch zusätzlich unterstrichen, wenn Serge sich explizit auf die Macht der »Einbildung« beruft und erklärt: »Nur das Unwirkliche macht den Wert und ist eigentlich das einzig Reale.« (HFA I/2, S. 360)24 Im Kontext eines realistischen Romans lässt sich das als selbstreflexive poetologische Anspielung lesen, die ein Ungenügen an planer Abbildung von Realität signalisiert. Assoziative Überblendungen einander wesensfremder Räume begegnen dem Leser bei Fontane tatsächlich immer wieder. Sie überziehen den in der Fiktion als real präsentierten Raum mit subjektiven Imaginationen. Orte sind also bei Fontane weitaus mehr als kartographisch verifizierbare Koordinaten und Räume mehr als bloße Bühnen, auf denen sich das Geschehen vollzieht. Die Relation von Raum und Figuren ist nicht statisch, sondern unterliegt wechselseitiger Beeinflussung. Es gibt keinen einheitlichen Handlungsraum, in den die Figuren gestellt sind und in dem sie agieren. (Räumliche Containervorstellungen, denen zufolge Räume als fest gegebene, unveränderbare Entitäten zu denken sind, bilden daher unangemessene Modelle für die Beschreibung von Fontanes Raumentwürfen.) Immer wieder werden die realistischen Raumbeschreibungen ›überwuchert‹ von figurenperspektivisch gebundenen Raumvorstellungen. Diese repräsentieren nicht geographische Realitäten, sondern sind Ausfluss mentaler Muster, die in hohem Grad medial geprägt scheinen, durch Zeitungslektüre und auch durch Bilder beeinflusst sind.25 Besonderes Interesse verdienen die in fast jedem Roman Fontanes anzutreffenden Bildbeschreibungen und Bildergespräche. Sie sorgen dafür, dass der narrativ entworfenen Topographie zusätzliche Bildräume eingelagert werden, lassen also »virtuelle Welten in den Roman«26 eindringen. Auf diese Weise entstehen uneindeutige, hybride Räume, in denen sich unterschiedliche Raumkonzepte und Raumsemantiken überlagern. Dadurch _____________ 24

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Das Bildsymbol des Vulkans ist nicht willkürlich gewählt. Dass die Offiziere ausgerechnet Bilder von Naturgewalten heraufbeschwören, bildet einen kompensatorischen Reflex auf ihr stagnierendes, ereignisloses, ganz auf Zerstreuung ausgerichtetes Dasein. So hat auch Botho von Rienäcker das Gemälde eines Seesturms in seiner Wohnung hängen. In Mathilde Möhring etwa paraphrasiert die Protagonistin Zeitungsartikel, um ihren Mann mit Anekdoten aus aller Welt bei Laune zu halten. Martin Lowsky, ›Der Bahnhof ist der Ararat‹. Abstraktion, Modernität und mathematischer Geist in Theodor Fontanes Erzählung ›Die Poggenpuhls‹. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 3 (wie Anm. 1), S. 137–147, hier S. 138.

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verliert der eng begrenzt scheinende Raum seine Begrenztheit.27 Die literarische Vergegenwärtigung der Bildräume von Gemälden schafft die Möglichkeit zur unerschöpflichen virtuellen Öffnung geschlossener Räume und zwar, was im Rahmen eines realistischen Literaturkonzepts von besonderem Reiz ist, ohne dass die Realitätsillusion dadurch gestört würde. Denn die Gemälde werden als Realien präsentiert und können als solche sogar noch dazu beitragen, den Eindruck des Realistischen zu verstärken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Fontanes poetische Raumgestaltung drei Prinzipien in spannungsreicher Weise miteinander kombiniert: 1. Auf den ersten Blick überwiegen mimetische Raumerfassung und topographisch genaues Erzählen. Die Texte entfalten ein eng geknüpftes Netz von Realitätsreferenzen. Dadurch evozieren sie den Eindruck von Realitätstreue. 2. Unverkennbar ist aber auch die künstlerische Komposition: Die Raumgestaltung ist durch Selektion und kontrastive Zuordnung bestimmt; besonders auffällig sind binäre Oppositionen. 3. Diese binären Oppositionen, die den Handlungsraum strukturieren, werden aufgeweicht durch an Figuren gebundene Raumimaginationen sowie durch medial vergegenwärtigte Bildräume, die in den Geschehensraum integriert sind. Wir haben es also bei Fontane zu tun mit einem Nebeneinander verschiedener Konzepte der Raumdarstellung. Die Konsequenz davon ist die Auflösung des geschlossenen Ereignisraums. Raum wird aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich wahrgenommen und mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft. Das bedeutet, dass die Semantik der Räume nicht fest vorgegeben, sondern variabel ist. Beispielhaft zu sehen ist all das in dem Roman Cécile. Von Beginn an steuern in ihm räumliche Konfigurationen die zentralen Konflikte und immer wieder wird die perspektivisch unterschiedliche Raumwahrnehmung explizit thematisiert.

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Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Ausflugsort Hankels Ablage in Irrungen, Wirrungen. Der scheinbar idyllische Naturraum erweist sich bei genauerer Betrachtung nicht nur als Ort einer florierenden Tourismusindustrie, sondern zeigt sich in eigentümlicher Weise mit Orten der Weltgeschichte verknüpft: In der zum Ausflugslokal umgebauten ehemaligen Fischerkate hängen Reproduktionen von Gemälden Emanuel Leutzes und Benjamin Wests, die Ereignisse aus der amerikanischen Geschichte darstellen. Der narrativ vergegenwärtigte Raum ist also mit Bildern bestückt, die auf einen anderen Kulturraum verweisen.

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Perspektivische und kartographische Raumwahrnehmung in Cécile ›Die beiden Türme da. Der nächste, das muß der Quedlinburger sein, das ist klar, das kann ’ne alte Frau mit ’m Stock fühlen. Aber der dahinter, der sich so retiré hält! Ob es der Halberstädter ist? Es muß der Halberstädter sein. Was meinst du, wollen wir ’n mal ein bißchen ranholen?‹ ›Gewiß. Aber womit?‹ ›Na, mit’s Perspektiv. Sieh doch den Opernkucker da.‹ ›Wahrhaftig. Und auf ’ner Lafette. Komm.‹ Und so weitersprechend, erhoben sie sich und gingen auf das Teleskop zu. […] ›Nu? hast du’n?‹ ›Ja. Haben hab’ ich ihn. Und er kommt auch immer näher. Aber er wackelt so.‹ ›Denkt nicht dran. Weißt du, wer wackelt? Du.‹ (HFA I/2, S. 162f.)

Die beiden Berliner Touristen, die von der Aussichtsplattform der Roßtrappe die Sehenswürdigkeiten des Harz in den Blick nehmen, besetzen die Rolle der komischen Randfiguren und leisten doch mehr als eine kurze Slapstick-Einlage. Indem sie die Wahrnehmung der räumlichen Gegebenheiten, deren Gebundenheit an den eigenen Standpunkt und die medialen Bedingungen von Wahrnehmung ansprechen, verweisen sie darauf, dass Wirklichkeit perspektivisch konstruiert wird und es dabei nicht nur auf die Wahl der Perspektive ankommt, sondern auch auf die Disposition des Betrachters. Die Szene deutet auf den erkenntnistheoretischen Kern des Romans, der nur vordergründig von einer fatal endenden Ferienbekanntschaft erzählt, tatsächlich aber das Problem perspektivisch gebundener visueller Wahrnehmung und subjektiver Raumerfassung in den Mittelpunkt rückt.28 Von Beginn an erhält das Räumlich-Topographische großes Gewicht. Das erste Kapitel schildert eine Zugfahrt von Berlin in den Harz. Der erste Schauplatz ist ein Bahnhof und das erste Wort, das fällt, der Ortsname »Thale«. Thale ist das Ziel des eben abfahrenden Zuges und auch das Ziel des Ehepaars Cécile und Pierre St. Arnaud, auf dem der Fokus des Erzählens liegt. Dem kargen Wortwechsel der Eheleute ist zu entnehmen, dass die Ortsveränderung für sie mehr ist als ein bloßer Aufenthalt in der Sommerfrische. Die Frau fragt: »Gibt es nicht eine Geschichte: Die Reise nach dem Glück? Oder ist es bloß ein Märchen?« Ihr Mann antwortet: »Es wird wohl ein Märchen sein«, korrigiert sich aber, als er ihre Enttäuschung bemerkt: »Vielleicht ist das Glück näher, als du denkst, und _____________ 28

Während Konstruktion und Bedeutung des Topographischen noch nicht untersucht wurden, wurde die zentrale Bedeutung visueller Wahrnehmung von der Forschung überzeugend herausgearbeitet. Siehe hierzu insbesondere Sascha Kiefer, Der determinierte Beobachter. Fontanes ›Cécile‹ und eine Leerstelle realistischer Programmatik. In: Literatur für Leser 26 (2003), S. 164−181; Nora Hoffmann, Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, Berlin/Boston 2011, S. 181−240.

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hängt im Harz an irgendeiner Klippe« (HFA I/2, S. 144). Die kurze Gesprächssequenz lädt das Reiseziel Harz mit Bedeutung auf. Sie enthüllt, dass die Eheleute unangenehmen Erlebnissen entfliehen und mit dem Raumwechsel die Hoffnung auf ein glücklicheres Dasein verknüpfen. Deutlich wird zugleich, dass sich beide über den illusionären Charakter dieser Erwartung im Klaren sind. Während aber der Mann die Illusion bricht, scheint die Frau gewillt, an ihr festzuhalten. Nicht allein die Bedeutung des Räumlichen, sondern auch die perspektivische Gebundenheit von Raumwahrnehmung wird bereits im Eingangskapitel durch Wahl und Wechsel der narrativen Fokalisierung nachdrücklich akzentuiert. Der Erzähler beschränkt sich zunächst auf den Beobachterstandpunkt, schildert, was »allem Anscheine nach« (HFA I/2, S. 141) ersichtlich ist, und enthält sich weiterer Erläuterungen (so erfährt man auch die Namen der beiden Protagonisten erst im Nachhinein). Als der Zug sich in Bewegung setzt, wechselt die Fokalisierung von extern kurzfristig zu Null-fokalisiertem Erzählen, im unmittelbaren Anschluss daran wird aus der Sicht des reisenden Ehepaars erzählt, was sie durch das Fenster des fahrenden Zugs sehen: Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. […] Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe mit Flaschen hinein- und mit ebensoviel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. (HFA I/2, S. 142)

Die mit der Eisenbahnfahrt einhergehenden Veränderungen der Raumwahrnehmung werden in der Literatur um 1900 häufig thematisiert. Ungewöhnlich an dieser Schilderung ist, dass nicht das dynamische Moment, nicht das Erleben von Geschwindigkeit die Wahrnehmung verändert, sondern sich die Perspektive verschiebt. Der Blick der Zugreisenden richtet sich auf die Rückseite des großstädtischen Lebens und gewährt Einsicht in sonst Verborgenes, Intimes. Metonymisch codiert diese Passage die narrative Strategie des Romans, der hinter die Fassaden bürgerlicher Existenz blickt, unter die Oberfläche des Gesellschaftlich-Konventionellen vorstößt und sich zu diesem Zweck eines unkonventionell narrativ fokalisierten, enthüllenden Erzählens bedient.29 _____________ 29

Nach vergleichbarem Muster gestaltet ist auch die topographische Beschreibung, mit der Irrungen, Wirrungen beginnt.

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Zunächst freilich ist davon noch wenig zu spüren. Denn die Erlebnisse der beiden Harzreisenden gehen im Konventionellen auf. Erzählt werden die typischen touristischen Aktivitäten: Ausflüge zu den landschaftlichen und historischen Sehenswürdigkeiten, Gespräche über die zu wählenden Reise- und Marschrouten (ob man den »Talweg unten« oder besser »den Hochweg oben« wählen solle; HFA I/2, S. 198), Diskussionen über die besten Aussichtspunkte und schönsten Wege. Dabei ist deutlich, dass man sich als Tourist unter Touristen bewegt. Den Vorschlag eines Spaziergangs durchs Bodetal weist Gordon energisch zurück: »Überall Menschen und Butterpapiere, Krüppel und Ziehharmonika. Nein, nein, ich proponiere Lindenberg.« (HFA I/2, S. 201) Der Text wimmelt von Ortsnamen und Toponymika, die auf Wiedererkennbarkeit und topographische Konkretion zielen: Quedlinburg, Treseburg, Todtenrode, Roßtrappe, Hexentanzplatz. Immer wieder werden Orte und Wege beschrieben – und zwar kartographisch genau, wie sich anhand der Landkarten nachvollziehen lässt, die fast allen Ausgaben des Romans beigegeben sind. Das kartographische Raummodell ist aber nicht bloß grundlegend für die literarische Darstellung der Harzlandschaft, es wird überdies im Text selbst thematisiert: Die Figuren orientieren sich mittels Karten und sie planen ihre Ausflüge anhand von Landkarten. Das beginnt schon auf der Zugfahrt. St. Arnaud blättert in einem »Reisehandbuch« (HFA I/2, S. 143) und studiert eine »mit dicken Strichen gezeichnete Karte […], die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab« (HFA I/2, S. 142). Nicht nur das kartographische Prinzip, auch die anderen wesentlichen Aspekte von Fontanes Raumgestaltung lassen sich in Cécile finden. Die Anordnung der Geschehensräume folgt einem durchdachten Kompositionsprinzip. Der Roman ist nach dem ›Zwei-Orte-Schema‹ organisiert, ein Schauplatzwechsel teilt ihn fast symmetrisch in zwei Hälften: Kapitel 2–16 spielen im Kurort Thale im Harz, Kapitel 17–29 in Berlin. Der topographische Wechsel bedeutet einen tiefen Einschnitt, es ändern sich sowohl die Erzählweise als auch das Verhalten der Figuren zueinander. Die binäre Opposition von Sommerfrische (Harz) und urbanem Raum (Berlin) strukturiert den Text. Und doch wird der scheinbar starre Antagonismus in vielfältiger Weise unterlaufen. Schon gleich zu Beginn wird nachdrücklich signalisiert, dass der Harz keineswegs eine ungebrochen idyllische Natur- und Erholungssphäre vorstellt. Der Balkon des Hotels Zehnpfund, in dem die St. Arnauds absteigen, gibt den Blick frei auf »ein Landschaftsbild«, das, wie mit Ironie angemerkt wird, »durch Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik nicht allzu viel an seinem Reize verlor« (HFA I/2, S. 145). Drastischere Worte finden die beiden Berliner:

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›Das also ist der Harz oder das Harzgebirge‹, nahm der Ältere zum zweiten Male das Wort […]. ›Merkwürdig ähnlich. Ein bißchen wie Tivoli, wenn die Kuhnheimsche Fabrik in Gang ist. Sieh nur, Hugo, wie das Ozon da drüben am Gebirge hinstreicht. In den Zeitungen heißt es in einer allwöchentlich wiederkehrenden Annonce: ›Thale, klimatischer Kurort‹. Und nun diese Schornsteine! Na, meinetwegen; Rauch konserviert, und wenn wir hier vierzehn Tage lang im Schmook hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus. Ach, Berlin!‹ (HFA I/2, S. 151)

Während hier die räumliche Differenz zwischen ländlichem und urbanem Raum gänzlich eingeebnet wird (mit Tivoli wird an eine Brauerei in Kreuzberg erinnert), erfreuen sich die anderen Figuren durchaus an der Schönheit der Landschaft, an den wechselnden Ausblicken auf Dörfer, Täler und die »phantastischen Zacken« (HFA I/2, S. 145) der Berge. Dabei wird immer wieder das Arrangierte der Landschaft betont, die sich dem Betrachter als Bild, als »Szenerie« (ebd.) in künstlich geschaffenen Ausblicken und Tableaus darbietet. Die Harzlandschaft hat Kulissencharakter, sie scheint auf die Wahrnehmungskonventionen und -erwartungen der Touristen ausgerichtet. Der Harz wird also von Beginn an konsequent als uneindeutiger Raum entworfen. Die Landschaft oszilliert zwischen Naturraum, historischer Kulturlandschaft und touristischem Raum, sie wird mythologisch aufgeladen und trägt unverkennbare Spuren der Industrialisierung. Besonders auffällig sind die Hinweise auf die Eisenbahn, die immer wieder in das Blickfeld der Figuren rückt, ohne zwingend als Zeichen der technischen Moderne wahrgenommen zu werden. Auf dem Rückweg von Altenbrak etwa erscheint der fahrende Zug als integraler Bestandteil einer romantisch-gespenstischen Naturszenerie: Unten im Tal, von Quedlinburg und der Teufelsmauer her, kam im selben Augenblicke klappernd und rasselnd der letzte Zug heran, und das Mondlicht durchleuchtete die weiße Rauchwolke, während vorn zwei Feueraugen blitzten und die Funken der Maschine weit hin ins Feld flogen. ›Die Wilde Jagd‹, sagte St. Arnaud […]. (HFA I/2, S. 239)

Interessant ist hier, wie St. Arnaud die Wahrnehmung des Zuges mit dem germanisch-heidnischen Naturmythos der Wilden Jagd, die in den Sagen des Harz eine prominente Rolle spielt, überblendet. Es sind wohl vor allem die Geräusche des »klappernd und rasselnd« sich nähernden Zuges, die ihn an das Geisterheer der Wilden Jagd denken lassen, das der Sage nach mit fürchterlichem Gerassel unter Heulen, Ächzen und Stöhnen durch den Nachthimmel zieht. Deutlich jedenfalls ist zu erkennen, dass St. Arnaud die empirische Realitätswahrnehmung überformt, indem er sie einem mythischen Muster unterwirft. Das weist auf etwas hin, das für die

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Raumkonstruktion des Romans zentral ist: Raum und Landschaft sind nicht an sich bedeutend, sondern die Bedeutung wird ihnen durch die Figuren zugeschrieben. Das Topographische wird aus subjektiver Perspektive erschlossen, wobei sich die Figuren durch ihre differenten Zugänge zum Raum charakterisieren. Hinzuzufügen ist noch, dass die hier vorgeführte Art der Raumerschließung für St. Arnaud eher untypisch ist und vielmehr das Gepräge der Ferienbekanntschaft Gordon-Leslie trägt, auf den sich St. Arnaud kurz zuvor auch ausdrücklich beruft: »Wahrhaftig, Herr von Gordon hatte recht, als er den ganzen Harz eine Hexengegend nannte.« (HFA I/2, S. 239) 3.

Diskursivierung des Raums

Dass topographische Realitäten keine objektiven Gegebenheiten sind, sondern subjektiv erschlossen werden, verdeutlicht die Besichtigung von Schloss Quedlinburg. Sie stellt den ironischen Höhepunkt der historischtouristischen Harzerkundungen dar. Denn das Schloss steht leer, es zeichnet sich, wie es im Text heißt, durch einen »absoluten Mangel an Sehenswürdigkeiten« (HFA I/2, S. 178) aus. Für den Kastellan, der die Schlossführung übernimmt, ist das eine Herausforderung: so lag ihm, dem Hüter ehemaliger Herrlichkeit, nur ob, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. Er unterzog sich derselben aber mit vielem Geschick, indem er den herkömmlichen, an vorhandene Sehenswürdigkeiten anknüpfenden Kastellans-Vortrag in einen umgekehrt sich mit dem Verschwundenen beschäftigenden Geschichtsvortrag umwandelte. (HFA I/2, S. 177)

Dem Kastellan gelingt es, »durch seine Erzählkunst« (HFA I/2, S. 178) die Leere des Raums zu kompensieren und das Nicht-Vorhandene fiktional zu vergegenwärtigen. Es liegt nahe, diese Passage poetologisch zu lesen, zumal das Beschwören von Abwesendem, das Aufzeigen von verdeckten historischen Dimensionen des Raums ja eine wesentliche Leistung von Fontanes geschichtsversessenem Erzählen darstellt. Der Bogen zu Cécile lässt sich unmittelbar schlagen, denn im Roman schaffen die Figuren sich ihren Zugang zur Umgebung wesentlich durch Gespräche, in denen sie den landschaftlichen Raum mit Allusionen und Anekdoten verbinden. Dabei knüpfen sie zum einen »an vorhandene Sehenswürdigkeiten« an, zum anderen zeigen sie verborgene historische und mythische Dimensionen des Raums auf. Doch noch in anderer Hinsicht spielt in ihren Gesprächen etwas, das nicht sichtbar, nicht materiell manifest ist, eine wichtige, ja die entscheidende Rolle. Wie sich schon im Eisenbahn-Gespräch der Eheleute andeutet, steuern subjektive Interessen und biographische Erfahrungen

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die Raumwahrnehmung. Dabei offenbaren sich gravierende Unterschiede − die Figuren nehmen Raum anders wahr, ihnen sind unterschiedliche Aspekte des Räumlichen wichtig. So haben die Feriengäste, mit denen die St. Arnauds in Thale zusammen kommen, jeweils andere Erwartungen an den Harzaufenthalt und aktualisieren andere Dimensionen des Raums. Die beiden Privatgelehrten betreiben eine eigensinnige Form der Geschichtsforschung, die Tiermalerin Rosa Hexel ist auf der Suche nach geeigneten Motiven. Aus dem insgesamt sehr heterogenen Publikum sticht der junge Ingenieur GordonLeslie heraus, der sich besonders eng an das Ehepaar St. Arnaud anschließt. Gordon wirkt deplatziert im Hotel Zehnpfund. Als Zivilingenieur, der in internationalen Kabelprojekten tätig ist, hat er nicht bloß die ganze Welt bereist, von Baden-Baden bis nach Turkmenien, vom schottischen Hochland bis in den Himalaja, sondern ist ausgewiesener Vertreter des technischen Fortschritts, ja ein Agent der Globalisierung. Umso mehr irritiert, dass ausgerechnet er, der Vertreter der naturwissenschaftlichen Moderne, seine Urlaubstage im provinziellen Harz verbringt. Allein das Auftreten dieser Figur mit ihrem weltmännischen Habitus im Hotel Zehnpfund evoziert eine Spannung von Heimat und Fremde, von Nahem und Fernem. Hinzu kommt, dass Gordons Blick auf den Harz immer wieder überlagert wird von der Erinnerung an entfernte geographische Gegenden. Die gemeinsamen Ausflüge zeigen die unterschiedliche Wahrnehmung und semantische Aufladung des Raums, sie werden zu Exkursionen der Bedeutungszuweisung. Aus den verschiedenen Figurenperspektiven wird die Landschaft unterschiedlich gedeutet, wird mit Projektionen und Vorstellungen überzogen. Für die Verschränkung des Konkreten und Imaginären, des gegenwärtigen und des vorgestellten Raums liefert der Ausflug nach Altenbrak, den Cécile und Gordon auf einem Esel reitend unternehmen, ein Beispiel. Der Eselsritt durch den Harz löst Erinnerungen aus, die an ganz andere geographische Räume gebunden sind: Cécile denkt daran zurück, wie sie nach ihrer Kindheit, die sie in einer »kleinen oberschlesischen Stadt« (HFA I/2, S. 209) verlebte, glückliche Tage mit »Eselritt und Ponyfahrten« (HFA I/2, S. 210) in den Schweizer Alpen verbrachte.30 Und Gordons Erinnerungen führen in noch weiter entlegene Regionen. Als er den »Himalaja« (ebd.) erwähnt, hat er die volle Aufmerksamkeit des sie begleitenden Eselsjungen und es zeigt sich, dass er nicht _____________ 30

Die Ambivalenz dieser scheinbar unverfänglichen Erinnerung enthüllt sich später, als Gordon brieflich Aufklärung erlangt über Céciles Vergangenheit als Fürstenmätresse und erfährt, dass sie als 17-Jährige von dem alten Fürst von Welfen-Echingen dem Schein halber zur »Vorleserin seiner Gemahlin« (HFA I/2, S. 280) ernannt wurde, fortan bei dem fürstlichen Ehepaar lebte und es auch auf seinen Reisen in die Schweiz begleitete.

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nur den Mount Everest als höchsten Berg des Himalaja benennen kann, sondern überdies dessen Höhe mit 27.000 Fuß exakt anzugeben weiß. Cécile kapituliert vor diesem geographischen Wissen, sie gesteht ein, »daß der Junge mehr weiß« (ebd.), und muss sofort an ihren Mann denken, der − in ihren Augen »so konventionell in Bildungssachen« (ebd.) wie alle Preußen − sich immer wieder peinlich berührt zeigt von ihrem mangelnden Kenntnis- und Bildungsstand. Die empirisch messbaren Dimensionen des Raums, auf die im Text immer wieder Bezug genommen wird, sind Céciles Sache nicht. Bezeichnend für ihr mangelndes räumliches Vorstellungsvermögen ist ein Lapsus, der im Text unkommentiert bleibt. Sie überlegt, ob man Berlin nicht vom Harz aus sehen müsse, korrigiert sich dann aber und veranschlagt die Entfernung nach Berlin auf »fünfzehn Meilen oder doch mehr« (HFA I/2, S. 147) − tatsächlich beläuft sie sich auf etwa 200 Kilometer Luftlinie. An anderer Stelle, da St. Arnaud sie über Gordons berufliche Tätigkeit am Roten Meer und Persischen Golf aufzuklären sucht, fügt er sogleich hinzu: »Du wirst nicht orientiert sein, aber ich zeige dir’s auf der Karte.« (HFA I/2, S. 192) Das wiederum interessiert sie wenig, wie überhaupt Gordons gesamte Kabellegungen ihr »trivial« (HFA I/2, S. 193) erscheinen. Ihr fehlt jeder Sinn für geographische Fakten und Realitäten, dafür ist sie sehr empfänglich für alles Romantische, Märchenhafte und Realitätsenthobene. Das, wofür sie sich begeistert und was sie auf Nachfrage St. Arnauds explizit als »nicht trivial« (ebd.) einstuft, entspricht ironischerweise den Ingredienzien des exotischen Trivialromans: »Abenteuer, Tigerjagd, Wüste, Verirrungen« (ebd.). An den Eheleuten ist eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Raumerschließung zu beobachten: St. Arnaud, dem nicht zufällig eine »Kartenpassion« (HFA I/2, S. 193) zugeschrieben wird, strebt nach Raumbeherrschung, indem er sich aktiv um topographische Orientierung bemüht. Cécile hingegen verhält sich den äußeren räumlichen Gegebenheiten gegenüber passiv und nimmt die Umgebung nur selektiv wahr: Ihre Wahrnehmung scheint fixiert auf Zeichen, die auf ihre Vergangenheit als Fürstengeliebte deuten; Aufmerksamkeit schenkt sie den Überresten der Feudalwelt, dem Lustschloss, der Schönheitsgalerie, dem Hundedenkmal. Ansonsten zeichnet sie sich meist durch ostentatives Desinteresse, durch Nicht-Wahrnehmen aus. Gordon gewinnt nicht zuletzt dadurch ihre Zuneigung, dass er es wie keine andere Figur des Romans versteht, ihren Sinn für die Umgebung zu wecken, indem er sie mit Anekdoten verknüpft, die Céciles Unterhaltungsbedürfnis Rechnung tragen. Damit ist angedeutet, dass Gordon seine räumliche Umgebung ganz anders erschließt als St. Arnaud. Dem die Welt vermessenden und verkabelnden Ingenieur ist die kartographische Form der Realitätsorientierung

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nicht in Fleisch und Blut übergegangen, er gibt die exakte topographische Orientierung bewusst preis und überlässt sich seinen Vorstellungen. Gut zu sehen ist das, als er zum ersten Mal die Wohnung Céciles in Berlin aufsucht: »Diese war auf dem Hafenplatze, so daß der einzuschlagende Weg erst durch ein Stück Königgrätzer Straße, demnächst aber über den Potsdamer Platz führte, der auch heute wieder wegen Kanalisation und Herstellung eines Inselperrons unpassierbar war.« (HFA I/2, S. 251) Der Baustelle wegen muss Gordon von der direkten Route abweichen und »an der Peripherie hin sein Heil versuchen« (ebd.). Dadurch gerät er in die »Wirrnisse« des Markttreibens, von dem er »ganz hingenommen« (ebd.) ist. Derart von dem ›rechten‹ Weg abgebracht kommt seine Imagination in Schwung und er malt sich aus, welches Haus Cécile bewohnen müsse: ›Sie werden in dem Diebitschschen Hause wohnen. Etwas Alhambra, das paßt ganz zu meiner schönen Cécile. Wahrhaftig, sie hat die Mandelaugen und den tief melancholischen Niederschlag irgendeiner Zoe oder Zuleika. Nur der Oberst, bei allem Respekt vor ihm, stammt nicht von den Abenceragen ab, am wenigsten ist er der poetische letzte von ihnen. Wenn ich ihn à tout prix in jenen maurischen Gegenden unterbringen soll, so ist er entweder Abdel-Kader in Person oder ein Riffpirat von der marokkanischen Küste.‹ (HFA I/2, S. 252)

Das damals stadtbekannte, von dem in Kairo geborenen Berliner Architekten Karl von Diebitsch (1819−1869) in maurischem Stil erbaute Haus dient Gordon als Ausgangspunkt für eine Assoziationskette, die am Räumlichen ansetzend den Figuren exotische Rollenmuster zuweist. Dabei hält er für sich selbst die Rolle des letzten der Abenceragen frei, der seiner Liebe wegen den Tod findet, was sich insofern bewahrheitet, als Gordon ja tatsächlich wegen der Leidenschaft für Cécile getötet wird. Es ist bezeichnend für Gordon, dass er die Identität der Räume durch seine Vorstellungen auflöst. Seine Raumwahrnehmung ist instabil, sie schwankt zwischen dem empirisch-nüchternen Blick des Naturwissenschaftlers, nostalgischer Verklärung und mythisierender Überformung. So zeigt gerade er sich besonders zugänglich für Harzlegenden und Hexentanzphantasien. Die Landschaft, so sagt er, ist »hier so gesättigt mit derlei Stoff, daß die Sache schließlich eine reelle Gewalt über uns gewinnt« (HFA I/2, S. 165). Gordons Empfänglichkeit für ganz unterschiedliche (illusionäre) Raumvorstellungen hat zur Folge, dass er gedanklich nie dort ist, wo er sich real aufhält. Er ist Repräsentant des technischen Fortschritts, doch seine Sehnsucht ist nostalgisch rückwärtsgewandt, auf die Kindheit fixiert. Er bewegt sich in großen geographischen Räumen und trägt den Gedanken an die Heimat mit sich. Er reitet auf dem Esel durch den Harz und hat das Bild des Himalaja vor Augen. Er bereitet sich in Berlin auf ein neues Kabelprojekt vor, das ihn bis an den Limfjord führen

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soll, und ist in seinen Vorstellungen noch in Thale. Er malt sich und Cécile aus, wie er zukünftig »wieder über die Schneepässe des Himalaja« gehen wird und dabei an die »zurückliegenden schönen Tage« denken will, an die Orte des Harz, »an Quedlinburg und Altenbrak« (HFA I/2, S. 297). Auf diese Weise verliert Gordon den Boden unter den Füßen. Räume haben für ihn nicht Identität stiftende Funktion, im Gegenteil drückt sich in seinem Verhältnis zum Raum die Brüchigkeit seiner Identität aus. Der Aufenthalt in Thale legt die Widersprüche seiner Existenz frei: Gordon erscheint seinem Lebensstil nach als Kosmopolit und ist doch – wie die verhängnisvolle Beziehung zu Cécile offenbart − in den Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet. Gordon, der die Times liest, Havanna-Zigarren raucht und für einen Mann gilt, der »die kleinen Vorurteile hinter sich geworfen« (HFA I/2, S. 258) hat, kann sich von den bürgerlichen Vorbehalten einer ehemaligen Fürstenmätresse gegenüber nicht frei machen. Vielmehr brechen unter seinem weltmännischen Habitus atavistische Regungen auf, er begegnet Cécile mit Besitzanspruch und Eifersucht, zeigt sich plötzlich von einem männlichen Jagdinstinkt getrieben. So bewahrheitet sich an ihm selbst, was er einst in völlig anderem Zusammenhang ausgesprochen hat: »die liberale Geschichtsschreibung […] greift in nichts so fehl als darin, daß sie den Bürger immer als Lamm und den Edelmann immer als Wolf schildert« (HFA I/2, S. 172). Nicht die Fremde wird Gordon zum Verhängnis, für ihn liegen »Abenteuer, Tigerjagd, Wüste, Verirrungen« (HFA I/2, S. 193) in Thale im Harz. 4.

Schluss

Mit Cécile lässt sich dem Stechlin ein weiterer Roman an die Seite stellen, der mit dem Oppositionsgefüge von Welt und Provinz spielt und seine Figuren in ein Netz globaler Bezüge stellt. Zwar konzentriert sich die Raumdarstellung auf die Schilderung des Nahen, Vertrauten und Kleinräumigen, aber sie erschöpft sich nicht darin. Der Roman entwirft eng begrenzte Räume, die ihre Begrenzungen unterlaufen, indem sie zeichenhaft auf andere Räume verweisen oder von den Figuren mit Imaginationen des Fremden überzogen werden. Auf diese Weise bricht sich unter der Oberfläche des dominant hervortretenden kartographischen Referenzmodells, das das Erzählen nach fixierten räumlichen Koordinaten strukturiert, ein relationales Raumverständnis Bahn. Der Text legt ein Netz objektiv erfassbarer räumlicher Koordinaten aus und setzt dem figurenperspektivische Raumwahrnehmung und Raumimagination in spannungsvoller Weise entgegen.

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Entscheidend sind daher nicht die topographischen Koordinaten, sondern die Raumkonzepte, die die Figuren aktualisieren. An den beiden Hauptfiguren, Cécile und Gordon, zeigt der Roman, wie biographische Erfahrungen und psychosoziale Voraussetzungen die Raumwahrnehmung und das Handeln bestimmen. Das Topographische wird also konsequent subjektiviert und psychologisiert. Somit zeichnet sich hier der Umbruch zu einem subjektiven Raumerleben ab, wie es für die Literatur der Moderne als charakteristisch gilt.31 Raum erscheint nicht als unveränderbar und stabil, sondern Raum und Figuren treten in ein Wechselverhältnis, beeinflussen sich gegenseitig. Figuren können in der Lage sein, zwischen verschiedenen Raumkonzepten ›umzuschalten‹ und entsprechend bietet sich ihnen Realität jeweils anders dar. Wenn aber Raum aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich wahrgenommen und mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft wird, dann ist damit nicht allein die Konsistenz des Handlungsraums aufgehoben,32 sondern auch die Frage nach dem Realitätsbegriff aufgeworfen. Genauer zu untersuchen wäre, inwieweit die poetischen Raumentwürfe Fontanes sich noch mit den programmatischen Forderungen des frühen Realismus vereinbaren lassen, der wie Otto Ludwig forderte, ein »Stück Welt« entwerfen solle, »in welcher Notwendigkeit, Einheit, nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht sind«.33 Fontanes Roman Cécile jedenfalls rückt nicht Einheit und Zusammenhang vor Augen, sondern stellt im Gegenteil die Auflösung einer einheitlichen Weltwahrnehmung ins Zentrum.

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So etwa Natascha Würzbach: »[I]m realistischen Roman dominieren die gesellschaftlichen Bedeutungskomponenten, während im 20. Jahrhundert, insbesondere im Modernismus, das subjektive Raumerleben in den Vordergrund tritt« (dies., Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung. In: Jörg Helbig [Hrsg.], Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, S. 105−129, hier S. 109). Darauf laufen bereits die Überlegungen von Michael Andermatt hinaus. Fontanes Räume, so konstatiert er, inszenieren eine »Infragestellung abgrenzbarer Zonen und Wertbereiche und überlassen damit den Leser einem schmerzhaften Prozeß der Destabilisierung von Sinn- und Wirklichkeitsmustern« (Andermatt, Haus und Zimmer [wie Anm. 10], S. 240). Otto Ludwig, Der poetische Realismus. In: Gerhard Plumpe (Hrsg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1997, S. 148–150, hier S. 149.

»Wo soll man am Ende leben?« Zur Verschränkung von Raum- und Zeitsemantik in Raabes »Stopfkuchen« und Fontanes »Stechlin« Dirk Oschmann I. »Wie kommen Menschen dahin, wo sie sich, sich besinnend, zu eigener Verwunderung dann und wann finden?« Diese Frage stellt sich Eduard, einer der beiden Protagonisten, gleich auf der ersten Seite von Raabes Roman Stopfkuchen (BA 18, S. 7). Wie ein roter Faden zieht sich diese Frage nach der Verortung des einzelnen in der Welt durch den Text. Es ist zugleich eine Frage, die erst mit der von Profanierung und Säkularisierung geprägten Moderne überhaupt in Erscheinung treten kann, weil hier zunehmend die Überzeugung schwindet, dass der Platz, an den uns Gott von Geburt gestellt hat, auch wirklich der Platz sei, an den wir gehören, also jener Platz, an dem wir leben und sterben sollen. Für Raabe und Fontane ist dies eine der zentralen Fragen schlechthin, später dann auch für Kafka, in den Romanen Der Verschollene und Das Schloß ebenso wie in seinen Erzählungen und Briefen.1 In der Moderne ist der Ort der Geburt _____________ 1

Im Verschollenen wird das exemplarisch an Karl Roßmanns Kampf um eine »Stellung« im Beruf und im Leben sichtbar. Jede Station seines Daseins verbindet er mit der Frage, ob »er hier wirklich an seinem Platze war«, und zugleich mit der Hoffnung, nicht nur eine Arbeit, sondern förmlich einen sicheren Platz im Leben zu finden, denn »es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten« (Franz Kafka, Der Verschollene. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jost Schillemeit. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1983, S. 136 und 408). Mit demselben Problem sieht sich K. im Schloß konfrontiert: »Meine Stellung ist höchst unsicher […].« Darum erfüllt es ihn später mit Stolz, sagen zu können: »[…] ich habe gewissermaßen an Umfang gewonnen und das bedeutet schon etwas, ich habe […] doch schon ein Heim, eine Stellung und wirkliche Arbeit […].« (Franz Kafka, Das Schloß. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Malcolm Pasley. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1983, S. 85 und 313) Die Liste der Beispiele zum Problem der Deplatziertheit in Kafkas Werken und Briefen ließe sich fortsetzen, so etwa wenn er von einem »Traum-Schrecken« spricht, »irgendwo wo man nicht hingehört, sich aufzuführen, als ob man zuhause sei« (Franz Kafka- Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt am Main 1986, S. 263). Dass sich die Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf ganz verschiedenen Ebenen mit diesem Problem be-

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Dirk Oschmann

kontingent: Er muss demnach nicht notwendig zugleich der rechte Ort sein. Mehr noch, die funktional ausdifferenzierte moderne Lebenswelt zeichnet sich im Kontrast zu stratifikatorisch gegliederten Gesellschaften gerade dadurch aus, dass der einzelne seinen Platz in der Welt und im Leben nicht mehr kennt, sondern dass er diesen Platz sich erst selbst suchen, dann als solchen identifizieren und schließlich auch erobern muss. Das ist die Kehrseite der mit der Aufklärung gewonnenen Freiheit, welche den entsprechenden Orientierungsdruck erzeugt. Und wer den rechten Platz im Raum gleichermaßen wie im sozialen Gefüge nicht findet, wer also deplatziert ist, der droht sein Leben zu verfehlen. Zugespitzt formuliert heißt das aber nichts anderes, als dass im Grunde jeder dazu gezwungen ist, in einem ganz existentiellen Sinne Eroberer und Kolonialherr zu werden, sofern er den rechten als den jeweils eigenen Platz zu besetzen hat. Darin liegt im Übrigen die abgründige Pointe eines Romans, der in den letzten Jahren zusammen mit Abu Telfan die Aufmerksamkeit der Postkolonialismus-Studien gefunden hat.2 Denn hier geht es nicht nur um die Relationierung und Konstruktion von kulturellen Räumen, um die Spannung von Deutschland bzw. Europa auf der einen und Afrika auf der anderen Seite, um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, um einen manifesten Euro- und Logozentrismus, wenn Eduard als Erzähler beispielsweise abfällig von einem »nichtsnutzige[n] Nigger« (BA 18, S. 93) redet sowie insgesamt vom »exotischen, heidnischen Niggerpack« (BA 18, S. 10), um die Kolonialisierung des Fremden oder um Alteritätsdiskurse allgemein, hier geht es auch und vor allem um die Kolonialisierung des Selbst. Auf die Frage Eduards, welches Ziel er im Leben gehabt habe, antwortet die Hauptfigur Stopfkuchen kurz und gelassen: »Mich!« (BA 18, S. 82) Der Selbstgewinn steht für ihn demzufolge über dem Weltgewinn. Das muss freilich, so legt es der eingangs zitierte Satz nahe, nicht unbedingt ein bewusst eingeschlagener Weg sein, sondern kann sich gleichsam unter der Hand vollziehen, bis man eben zur Besinnung kommt. Die Tatsache als solche ist damit nicht weniger virulent. Über den individuellen Platz zu entscheiden, bedeutet dabei vorab zu bestimmen, wo man leben _____________

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fasst, zeigt etwa auch Vittorio Hösle, Dickens als Kritiker des Goetheschen Bildungsromans? Ein Strukturvergleich von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹ und ›Great Expectations‹. In: GermanischRomanische Monatsschrift 58 (2008) H. 2, S. 149–167, hier S. 151f. Siehe etwa Michel Gnéba Kokora, Die Ferne in der Nähe. Zur Funktion Afrikas in Raabes ›Abu Telfan‹ und ›Stopfkuchen‹. In: JbRG (1994), S. 54–69; Axel Dunker, ›Gehe aus dem Kasten.‹ Modell einer postkolonialen Lektüre kanonischer deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. In: Axel Dunker (Hrsg.), (Post)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 148–160; Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrika-Diskurs im 18. und 19. Jahrhundert. Köln 2005, S. 178–198; sowie neuerdings Dirk Göttsche und Florian Krobb (Hrsg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives, London 2009.

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will, damit aber sogleich verbunden, wie man leben will, weil jeder Platz spezifische Lebens- und Gestaltungshorizonte eröffnet und zugleich eine ganze Wertewelt konstituiert, und schließlich auch aufs Spiel zu setzen, wer man ist. Allemal erweist sich der gewählte Raum als prägendes Identitätsmerkmal,3 welches sogar stärker zu wirken scheint als etwa die Einflüsse durch die Herkunft, die Bildung oder den eigenen Namen. Dies gilt es nun im Blick auf Raabes Stopfkuchen und Fontanes Stechlin näher zu erörtern. Dass bisher nur von Männern die Rede war, näherhin von Eroberern und Kolonialherren, hängt zweifellos damit zusammen, dass Raabe männliche Protagonisten zeichnet, mehr aber noch damit, dass die einzige weibliche Protagonistin, nämlich Stopfkuchens Ehefrau Tine Quakatz, selbst als Eroberungsgebiet dargestellt wird, als zu zivilisierende und zu domestizierende Wilde. Stopfkuchen ist vom Erfolg seines durchaus mit stiller Gewalt4 betriebenen Eroberungszugs ganz angetan: »Habe ich die hagere Wildkatze von Quakatzenburg nicht recht hübsch und rund und nett und fett herausgefüttert und sie behaglich mit dem gewöhnlichen und deshalb um so komfortabelern Weiberstrickzeug in die behagliche Sofaecke niedergedrückt?« (BA 18, S. 106f.) Plätze, Länder und Frauen müssen in der Perspektive nicht nur dieses Romans erobert und kultiviert werden. Das begründet sich nicht zuletzt aus einer spezifischen Semantik der Besitzergreifung von Frauen, die unmittelbar aus einer Übertragung der Metaphorik von der Raumergreifung erwächst.5 Im 19. und 20. Jahrhundert zeigt sich das vor allem, wenn das alte Europa auf das junge Amerika trifft, in Gestalt alter Männer und junger Frauen. Ob man dabei nun an Joseph von Eichendorffs Erzählung Eine Meerfahrt denkt, an Vladimir Nabokovs Lolita oder an Max Frischs Montauk: immer wird die neue, junge Welt als möglichst unberührte, verführerische Frau vergegenwärtigt, und einer _____________ 3 4

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Siehe dazu das immer noch aufschlussreiche Buch von Otto F. Bollnow, Mensch und Raum. 8. Aufl., Stuttgart/Berlin 1997. Helmuth Mojem und Peter Sprengel bezeichnen Stopfkuchen in einem exzellenten Beitrag als »Gott der Gewalt« und stellen seine aus Rachedurst erwachsende große »Aggressivität« heraus. Sie problematisieren außerdem sein Verhalten gegenüber Störzer: »Stopfkuchens Vorgehen gegen Störzer, das zwar diesen persönlich schont, aber seine Familie der gesellschaftlichen Ächtung preisgibt, entbehrt einer ausreichenden juristischen und moralischen Grundlage. Der Detektiv wird zum Täter, der dieselben gesellschaftlichen Mechanismen der Verleumdung und Ausgrenzung, von denen er zunächst betroffen war, willkürlich gegen andere einsetzt.« (Helmuth Mojem und Peter Sprengel, Wilhelm Raabe: ›Stopfkuchen‹ – Lebenskampf und Leibesfülle. In: Interpretationen. Romane des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, S. 350–386, hier S. 359–361) »Kulturationsgeschichte (der Frau) und Kolonisierungsgeschichte (der Roten Schanze) sind aufeinander bezogen, verhalten sich zueinander komplementär.« (Claudia Liebrand, Wohltätige Gewalttaten? Zu einem Paradigma in Raabes ›Stopfkuchen‹. In: JbRG (1997), S. 84–102, hier S. 97)

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ähnlichen Logik folgt auch Eduard, wo er, einer der vielen Europamüden des 19. Jahrhunderts, explizit vom »alten, durch das Bedürfnis ungezählter Jahrtausende abgebrauchten, ausgenutzten Europa« spricht, dem er das von ihm und anderen eroberte »jungfräulich[e] Kaffernlande« entgegenstellt (BA 18, S. 31).6 Der Roman entwirft nun eine zugleich horizontal und vertikal strukturierte Raumordnung und spielt die grundsätzliche Problematik des rechten Platzes in der Welt an drei verschiedenen Figuren mit drei verschiedenen Lebensentwürfen durch, nämlich an besagtem Eduard, an der titelgebenden Figur Stopfkuchen sowie am Landbriefträger Störzer, der, wie sich gegen Ende herausstellt, den Tod Kienbaums zu verantworten hat.7 Die konkret dargestellten, aber auch die nur genannten, gewissermaßen ›zitierten‹ Orte und Räume erscheinen in einer enorm wertbesetzten Gliederung und Hierarchisierung. Eduard und Stopfkuchen – und nicht zuletzt darüber wird hier die Konstellation von Metropole, Provinz und Welt entfaltet – sind ihre Räume auf fast schematische Weise zugeordnet: Eduard sein südafrikanisches Landgut, Stopfkuchen die Rote Schanze. _____________ 6

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Auch im Abu Telfan spielt der Topos der Europamüdigkeit eine wichtige Rolle, wo man sich wiederholt »gegen diese erbärmliche, langweilige Routine des europäischen Alltagslebens« ausspricht (BA 7, S. 31). Den Topos begründet wohl Heine 1828 mit seiner Bemerkung in den Englischen Fragmenten, er sei »so recht Europa-müde« (Heinrich Heine, Englische Fragmente. In: Ders., Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. II. Hrsg. von Günter Häntzschel, München 1997, S. 531–605, hier S. 594). Nur zehn Jahre später bringt Ernst Willkomm diese Stimmung mit seinem Buch Die Europamüden. Ein modernes Lebensbild zu allgemeinem Ausdruck (Leipzig 1838). Ein bedeutendes Gegenmodell präsentiert freilich schon 1855 Ferdinand Kürnberger, Der Amerikamüde, Berlin 1985. Im Unterschied zu einer Tendenz der neueren Forschung halte ich den Landbriefträger Störzer wirklich für den Täter – trotz der komplizierten Erzählsituation, in der es für Stopfkuchens Version keine Zeugen gibt; er erzählt bekanntlich erst, als sein Kronzeuge tot ist. Mit erheblicher Skepsis begegnen deshalb Johannes Graf und Gunnar Kwisinski seiner Darstellung, denn er sei »derjenige, der die einzelnen Geschichten zusammenhält. Er ist Ankläger, Zeuge und Richter in einer Person. Diese besondere Situation verlangt eine gründliche Prüfung der Indizien in Schaumanns Erzählung.« Er sei ein zweiter Münchhausen, der nicht nur virtuos dessen literarische Vorlage handhabe und ein gleichsam konstruktivistisches Erzählmodell verfolge, sondern in Eduard auch einen naiven Leser vorführe. »Schaumann versteht sich demnach selbst als Lügenbaron, der Eduard einen Bären aufbinden kann.« (dies., Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron? Zur Erzählstruktur in Raabes ›Stopfkuchen‹. In: JbRG (1992), S. 194–213, hier S. 199 und 207) Auch Julia Hell hält Stopfkuchen eher für einen »unreliable narrator« (dies., Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. Der ungleichzeitige Bürger. In: JbRG (1992), S. 165–189, hier S. 168). Man kann Stopfkuchen als unzuverlässigen Erzähler betrachten und seine manipulativen Strategien herausstellen. Das entwertet noch nicht die Tatsachenbehauptung von Störzer als Täter; Verfahren und Faktum stehen nicht notwendig im Widerspruch zueinander. Im Übrigen scheint es mir im Horizont der erzählten Welt des Romans keine alternative Tätergestalt zu geben, abgesehen natürlich vom ursprünglichen Hauptverdächtigen Andreas Quakatz. Zur Erzählform siehe außerdem Claus-Michael Ort, ›Stoffwechsel‹ und ›Druckausgleich‹. Raabes ›Stopfkuchen‹ und die ›Diätetik‹ des Erzählens im späten Realismus. In: JbRG (2003), S. 21–43.

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Beide haben ihre Plätze erobert und sich darin eingerichtet, beide sprechen darüber im Modus der erfolgten Kolonialisierung. Störzer dagegen erscheint nicht an einen einzelnen Ort gebunden, sondern gleich mit der ganzen Welt assoziiert, ganz wie es sich für einen Briefträger, mithin für einen Boten als Inbegriff der Mobilität, zu gehören scheint. Ihm lässt sich kein spezifischer Ort zuweisen, was freilich im Gegenzug bedeutet, dass er letztlich ortlos und, wie sich noch zeigen wird, auch zeitlos ist. Alle weiteren Orte werden weniger konkret vor Augen gestellt als vielmehr bloß genannt oder als Exempel herbeizitiert.8 Während der Schiffsüberfahrt nach Afrika sitzt Eduard unter Deck, um seine Notizen über Stopfkuchen zu machen, die man dann als Leser des Romans in Händen hält. Kaum einmal erblickt er dabei das Meer. Die Überfahrt hat aber insofern Bedeutung, als sie eine Bewusstseinsschwelle, genauer noch einen gefährlichen Zwischenraum bildet zwischen Deutschland und Afrika, einen Ort des Übergangs vom Alten ins Neue, vom Zivilisierten ins vermeintlich mühsam Kultivierte, zugleich, in selbstreflexiver Wendung, einen prekären Ort des Schreibens.9 Gefährlich ist dieser Zwischenraum zudem in einem doppelten Sinne: zum einen weil Schiffspassagen prinzipiell gefährlich sind, zum anderen weil die Auseinandersetzung mit Stopfkuchens Positionen und Erzählungen gefährlich sind für das Selbstverständnis Eduards als ein souveränes Individuum, das sich im vertrauten, altbewährten Narrativ zu Hause wähnt. Dieses bequeme Narrativ wird durch die erzählerische Wucht Stopfkuchens außer Kraft gesetzt, indem es Eduard um die Sicherheit seiner Vergangenheit und seiner Heimat als eines gewussten und bekannten Ortes bringt. Stopfkuchens Erzählung, die (und das muss immer als Vorbehalt in Rechnung gestellt werden) das Wertungsgeschehen des Textes trotz weiterer Erzählinstanzen10 stark dominiert, verwandelt das scheinbar Eigene in ein Fremdes und Unheim_____________ 8

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In der von Gerhard Hoffmann entwickelten Typologie handelt es sich hier folglich um »›gestimmten Raum‹, bei dem Orte und Gegenstände als atmosphärische und symbolische Ausdrucksträger fungieren«. Davon zu unterscheiden sind der »Aktionsraum« als unmittelbarer Schauplatz der Handlung und der »Anschauungsraum«, der einen »panoramischen Überblick« biete. Zitiert und referiert nach Ansgar Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 33–52, hier S. 39. Siehe Wolfgang Struck, See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten. In: JbRG (1999), S. 60–70, hier S. 61: »Für Raabes schreibenden Erzähler ist auch das Schiff ein Medium, das während der Passage zwischen den Kontinenten mit der Kabine auch noch einen ›mittleren‹ Ort zwischen geselligem Oberdeck und der Tiefe der See – klassische Metapher des Unbewußten wie des Todes – zur Verfügung stellt.« Auf der Ebene des Dargestellten sind mindestens noch drei zu nennen: Eduard, Valentine Quakatz und natürlich Störzer (BA 18, S. 103ff. und 184ff.).

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liches,11 was nicht zuletzt am prozessual entfalteten Wortfeld von heimisch – heimelig – heimlich – Geheimnis – unheimlich liegt (BA 18, S. 184, 195f., 202 u. ö.). Darüber hinaus entwirft der Roman ein ganzes Panorama an Räumen: Deutschland, Europa, Afrika, Südamerika, das mit einem Erdbeben in Chile vertreten ist (BA 18, S. 17), kommen vor, außerdem werden die großen, verheißungsvollen Städte kurz genannt: »Berlin, Petersburg, Paris, London, Rom und dergleichen« (BA 18, S. 146) – doch niemanden interessieren diese berühmten Metropolen, vor allem nicht Stopfkuchen und seine Frau, da sie offenbar nichts zu bieten haben. Darauf verweist namentlich die herabwürdigende Ergänzung »und dergleichen«, sofern sie unterstellt, dass die Metropolen alle gleich, sprich: gleichgültig seien. Dass der ehemalige Schiffsarzt Eduard neben Südafrika auch mit Hamburg und New York bestens vertraut ist, verschafft ihm also in den Augen Stopfkuchens keinerlei Vorteile (BA 18, S. 132). Darum erscheint die von Störzer einst geäußerte und von Eduard uneingeschränkt geteilte Behauptung, »die Geographie ist doch die allerhöchste Wissenschaft« (BA 18, S. 18), im Nachhinein nur noch in ironischem Licht. Denn wie sich zusehends herausstellt, kommt es nicht auf die Geographie als Kenntnis der Welt an, wohl aber auf die Anthropologie als Kenntnis des Menschen. Über diese entscheidende, förmlich divinatorische Gabe verfügt im Text – nach eigener Auskunft wohlgemerkt – aber nur Stopfkuchen: »Alle kenne ich euch, in- und auswendig.« (BA 18, S. 28) Da die Metropolen als unerheblich abgetan werden, hat man es letztlich mit einer scharfen Entgegensetzung von Provinz und Welt, von Enge und Weite zu tun sowie mit den strukturellen Oppositionen von drinnen und draußen, oben und unten sowie vorn und hinten.12 Diese topologischen Gegensätze sind jedoch nicht nur räumliche Koordinaten im Rahmen unmittelbar lebensweltlicher Orientierung, sondern zugleich hierarchische und moralische Koordinaten insbesondere Stopfkuchens. In seiner Sicht, der Eduard in dieser agonalen Erzählsituation nichts Gleichwertiges entgegenzustellen hat, ist er derjenige, der drinnen ist, oben und vorn. Alle anderen sind draußen, unten und hinten. Afrika zum Beispiel ist draußen, unten und hinten, aber auch die Stadt und das Dorf in der direkten Umgebung der Roten Schanze, die auf einem Hügel liegt und in jeder Hinsicht einen weiten Ausblick gewährt. »Unten« leben »die Nigger« (BA 18, S. 93), »unten« residieren aber auch die Spießbürger (BA 18, S. 136) und das »Philistertum da unten« (BA 18, S. 38) mit seiner »Philister_____________ 11

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Das ist in der Forschung vielfach gesehen worden. Stellvertretend sei nur Axel Dunker genannt, der von einer »Verunheimlichung der Heimat« spricht (Dunker, ›Gehe aus dem Kasten‹ [wie Anm. 2], S. 159). Siehe dazu den Beitrag von Rolf Parr in diesem Band.

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weltanschauung« (BA 18, S. 197). Dabei war Stopfkuchen, dieser jetzt so selbstgerechte Patron, als Schüler einst selbst »unten«, so dass ihm beispielsweise stets »der unterste Platz in jeder Schulklasse« zugewiesen wurde (BA 18, S. 66). Anlässlich von Eduards Besuch will Stopfkuchen die Gelegenheit nutzen, dafür endlich Rache zu nehmen und von seiner sicheren Warte aus tabula rasa zu machen. Zu seinem Gast sagt er: […] laß mich mir endlich einmal Luft machen, einem Menschen gegenüber Luft machen, der nicht da unten in das alte Nest hineingehört, sondern der morgen schon wieder auf dem Wege nach dem untersten Ende vom alleruntersten Südafrika ist […]. (BA 18, S. 69)

Kontinuierlich werden die räumlichen Koordinaten als Wertkoordinaten sowie als moralische Koordinaten funktionalisiert. Draußen, unten und hinten zu sein, heißt unter dieser Voraussetzung, entweder moralisch verwerflich oder schlicht uninteressant zu sein.13 Die Metropolen sind erledigt, das dichotomisch geordnete Koordinatensystem der Werte ist etabliert. Was aber geschieht nun mit der »Welt«? Zunächst ist festzustellen, dass der Text mit einer hochdifferenzierten Semantik von »Welt« aufwartet, wobei die Welt immer »die Welt da draußen« meint (BA 18, S. 205). Fast unzählige Male ist »von der ganzen Welt« die Rede (BA 18, S. 27ff.), und Schillers bekannten Begriffen von der Weltgeschichte und dem Weltgericht begegnet man ebenso (BA 18, S. 29) wie den Neologismen der »Weltpoesie« (BA 18, S. 142) und des »Weltwanderers«, als der Eduard, eine der für Raabes Werk typischen Heimkehrerfiguren,14 mehrfach charakterisiert wird (BA 18, S. 61, 145). Der Welt als ganzer schenkt Stopfkuchen allerdings nicht mehr Aufmerk_____________ 13

14

Dass im Roman noch weitere bildliche, semantische und letztlich moralische Oppositionen zu beachten sind, hat Gerhart von Graevenitz am Gegensatz von dick und dünn erwiesen: »[…] Stopfkuchen gehört ikonographisch in die moralischen Bildoppositionen der Fleißigen und Faulen, der Reichen und Armen, der Dicken und der Dünnen. Aber dieses ikonographische Philistererbe Stopfkuchens wird umgekehrt zur Außenseiterrolle. Stopfkuchen setzt gerade die Automatik der bürgerlichen Tugend- und Lasterbiographien außer Kraft. Das Riesenfaultier ist Protagonist der Idleness, der Faulheit, und nicht das traurige Ende des Verbrechers, sondern die Genugtuung des Detektivs ist ihm vorherbestimmt.« (Gerhart von Graevenitz, Der Dicke im schlafenden Krieg. Zu einer Figur der europäischen Moderne bei Wilhelm Raabe. In: JbRG (1990), S. 1–21, hier S. 9) Siehe hierzu auch Mojem und Sprengel, Lebenskampf und Leibesfülle (wie Anm. 4), S. 350–356. Man denke beispielsweise an Leonhard Hagebucher in Abu Telfan oder Fritz Feyerabend in Altershausen. Zum ›Chronotopos der Heimkehr‹ bei Raabe siehe vor allem Dirk Göttsche, Wilhelm Raabes Erzählungen und Romane. In: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 121–138, hier S. 125 und 131, sowie ders., Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 748. Siehe auch Peter J. Brenner, Die Einheit der Welt. Zur Entzauberung der Fremde und Verfremdung der Heimat in Raabes ›Abu Telfan‹. In: JbRG (1989), S. 45–62, hier S. 46f.

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samkeit als den Metropolen. Denn was ist schon die Welt? Das, was man auch in der nächsten Umgebung vorfindet, ja die Welt und die »nächste Umgebung« seien förmlich »dasselbe« (BA 18, S. 47).15 Während Störzer und Eduard die Weltzugewandtheit repräsentieren, pflegt Stopfkuchen eine entschiedene Weltabkehr und wohl begründete Weltverachtung, wobei er zugleich die primitive Weltverachtung der Spießbürger und Philister verachtet. Nicht die Welt ist ihm der Ort der Bewährung, sondern das Leben, weshalb er gegen die in seiner Perspektive »trivialen Abenteuerhistorien« (BA 18, S. 109) Eduards die wirklichen Abenteuer, nämlich die von ihm so bezeichneten »Lebensabenteuer« (BA 18, S. 145) setzt. Nicht Kenntnis der Welt und deren abenteuerliche Durchstreifung zählen in dieser Apologie des Heinrich Schaumann, sondern Kenntnis des Menschen und moralische Bewährung im Leben; darin besteht der eigentliche Heroismus: »Ihr habt mich nie in der Schar eurer Helden mitgezählt, Eduard. […] Wieviel mehr Heroentum unter Umständen in mir als wie in euch steckte, davon hattet ihr natürlich keine Ahnung.« (BA 18, S. 86) Was Eduard, Störzer und andere mit ihrem Zugriff auf die Welt ins Werk zu setzen meinen, erscheint ihm lediglich als belanglose Kinderei. Während er im Leben reift, spielen die anderen unablässig Indianer und Cowboy. Dabei wird erneut die kategoriale Unterscheidung von drinnen und draußen geltend gemacht: Ihr Helden führtet derweilen eure Indianergeschichten, euren Fenimore Cooper draußen im Felde dumm und phantasielos genug auf: ich schützte Cora und versteckte Alice im Leben und in der Wirklichkeit, wenn nicht in der Felshöhle, so doch hinter dem Küchenschrank und ließ den verrückten, wütenden alten Mingo mit geheimstem, wollüstigstem Grausen suchen und hörte ihn schnüffeln und sein Kriegsgeheul erheben. (BA 18, S. 121)

Die Wirklichkeit, auf die es ankommt, liegt offenbar nicht »draußen im Felde«, sondern drinnen, »hinter dem Küchenschrank«. Aus der Trias Metropole, Provinz und Welt16 ist somit nur die Provinz und näherhin die »Verschanzung« (BA 18, S. 150) der Roten Schanze als der angemessene Lebensraum übriggeblieben. Wodurch sich dieser Raum der Roten Schanze auszeichnet, wird noch zu fragen sein. Die drei konstruierten Orte, also das afrikanische Landgut, die Rote Schanze und die ganze Welt Störzers sind nun wiederum an bestimmte _____________ 15 16

Dem immerhin weltgewandten Fritz Feyerabend kann folglich in Altershausen die Welt gar zum »Kinder-Gitterbett« zusammenschrumpfen (BA 20, S. 247). Zu dieser grundlegenden Konstellation siehe Dieter Burdorf und Stefan Matuschek (Hrsg.), Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Heidelberg 2008; Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein im Taunus 1982, S. 31–70.

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Bewegungsmuster als Formen der Welterschließung geknüpft,17 die unmittelbar die Relation von Dynamik und Statik, Geschwindigkeit und Trägheit, Mobilität und Sesshaftigkeit veranschaulichen,18 wobei der Text wiederholt mit der Unterscheidung von »liegen« und »laufen« arbeitet (BA 18, S. 43, 61, u. ö.).19 Eduard und Störzer repräsentieren den Zusammenhang von Bewegung, Raum, Geographie, dagegen Stopfkuchen denjenigen von Ruhe, Zeit und Geschichte. »Da hilft mir nichts«, so Stopfkuchen zu Eduard, »als wie die Rote Schanze und die Idee, daß ich ihr Herr wäre! Du läufst mit Störzern, Eduard, und ich liege vor der Roten Schanze […].« (BA 18, S. 28) Stopfkuchen liegt, Störzer läuft, und Eduard, Störzers Schüler, bedient sich verschiedener Fortbewegungsmittel: Er ist zu Fuß unterwegs und mit dem Schiff, am Schluss auch kurz mit der Eisenbahn. Dabei ist die Eisenbahn das einzige explizite Indiz dafür, dass man sich im technischen Zeitalter befindet. Ansonsten kommen dessen Errungenschaften nämlich fast nicht in den Blick; das unterscheidet den Roman von etlichen anderen Texten Raabes, etwa von Pfisters Mühle. Denn hier gibt es kaum Verweise auf die industrialisierte Welt oder gar auf den »technologischen Vitalismus«, jenen von Paul Virilio so genannten Bewusstseinszustand am Ende des 19. Jahrhunderts, der sich auf die Bewegungs- und Geschwindigkeitsobsessionen richtet, wie sie sich in der Eisenbahn sowie in den Erfindungen von Fahrrad, Flugzeug und Auto Geltung verschafft haben.20 Selbst Telegrafen oder gar Telefone als Medien der modernen Kommunikation finden keine Erwähnung, lediglich der Paradigmenwechsel vom Brief zur Postkarte wird einmal angesprochen: »Die heutige Leichtigkeit der Korrespondenz tut da gar nichts zu; denn – wer schreibt heute in der Postkartenperiode noch Briefe?« (BA 18, S. 30) _____________ 17

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19 20

Die Frage nach dem Zusammenhang von Raum und Bewegung in der Literatur hat, befördert durch den ›cultural turn‹, in jüngerer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit gefunden; vgl. etwa Ottmar Ette, Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist 2001; Hans Ulrich Seeber, Mobilität und Moderne. Studien zur englischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Heidelberg 2007; Marijana Erstić, Walburga Hülk et al. (Hrsg.), Körper in Bewegung. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde, Bielefeld 2009; Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009. Zum elementaren Gegensatz von Sesshaften und Mobilen im 19. Jahrhundert siehe das entsprechende Kapitel in Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 5. Aufl., München 2010, S. 183–252. Zur Entgegensetzung von ›Laufen‹ und ›Sitzen‹ vgl. schon Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 127–130. Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin 1980, S. 60. Siehe in diesem Zusammenhang außerdem Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 128–254, sowie Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik. Aus dem Nachlass hrsg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main 2009, S. 49–94.

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Im Übrigen aber würde man fast nicht vermuten, dass sich die Handlung überhaupt in der Hochzeit der Industrialisierung abspielt. Analog zur skizzierten Depotenzierung der Metropolen und der Depotenzierung der Welt als ganzer findet hier eine Depotenzierung der technischen Errungenschaften des Industriezeitalters durch gezieltes Verschweigen statt. Die neuen Fortbewegungsmittel und die neuen Modi der Mobilität und der Kommunikation müssen nicht der ausdrücklichen Kritik verfallen, wo grundsätzliche Haltungen zum Leben verhandelt werden. Von dieser radikalen Veränderung der Lebenswelt wird nichts erzählt, weil es offenbar nicht wichtig ist oder weil die Industrialisierung nur ein Oberflächenphänomen tiefer liegender, existentieller Problemlagen darstellt. Die Beschleunigungserfahrung seit Mitte des 18. Jahrhunderts und stärker noch seit der Französischen Revolution ist nur partiell an die sozialen und technischen Entwicklungen zurückgebunden, denn sie ist allererst Resultat eines paradigmatischen, von Verzeitlichung und mentaler Mobilisierung bestimmten Bewusstseinswandels.21 Aus diesem Bewusstseinswandel ergeben sich zwei mögliche, einander diametral entgegengesetzte Haltungen zum Leben, indem sie entweder der Langsamkeit oder der Schnelligkeit den Vorzug geben. Deshalb ist Raabes Roman nicht nur ein Roman über den rechten Ort im Leben, sondern auch über die »rechte Zeit«, unter anderem zu verstehen als individuelle Lebensgeschwindigkeit. Durchweg verurteilt Stopfkuchen alles Laufen, Rennen und Jagen, bei dem man sich bloß auf »unnötige Weise ab- und ausschwitzt […]« (BA 18, S. 96) und trotzdem keinen »Weltüberblick« gewinnt (BA 18, S. 67). Und »zum Laufen«, so lässt er sein Gegenüber wissen, »hilft eben immer nicht ›schnell sein‹, lieber Eduard« (ebd.). Explizit kritisiert er darum die »Schnellfüße« (BA 18, S. 89) und plädiert für Ruhe, Geduld und Langsamkeit (BA 18, S. 96). Er beharrt darauf, sich Zeit zu nehmen, beim Essen gleichermaßen wie beim Erzählen, ja wie im Leben überhaupt (BA 18, S. 154). Dementsprechend leitet er seine Darstellung der Umstände von der Tötung Kienbaums mit den Worten ein:

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Siehe dazu etwa Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien 1976; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995; ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation. In: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 177–202; Dirk Oschmann, Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007, S. 53– 106; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 18), S. 84–128. Ein Bewusstsein für die historische Tiefendimension der Beschleunigungserfahrung fehlt dagegen in Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.

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Uf – langsam! Nur nicht zu hastig. Weshalb sollen wir uns nicht Zeit nehmen? Was könnte ich Hinhocker einem Weltwanderer gleich dir Merkwürdiges zu weisen haben, was solch rasendes Drauflosstürzen erforderte? Nur mit aller Bequemlichkeit, Freund! Wandeln wir langsam, langsam […]. (BA 18, S. 61)

Je ungeduldiger Eduard die Aufklärung der Zusammenhänge erwartet, desto langsamer und umständlicher verfährt Stopfkuchen im Erzählen. Er schweift ab, er wiederholt sich, er hält sich mit scheinbar überflüssigen Details auf und treibt mit seiner »›breitmäulige[n]‹, übermäßig verweilende[n] Erzählweise«22 nicht nur die Spannung seiner Detektivgeschichte23 ins Extrem, sondern vermittelt Eduard – und folglich zugleich dem Leser – ein ihm bis dahin unbekanntes Zeitempfinden von beinahe physischer Qualität, ein entschleunigtes narratives Verfahren,24 das sich mutatis mutandis schon beim späten Stifter gezeigt und zur vorläufigen Nichtpublikation von dessen letzten Erzählungen geführt hatte.25 Im Gang des Erzählens verschiebt Raabes Text demnach allmählich den Fokus von den Fragen nach dem Raum auf Fragen nach der Zeit und verschränkt sie miteinander. Wo sich Mobilität und Schnelligkeit bereits als Dogmen der Moderne mehr und mehr durchsetzen,26 da erscheint Stopfkuchen in einem mehr_____________ 22 23 24

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So Herman Meyer, Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst. In: Ders., Spiegelungen. Studien zu Literatur und Kunst, Tübingen 1987, S. 27–59, hier S. 52. Siehe dazu insbesondere Ulf Eisele, Der Dichter und sein Detektiv. Raabes ›Stopfkuchen‹ und die Frage des Realismus, Tübingen 1979. Julia Hell spricht im Anschluss an Romano Guardini von einer »Lähmung des Erzählens« (Hell, Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹ [wie Anm. 7], S. 183). Ralf Simon dagegen begreift die »Langatmigkeit der Geschichte« nicht nur im Sinne des zeitgenössischen Historismus als »Ausweis der Wissenschaftlichkeit« Stopfkuchens, sondern auch als »Herrschaftstechnik« (ders., Raabes literarische Historik. In: JbRG (2009), S. 7–21, hier S. 20). Ähnlich ist das Argument von Mojem und Sprengel gelagert, die von »Herrschaftswissen« sprechen (dies., Lebenskampf und Leibesfülle [wie Anm. 4], S. 356). Stifters radikale Formalisierung der Sprache in Witiko und den späten Erzählungen wie Der Kuß von Sentze und Der fromme Spruch ist vom Publikum gänzlich abgelehnt worden. Dabei lässt sich die von Wiederholungen, Retardationen und vermeintlichen Umständlichkeiten geprägte Prosa durchaus auch als Versuch verstehen, im Prozess des Erzählens Zeit nicht nur darzustellen, sondern unmittelbar erfahrbar zu machen. Der anti-realistische Effekt solch performativer Entschleunigung ist jedoch vor allem als Langeweile empfunden worden. Der Verleger Leo Tepe beispielsweise sperrte sich gegen die Publikation von Der fromme Spruch mit der Begründung, »das Ganze [sei] zu langweilig«. Weiter heißt es: »Die Erzählung ist unnatürlich; solche steifen Personen gibt es nicht; ihre Reden sind alle wie auf Schrauben gestellt […].« Zitiert nach Adalbert Stifter, Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. Hrsg. von Wolfgang Matz, München 2005, S. 1633. Zum hier angesprochenen Problem ästhetischer Eigenzeit siehe etwa Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt am Main 1994. Siehe hierzu Hermann Lübbe, Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, Stuttgart 1996; ders., Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. 3. Aufl., Berlin/Heidelberg 2003; Klaus Backhaus und Holger Bonus (Hrsg.), Die Beschleuni-

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fachen Sinne als Anachronismus, näherhin als derjenige, der sich Zeit nimmt und der sich nicht oder nur äußerst langsam bewegt. Indem er für Ruhe, Langsamkeit und Geduld votiert, vertritt er voraufklärerische, stoische Ideale. Dort sind Ruhe und Stetigkeit – ›ataraxia‹ und ›constantia‹ – Merkmale des Weisen, während die Mobilität als ›mobilitas‹ nur Ausdruck des Wankelmuts, der Leichtfertigkeit (›levitas‹) und damit der Wahnsinnigen ist. Liegen, Sitzen, Warten und alles im Auge behalten – der Protagonist heißt schließlich Schaumann –: das sind die stoischen Existenzformen Stopfkuchens. In der Tradition der Stoa sind es zudem die Erscheinungsformen des Göttlichen.27 Auf der Roten Schanze leibt und lebt der Protagonist fast wie der erste unbewegte Beweger der Antike – zumindest stellt er sich im Prozess seiner »Selbstvergottung« so dar.28 Und damit kommt auch der Vorzug der Roten Schanze gegenüber anderen Räumen genauer in den Blick. Sie ist ein beispielhafter Ort der Ruhe, der Behaglichkeit, des Innehaltens und Reflektierens, mithin des Bedächtigen im Sinne des Langsamen und Bedenkenswerten. Sie ist demzufolge ein Ort der Zeit: Ich weiß es ja wohl, daß wir jetzt, Gott sei Dank, hier auf der Schanze so still für uns hinleben, daß wir für alles Zeit haben. Daß wir für alles die Zeit abwarten können, wo wir uns alles sagen, am Mittage oder um Mitternacht, das Schlimmste und das Beste. (BA 18, S. 153)

Ihre Dignität gewinnt die Rote Schanze zudem daraus, dass sie im Text der einzige konkret verzeitlichte Raum ist, ein Raum, der sich durch historische Tiefenzeit auszeichnet, durch seine Rolle im Siebenjährigen Krieg beispielsweise, aber auch durch die von Stopfkuchen gemachten archäologischen Funde.29 Diese historische Tiefenzeit des Raums vermittelt Stopfkuchen sowohl ein ganz anderes Zeitbewusstsein als auch ein ganz anderes Menschenmaß, bei dem es gegen alle Hektik der Moderne auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankommt. Und nochmals anders gewendet: Der Raum lässt sich offenbar nicht über die Geographie erschließen, sondern nur über den »historischen Sinn« (BA 18, S. 71), den Stopfkuchen für _____________

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gungsfalle oder der Triumph der Schildkröte. 2. Aufl., Stuttgart 1997; Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 4. Aufl., Berlin 2000; Rosa, Beschleunigung (wie Anm. 21), S. 71–88. Deshalb wurde auch der Begründer des Neostoizismus, Justus Lipsius, nicht müde zu betonen, dass die von Gott geschaffene Ordnung »fest und unbeweglich« sei und dass Gott selbst stets geduldig, gründlich und vor allem langsam agiere. Gott, so heißt es mit Nachdruck, gehe »mit sehr langsamen Schritten« (Justus Lipsius, De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 261; vgl. S. 41–43, 119–127). Mojem und Sprengel, Lebenskampf und Leibesfülle (wie Anm. 4), S. 363. Für eine kritische Lesart vgl. Hell, Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹ (wie Anm. 7), S. 177: die Rote Schanze sei »nur ein erstarrter, toter Raum«.

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sich ausdrücklich beansprucht, also über Archäologie und Geschichte.30 Stopfkuchen, indem er sich einen »paläontologische[n] Zeitmaßstab […] tiefinnerlich zueigen macht«,31 erobert den Raum über die Tiefe der Zeit – und scheint sich zugleich in seiner angemaßten »Gottähnlichkeit«32 an der Spitze der Evolution zu sehen. Er ist darüber hinaus eine Figur, die Zeit hat, weil sie sich die Zeit nimmt – ganz anders als das tragische Gegenmodell des Landbriefträgers Störzer, der immer in Bewegung ist und niemals Zeit hat, der gleichsam ort- und zeitlos ist. ›Volle einunddreißig Jahre ist er gelaufen, und wir haben uns unter dem ersten Eindruck der Nachricht drangemacht und haben es ihm postamtlich nachgerechnet, welchen Weg er in seinem Dienste treu und redlich, ohne einen einzigen Urlaubstag zu verlangen, zurückgelegt hat. Wie viele Male glauben die Herren, daß er hätte rund um die Erde herumgewesen sein können?‹ ›Da bin ich doch neugierig!‹ sagte der ganze Brummersumm. ›Fünfmal. Rund um den Erdball. Siebenundzwanzigtausend und zweiundachtzig Meilen in vierundfünfzigtausendeinhundertvierundsechzig Berufs-Gehstunden!‹ (BA 18, S. 14)

Fünfmal ist er um die Welt gelaufen, ohne wirklich vom Fleck zu kommen, fünfmal immer dieselbe Strecke, Tag für Tag über dreißig Jahre lang, ohne je zu fehlen, nicht anders als der Hamster in seinem Rad – Störzer repräsentiert mit seiner paradoxen, weil mobilen Sesshaftigkeit die ins Absurde gewendete, panische, ziel- und richtungslose Bewegtheit, eine groteske Mobilität um ihrer selbst willen, die nicht unterbrochen werden kann und darf. Der Augenblick, in dem er sich eine Unterbrechung glaubt leisten zu können, in dem er sich Zeit nimmt, wird ihm zum Verhängnis. _____________ 30

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Mit Recht hat darum Ralf Simon vorgeschlagen, Stopfkuchen »insgesamt als metadiegetische[n] Kommentar zur historistischen Historik« zu verstehen. In seiner Begründung setzt er sich dabei von anderen narrativen Modellen ab: »Als Allegorie auf die historistische Geschichtserzählung ebenso wie als ihre permanente methodologische Verhandlung (also als Historik) liest sich der Stopfkuchen, so lautet meine These, adäquater als in der Alternative von Kriminalerzählung und Münchhauseniade. Denn Stopfkuchen, selbst wenn er als Detektiv nur zu heiklen Ergebnissen kommt, agiert doch als Historiker genau so, wie Droysens Historik es bestimmt: Er sichert Quellen und bewertet sie, stellt Hypothesen über Ereignissequenzen auf, versucht diese Hypothesen zu sichern und er interpretiert, indem er eine komplette, sinnintegrierende These über den Mordfall und den möglichen Täter aufstellt.« (Simon, Raabes literarische Historik [wie Anm. 24], S. 18f.) Siehe in diesem Zusammenhang auch Katharina Grätz, Alte und neue Knochen in Wilhelm Raabes ›Stopfkuchen‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), S. 242–263. Meyer, Raum und Zeit (wie Anm. 22), S. 54. Mojem und Sprengel, Lebenskampf und Leibesfülle (wie Anm. 4), S. 362f. Mit Recht weisen die beiden Autoren darauf hin, dass es sich um eine »Gottähnlichkeit« handelt, welche durch die zustimmende Reaktion Eduards gestützt werde: »Ist er nicht göttlich?« (BA 18, S. 202)

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Einer, der Störzer heißt und deshalb zwangsweise durchs Leben stürzt,33 der immer in Bewegung sein muss, um nicht zu fallen, der darf sich jedoch keine Zeit nehmen, nicht einmal eine kleine Auszeit. Denn die Moderne, in deren immer schnelleres Kommunikationssystem Störzer als Briefträger gnadenlos eingespannt ist, duldet keine Pause, kein Innehalten. Hier hat auch der Verweis auf die Umstellung vom Brief zur Postkarte (BA 18, S. 30) als Beschleunigungsphänomen seinen logischen Ort. Die Gnadenlosigkeit führt der Roman auf fast zynische Weise vor. Störzer berichtet Stopfkuchen vom Totschlag Kienbaums. Erschöpft von seinem Tagewerk habe er sich ausnahmsweise einen kurzen Moment der Ruhe gegönnt, eine Auszeit: ›Der Ewige Jude bist du doch nicht, Störzer‹, sage ich mir. ›Fünf Minuten wird’s ja mal Zeit haben‹, und da faßt mich der Teufel, oder der liebe Herrgott will’s, und ich setze mich die fünf Minuten hier auf den Grabenrand: o hätte mir doch der Himmel lieber fünf Minuten vorher einen durchgehenden, vierspännigen Heuwagen über den Leib gehen lassen! (BA 18, S. 190)

Genau in diesen fünf Minuten der Ruhe aber taucht Kienbaum auf, um Störzer erneut, was er schon sein Leben lang getan hat, zu verspotten und zu malträtieren. Und in diesen fünf Minuten greift Störzer zum Stein, mit dem er Kienbaum eher unabsichtlich trifft und tötet. Dass nun einer, der in seinem Leben fünfmal zu Fuß um die Welt kommt, in den einzigen fünf Minuten der Ruhe zu einem Totschlag getrieben wird, ist von abgründiger Ironie und Bosheit, ein Handel zwischen Gott und Teufel offenbar, zugleich aber ein hellsichtiger Kommentar zur Verfasstheit der von Beschleunigung gekennzeichneten Moderne: Störzer ist ihre Allegorie. Er wird schuldig und Andreas Quakatz, der alte Bauer von der Roten Schanze, wird sein Leben lang für den Schuldigen gehalten. Was sie beide verbindet, hängt mit der zentralen Fragestellung des Romans unmittelbar zusammen. Sie waren beide deplatziert, nämlich zur falschen Zeit am falschen Ort (BA 18, S. 190–193). Und darin liegt gleichsam das Kardinalvergehen der Moderne. In diesem Sinne sind sie beide schuldig an sich selbst geworden, weil sie nicht den rechten Ort und die rechte Zeit zu finden vermochten. II. Die Analogien zwischen Stechlin und Stopfkuchen sind vielfältig. Das betrifft zum ersten die scharfe Kontrastierung von Provinz und Welt, von Enge _____________ 33

Zum biblischen Hintergrund der Figur vgl. Mojem und Sprengel, Lebenskampf und Leibesfülle (wie Anm. 4), S. 365.

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und Weite, von Drinnen und Draußen, beispielsweise in der Gegenüberstellung von Adelheid und Melusine, die als »Antipoden« aufgefasst werden: »Stiftsdame und Weltdame, Wutz und Windsor, vor allem enge und weite Seele« (HFA I/5, S. 380). Auch der Vergleich zwischen Dubslav von Stechlin und dem alten Barby gründet auf dem Gegensatz von räumlicher Enge und Weite, doch hat die Fixierung Dubslavs auf einen Ort – »sitzt nun seit richtigen dreißig Jahren in seinem Ruppiner Winkel fest« (HFA I/5, S. 116) – in Differenz zu Adelheid nicht zu innerlicher Unfreiheit und Verarmung geführt (HFA I/5, S. 117). Dennoch sieht Woldemar die Vorzüge des »Weltmannes« Barby: »Nebenher freilich ist er Weltmann, und das gibt dann den Unterschied und das Übergewicht. Er weiß – was sie hierzulande nicht wissen oder nicht wissen wollen –, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und mitunter noch ganz andre.« (ebd.) Es betrifft zum zweiten den im Roman umfassend geführten Diskurs über Weltzuwendung und Weltabkehr, auch die Frage, ob man hinausgehen solle in die Welt oder sie an sich herankommen lassen. So hebt Lorenzen die Vorzüge des Weltfremden hervor, das keineswegs mit Provinzialität zu verwechseln sei (HFA I/5, S. 29, 31), bis hin zu der von mehreren Figuren geäußerten Maxime: »Zu Hause ist es am Ende wirklich am besten.« (HFA I/5, S. 36) Damit verknüpft ist drittens wie bei Raabe eine Depotenzierung der Metropolen, hier Berlin und Paris, ebenso wie eine grundlegende Depotenzierung der »sogenannten großen Welt« (HFA I/5, S. 136). Berlin darf sich noch nicht mit London vergleichen,34 und Paris sei prinzipiell überschätzt, wie das Gespräch zwischen Czako und Frau von Gundermann über Pariser »Rattenschlachten« ironisch zu verstehen gibt: Ja, so was wie diese Rattenjagd da unten, das vergißt man nicht wieder. Es war aber auch das Beste da. Denn was sonst noch von Paris geredet wird, das ist alles übertrieben; meist dummes Zeug. Was haben sie denn Großes? Opern und Zirkus und Museum, und in einem Saal ’ne Venus, die man sich nicht recht ansieht, weil sie das Gefühl verletzt, namentlich wenn man mit Damen da ist. Und das alles haben wir schließlich auch, und manches haben wir noch besser. (HFA I/5, S. 35)

Fontane nutzt und entfaltet demnach ähnliche Denk- und Wertungsmuster wie Raabe, indem er die Provinz gegen die Welt ausspielt und verschiedene Figuren Weltverachtung üben lässt, aber im Unterschied zu Raabe zeigt sein Text ebenso häufig die Vorzüge, ja die Überlegenheit des _____________ 34

Ähnlich Helen Chambers, Großstädter in der Provinz. Topographie bei Theodor Fontane und Joseph Roth. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des TheodorFontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger. Bd. III: Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne, Würzburg 2000, S. 215–225, hier S. 217: »Der Stadt, wie sie hier dargestellt wird, fehlt es an Weltniveau«.

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Urbanen sowie Figuren entschlossener Weltzugewandtheit, Czako und Melusine zum Beispiel. Der Autor arbeitet permanent mit solchen Gegensätzen.35 Allerdings führt er sie stets als Denkmuster einzelner Figuren vor, die wiederum selbst diese Muster im Prozess des Erzählens förmlich hin und her wenden, um deren tatsächliche konzeptuelle Leistung oder eben das Ausbleiben derselben offenzulegen. Während Raabe die scheinbar fraglosen Wertewelten von Eduard und Stopfkuchen in direkte Opposition bringt und zumindest auf der erzählten Ebene diejenige Stopfkuchens triumphieren lässt, inszeniert Fontanes Roman die ganze Komplexität eines allererst auszuhandelnden Wertungsgeschehens, eine eminent »wertende Verständigung über Werte«.36 Darin liegt zugleich ein wichtiges Moment der Relativierung und Objektivierung des Dargestellten. Die agonal, prozessual und dialogisch sich entwickelnden Wertungsperspektiven wechseln vielfach und sind häufig variabel, oft nur um des Amüsements und der Provokation willen wie bei Czako oder Dubslav. Über letzteren heißt es gleich zu Beginn: »Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen.« (HFA I/5, S. 10) Wo Raabe den Subjektivismus seiner Hauptfigur exponiert und in der Perspektive seines Textes eine modernekritische Präferenz für das Statische als das Überlegene andeutet, veranschaulicht Fontane im Stechlin anhand einer Vielzahl skizzierter und zitierter Schauplätze – z. B. Altmark, Mark Brandenburg, Berlin, London, Frankreich, Schweiz, Italien etc. – die sozialen Mechanismen der je möglichen Lebensmodelle. _____________ 35

36

Die gegenteilige Auffassung vertritt Helen Chambers (Großstädter in der Provinz [wie Anm. 34), S. 216): »Fontane arbeitet nicht mit dem häufig bemühten Gegensatz zwischen dämonisiertem Großstadtbild und gesunder ländlicher Idylle, und auch nicht mit dem konträren binären Muster von Provinz als beschränktem Mikrokosmos, der gegen den Makrokosmos der ausgedehnten Welt der Metropolen ausgespielt wird.« Siehe dagegen Eda Sagarra, die »die Polarität zwischen Provinz und Weltreich, zwischen Rand und Mitte, Heimat und Welt, verkörpert auch in den beiden alten Herren, Dubslav und Barby« als ein »den Roman durchziehendes Motiv« bezeichnet (Eda Sagarra, Der Stechlin. Roman. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 662–679, hier S. 669). In dieser »wertenden Verständigung über Werte« sieht Gottfried Willems ein entscheidendes Element der Literatur überhaupt. Das gilt sowohl auf der Ebene der literarischen Kommunikation zwischen Autor und Leser als auch auf textimmanenter Ebene zwischen den interagierenden Figuren. Er führt dazu aus: »Sich wertend über Werte zu verständigen heißt, Werte nicht nur zu benennen oder zu beurteilen, sondern im intersubjektiven Austausch das einer neuerlichen Wertung darzustellen, was sie als Werte begründet, sei es, um sich ihrer zu vergewissern, sie zu verändern oder zu verwerfen. […] wer sich der Literatur zuwendet, der kennt und sucht sie als einen Ort im sozialen Leben, der einer solchen Verständigung über Werte Raum gibt und an dem die Mittel für sie bereitgehalten werden.« (Gottfried Willems, Literatur. In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2: G– M, Frankfurt am Main 1996, S. 1006–1029, hier S. 1012)

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Wie Raabe entwirft er konkrete Modi der Weltabwendung und Weltzuwendung, doch sind die Bewertungskriterien in seinem Text ungleich beweglicher und in einem auf epische Objektivierung angelegten Perspektivismus aufgehoben. Die Figuren Fontanes werden demzufolge in ihrem konkreten Ringen um Werte sichtbar, wohingegen etwa Stopfkuchens Wertekanon mit Beginn des Textes bereits feststeht. Das hat freilich seinen Grund in einem wesentlichen Unterschied zwischen den Erzählstrukturen. Denn Raabes Protagonisten rekonstruieren und erörtern post festum vornehmlich einen Kriminalfall, mithin ein vergangenes Geschehen; der Erzählmodus ist daher meist analytisch und retrospektiv. Bei Raabe sind also, kurz gesagt, die (Wert-)Entscheidungen schon gefallen, Fontane hingegen zeigt die Figuren vielfach noch im Prozess der Entscheidungsfindung; er zeigt sie gleichsam selbst in Bewegung, in ihren Ansichten ebenso wie in ihren Biographien. Der hierbei vorherrschende Erzählmodus, die ›demonstratio ad oculos‹, ist meist szenischer und prospektiver Art. Jenes prozessuale Aushandeln häufig gegensätzlicher Wertoptionen bei Fontane gilt selbstverständlich auch im Blick darauf, wie die Figuren sich zur Zeit verhalten. Hier steht bekanntlich die Frage im Vordergrund, ob man es nun mit dem »Alten« oder dem »Neuen« halten solle. Eine exemplarische Position formuliert dazu Melusine: »Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.« (HFA I/5, S. 270) Diese der Konzeptualisierung von Zeit dienenden Kategorien des Alten und des Neuen bündeln zugleich jeweils spezifische Leitkonzepte und bilden eine im Wesentlichen binäre Werteordnung ab. Das Alte ist im Text meist verknüpft mit Traditionsbewusstsein, mit der Akzeptanz gesellschaftlicher Hierarchisierungen, mit dem Vorbild Frankreichs und der allgemeinen Wertschätzung von Herkunft, Privatheit und Provinz; das Neue dagegen steht für Freiheit, Egalität und Urbanität, für die Orientierung an England, außerdem aber für Öffentlichkeit, Welthaltigkeit und die Farbe Rot.37 Mit dieser grundlegenden Unterscheidung von Altem und Neuem reagiert der Autor im Roman deutlich auf die Erfahrungen sozialer Mobilisierung und technischer Be_____________ 37

Auf das Motiv der roten Farbe, die im Roman wahlweise mit dem »Neuen«, »Fortschrittlichen«, »Sozialdemokratischen« oder gar »Revolutionären« in Verbindung gebracht wird, hat Joachim Müller hingewiesen. Als Beispiele nennt er den »roten Hahn«, der im Stechlinsee bei großen Ereignissen aufsteigt, die Weigerung Dubslavs gegenüber Engelke, auf seine schwarz-weiße preußische Flagge einen politisch zeitgemäßen roten Streifen aufnähen zu lassen, den roten Schlips des Arztes Moscheles, der nach dem »Allerneuesten, der nach Sozialdemokratie schmeckt« (HFA I/5, S. 332), und natürlich die roten Strümpfe von Agnes, die Adelheid für ein Zeichen der »richtige[n] Revolution, [der] Revolution in der Sitte« hält (HFA I/5, S. 353); siehe Joachim Müller, Das Alte und das Neue. Historische und poetische Realität in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹, Berlin 1984, S. 4.

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schleunigung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Wahrnehmung der Lebenswelt mehr und mehr prägen. Wie Raabe verknüpft er das Raumbewusstsein mit einem elementaren Zeitbewusstsein, nicht selten auf witzige Art: »In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in England mit Hinrichtungsblöcken.« (HFA I/5, S. 215) Die Signifikanz der Zeitordnung wird im Stechlin dann auch eher ironisch durch eine Rokokouhr versinnbildlicht, »mit einem Zeitgott darüber, der eine Hippe führte« (HFA I/5, S. 19). Als memento mori erinnert sie jeden Einzelnen an seine Endlichkeit. Auf vielfältige Weise kommt der Roman auf die sich wandelnden Verkehrs- und Kommunikationsformen zu sprechen, etwa auf die Vorund Nachteile von Telegrammen, die letztlich eine Verrohung der Sitten hervorrufen würden (HFA I/5, S. 26),38 auf die Herrschaft von Tageszeitungen und deren Fixierung auf die »neuesten Nachrichten« (HFA I/5, S. 18), auf die Erstarkung der Sozialdemokratie (HFA I/5, S. 26) oder schließlich auf die Ablösung des französischen Lebensmusters durch das englische (HFA I/5, S. 65). Und die Beschleunigung sämtlicher Lebensvollzüge findet pointierten Ausdruck in einer Bemerkung Dubslavs: »[…] seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter« (HFA I/5, S. 250).39 Solche und ähnliche Phänomene, zu denen nicht zuletzt die »Freiheit« gehört (HFA I/5, S. 194), werden übergreifend als »Zeichen der Zeit« bzw. »Zeichen unserer Zeit« charakterisiert (HFA I/5, S. 26, 69 u. ö.). Später verbindet Dubslav die Änderung von Verkehrsformen un_____________ 38

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Dubslav »Fossilcharakter« zu unterstellen, nur weil er Telegramme nicht mag, ihn folglich als sogenannten Modernisierungsverweigerer zu denunzieren, kann nur als gravierende Fehlinterpretation des Textes bezeichnet werden, zumal Dubslav selbst seine Aussage mit den Worten kommentiert: »Was ich da gesagt habe... Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig. Der Teufel is nich so schwarz, wie er gemalt wird, und die Telegraphie auch nicht, und wir auch nicht.« (HFA I/5, S. 27) Siehe Stefan Neuhaus, Still ruht der See. Revolutionäre Symbolik und evolutionärer Wandel in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Fontane-Blätter 57 (1994), S. 48–77, hier S. 52f. Diese Auffassung postuliert im Übrigen, dass der technische Fortschritt unter allen Umständen als Gewinn an Lebensqualität verbucht werden müsse, während es im Stechlin doch immer auf die Gewinn- und zugleich Verlustrechnung von vermeintlichen ›Fortschritten‹ ankommt. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem von Relativierung, Objektivierung und dialektischem Perspektivismus geprägten Erzählverfahren. Zu Recht insistiert daher Hugo Aust auf Fontanes stets »doppelter Optik« (Hugo Aust, Fontanes Poetik. In: Fontane-Handbuch [wie Anm. 35], S. 412–465, hier S. 433). Die damit angedeutete radikale Transformation der Lebenswelt durch die industrielle Revolution bringt Paul Virilio anschaulich zum Ausdruck, indem er konstatiert, dass »im 19. Jahrhundert der Mensch vom Pferd absteigt und in die Eisenbahn einsteigt« (Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren..., Berlin 1978, S. 80; Hervorhebungen im Original). An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang von der »Transportrevolution des 19. Jahrhunderts« (ders., Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, S. 123). Vgl. auch Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. 3. Aufl., Frankfurt am Main 2004, sowie das Kapitel »Verkehr und Kommunikation« in Osterhammel, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 18), S. 1012–1029.

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mittelbar mit Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge, korreliert also räumliche und soziale Mobilität. Als Beispiel dient der Vergleich des Dorfpolizisten Uncke mit einem »Landbriefträger« (!), der wie Raabes Störzer Inbegriff einer beweglichen Sesshaftigkeit ist, aber auch explizit für Demut gegenüber dem Leben und für das Wissen um den eigenen Platz steht: Und Sie, Uncke, ja, Sie müssen laufen wie’n Landbriefträger. Es hat aber auch sein Gutes; zu Fuß macht geschmeidig, zu Pferde macht steif. Und macht auch faul. Und überhaupt, Gebrüder Beeneke is schon immer das Beste. Da kann man nicht zu Fall kommen. Aber jeder will heutzutage hoch raus. Das is, was sie jetzt die »Signatur der Zeit« nennen. (HFA I/5, S. 363f.)40

Dabei erscheint der angesprochene gesellschaftliche Platzwechsel immer auch von zweifelhaftem ethischem Wert. Doch wenn alles in Bewegung und Beschleunigung gerät, wenn folglich, wie Simmel ein Jahr nach dem Erscheinen des Stechlin, im Jahr 1900, konstatiert, der »absolute Bewegungscharakter der Welt« alles bestimmt,41 dann kann die Moral davon nicht ausgenommen sein. Eine bewegliche Moral gehört demnach ebenfalls zu den Zeichen einer Zeit, in der »Worte« und »Werte« mobil und immer schneller austauschbar geworden sind, wie das unfreiwillig ironische Referat zweiter Potenz, nämlich Adelheids Referat des selbst niemals in Erscheinung tretenden Rentmeisters Fix, der offenbar Nietzsche referiert hatte, belegt: Und kurz und gut, er sagte: das mit dem ›Wortlaut‹, das ginge nicht länger mehr, die ›Werte‹ wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr dieselben wären, müßten auch die Worte sich danach richten und müßten gemodelt werden. Er sagte ›gemodelt‹. Aber was er am meisten immer wieder betonte, das waren die ›Werte‹ und die Notwendigkeit der ›Umwertung‹. (HFA I/5, S. 98)

Soziale Mobilität, die zumeist mit lokaler Mobilität einhergeht, veranschaulicht Fontane hier und in anderen Texten, etwa in Frau Jenny Treibel und Mathilde Möhring, meist am Beispiel von Frauen,42 deren gesellschaftliche Handlungsspielräume bekanntlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr_____________ 40

41 42

Die Redensart »Signatur der Zeit« geht wohl zurück auf die von dem Historiker Heinrich Leo 1849 veröffentlichte Streitschrift Signatura temporis. Darauf verweist Helmuth Nürnberger in seinen Anmerkungen zum Roman (HFA I/5, S. 497). Georg Simmel, Philosophie des Geldes. Hrsg. von David Frisby und Klaus Christian Köhnke. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 714. Dabei handelt es sich natürlich um eine internationale Tendenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo sich Texte mit weiblichen Hauptfiguren signifikant häufen; siehe etwa Flauberts Madame Bovary (1857), Tolstojs Anna Karenina (1878), Ibsens Nora oder ein Puppenheim (1879), Thomas Hardys Tess of the D’Urbervilles (1891) oder Edith Whartons The House of Mirth (1905) etc.

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hunderts zu wachsen beginnen. Zu jenen Frauen, die »hoch hinaus wollen«, die also den ihnen per Geburt zugewiesenen Platz hinter sich, genauer: unter sich lassen wollen, zählen Frau von Gundermann und Frau Schickedanz. Allerdings nützt Frau von Gundermann ihr sozialer Aufstieg an der Seite ihres Mannes offenbar nichts, da sie ihre kleinbürgerliche Berliner Herkunft nicht zu verbergen vermag, wie eine boshafte Bemerkung über die »Gnäd’ge« zeigt: »Das ist so Berliner Stil. Und unsre Gnäd’ge hier (beiläufig eine geborene Helfrich) is eine Vollblutberlinerin.« (HFA I/5, S. 41f.) Die andere kleinbürgerliche Berlinerin, Frau Schickedanz, sieht sich durch den zufälligen Geldgewinn ihres Mannes in der gesellschaftlichen Hierarchie gleich um einige Plätze nach oben gerückt: Hinter einem Dachfenster in der Georgenkirchstraße geboren, an welchem Dachfenster sie später für ein Weißzeuggeschäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn sie rückblickte, wie ein Märchen vor, drin sie die Rolle der Prinzessin spielte. Dementsprechend durchdrang sie sich, still aber stark, mit einem Hochgefühl, das sowohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf Ebenbürtigkeit lossteuerte. Sie rangierte sich ein und wies sich, soweit ihre historische Kenntnis das zuließ, einen ganz bestimmten Platz an: Fürst Dolgorucki, Herzog von Devonshire, Schickedanz. (HFA I/5, S. 121f.; Hervorhebung D. O.)

Dass freilich der Weg innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie ebenso »nach unten« führen kann, wird gleichfalls an einer Frau gezeigt, ein nicht minder problematischer Platzwechsel, den Prinzessin Ermyntrud von Ippe-Büchsenstein vornimmt, indem sie den bürgerlichen Oberförster Katzler heiratet: »Es ist doch nicht gut, wenn Prinzessinnen in Oberförsterhäuser einziehn. Sie sind dann aus ihrem Fahrwasser heraus und greifen nach allem möglichen, um in der selbstgeschaffenen Alltäglichkeit nicht unterzugehn.« (HFA I/5, S. 330) Eine Frau schließlich, die entschieden an ihrem Ort festhält und zugleich ihre herausragende gesellschaftliche Stellung gegen die Zumutungen des Zeitgeists verteidigt, ist Adelheid. Zudem konterkariert sie die Raschheit der verzeitlichten Gegenwart und wurzelt nicht nur aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters tiefer in der Vergangenheit, sondern bringt überhaupt das Stabile und die Tiefe der Zeit zur Geltung, sofern sie gelegentlich die »Vorzüge sechshundertjähriger märkischer ›Eingesessenheit‹« betont (HFA I/5, S. 251), ja sie versucht die mangelnde Weltkenntnis mit einer beeindruckenden Herkunft wettzumachen und folglich die Tiefe der Zeit gegen die Weite des Raums auszuspielen. Im Stechlin scheinen es fast gänzlich Aspekte der sozialen und räumlichen Verortung sowie der Relationierung von Räumen zu sein, die über

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die Figuren entscheiden, wobei der Autor neben einer Poetik des Raums43 eine regelrechte Imagologie entwickelt, bei der er nicht zuletzt auf ebenso virtuose wie humoristische Weise regionale und nationale Stereotypen vorführt. Indem die Eigenarten, Vorzüge und Nachteile von England, Frankreich, Holland, Italien, Ungarn, Schweiz, Polen, Russland, Amerika, Afrika und Skandinavien – das sind etwa die im Text explizit erörterten Länder und Regionen – im Horizont eines Vergleichs, genauer noch: eines Wettstreits der Kulturen nach »Natur und Sitte« (HFA I/5, S. 256) diskutiert werden, kommen nicht nur die Sichtweisen, Vorurteile und Charaktereigenschaften der an den jeweiligen Gesprächen beteiligten Figuren zum Vorschein, auf diesem Weg wird vielmehr die außerordentliche Welthaltigkeit des Romans konstituiert, wird zudem der zentrale Diskurs über Identität und Alterität ausgetragen, wird schließlich auch die Wertewelt des Romans geprägt.44 Die Raumbestimmtheit der Personen zeigt sich gleich zu Beginn des Romans, weil zuerst die Landschaft mit dem See Stechlin geschildert wird, anschließend folgt die Beschreibung des Schlosses, dann erst richtet sich _____________ 43

44

Siehe dazu Gotthart Wunberg, Rondell und Poetensteig. Topographie und implizite Poetik in Fontanes ›Stechlin‹. In: Jürgen Brummack et al. (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 458–473. Siehe generell Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. 5. Aufl., Frankfurt am Main 1992, sowie Eckhard Lobsien, Phänomenologie der Spielräume. Konstitutionsweisen lebensweltlicher und literarischer Gegenständlichkeit. In: Dirk Oschmann und Alexander Löck (Hrsg.), Literatur und Lebenswelt, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 37–55. Um wenigstens drei Beispiele aus dem großem Repertoire an Vorurteilen zu geben, die insbesondere Adelheid gegenüber allem Fremdem pflegt: Während ihr die Schweiz schon als »wildes Land« (HFA I/5, S. 160) verdächtig ist, kommt England, das als konkreter Handlungsraum im Übrigen gar nicht gezeigt wird, überhaupt nicht infrage. »Alles, was ich da so höre […], kann mich für dieses Volk nicht einnehmen, und weil sie rundum von Wasser umgeben sind, ist alles so kalt und feucht, und die Frauen, bis in die höchsten Stände hinauf, sind beinah immer in einem Zustand, den ich hier nicht beim Namen nennen mag. […] Und wenn es dann neblig ist, dann kriegen sie das, was sie den Spleen nennen, und fallen zu Hunderten ins Wasser, und keiner weiß, wo sie geblieben sind. Denn […] sie stehen in keinem Buch und haben auch nicht einmal das, was wir Einwohnermeldeamt nennen, so daß man beinah sagen kann, sie sind so gut wie gar nicht da. Und wie sie kochen und braten! Alles fast noch blutig, besonders das, was wir hier ›englische Beefsteaks‹ nennen. Und kann auch nicht anders sein, weil sie so viel mit Wilden umgehn und gar keine Gelegenheit haben, sich einer feineren Gesittung anzuschließen.« (HFA I/5, S. 255) Czako dagegen spielt auf ironische Weise mit Vorurteilen aller Art und zieht sie hierdurch ins Lächerliche, beispielsweise wenn er Woldemar eine große Karriere voraussagt, die schließlich darin gipfeln müsse, dass er »als Generalgouverneur nach Mittelafrika« gehen werde, »links die Zwerge, rechts die Menschenfresser« (HFA I/5, S. 212). Siehe in diesem Zusammenhang vor allem Krzysztof Lipinski, Fontanes ›Stechlin‹ im Schnittpunkt der Kulturen. In: Zdzislaw Wawrzyniak und Krysztof Druzycki (Hrsg.), Germanistik als interkultureller und interdisziplinärer Brückenschlag, Rzeszow 2000, S. 101–108, sowie v. a. Günter Häntzschel, Die Inszenierung von Heimat und Fremde in Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹. In: Konrad Ehlich (Hrsg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa, Würzburg 2002, S. 157–166.

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der Fokus auf die Hauptfigur Dubslav und darauf, wie sie in diese Umgebung hineingestellt ist (HFA I/5, S. 7–9). Auch Adelheid artikuliert scharf einen solchen, zumal ethisch strukturierten Zusammenhang, indem sie ihren konkreten Lebensraum förmlich zu einem Punkt zusammenzieht, wobei sich die dergestalt verdichtete Raumerfahrung offenbar in einen sozialen und moralischen Habitus übersetzen lässt. An Woldemar schreibt sie: […] nun wirst Du fragen, warum ich gegen andre so streng und so sehr für unsre Mark bin, ja speziell für unsre Mittelmark. Deshalb, mein lieber Woldemar, weil wir in unsrer Mittelmark nicht so bloß äußerlich in der Mitte liegen, sondern weil wir auch in allem die rechte Mitte haben und halten. (HFA I/5, S. 161)

Und die von Dr. Pusch geäußerte zentrale Frage »Wo soll man am Ende leben?« (HFA I/5, S. 297) betrifft nicht nur ihn selbst, sondern im gleichen Maße alle anderen Figuren, die sich mit dem jeweiligen Lebensort für ein gesamtes Lebensmodell entscheiden müssen. Denn, so auch Dubslav, die »Niederlassungs- und speziell die Wohnungsfrage spielt doch, wo sich’s um Glück und Behagen handelt, immer stark mit […]« (HFA I/5, S. 306). Pastor Lorenzen wendet das Problem dann im Gespräch mit Melusine ins Grundsätzliche: Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein. (HFA I/5, S. 271)

Die Stellung des Einzelnen in der Welt hat demnach mindestens eine lokale, eine soziale, eine ethische und eine metaphysische Dimension. Dabei folgt Lorenzen selbst im Grunde noch dem alten Modell, dort zu handeln und zu leben, wo Gott ihn hingestellt hat: »Einen Brunnen graben just an der Stelle, wo man gerade steht.« (HFA I/5, S. 31) Sein Zögling Woldemar teilt diese Auffassung der Vorbestimmtheit: »Alles ist göttliches Geschenk. Warum ist der eine hübsch und der andere häßlich? Und nun gar erst die Damen. In das eine Fräulein verliebt sich alles, und das andre spielt bloß Mauerblümchen. Es wird jedem seine Stelle gegeben.« (HFA I/5, S. 101; Hervorhebung D. O.) Doch gerade der letzte Satz scheint in der Moderne seine Geltung verloren zu haben.45 Denn an Woldemar selbst wird die mit der Freiheit ver_____________ 45

Erinnert sei an dieser Stelle auch an die von Freud herausgestellten »drei großen Kränkungen«, die das übergreifende Bewusstsein des Menschen vom Verlust seines angestammten Platzes forcieren. Denn diese Kränkungen hängen letztlich mit räumlichen Denkfiguren zu-

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bundene Zumutung, sich den eigenen Platz suchen zu müssen, exemplarisch vorgeführt. Zu Beginn des Romans befindet er sich nämlich aus der Sicht der anderen Figuren durchaus nicht an seinem Platz im sozialen, moralischen und weltanschaulichen Gefüge. So äußert Czako über ihn: »Unser Stechlin ist der beste Kerl von der Welt […]. Aber er paßt doch nicht recht an seine Stelle.« (HFA I/5, S. 21) Denn in seinem Regiment seien lauter Prinzen. Und da hinein ist nun unser guter Stechlin gestellt. Natürlich tut er, was er kann, und macht so gewisse Luxusse mit, Gefühlsluxusse, Gesinnungsluxusse und, wenn es sein muß, auch Freiheitsluxusse. […] Richtige Prinzen können sich das leisten, die verbebeln nicht leicht. Aber Stechlin! Stechlin ist ein reizender Kerl, aber er ist doch bloß ein Mensch. (HFA I/5, S. 22)

Gleichwohl findet Woldemar nach verschiedenen Karrieremöglichkeiten den ihm angemessenen Platz, indem er sich mit Armgard für ein zurückgezogenes Leben auf Schloss Stechlin entscheidet: »Die Scholle daheim, die dir Freiheit gibt, ist doch das Beste.« (HFA I/5, S. 387) Während er zu Beginn des Romans als deplatziert angesehen worden ist, kommt er mit diesem Entschluss noch zur rechten Zeit an den rechten Ort und folglich zu sich selbst. Aber was heißt am Ende »deplatziert«? Man könnte, natürlich nur stark vereinfacht, historisch drei Modelle skizzieren. Im vormodernen ersten kennt Gott den richtigen Platz und stellt den Einzelnen per Geburt genau dahin. Im zweiten, gleichsam an der Schwelle zur Moderne, gibt es noch diesen Platz, doch muss man ihn selbst suchen. Im dritten, dezidiert modernen, gibt es den vorbestimmten Platz nicht mehr, vielmehr hat man den Platz, an dem man sich temporär jeweils befindet, zum eigenen allererst zu erklären. Alles andere, so Dubslav, sei »Eitelkeit und Größenwahn« (HFA I/5, S. 182). Obwohl er dem »Neuen« gelassen und mitunter sogar aufgeschlossen begegnet, versinnbildlicht er schon aufgrund seines fortgeschrittenen Lebensalters eher das »Alte«. Dennoch artikuliert er in einem Gespräch mit Lorenzen über Koseleger das Selbstverständnis eines Modernen und akzentuiert damit noch einmal ein Kernproblem des Romans: [Lorenzen:] ›Er gestand mir beispielsweise, daß er sich unglücklich fühle.‹ ›Warum?‹ ›Weil er in Quaden-Hennersdorf deplaciert sei.‹

_____________ sammen. Die »kosmologische Kränkung« durch Kopernikus rückt den Menschen aus dem Zentrum der Welt, die »biologische Kränkung« durch Darwin negiert seinen Platz an der Spitze der Schöpfung und die »psychologische Kränkung« durch Freud selbst schließlich besteht in der Feststellung, »daß das Ich nicht Herr […] im eigenen Haus« ist; siehe Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissensachaften V (1917), S. 1–7, hier S. 4, 5, 7.

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›Deplaciert. Das ist auch solch Wort; das kenn’ ich. Wenn man durchaus will, ist jeder deplaciert, ich, Sie, Krippenstapel, Engelke. Ich müßte Präses von einem Stammtisch oder vielleicht auch ein Badedirektor sein, Sie Missionar am Kongo, Krippenstapel Kustos an einem märkischen Museum und Engelke, nun der müßte gleich selbst hinein, Nummer hundertdreizehn. Deplaciert! Alles bloß Eitelkeit und Größenwahn.‹ (HFA I/5, S. 182)

In der Moderne noch vom Deplatziert-Sein zu reden, heißt offenbar, an das auf Gott zurückzuführende Konzept des einen richtigen Platzes noch zu glauben, heißt des weiteren – was freilich bei einem Geistlichen wie Koseleger dazugehört –, dem Dasein einen überwölbenden Sinn zuzuschreiben und somit das, was Georg Lukács nur wenig später die »transzendentale Obdachlosigkeit« nennen wird,46 zu leugnen. In der funktional ausdifferenzierten Welt der Moderne kann es nicht mehr den einen Platz geben, an den man gehört, sondern gewissermaßen nur variable Platzfindung, denn der Platz, an dem man steht, ist stets Resultat einer ganzen Reihe von Entscheidungen, die man jeweils getroffen hat. Indes zu glauben, man befinde sich am falschen Platz, muss folglich, zumindest in Dubslavs Sicht, durchaus als Anmaßung und Selbstüberschätzung charakterisiert werden. Bei aller Nähe der Problemstellung von raumbezogener Statik und Dynamik sowie von rechtem Ort und rechter Zeit, wie sie beide Romane entfalten, sind die Autoren erzähltechnisch dennoch grundverschiedene Wege gegangen. Während Raabe die Dignität des Statischen paradoxerweise aus einer höchst elaborierten, auf verwickelte Handlung angelegten Erzählform hervortreten lässt, bildet Fontane, nicht weniger paradox, die Dynamisierung der Räume und Werte fast in einem Nichts an Handlung ab: »Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.«47 Dergestalt repräsentieren beide Romane exemplarisch die Möglichkeiten des Realismus, sich zu einer durch und durch verzeitlichten und beweglich gewordenen Welt narrativ ins Verhältnis zu setzen.

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Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik, 12. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 32. Fontane an Adolf Hoffmann (Entwurf Mai/Juni? 1897) in HFA IV/4, S. 650. Zur ›Handlungsarmut‹ des Romans siehe auch Paul Irving Anderson, Der Stechlin. Eine Quellenanalyse. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane. 2. Aufl., Stuttgart 2004, S. 243–274, hier S. 259f.

Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen Problematisches Erzählen zwischen Literatur und Massenmedien Kerstin Stüssel

In der neueren Forschung zum deutschsprachigen Realismus, seinen außerliterarischen Referenzen und deren Form konkurrieren, zugespitzt und sehr vereinfacht, zwei Fraktionen: Die eine betont die – aus postkolonialer Perspektive durchaus problematische, weil asymmetrisch-bemächtigende – Welthaltigkeit realistischer Texte,1 die andere die Ausgrenzungs-2 und ›Entsagungs‹-Mechanismen3 in Programmatik und literarischer Praxis, die Welthaltigkeit nahezu verhindere. Die Trias Metropole-Provinz-Welt und _____________ 1

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Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000; Alexander Honold und Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart/Weimar 2004; Dirk Göttsche, Der koloniale ›Zusammenhang der Dinge‹ in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht. In: JbRG (2005), S. 53–73; Patrick Ramponi, Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hrsg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 17–59; Gabriele Dürbeck, Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914, Tübingen 2007; Axel Dunker, Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008; Florian Krobb, Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt, Würzburg 2009. Michael Titzmann, ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹. In: Klaus Michael Ort und Hans Krah (Hrsg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 181–209. Jetzt auch in Michael Titzmann, Realismus und frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche, München 2009, S. 275– 307. Ähnlich auch Lothar L. Schneider, Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tübingen 2005, S. 3, 86ff. Moritz Baßler, Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe. In: JbRG (2010), S. 63–80; ders., Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das Problem der Repräsentation von Wissen. In: Michael Neumann und Kerstin Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 429–442.

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die damit verbundene Mobilitätstoptik löst jedoch nicht nur die traditionellen kulturkritischen Oppositionen zwischen Provinz und Metropole auf, sondern ermöglicht auch eine veränderte, vorsichtig kritische bzw. windschiefe Position im Vergleich mit den oben idealtypisierend unterschiedenen Fraktionen, die deren erzähltheoretisch fokussierte und angeleitete ›Versöhnung‹ einleitet. Mit den Begriffen ›Verschollenheit‹ und ›Entlegenheit‹ wird auf die im Zeichen des verdichteten und beschleunigten sogenannten ›Weltverkehrs‹ veränderten Raum- und Mobilitätsimaginationen hingewiesen: Sie tragen – im Moment der verschachtelt erzählten und beobachteten Erzählperformanz – eine verschärfte Rhetorik des modernen, bürgerlichen Subjekts in sich. Zugleich behaupten die literarischen Erzählungen des Realismus, wenn sie den Akt des Erzählens in die erzählte Welt hinein platzieren, dass sie es in Verbindung und/oder Konkurrenz mit den zeitgenössischen Massenmedien vermögen, kulturelle Räume, Zeiten, Dinge und Akte sowie ihre Erzählungen, ihr situiertes und lokales Wissen grenz- und rahmenüberschreitend zu konservieren und zu reaktualisieren. Damit ist die Hoffnung verbunden, all dieses vor einem unaufhaltsam und irreversibel scheinenden zerstörerischen Zivilisierungs- und Fortschrittsprozess zu retten, der in seiner Beschreibung normativ-performativ festgeschrieben wird. Einher geht mit dem konservativen Begehren der Literatur sowohl die folkloristische und ethnographische Bemächtigung als auch die vergleichende (Selbst-)Relativierung durch Sammlung, Musealisierung und Edition. ›Verdichtung‹ schließlich markiert eine epistemologische Konstellation in der ›völkerpsychologischen‹ Theoriebildung des 19. Jahrhunderts, die den relativierenden, potentiell globalen Vergleich4 immer noch durch die Logik des Fortschritts domestiziert und die narratives und nichtnarratives Wissen gleichermaßen umfasst. ›Verdichtung‹ ist die kulturelle Produktion und der kulturelle Effekt von Latenz,5 so dass die kognitiven Implikationen und Konsequenzen von Wissen, das institutionell und medial tradiert wird, nicht immer im Detail realisiert und explizit präsentiert werden müssen und können. Damit wird gewissermaßen ein ›Sparsamkeitsprinzip‹ von der pragmatischen Ebene der philosophischen bzw. wissenschaftlichen Beschreibung auf die Ebene der individuellen und kollektiven Wissensverarbeitung verlagert. Hier kann das Verdichtungsprinzip, das soll zumindest für Fontane hypothetisch behauptet werden, als ein bislang wenig beach_____________ 4 5

Siehe Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin 2000, S. 46ff. Siehe jetzt im Anschluss u. a. an Anselm Haverkamp der Band von Hans Ulrich Gumbrecht und Florian Klinger (Hrsg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011.

Entlegene Orte, verschollene Subjekte, verdichtetes Wissen

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tetes Element seines ›realistischen‹ Schreibprogramms geltend gemacht werden. 1.

Effi in ›Halbsibirien‹, Chinesen in Preußen: Mobilität und Entlegenheit im Kontext der Weltverkehrsrhetorik

Im Laufe der Hochzeitsvorbereitungen im Hause Briest kommt es zu einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter, in dem sich geographische, klimatische und vestimentäre6 Erwägungen, überlagern: Zwischen Naivität und Berechnung äußert Effi zur »Erheiterung« ihrer Mutter eine »merkwürdige Vorstellung von Hinterpommern«, wo ihr zukünftiger ehelicher Wohnort liegt. »Sie gefiel sich nämlich darin, Kessin als einen halb sibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht aufhörten«.7 Mit diesem Fantasma einer Zukunft als Ehefrau an entferntem und entlegenem Ort in klimatischer Kältezone legitimiert Effi ihren Wunsch eines verwöhnten Kindes, von den Eltern zu allem anderen nun noch einen Pelz geschenkt zu bekommen. Der Mutter gefällt Effis »Torheit«; sie verspricht ihr, auch diesen Wunsch zu erfüllen, nicht jedoch ohne die Tochter zuvor noch geographisch zurechtzuweisen und implizit deren Rolle als Stellvertreterin und Surrogat der Mutter mit zu thematisieren: »Du kommst ja nicht nach Petersburg oder Archangel.« (GBA 15, S. 30) Ziemlich schnippisch antwortet Effi: »Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin …« (ebd.), was der Mutter Anlass ist, nicht nur Effis Vorstellungen über die Angemessenheit eines Pelzes für eine junge Frau zurechtzurücken, sondern auch deren Meinungen über die geographischen Verhältnisse und Entfernungen sarkastisch zu relativieren: »Wenn du von hier nach Nauen fährst, bist du auch auf dem Wege nach Russland.« (ebd.)8 In Frau von Briests Replik verwandelt sich das im späten 19. Jahrhundert noch weitgehend unerschlossene, entlegene, festländische ›Halbsibirien‹ in jene weltweit vernetzten, nördlichen Küsten- und Hafenstädte Petersburg und Archangelsk, die seit dem 16. Jahrhundert Russlands Seeund Handelsverbindungen nach Westen garantieren.9 Die durch patriar_____________ 6 7

8 9

Grundlegend dazu immer noch Ulrike Landfester, Der Dichtung Schleier. Zur poetischen Funktion von Kleidung in Goethes Frühwerk, Freiburg im Breisgau 1995. Theodor Fontane, Effi Briest. In: Ders., Große Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Gotthard Erler. Das Erzählerische Werk. Bd. 15, Berlin 1998, S. 29. Aus dieser Ausgabe wird nachfolgend mit der Sigle ›GBA‹ mit Bandangabe und Seitenzahl zitiert. Siehe auch GBA 15, S. 54: »Wir sind hier fünfzehn Meilen nördlicher als in HohenCremmen und eh’ der erste Eisbär kommt, mußt Du noch eine Weile warten.« Siehe die Lemmata ›Archangelsk‹ und ›Rußland‹ in: Brockhaus’ Konversationslexikon. 14., vollständig neu bearbeitete Aufl., Leipzig 1898: »›Archangelsk‹ oder ›Archangel‹ ist der wichtigste Handels- und Hafenplatz an der Nordküste Rußlands […]. Archangelsk ist jetzt

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chalen Frauentausch und dominant mütterliche, auf das töchterliche Surrogat setzenden Heiratspolitik mobilisierte Effi erscheint in diesem kurzen Wortwechsel damit gleichzeitig als ein zwar noch heimatlich zentrierter, aber beweglicher Punkt in einer vektoriell, durch Transitrouten auf gebahnten Wegen gegliederten Welt: Das Individuum ist, in den Praktiken und Gedankenfiguren des Weltverkehrs, immer schon woanders, immer auf dem Weg, immer ›verlagert‹. Komplementär zu Effis Verlagerung fungiert im Roman die chinesische Präsenz in Preußen. Hier steht Fontanes Text rezipierend und produzierend im Bann der massenmedialen China-Faszination des späten 19. Jahrhunderts, die durch kursorische Andeutungen zu konkretisieren ist: Schon 1880 erscheint in der von Paul Lindau herausgegebenen Zeitschrift Nord und Süd, für die Fontane als Autor tätig ist,10 eine anonyme Rezension zu Richard Oberländers illustriertem ethnographischen »Prachtwerk« Fremde Völker. Sie beginnt mit einer Berliner Marktszene auf einem »jämmerliche[n], reizlose[n] Platz« im »äußersten Westen Berlins«: In der That sehen die Leute nirgends so viel zum Fenster hinaus wie da, wo es durchaus nichts schönes zu sehen gibt – und in der Beziehung ist der Platz unerreicht. Nur zweimal in der Woche wird es lebendig […]. Das ist an den Markttagen. Und dann haben sie wirklich einen Anblick, um den mancher Provinzler vielleicht Eintrittsgeld bezahlen würde. Dann gehen die Chinesen zu Markte. Würdevoll schreitet das Paar durch die Reihen, in ihren langen blauen Röcken, die kurze schwarze Jacke darüber, auf dem Kopf das schwarze Barett, am Arme ganz gemeine Handkörbe und bei Regenwetter unter dem Dache des landläufigen schwarzwollenen Schirms – civilisirte Chinesen, die schon den Faltschirm der Heimath aufgegeben haben. Und den Marktgästen scheinen sie liebe alte Bekannte. Die Buben haben sich längst an den Gedanken gewöhnt, daß ein Zopf nicht unbedingt gleich einer Klingelschnur behandelt werden muß; und die Marktweiber empfangen sie – wohl nicht ganz uneigennützig – mit ihrem verlockendsten Lächeln und den einladendsten Anerbietungen. Dicht bei jenem Markte, am andern Ufer des Canals, mitten eingebettet in die Bäume, die das träge Wasser so reizvoll einrahmen, liegt Villa von der Heydt, der Sitz der chinesischen Gesandtschaft, die Wohnung, um die mancher Berliner den Herrn Li Fong Pao beneidet. Sie sieht noch eben so europäisch aus, wie zu weiland des Ministers Zeiten, und wenn nicht gerade ein chinesisches Fest und die Drachenfahne aufgehißt ist, würde der Fremde nicht vermuthen, was für seltene Gäste sie beherbergt. Der Berliner hat sich an die Chinesen gewöhnt. […] Eine schroffe Wandelung in kurzer Frist! Man wird sich darüber so recht klar, wenn man das neue Prachtwerk ›Fremde Völker‹ von Richard Oberländer in die Hand nimmt […]. Die ersten

_____________

10

für Sibirien der Haupthandelsplatz, der durch Kanäle mit Moskau und Astrachan in Verbindung steht.« (Bd. 1, S. 828); ›Rußland‹: »Die wichtigsten Seehäfen sind in der Ostsee: Petersburg mit Kronstadt […]; im Eismeer: Archangelsk (hauptsächlich) und Onega.« (Bd. 14, S. 77f.) Grete Minde (1879) und L’Adultera (1880) sind dort erschienen.

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Lieferungen behandeln Japaner und Chinesen. Sind das wirklich noch fremde Völker? […] Die Völker rücken merkwürdig zusammen im neunzehnten Jahrhundert; und wenn Hagenbeck noch einige Jahre fortfährt, Wilde in Europa herumzuführen, […] wird der Begriff fremde Völker bald nur noch in Stallupönen und Umgegend geläufig bleiben. Hier bewährt sich wieder einmal der alte Satz: man fängt erst an, sich für einen Gegenstand recht zu erwärmen, wenn man fürchten muß, ihn bald zu verlieren. Die Teilnahme an der Völkerkunde war nie so rege als jetzt.11

Die Präsenz der Chinesen in Berlin changiert zwischen Normalität und Ausnahme, der regelmäßige Auftritt der chinesischen Diplomaten markiert im Speziellen den späten Beginn einer chinesischen Außenpolitik im europäischen Sinn: China schickt erst 1877 den ersten Gesandten nach Europa, Anfang der 1880er Jahre besitzt China Gesandtschaften in Frankreich, Deutschland, Russland, Japan, Italien, Spanien und den USA.12 Im Kontext der Rezension markiert ›China in Berlin‹ den Unterschied zwischen Provinz und Weltstadt und das politische, ökonomische und weltverkehrslogistische Zusammenrücken der Völker. Die Berliner Szene wird auf der Folie einer Entwicklungslogik gedeutet, die die Konzeption von Stufen der Kulturen und evolutionäre Szenarien13 miteinander verbindet. In diesem speziellen Kontext und in der politisch-kulturellen Wahrnehmung Europas spielt China und spielen die Chinesen eine spezifische, aporetische Rolle: China ist einerseits, neben Indien, die konkurrierende, andere Zivilisation und Hochkultur, eine »Culturnation«, die zumindest im Hinblick auf ihre Vergangenheit Hochachtung und Respekt verlangt; auf der anderen Seite gilt China als eine abgeschlossene und seit langem stagnierende Kultur, die von europäischen Kulturen überholt und zur ökonomisch-politischen Öffnung gezwungen wurde und weiterhin gezwungen werden kann. Dann aber macht sie – auch – Angst, und nicht nur Effi: China ist ein schwarzer Schimmel, ein irritierendes und faszinierendes Phänomen, weil sich das Land der Konkurrenz, dem Vergleich, der Interaktion und der Weiterentwicklung zu entziehen scheint, dennoch _____________ 11 12

13

Anonymus, Rezension zu Richard Oberländer: ›Illustrirte Bibliographie. Fremde Völker‹, Leipzig: Klinkhardt 1882, 1. Lieferung: ›Japaner und Chinesen‹. In: Nord und Süd 20 (1880) H. 60, S. 406410, hier S. 406ff. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998; Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914. 2. Aufl., Göttingen 2006. Siehe insbesondere Edward Tylor, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Ins Deutsche übersetzt unter Mitwirkung des Verfassers von J. W. Sprengel und Fr. Poske, Leipzig 1873. Darüber hinaus siehe das Kapitel »Stufen der Cultur« des im Entstehen befindlichen Quellenbandes: Michael Neumann, Kerstin Stüssel et al. (Hrsg.), Weltverkehr. Texte zur Globalisierung des Bewusstseins 1850– 1900 (Veröffentlichung in Vorbereitung).

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aber sein solcherart geprägtes Existenzrecht behauptet. Und was passiert, wenn China sich wirklich ändern sollte? Oder wenn es sich den Wechselwirkungen mit Fremdem nicht länger entziehen kann? Die Berliner Marktszene aus Nord und Süd lenkt die Aufmerksamkeit einerseits auf die respektheischende endogene Würde der Chinesen, andererseits auf ihre Zivilisiertheit, ihre Anpassung an Berliner Verhältnisse, die sich in der Benutzung des europäischen Schirms manifestiert. Die Marktszene macht weiterhin darauf aufmerksam, dass sich die Berliner im Kontakt mit den Chinesen verändern, aus Geschäftssinn und aus wachsender Höflichkeit gleichermaßen. Trotz der wechselseitigen Anpassungsleistungen einer friedlichen Koexistenz kulminiert der Text im zynischmelancholischen und topischen Fazit, dass die fremden Völker als fremde nur in und mit den repräsentativen, ethnographischen Prachtbänden gerettet werden können, weil sie in der kolonialistischen, von Darwinschen Denkfiguren geprägten Wirklichkeit verschwinden, verdrängt oder zur Anpassung genötigt werden. Das Ineinander von multikulturellem Idyll der Symmetrie und asymmetrischen Ausbeutungsverhältnissen macht diesen Text im Hinblick auf China und die Chinesen zu einem Beleg für eine neuartige Präsenz Chinas in Preußen, die sich gleichermaßen als reale und als massenmediale beschreiben lässt.14 Fontane selbst trägt zum Zeitungswissen über die Chinesen in Preußen mit einem Text von 1889/90 bei: Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal, der zuerst in der Freien Bühne, dann in der Sammlung Von, vor und nach der Reise (1894) erscheint.15 Der Text beschreibt einen »Studienspaziergang« (GBA 19, S. 102) im Berliner Botschaftsviertel, der die zunächst avisierte »Revue der fremden Gesandtschaften« auf die chinesische Botschaft, »Heydtstraße 17«, einschränkt (GBA 19, S. 97f.). In komplexen Spiegelungen und Überblendungen Berliner und ausländischer Kulturlandschaften manifestiert sich die chinesische Präsenz in Preußen in ihrer _____________ 14

15

Eine kleine Auswahl chinaspezifischer Publikationen, die politische Beiträge nicht erfasst hat: Karl Friedrich Neumann, Die Jugendjahre des jüngern Bruders Jesu Christi. Eine wahre Dorfgeschichte aus dem Mittelreiche. In: Westermanns illustrirte deutsche Monatshefte 1 (October 1856 bis März 1857), S. 126–134, 263–273; L. Katscher, Blätter und Blüthen. Gesinde und Sclaven in China. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 28 (1881) Nr. 12, S. 203; Anonymus, Eisenbahnen in China. In: Westermanns illustrirte deutsche Monatshefte 17 (October 1864 bis März 1865) Nr. 102, S. 668. Über Adolf Bastian und den chinesischen Volksaberglauben, insbesondere über die Teilung der Seelen und den Gespensterglauben: Wilhelm Hoffner, Ein Anthropolog und Ethnolog als Reisender. In: Westermanns illustrirte deutsche Monatshefte 24 (April bis September 1868), S. 269–276; L. K-r., Blätter und Blüthen. Neujahr in China. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 27 (1879) Nr. 1, S. 20; Fr. Merkel, Der Kuß. Eine anthropologische Skizze. In: Nord und Süd 8 (1879) H. 24, S. 380–391; E. Metzger, Zauber und Zauberjungen bei den Chinesen I. In: Globus. Illustrirte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 42 (1882), S. 110ff.; Rimestad, Ueber Größe und Richtung der modernen Auswanderungen. In: Vossische Zeitung 142 (12.6.1863), S. 4. Theodor Fontane, Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal [1889]. In: GBA 19, S. 97–103.

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signifikanten Absenz. Statt Chinesen trifft der Erzähler Berliner Kinder, statt »Sprachwissenschaftliches« (GBA 19, S. 102) oder »ethnographisch[en] […] Ertrag« (GBA 19, S. 100) erlangt der Erzähler lediglich Kenntnis von Berolinismen und kindlichen Spielen der Einheimischen. Die Außenperspektive des Erzählers, der auf das »Eindringen« (GBA 19, S. 97) verzichtet, auf das Botschaftsgebäude und die Unsichtbarkeit der Chinesen dienen aber einer »Gesamtphysiognomie« (GBA 19, S. 98), die in monologisch-mündlicher Rede übermittelt wird und die sich das Stereotyp der chinesischen Abgeschlossenheit und Selbstgenügsamkeit anverwandelt: ›Ein Innenvolk‹ sagte ich mir ›feine, selbstbewußte Leute, die jede Schaustellung verschmähn. All die kleinen Künste, daran wir kranken, sind ihnen fremd geworden und in mehr als einer Hinsicht ein Ideal repräsentierend, veranschaulichen sie höchste Kultur mit höchster Natürlichkeit‹. Und in einem mir angebornen Generalisierungshange das Thema weiter ausspinnend, gestaltete sich mir der an Fenster und Balkon ausbleibende Chinese zu einem Hymnus auf sein Himmlisches Reich. (GBA 19, S. 101)

Diese merkwürdige, absente Präsenz der Chinesen in Preußen manifestiert sich medial vermittelt nun aber nicht nur in Berlin, sondern auch in Kessin, dem zentralen Schauplatz von Fontanes Roman Effi Briest. Sie gerät auch im literarischen Text zum Kriterium für die Unterscheidung von Weltstadt und Provinz. Im Sinne einer funktionsgeschichtlichen Analyse des deutschen Orientalismus16 lässt sich festhalten, dass Berlin die chinesischen Diplomaten ›braucht‹, um sich als politische Weltstadt zu etablieren, und für die kleine Handels- und Hafenstadt Kessin des Romans wird analog der tote Chinese zum Kulminationspunkt der Beweise für die Verbindung in alle Welt, für neue Nachbarschaften und ehemals unwahrscheinliche Berührungen durch die Integration in den Weltverkehr. Belegt wird diese These durch Geert von Innstettens beamtenhaftes, weil statistisches, bevölkerungspolitisches Referat, das er seiner jungverheirateten Frau bei der Ankunft in Kessin gibt und das schließlich in einem »Register oder Personenverzeichnis« (GBA 15, S. 52) mündet: Alles aber, was hier an der Küste hin in den kleinen See- und Handelsstädten wohnt, das sind von weither Eingewanderte, die sich um das kaschubische Hinterland wenig kümmern, weil sie wenig davon haben und auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen sind, das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben und da sie das mit aller Welt thun und mit aller Welt in Verbindung stehen, so findest Du zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt

_____________ 16

Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005.

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Ecken und Enden. Auch in unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich nur ein Nest ist. (GBA 15, S. 50f.)

Und auch in Kessin gibt es, so Innstetten später, in Resonanz auf die chinesischen Gesandten in Nord und Süd, »Vertreter fremder Staaten«, die durch ihre Fahnen präsent sind: [U]nd gerade so viele Botschafter und Gesandte, wie wir in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in Kessin, und wenn irgend ein Festtag ist, und es giebt hier viel Festtage, dann werden alle Wimpel gehißt, und haben wir gerad’ eine grelle Morgensonne, so siehst Du an solchem Tage ganz Europa von unsern Dächern flaggen und das Sternenbanner und den chinesischen Drachen dazu. (GBA 15, S. 65)

Effi, die das alles »entzückend« (ebd.) findet, konkretisiert dieses Szenario, indem sie »vielleicht einen Neger oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen« (GBA 15, S. 51) in Kessin vermutet. Und Innstetten gesteht ihr den Chinesen zu: »Auch einen Chinesen. Wie gut Du raten kannst. Es ist möglich, daß wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt.« (ebd.) Im Chinesen kulminieren Effis exotistisches Begehren und ihre Furchtsamkeit: »Ein Chinese, find’ ich, hat immer was Gruseliges.« Innstettens Bestätigung, »Ja, das hat er« (GBA 15, S. 52), ist sicherlich, unabhängig von Innstettens Funktionalisierung des Chinesen als »Angstapparat«, als Ausweis seiner und Effis sinophober Stereotypen zu lesen, die im Chinesen nicht nur das Fremde und deswegen Unheimliche sehen, sondern auch Verschlagenheit und Falschheit,17 die schlafende Bedrohung, etwas ›Unheimliches‹. Es wird zugleich deutlich, dass sich die vermeintlichen Außenposten und Ränder – der Welt bzw. Preußens – in Knotenpunkte eines weltumspannenden Netzes verwandeln, indem das Ich transitorisch und passager gedacht wird. Kessin steht »mit aller Welt« in Verbindung, und in Kessin findet man »Menschen aus aller Welt Ecken und Enden« (GBA 15, S. 50f.).18 Was hier, in typisch Fontane’scher Plauderkunst neben der Charakteristik der Personen und der Beziehungen zwischen ihnen mitverhandelt wird, ist das Wissen um Geographie, beschleunigte und verdichtete Kommunikation, um Medien, Verkehrstechniken und -logistiken. Dieses Wissen wird im späten 19. Jahrhundert unter dem Rubrum des »Weltver_____________ 17 18

Peter Utz, Effi, der Chinese und der Imperialismus. Eine ›Geschichte‹ im geschichtlichen Kontext. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1984), S. 212–225. Siehe Claudius Sittig, Gieshüblers Kohlenprovisor. Der Kolonialdiskurs und das Hirngespinst vom spukenden Chinesen in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2004), S. 544–563.

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kehrs«19 diskutiert: In der Wochenendbeilage der Vossischen Zeitung vom 29. Januar 1893, also in der Entstehungsphase von Effi Briest, erscheint beispielsweise ein Artikel mit dem Titel »Die Anfänge des Weltverkehrs«, der von dem berühmten Ägyptologen Heinrich Brugsch verfasst wurde. Der historisch weit zurückgreifende Beitrag beginnt mit einer emphatischen, dezidiert eurozentrischen Apotheose der zunehmenden ›Vernetzung‹ der Welt: Der gegenwärtige »Weltverkehr« und seine »Betriebsmittel«20 haben nach Brugsch dazu geführt, dass die ehemals »entlegensten Länder und die fernsten Völker so nahe gerückt worden sind, als wären sie niemals durch die weitesten Entfernungen von einander getrennt gewesen.«21 Unter den »Betriebsmitteln« sind es vor allem »Schienenwege und Dampfschiffe«, die dafür sorgen, dass »die mütterliche Erde […] kaum noch einen Winkel [besitzt], verborgen genug um ihre Kinder von dem großen Weltverkehr auszuschließen.«22 Folge dieser Expansion sind zunehmender Kontakt und die Nivellierung aller geographischen Hindernisse: Weder die Unterschiede der Rassen und der Religionen, noch der Kulturzustände und nationalen Eigenart bilden mehr ein Hinderniß für die gegenseitige Berührung, und kein Volksstamm ist so unnahbar geworden, um sich auf die Dauer der Macht des Weltverkehrs zu entziehen. Er hat die Erde bis zu ihren fernsten Rändern hin geöffnet, und weder die unwirthsamen Wüsten des heißen afrikanischen Welttheils noch die Eisfelder der Polargegenden erwiesen sich als so mächtig, um ihm die Pfade zu dem Unbekannten abzusperren.23

Wachsender Weltverkehr bedeutet in dieser harmonisierenden Fortschrittserzählung, die im bürgerlichen Massenmedium erscheint und schließlich in einer Weltfriedensapotheose mündet, die zwangsläufige Verminderung von ›Entlegenheit‹; schwer erreichbare Orte, der Welt verborgene Winkel werden weniger, die wechselseitige Kenntnis voneinander nimmt zu. Wachsender Weltverkehr bedeutet Steigerung des Kontaktes und der literarischen Kontiguität (Metonymie), die als Korrelat der wechselseitigen Berührung einstmals weit entfernter und entlegener Kulturen ein rhetorisches Merkmal der realistischen Literatur ausmacht.24 _____________ 19

20 21 22 23 24

Siehe Michael Geistbeck, Weltverkehr. Die Entwicklung von Schiffahrt, Eisenbahn, Post und Telegraphie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Hildesheim 1986 [Reprographischer Nachdr. der Ausg. Freiburg im Breisgau 1895]. Heinrich Brugsch, Die Anfänge des Weltverkehrs. In: Vossische Zeitung 5 (29.1.1893), Sp. 1–5, hier Sp. 1. Ebd. Ebd. Ebd. (Hervorhebung K. S.). Einschlägig ist hier etwa die Warenpoesie in Gustav Freytags Soll und Haben; vgl. dazu jetzt Lothar Schneider, Reisen vor Ort. Zur multiplen Verwendung von Reiseliteratur in Gustav Freytags

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2.

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Entlegenheit – Verschollenheit

Wachsender Weltverkehr bedeutet aber auch, das zeigen netztheoretische Erwägungen in den Zeitschriften des späten 19. Jahrhunderts,25 dass die »Maschen« – so die dominante Metaphorik – des weltumspannenden »Netzes« aus Telegraphenleitungen, Warenströmen, medialen Vertriebsströmen und -gebieten, Straßen, Eisenbahn- und Schifffahrtslinien immer enger gearbeitet werden, so dass sich mobile wie immobile Individuen fast notwendig darin verfangen. Umso faszinierender werden dann aber die Komplexe der Entlegenheit und der Verschollenheit, des der Welt Entzogenen und des der Welt Abhandenkommens, mit der – um mit Niklas Luhmann zu sprechen – eine geringer werdende Unwahrscheinlichkeit der zirkulierenden und vernetzten Kommunikation26 einhergeht und reflektiert wird: Das Faszinationspotential der Verschollenheit entzündet und entfaltet sich an der Frage, ob und wie es in der gefüllten und vernetzten Welt Menschen und Orte geben könne, die aus der Welt sind, die »der _____________

25

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›Soll und Haben‹. In: Magie der Geschichten (wie Anm. 3), S. 157–174, insbes. 162ff.; vgl. aber auch Gustav Freytag, Die Ahnen. 5. und 6. Abt.: Die Geschwister/Aus einer kleinen Stadt. In: Ders., Gesammelte Werke. Erste Serie. Bd. 5, Leipzig/Berlin 1925, S. 613: »Unsere Stadt ist jetzt durch Eisenbande dem Weltverkehr angeschlossen, fast jede Stunde fliegt Neues heran, mit der Einsamkeit schwindet auch das kleinstädtische Wesen; die gute alte Stadt fühlt zu ihrem Heil und zu ihrem Schaden jeden Pulsschlag unseres großen Staates und jede Bewegung fremder Nationen.« Vgl. Theodor Fontane, Unwiederbringlich. HFA I/2, S. 567: »Eine Meile südlich von Glücksburg, auf einer dicht an die See herantretenden Düne, lag das von der gräflich Holkschen Familie bewohnte Schloß Holkenäs, eine Sehenswürdigkeit für die vereinzelten Fremden, die von Zeit zu Zeit in diese wenigstens damals noch vom Weltverkehr abgelegene Gegend kamen.« Zu den neuen Nachbarschaften, die durch neue Kommunikationsmöglichkeiten entstehen vgl. auch Theodor Fontane, Der Stechlin. GBA 17, S. 28f.: »›Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiß. […] Schließlich ist es doch was Großes, diese Naturwissenschaften, dieser elektrische Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt nicht daran), so könnten wir den Kaiser von China wissen lassen, daß wir hier versammelt sind und seiner gedacht haben. Und dabei diese merkwürdigen Verschiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komisch.‹« Vgl. dazu etwa Anonymus, Gesetz des Wachsthums der Eisenbahnen. In: Das Ausland. Eine Wochenschrift für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland 37 (1864), Nr. 18, S. 431f.; C. Herzog, Die Einwirkungen der modernen Verkehrsmittel auf die Culturentwicklung. In: Deutsche Rundschau 42, 1–3 (1885), S. 359–381; Ernst Haeckel, Algerische Erinnerungen. In: Deutsche Rundschau 65, 10–12 (1890), S. 19–43; Anonymus, Elektricität als Uhr und Stadtpost. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 7 (1859), Nr. 14, S. 198f.; Anonymus, Literarisches. ›Geographische Wanderungen‹ von Karl Andree. In: Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte 6 (April bis September 1859), Nr. 33, S. 337; Georg Hiltl, In der Central-Telegraphenstation zu Berlin. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 15 (1867), Nr. 4, S. 59–63; Max Maria von Weber, Die Wasserstrassen Englands. In: Deutsche Rundschau 26, 1–3 (1881), S. 389–420. Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders., Soziologische Aufklärung III, Opladen 1981, S. 25–34.

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Welt abhanden«27 kommen. Deshalb kann man sie durchaus unter dem Rubrum einer ›globalen Faszination‹ verbuchen. Zu unterscheiden sind in diesem Komplex jedoch die Faszination durch eine verlängerte oder endgültige Verschollenheit des Individuums, die im Rahmen einer Rhetorik der Moderne verhandelt wird, sowie die Faszination der Indienstnahme der Vermissten und Verschollenen durch die sich globalisiert imaginierenden Medien und Logistikdienstleister. Für Fontanes Wanderungen sind insbesondere die Ruppiner Bilderbögen Faktor und Beweis für den zunehmenden Weltverkehr, die als Moment der zunehmenden Zivilisierung betrachtet werden. In nationaler Agonalität werden die Londoner Times und die Kühnschen kolorierten Blätter verglichen: Was aus der Metropole kommt, erreicht auch nur die Metropolen, das Provinzmedium hingegen findet, wie der »Herrnhuter Missionar«,28 auch Wege in entlegene Gegenden, es dringt mit seiner primitiveren Materialität der piktorialen Zeichen sogar an Stellen vor, die noch der intentionalen ›Entdeckung‹ harren, und ist daher dem Schriftmedium überlegen: Gebiete, die Barth und Overweg, die Richardson und Livingstone erst aufgeschlossen – der Kühnsche Bilderbogen war ihnen vorausgeeilt und hatte längst vor ihnen dem Innersten von Afrika von einer Welt da draußen erzählt. (GBA 1, S. 131)

Weil »die Kolorierkunst seiner Schablone« einem primitiveren Weltverhältnis und Kunstverständnis entspricht, weil der Ruppiner Bilderbogen seine »ehrwürdigen Traditionen« gegen die Konkurrenz von »Kupferstich« und »Ölbild« wahrt, kann er »siegreich in die Zauber der Tropennatur« (GBA 1, S. 132) eindringen. Damit ist zwar die europäische Eroberung Afrikas auch als Effekt der Medien begriffen, der einsinnige Fortschrittsgedanke, der im Denken des Weltverkehrs immer mitschwingt, aber implizit relativiert worden: Der Ruppiner Bilderbogen koinzidiert mit primitiver Tauschwirtschaft – »wo die Glaskoralle und der Zahlpfennig ein staunendes Ah und die Begierde nach Besitz wecken« (GBA 1, S. 132) – und er bildet darüber hinaus ein »›den Geschmack mehr verwildern[des]‹« (GBA 1, S. 133) Vermittlungsmedium, das entlegene Gegenden mit der ganzen Welt und mit den nahezu in Echtzeit mitgeschriebenen Tagesereignissen verknüpft. Dass dies gleichermaßen für innerpreußische (»litauische Dörfer und masurische Hütten«; ebd.) wie für innerafrikanische Regionen (»in den engeren und weiteren Bezirken des Königs von Daho_____________ 27 28

Friedrich Rückert, Ich bin der Welt abhanden gekommen. In: Ders., Werke. Hrsg. von Georg Ellinger. Bd. 1, Leipzig/Wien 1897, S. 170f. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg (GBA 1, S. 131).

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mey«; GBA 1, S. 132) gilt, macht die Pointe dieser Bemerkung aus, die die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und die potentielle Funktion von ›Überlebseln‹29 älterer Kulturstufen im Zivilisierungsprozeß markiert: »[Die] Uhr [des Bilderbogens] ist noch nicht abgelaufen, und das schmale Haus in der Ruppiner Friedrich-Wilhelms-Straße hat noch immer seine Bedeutung.« (GBA 1, S. 133) Die Emphase hingegen, mit der Fontane in den Wanderungen Gegenden als entlegene beschreibt, markiert die Kehrseite der Faszination durch den Weltverkehr, die Faszination durch die immer seltener werdenden, schwer zugänglichen, vom Weltverkehr anscheinend noch nicht tangierten und erschlossenen Regionen. Bezeichnenderweise behindert eine »Sandwüste« den Zugang nach Rheinsberg: Rheinsberg von Berlin aus zu erreichen ist nicht leicht. Die Eisenbahn zieht sich auf sechs Meilen Entfernung daran vorüber, und nur eine geschickt zu benutzende Verbindung von Hauderer und Fahrpost führt schließlich an das ersehnte Ziel. Dies mag es erklären, warum ein Punkt ziemlich unbesucht bleibt, dessen Naturschönheiten nicht verächtlich und dessen historische Erinnerungen ersten Ranges sind. (GBA 1, S. 265)

Geltend macht sich hier ein paradoxer, genuin touristischer Ehrgeiz, dem normalen Tourismus zuvorzukommen und die wenig erschlossenen Gegenden, die wenig betretenen bzw. nur von den Einheimischen betretenen Pfade des eigenen Landes wie ein Entdecker fremder Länder wahrzunehmen. Schon im Vorwort zur zweiten Auflage der Wanderungen verspricht Fontane dem Reisenden in die Mark »eigentümliche Freuden und Genüsse« und »Entdeckungen«, »denn überall, wohin du kommst, wirst du, vom Touristenstandpunkt aus, eintreten wie in ›jungfräuliches Land‹« (GBA 1, S. 7), in dem sich entlegene, vergessene historische Orte und lokales Erzählen – und Singen – überlagern. [D]u wirst Schlachtfelder überschreiten, Wendenkirchhöfe, Heidengräber, von denen die Menschen nichts mehr wissen, und statt der Nachschlagebuchs- und Allerweltsgeschichten werden Sagen und Legenden und hier und da selbst die Bruchstücke verklungener Lieder zu dir sprechen. Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein. […]. Verschmähe nicht den Strohsack neben dem Kutscher, laß dir erzählen von ihm, von seinem Haus und Hof, von seiner Stadt oder seinem Dorf, von seiner Soldaten- oder seiner Wanderzeit, und sein Geplauder wird dich mit dem Zauber des Natürlichen und Lebendigen umspinnen. Du wirst, wenn du heimkehrst, nichts Auswendiggelerntes gehört haben wie auf den großen Touren, wo alles seine Taxe hat; der Mensch selber aber wird

_____________ 29

Siehe Wilhelm Mannhardt, Vorwort. In: Ders., Wald- und Feldkulte. Zweiter Teil: Antike Waldund Feldkulte, Berlin 1877, S. V–XL, hier S. XXIII.

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sich vor dir erschlossen haben. Und das bleibt doch immer das Beste. (GBA 1, S. 7)30

Die Asymmetrie zwischen kommunikativ-medialer und verkehrslogistischer Expansion in eine Richtung, von den Zentren in die entlegenen Gegenden, wird zugunsten einer stärkeren kommunikativen Wechselwirkung unter Wahrung sozialer Distinktion aufgebrochen: Der halb touristische, halb folkloristisch forschende Wanderer soll sich von den Einheimischen »erzählen« lassen, vor allem auch von deren Reise- und Fremderfahrungen, so dass zugleich das Konzept der Sesshaftigkeit, das den entlegenen Orten und ihren Kulturen oft zugeschrieben wird, subvertiert wird. Im Moment, da die Entlegenheit derartig aufgehoben wird, entfaltet sich die Magie des vom Zivilisationsprozess bedrohten, narrativ organisierten und vermittelten situierten Wissens. Das Verhalten des Wanderers indes unterscheidet sich durch Kommunikation von jenen berüchtigten ethnographischen Sammlern, die sich im Zuge des kolonialen Bemächtigungsprozesses auf Kommunikation nicht einlassen, aber die Dinge vor der unaufhaltsamen Zivilisierung durch Sammlung und Musealisierung zu retten vorgeben, de facto jedoch rauben.31 Kurzgeschlossen werden hier Entlegenheit, Erhebung anthropologischer Daten und lebendiges, lokales Erzählen im romantischen, im Grimm’schen Sinn. Es wird abgesetzt vom massenmedial vermittelten und ökonomisch grundierten Erzählen. Die vorausgesetzte »Liebe zu ›Land und Leuten‹«, mit der Fontane auf Wilhelm Heinrich Riehls gleichnamiges Werk von 1853 anspielt, unterbricht und veröffentlicht das Erzählen im engen Familienkreis, das Riehl als Voraussetzung familialer Integrität32 geltend gemacht hatte. Ähnlich wie Fontane hat es auch Berthold Auerbach 1847 in Schrift und Volk33 unter besonderem Rekurs auf das Erzählen des rückkehrenden Reisenden als Ursprung des volkstümlichen Erzählens in der Literatur apostrophiert und beschrieben. Das Erzählen ist mithin die kulturelle und literarische Figuration, in der Mobilität, Raum und Literatur ineinander fallen; das Erzählen steht im Zentrum der Entlegenheit wie der Verschollenheit. Im Hinblick auf die _____________ 30 31

32

33

Hervorhebungen K. S. Siehe Erhard Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960), München 2005. Siehe jetzt auch Michael Neumann, Wandern und Sammeln. Zur realistischen Verortung von Zeichenpraktiken. In: Ders. und Stüssel (Hrsg.), Magie der Geschichten (wie Anm. 3), S. 131–154. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Familie, Stuttgart/Augsburg 1861, S. 195. Siehe jetzt Albrecht Koschorke, Nacim Ghanbari et al., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz 2010. Berthold Auerbach, Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebels, Leipzig 1846, S. 47f.

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entlegenen Orte wird seine Öffnung als paradoxes Rettungsprojekt lokalen Wissens und der Erschließung ehemals entlegener Orte gefasst, im Hinblick auf die im Folgenden zu behandelnde Verschollenheit ist das familiäre Erzählen und seine performative Magie das zentrale Moment gelingender oder scheiternder Reintegration in den Familienkreis. Im Hintergrund der einschlägigen realistischen Texte befinden sich die weltliterarischen Muster der Verschollenheit, d. h. die Odyssee bzw. die Telemachie, die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn, die Robinsonade, auch die Raumutopien, die Erzählungen vom Weggehen oder Ausreißen, von vielfältigen Abenteuern in der Fremde. Im Hintergrund befinden sich auch die juristischen Erwägungen über langjähriges Vermisstwerden bis hin zur Entscheidung, ob und wann die Hoffnung auf Rückkehr begraben und der Verschollene für tot erklärt wird. Kontext der literarischen Texte sind massenmediale und wissenschaftspopularisierende Berichte von der logistisch aufwändigen Suche nach vermissten Entdeckungsreisenden, nach den prominenten Verschollenen34 und zuletzt die massenmedial verbreitete und unterstützte Suche nach den unbekannten, aber nicht namenlosen Verschollenen.35 Die in einer Welt aus Verkehrslinien und medialen Strömungen immer unwahrscheinlichere, immer kürzere nachrichtenlose Verschollenheit mit ihren familiären Implikationen und Weiterungen wird so zum massenmedial erzeugten, seriellen Ereignis und zum Geschichtenattraktor und -generator. Von all dem müssen, wollen und können sich die Texte abheben, die den Anspruch auf literarische Geltung auch gegen die Massenmedien und die populäre Literatur ihrer Zeit36 erheben. Sie konzentrieren sich darauf, die Geschichten von einer eventuellen Heimkehr des Abenteurers bzw. des Verschollenen mit allen ehe- und erbrechtlichen, aber auch kommuni_____________ 34 35

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Wolfgang Struck, Ingenjör Andrées luftfärd oder Die melancholischen Entdeckungen des Films. Unveröffentlichtes Ms., Erfurt 2009. Zum Serviceangebot der Familienzeitschrift Die Gartenlaube gehört spätestens seit den 1860er Jahren der Abdruck von Suchmeldungen nach in der Welt Vermissten und Verschollenen. Ihr erstes Quartal 1882 im Heft Nr. 12 beendet die Gartenlaube mit einer Erfolgsmeldung: »Unsere Vermißtenlisten des vorigen Jahrganges der ›Gartenlaube‹ in den Nrn. 8, 20, 28, 30, 34 und 42 haben folgende Nachrichten erzielt.« Es folgt eine nummerierte Liste von ehemals verschollenen Personen und deren neuen Lebenszeichen. Unter der Nr. 18 findet sich schließlich eine ausführlichere Passage »außerhalb der alphabetischen Reihe«, die sich zugleich als »erfreuliche Nachricht« im global agierenden Massenmedium und als narratives Grundelement der Literatur lesen lässt. Beschrieben wird, wie die Leser und Agenten der Gartenlaube einen der Verschollenen im fernen Russland wiederfinden und die Kommunikation zwischen ihm und der Familie glücklich wieder herstellen. Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus, München 1998; Manuela Günter, Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008; Daniela Gretz (Hrsg.), Medialer Realismus, Freiburg im Breisgau/Berlin 2011.

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kativen Reintegrationsproblemen als Erzählproblem zu behandeln. In der deutschsprachigen Novellistik und im Roman, die fest in das massenmediale System der Zeitungs- und Zeitschriftenkultur und in ihre weltweit ausgreifenden Vertriebswege eingebunden sind,37 taucht das Phänomen der Verschollenheit im Kontext familiärer Zuschreibungen und Strukturen und im Zusammenhang mit erzählpraktischen Erwägungen auf. Pankraz der Schmoller in Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle ist ein Ausreißer und lange Verschollener, dessen Rückkehr und familiäre Reintegration durch solitäres, durch narrative Metalepsis halböffentliches Erzählen besiegelt und zugleich aufgeschoben wird.38 Heinz Kirch in Storms Novelle Hans und Heinz Kirch ist ein verlorener Sohn, dessen Konflikt mit dem Vater darin kulminiert, dass dieser die Annahme eines Briefes verweigert und damit die Kommunikation abbricht. Nach langer Verschollenheit ist fraglich geworden, ob sich nicht derjenige, der schließlich zurückkehrt und behauptet, Heinz Kirch zu sein, eine falsche Identität anmaßt, um das Erbe des verlorenen Sohnes zu beanspruchen. Auch dieser Rückkehrer scheitert im ausbleibenden Erzählen und verlängert so den Zustand der Verschollenheit ins Unabsehbare. Genauso kehrt Wilhelm Raabes Leonhard Hagebucher im Roman Abu Telfan oder die Rückkehr vom Mondgebirge aus einer langen Verschollenheit zurück in eine über die Rückkehr des verlorenen Sohnes nicht eben begeisterte Familie. Seine familiär ausbleibenden Erzählungen über seine Erfahrungen als Gefangener in Afrika werden in die quasi exterritoriale Katzenmühle und dann in den öffentlichen Raum und in den Skandal ausgelagert, weil Hagebucher unbotmäßige Vergleiche zwischen Deutschland und matriarchaler afrikanischer Kultur durchführt.39 Damit werden in die literarischen Texte ›(Erzähl-)Schreibszenen‹40 implementiert, die die zeitgenössische Konjunktur abenteuerlicher und exotistischer Literatur sowie massenmedialer und juristischer Verschollenheit mitberücksichtigen und zu überbieten versuchen.41 _____________ 37 38

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Siehe Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995. Siehe Kerstin Stüssel, Verschollen. Erzählen, Weltverkehr und Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Neumann und dies. (Hrsg.), Magie der Geschichten (wie Anm. 3), S. 265– 281. Zur Matriarchatsthematik darin siehe Susanne Illmer, ›Wilde Schwächlinge‹ auf dem ›Weg zu den Müttern‹. Die Ordnung des Matriarchats und die Politik der Provinz in Wilhelm Raabes Roman ›Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge‹. In: Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider (Hrsg.), Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2010, S. 137–156. Rüdiger Campe, Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 759–772. Siehe jetzt auch Ulrike Vedder, Die Figur des Verschollenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Kafka, Burger, Treichel). In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 21 (2011), S. 548–562.

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Verschollenheit beruht unentscheidbar entweder auf dem Versagen der persönlichen Kommunikationsmittel, auf der Unzugänglichkeit und Unzulänglichkeit von Medien der ›persönlichen‹ Kommunikation, oder aber auf dem Unwillen und der Weigerung, sie zu benutzen. Diese doppeldeutige Verschwiegenheit macht die Verschollenen zu Unpersonen der bürgerlichen Welt. Verschollene sind die Produkte und Probleme des bürgerlichen Personenstandsrechtes in den kleiner werdenden Lücken des Weltverkehrs. Die Vermisst- und Verschollenheit ist als schwebender Zustand platziert zwischen dem bürgerlichen Leben mit seinen Pflichten und Rechten im familiären, verwandtschaftlichen Verbund und dem Tod mit seinen Konsequenzen. Die Figur des Verschollenen markiert eine verwandtschaftlich-erbrechtlich, juristisch formalisierte exkludierende Inklusion. Die Verschollenheit ist ein Ausnahmezustand, der durch das scheiternde Erzählen ins Unabsehbare verlängert wird, in dem das ausgesonderte und räumlich entfernte, abwesende und von allen familiären Zuschreibungen entkleidete, das ›nackte‹ Individuum eine gespenstische Realität und Präsenz ›in suspenso‹ und ›in pendenti‹ erhält, wie es beim Juristen C. G. Bruns heißt, der 1857 eine Abhandlung über die Verschollenheit vorgelegt hatte.42 In und gegen das Massenmedium mit seiner weltweiten Logistik, dem sie selbst ihre Existenz verdankt, transformiert die Literatur die entfalteten Dimensionen der Verschollenheit in Erzählungen von der Genese des modernen Individuums. Dieser literarisch-›realistische‹ Beitrag zur anthropologischen Rhetorik der Moderne43 konfiguriert das Formular des Menschen als Verschollenen, und damit des bindungslosen, alleinstehenden, freischwebenden Individuums, auch eines Enterbten und nicht Vererbenden. Es kann in zwiespältige Verlagerungsphantasmen münden, wo sich das Individuum befreit und gefesselt zugleich imaginiert.44 Die Literatur konfiguriert auf diese Weise, besonders prägnant in Wilhelm Raabes Erzählerfigur Karl Krumhardt aus Die Akten des Vogelsangs, den Erzähler als Verwalter der Verschollenheit: »Ich habe sie häufig in meinem Beruf zu suchen, die Verschollenen in der Welt; sie zu einem _____________ 42

43 44

C. G. Bruns, Die Verschollenheit. In: Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts 1 (1857). Hrsg. von Ernst Immanuel Bekker und Theodor Muther, S. 90–201. Siehe auch Georg Friedrich Deneke, Ueber die Verschollenen oder über die Abwesenheit nach dem Code Napoleon: vorzüglich für Westphalen, Hannover 1810. Siehe (allerdings zu sehr viel früheren Debatten über die Verschollenheit) Christina Deutsch, Zwischen Leben und Tod. Die Verschollenen und ihre Hinterbliebenen im Spätmittelalter. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung 7/7 (2007), S. 12–16. Gerhart von Graevenitz, Einführung. In: Ders. (Hrsg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart 1999, S. 2–16. Zu denken wäre an Franz Kafka, Der Verschollene, Christian Kracht, 1979, und das Kapitel »Osten« aus Daniel Kehlmanns Ruhm.

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bestimmten Termin zu zitieren und sie, wenn sie nicht erscheinen, für tot zu erklären und ihren Nachlaß den Erben oder dem Fiskus zu überantworten.« (BA 19, S. 317) Und zuletzt konfigurieren die literarischen Texte die Verschollenheit, das Verschallen,45 des Erzählens. Das verschollene Erzählen deswegen aber für tot zu erklären, hat sich indessen als unzulässiger Abbruch eines Schwebezustandes erwiesen.46 3.

Verdichtung

Die Erfahrung des ›Weltverkehrs‹, wie sie sich bislang in Entlegenheit und Verschollenheit manifestierte, ist auf mindestens koevolutionäre Art und Weise mit einem weiteren Erzähl- bzw. Darstellungsproblem verknüpft, mit dem den Dingen, den Phänomenen und den Begriffen ihre ›Geschichte‹ zugesprochen wird. Zurückzukommen ist erneut auf Fontanes Roman Effi Briest und den Chinesen. Geert von Innstetten versucht noch auf der Kutschfahrt nach Kessin, seine von den vielen Informationen irritierte Frau zu beruhigen: »Ich glaube, Du bist nervös von der langen Reise und dazu das St. Privat-Panorama und die Geschichte von dem Chinesen.« Effi wendet – etwas trotzig – ein: »Du hast mir ja gar keine erzählt.« Darauf Innstetten: »Nein, ich hab’ ihn nur eben genannt. Aber ein Chinese ist schon an und für sich eine Geschichte …« (GBA 15, S. 54) Der Gegensatz von bloßer Erwähnung und ausgeführter Narration, zwischen Register und Geschichte, den Innstetten hier im Habitus des preußischen Beamten unter Rekurs auf hegelianischen Sprachgebrauch aufbaut, um ihn gleichzeitig im Gegenzug zu dekonstruieren, erinnert an die tatsächlich schon vermittelten Informationen über den konkreten Chinesen in Kessin, an die Tatsache, dass dieser ein »sehr schön[es] und sehr schauerlich[es]« (GBA 15, S. 51) Grab in den Dünen, aber außerhalb des christlichen Friedhofes zugewiesen bekommen hat, womit Effis Schicksal präfiguriert und gespiegelt wird. Außerdem verweist das Aperçu voraus auf die geraffte und elliptische Geschichte über die Beziehung zwischen der Kapitänsnichte und dem Chinesen, in der der Chinese unentscheidbar zweierlei ist, zum einen ein Außenseiter, ein chinesischer Verschollener und Liebender in Europa, eine Parallel- und Gegenfigur zu den anderen Verschollenengeschichten der realistischen Literatur, zum anderen aber ist er ein Vorbote der ›gelben Gefahr‹. _____________ 45 46

Siehe Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbdn.], Leipzig 1854–1960, Bd. 28, Sp. 1517. Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main 1991, S. 438–465.

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Innstettens preußisch-beamtenhafte Äußerung, ein Chinese sei »schon an und für sich eine Geschichte« (GBA 15, S. 54), ist weniger hegelianisch-dialektisch zu interpretieren, als vielmehr im Sinne des Begriffs ›Verdichtung‹, den die preußischen Juden Moses bzw. Moritz Lazarus und Hajm bzw. Heymann Steinthal im Rahmen ihrer Völkerpsychologie unter Einfluss von Johann Friedrich Herbart entwickelt haben.47 Für Fontane ist die Kenntnis des Konzepts mindestens wahrscheinlich, denn er war vor allem durch den ›Rütli‹ und die Schiller-Stiftung eng mit Lazarus befreundet, hat zeitweilig sogar seine Vorlesungen besucht und war mit Steinthal bekannt.48 ›Verdichtung‹ ist ein kulturpragmatisches, latentes, implizites Wissen: So wie jedes Wort seine Geschichte, seine Etymologie verdichtet mit sich trägt, die nicht immer realisiert werden muss, aber stets realisiert werden kann, so verdichten kulturelle Phänomene wie der Wochenmarkt, die Taschenuhr, der Satz des Pythagoras oder aber ein Chinese in Kessin komplexe Vorstellungen, Gedankenreihen und Wissensmodelle und transportieren damit auch ihre latente Genese in die Gegenwart. ›Verdichtung‹ ist die Bedingung der Möglichkeit für kulturelle Tradierung, für kulturelle Entwicklung und Fortschritt, sie ist unter der Maßgabe des Weltverkehrs außerdem die Bedingung der Möglichkeit von latenten, nur im ›Spuk‹ ihre Präsenz zeigenden Kontiguitäten, wie z. B. die Geschichte Effis und die Geschichte des Chinesen. In Moritz Lazarus’ programmatischem Aufsatz Verdichtung des Denkens in der Geschichte von 1861 heißt es: Dieselbe Verdichtung des Denkens – und Handelns sogar – vollzieht sich in der Geschichte für einzelne Völker und selbst für die gesammte Menschheit; sie geschieht, indem Begriffe und Begriffsreihen, welche in früheren Zeiten von den begabtesten Geistern entdeckt, von wenigen kaum erfaßt und verstanden, doch allmählich zum ganz gewöhnlichen Gemeingut ganzer Classen, ja der gesammten Masse des Volkes werden können. […] Was also ein letztes Ziel der Geistesthätigkeit in einer vergangenen Epoche gewesen, wird zum Ausgangspunkt in einer späteren. In diesem neuen Ausgangspunkte nun, in diesen nunmehr elementaren Begriffen liegt die ganze Reihe der Begriffsvermittelungen, durch welche hindurch sie einst langsam und mühevoll erzeugt wurden, verdichtet vor; eine langgedehnte Vergangenheit wird in ihnen zur geschlossenen Gegenwart. […]

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48

Gerhart von Graevenitz, ›Verdichtung‹. Das Kulturmodell der ›Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft‹. In: Aleida Assmann, Ulrich Gaier et al. (Hrsg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt am Main 2004, S. 148–171. Siehe Roland Berbig, Theodor Fontane Chronik, Berlin 2010: Bereits für den 25. Mai 1855 ist ein Vorlesungsbesuch bezeugt, 1870 wird Lazarus in die Bemühungen einbezogen, Fontane aus der Kriegsgefangenschaft zu befreien (6. Oktober 1870, 28. Oktober 1870). Am 4. März 1871 schreibt Fontane an Lazarus und bedankt sich für seine Bemühungen. 1874 hört Fontane wöchentlich mittwochs Lazarus’ Vorlesungen über Völkerpsychologie (ebd., S. 1878). Belegt sind auch der Empfang verschiedener Schriften von Lazarus und deren Diskussion (ebd., S. 2019, 2104, 2316, 2421, 2445, 2608, 2618, 3384f.).

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Wir möchten […] [k]ein ›Culturgesetz darin erkennen, daß jede Gedankenschöpfung alltäglich und dann gedankenlos benutzt und genossen werde‹; vielmehr sollte der geschichtliche Unterricht auch in den einfachsten Schulen eben dies leisten, daß die objectiven Verdichtungen der Cultur durch die Kenntniß ihrer Geschichte in subjective verwandelt werden. Ist doch namentlich aller Fortschritt gerade dadurch bedingt, daß das Individuum sich nicht mit dem unverstandenen Resultat begnüge, ohne die Breite des Inhalts und die Länge des Erforschungsweges zu kennen, daß es vielmehr zu einer bewußten Verdichtung des Inhalts, das heißt zu einer Auflösung und eigenen, erneuten Zusammenfassung desselben gelange. Wer oberflächlich vom ›Austausch der Bedürfnisse‹ redet, oder gedankenlos einem Wochenmarkt vorübergeht, wer gedankenlos den Postboten kommen und gehen sieht, der wird niemals eine national-ökonomische Wahrheit entdecken oder eine Verbesserung im Postwesen einführen.49

Somit verdichten sich in jedem einzelnen Chinesen die Geschichten und das geschichtliche Wissen, auch die latenten, im Unbewussten spukenden Meinungen Europas über China, auch wenn man ihn, wie Innstetten es tut, nur ›nennt‹ oder wenn nur elliptisch von ihm erzählt wird. ›Verdichtung‹, zwischen Latenz und Bewusstmachung oszillierend, kann dann aber auch als Bedingung der Möglichkeit für Fontanes realistisches Schreibprogramm geltend gemacht werden, für das elliptische Implikat von Wissensbeständen und für die Resonanzen seiner Texte, die mit dem kulturellen Archiv seiner Zeit,50 insbesondere in den ihrerseits verdichtenden Familienzeitschriften und der Bildungspresse verknüpft sind. Für den Autodidakten Fontane51 bilden diese nicht nur die Medien seiner eigenen Publikationen, sondern auch den Ersatz für eine als mangelhaft empfundene Schulbildung, so dass Wissen für Fontane wenig geordnetes Zeitungswissen ist, oft aus zweiter oder dritter Hand rezensiert, referiert und paraphrasiert. Im Zeichen der Verdichtung indessen kann dieses Defizit in eine spezifische Kompetenz umgemünzt werden. Wissen verdichtendes und implizierendes Schreiben bildet dann das literarische Komplement zu analogen Verdichtungsverfahren anderer Institutionen und provoziert gleichzeitig die die Verdichtung variabel entfaltende und rückgängig machende Lektüre.

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Moritz Lazarus, Verdichtung des Denkens in der Geschichte. Ein Fragment. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 2 (1861), Nr. 1, S. 54–62, hier S. 54–61. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005. Kerstin Stüssel, ›Autodidakten übertreiben immer‹. Autodidaktisches Wissen und Autodidaktenhabitus im Werk Theodor Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes, Würzburg 2000, Bd. 3, S. 119–135.

Mobilität und Ehebruch, Frauen in der Stadt, Reisende Provinz, Metropole und Welt bei Fontane und Ebner-Eschenbach Helen Chambers Theodor Fontane und Marie von Ebner-Eschenbach waren Zeitgenossen. 1830 in Mähren geboren, verbrachte die österreichische Schriftstellerin wie die meisten Adelsfamilien den Sommer in der Provinz, den Winter in der Metropole, Wien. Nicht anders als Fontane reiste Ebner-Eschenbach nie über Europa hinaus. Außerhalb der Heimat lernte sie Paris und viel später Rom und Florenz durch kürzere Aufenthalte kennen. Beide Autoren erzielten mit realistischen Erzählwerken in den 1880er und 1890er Jahren ihren größten Erfolg, Werke, in denen die Schilderung des Raums immer im engsten Zusammenhang mit dem Ausloten von gesellschaftlichen Zwängen und Menschenschicksalen steht. Bei beiden werden Metropole und Provinz von den Romanfiguren in der erzählten Zeit, d. h. im Hier und Jetzt der Erzählung unmittelbar erlebt, während die Welt jenseits der Grenzen der Heimat fast immer vermittelt erscheint, und zwar entweder als imaginierte Welt oder als erzählte Welt aus der Erinnerung der Charaktere, sehr selten als direkt erlebte Welt in der Gegenwart des Romans bzw. der Erzählung. Mit Blick auf das Rahmenthema der Konferenz habe ich meine Überlegungen in drei Aspekte unterteilt: 1. der Vergleich von Mobilitätsmöglichkeiten und -mustern in zwei Ehebruchsromanen, Unsühnbar (1889) und Unwiederbringlich (1891);1 2. die Frau in der Stadt, mit Bezug auf Lotti die Uhrmacherin (1880), Wieder die Alte (1889) und Irrungen, Wirrungen (1887); 3. Mobilität und Tabubrechen in den Reiseerzählungen Im Coupé (1888) und Die Reisegefährten (1901). In allen Fällen ist die Frage nach geschlechts_____________ 1

Beide Erzähltexte erschienen als Fortsetzungsromane in Julius Rodenbergs Deutscher Rundschau. Als Unsühnbar publiziert wurde, arbeitete Fontane noch an seinem Roman (Entstehungszeit 1887−1890). Eine Reaktion von Fontane auf Ebner-Eschenbachs RundschauVeröffentlichung ist nicht überliefert. Beide Autoren haben ihren Stoff in tatsächlichen Fällen gefunden.

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spezifischen Momenten zu stellen, wenn auch nicht immer eindeutig zu beantworten. Als zu hinterfragendes Grundmuster gilt die vor allem von Walter Erhart entwickelte These, dass das männliche narrative Modell dynamisch ist, das weibliche hingegen statisch.2 1.

Mobilität und Geschlechterdifferenz

Schauplätze von Fontanes Roman Unwiederbringlich sind das Gut der gräflichen Familie Holk in Schleswig, die dänische Hauptstadt und Schloss Frederiksborg in der dänischen Provinz. Holk dient als Kammerherr zeitweilig am Hof einer alten dänischen Prinzessin. Sein Ehebruch in Frederiksborg mit der Ablenkung suchenden Hofdame Ebba von Rosenberg verleitet ihn dazu, seine Frau Christine zu verlassen; Ebba aber findet eine bessere Partie. Jahre nach der Scheidung, die Holk mit Reisen in Europa (u. a. in London) verbringt, willigt Christine in eine neue Ehe ein, kann sich aber mit der früheren Ablehnung nicht abfinden und sucht, kurz nach der zweiten Hochzeit, den Freitod bei Holkenäs im Meer. Als Holk den Ruf nach Kopenhagen erhält, bleibt Christine trotz seiner Bemühungen, sie umzustimmen, in Holkenäs zurück, um ihre häuslichen und mütterlichen Pflichten zu erfüllen. Das muss nicht unbedingt als eine geschlechts- und gesellschaftsbedingte Zwangslage aufgefasst werden. Christine, fromm und tugendhaft, wie sie ist, lehnt die von Genusssucht geprägte Hafenstadt Kopenhagen als sittlich verdorben ab. Sie hätte aber mitreisen können. Auf der Reise, um Internate für Sohn und Tochter auszuwählen, vermeidet sie in Hamburg die eigentliche Stadt. Wie sie Holk brieflich mitteilt, bleibt sie am Fenster vom Hotel und lässt den Ausblick auf das Wasser des Alsterbassins und die dadurch heraufbeschworenen Erinnerungen an vergangenes Glück auf sich einwirken (HFA I/2, S. 696). In passiver Haltung wendet sie sich also von der Stadt der Gegenwart ab und einer ästhetisierten, romantischen Vergangenheitsempfindung zu. Ihr Verhalten gegenüber der Stadt symbolisiert ihre abgelehnte Mobilität. Sie zieht ihr Zuhause in der Provinz vor. In Hinsicht auf die weitere Welt über Provinz und Stadt hinaus sieht es bei Christine anders aus: Hier kann man eher von einer versagten oder einer auf bloß ästhetischer Ebene erreichten, imaginierten Mobilität sprechen. Christines Sehnsucht nach anderen Welten hat Fontane in für sei-

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Walter Erhart, Das zweite Geschlecht: ›Männlichkeit‹, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30/2 (2005), S. 156−232, hier S. 217.

Provinz, Metropole und Welt

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nen Erzählstil typischen diskreten subtextuellen Hinweisen versteckt.3 Als Holk seine Frau dazu überreden will, mit ihm nach Kopenhagen zu kommen, sagt er: »Und dann gibt es doch auch Kirchen in Kopenhagen, und Melbye ist dein Lieblingsmaler« (HFA I/2, S. 607). Da er ohne Übergang von Kirchen auf Melbye zu sprechen kommt und weil sonst im Familiengespräch von dem religiösen Maler Peter Cornelius die Rede ist, könnte man vermuten, dass der dänische Maler auch ähnlich gesinnt sei. Dem ist aber nicht so. Anton Melbye (1818−1875) malte vor allem das Meer, oft mit dramatischen Licht- und Wettereffekten.4 Er reiste viel in die Welt hinaus, vor allem nach Marokko und in die Türkei und bevorzugte exotische Seelandschaften, wie seine Bilder Segelschiff vor Gibraltar (1851) und Der Eddystone Leuchtturm (1846, mit der Thorvaldsen-Medaille ausgezeichnet) bezeugen. Auch in Christines Lieblingsgedicht versteckt Fontane eine Andeutung auf ihre Sehnsucht nach einer Welt, die weit entfernt von der nördlichen Heimat in der Provinz liegt. Im sechsten und wieder im letzten Kapitel des Romans gibt Fontane Wilhelm Waiblingers Gedicht Der Kirchhof fragmentarisch wieder. Lediglich die erste von acht Strophen wird zitiert: Die Ruh’ ist wohl das Beste Von allem Glück der Welt, Was bleibt vom Erdenfeste, Was bleibt uns unvergällt? Die Rose welkt in Schauern, Die uns der Frühling gibt, Wer haßt, ist zu bedauern, Und mehr noch fast, wer liebt. (HFA I/2, S. 609, 811)

Wie Claudia Liebrand bemerkt hat, ist »die Aposiopese, die kalkulierte und sorgfältig eingesetzte Auslassung« kennzeichnend für Fontanes Anspielungskunst.5 Was in diesem Fall ausgelassen ist, aber subtextuell mitwirkt, sind die weiteren sieben Strophen. Der fragliche Kirchhof ist der Cimitero acattolica in Rom, der sich in der Nähe der Cestius-Pyramide aus der Antike befindet. Hier wurde am Ende seines skandalreichen und zum Schluss auch unchristlichen Lebens auch Waiblinger (1804−1830) beigesetzt. Nach der ersten Strophe wird das Thema der Sehnsucht nach Ruhe weiter entwickelt, wobei die Befreiung von Liebespein (4. Strophe) herbeigesehnt _____________ 3 4 5

Allgemein zu Subtexten bei Fontane vgl. Holger Ehrhardt, Mythologische Subtexte in Theodor Fontanes ›Effi Briest‹, Frankfurt am Main 2008 (= Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Bd. 6), S. 35f., 41−43 und passim. Antons Brüder Vilhelm (1824−1882) und Fritz (1826−1869) waren gleichfalls Maler, die das Meer und Segelschiffe zum Teil in exotischen Weltteilen als Sujets vorgezogen haben. Claudia Liebrand, Geschlechterkonfiguration in Fontanes ›Unwiederbringlich‹. In: Bettina Plett (Hrsg.), Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2007, S. 201–211, hier S. 205.

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und das Heraufbeschwören von vorchristlichen, klassischen Zeiten mit der schönen Natur im warmen Süden verbunden wird.6 Das Gedicht als Ganzes fokussiert auf Einsamkeit, emotionelles Leiden und auf die Hoffnung, von diesen Nöten befreit zu werden. Alle diese Assoziationen passen zu Christines Freitod jenseits des religiösen Rahmens der christlichen Orthodoxie, allein und nach Ruhe suchend in der Natur (im Wasser). Als Holk den Gedichttitel Der Kirchhof hört, bemerkt er etwas abfällig: »Drum auch« (HFA I/2, S. 592), weil dieser nämlich der morbiden Religiosität seiner Frau zu entsprechen scheint. Der im Romantext verschwiegene Teil des Gedichts, aber, der voll Wärme, Licht und Farbe ist, findet in Christines sonnenbeschienenem Trauerzug seine Widerspiegelung. Ein von Licht und Wärme geprägter, beinahe heiterer Erzählton am Romanschluss mildert die potentielle Morbidität der Situation. Christine sieht auch zuweilen von Holkenäs aus zum Horizont hin, in die Weite hinausblickend, bleibt aber selber dabei stehen oder sitzen (HFA I/2, S. 623, 810). Holk dagegen hat die Möglichkeit – und nimmt sie auch wahr – in die Welt hinauszufahren: Übersee in die Metropole Kopenhagen, hin und her zwischen Dänemark und Schleswig Holstein, und nach dem unerwünschten Bruch mit Ebba nach Italien, in die Schweiz und nach London, bis der Kreis sich schließt und er nach einem Leben von belanglosen Beschäftigungen in Metropole und Welt zurück in die Provinz kommt, um am Schluss des Romans eine Leerstelle zu bilden. Auffällig ist, dass der Erzähler Holk im letzten Kapitel beinahe gänzlich vernachlässigt und ihn nicht einmal mehr zu Wort kommen lässt. Das narrative Reisemuster − hinaus in die Welt und wieder nach Hause − bildet ein diskursives Paradigma von durch räumliche Symbolik ausgedrücktem männlichen Versagen.7 Dieses Muster kommt auch mehrfach in Ebner-Eschenbachs Werk vor (z. B. in Der Nebenbuhler, Ein Spätgeborener und Unsühnbar). Die schöne, tugendhafte Heldin von Unsühnbar, Maria, Tochter des Grafen Wolfsberg, heiratet aus gesellschaftlichen Gründen Hermann Dornach, den sie erst später lieben lernt. Als Ehefrau wird sie von dem schneidigen Felix Tessin, der ihr im Sommerhaus im eigenen Landgut Dornach aufgelauert hat, an einem einzigen Tag verführt. Von Reue gequält, bewahrt sie ihr Geheimnis für sich, um das Glück ihres liebenswürdigen, schuldlosen Mannes nicht zu zerstören. Dass der Sohn Erich unehelich und die Frucht dieses Tages ist, bekennt sie erst nach dem Er_____________ 6

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Fontane kannte das Gedicht aus Eduard Mörikes Waiblinger-Ausgabe (1842); Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 9/1. Bearbeitung von Gedichten Wilhelm Waiblingers. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon, Stuttgart 1995, S. 68f. Liebrand, Geschlechterkonfiguration (wie Anm. 5), S. 210, stellt fest, »dass Holk in allen seinen Versuchen, seine prekäre Männlichkeit zu stabilisieren, scheitert«.

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trinken ihres Mannes und des anderen, erstgeborenen Sohnes. Aus Dornach verwiesen und gesundheitlich angegriffen, verbringt sie ihre letzten Tage im düsteren väterlichen Schloss Wolfsberg. Tessin sucht sie dort im festen Glauben auf, dass sie ihn immer noch liebt und nun heiraten wird. Die Konfrontation zwischen der unerwartet abweisenden Frau und dem ahnungslosen, sexuell getriebenen Mann erinnert an die Szene zwischen Holk und Ebba in Unwiederbringlich, in der der leichtsinnige, schöne Mann der willensstärkeren Frau nicht gewachsen ist. Maria Dornachs Leben spielt sich standesgemäß abwechselnd in Wien oder in Mähren auf dem Landbesitz ab. Ähnlich wie Christine lernt Maria die Welt über die Heimat hinaus aus persönlicher Erfahrung kaum kennen. ›Die Welt‹ im Diskurs des österreichischen Adels ist übrigens kein geographischer, sondern ein gesellschaftlicher Begriff. Was die Aristokraten nämlich unter der ›Welt‹ verstehen, ist selten das Ausland, sondern viel eher »die paar hundert Menschen«,8 die die obere Gesellschaftsschicht ausmachen. Wie Ebner-Eschenbach diese Schicht oft satirisch schildert, ist sie ein exklusiver, privilegierter, alles andere als weltoffener Kreis. Die Welt im weiteren, geographischen Sinne wird von den Adligen sehr oft für triviale oder egoistische Zwecke instrumentalisiert. Ablenkung durch Sport und Sportler bietet die Welt sowie modisches erotisches Interesse. Die eitle, von der weiteren Welt abgewandte Gesinnung von Frauen aus den sogenannten besseren Kreisen wird von Ebner-Eschenbach mit Humor, aber gnadenlos dargestellt. Als der charmante Graf Tessin seine Absicht, einen ›exotischen‹ Posten anzutreten, bekannt gibt, stellt Ebner den dadurch ausgelösten allgemeinen Impuls nach Ersatzbefriedigung wie folgt dar: Gräfin Dolph, zu deren, wie sie selbst sagte, senilen Eitelkeiten es gehörte, mit der Marquise du Deffand verglichen zu werden, nannte Tessin, der sich regelmäßig in ihrem auswattierten, vor jedem Zuglüftchen sorgfältig verwahrten Salon einfand, ihren Horace Walpole.9 Sie sang sein Lob in allen Tonarten, und ein Massenchor von schönen Damen stimmte ein. Tessin war nie so ausschließend und siegreich in der Mode gewesen wie jetzt, wo sein Nimbus dadurch noch erhöht wurde, daß er einen Scheidenden umgab. Die aus Überzeugung Unwissenden, die geschworenen Feindinnen der Geographie begannen diese verachtete Wissenschaft zu pflegen. Landkarten von Asien

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Marie von Ebner-Eschenbach, Sämtliche Werke in 12 Bänden (Reprint der Ausg. des Verlages Gebr. Paetel in Berlin und der Verlagsanstalt Klemm in Berlin-Grunewald 1920), Freiburg 1999, Bd. 7, S. 82. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle ›EEW‹ mit Band- und Seitenangabe zitiert. Der englische Schriftsteller und Politiker Horace Walpole (1717−1797) korrespondierte aus dem Ausland als junger Mann mit der erheblich älteren Madame du Deffand (1697−1780), französische Mäzenin und Salondame, deren brillanten Kreis Voltaire, Montesquieu, Fontenelle u. a. besuchten.

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wurden in aristokratischen Häusern eifrig studiert, und auf ihnen die Wege, die Tessin nehmen sollte oder konnte, mit farbigen Stiften eingezeichnet. Eine unerhörte Wanderlust regte sich plötzlich in hundert jungen weiblichen Herzen. (EEW 7, S. 86f.)

Die realistischen, konkreten Details des hermetisch isolierten Salons, der Landkarten und Farbstifte verweisen symbolisch auf die unüberbrückbare Kluft zwischen dem künstlichen, nach Innen gerichteten Raum mit seinen Versatzstücken und der Welt. Der ferne Kontinent bleibt den weiblichen Figuren gleichgültig. Bedeutung gewinnt die ›Welt‹ nur durch die vermeintliche Berührung von einem der ihren und als Auslöser eines erotischen Frissons. Sonst gilt das Ausland als Quelle von Maßstäben für sportliche Leistungen: Der snobbistische Leerkopf Gustav Wonsheim ist zum Vergnügen der anderen seiner Klasse Wintersportvirtuose. Die verhalten ironische Erzählstimme berichtet von ihm: »Er fuhr wie ein Norweger auf dem Schneeschuh bergab und bergan; er verstand die Eispike zu gebrauchen wie ein Holländer; auf dem Eislaufplatz beschämte er den Amerikaner Haynes.« (EEW 7, S. 147f.)10 Im Tennisspielen gefallen sich die jungen Aristokraten auch sehr. Der Erzähler berichtet in ähnlicher Tonart: »Natürlich waren sie samt und sonders im Tennis von einer Stärke, welche sie berechtigt hätte, die englische Partei mitzuspielen.« (EEW 7, S. 162) Der »Umpire« Tante Dolph streitet das ab. Im Vergleich zur ersten Tennisspielerin der Welt, Fräulein von Nieuwenhuis-Kabeljau, einer Holländerin, die sie persönlich kennt, würden sie »abblitzen« (EEW 7, S. 162). Im Übrigen beutet der exklusive Kreis die Welt für Kleidung aus, die zum Genuss der gemeinsamen Sommerausflüge beitragen soll: Die Frauen der Brüder Wonsheim haben es nötig gefunden als Touristinnen zu erscheinen. Sie trugen leichte Hüte mit blauen Schleiern, fußfreie Kleider aus Sommerloden, Schnürstiefel aus Juchten, dicke Strümpfe aus Ziegenhaaren und über die Schultern Gummimäntel aus lichtgelbem Oriental-India-Cloth. (EEW 7, S. 168)

Was diese jungen Aristokraten aus dem Ausland beziehen, ob es sich um Sport oder Mode handelt, dient ihnen ausschließlich zum Zeitvertreib und zur Performanz ihrer gesellschaftlichen Rolle, welche vor allem aus Gesehen- und Bewundertwerden auf Grund von unproduktiven Fertigkeiten und oberflächlichen Eigenschaften besteht.

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Eigentlich Jackson Haines. Als Bahnbrecher im Eiskunstlauf machte Haines 1868 in Wien Sensation. Eine Wiener Schule wurde etabliert, die seinen neuen Stil pflegte und weiterentwickelte.

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In Unsühnbar bleiben die Frauen im Lande.11 Wie bei Graf Holk in Unwiederbringlich hat das Lebensmuster der Männer von Adel andere Züge und führt in die Welt hinaus, um früher oder später allerdings zum Ausgangspunkt zurück zu kommen. Hermann Dornachs Laufbahn gibt der Erzähler zum Beispiel wie folgt wieder: »Hermann besuchte landwirtschaftliche Schulen in Deutschland und England, jagte Löwen in Nubien und Elefanten in Indien, diente einige Jahre in einem eleganten KavallerieRegiment und widmete sich später der Verwaltung seiner Güter.« (EEW 7, S. 26) Wolfsberg und Tessin reisen als Diplomaten beruflich in die Welt hinaus. Diese Mobilität geht mit sexueller Freiheit, Unehrlichkeit und Missachtung für Frauen einher. In verschiedenen Varianten erweist sich die Rückkehr der Männer aus der Welt und aus der Metropole in die Provinz als problematisch.12 Marias Vater Wolfsberg bietet ein extremes Beispiel dafür. Obwohl hochangesehen in ›der Welt‹ − er hat an fremden Höfen und in Wien in geachteten Stellungen gelebt −, ist er moralisch verdorben. Er hat seine Frau betrogen, seinen unehelichen Sohn nicht anerkannt, seine Diener und Untertanen schroff behandelt und ausgebeutet, und endlich seiner Tochter jede emotionale Unterstützung verweigert, als sie diese dringend nötig hatte. Am Ende des Romans weist der Bericht von seiner Reise zu seinem Stammschloss Wolfsberg, wo Maria im Sterben liegt, sowohl auf realistischer als auch auf symbolischer Ebene darauf hin, dass er den Weg aus Welt und Metropole zurück nicht mehr alleine schafft. Die Reiseschilderung zeigt etappenweise eine Rückkehr, die von schwindender Mobilität geprägt ist, bis er zum Schluss vollkommen zusammenbricht und nur noch mit Hilfe eines alten behinderten Menschen weiter kommt: Ein Schnellzug brachte ihn [Graf Wolfsberg] auf die erste Station der Lokalbahn, die ihn weiterbefördern sollte. Da begann die Qual des Wartens von einem Bettelzug zum andern, des Einherhumpelns hinter einer kriechenden Lokomotive. […] Gefoltert von Angst und Ungeduld, kam er mittelst einer elenden Fahrgelegenheit auf der letzten Post vor Wolfsberg an. Dort konnte ihm nur noch ein abgejagter Reitgaul zur Verfügung gestellt werden. Auf den schwang er sich, trieb ihn wütend an und ließ an dem unglücklichen Tier seine zornige Verzweiflung aus. […] Noch ein Stockhieb auf die Flanke des erschöpften, keuchenden Pferdes; es griff aus, fiel, sprang auf und brach im nächsten Augenblick völlig nieder. Der Reiter machte sich los aus den Bügeln. Ein stechender Schmerz am Fuße hemmte seine Schritte, er schleppte sich dem Zuge [Trauerzug, H. C.] nach. […] Wolfs-

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Marias Aufenthalt in Rom, dem Ebner weniger als zwei Seiten widmet, wird ihr von ihrem Mann, der sie begleitet, aufgezwungen. Italien bedeutet für sie gesundheitliche und seelische Erholung durch Kontakt mit Natur und Kunst. Wolfsbergs unehelicher Sohn ›Wolfi‹ zum Beispiel kehrt bettelarm aus Amerika nach Wien zurück, um schließlich in der Provinz vorzeitig zu sterben.

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berg verbiß seinen Schmerz, strebte weiter mit grimmigem Bemühen und rief ›Halt! halt! Komm einer und helfe mir!‹ Seine Stimme blieb ungehört […] bis plötzlich ein Bursche sprach: ›Es is der Graf, dort beim Feldstein steht er, dem is was g’schehn.‹ Einer flüsterte es dem andern zu, — doch mehr tat keiner. Endlich erbarmte sich ein alter, krüppelhafter Mensch, ging hin und stützte und führte ihn. (EEW 7, S. 222f.)

Die realistische Szenenfolge, eine Art Zurückspulen in die vortechnische Verkehrszeit, veranschaulicht das Versagen von Wolfsbergs, der nur noch als passiver Passagier mit Hilfe der modernen Technik (Schnellzug) effektiv vorwärts kommt. Seine rücksichtslose Behandlung des Pferdes bringt ihn auch nicht ans Ziel, und zum Schluss ist er, der inhumane Herr des Guts, machtlos und gedemütigt, auf die Menschlichkeit eines oder einer der Schwächsten und Untersten in der Gemeinde angewiesen. Diese Bilderfolge an einer Schlüsselstelle, auf der letzten Seite des Romans, kann man als Hinweis auf das Versagen des Patriarchats lesen. In ihren Werken zeigt sich Ebner-Eschenbach immer wieder als um die Schwächen und Fehler der führenden Gesellschaftsschicht besorgt, wobei sie von der Wichtigkeit der humanen Werte und eines einsichtigen sozialen Verantwortungsbewusstseins auch im Sinne von vernünftigem Selbstinteresse bei dem Adel überzeugt bleibt. Der feinfühlige, altruistische Sohn Erich gilt als Hoffnungsträger und bietet ein anderes männliches Lebensmodell an. Das uneheliche Kind wird zum Erben Marias und Wolfsbergs. Er sieht die Welt anders als sein Ziehvater Hermann und dessen leiblicher Sohn. Als Kind träumt er davon, die Löwen in der Wüste nicht zu erschießen wie der Vater und Halbbruder, sondern sie zu füttern (EEW 7, S. 152), und der Doktor traut ihm eine andere Laufbahn zu, nämlich eine, die dem gängigen Muster nicht verpflichtet ist, sondern die ihn in die Welt hinausführt. Er prophezeit für Erich: »Der bleibt nicht im Lande — der wird ein heiliger Reisender, ein Missionar. Schon jetzt ein Menschen- und Tierfreund, und dazu einen unwiderstehlichen Zug hinaus ins Universum.« (EEW 7, S. 153) In Fontanes Roman erreicht die Protagonistin weder Metropole noch Welt, während das Leben von Ebner-Eschenbachs Heldin durch eine Mobilität zwischen und innerhalb zweier Sphären − Metropole und Provinz – geprägt ist, wobei sie die Metropole lieber meidet. Die moderne Welt mit Eisenbahn, Post und Telegramm reicht zuweilen unerwartet und unberechenbar in das Landleben hinein und gefährdet dessen Ruhe. Ähnlich wie Fontanes Christine endet Ebners Maria in einer Zwangslage, der sie nur durch den Tod entkommt. Am Ende sitzen beide der Immobilität preisgegeben in der Falle, die ihnen der gesellschaftliche Druck gestellt hat. Beide sind sich selbst aber treu geblieben. Die Scheinheiligkeit ableh-

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nend, stirbt Maria an ›Herzruptur‹ als Folge ihres fast übermenschlichen Bemühens nach Wahrheit und Ehrlichkeit, d. h. nach humanen Werten, die für sie unverzichtbar sind und jeden christlichen Glauben übertreffen. Christine wählt den Tod aus Liebe. Sterbend sehen sie beide über das Gefängnis, in dem sie sich befinden, hinaus in die Weite: Maria blickt nach dem symbolischen Mondlicht auf Dornach und Christine nach dem Himmel, wo die Sonne sich am Horizont im Meer spiegelt. In beiden Fällen wird durch den Blick in die Weite auf ein unerreichbares Ideal hingedeutet. Marias körperliche Immobilität spiegelt den tragischen Verlust, das radikale Reduzieren ihres früheren aktiven, sozial progressiven Selbsts. Diese weibliche Selbstaufopferung kann man sozio-politisch als symptomatisch für das Versagen einer maroden patriarchalen Gesellschaft lesen, in der Frauen durch ihre Entscheidung, sich selbst treu zu bleiben, in eine tödliche Zwangslage geraten, eine Entscheidung, die jenseits der gesellschaftlichen und religiösen Konventionen der Zeit getroffen wird. Die Lösung für diese starken, integeren Frauen stellt eine Art humanistische Transzendenz im Tode dar. Eine solche Auslegung lässt sich, wie ich zu zeigen versucht habe, an der Funktion der Raum- und Mobilitätsmotive ablesen. Die männlichen Protagonisten dagegen folgen einfach selbstsüchtig ihren Impulsen. Ihre größeren Mobilitätsmöglichkeiten führen, meist ohne sonderlich produktiv genutzt worden zu sein, zum Ausgangspunkt zurück und in eine moralische Leere. Schon im ersten Satz von Unsühnbar deutet Ebner-Eschenbach diskret auf diesen Zusammenhang hin: »›Die Vorstellung des ›Fidelio‹ war zu Ende« (EEW 7, S. 11). Die Erwähnung von Beethovens humaner Oper über die Befreiung durch den Mut einer Frau beleuchtet ironisch im Voraus die Handlung im Roman.13 2.

Urbanität und Gender

Im zweiten Teil der Diskussion ist für unser Thema ein anderes weibliches Modell hervorzuheben, und zwar die Wichtigkeit der Klassenzugehörigkeit, d. h. der sozio-ökonomischen Lage. Trotz Ebners Ruf als Schriftstellerin von Dorf- und Schlossgeschichten im aristokratischen Milieu stehen die Stadt und das Leben der Bürger, Kleinbürger und der niederen Stände im Mittelpunkt zahlreicher Werke.14 Diane Spokeine stellt die tradierte _____________ 13

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Zu Orten der Befreiung oder der Unterdrückung bei Fontane siehe James N. Bade, Fontane’s Landscapes, Würzburg 2009, S. 153f.; Michael White, ›Hier ist die Grenze […]. Wollen wir darüber hinaus?‹ Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ›Unwiederbringlich‹. In: Zeitschrift der deutschen Philologie 129 (2010) (= Sonderheft Grenzen im Raum − Grenzen in der Literatur), S. 109−123, hier S. 121. Zu Ebner-Eschenbach und der Stadt siehe Linda Kraus Worley, Marie von EbnerEschenbach’s ›Lotti, die Uhrmacherin‹ (1880) and the City: Questioning the ›Conservative‹. In: Helen

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binäre Gendertheorie des urbanen Raums, nach der die weibliche Sphäre auf den privaten Raum beschränkt ist, während der öffentliche Raum den Männern in früheren Jahrhunderten vorbehalten blieb, in Frage.15 In Erzählungen wie Lotti die Uhrmacherin (1880) und Wieder die Alte (1889) (EEW 5, S. 9−133, 137−223) bei Ebner so wie in Lenes Fall in Fontanes Irrungen, Wirrungen (1888) befinden sich die Protagonistinnen aus sozioökonomischen Gründen ohne männliche Begleitung in der Stadt zu Fuß unterwegs. Sie kommen nicht über die nächste Umgebung der Stadt hinaus,16 aber innerhalb des öffentlichen urbanen Raums ergibt sich die Möglichkeit für zufällige Begegnungen und Interaktionen mit Männern aus anderen gesellschaftlichen Schichten. Solche Begegnungen haben Folgen; sie bieten vor allem den weiblichen Figuren Chancen, selbstständig zu handeln, sich als dynamische Subjekte zu behaupten, statt sich als passive Objekte dem Willen anderer unterzuordnen. Ebner-Eschenbach wie auch Fontane zeigen also nicht nur die Grenzen der Bewegungsmöglichkeiten für die Frau in der Stadt, sondern auch, wie − vor allem in den unteren Klassen − auf den Straßen der Metropole und in den Parks die gesellschaftlichen Grenzen für arbeitende Frauen durchlässig werden. Sie treten in ein dynamisches Verhältnis mit ihrem Lebensschicksal, auch wenn sie die Konventionen der Gesellschaft erst einmal nur biegen und nicht brechen können, indem sie, wenngleich bedingt, einen selbstgewählten Weg einschlagen. 3.

Mobilität und Tabu

Mobilität als Symbol für oder als diskursives Äquivalent der Lockerung der Regeln der Gesellschaft bis hin zum Tabubruch ist in den Reiseerzählungen Im Coupé (1888) von Fontane und in Ebner-Eschenbachs Die Reisegefährten (1901)17 von zentraler Bedeutung. Schauplatz beider Erzählungen ist ein Eisenbahnabteil in einem Schnellzug auf einer internationalen Route. Ähnlich wie bei den Fußgängern auf den Straßen der Stadt ermöglicht der öffentliche Raum des Eisenbahnwagens zufällige Begegnungen. An_____________ 15

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Fronius und Anna Richards (Hrsg.), German Women’s Writing of the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Future Directions in Feminist Criticism, London 2011, S. 99−113, hier S. 101ff. Diane Spokeine, Gendered Urban Spaces. Cultural Mediations of the City in Eighteenth-Century German Women’s Writing. In: Jaime Fischer und Barbara Mennel (Hrsg.), Spatial Turns. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam 2010, S. 123−140, hier S. 124. Lottis Cousin und Mitarbeiter wird nach London geschickt, um sich als Uhrmacher beruflich weiterzubilden. Die gleiche Möglichkeit gibt es für sie als Frau nicht. Claire, die Protagonistin von Wieder die Alte, lehnt das Angebot einer Reise ins Ausland ab, weil diese ihrem Ruf und dadurch ihrer ökonomischen Selbstständigkeit schaden könnte. Erstdruck in der Sammlung Aus Spätherbsttagen, Berlin 1901.

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ders als in der Stadt bleiben aber die Fremden, die sich ohne soziale Vermittlung begegnen, längere Zeit auf engstem Raum zusammen, gleichzeitig aber an einem ständig wechselnden und daher geographisch nie genau zu bestimmenden Ort. Die Zeitdimension trägt wesentlich zum unbestimmten, kinetischen Aspekt des Textes bei: Fontane wählt die Übergangszeit der Morgendämmerung. Am Anfang steht: »im Osten, von wo der Zug kam, zog schon dämmernd der Tag herauf« (HFA I/7, S. 26); und am Schluss: »Am Horizont stieg der Ball herauf, und im hellen Widerschein derselben erglänzte, während nach unten noch alles im Nebel lag, das phantastische Zackenwerk des Kölner Doms.« (HFA I/7, S. 34) Bei Ebner bewegt sich die Erzählung mit dem Zug von der Übergangszeit des Winterabends in die Dunkelheit nach Mitternacht hinein (EEW 9, S. 245, 272). Als Orientierungsmittel in dieser schwebenden Welt stehen den Charakteren nur gesprochene Worte, Gestik oder Mimik zur Verfügung − momentan Gehörtes und Gesehenes. Der Lesende ist also angehalten und darauf beschränkt, die Verbal- und Körpersprache sorgsam zu registrieren. Er muss sich gewissermaßen auf ihre Mitteilungen verlassen. Es kann aber weder von einem Hier und Jetzt, noch von einem Damals und Dort, wie es in einem realistischen Text üblich ist, die Rede sein. Zeitlich und räumlich ist alles in einer einzigen Vorwärtsbewegung begriffen. Der erzählten Welt mangelt es an festen Umrissen. In Fontanes »hintersinnige[m] Text« − so nennt ihn treffend Eda Sagarra18 − begegnen sich ein junger Mann und eine junge Dame, die drei Stunden vor Köln in sein Abteil einsteigt. Sie ist auf der Reise nach England, wo sie einen Gouvernanten-Posten aufnehmen soll; er, von Thüringen kommend, will nach Chicago, wo er beabsichtigt, eine Schule zu gründen. Aus eigener Erfahrung als Privatlehrer in England erklärt er der Dame, dass sie als Gouvernante der im Klassensystem tief verwurzelten, demütigenden Arroganz des englischen Adels ausgesetzt sein werde. Er überredet sie dazu, ihren Plan aufzugeben und mit ihm in die Neue Welt weiter zu reisen. In Ebners Die Reisegefährten ist der Zusteigende im Schnellzug Amsterdam-Leipzig ein junger russischer Gutsbesitzer, Alexis Platow, der nach einem Jahr in der Welt, einer von seinem zukünftigen Schwiegervater verlangten Prüfungszeit, in die Krim zurückfährt, um seine Braut zu heiraten. Der Herr, der schon im Halbcoupé sitzt, ist ein pensionierter Arzt auf der Reise »ans goldene Horn und weiter und wieder heim« (EEW 9, S. 250). Nachdem Platow ihm bekannt hat, dass er trotz seiner christlichen Frömmigkeit der Reue unfähig ist, erzählt der Doktor ihm als einzigem in _____________ 18

Eda Sagarra, Von, vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Fontane Handbuch, Stuttgart 2000, S. 627–632, hier S. 629.

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seinem Leben, wie er vor Jahren einen Patienten getötet hat. Diesen Akt der Euthanasie, der die Familie des Kranken auch befreit hat, habe er nie bereut. Als der Zug an einem großen Bahnhof einen Restaurationshalt macht, verschwindet der junge Mann aus dem Abteil. Der Schaffner erklärt, er sei in einen anderen Wagen gestiegen. Alle vier Erzählfiguren sind schon weit gereist und haben arbeitend oder studierend Erfahrungen in der europäischen Welt einschließlich Russland gesammelt. Die junge Dame in Fontanes Erzählung, wie der alte Doktor in Ebners Geschichte, handelt selbstsicher und unkonventionell. Gefasst und ruhig stimmt sie dem Heiratsantrag des Fremden mit einer einfachen Geste – wortlos – zu: »Er nahm ihre Hand, und sie zog sie nicht zurück.« (HFA I/7, S. 35) In der Binnengeschichte, die er im fahrenden Zug erzählt, verstößt der Arzt viel drastischer gegen die Normen der Gesellschaft, ganz zu schweigen von seinem ärztlichen Eid, den er außer Kraft setzt. Nach reiflichem Erwägen nimmt er es auf sich und tötet, damit gegen das fünfte Gebot verstoßend, in vollem Bewusstsein seiner Tat einen Patienten. In beiden Fällen enthält sich der Erzähler jedes wertenden Kommentars. Ob der junge Russe aus dem Abteil aus Angst vor dem Mörder, aus moralischer Entrüstung oder aus Verlegenheit flüchtet, bleibt ungeklärt. Das Handeln des Doktors als Lösung eines sehr schwierigen menschlichen Problems ist kontrovers und die Erzählperspektive ambivalent. Am Anfang wird der Doktor ironisch als etwas hochmütig und selbstgefällig dargestellt; er ist nicht frei von Fehlurteilen bei seiner Betrachtung des Mitreisenden. Beide Texte bleiben am Schluss offen. Die Reisen sind nicht zu Ende; sie werden ins Ungewisse fortgeführt, die Reisenden selber scheinen aber eher zuversichtlich, bezeugen eine Zukunftsoffenheit, die mit ihrer Mobilität auf der Weltebene einhergeht. Die offensichtliche Lebensfreude des liebenswürdigen, wortgewandten jungen Paars in Fontanes Erzählung lässt freilich eher eine positive Auslegung des Verstoßes gegen die Normen der Gesellschaft zu als der Sachverhalt in Die Reisegefährten, die von einem viel stärkeren Tabu, dem Töten, handelt. Beide Texte befassen sich progressiv, human und liberal mit den Fragen, inwieweit man sich von sittlichen Normen bezwingen lassen soll und wo die Grenzen von moralischem Handeln liegen. In Hinsicht auf den Gender-Aspekt in diesen Texten kann man von einer Art Überwindung des Geschlechtspezifischen sprechen. In Im Coupé liest man folgende Gesprächspassage: ›Als ich siebenundzwanzig war […], war ich in einer ganz ähnlichen Lage wie Sie.‹ ›Nur mit dem Unterschied, daß Sie keine Dame waren.‹ ›Nein. Und das macht freilich einen Unterschied. Aber doch nur in einem Stück. In der großen Hauptsache von Leben und Sterben, eine Sache beziehungsweise

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Frage, die mir damals ziemlich ernsthaft durch den Kopf ging, ist es gleich.‹ (HFA I/7, S. 27)

Es handelt sich hier um die Befreiung aus einer Zwangslage. Die Erzählung legt Gleichheit in Handeln und Selbstbefreiung nahe. In Die Reisegefährten besteht der Doktor ausdrücklich darauf, dass der Fall nicht als geschlechtsspezifisch aufgefasst werden soll, obwohl wieder eine Frau, nämlich die Tochter, als Hauptopfer ihres kranken Vaters in einer beklemmenden Notsituation gezeigt wird: »O, die Familienmisèren! Dieses Aufgefressenwerden aller durch einen. […] Es braucht gar nicht der pater familias zu sein, es kann auch eine Mutter sein, eine Schwester, ein Kind, der oder dem alles geschlachtet wird.« (EEW 9, S. 262) In beiden Fällen wird also eine geschlechtsspezifische Lesart ausdrücklich verneint. Das Zusammenspiel von Provinz, Metropole und Welt in Werken der genannten Autoren des späten Realismus vermittelt diskursiv und symbolisch geschlechtsspezifische Muster, die aber das binäre Modell ›Frau gleich Statik und Zwang‹, ›Mann gleich Dynamik und Freiheit‹ nicht uneingeschränkt bestätigen. In der Metropole bewegen sich Frauen wie Ebner-Eschenbachs Protagonistin Claire in Wieder die Alte auf dem Arbeitsweg zu Fuß und allein in den Straßen, was zu Begegnungen im öffentlichen Raum und zu selbstständigem Handeln führt.19 Ähnliche Bewegungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, im Freien in der Metropole gelten für Fontanes Protagonistin, die arbeitende Frau Lene, in Irrungen, Wirrungen. In beiden Fällen erkennen die Frauenfiguren die Grenzen ihrer räumlichen Mobilität, welche ihre gleichsam begrenzte, finanziell bedingte soziale Mobilität widerspiegeln. Über die Stadt hinaus kommen sie nicht. Das narrative Muster gönnt diesen Frauenfiguren noch nicht die Freiheit im Handeln. Ihnen stehen nur wenige Möglichkeiten zur Wahl. Trotzdem wird die Macht von tradierten Erzählmustern in diesen Werken untergraben. Anstatt die Frau lediglich als Objekt, etwa als Anhängsel oder Opfer der Männerwelt, auftreten zu lassen, stellen Fontane und EbnerEschenbach starke Frauen dar, die in einer städtischen Welt zurecht zu kommen wissen. Der Erzählgestus deutet auf narratologischer Ebene auf die wachsende Wahrnehmung von Frauen als agierenden Subjekten hin. Die geliebten, sozial höher gestellten, aber schwachen Männer, Botho und Arnold, versagen und ziehen sich in ihren komfortablen gesellschaftlichen Kreis zurück. Die verlassenen Frauen sterben nicht; sie gehen weder emotional noch sozial noch finanziell unter. Sie wirken in der Metropole, ob mit oder ohne Glück, positiv und selbstbewusst weiter. Die Metropole, _____________ 19

Claire, die verarmte Tochter eines verstorbenen Tanzmeisters aus Paris, ist FranzösischLehrerin in aristokratischen Häusern in Wien.

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wie sie in diesen Erzählungen aus den späten 1880er Jahren geschildert wird, ist ein Raum, in dem die Frau, wenn auch nur ansatzweise, allmählich einen erhöhten Grad von selbstständigem Denken und Handeln erreicht. Es bedürfte weiterer Erforschung der Erzählliteratur aus der Periode, um dieser Entwicklung im narrativen Muster genauer nachzuspüren.20 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sieht man eine wachsende Auflockerung der gesellschaftlichen Normen. Ob diese historisch-soziologische Veränderung durch die hier diskutierten Texte lediglich symptomatisch widergespiegelt oder auch beeinflusst wurde, kann nicht klar beantwortet werden. In den Romanen Unwiederbringlich und Unsühnbar wird eine allgemeine soziale Problematik diskret und subtil angedeutet. Bei Fontane bleibt der progressive Subtext, der Christines Selbstbestimmungsimpulse andeutet, dem oberflächlichen Blick verborgen, während er bei EbnerEschenbach nur indirekt durch kontrastierende Mobilitätsmuster zum Ausdruck kommt. Die Autorin wie der Autor arbeiten mit impliziten Gegenüberstellungen gendersensibel. In den beiden Reiseerzählungen dagegen wird der räumlich nicht festlegbare Schauplatz des Eisenbahnabteils auf der Durchreise zwischen Welten verwendet, um provokative Verhaltensmuster und Modelle der Moralität darzustellen, welche den Status quo radikal herausfordern. In beiden Texten ist der Erzählton ironisch − bei Fontane wohl eher spielerisch, bei Ebner etwas ernsthafter. Die Herausforderung bestehender Sitten schließt eine Ablehnung von geschlechtsspezifischen Modellen ein. Ebner-Eschenbach und Fontane greifen hier die traditionellen literarischen Modelle der gesellschaftlichen Gesprächsszene und der spannenden Geschichte wieder auf und entwickeln sie weiter, indem sie dieses neue Reise-Milieu so einsetzen, dass Möglichkeiten des Wandels in zentralen Lebensbereichen zugleich symbolisch und realistisch in dem Raum zwischen Provinz, Metropole und Welt erkundet werden. Eine vergleichende Analyse von Teilaspekten in ausgewählten Erzähltexten hat ergeben, dass Schriftsteller und Schriftstellerin auf differenzierte und facettenreiche Weise mit Raum- und Mobilitätsmotiven gearbeitet haben. Ebner-Eschenbachs Umgang mit konventionellen literarischen Modellen scheint, bei dieser Zwischenbilanz, radikaler als Fontanes zu sein. Das müsste aber im Gesamtwerk genauer nachgeprüft werden. Aus diesen ersten Ergebnissen ersieht man, dass ein weites Forschungsfeld noch weiterer Erfassung und Erschließung harrt.

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Z. B. wären Romane von Clara Viebig und Georg Hermann aus der Jahrhundertwende in diesem Zusammenhang von Interesse.

IV. Chronotopologische Kontrapunkte aus der Natur-, Stadt- und Zeitgeschichte

Erosive Entschleunigung Stifters Semiotisierung des Raums im Modus der Geologie Franziska Frei Gerlach

Realistisches Erzählen bearbeitet die zeitgenössische kulturelle, ökonomische, soziale und verkehrstechnische Modernisierungserfahrung vielfach in der räumlichen Entgegensetzung von Provinz, Metropole und Welt. So sind auch Adalbert Stifters Texte weitgehend über Gegenorte organisiert, neben Stadt und Land sind das oft Wüste und Garten. Entsprechend kommt den Chronotopoi1 von Aufbruch und Rückkehr eine zentrale Stellung zu, gerade im 1857 publizierten Hauptwerk, dem Nachsommer, in dem der Bildungsweg des Protagonisten dominant über das Reisen verläuft. Die zeittypische Beschleunigungserfahrung ist in Stifters Schreiben mit der Eisenbahn und parallel das Modernebewusstsein mit der Fabrik jedoch als Thema gegenwärtigen Romanschaffens mehr statuiert denn selbst ausgeführt.2 Vielmehr gilt das Augenmerk dem Regionalen, Herkömmlichen und den Altertümern. Es wird gesammelt, beschrieben, er_____________ 1

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Begriff und Konzept des ›Chronotopos‹ hat Michail Bachtin in die Romananalyse eingeführt, um »[d]en grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen« zu beschreiben; siehe Michail M. Bachtin, Chronotopos. Aus dem Russischen übersetzt von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Berlin 2008, S. 7. »Eisenbahnen und Fabriken« indizieren im Wiener Stadttext Ein Gang durch die Katakomben die Fortschrittsgläubigkeit der Jetztzeit – »in dem Jahre 1842!« – und werden mit den größeren Zeithorizonten der »Vorältern« und den »Jahrtausenden, […] Jahrmillionen« und »Billionen Jahrtausende« göttlicher Planung konfrontiert; Adalbert Stifter, Wien und die Wiener. In Bildern aus dem Leben. In: Ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald et al., Stuttgart 1978ff., Bd. 9.1, S. 49f. Im Folgenden zitiert als ›HKG‹ mit Bandangabe und Seitenzahl. In Stifters Briefen ist darüber hinaus dokumentiert, wie er den Bau der Eisenbahn und die Entwicklung von den Manufakturen zur Fabrik als wacher Zeitbeobachter mit verfolgt und die Transposition von »Dampfbahnen und Fabriken« in die Literatur als Einseitigkeit modernen Romanschaffens kritisch kommentiert. Vgl. Brief an Heckenast vom 22. März 1857, in: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. 25 Bde. Hrsg. von August Sauer, Rudolf Frieb et al., Prag 1904ff., Reichenberg 1927ff. et al., Bd. 19, S. 14. Im Folgenden zitiert als ›PRA‹ mit Bandangabe und Seitenzahl. Siehe dazu Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995, S. 13.

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forscht und restauriert, nicht erfunden. Und der Bildungsreisende Heinrich Drendorf ist im Nachsommer gewöhnlich zu Fuß, allenfalls noch per Donauschiff oder Kutsche, nicht aber mit der Eisenbahn unterwegs. Das hat nicht nur mit der gewählten Route zu tun, sondern grundsätzlicher damit, dass die zentrale Zeiterfahrung Stifter’scher Texte nicht Beschleunigung, sondern Entschleunigung ist. Diese Entschleunigung hat zwar Züge einer restaurativen Moderneabwehr und bedient entsprechende Topoi,3 man wird ihr jedoch keineswegs gerecht, wenn man sie als bloße Umkehrbewegung liest. Denn die Stifter’sche Entschleunigung basiert auf einem anderen Raum-Zeit-Modell und erprobt dessen semiotische und literarische Optionen, mit denen es sich in den aktuellen kulturellen Diskurs einschreibt. Dieses andere Raum-Zeit-Modell hatte eine in ihrer Intensität der Beschleunigungserfahrung der Moderne vergleichbare grundlegende und – zumindest bei den gebildeten Zeitgenossen – auch durchschlagende Neuorientierung ausgelöst: Die Rede ist von der Geologie, die sich im 19. Jahrhundert als neue Wissenschaft etabliert hat und sogleich in den Rang einer, wie die Allgemeine Zeitung vom 13. Februar 1840 schreibt, »fashionable[n] Liebhaberei« aufgestiegen ist.4 So sollen – so der wohl nicht ganz ernst gemeinte, als Zeitmarker aber aufschlussreiche Hinweis aus dem viktorianischen England – »Leute aus dem Mittelstand« in den vierziger Jahren »im allgemeinen fünf Exemplare eines teuren geologischen Werkes auf einen der beliebtesten Romane ihrer Zeit« erworben haben.5 _____________ 3

4 5

Eine differenzierte und theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit Stifters Sicht auf die Moderne, mit einem Fokus auf Urbanität, Fortschritt, Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit, liefert Kerstin Cornils, Neues aus Arkadien. Der Streit um die Moderne bei Adalbert Stifter und Jorge Isaacs, Köln 2007. Sie bleibt aber dabei, dass Stifters Haltung eine der Moderneabwehr sei (siehe S. 10, 40), und zieht einen raumzeitlichen Perspektivenwechsel, wie ihn der vorliegende Aufsatz propagiert, nicht in Betracht. Zitiert nach HKG 2.3, S. 37. Diagnostiziert von der Schriftstellerin und Publizistin Harriet Martineau, zitiert nach Stephan F. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, Stuttgart 1961, S. 487. Zur Entwicklung der Geologie im 19. Jahrhundert vgl. ebd., S. 466–487. Sowie grundlegend Wolf von Engelhardt, Wandlungen des Naturbildes der Geologie von der Goethezeit bis zur Gegenwart. In: Jörg Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 45–73; Martin Guntau, Die Genesis der Geologie als Wissenschaft. Studie zu den kognitiven Prozessen und gesellschaftlichen Bedingungen bei der Herausbildung der Geologie als naturwissenschaftliche Disziplin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Schriftenreihe für Geologische Wissenschaften. Berlin 22 (1984), S. 1–131. Auch für Frankreich ist belegt, dass geologische – und die davon noch nicht getrennten paläontologischen – Publikationen in den 1830er Jahren exponentiell anstiegen und an Zahl alle anderen Naturwissenschaften zusammen überstiegen; siehe Geof Bowker, Die Ursprünge von Lyells Uniformitarismus. Für eine neue Geologie. In: Michel Serres (Hrsg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 1998, S. 687– 719, hier S. 705.

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I.

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Geologie: Wissensgewinn und Verunsicherung

Geologische Erklärungsmuster faszinierten und erschütterten die Menschen im 19. Jahrhundert zugleich. Denn die Dimensionen, die sie eröffnen, tarieren Raum und Zeit radikal neu aus, verabschieden überkommenes Wissen und erschüttern existentielle Gewissheiten. Zeiträume von Milliarden von Jahren verweisen den Menschen und dessen auf 6000 Jahre veranschlagte Geschichte ins Unbedeutende,6 und das neu gewonnene Wissen vom steten Veränderungsprozess der Erdoberfläche erschüttert nicht nur das Vertrauen in die Festigkeit dieser Erdoberfläche, sondern stellt auch der Beschleunigungserfahrung der Moderne unermessliche Langsamkeit und unendliche Dauer entgegen. Diese doppelte Bewegung der Gewinnung von Wissen und eines neuen Standpunktes einerseits, der Verunsicherung bis hin zur existentiellen Erschütterung durch die darin liegenden Gesetzmäßigkeiten andererseits, manifestiert sich in Stifters literarischer Umsetzung geologischer Narrative. Die Akkumulation von Wissen geschieht, nach dem Erarbeiten des zeitgenössischen Wissensstandes, über die geologische Feldarbeit der Protagonisten: das Sammeln von Gesteinen, Messen, Beschreiben und Abbilden von Gesteinsformationen bis hin zur Übertragung der Daten auf Karten. Paradigmatisch steht für diese Gewinnung eines neuen Standortes in der Wissensgeschichte der Gipfelblick,7 dem sich die überblickte Gegend zweidimensional erschließt und der damit die Voraussetzung für ihre kartographische Tradierbarkeit schon räumlich vorbildet: Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg, und von ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geübteren Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren Merkmalen dar, und faßten sich übersichtlicher in großen Teilen zusammen. Da öffnete sich dem Gemüthe und der Seele der Reiz des Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres Zusammen-

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Eine – in Anlehnung an die Freud’sche Terminologie – »geologische Kränkung« nennt Peter Schnyder die Erschütterung, die die Entdeckung der so genannten »Tiefenzeit« und die damit verbundene Marginalisierung des Menschen und der bisherigen, christlichen Zeitrechnung bedeutete; siehe Peter Schnyder, Schrift – Bild – Sammlung – Karte. Medien geologischen Wissens in Stifters ›Nachsommer‹. In: Michael Gamper und Karl Wagner (Hrsg.), Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit, Zürich 2009, S. 235–248, hier S. 235. Grundsätzlich zur »Tiefenzeit« und der von ihr ausgelösten Erschütterung von Gewissheiten siehe Stephan J. Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. Übersetzt von Holger Fließbach, München 1990. Zum Gipfelblick in Stifters Texten siehe Sabine Schneider, Kulturerosionen. Stifters prekäre geologische Übertragungen. In: Gamper und Wagner (Hrsg.), Figuren der Übertragung (wie Anm. 6), S. 249–269, hier S. 253–259.

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strebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die Fläche. (HKG 4.1, S. 43)8

Das geologische Untersuchungsgebiet ermöglicht die Gewinnung eines Überblicks aber nicht nur dadurch, dass es sich dem Menschen materialiter als Standort anbietet und allerorten, gerade auch an höchsten und unzugänglichsten Stellen bezwungen wird,9 sondern auch über seine Materialeigenschaften selbst. Grundlage der Sammlung sind im Nachsommer Gesteine, die selbst schon Teil von Sammlungen waren und damit »meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen auf sich aufgeklebt« hatten. Geordnet sind sie – wie ausdrücklich bemerkt wird – nach dem maßgeblichen »Sistem von Mohs« (HKG 4.1, S. 32). Friedrich Mohs hatte in seinen Forschungen Mineralien aufgrund von Ritzproben nach ihrem Härtegrad klassifiziert und zugleich auch eine Systematik der Kristallisation entworfen.10 Entsprechend sind die erworbenen Mineralien im Nachsommer »wo möglich immer im Kristallzustande« (HKG 4.1, S. 32). Es ist materialikonographisch eine klare und stabile Struktur, die den gesuchten Überblick ermög_____________ 8

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Und weiter: »Die Betrachtung der unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen Bemühungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser Erdoberfläche nachzuspüren, und durch Sammlung vieler kleiner Thatsachen an den verschiedensten Stellen sich in das große und erhabene Ganze auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen« (HKG 4.1, S. 43f.). Siehe auch HKG 4.2, S. 186: »Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte. […] [I]ch sah die Länder wie eine schwache Mappe vor mir liegen.« Die Suche nach der besonderen Herausforderung ist ebenso wie das Moment der Gewalt, das nicht nur das Gewinnen von Mineralien, sondern auch das Besteigen der Berge bedeutet, deutlich markiert: Höhen, die nicht zugänglich sind, werden durch »Hämmer und Meißel zugänglich« gemacht, (HKG 4.2, S. 9), um mit so verfertigten »Leitern« auf »einen Standort« zu gelangen, »auf den zu gelangen eine Unmöglichkeit schien« (HKG 4.2, S. 186). Es wird gesucht, sich der Bergzüge »zu bemächtigen«, man geht in »die wildesten und abgelegensten Gründe […], auf die schroffsten Grate […]. Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat, die Natur zu besiegen, und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen noch mehr aber durch Zerstören zeigen […], so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen zu überwinden, und sucht selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer wichtigerer Zweck gar nicht treibt.« (HKG 4.2, S. 185) Und als letzte Herausforderung wird all dies auch noch im tiefsten Winter gemacht, siehe HKG 4.3, S. 101–110. Vgl. Friedrich Mohs, Grundriss der Mineralogie. 2 Bde., Dresden 1822–1824. Die Mohs’sche Härte-Skala von Mineralien basiert auf dem Prinzip, dass harte Stoffe weiche ritzen. Die – wie eine Recherche in den Weiten des www unmissverständlich zeigt – bis heute in der Mineralogie gebräuchliche Ordinalskala ist in zehn Härtegrade eingeteilt. Mohs’ Systematik kristalliner Strukturen hat sich dagegen nicht gleichermaßen durchsetzen können, hierin beruft sich die Forschung vor allem auf Christian Samuel Weiss.

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licht, und dies in doppelter Weise: Zum einen durch eine präzise definierte Klassifikation der Materialoberfläche, zum anderen durch die innere Struktur der Mineralien selbst, denn Kristalle basieren auf einer Gitterform.11 Hatte das Ersteigen eines Gipfels und die dadurch ermöglichte neue Perspektive auf das Bestehende den wissensgeschichtlichen Ort einer geologisch bedingten Neuperspektivierung in räumlicher Entsprechung abgebildet, zu dem die Mohs’sche Klassifikation und die kristalline Struktur die materiellen Entsprechungen lieferten, so steht auch für die Kehrseite des geologischen Modells von Welterkenntnis, die Erschütterung von Gewissheiten, ein genuin erdgeschichtlicher Prozess Modell: die Erosion. Auf sie kommt der Bildungsreisende bei seinen Fragen nach den Ursachen von Gesteinsformationen im Einzelnen, die sich an das Sammeln und Beschreiben des Vorgefundenen und die allgemeine Frage nach der Bildung der Erdoberfläche anschließen: Der Prozess der Erosion erweist sich als jene Gesetzmäßigkeit, die das Vorgefundene bedingt. Diese Gesetzmäßigkeit der Erosion birgt den größten Schrecken überhaupt, gegen den die Stifter’schen Texte anschreiben und den sie zugleich anrufen: die stete und unaufhaltsame Zersetzung und letztliche Auflösung ins Indifferente, von dem her es zum Nichts nur noch ein kleiner Schritt ist.12 So stellt sich im Angesicht eines Geschiebes, einer von Stifter wiederholt beschriebenen erosiven Formation, für Heinrich alles, was an Überblick gewonnen wurde, wieder in Frage: »Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern?« (HKG 4.2, S. 31) II.

Erosion

Es sind vor allem die Erosion und ihr Komplement, die Sedimentation, die die narrativen Modelle vorgeben, die Stifters Schreiben im Modus der Geologie organisieren. So bilden die verschiedenen Stadien der Erosion _____________ 11

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Solchermaßen fest Gefügtes und still Gestelltes galt der Stifter-Rezeption lange als das Eigentliche von Stifters Schreiben und bestimmte das von der Forschung inzwischen revidierte Bild des atemporalen, im Aneinanderreihen von Dingen und Wörtern erstarrten Dichters. Dass das Starre nur eine Option unter anderen ist, zeigt sich im Nachsommer schon bei den ersten Praxisversuchen: Die Kriterien des Kristallinen erweisen sich schon bald als den Beobachtungen nicht adäquat und der Protagonist kommt nicht umhin, »sich neben den Eintheilungen, die gebräuchlich waren« seine eigenen »Beschreibungen daneben« zu machen (HKG 4.1, S. 32f.). Schneider liest dieses Vorgehen, das neben den Mineralien auch den Umgang mit Pflanzen bestimmt, als »poetologische[n] Kommentar zum Verfahren Stifter’scher Texte im Umgang mit den wissenschaftlichen Systemansprüchen seiner Zeit« und als bezeichnend für »die Ordnungsentwürfe von Stifters literarischen Universum generell« (Schneider, Kulturerosionen [wie Anm. 7], S. 249). Besonders deutlich und von der Forschung entsprechend analysiert ist dies in den Weißeinbrüchen der Schneemassen in Bergkristall und Aus dem bairischen Walde.

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zusammen mit den daran beteiligten Naturkräften und dem Ausgangsmaterial selbst die Parameter für eine semiotische Ordnung, mit der der erzählte Raum deutbar wird. In diesem Sinne stellen Stein, Trümmer, Geröll, Geschiebe, Kiesel, Sand, Staub und Schichtung respektive Wetter, Wind, Wasser, Temperatur und – der persistent gemessene – Luftdruck Ordnungsraster bereit, mit dem das Spannungsfeld von Natur- und Kulturraum vermessen wird. Neben Topographien von Stadt, Land und der für Stifter typischen menschenfeindlichen Ödnis werden auch sittliche und poetologische Ordnungsanstrengungen auf eben dieser erosiven Zeichenbasis verhandelt. Dieser narrativen Vermessung des Raums durch erosive Semiotisierung soll an exemplarischen Stellen aus dem Nachsommer nachgegangen werden. Ergänzend werden Ausschnitte aus den Bunten Steinen, den Studien, dem autobiographischen Fragment Mein Leben sowie der Textsammlung Wien und die Wiener beigezogen. Deutlich werden soll, dass die Vermittlungsstelle zwischen Geologie und Literatur in der Frage nach den zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten liegt. Dabei wird sich zeigen, dass die Verunsicherung, die das Gesetz der Erosion auslöst, auf vielfältige Entsprechungen in kulturellen wie existentiellen Fragen und darüber hinaus ins Zentrum der distinkten Zeichen selbst trifft. Grundlage der erosiven Semiotisierung von Welt ist ein genaues Wissen vom Verlauf der Erosion und den daran beteiligten Kräften, wie sich in den Erzähltexten deutlich manifestiert. Diese exakten Beschreibungen erfüllen die realistische Intention, authentische Wirklichkeit im Text zu schaffen, indizieren aber zugleich auch Lesarten der Übertragung, insbesondere metaphorische und poetologische. Im Folgenden wird die These aufgestellt, dass in diesen Übertragungen nicht nur vom Naturmaterial inspirierte semantische, sondern auch formale Faktoren wirksam sind, die ihrerseits wiederum Sinn stiften. So dass der Eigensinn des Materials in der Sinnkonstruktion mitwirkt und neue Verbindungen motiviert. Methodisch lehnt sich dies an die in den Kunstwissenschaften entwickelte Materialikonographie an,13 die sowohl die stoffliche Beschaffenheit als auch die semantischen Kodierungen des Materials bedenkt und danach fragt, welche Aspekte davon im Text jeweils wirksam sind, umgedeutet oder narkotisiert werden.14 _____________ 13 14

Grundlegend zur Materialikonographie der Kunstwissenschaft siehe Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München 1994, und Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001. Diese These hat die Verfasserin an der Form des Korns – im Spannungsfeld von Sand und Getreide – bei Stifter erprobt; siehe Franziska Frei Gerlach, Die Macht der Körnlein. Stifters Sandformationen zwischen Materialität und Signifikation. In: Sabine Schneider und Barbara Hunfeld (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2008, S. 109–122. In diesem Sinne lie-

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Der Protagonist des Nachsommers, dessen erklärtes Bildungsziel ein »Wissenschafter im Allgemeinen« ist, gibt seine Studien in unterschiedlichen Wissensgebieten schon bald zugunsten der Geologie auf. Diese erscheint ihm »als Schlußstein oder Zusammenfassung aller [s]einer bisherigen Arbeiten« (HKG 4.1, S. 17, 44).15 Da sich das geologische Wissen der Zeit vor allem auf das Gebirge konzentriert, wird dieses nun sein jährliches Reise- und Bildungsziel. Dort sammelt er Gesteinsarten, beschreibt und zeichnet deren Lage, Schichtungen und die Bildungen der Erdoberfläche und findet seinen Entscheid, sich der Geologie vor allen anderen Wissenschaften zu widmen, bei der Feldarbeit bestätigt: Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens werth ist, so ist es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste, die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein Einschiebsel ist, und wer weiß es, welch ein kleines, da sie von anderen Geschichten vielleicht höherer Wesen abgelöst werden kann. Die Quellen zu der Geschichte der Erde bewahrt sie selber wie in einem Schriftengewölbe in ihrem Innern auf, Quellen, die vielleicht in Millionen Urkunden niedergelegt sind, und bei denen es nur darauf ankömmt, daß wir sie lesen lernen, und sie durch Eifer und Rechthaberei nicht verfälschen. Wer wird diese Geschichte einmal klar vor Augen haben? Wird eine solche Zeit kommen, oder wird sie nur der immer ganz wissen, der sie von Ewigkeit her gewußt hat? Von solchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern. (HKG 4.2, S. 32f.)

Diese Reflexion versichert der Geologie ihre im Textverlauf schon wiederholt zugeordnete Gipfelstellung unter den Wissenschaften16 und macht sie im Hinblick auf ihre Funktion als Geschichte zur vielversprechendsten und reizvollsten aller möglichen Geschichten. In der doppelten Notation des Begriffs als historisch Geschehenes und literarisch zu Erzählendes bestätigen sich hier Gipfelblick und Horizonterweiterung im Modus der Literatur. Die Korrespondenz von Geologie und Literatur verdeutlicht die Metapher vom Schriftengewölbe im Innern der Erde, in dem die Quellen zu ihrer Entzifferung aufbewahrt werden. Das ist nicht nur eine Anthropomorphisierung von Natur und rekurriert nicht nur auf den traditionalen _____________

15 16

ßen sich die oben gemachten Bemerkungen zur kristallinen Struktur mit dem metaphorischen und poetologischen Gehalt der Stillstellungsfigur des Gitters in Beziehung bringen, der wir bei Stifter allenthalben und bis in die Streichungen in seinen Manuskripten hinein begegnen. Mit etwas anderem Akzent hat Juliane Vogel Übertragungen zwischen Wahrnehmungsphänomenen und Stifters Poetologie des Gitters untersucht: Juliane Vogel, Stifters Gitter. Poetologische Dimensionen einer Grenzfigur. In: Ebd., S. 43–58. Vgl. dazu auch Schneider, Kulturerosionen (wie Anm. 7), S. 251f. Dass die Erdwissenschaft eine besondere Stellung unter den Wissenschaften einnimmt, wird auch von Heinrichs Mentor, dem Freiherrn von Risach, bestätigt, siehe HKG 4.1, S. 126.

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Topos vom Buch der Natur,17 sondern ist auch ein Wegweiser zu den genuin literarischen Möglichkeiten der »Gesteinwelt« (HKG 4.2, S. 185). Er führt den fragenden Drendorf direkt »zu den Dichtern« und den Nachsommer zu einer autopoetologischen Reflexion über Bedingungen und Möglichkeiten der Übertragungsleistungen zwischen den Naturgesetzen und dem Schreiben. In der Folge berichtet Heinrich, dass zwar nach wie vor das Sammeln und fundortgetreue Abbilden des Vorgefundenen die Basis seiner Forschungen bilde, er sich aber nun stets »um die Ursachen frag[e], warum etwas sei, und um die Art, wie es seinen Anfang genommen habe. Ich baute diesen Gedanken fort, und schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in irgend einer Zukunft etwas daraus.« (HKG 4.2, S. 187) Hier erweist sich explizit das geologische Gedankengebäude als Grundlage des Schreibens – auch der vorliegenden Autobiographie Heinrich Drendorfs, als die uns Stifter seinen Nachsommer präsentiert. Dabei ist es insbesondere das Raum-Zeit-Modell, dessen Übertragung von Geologie auf Literatur augenfällig wird. Die Besonderheit geologischer Zeitlichkeit liegt – neben der genannten Langsamkeit und Dauer – darin, dass sie sich räumlich manifestiert: Zeit ist als Schichtung, als Ansammlung von Sedimenten ablesbar und wird über deren Einschlüsse, die Geschichten von längst untergegangenen Zeiten erzählen können, datierbar.18 Eine literarische Transformation von Geologie bedeutet also eine Verräumlichung von Zeit. Diese Dominanz des Räumlichen beim Erzählen von Zeitabläufen ist im Nachsommer im zyklischen Ablauf der – durch den Romantitel ja bedeutsamen – Jahreszeiten präsent. Ihr Wechsel ist räumlich gefasst und wird durch die jahreszeitlich wechselnden Aufenthaltsorte des Protagonisten angezeigt. Dies geht im Detail so weit, dass der Zeitpunkt der Rosenblüte, der das raumzeitliche Zentrum des Romans bildet, für das Gebirgstal, die Metropole und die Landgüter im voralpinen Raum jeweils exakt angegeben wird. Zeit wird gemäß den geologischen Ordnungskriterien im Nachsommer aber nicht nur im Allgemeinen räumlich kodiert, im Modell der Schichtung wird im Besonderen der Menschheitsgeschichte ein spezifischer ZeitOrt zugewiesen: der eines »Einschiebsel[s]«, und zwar eines besonders kleinen. Die Zeit menschlicher Geschichte als kleines »Einschiebsel« zu bezeichnen, bedeutet eine radikale Dezentrierung des Menschen. Der Index des Kleinen, der dem Einschiebsel zugeordnet ist, meint in Stifter’schem Deutungskontext nun aber gerade nicht das Unbedeutende. _____________ 17 18

Vgl. dazu Schnyder, Schrift (wie Anm. 6), S. 240f. Indiziert ist dies im Nachsommer in der Inszenierung fossiler »Amoniten« in »der Mitte« des Marmorsaals, des ikonographischen Zentrums des Rosenhauses, und damit überdeterminiert zentral, vgl. HKG 4.1, S. 81; dazu Schnyder, Schrift (wie Anm. 6), S. 245f.

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Vielmehr liegen im Kleinen und Kleinsten die Grundlagen von Bedeutungsstiftung und werden Regeln von Gesetzmäßigkeiten ablesbar.19 III. Sand und Staub Programmtisch hat Stifter das in seiner viel zitierten Formulierung vom »sanfte[n] Gesez« (HKG 2.2, S. 12) in der Vorrede zur Erzählsammlung der Bunten Steine von 1853 formuliert, in der er das Gesetz der Gerechtigkeit, der Sitte und der gegenseitigen Anerkennung und Liebe über eine Neubesetzung von Großem und Kleinem entwickelt. Erklärtes Ziel ist dabei, »ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen« und so eine Spur vorzugeben, auf der »Körnchen« an »Körnchen« gereiht werden könne (HKG 2.2, S. 9f., 11). Geht es Stifter hier erklärtermaßen um eine sittliche Ordnungsanstrengung, so greift er die Körnchenmetaphorik im autobiographischen Fragment Mein Leben von 1867 in einem deutlicher ins Poetologische gewendeten Sinn wieder auf und leitet seine Erinnerungserzählung vom Eintritt in die symbolische Ordnung und seine Selbstvergewisserung im Schreiben darüber mit einer Hommage an das kleinste Sandkörnchen ein: Es ist das kleinste Sandkörnchen ein Wunder, das wir nicht ergründen können. Daß es ist, daß seine Theile zusammen hängen, daß sie getrennt werden können, daß sie wieder Körner sind, daß die Theilung fort gesezt werden kann, und wie weit, wird uns hienieden immer ein Geheimniß bleiben. […] Wir stehen vor dem Abgrunde dieses Räthsels in Staunen und Ohnmacht. (PRA 25, S. 176)20

Nicht von ungefähr sind es beide Male geologische Kontexte, in denen die Wertigkeit des Kleinen entwickelt wird: Es ist explizit und implizit der Prozess der Erosion, der für das Entstehen der Körnchen verantwortlich ist. Explizit benennt das autobiographische Fragment die »großen Körper, davon« das Sandkörnchen »getrennt worden ist, und die den Außenbau unserer Erde bilden« (PRA 25, S. 176), und also den Herkunftsort im Prozess der Erosion und fragt darüber hinaus nach deren Fortgang: Die Frage nach der weiteren Teilbarkeit und deren potentiellem Ende führt _____________ 19

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Paradigmatisch zeigt sich dies bei der Lösung des Wetter-Rätsels im ersten Buch des Nachsommers. Während Heinrichs Messgeräte und sein auf Wanderungen gewonnenes meteorologisches Erfahrungswissen ein Gewitter anzeigen und ihn dazu veranlassen, um Einkehr im Rosenhaus zu fragen, basiert Risachs gegenteilige und sich schließlich bewahrheitende Prognose auf der langjährigen Beobachtung der »Insekten« und »kleinen Thiere«: Aus ihrem Verhalten lassen sich die zuverlässigsten Prognosen ableiten, wie überhaupt die »kleinsten Dinge« die großen Gesetzmäßigkeiten bergen (HKG 4.1, S. 121–125). In einer späteren Fassung lautet die entsprechende Stelle dann: »Jedes Sandkorn ist ein Ding, dessen Wesenheit wir nicht ergründen können.« (PRA 25, S. 181)

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geologisch zu einer Korngröße von unter 0,063 mm, dem minimalen Durchmesser eines Sandkorns, und damit zum Staub,21 metaphorisch hingegen in die Bedeutungslosigkeit und Unlesbarkeit der Zeichen. Damit droht im Wirken des Naturgesetzes der Erosion, in dessen Rahmen die Sprachgewinnung im autobiographischen Fragment gestellt wird, gerade der Verlust des Gewonnenen. Doch auch das Entstehen von Bedeutung über das Schaffen von Differenzen vollzieht sich keineswegs sanft, sondern wird als schmerzhafte Gewalt- und Trennungserfahrung erzählt,22 die sich wiederum auf den Erosionsprozess selbst abbilden lässt. Es sind in diesem Sinne nicht nur die semantischen Felder aus der Geologie und der Autobiographie eines Schriftstellers, die in ein Entsprechungsverhältnis gebracht werden und über gegenseitige Übertragungen einen Mehrwert an Sinn eröffnen, sondern es sind strukturell gesehen die Gesetzmäßigkeiten selbst, die ein formales Korrespondenzverhältnis zwischen Geologie und Semiotik ermöglichen und damit eine tiefgründige Übertragungslogik anstoßen. Anders als im autobiographischen Fragment ist der Erosionsprozess in der »Vorrede« der Bunten Steine trotz der explizit geologischen Titelgebung nur implizit präsent, er aktualisiert aber auch hier einen gewaltbesetzten Subtext. In seiner Aufzählung dessen, was Stifter für wahrhaft groß hält, nennt er unter anderem »[d]as Wehen der Luft das Rieseln des Wassers […] das Wogen des Meeres […] das Glänzen des Himmels« (HKG 2.2, S. 10) und damit also Kräfte und Einflüsse, die die Zerstückelung, Schleifung und Vertreibung des Ursprungsmaterials hin zum Körnchen im erosiven Prozess steuern. Liest man die Isotopie der Erosion als Index des sanften Gesetzes mit, so schreibt sich auch hier ein Gegensinn von Gewalt und Trennung ein, der die Sanftheit der kleinen Bewegung und der Hinwendung zum Kleinen und Kleinsten hintertreibt.23 Diese Signatur von Gewalt manifestiert sich im Nachsommer in einer mehrseitigen Reflexion über die Erosion als Anhäufung sich immer weiter _____________ 21 22

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Vgl. Art. ›Sand‹ in: Lexikon der Geowissenschaften in sechs Bänden. Hrsg. von Christiane Martin, Manfred Eiblmaier et al., Heidelberg/Berlin 2000–2002, Bd. 4, S. 366. Ausgehend von einer Ganzheitserfahrung bilden sich die »Außenwelt« als eine davon unterschiedene Wahrnehmung sowie die »Gestalt« der Mutter heraus, die Fähigkeit zu unterscheiden setzt ein und mit ihr das Sein in der symbolischen Ordnung. Diese Schwellenerfahrung ist an eine Gewalterinnerung geknüpft: an »Klingen, Verwirrung, Schmerz in meinen Händen und Blut daran«. Diese einschneidende Erinnerung ist einerseits verbunden mit der »Erleichterung, die alle Male auf das Weichen des Entsezlichen und Zugrunderichtenden folgte«, die im »ich sagte: ›Mutter, da wächst ein Kornhalm‹« sprachlich wird. Andererseits verbindet sich damit die ebenso unauslöschliche Erfahrung einer doppelten Nicht-Anerkennung des Ichs: »Die Großmutter antwortete darauf: ›Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht‹«, und »die Mutter sprach wirklich kein Wort« (PRA 25, S. 178f.). Differenziert dazu Frei Gerlach, Die Macht der Körnlein (wie Anm. 14), S. 117–120.

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ausdifferenzierender Fragen, die sprachlich quasi mimetisch umsetzt, was die Erosion im Prozess ihres steten Aufteilens und Aufsplitterns und Neuordnens am Stein vollzieht: Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern? In welch schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner Gewässer das Gebirge beständig zerbröckelt wird, wenn die Trümmer herabfallen, wenn sie weiter zerklüftet werden, und der Strom sie endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausführt, wie weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? Unermeßliche Schichten von Geschieben in ebenen Ländern bejahen es. Wird es noch lange dauern? So lange Luft Licht Wärme und Wasser dieselben bleiben, so lange es Höhen gibt, so lange wird es dauern. Werden die Gebirge also einstens verschwunden sein? Werden nur flache unbedeutende Höhen und Hügel die Ebenen unterbrechen, und werden selbst diese auseinander gewaschen werden? (HKG 4.2, S. 31)

Erosion zeigt sich bei Stifter als ein radikaler und gewaltsamer Prozess, dem durch die lange Dauer, die Langsamkeit und die Körnchengestalt eine Signatur des Sanften anhaftet. In der Modellierungsleistung der Erosion für die Literatur wirkt sich beides aus. In diesem Sinne transportieren Kiesel oder Sand auch den Gewaltaspekt, der ihrer Genese inhärent ist, als materielles Gedächtnis mit und wirken als latenter Subtext auf den – bei Stifter topischen – rein gefegten Sandwegen in wohl geordneten Gartenlandschaften. Das zeigt sich besonders eindrücklich in der 1842 erstmals erschienen Erzählung Abdias, bei der die afrikanische Wüste und ein Garten im mitteleuropäisch-voralpinen Raum über den Sand in ein Korrespondenzverhältnis treten. In einer halb im Sand versunkenen, »aus der Geschichte verlorenen Römerstadt« (HKG, 1.5, S. 239) fristet Abdias eine Existenz ganz im Zeichen der Erosion: Es versanden die Seelen-, Sozial- und Kulturlandschaft gleichermaßen. Kultur ist als Prozess der Zersetzung und Anhäufung kontingenter Kulturfragmente und also als Kulturerosion gestaltet. Semiotisch erweist sich die leere Fläche des Sandes, hier einer langen Tradition folgend, zwar als ein poetologisches Reflexionsmedium, doch nicht im positiven Sinn: Die eingeschriebenen Zeichen sind flüchtig und durch die Irritation des Flimmerns unlesbar. Der Auszug aus dem Sandland bringt die erwartete Erlösung nicht, der zerstörerische Subtext fährt aus der afrikanischen Wüste ins mitteleuropäische Getreideanbaugebiet mit, und in einer für Stifter typischen metonymischen Engführung von Sand- und Getreidekorn bringt letzteres auch im scheinbar idyllischen Gegenort nur Zerstörung.24 _____________ 24

Dies ist ausgeführt in Frei Gerlach, Die Macht der Körnlein (wie Anm. 14), S. 112–117.

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Stifters Sandformationen und ihrem Weg zwischen Natur- und Kulturzeichen ließe sich noch in viele Texte und Orte folgen, namentlich in die Karlandschaft von Kalkstein (1853), nicht aber in die Stadt. In Stifters erosiver Semiotisierung des Raums ist es nicht die gleichförmige Masse des Sandes, sondern das ungefüge Geschiebe, das den Raum der Stadt und darin insbesondere die Menschen selbst bezeichnet. IV. Menschliche Geschiebe Einen solchen »Haufen von Geschiebe […] aus einem Flußbette«, das seiner Verwendung zum Straßenbau am Rand der Metropole harrt, betrachtet der ›nachsommerlich‹ Reisende mit »Ehrfurcht«: Ich erkannte in den rothen weißen grauen schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter plattgerundete Gestalten hatten, die Bothen von unserem Gebirge, ich erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt hatte, und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter Kameraden, deren Geburtstätte oft viele Meilen von der seinigen entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle harrten, daß sie zerschlagen und zu der Straße verwendet würden. (HKG 4.2, S. 27f.)

Erosion mit ihren Stadien der Abtrennung und der Wegführung wird hier enggeführt mit dem Lebensweg jener Menschen, die, in der Provinz geboren, von dort ausziehen und der Stadt zustreben. Ein ganzer Narrationsplan ist darin angelegt, und mit ihm auch das absehbare Ende: der Verlust der Individualität, die Anpassung an die Masse, das passive Verharren im Erwarten des Endes, die Zerschlagung der Ambitionen noch vor Erreichen der Metropole und die Transformation eines jeden in ein Stückchen Wegs, auf dem die später Kommenden weiter gehen. Wie ein Komplement zu dieser vom Stein ausgehenden Übertragung liest sich eine von der sozialen Masse ausgehende Beschreibung in Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes aus der Erzählsammlung Wien und die Wiener von 1844, die Stifter als Herausgeber betreute und zu der er auch eigene Beiträge beisteuerte: Die »Masse der Vorstädte«, so heißt es da, schiebt sich gegen die Stadtgrenze heran, am »Glacis«, der einstigen Stadtbefestigung, »gleichsam in ihrem Hereinschieben gegen die Stadt hier an einer unsichtbaren Grenze anhaltend und sich anstaunend« (HKG 9.1, S. X). Das Glacis, jetzt ein »grüner Gürtel«, hält in seinem Wortstamm auch jenes Isotop des Glacialen präsent, das das soziale Geschiebe der Vorstädte als Gletschermoräne zu seinem Ende kommen lässt. Die soziale Dynamik der Metropole, ihre Anziehungskraft für die Bergler und Provinzler sowie ihre Abwehrhaltung gegenüber den Migranten wird hier im Feld jener Erosionsmetaphorik gefasst, die Stifter in sei-

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nen Stadttexten noch als eine unter anderen erprobt,25 und ohne bis ins letzte Detail den Naturgesetzen zu folgen. Bemerkenswert ist dabei folgende Anschauung, ebenfalls vom Stephansturm aus: Der Theil gerade zu unsern Füßen ist die eigentliche Stadt. Wir sehen sie, wie eine Scheibe um unsern Thurm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Thürmen, ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Piramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei das Alles in toller Kristallisation an einander geschossen, und starre nun da so fort. (HKG 9.1, S. IX)

Gipfelblick, Geschiebe und Kristallisation und also Übersicht, Erosionsbewegung und Starre gehen hier in eins zusammen, wenn auch im Modus des Konjunktivs und mit der distanzierenden Apposition des ›Tollen‹ im Zusammenschließen des Differenten. Das weist schon auf die differenzierende Taxonomie des Nachsommers voraus, in dem die im Gipfelblick gewonnene Übersicht durch die Gesetzmäßigkeiten der Erosion in Frage gestellt und der Kristallzustand schon bei den ersten Feldversuchen nicht mehr das Maß aller Steine darstellen wird: Allein da ich jezt meine Mineralien in der Gegend meines Aufenthaltes suchte, und zusammen trug, fand ich sie weit öfter in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. (HKG 4.1, S. 33)

Heinrich beginnt darum, neben den auf Kristallisation beruhenden Mohs’schen Einteilungen, seine eigenen Beschreibungen zu machen. Ist er in seinen Erosionsbeobachtungen den großen Gesetzmäßigkeiten permanenter Bewegung auf der Spur, so sieht sich der Wien-Besucher der frühen Stadttexte angesichts des Geschiebes mit der Stillstellungsfigur der Starre konfrontiert. In irritierendster Weise geschieht dies im Text Ein Gang durch die Katakomben, der den Blick vom Stephansturm herunter an eben demselben Ort um die Perspektive aus dem Erdinnern herauf ergänzt. Schon in der Prä_____________ 25

Zentral ist in diesen frühen Stadttexten, wie Begemann gezeigt hat, die ozeanische Metaphorik; siehe Begemann, Die Welt der Zeichen (wie Anm. 2), S. 15–19. Diese kann zwar auch als Teil geologischer Prozesse verstanden werden, ist aber viel eher als Griff nach zeittypischen konventionellen Bildern erklärbar, denn vom Häusermeer schreiben viele andere auch. In Richtung Geologie weist jedoch das »Steinmeere«, das – ganz im Gegensatz zur eben noch als wogend beschriebenen Stadt – nun »starr« erscheint (HKG 9.1, S. VIII). Der allgegenwärtige Staub als festes Epitheton von Stadt und Straßen lässt sich gleichfalls erosiv lesen, ganz besonders aber sind im geologischen Kontext der Gipfelblick und die kartographische Übersicht zu verorten, die im Blick vom Stephansturm am Beispiel der Stadt erprobt werden. Vgl. dazu Schneider, Kulturerosionen (wie Anm. 7), S. 257f. Daneben aber stehen gleichberechtigt ganz andere Metaphernkomplexe, beispielsweise derjenige des Essens.

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ambel werden die Erosionsmetaphorik mit dem »Kiesel« und die erdgeschichtliche Perspektive mit der Zeitangabe von »Billionen Jahrtausende« als das Feld eingeführt, in der die Sache des Menschen verhandelt wird (HKG 9.1, S. 49f.). In der »unterirdische[n] Todtenstadt« (HKG 9.1, S. 52) begraben zu werden, war Privileg der Reichsten und Vornehmsten und mit der Erwartung ungestörter Totenruhe verbunden. Jetzt jedoch liegen die menschlichen Überreste auf Haufen, »starr, über einander geschichtet, eine werthlose, schauererregende Masse« (HKG 9.1, S. 54). Der Anblick dieser geschichteten Leichen, ihrer Teile und Knochen löst im Betrachter eine existentielle Erschütterung aus und verspricht auch aus dem Leser »ein[en] andere[n]« zu machen (HKG 9.1, S. 51). In bestimmten Bereichen der Katakomben hat die Verwesung nur die Kleider, nicht aber die Körper der Toten affiziert, so dass diese nun nicht nur ihres sozialen Status’, sondern auch ihrer Würde entblößt daliegen. Hier hätte das Naturgesetz erosiver Auflösung, in dessen Rahmen Menschliches verhandelt wird, etwas Tröstliches, doch die mumifizierten Körper mit ihren seit hunderten von Jahren im Todesaugenblick still gestellten Gesichtern scheinen nicht darunter fallen zu wollen, wie auch die Druckprobe mit dem Stock, die – analog zur Mohs’schen Ritzprobe am Mineral – an den Mumien vorgenommen wird, bestätigt. Es ist der Erzähler, der hier das widerständige Material über dessen vormalige Teilhabe an Kultur und über die Konjunktionsfunktion der Schrift in die allumfassende Erosion einbindet: »von dem Gebirge von Arbeiten aus dem Leben Dieser ist ein Blatt Geschichte übrig geblieben, und selbst dieses Blatt, wenn die Jahrhunderte rollen, schrumpft zu einer Zeile ein, bis auch endlich d i e s e verschwindet« (HKG 9.1, S. 60). Ob auch der Zeit-Ort des Einschiebsels Mensch in der Erdgeschichte zum Nichts strebt, ob auch die Erde selbst erodiert, »auf ewig aufhört« und »eine Leiche« wird – wie der Katakomben-Text explizit sinniert –, bleibt unentschieden, als Angstvorstellung aber im Staub und »namenlosen Mode[r]« der Totenstadt präsent (HKG 9.1, S. 58, 56). Die semiotische Radikalität, mit der Stifter in seinen Texten der Erosionsbewegung bis hin zum einzelnen Sandkörnchen, Staubpartikel und noch darüber hinaus folgt, ist selbst im Geologie-besessenen 19. Jahrhundert außergewöhnlich. Sind geologische Beschreibungen und erdgeschichtliche Betrachtungen typische Bestandteile realistischer Raum-ZeitBezüge, so erscheinen sie doch meist eingebunden in ein textinternes Verweisungsnetz, das die Stellung des Menschen in Raum und Zeit stützt, sie nicht erschüttert. So beschreibt Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1889) die typischen Sandflächen der Gegend als landschaftliche Realitätspartikel und bindet sie in kulturhistorische Zusammenhänge ein, ohne dabei auf eine Tiefenzeit zu verweisen,

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die hinter historische Zeitrechnung zurück reichen würde. Wilhelm Raabes Stopfkuchen ist als Liebhaber-Paläontologe dagegen ein ausgewiesener Kenner der Erdgeschichte und erfolgreicher Sammler fossiler Funde. Die gefundenen Knochen wie auch die paläontologische Beschäftigung selbst stehen aber in so engen Verweisungszusammenhängen mit den Beziehungen der in die Mordgeschichte des Stopfkuchens (1890) involvierten Figuren, dass ihre Bezüge auf menschliche Geschichten der aktuellen Generation und derjenigen davor evident sind. Letztlich begrenzen auch die fossilen Funde selbst – es handelt sich insbesondere um Mammutknochen – die Öffnung auf die Tiefenzeit auf einen Rahmen, der auf die prähistorische Zeit verweist und die Bedeutung der Menschheitsgeschichte damit nicht in Frage stellt. Stifters erosives Raum-Zeit-Modell hingegen weist über die Angelegenheiten des Menschen hinaus in einer Radikalität, die selbst vor dem Planeten Erde nicht halt macht.

Frühneuzeitliche Munizipien in religiös-sozialen Hassausbrüchen Raabes »Höxter und Corvey« (1874) und Fontanes »Grete Minde« (1879) Hans-Jürgen Schrader I. Es gibt viele Parallelen zwischen den beiden Erzählungen, die ich hier in ihren Entwürfen von Stadt, Provinz und weiterer Welt, von ständischen, materiellen und konfessionellen Konflikten einander gegenüberstellen möchte, so unterschiedlich auch ihr Erzählprogress entfaltet wird. In der Entstehung und Veröffentlichung liegen beide dicht beieinander. Wilhelm Raabe hat Höxter und Corvey1 1873/74 ausgearbeitet, als er sich 42-jährig schon von den stimmungsbetont spannenden Romanen und Novellen seines Frühwerks abgekehrt und zu seiner bewusst gegen den Zeitgeschmack angeschriebenen anspruchsvoll-sperrigen reifen Erzählkunst hingewendet hatte. Die Erzählung kam jedoch erst 1875 heraus, da die Redaktion von Westermanns Monatsheften sie zweimal hinter neuere thematisch und strukturell leichter verdauliche Arbeiten Raabes zurückgestellt hatte. Theodor Fontane war, als er sich drei Jahre später, 1878, an die Konzeption seiner ersten Novelle, Grete Minde,2 machte – kurz nach der Beendigung des ersten großen Romans, Vor dem Sturm –, zwar schon fast 59, aber in der fiktionalen Prosa nach Jahrzehnten eher feuilletonistischer, _____________ 1

2

Raabes Erzählung zitiere ich wie die gesamte jüngere Spezialforschung nach der den Originaltext kritisch in Lautstand und Orthographie darbietenden, mit ausgewählten Lesartennachweisen und opulenter Kommentierung aufwartenden Edition, Wilhelm Raabe, Höxter und Corvey. Eine Erzählung. Nach der Handschrift von 1873/74 hrsg. von Hans-Jürgen Schrader, Stuttgart 1981, bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003 (= Universal-Bibliothek, Bd. 7729) (im Folgenden zitiert mit der Sigle ›HuC‹ und Seitenzahl). Ich zitiere im Folgenden aus der von Peter Goldammer und Gottfried Erler besorgten Aufbau-Werkausgabe, Theodor Fontane, Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik. In: Ders., Romane und Erzählungen. Bearbeitet von Peter Goldammer und Gotthard Erler. Bd. 3. 3. Aufl., Berlin/Weimar 1984, S. 7–107, Goldammers Kommentar ebd., S. 515–537 (im Folgenden zitiert mit der Sigle ›GM‹ und Seitenzahl).

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lyrischer, balladesker Arbeit noch auf der Suche nach dem eigenen Erzählton, der sich hier jedoch schon kräftig zu melden begann und einen ersten nachhaltigen Erfolg zeitigte.3 In einer ähnlich bildungsbürgerlichen Literaturzeitschrift, Nord und Süd, ist die Novelle 1879 erstveröffentlicht worden. Beide Geschichten also stammen aus der Zeit nach dem Geschichtseinschnitt der preußisch-deutschen Reichseinigung von 1870/71, bereits jenseits des ›Gründerkrachs‹ von 1873, der die nationalen und ökonomischen Illusionen niedergestimmt hatte, beide auch aus den Zenitjahren des Bismarck’schen ›Kulturkampfs‹ mit seiner heftigen Stoßrichtung gegen den politischen Einfluss besonders der katholischen Kirche und seinem Prinzipienstreit um die Durchsetzung staatlicher Dominanz in Schule, Zivilstandsverwaltung und gesellschaftlichem Leben.4 _____________ 3

4

Dieser Durchbruch zum Erfolg wird besonders in den anregenden, auf die Aufdeckung nichtverbaler, bloß andeutungsweise aufgerufener Subtexte (der Verf. spricht von ›Nebentexten‹) ausgerichteten Untersuchungen hervorgehoben, die außer präzisen Detailangaben eine Reihe nützlicher Aufschlüsse bereithalten, selbst wenn man den autorpsychologischen (den Text nicht allemal plausibel aus verdrängten bzw. verschobenen Traumata Fontanes zu erklären suchenden) Ableitungen der Schreibimpulse und Motivgestaltung nicht überall folgen mag: Paul Irving Anderson, Der Durchbruch mit Grete Minde. Ein Probekapitel aus Fontanes Biographie. In: Fontane-Blätter 52 (1991), S. 47–68 – und, entschieden erweitert, ders., Der versteckte Fontane und wie man ihn findet, Stuttgart 2006, S. 145–164 (»Grete Minde und andere Provokationen«); vgl. zu Blickrichtung und Methode ebd., S. 7–10, 137–142. Die Kompositionsdichte und Sorgfalt der motivischen Ausgestaltung dieser in der älteren Forschung oft als noch unreife »Fingerübung« unterschätzten Novelle zeigt eindrücklich die Freilegung eines zentralen Motivstrangs (Vogelmotivik: häusliche Umfriedung vs. Drang in die Weite sowie Machandelboom-Bezüge auf den Erzählschluss, in »Führsflammen ünnergahn«) von Eckart Pastor, Das Hänflingsnest. Zu Theodor Fontanes ›Grete Minde‹. In: Revue des langues vivantes – Tijdschrift voor levende talen 44 (1978), S. 99–110. Einen Abriss der Wirkungs- und Forschungsgeschichte geben Charlotte Jolles, Theodor Fontane. 4., überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 1993 (= Sammlung Metzler, Bd. 114), S. 44–46; Hans Ester, ›Grete Minde‹. Die Suche nach dem erlösenden Wort. In: Christian Grawe (Hrsg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart 1991 (= Universal-Bibliothek, Bd. 8416), S. 44–64, bes. S. 44–51 und (Literatur) 63f.; Helmuth Nürnberger, Fontanes Welt, Berlin 1997, Kapitel »Grete Minde«, S. 298–300. Fontanes schriftstellerische Reaktionen auf die Kulturkampf-Atmosphäre werden in gedrängter Geschichtsübersicht, biographischen Aufschlüssen und Selbstäußerungen sowie weithin plausiblen differenzierenden Werkanalysen in Blick gebracht durch die Monographie von Gudrun Loster-Schneider, Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen 1986 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 11), insbes. S. 216–228 (Kapitel »Sammlungspolitik gegen Reichsfeinde: Katholiken, Separatisten«, v. a. Abschnitt »Zum Kulturkampf«). Dabei wird insbesondere (S. 222f.) auf die in der Publizistik und Dichtung dieser Zeit sonst dominant antikatholische Tendenz hingewiesen, die Fontane (wie auch Raabe) aus Liberalismus und Gerechtigkeitsgefühl, aber auch dem Unbehagen an Bismarcks Gleichschaltungspolitik zu ihren gegenläufigen Sympathielenkungen motiviert haben. Siehe zur historischen Situation und zu den Auseinandersetzungen, auch den belletristischen Kampfschriften für und wider sowie Sympathielenkungen im Geschichtsroman der Zeit (wobei aber weder

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Diese Geschichtskontexte sind deshalb wichtig, weil Fontane wie Raabe indirekt darauf reagieren und durch die lesergerichteten Sympathielenkungen ihrer Erzählungen Stellung beziehen. Unmittelbare Aktualitätsbezüge in der erzählten Welt werden schon dadurch vermieden, dass in beiden Fällen weit zurückliegende historische Sujets gestaltet sind. Beide Geschichten spielen in der Frühen Neuzeit, die im Publikumsgeschmack ohnehin Konjunktur hatte. Raabes forsch hervortretender Erzähler immerhin lässt sich eine direkte pazifistische Geschichtslehre für die Gegenwart am Anfang seiner Geschichte nicht nehmen. Angesichts der seither nur mit Mühe bereinigten Trümmer und Verwahrlosung in der kriegszerschundenen Stadt Höxter, in die er seine Geschichte hineinstellt, mahnt er offen und mit sarkastischem Seitenblick auf die materielle Gesinnung seiner Zeitgenossen, wehe dem, der von neuem frevelhaft seine Hand bietet, die Wände abermals einzustoßen, die Dächer abermals abzudecken und die Türen und Fensterscheiben von neuem zu zertrümmern. Der Gegenwart sei bemerkt, daß das Wiederaufbauen, das Auf- und Einrichten zu allem übrigen stets auch viel Geld kostet. (HuC, S. 3)5

_____________

5

Raabe noch Fontane mit erwogen werden) Günther Hirschmann, Kulturkampf im historischen Roman der Gründerzeit 1859–1878, München 1978, insbes. S. 15–67, 88–130. Zusätzliche Information in Bezug auf Fontane gibt Eda Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹. Katholiken und Katholischsein bei Fontane. Zur Funktion eines Erzählmotivs. In: Fontane Blätter 59 (1995), S. 38–58, hier bes. S. 38–45 und 56f. (Literatur). Die Relevanz für die leserlenkende Stoßrichtung in Raabes Höxter und Corvey habe ich etwas näher als hier möglich umrissen im »Nachwort« zur Textedition, Hans-Jürgen Schrader, ›Höxter und Corvey‹. Tragisches Erleben und humoristischer Freiblick in verworrenen Zeiten. In: HuC, S. 189–213, hier bes. S. 190–195. Die unmittelbar an die eigene Zeit gerichteten Warnungen hält Søren R. Fauth (Der metaphysische Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption in Raabes Spätwerk, Göttingen 2007, S. 203) für nur aufgesetzt und nicht durch die wirklichen Überzeugungen des Autors gedeckt. Denn seine Lektüre, die Raabes Werk mit Schopenhauers Weltsicht überblendet, sieht die von Raabe stufenreich entfalteten Geschichtsevokationen als eine ausweglos bis ins Unendliche fortwirkende »bloße Repetition identischen Geschehens der Vergangenheit« (S. 169), das als »Kampf aller gegen alle – wenn auch im neuen, unblutigen, politischen Gewande – Ende des 19. Jahrhunderts sich wiederholt« (S. 173, vgl. 176), so dass Zeit als ein sich sinn- und endlos drehender Kreis und zerstörerischer Mahlstrom dargestellt werde (S. 176, 185). Eine (periphere) Linderung könne da nur im Sinne Schopenhauer’scher Mitleidsethik die von Lambert Tewes verkörperte opferbereite Tat darstellen (S. 205–215). Mir erscheint die (etwa schon 1970 von Claude David vorgebrachte) Unterstellung eines so radikal pessimistischen und hoffnungstötenden Geschichtsbilds bei Raabe eher als Rückfall hinter schon erreichte differenziertere Analysen, z. B. in den Interpretationen derselben Flut und FlussMetaphorik von Martin Loew Cadonna, Schichtungen des Geschichtlichen. Zum Erzählverfahren in Raabes ›Höxter und Corvey‹. In: JbRG (1985), S. 63–91, hier S. 87, oder Heinrich Detering, Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990 (= Palaestra, Bd. 289), hier S. 87–89. Siehe zur Sache bereits HansJürgen Schrader, Zur Vergegenwärtigung und Interpretation der Geschichte bei Raabe. In: JbRG (1973), S. 12–53, hier S. 49.

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Und diese Mahnung lässt er nach dem geschilderten neuerlichen Ausbruch zerstörerischer Gewalt von einem Sympathieträger seiner Erzählung, dem aus leidvoller Kriegserfahrung friedenfördernden greisen Mönch Heinrich von Herstelle, mit jenen Worten einschärfen, die der Rat der Stadt Braunschweig 1975 auf meinen eigenen namens der RaabeGesellschaft eingebrachten Vorschlag hin auf das Raabe-Denkmal gesetzt hat, das inmitten der ›Traditionsinsel‹ aus im Feuersturm des Zweiten Weltkriegs erhalten gebliebenen alten Häusern am Magni-Kirchplatz errichtet wurde: »hütet Euch fernerhin, Eure Hand zu bieten, noch mehr der Ruinen zu machen« (HuC, S. 75).6 II. In meiner Vergleichung der beiden Erzählungen beschränke ich mich im Folgenden auf die genannten Aspekte des Bildes der Stadt und städtischen Lebens, der ständisch-sozialen Divergenzen und Konflikte, besonders auf Ruchlosigkeiten um materiellen Besitz, schließlich der Hassausbrüche unchristlicher Feindschaft zwischen den Religionsgruppen, jeweils im Blick auf die Verweisungsstrukturen zu politischen Gefahren der eigenen Zeit und die Lenkung der Lesersympathie. Auf die mit Händen zu greifenden Fundamentalunterschiede im Erzählaufbau und Tonfall beider Dichtungen, der von Fontane balladennah intendierten Novelle7 mit ihren stimmungsbetonten Ausmalungen und häufigen (für unseren heutigen Geschmack bisweilen allzu evidenten) symbolischen Überhöhungen – ich _____________ 6

7

Siehe HuC Kommentar, S. 172f., 212; siehe dazu und zu Raabes dieser Erzählung für die Denunziation von Krieg und Missgunst inkorporierten Bildzitaten barocker Kupferstiche von Jacques Callot und Romeyn de Hooghe auch Hans-Jürgen Schrader, Wilhelm Raabe. In: Konstanze Fliedl et al. (Hrsg.), Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Bd. 2, Berlin/Boston 2011, S. 626–631, hier S. 627. Fontane selbst vergleicht gegenüber dem Verleger Hertz die intendierte Stimmung mit der von Storms Aquis submersus und grenzt sie später ab gegen das »kulturhistorisch sein wollende dumme Zeug« der beliebten historistischen Genrebilder, siehe Goldammers Kommentar in Fontane, Grete Minde (wie Anm. 2), S. 526 und 530. Fontanes Selbstäußerungen über das »balladeske Gefühl« beim Konzipieren seiner frühen Novellen sind zusammengestellt bei Pastor, Das Hänflingsnest (wie Anm. 3), S. 107f. Das Balladenhafte in Stoff und Ausführung ist schon hervorgehoben von Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 76–81; siehe Frederick Betz (Hrsg.), Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane, Grete Minde, Stuttgart 1986 (= UniversalBibliothek, Bd. 8176), S. 4f., 20, 59 (gedeutet als Indiz einer Nähe zum Historismus), und Heinz Ohff, Theodor Fontane. Leben und Werk, München 1995, S. 291f., wo das Finale als filmreif aufgefasst wird: »Grete sieht man verletzt, den Knaben an der Hand, hoch oben auf dem Turm von St. Stephan, als dieser in den lodernden Flammen zusammenbricht.« (S. 293). Ähnlich, auch mit skeptischer Tendenz (»Moderne Psychologie und Balladenstil passen nicht zusammen«) Nürnberger, Fontanes Welt (wie Anm. 3), S. 299.

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habe selbst kürzlich auf Analogien des Erzählschlusses zu Raabes Ballade Türmers Töchterlein hingewiesen –8 und der in atemlosen Schauplatzwechseln weit komplizierter gefügten, humoristisch gebrochenen und strängereichen Erzählung Raabes, deren Erzähler in einer willkürlichen Reflexionsposition gegenüber der Handlung der Literaturtheorie des Realismus hohnspricht,9 gehe ich hier gar nicht ein. Die beiden Erzählungen gewidmeten Arbeiten haben diese Aspekte in deren je spezifischer Charakterisierung hinlänglich hervorgehoben. _____________ 8

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Hans-Jürgen Schrader, Der Prosaist als Verseschmied. Werkrelevantes in Raabes Lyrik. In: JbRG (2011), S. 115–139, hier zur Ballade von 1857, Türmers Töchterlein, und zu Stimmungs- und Motivparallelen zum Finale von Fontanes Grete-Minde-Novelle, S. 124–126. Grundlegende Bestimmungen des Erzählverfahrens in Höxter und Corvey in seiner radikalen Opposition zur Konvenienz der realistischen Erzählungen hatte Fritz Martini gegeben, zuerst schon schon 1953 (Fritz Martini, Wilhelm Raabes ›Höxter und Corvey‹. In: Der Deutschunterricht 5 [1953], H. 1, S. 76–92, hier bes. S. 76–83), in noch weit besserer Zuspitzung auf die moderne Verknüpfungskunst des Raabe’schen Erzählens zwölf Jahre später im Nachwort zu einer Werkauswahl Klassische Deutsche Dichtung. Bd. 11: Romane und Erzählungen [Wilhelm Raabe, Höxter und Corvey, Horacker, Stopfkuchen, Die Akten des Vogelsangs]. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Freiburg 1965, S. 648–692, zu Höxter und Corvey S. 657–664, zum Erzählverfahren bes. S. 650–654, 660; auf die Erzählform fokussiert sich auch Catherine Starr Kaiser, Structure and Narrative Technique in Wilhelm Raabe’s ›Krähenfelder Geschichten‹, Diss. phil. [masch.] Brown University, Rhode Island 1974, zu Höxter und Corvey S. 97–133, speziell zur Erzählform S. 105–113. Siehe Schrader, ›Höxter und Corvey‹ (wie Anm. 4), S. 195–198, 206–209. Die eindringlichste Gesamtanalyse der Erzählstrukturen und Darstellungsmittel im Kontrast zu den poetologischen Vorgaben der Realismus-Theoretiker (namentlich Friedrich Spielhagen und Otto Ludwig) wurde seither vorgelegt von Loew Cadonna, Schichtungen des Geschichtlichen (wie Anm. 5), S. 63–91. Wichtige Weiterführungen eröffnen die brillanten Monographien von Detering, Theodizee und Erzählverfahren (wie Anm. 5), hier S. 167–177, knappe Charakterisierung des Erzählverfahrens S. 169, ferner insbesondere Fauth, Der metaphysische Realist (wie Anm. 5), S. 159–215. Diese wichtige Arbeit liefert eindringliche Analysen des Erzählprozesses (insbes. S. 159–165, 168–170, 181– 184, Wendung gegen Spielhagen S. 187, 191), die aber allzu einlinig auf die meist überzeugend ausgewiesenen, zuvor unentdeckten Schopenhauer-Bezüge hin ausgelegt werden, als bedeute ein Umspielen (auch, neben vielen anderen) seiner Gedanken und Bilder zugleich eine durchgängige Propagierung seines Weltbilds mit poetischen Mitteln (eine Vorversion dieses Kapitels hatte Fauth unter dem Titel Schopenhauers Philosophie als dominanter Hypotext in Raabes Ezählung ›Höxter und Corvey‹ bereits publiziert im JbRG [2001], S. 79–118). Siehe die sehr zustimmende, die Erträge auf den Punkt bringende Rezension des Buchs durch Helmut Koopmann im JbRG (2009), S. 166–172, die doch einen gewissen Systemzwang in der konstatierten »Allpräsenz« Schopenhauers bemerkt, wenn der »Modephilosoph der gebildeten Welt« dieser Epoche als einzig »dominanter Hypotext im Spätwerk Raabes« gesehen wird (S. 166, 168, 171f.). Zu Raabes eigenwillig-subjektivem, im mittleren und Spätwerk zunehmend beziehungsreicherem Erzählmodus siehe allgemeiner Hans-Jürgen Schrader, Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an ›Alte Nester‹. In: JbRG (1989), S. 1– 27, bes. (im Vergleich zu den normativen Vorgaben Friedrich Spielhagens) S. 22–26; sowie Horst Denkler, Wilhelm Raabe. Legende – Leben – Literatur, Tübingen 1989, S. 187–205 (»Freies Spiel nach den Regeln der Kunst«); auch Hans-Jürgen Schrader, Autorfedern unter Preß-Autorität. Mitformende Marktfaktoren der realistischen Erzählkunst – an Beispielen Storms, Raabes und Kellers. In: JbRG (2001), S. 1–40, zu Raabe S. 22–34, zum experimentellen Erzählen S. 30–34.

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In der Forschung besteht Einigkeit, dass beide Autoren ihre Leserschaft wohl beim modischen historistischen Interesse am Geschichtsdetail und an der geschichtlichen Gewordenheit des Gegenwärtigen abholen, dass sie aber trotz beidseitig intensiver Bemühung um quellenmäßige Absicherung des Zeitkolorits, der Schauplätze und selbst etlicher Namen von Ratsherren oder Geistlichen keineswegs mit erzählerischen Mitteln historischen Faktenunterricht liefern wollten.10 Offenbar geht es eher um das Modellhafte in Psychologie und Verhaltensnormen, also die Triebkräfte und teilweisen Berechenbarkeiten mitmenschlichen Verhaltens in stets wirren, verhetzten und friedlosen Zeiten. Städtisches Leben und innerstädtsche Konflikte in der aus dem Mittelalter überkommenen Ständeordnung, nun aber vermehrt auch in der pekuniären Verwerfung zwischen den Reichen und den Besitzlosen und andererseits zwischen den jeweils alle Wahrheit für sich beanspruchenden Glaubensparteien hatten zunächst beide Autoren an Querelen kurz nach dem Ende des verwüstungsreichen Dreißigjährigen Krieges in Mittelstädten entfalten wollen, die an die Peripherien der Auseinandersetzungen ihrer Zeit geraten waren. Raabe wählt dazu eine Episode am Ende des sogenannten »Bierkriegs von Höxter« 1670–1674, in der der Münsteraner Bischof und Landesherr die durch Reformation und Religionskrieg obstinat gewordene majoritär protestantische Bürgerschaft mit der Hilfe einquartierter französischer Bündnistruppen unter seine Obödienz, ökonomische Vorrangstellung, aber auch unter sein geistliches Regiment und zum alten Glauben zurückzwingen wollte.11 Wie er die Situation der verworrenen Zeit und seine Protagonisten als deren exemplarisch geschichts-geschundene Exponenten verstanden sehen will, bringt er im Zweiten Kapitel auf den Begriff: von der welschen Besatzung in den Häusern und auf den Gassen bis zum äußersten in alles Elend und alle Wut hineingequält – widerspenstige Untertanen Seiner Bischöflichen Gnaden von Münster, hungrige Bürger der guten »Munizipalstadt Höxar« – kurz, armes, notdürftiges, geplagtes, verwirrtes deutsches Volkswesen, wie es aus dem Trümmerschutt des Religionskrieges aufwuchs gleich den Wurzelsprossen um einen gefällten Baum – es sah eben böse aus in

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11

Der Raabe-Erzählung Höxter und Corvey hat Helmut Koopmann in seiner Rezension der Habilitationsarbeit Søren Fauths (wie Anm. 9, S. 169f.) zu Recht sogar die größte überhaupt denkbare Entfernung zu den Intentionen des Historismus zugeschrieben; siehe die entsprechenden Ausführungen im besprochenen Buch, Fauth, Der metaphysische Realist (wie Anm. 5), S. 186–192, aber auch schon Loew Cadonna, Schichtungen des Geschichtlichen (wie Anm. 5), S. 70–80; Detering, Theodizee und Erzählverfahren (wie Anm. 5), S. 168. Ausführlichere Analyse der evozierten verworrenen Geschichtssituation in Schrader, ›Höxter und Corvey‹ (wie Anm. 4), bes. S. 198–206. Die historische Auseinandersetzung in Höxter hatte sich am für Raabes Erzählen bedeutungslosen Entzug der Braurechte entzündet (ebd., Kommentar, S. 114f., 200).

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Höxter nach dem Abmarsch der hohen französischen Alliierten! – – – (HuC, S. 10)

Auf dieser Grundlage weist Raabe Schritt für Schritt aus, wie aus den Keilereien zwischen einerseits noch halbwegs Begüterten und neiderfüllten Habenichtsen, andererseits zwischen den gegeneinander hetzenden Katholiken und Lutheranern, die jeweils angetrieben werden durch eigensüchtige Interesselagen der verschiedensten lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Machtfaktoren und Soldatesken, geradezu gesetzmäßig ein gemeinsames Losschlagen gegen die Rechtlosesten im Gemeinwesen entbrennt, die von allen Parteiungen als vermeintlich Fremde und gesinnungslose Schmarotzer verhasste kleine Minorität der Juden. So entwirft er nicht nur eine historisch exemplarische Pogromanalyse,12 sondern auch die für mich überzeugendste Toleranzerzählung des 19. Jahrhunderts. ›Nun auf die Juden!‹ Wer bei Sankt Niklas das Wort zuerst in die durcheinandertobende und im Unheil gemeinschaftliche Sache und Bruderschaft machende katholische und lutherische Menge warf, ist niemals historisch-klar geworden […] Gegen die Juden ging es; – hier war das tertium comparationis […] richtig gefunden. Der Pöbel hatte sich zuerst gegen das Haus des Meisters Samuel gewälzt […]. (HuC, S. 64)13

III. Ganz gleichartig geht es auch in der Stadt, die Fontane in Grete Minde lebendig werden lässt, um eine Gemengelage aus ökonomischen und religiösen Auseinandersetzungen, in denen Missgunst und Hass ihr zerstörerisches Potential entfalten. Ebenfalls als ein »Sitten- und Charakterbild aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege«, aus derselben Phase also der allgemeinen Verelendung und Erschöpfung in einer bereits kriegszerstörten, entvölkerten und ausgebluteten Provinzstadt, hatte er dem Nord und _____________ 12

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Darauf hingewiesen hat bereits Dieter Arendt, ›Nun auf die Juden!‹ Figurationen des Judentums im Werk Wilhelm Raabes. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 19 (1980) H. 4, S. 108–140, zu Höxter und Corvey S. 128–134, hier S. 132f.; siehe Horst Denkler, Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum. In: Hans-Otto Horch und Horst Denkler (Hrsg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Teil 2, Tübingen 1989, S. 148–168. Die detaillierteste Information zur realhistorischen Situation der Juden in Höxter seit dem Mittelalter gibt die Monographie von Jörg Deventer, Das Abseits als sicherer Ort? Jüdische Minderheit und christliche Gesellschaft im Alten Reich am Beispiel der Fürstabtei Corvey, Paderborn 1996 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 21), für die Situation nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Emanzipation S. 85–147. Siehe analog HuC, S. 33, 91.

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Süd-Herausgeber Paul Lindau noch im Mai 1878 seine geplante »altmärkische Novelle« angeboten, lokalisiert in der Stadt, die dem als Kontrastschauplatz offenbar bereits geplanten adligen Damenstift von Arendsee am nächsten liegt: Ort: Salzwedel; Zeit 1660; Heldin: Grete Minde, Patrizierkind, das durch Habsucht, Vorurteil und Unbeugsamkeit von seiten ihrer Familie, mehr noch durch Trotz des eigenen Herzens, in einigermaßen großem Stil, sich und die halbe Stadt vernichtend, zugrunde geht.14

Dann jedoch hat er sich entschlossen, das Zeitgemälde um eineinhalb Generationen in jene Epoche und an den Ort zurück zu verlagern, für die es die Geschichtsquellen historisch verbürgen, ins brandenburgische Tangermünde, das durch den »Grete-Minde-Brand« des Jahres 1617 großenteils in Schutt und Asche gelegt worden war. Um sich mit dem städtischen Ambiente und den einzelnen Schauplätzen frisch und im Detail vertraut zu machen, auf die ihn die Geschichtsquellen verwiesen und die er von einer märkischen Wanderung Ende Septeber 1859 nur mehr vage in Erinnerung haben mochte, hat er nach einer Visite im Frühling desselben Jahres nochmals im Juli 1878, seine Wernigeröder Sommerfrische für zwei Tage verlassend, eine »Parforce-Tour« über Magdeburg hinaus in den Mündungsort der Tanger in die Elbe unternommen.15 Die grundlegenden Konstellationen für exemplarische deutsche Gemeinwesen der frühen Neuzeit bleiben dennoch in beiden Erzählungen weithin dieselben, ob sie nun vor oder nach dem Großen Krieg, im Hü_____________ 14

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Fontane an Paul Lindau, 6. Mai 1878. In: Betz, Erläuterungen (wie Anm. 7), S. 33; siehe zum Quellenbezug und zu Fontanes radikaler Umformung ebd., S. 24–28. Dazu auch Goldammer, Kommentar (wie Anm. 2), S. 515f., der zugleich den besten Aufschluss der Erzählentwürfe und Entstehungsschritte der Novelle bereitstellt (ebd., S. 518–526). Fontane an den Sohn Theo, 11. Juli 1878, siehe Betz, Erläuterungen, S. 30. Genaue Datierungen seines schon früheren Besuchs in Tangermünde im September 1859 und dieses neuerlichen, die Wernigeröder Ferien für nähere Grete Minde-Recherchen unterbrechenden Blitzbesuchs am 10. Juli 1878 gibt mit Erwägungen seines zeitgeschichtlichen Interesses bei diesem Rekognoszieren (von der Stadtmauer Tangermündes bei klarer Sicht möglicher Blick auf das Bismarck-Gut Schönhausen) die Untersuchung von Anderson, Der versteckte Fontane (wie Anm. 3), S. 141, 154, 160–164. Nürnberger, Fontanes Welt (wie Anm. 3), S. 298, weist aber darauf hin, dass die Reise von 1859 nicht Fontanes ersten Eindruck von Tangermünde gebracht hatte, sondern schon auf der ersten Anreise nach London 1844 seine Elbschifffahrt »bei Tangermünde, wo Reste einer aus den Tagen Karls IV. herstammenden Burg aufragen«, deren er in Von Zwanzig bis Dreißig gedenkt. Bei Roland Berbig (Theodor Fontane Chronik, Berlin 2010) findet sich eine so frühe Tangermünde-Berührung nicht, neben der Reise mit Wilhelm Lübke 1859 und der »Parforcetour« von Wernigerode aus im Juli 1878 mit Besichtigung der Tangermünder Kirche, Burg und Rathaus vermerkt er aber einen kurzen Lokaltermin bereits im März 1878 und datiert im selben Jahr das Studium von Friedrich Wilhelm Holtze ausgeliehener Städtebeschreibungen (ebd., Bd. 2, S. 1004, und Bd. 3, S. 2101, 2107, 2126).

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gelland der Weser oder in den nicht einmal 200 km entfernten Elbauen angesiedelt sind. Um derart exemplarische Orte als Aktions- und Bewährungsfeld der Menschen geht es in beiden Fällen, nicht um das Nachzeichnen spezifischer Stadtgeschichte. Als Erbübel der deutschen Geschichte werden den seit der Reichseinigung durch Gründerkapitalismus und neu hochgeputschte Auseinandersetzungen der Religionsgruppen abermals zerstrittenen Deutschen die lieblos besitzmehrende Habgier und der vorurteilsgestützt-hasserfüllte Konfessionalismus vor Augen gestellt, bei Raabe kommt hinzu noch der ebenfalls neuerlich gefährdende Krebsschaden innerdeutscher Friedlosigkeit, dass immer wieder für dynastische Partikularinteressen fremdländische Mächte und Militärs zerstörerisch ins Land gerufen wurden. Tonangebende Metropolen, auf die hin die Provinz in Faszination und beharrlicher Abwehr bezogen wäre, gibt es nicht in beiden Erzählungen, denn Großstädte wie London, Paris oder Amsterdam hatten sich in der frühen Neuzeit auf deutschem Boden noch nicht herausgebildet. In ihrer relativen Autonomie, im Falle Höxters und Tangermündes noch gesteigert durch die konfessionelle Divergenz der Bevölkerung zum fern residierenden Landesherrn, waren die ratsregierten Munizipien selbstgenügsames Zentrum und Provinz zugleich. Beschrieben werden trotz gelegentlicher Nennung von Straßen und repräsentativen Bauten, des Rathauses und der Kirchen, weit weniger die Lokalitäten als die von den kriegerischen und ökonomischen Wirren der Zeit und von absolutistischem Machtstreben bedrohte mittelstädtische Lebenswelt. Beides sind Ackerbürgerstädte, mit Gebäuderuinen, Raum für Scheunen, Gärten und Kleinvieh bis in die Zentren hinein, Tangermünde durch schleichenden wirtschaftlichen Niedergang seit der spätmittelalterlichen Blütezeit, Höxter durch die Zerstörungen des Großen Krieges und noch der jüngsten Franzosenbesatzung. Auffällig ist, dass Ansätze zur Beschreibung der Stadt in Fontanes Novelle, die doch die Landschaftswahrnehmungen Gretes und Valtins16 bei ihren Ausbrüchen über die Stadt hinaus, in die verwilderten Idyllen rings um die Elbe und um Arendsee stimmungsbetont romantisierend ausmalt, erst ganz zum Schluss gegeben werden – ein Inventarisieren des schon von Feuerschein-Symbolik umlohten Ensembles aus Vorstadt und Gärten, Marktplatz unter der Hauptkirche St. Stephan und Rathaus, in Gretes Abschied nehmender Wahrnehmung beim Gang vor den in ihrem Erbstreit anzurufenden Rat und dann im Gang zu ihrer die Rechtsver_____________ 16

Die biographistischen Spekulationen zur vermeintlich das Trauma jugendlichen Liebesfrusts abarbeitenden Namenswahl (in Bezug auf den der Liebe geweihten Valentinstag) bei Anderson, Der versteckte Fontane (wie Anm. 3), S. 151–154, gewinnen für mich ebenso wenig erläuternde Plausibilität wie der Bezug von Gutzkows Selbsttötung auf die kalkulierte Selbstvernichtung in Grete Mindes novellenbeschließender Amoktat (ebd., S. 145–149).

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weigerung rächenden Zerstörungstat. Bei Raabe dagegen werden die städtischen Kirchen, Häuser, Ruinen, Brandstätten anstelle einer Beschreibung durch die häufigen hektischen Schauplatzwechsel vergegenwärtigt, die das atemlose Verfolgen gleichzeitig ablaufender Unfriedens-Taten der verschiedenen Parteien und Volkshaufen dem Erzähler und seinem mit fortgeschleppten Leser aufnötigt, und dann vor allem in der GegeneinanderKomposition der zerstörten, überwiegend lutherischen Stadt mit der nahen, unter der Obödienz des bischöflichen Landesherren katholisch gebliebenen Abtei Corvey, die noch nicht wie im »Heute« durch »eine schöne Kastanienallee« mit Höxter verbunden war, sondern nur erreicht werden konnte auf einem »Pfad, vom Kriege kahl gefressen, die Weser entlang« (HuC, S. 37), und in der »die Mauern noch heil und die Türen nicht ausgehoben oder eingeschlagen waren« (HuC, S. 42). In Fontanes Erzählung herrscht noch die alte patrizische Ordnung, mit in den ratsfähigen Familien über Generationen hin vererbten Ämtern und Einflusspositionen im Stadtrat, der in der zur Katastrophe führenden Sitzung quellengestützt namentlich Revue passiert: Zuoberst Peter Guntz, und zu beiden Seiten neben ihm: Caspar Helmreich, Joachim Lemm, Christoph Thone, Jürgen Linstedt und drei, vier andre noch. Nur Ratsherr Zernitz hatte sich mit Krankheit entschuldigen lassen. An der andern Schmalseite des Tisches aber wiegte sich Gerdt [Minde] auf seinem Stuhl, dasselbe Aktenbündel in Händen, in dem er gestern gelesen hatte. (GM, S. 100)17

Doch zeigt sich diese oligarchische Ordnung schon versteinert und degeneriert. Aus Gewohnheit und Bequemlichkeit wird der zu Beginn der Erzählung bereits greise und amtsmüde Bürgermeister Peter Gunz stets von Neuem gewählt und muss noch amten, als sie sechs Jahre später endet. Und Gerdt Minde, der Sohn des Ratsherrn und wirkungsreichen Kaufmanns Jacob aus erster Ehe mit einer stocksteifen Stendalerin,18 der ältere Halbbruder der aus der zweiten Ehe mit der aus Brügge mitgebrachten _____________ 17 18

Siehe auch die Kommentare zur Quellenallusion der Namen im Kommentar von Betz, Erläuterungen (wie Anm. 7), S. 8, 10f., 23. Anderson, Der versteckte Fontane (wie Anm. 3) hat sich entgehen lassen, den häufigen Spott der Tangermünder auf die humorlos-überhebliche und bellizistische Sturheit der (wie Trud) aus Stendal Stammenden als möglichen weiteren Seitenhieb gegen Bismarck zu vermerken, dessen Stendaler Familienabkunft vor der Übersiedelung nach Schönhausen bei Tangermünde er doch (ebd., S. 160) vermerkt. Sehr viel ausgewogener zu Fontanes in den verschiedenen Lebensetappen und Werken stark schwankendem Verhältnis zu Bismarck (und in den Argumenten seiner partialen Faszination, andererseits jedoch auch Abneigung) ist das Kapitel »Bismarck« bei Loster-Schneider, Der Erzähler Fontane (wie Anm. 4), S. 236– 257; siehe auch das Stichwort »Bismarck« in Stefan Neuhaus, Fontane-ABC, Leipzig 1998 (= Reclam-Bibliothek, Bd. 1631), S. 22–24, und den Abschnitt »Bismarck« bei Nürnberger, Fontanes Welt (wie Anm. 3), S. 379–382, 424.

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feurig-schönen Spanierin19 stammenden Grete – die Halbverwandtschaft und Halbverschiedenheit Gerdts und Gretes wird schon durch das entgleisende Anagramm beider Vornamens symbolisiert –, repräsentiert zwar »das älteste Geschlecht und das vornehmste, wirkliche Kaufherren, und seit Anbeginn im Rate der Stadt« (GM, S. 39), er wird aber als stumpf und träge, feige und krankhaft geizig gezeichnet. Das lustlose Durchblättern des Aktenfaszikels vor der Ratssitzung (siehe GM, S. 94) ist die einzige Tätigkeit, die von ihm berichtet wird. Sein namenlos bleibender Sohn, Vorwand für alle Demütigungen Gretes und fürs Vorenthalten ihres Erbes (»In meines Vaters Haus ohne Heimat! […] ohne Liebe!«; GM, S. 48) und schließliches Opfer ihrer Amok-Rachetat, ist von Geburt an kränklich und kaum lebensfähig. Das vorteilhafte Einheiraten in vornehmvermögende Häuser ohne einen Funken von Liebe, das Zurschaustellen der Familienwürde und Wohlhabenheit, zugleich der angestammten Frömmigkeit und Reputierlichkeit, die fremdenfeindliche Wahrung der vorteilssichernden Traditionen (»unser tangermündisch Tun und Lassen«; GM, S. 20), dazu und vor allem Bewahrung des angeheirateten Erbes gegen Ansprüche aus direkter Deszendenz scheint das einzige Absinnen der Patrizierfrauen – so unterschiedlich die unfroh-verklemmte Trud Minde und ihre egoistisch-lebensfreudige Nachbarin Emrenz Zernitz sonst auch gezeichnet werden. Die angstvoll erwartete Visitation von Stadt und Kirche durch den für einen Tag aus seiner Residenz Cölln an der Spree einkehrenden und die Vornehmen der Stadt zu einem Hoffest ladenden brandenburgischen Kurfürsten ist natürlich ein Gala-Anlass zur Ostentation der tangermündischen Rangordnung. Fontanes Erzähler, der die Ausmalung dieses Anlasses zur Adaption einer (wie bei Raabe) Zeitkolorit gewährenden Chroniksprache nutzt, kann die Ironie in der Schilderung des Aufzugs zu diesem Fest, bei dem natürlich die trotz ihrer ständischen Ebenbürtigkeit ausgegrenzten Familienmitglieder Grete und Valtin nicht geladen werden, nicht verhehlen: um die vierte Stunde bewegte sich der Zug der Geladenen, Männer und Frauen, die Lange Straße hinab, zur Burg hinauf. Die kleineren Bürgersfrauen aber, die von der Festlichkeit ausgeschlossen waren, sahen ihnen neidisch und spöttisch nach, und nicht zum wenigsten, als Trud und Emrentz an ihnen vorüberzogen. Denn beide waren absonderlich reich und prächtig gekleidet, in Ketten und ho-

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Die Interpreten fassen dies, ohne dass die Novelle dafür irgend Anlass gäbe, zumeist als eine Metapher bloß für die Herkunft aus den Spanischen Niederlanden auf. Gerade durch die Zugehörigkeit Flanderns zur habsburgisch-spanischen Monarchie wohnten in der Handelsmetropole Brügge aber auch viele spanische Familien, mit denen der Kaufmann Jacob Minde in Kontakt kommen musste; die schwarzhaarig-temperamentvolle, auch im Gesichtsschnitt als fremd empfundene Schönheit, als die Gretes Mutter beschrieben wird, entspricht jedenfalls kaum dem Stereotypbild einer Flämin.

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hen Krausen, und Emrentz, aller Julihitze zum Trotz, hatte sich ihr mit Hermelinpelz besetztes Mäntelchen nicht versagen können. Truds Kleid aber stand steif und feierlich um sie her und bewegte sich kaum, als sie, zur Rechten ihrer Muhme, die Straße hinunterschritt. (GM, S. 54)

IV. Dem Bürgermeister und Rat der Stadt Höxter in Raabes Erzählung sind in der Zeit nach den Kriegsverheerungen und angesichts der wieder einmal aufrührerisch gegeneinander losschlagenden Bevölkerung mit dem Wohlstand auch der unangefochtene Rang und die Vornehmheit weitgehend abhanden gekommen. Als Interessenvertreter der lutherischen Bevölkerungsmehrheit versuchen sie gleichwohl Gravität, Tradition und selbst die grausamsten Stadtrechte aus der Zeit einer fast vollständig erstrittenen Autonomie gegen den all dies bestreitenden, im fernen Paderborn residierenden bischöflichen Landesherrn und gegen dessen klösterlichCorveysche Stadtpolizei zu wahren – gestützt auf den Schutzvertrag mit dem am gegenüberliegenden Weserufer lagernden Herzog von Braunschweig zugunsten seiner Glaubensbrüder. Evoziert wird auch dieses nicht ohne Ironie, sogar unter Verwendung wörtlicher Quellenzitate: Auch der Bürgermeister von Höxter, Herr Thönis Merz, war Partei. Man hatte von katholischer Seite, um ihn und seine ›arme gute Stadt‹ unter die Botmäßigkeit des Stiftes und des Herrn Fürstbischofs zu bringen, ihm und ihr mit Schikanen und sogar auch Handgreiflichkeiten arg zugesetzt. Seine Berichte und Klageschriften an den Schutzherrn zu Wickensen schrieen laut genug darob. […] ›Die gute, uralte Stadt Höxar, welche umb ihrer Gerechtsamen und ihrer heiligen Religion halber Leib, Gut und Blut verloren, wird nunmehro als das geringste Dorf gehalten. Ihre Schlüssel sind ihr benommen, in ihrem guten Rechte, sich selber einen Scharfrichter zu halten, ist sie turbiret. Selbst das Judengeleit, so die Stadt doch vor und nach Anno 1624 gehabt, ist ihr auch wieder weggenommen, daß anitzo ein Hauffen Juden alle in bürgerlichen Häusern allda wohnen, ihren Wucher treiben und dennoch der Stadt nichts geben!‹ (HuC, S. 24f.)20

Auch hier wird das Bild der städtischen Ordnung – oder vielmehr Unordnung – mit einer quellengestützten Liste des ganzen genüsslich in seinen wenig erhaben klingenden niederdeutschen Namen und kuriosen Funkti_____________ 20

Zur Bedeutung des im Westfälischen Frieden für die konfessionellen Rechtsverhältnisse festgesetzten »Normaljahrs« 1624 s. u., Anm. 28, für die städtischen Ansprüche auf das einträgliche Judengeleit den Kommentar (wie Anm. 4), S. 143–147, 178. – Zum während des »Bierkriegs« letztmalig von Bürgermeister und Rat Höxters gegen den Fürstbischof geltend gemachten »Anspruch auf das Judenregal«, ehe sie »das alleinige und unbeschränkte Schutz- und Geleitrecht des Landesherren« endgültig anerkennen mussten, analysiert (mit Abdruck von Auszügen aus den von Raabe genützten und zitierten oder alludierten Quellen) Deventer, Das Abseits als sicherer Ort? (wie Anm. 12), S. 88f.

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onen vorgestellten Ratspatriziats ausgemalt, das sich in corpore zwischen die streitenden Volkshaufen wirft, aber freilich nicht Frieden stiften oder auch nur den Streit beruhigen kann, sind doch die Magistrate, die »Ältesten und Würdigsten der Gemeinde«, ebenso wie die Gesamtbevölkerung und die von fernher ins Gemeinwesen hineinregierenden Truppen und Potentaten selbst Partei: Ächzend kam er, Thönis Merz der Bürgermeister, und mit ihm die andern: Caspar Albrecht der Senator, und Jobs Thielemann und Heinrich Kreckler und Hans Jacob zum Dahle, und Hans Freisen und Hans Sievers und Hans Trope und Hans Heinrich Wulf und Henrich Voßkuhl und Adam Sievers, die Dechanten von den Gilden, und Konrad Kahlfuß, der Gemeinheit Meister! Sie erschienen, um Ordnung zu stiften […]. (HuC, S. 52)21

Den Aufruhr und die blindwütige Keilerei der Lutheraner wider die Katholischen und umgekehrt und dann beider zusammen, »Ketzer und Katholiken, in brüderlicher Eintracht über die Juden« und dann noch ein zweites Mal »Arm in Arm gegen die Jüden« (HuC, S. 63),22 können sie nicht beenden, erhofft sich doch der »Pöbel« (HuC, S. 49) beider Konfessionen noch Wertsachen, nachdem die für diesmal als Einzige in der Stadt zu Tode gewürgte alte Leah ein Bündel mit ihrer ärmlichen Familienerbschaft heimgetragen hatte. Das Weltvollste darin erweist sich als [a]rmselige Wäschestücke, wohlfeile zinnerne oder bleierne Schaumünzen […] – ein halbverbranntes hebräisches Gebetbuch mit silbernen Beschlägen und sieben Stück schlechter Löffel! Eine Halskette von böhmischen Glasperlen mit einem kupfernen Kreuz und ein zusammengedrückter winziger silberner Becher. (HuC, S. 82)23

Nicht einmal die Stadtregierung zeigt sich wirklich interessiert, die Wendung des Aufruhrs gegen die Juden zu unterbinden, verspricht sie sich doch reichen materiellen Gewinn womöglich durch die Rückeroberung der einträglichen Judengeleit-Steuer, die der Bischof an sich gerissen hatte _____________ 21

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Im Kommentar (HuC, S. 160) habe ich dagegen die realen Namen abgedruckt, die Raabe in seiner Quelle (H[einrich] Kampschulte, Chronik der Stadt Höxter, nach gedr. und ungedr. Quellen, Höxter 1872, S. 152f.) vorgefunden hat, wobei deutlich wird, wie er in Auswahl und Umformung das Provinziell-Kuriose und Ungehobelte dieser Ratsmannen hervorheben wollte. Siehe HuC Kommentar, S. 168: Seit der 4. Ausgabe der Erzählung (1902) verschärfte Raabe die Aussage, indem er statt »in brüderlicher Eintracht« einsetzte »in christlicher Eintracht über die Juden«. Siehe die Serie der Erwähnungen dieses Erbschaftsbündels der Kröppel-Leah als Motiv, sie zu überfallen (HuC, S. 16, 18, 31f., 67 und 70). Fauth, Der metaphysische Realist (wie Anm. 5), S. 172, zeigt überzeugend, wie das Bündel der Leah eines der Mittel zur Verschränkung der Geschichtsetappen wird.

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– andernfalls aber wenigstens durch das Vertreiben dieser doch allenfalls um dieses finanziellen Nutzens willen geduldeten Minorität. Für das von Habsucht, Neid und religiös verbrämtem Hass der verschiedenen Wir-Gruppen auf die je Anderen angetriebene gemeine Volk, »Germaniens gräulige Brut« (HuC, S. 55), verwendet Raabe wiederholt Flutmetaphern, in Parallele zu sporadisch ausbrechenden Naturgewalten – Bilder einer Gärungsexplosion und einer Weserüberflutung: In der Stadt war längst alles auf den Beinen! Der Grimm musste heraus; und jetzt hatte eben die Gärung den Zapfen aus dem Spundloch getrieben: sinnverwirrend ergoß sich die trübe Flut […]. Auch die Frauen befanden sich in den Gassen, und das war das Allerschlimmste. Sie, die Weiber hatten von der französischen Einquartierung zu leiden, und zwar in mehr als einer Weise, und wahrhaftig mehr als die Männer […] wenn sie […] hervorgezogen wurden, um die tägliche und nächtliche Lustbarkeit durch ihre Gegenwart zu verschönen. Nun kamen sie von ihren leeren Speiseschränken, versudelten Betten, verschweinigelten Fußböden und suchten ihrerseits die geeigneten Persönlichkeiten und Zustände, an denen sie ihren Grimm und Groll auslassen konnten. Katholikinnen wie Lutheranerinnen waren sich darin einig, dass ein mehreres gesagt und getan werden müsse, ehe es wieder Ruhe und Anstand in Höxter geben könne (HuC, S. 48f.) – Wann die Hochwasser sich verlaufen haben, dann hängt der Schlamm noch für lange Zeit an den Büschen und überdeckt Wiesen und Felder, und es bedarf mehr als eines klaren Regens und heitern Sonnenscheins, um das Land der Wüstenei wieder zu entledigen. Und wenn die Flut gar in die Städte und Stuben der Menschen drang, dann ist das, was sie hineintrug und zurückließ, gleichfalls nicht so bald ausgekehrt und vor die Türe abgefahren. (HuC, S. 88)

So bleibt auch dem Rat nach der wieder einmal so sinn- wie fruchtlosen Emeute nur übrig, selbst mit gutem Vorbild voranzugehen und zum Putzzeug zu greifen: Der Bürgermeister von Höxter aber hub eben an, die Gassen seiner Stadt nach dem französischen Abmarsch zu kehren; – er, Thönis Merz, hatte des guten Exempels halben selber einen Besen genommen und den zweiten Herrn Wigand Säuberlich höflich in die Hand genötiget. (HuC, S. 99)

V. Sarkastisch zur Warnung an die eigene Epoche sind hier also am exemplarisch gesetzten Munizipium als immer wiederkehrende Schäden der deutschen Geschichte der Neuzeit interne Zwietracht durch ständische und insbesondere konfessionelle Auseinandersetzungen, durch Habsucht und rechtlose Bereicherung und externe Bedrohung herausgestellt, die im par-

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tikularen oder dynastischen Interesse, oft wiederum kaschiert zur Verteidigung des rechten Glaubens, ins Land gezogen wurde.24 Schaut man sich die erzählerische Sympathielenkung an, wird deutlich, dass der selbst ja lutherische Autor nicht nur die Beförderer des Ausgleichs zu Sympathieträgern macht, sondern zugleich die in der aktuellen Situation seiner Siebzigerjahre Geschmähten und in ihren Rechten Angefochtenen: die Juden und die Katholischen. Die Familie Samuels, Leah und Simeath, werden dem Mitgefühl der Leserschaft schon als lebenstapfere unschuldig Geschmähte, aus zynischer Schadenfreude Malträtierte und dann aus mörderischer Habgier Beraubte und Massakrierte anempfohlen. Die mit herkömmlichen Motiven der Mönchskomik ausgemalte Sphäre des Klosters Corvey nebst seiner verschlafenen in Höxter stationierten Wachmannschaft, ein Halbidyll, in dem man in karger Zeit pfiffig einen Rest kulinarisch-behaglichen Wohllebens zu erhalten weiß und das kriegerische Weltgetümmel ebenso wie die kriegstreibenden Anordnungen des Bischofs ignoriert, solange es geht, ist der streit-, gewinn- und machtsüchtigen Friedlosigkeit in Höxter entgegen komponiert. Der eigentliche Sympathieträger ist hier der Bruder Henricus, der durch die Kriegserfahrung seines Lebens weise geworden, herzensfromm und auf politischen Ausgleich bedacht ist. Ihm freundschaftlich zugeordnet ist auf lutherischer Seite einzig der jugendlich ungestüme Jüngling Lambert Tewes, der als relegierter Studiosus sowieso außerhalb der städtischen Ständeordnung steht und »in des Säkulums Pläsier und Jokosität« »auf keiner Seite Partei nahm, sondern auf jeder sein Vergnügen« (HuC, S. 49, 54). Erst wenn die Brutalität des Pöbels viehisch wird, hört ihm der Spaß auf, und er ergreift beherzt Partei zugunsten der Schwächeren und unschuldig Attackierten, »hier für Juda und Israel« (HuC, S. 93). Neben seinen Fäusten weiß er seinen sonst nur für schräg übersetzte Verse benützten HorazSchweinslederband als Waffe und Wurfgeschoss gegen die Mordbrenner einzusetzen – geradeso wie Bruder Henricus sein aus den Hussitenkriegen ererbtes Schwert.25 _____________ 24

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Für die Entwicklung von Raabes politischen Überzeugungen ist noch immer grundlegend Helmut Richter, Einleitung. In: Wilhelm Raabe, Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Peter Goldammer und Helmut Richter. Bd. 1, Berlin/Weimar 1966, S. 5–147, darin besonders das Kapitel »Raabe und das Wilhelminische Reich« (S. 106–130), allerdings ohne spezifisches Eingehen auf den Kulturkampf. Siehe ergänzend Denkler, Wilhelm Raabe (wie Anm. 9), S. 182–187. Vgl. HuC, S. 78, 82. Auf die symbolische Relevanz beider Requisiten hat schon Kaiser, Structure and Narrative Technique (wie Anm. 9), S. 124–126 hingewiesen. Siehe die detailliertere Auslotung der Mechanismen der Sympathielenkung mit dem Ziel der »Verbindung des Humoristischen mit dem Humanen« in Schrader, ›Höxter und Corvey‹ (wie Anm. 4), S. 208– 212. Die Verbiegungen und Funktionen der Horaz-Zitate hat umfassend Rosemarie Schillemeit, Antikes im Werk Wilhelm Raabes und andere Beiträge zur Raabe-Philologie, Göttingen 1997, insbes. S. 23–52, erforscht, siehe ebd., S. 193–209 den Anhang der Raabe’schen

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Die verbohrteste und unsympathischste Figur aber unter den Höxterschen Notablen ist Lamberts Onkel, der lutherische Pfarrer der Hauptkirche St. Kilian, Ehrn Helmrich Vollbort, der als ein Hardliner der konfessionalistischen Orthodoxie mit seinen Hasspredigten und Hetzreden gegen alle, die nicht zur eigenen Gemeinschaft gehören, Streit, Brand und Mord auch dann neu entfacht, wenn sie erschöpft zu erlahmen beginnen. Der »alte, eiferige Prediger« (HuC, S. 89) weist nicht nur mitleidlos den im Gestus des Verlorenen Sohns vor ihn tretenden eigenen Neffen von der Schwelle. Statt Liebe zu üben, predigt er unter Verhöhnung des als zu weich gescholtenen Stadtregiments in parasitärer Nutzung des Weihegestus biblischer Rede nur martialische Durchsetzung von Parteivorteilen und ruchlosen Rechten: ›Wird sich lutherische Bürgerschaft auch diesmal wieder den Maulkorb selber überhängen? Lutherisches Kirchenamt wird reden und sich nicht den Mund verbieten lassen! […] Greifet selber an und zu, wie und wo ihr könnt, weichet nur zollbreit, rücket immer wieder zu, Artikul für Artikul […]. Lasset diese Nacht nicht vergehen, ohne dass ihr euch rührt gegen Corvey […]; – lasset den Kampf nicht schlafen gehen, wie die Mönche schlafen gegangen sind. Bei Sankt Veit schwören sie, wir aber rufen den allmächtigen Gott; – voran gegen Corvey!‹ (HuC, S. 89f.)

Auch dem Überfallen und Zusammentreiben der Juden wehrt Vollbort nicht. Er tritt den Mordbrennern nicht entgegen, befiehlt vielmehr der sterbenden Leah in Pervertierung von Jesu Rede zum Gichtbrüchigen Mt 9,6 (und Mk 2,9, Lk 5,23), zum Jüngling zu Nain (Lk 7,14) und zum Lahmen am Teich von Bethesda Joh 5,8: »Erhebe dich, Weib. Willst du in dieser elenden Stadt die einzige sein, die da schläft in dieser Nacht?« (HuC, S. 94) Die sympathielenkenden Strukturen konterkarieren gewollt und auch ganz eindeutig die in der Kulturkampfphase selbst bei den Intellektuellen modisch gewordenen Ressentiments gegen alles Katholische und zugleich den zunehmend schick werdenden Antisemitismus bei den (nach der Ausgliederung Österreichs aus allen Einigungsperspektiven weit überwiegend protestantischen) Deutschen im neuen preußisch dominierten Reich.26 _____________

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»Vorarbeiten zu ›Höxter und Corvey‹«. Dass die Horaz-Umdichtungen in ihrer ironischen Abweichung von den Originalen (in den Kommentaren zu HuC jeweils einander gegenüber gestellt) als Teil des schmalen Raabe’schen Lyrikwerks zu betrachten sind, ist herausgestellt bei Schrader, Der Prosaist als Verseschmied (wie Anm. 8), S. 131f. Für die nicht nur von der Politik gesteuerte, sondern auch von den meinungsbildenden Intellektuellenkreisen bereitwillig aufgefangene Mode, sich zum Ausweis aufrechter nationaler Gesinnungen forsch antikatholisch zu geben und zu äußern, gibt Eda Sagarra (›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ [wie Anm. 4], S. 38–45) aufschlussreiche Beispiele; das Verklinken mit dem erwachenden, mehr und mehr völkisch und damit ten-

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Gibt es an einer solchen gegensteuernden Absicht, damit an einem indirekten Appell an die Zeitgenossen, keinen Zweifel, so muss man doch fragen, wie weit der Aufruf zu Umbesinnung und Toleranz geht. Katholisches, sogar auch mönchisches Gemeinschaftsleben, katholische Spiritualität und Frömmigkeit werden am Beispiel Höxters als eine positive, wo nötig auch entsteigernde und sänftigende Zutat im vielgestaltig bewillkommneten Gesellschaftsverband ebenso erfahrbar gemacht wie ihr jüdisches Äquivalent am Beispiel der Höxterschen Familie des Meister Samuel. Das ist schon viel in dieser Zeit, bedeutet aber nicht (ebenso wenig wie auch für den Protestantismus) die Akzeptanz auch für deren politische Instrumentalisierung und Gleichschaltung, schon gar nicht von außen. Wenn den Identifikationsfiguren der Corveyer Mönche im Fürstbischof von Münster ein gar nicht zu ihrer Sphäre gehöriger ferner Regent gegenübersteht, dessen von außen hereingetragene Machtansprüche nur als Störung und Anstoß zu neuen Friedlosigkeiten empfunden werden, wird klar, dass hier nicht einem ferngelenkten politischen Katholizismus das Wort geredet wird. Papst und Kurie bleiben außerhalb der erzählten Welt, der Toleranzaufruf bezieht ersichtlich den von Bismarck verteufelten Ultramontanismus nicht mit ein. Gleiches jedoch gilt auch für die Gegenseite. Der als Repräsentant auswärtiger protestantischer Machtansprüche auf dem anderen Weserufer bedrohlich gewappnete Braunschweiger Herzog, von dem der Eiferer Vollbort seine Direktiven bezieht, wird nicht sympathischer gemacht und darf als Person ebenso wenig in die Handlung eintreten wie sein Münsteraner Widersacher. Eine mögliche länderübergreifende politische Organisation spezifisch jüdischer Interessen steht ohnehin noch gar nicht im Horizont Raabes und seiner Erzählung. VI. Das zentrale Handlungsmovens auch in Fontanes Grete Minde sind neben der Habgier und dem auf ungerechte Rechtspositionen gestützten Erstreiten des Eigenvorteils ein vorurteilsbeladener Eifer gegen die anderen Konfessionen und gegen alle, die von Herkunft und Aussehen als Fremde ausgrenzbar erscheinen. Dass auch hier das Erbübel des Konfessionenstreits so markant in den Vordergrund tritt, erscheint zunächst erstaunlich, _____________ denziell schon rassistisch gewendeten Antisemitismus wird bei Anderson, Der Durchbruch mit Grete Minde (wie Anm. 3), S. 59–61, 67f., und ders., Der versteckte Fontane (wie Anm. 3), S. 155 und bes. 158f., hervorgehoben. Zum Raumgreifen des Antisemitismus in der Bismarck-Ära siehe etwa Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. 2. Aufl., Köln 1997, S. 240–243, 254–257, und Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997 (= Beck’sche Reihe, Bd. 1196), S. 186–191.

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gehören doch alle auftretenden Personen der lutherischen Kirche an27 – bis auf den bekanntlich aus dynastischen Gründen zum reformierten Glauben konvertierten brandenburgischen Landesherrn. Sein historisches Vorbild, Kurfürst Johann Sigismund, war 1613, vier Jahre vor dem Tangermünder »Grete Minde-Brand«, zur Kirche Calvins übergetreten – und die Glaubensdivergenz zwischen dem reformierten Herrscherhaus und der lutherischen Bevölkerung hat in der Folgezeit bewirkt, dass der Hof immer den innerprotestantischen Konfessionenausgleich befördert hat, von der Parteinahme für den Pietismus bis hin zur 1876 für ganz Preußen besiegelten Kirchenunion. Die Internkonflikte zwischen den protestantischen Konfessionen lassen die lutherische Kirche und Bevölkerung in der Novelle deshalb der kurfürstlichen Visite mit so viel Bangigkeit entgegen sehen, weil zur Zeit des Geschehens das Recht des Landesherren ja noch bestand, nach dem Prinzip »cuius regio, eius religio« die Zugehörigkeit des ganzen Landes zur selben Kirche festzusetzen und notfalls zu erzwingen. Noch in den häufigen Herrschaftswechseln des Dreißigjährigen Krieges konnte das verheerende Wirkungen zeitigen und wurde erst 1648 im Westfälischen Frieden durch die Festlegung des für den künftigen Bekenntnisstand aller Territorien maßgeblichen ›Normaljahrs‹ 1624 abgelöst.28 Dadurch konnte in Raabes Erzählung, in der innerprotestantische Querelen keine Rolle spielen, weil es in Höxter keine Kalvinisten gab, der katholische Landesherr seine abtrünnigen Untertanen tatsächlich nicht mehr unter Zwang rekatholisieren. Fontane spiegelt die theoretische Gefahr einer reformierten Zwangskonversion an der Seelen_____________ 27

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Hier hat sich erstaunlicherweise Eda Sagarra verführen lassen, Grete Minde und ihren Vater Jacob, die Amme Regine (die die lutherische Scharfmacherin Trud dann sicher keineswegs im Haus behalten hätte) und die »Nonnen von Arendsee« als katholisch anzusehen, wofür es in der Novelle keinen Anhaltspunkt gibt. Siehe Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ (wie Anm. 4), S. 45, 47f., 55, 58. Einen ähnlichen Irrtum begeht der doch so profunde Fontane-Kenner Nürnberger, Fontanes Welt (wie Anm. 3), S. 299f. Einen katholischen Hintergrund könnte man aufgrund ihrer süddeutschen Herkunft allenfalls bei der – ebenfalls sympathisch gestalteten, freilich konfessionell ganz indifferenten – Schauspielertruppe vermuten. Die Stichelreden gegenüber Zenobia, »Es muss auch Nonnen geben. Nicht wahr, Zenobia?« (GM, S. 77, vgl. 107), könnten sogar darauf hindeuten, sie werde da als entlaufene Klosterfrau verspottet. Gewissheit darüber gibt es aber bei so schwachen Indizien keineswegs. Zur Bedeutung dieses Friedensartikels für die Autonomiebestrebungen der Höxterschen Bürgerschaft in Raabes Erzählung Schrader, ›Höxter und Corvey‹ (wie Anm. 4), S. 200f. Siehe Konrad Müller (Hrsg.), Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigsten Teile und Regesten, Bern 1949 (= Quellen zur neueren Geschichte, H. 12/13), S. 46/132 und 47/134. Siehe Christoph Link, Annus normalis. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. (nachfolgend: RGG4). Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 510; Carl Andresen und Georg Denzler, Wörterbuch der Kirchengeschichte, München 1982 (= dtv-Bd. 3245), S. 629f. (Art. Westfälischer Friede).

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not und den Gewissensskrupeln des zu einer Probepredigt vor dem Kurfürsten beorderten Tangermünder Hauptpastors Gigas, den er in der Novelle zwar liebevoll und menschenkundig führungswillig, in Bekenntnisfragen aber doch unnachgiebig orthodox und streitbar zeichnet: Da kam an einem Mittewochen plötzlich die Nachricht in die Stadt, daß der allergnädigste Herr Kurfürst einzutreffen und einen Tag und eine Nacht auf seiner Burg Tangermünde zuzubringen gedenke. Das gab ein großes Aufsehen und noch mehr der Unruhe, weilen der Herr Kurfürst in eben jenen Tagen nicht bloß von seinem lutherischen Glauben zum reformierten übergetreten, sondern auch infolge dieses Übertritts die Veranlassung zu großer Mißstimmung und der Gegenstand allerheftigster Angriffe von Seiten der tangermündischen Hitzköpfe geworden war. Und nun kam er selbst, und während viele der nur zu begründeten Sorge lebten, um ihrer ungebührlichen und lästerlichen Rede willen zur Rechenschaft gezogen zu werden, waren andere, ihres Glaubens und Gewissens halber, in tiefer und ernster Bedrängnis. Unter ihnen Gigas. Und diese Bedrängnis wuchs noch, als ihm am Nachmittage vorerwähnten Mittewochens durch einen Herrn vom Hofe vermeldet wurde, daß Seine Kurfürstliche Durchlaucht um die siebente Morgenstunde zu Sankt Stephan vorzusprechen und daselbst eine Frühpredigt zu hören gedächten. Wie dem hohen Herrn begegnen? Dem Abtrünnigen, der vielleicht alles in Stadt und Land zu Abfall und Untreue heranzwingen wollte! Und so mutig Gigas war, es kam ihm doch ein Bangen und eine Schwachheit an. Aber er betete sich durch, und als der andere Morgen da war, stieg er, ohne Menschenfurcht, die kleine Kanzeltreppe hinan und predigte über das Wort des Heilands: ›Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.‹ (GM, S. 52f.)

Das war bei aller politischen Klugheit in der Wahl des Predigtthemas Mt 22,21 doch bemerkenswert kühn, erinnerte es den summepiskopalen Potentaten immerhin an die Grenze der Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit, sobald göttliche Dinge berührt seien. Der Kurfürst aber honoriert hier solche Kühnheit – anders als es später Paul Gerhardt widerfuhr, der um seiner Bekenntnisstringenz willen abgesetzt wurde und für Fontanes Charakterzeichnung seines Pastors Gigas modellhaft erscheint.29 _____________ 29

Paul Gerhardt, der ebenfalls in Bekenntnisfragen Strikte und Unbeugsame, sonst aber innerhalb der lutherischen Orthodoxie wie auch in seinen Kirchenliedern ein Musterbild an menschenfreundlicher Innigkeit, wurde vom (später so genannten) Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1766 aus seinem Pfarramt an der Berliner Nicolaikirche entlassen, weil er die fürstlich verfügten Zwangsmaßnahmen zur Konfessionstoleranz gegen die Reformierten und damit die Einschränkung der Konkordienformel aus Gewissensgründen nicht mitvollziehen wollte. Die Parallele zu Gigas’ Visitationspredigt wird deutlich im knappen Abriss von Christian Bunners’ Artikel Paul(us) Gerhardt in RGG4: »Seinen Landesherren zwar als Obrigkeit anerkennend, hat er dessen Kirchenpolitik jedoch als unzulässigen Eingriff in die Verkündigung angesehen […]. Petitionen von Bürgern, Magistrat und märkischem Adel führten im Januar 1667 zur Wiedereinsetzung G.s. Im Februar verzichtete G. wegen bleibender Gewissensbelastung auf sein Amt; die endgültige Absetzung folgte.« (RGG4, Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 728–730, hier Sp. 729) – Eindrücklich detaillierte Analy-

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Nicht nur durch die Spezialstudie Wilhelm Hüffmeiers ist Fontanes ganz besondere und häufig bekundete Wertschätzung für Paul Gerhardt bekannt;30 aus Christian Bunners’ Darstellung des Berliner Kirchenstreits zur Zeit des Großen Kurfürsten wissen wir auch, dass der von Fontanes Pastor Gigas zum Predigtthema gewählte Bibelspruch in der Aktualisierung »Gebet dem Kurfürsten, was sein, und Gott, was Gottes ist«31 die zentrale Parole der aufsässigen Berliner Nikolaikirch-Pastoren gegen dessen autoritär die Reformierten begünstigende Kirchenpolitik wurde, die alle nicht kompromisswilligen, nicht zur gewissenbindenden Unterzeichnung einer entsprechenden Selbstverpflichtung32 bereiten Pastoren gnadenlos absetz_____________

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sen der historischen Ereignisse gibt die Monographie desselben Verfassers, siehe Christian Bunners, Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung. 4. Aufl., Göttingen 2007, S. 46–86. Siehe die ausführliche Rezension der stark überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe von Manfred Jakubowski-Tiessen in Göttingische Gelehrte Anzeigen 260 (2008), S. 123–128, zum Berliner Kirchenstreit ebd., S. 124f. In seinem für Fontanes sympathetisches Verhältnis zu Paul Gerhardt und die in privaten Äußerungen wie im literarischen Werk häufigen Erwähnungen und Allusionen grundlegenden Vortrag hat Wilhelm Hüffmeier (Der ›volkstümlichste unserer geistlichen Liederdichter‹ – Theodor Fontane und Paul Gerhardt. In: Fontane Blätter 87 [2009], S. 122–137) zwar auch Gerhardts Verhalten in diesem »Berliner Kirchenstreit« reflektiert: »Ein Gewissensmensch, der lieber ins Exil ging als sich dem Geheiß des Großen Kurfürsten zu konfessioneller Toleranz gegenüber den Calvinisten (Reformierten) zu beugen. Auch das imponierte Fontane, wiewohl er in Glaubens- wie Toleranzfragen eher auf der Seite des reformierten Kurfürsten Friedrich Wilhelm stand, der ihm als Hugenottensohn auch politisch und konfessionell näher stand.« (ebd., S. 127) Die Parallele zum Pastor Gigas in Grete Minde hat Hüffmeier aber (vielleicht wegen der poetischen Übertragung auf gut fünfzig Jahre frühere Verhältnisse) ebenso wenig wahrgenommen wie zuvor Bunners im rezeptionsgeschichtlichen Abschnitt seiner Monographie Paul Gerhardt (wie Anm. 29), S. 275f. (»eine Art ›protestantischer Heiligenverehrung‹«, S. 276). Bunners, Paul Gerhardt (wie Anm. 29), S. 69. Bei dem Religionsgespräch zur Verhinderung kontroverstheologischer Äußerungen gegen die Konfession des Herrschers (der er auch in seinem Staatsrat die Mehrheit verschafft hatte), das Kurfürst Friedrich Wilhelm zur Beugung der lutherischen Opposition gegen seine (die Reformierten offen begünstigende) Religionspolitik unter dem Vorsitz des Reformierten Otto Freiherrn von Schwerin im August 1662 in sein Schloss hatte berufen lassen und das sich über 17 Konferenzen fruchtlos bis in den Juni 1663 hinschleppte, war die dogmatische Richtschnur auf lutherischer Seite das Augsburgische Bekenntnis von 1530 in seiner Aussage über die Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit »in allem, was ohne Sünde geschehen kann«, wenn aber dieser Punkt erreicht sei, »soll man Gott mehr gehorsam sein als den Menschen« (ebd., S. 66). Infolgedessen gebühre auch hier »dem Kurfürsten, was sein ist und Gott, was Gottes ist« (ebd., S. 69). Paul Gerhardt selbst nimmt, insofern er bei dem geforderten »Gehorsam mein Lutherisches Glaubensbekenntnis, die Formula Concordiae, verlassen […] müßte« (Brief an Kurfürst Friedrich Wilhelm von 1667; ebd., S. 301), zu einem anderen Jesus-Wort, Mt 16,26, Mk 8,36, Zuflucht: »Denn was würde mirs doch helfen, wenn ich gleich ein Königreich, ja die ganze Welt gewinnen könnte und sollte Schaden an meiner Seele leiden.« (Brief an Gräfin Marie Magdalene zur Lippe, Juli 1666; ebd., S. 299) Alle Geistlichen im Land mussten sich seit 1664 mit Reversunterschrift (bis dieses Edikt im Mai 1668 durch ein verschärfendes zu künftiger Überwachung der Predigten und zur Denunziation von polemisch verstehbaren Äußerungen abgelöst wurde) auf ihr Gewissen

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te und durch Willfährigere ersetzte – und dass Gerhardts ebenfalls aus Amt und Brot verjagter nächster Mitstreiter in dieser das konfessionelle Klima im Lande und das Verhältnis des Hofs zum Berliner Magistrat und der Bürgerschaft wie zu den Landständen auf lange vergiftenden Auseinandersetzung, der dritte Diakon an St. Nikolai, David Gigas hieß.33 Da hat Fontane also ebenso – mit klarem gegenwartsgerichteten Bezug gegen neue Tendenzen preußischer Repressionspolitik – unterschiedliche historische Etappen miteinander verschränkt wie in der Transparenz seiner Erzählung auf den aktuellen Kulturkampf. Der in Grete Minde Tangermünde besuchende, zwei Generationen frühere Kurfürst allerdings gibt sich mit der eingeschärften Obödienzforderung in weltlichen Belangen noch zufrieden und versichert unter _____________

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verpflichten (und dies durch beschließende Eidesformel bekräftigen), »daß ich jederzeit Gott mit herzlichem Gebet um Beförderung solcher Kirchen-Toleranz anrufen, auch nicht unterlassen will, alle Mittel, so zur Kirchen-Toleranz vorgeschlagen werden, anzunehmen. Will auch in Tractierung der Controversien mich der besten Moderation gebrauchen, den Elenchum [die Widerlegung] nebst der Formula Concordiae omittieren [aufgeben], den Exorcismum mitigieren [mildern] und ändern, und den obbemeldeten Edictis in allen Klauseln gehorsamlich nachleben.« (ebd., S. 74, siehe S. 78f.) Dies war ein offener obrigkeitlicher Eingriff in Bekenntnisfragen, gehörte doch die Konkordienformel von 1577, die in dogmatischer Festlegung innerlutherische Streitigkeiten harmonisierte und die Lehrunterschiede gegenüber den Reformierten festschrieb, zu den theologischen Grundpositionen, auf die lutherische Geistliche mit der Ordination verpflichtet wurden (siehe Johannes Wallmann, Konkordienformel [und] Konkordienbuch. In: RGG4, Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 1603–1606). Am Ärgsten war, dass die Pfarrer durch ihre Unterschrift sogar Gehorsam in künftigen, noch unbekannten Festlegungen des Lehramtes (»Mittel, so […] vorgeschlagen werden«) beeiden sollten. Das Vorgehen des Großen Kurfürsten gegen die anderskonfessionelle Bürgerschaft und ihre Vertreter war also historisch das nämliche, Absolutismustypische, wie es der katholische Höxter-Corveyer Landesherr gegen seine obstinate Stadtbevölkerung anwandte. Zur Kritik an solchen Praktiken wählt aber Fontane anders als Raabe lieber die für die Leserschaft seiner Zeit durchsichtige fürstenspiegelartig geschichtsabweichende Konstruktion eines weise den Glauben und das Gewissen seiner Untertanen und Geistlichen gelten lassenden Landesherrn. Dieser erst seit wenigen Monaten an der Nikolaikirche tätige David Gigas wurde, weil er die kurfürstliche Repression in seiner Neujahrspredigt 1667 angedeutet und sogar verblümt auf das Belauschen der Predigt durch eingeschleuste Spitzel hingewiesen hatte, nicht nur abgesetzt, sondern sogar 23 Wochen ins Gefängnis geworfen. Das Vorgehen gegen Gigas hat Paul Gerhardt mit als Grund angegeben, das ihm auf Druck von Bürgerschaft, Magistrat und Ständen wieder eingeräumte Amt (allerdings unter der entwürdigenden Unterstellung, er habe das Edikt nicht recht verstanden, und der Andeutung, er bleibe auch ohne Gegenzeichnung daran geradeso gebunden wie alle anderen Pastoren) doch nicht wieder öffentlich auszuüben. Dies war dann der Vorwand für seine endgültige Absetzung; siehe Bunners, Paul Gerhardt (wie Anm. 29), S. 71–84, konkret zu David Gigas S. 79f., 83f. Dass auch in Tangermünde in der Zeit der Erzählung ein Prediger Georg Gigas gewirkt hat (1602–1626), von dem es aber außer seinem Porträt gar keine Nachrichten gibt (Betz, Erläuterungen [wie Anm. 7], S. 8), wird für Fontanes doppelte Überspiegelung (mit David Gigas und dahinter dem in seiner Menschenliebe und authentischen, auch weltoffenen Frömmigkeit, zugleich aber auch streitbaren Orthodoxie eigentlich porträtierten Paul Gerhardt) einen reizvollen Ansatzpunkt gegeben haben.

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huldvoller Ehrenbezeugung für Gigas, »daß er seine von Gott ihm anbefohlenen Untertanen bei dem Worte Lutheri Augsburgischer Konfession belassen, eines jeden Person auch in der Freiheit seines Glaubens und Gewissens schützen wolle« (GM, S. 53). Dieses fürstenspiegelartige Vorbild des über die Denkgrundsätze der Zeit hinaus Toleranz zusichernden weisen Landesherrn (das Postulat der Glaubens- und Gewissensfreiheit taucht bekanntlich historisch erst beinahe hundert Jahre später auf und ist immer noch nicht durchgesetzt, als es der junge Goethe nochmals 1773 in seinen theologischen Briefen einfordert)34 verdankt sich wohl weniger der Tatsache, dass Fontane als Hugenottenspross selbst zur reformierten Gemeinschaft gehörte,35 als seinem ideal-brandenburgischen Patriotismus und Geschichtsoptimismus. VII. Vergiftender und folgenreicher dargestellt als dieser in der Novelle zu so mildem Ausgleich gebrachte Dogmenkonflikt der Evangelischen untereinander ist deren hasserfülltes Vorurteil gegen alles Katholische. Der Widersinn dieser Obsession wird dadurch noch eklatanter, dass es für das Ressentiment gar keiner Katholiken bedarf, gerade so wie der Antisemitismus besonders borniert immer wieder dort zum Ausbruch kam, wo eine _____________ 34

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Siehe dazu insbes. Matthias Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004 (= Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 28) und (mit Hinweis auf bereits frühere spiritualistische und pietistische Toleranztraktate) ergänzend Hans-Jürgen Schrader, Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hrsg. von Stefanie Stockhorst, Göttingen 2012 (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa), S. 91–130. – Goethes Pastor-Briefe von 1773 sind kontextualisiert mit weiteren seiner religionsbezogenen Äußerungen in Paul Raabes Quellensammlung, Johann Wolfgang von Goethe, Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hrsg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (= Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3), S. 22–35. Zur Auslegung siehe Hans-Jürgen Schrader, Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel (Hrsg.), Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider, Darmstadt 2001 (= Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 5), S. 361–377; Hans-Jürgen Schrader, Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes ›Werther‹. In: Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz (Hrsg.), Goethe und die Bibel, Stuttgart 2005 (= Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, Bd. 6), S. 57–88, hier S. 72f.; Hartmut Lehmann, Transformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus, Göttingen 2007 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 230), S. 147, 156–183, 118f. Zu seiner Einstellung Hinweise bei Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ (wie Anm. 4), S. 43, 45f.; Hüffmeier, Der ›volkstümlichste unsrer geistlichen Liederdichter‹ (wie Anm. 30), S. 127f.; Eilert Herms, Theodor Fontane. In: RGG4. Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 178–180.

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persönliche Berührung mit Juden gar nicht gegeben war. Für Verdächtigung, Abwehr oder kalkulierte Benachteiligungen reicht den Tangermündern der Hinweis auf einen katholischen Traditionshintergrund oder irgendwelche Reste altgläubiger Auffassungen und Praktiken. Weil ihre Mutter eine vom Vater aus den spanischen Niederlanden mitgebrachte iberische Schönheit, eine »Katholsche«36 und »Spansche« war, wird Grete Minde vom ersten Auftreten an als »eine Fremde« (GM, S. 8, 10) behandelt – und Gretes Verdorbenheit von Mutter her, die »das fremde Blut und den fremden Glauben« (GM, S. 37)37 mit ins Haus gebracht habe, bleibt ein Leitmotiv der Verdächtigungen und Hetze gegen sie durch die ganze Erzählung, besonders von der Schwägerin und Hausherrin Trud. Dass Grete als einziges Erbstück der Mutter ein Kreuzreliquien-Medaillon um den Hals trägt und in Ehren hält, reicht aus für ihre Anschwärzung beim Pfarrer Gigas, der sie zum ersten Abendmahl bereiten soll, sie habe »unser Haus behext und in den alten Aberglauben zurückfallen lassen«, und für dessen zwar menschlich warmherzigen Versuch, ihr »den alten Spuk […] auszutreiben« und »den rechten Glauben« (GM, S. 30) einzupflanzen. Noch am Schluss genügt Gerdts geschicktes Instrumentalisieren zugleich konfessioneller, xenophober, materiell-sozialer und damit auch moralischer Vorurteile, um das patrizische Ratskollegium zu bewegen, Grete jedes väterliche Erbe abzusprechen, wodurch dann ihre KohlhaasRachetat des Niederbrennens der ganzen Stadt ausgelöst wird: »Ihre Mutter war einer armen Frauen Kind, ihr wisset all, wes Landes und Glaubens, und kam ohne Mitgift in unser Haus«, so dass sie nur als Verschwenderin statt als Wahrerin und Mehrerin des Familienerbes anzusehen sei, dessen sich Grete selbst überdies durch ihr uneheliches »Mantelkind« (GM, S. 89, 93, 95f., 102, 106) (auch das ein Leitmotiv) unwürdig erwiesen habe: ›[…] Sie […] birgt ihr Kind unterm Mantel. Fragt sie, wo sie’s herhat. Am Wege hat sie’s geboren. Und ich habe nichts gemein mit Weibern, die zwischen Heck und Graben ihr Feuer zünden und ihre Lagerstatt beziehen. Unglück? Wer’s glaubt. Sie hat’s gewollt. Kein falsch Erbarmen, liebe Herren. Wie wir uns betten, so liegen wir.‹ (GM, S. 102)38

Geradeso des Kryptokatholizismus gescholten und als »Nonnen« verdächtigt werden auch die evangelischen Stiftsdamen des vormaligen, nach der Reformation in eines der in Norddeutschland verbreiteten adligen Damenkonvente umgewandelten Klosters Arendsee, das dem städtischen _____________ 36 37 38

Zur leicht abfälligen Konnotation des von Fontane bevorzugten Mundartbegriffs siehe Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ (wie Anm. 4), S. 39. Siehe GM, S. 14, 25. Treffende Auslegung bei Pastor, Das Hänflingsnest (wie Anm. 3), S. 106.

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Kampfplatz um Reputation, Macht und Besitz39 ebenso entgegen komponiert ist als idyllische Sphäre einer stehen gebliebenen Zeit, Ruhe und Innerlichkeit wie bei Raabe das verschlafene Corvey dem aufgeputschten Höxter. Die Anwesenheit der »Funfzehn Nonnen« im Land, wo es bekanntlich »ja keine Nonnen mehr« gibt, wird vom Schankwirt der süddeutschen Schaupielertruppe erklärt, der sich Grete und Valtin nach allerlei Umwegen zum Überleben angeschlossen hatten: ›Ja, sie sind aufgehoben. Aber ’s gibt ihrer doch noch, hier und überall im Land. Und obwohlen unser alter Roggenstroh alle Sonntage gegen sie predigt, es hilft ihm nichts, sie bleiben doch. Und warum bleiben sie? Weil sie den adligen Anhang haben […] oben in Cölln an der Spree […].‹ (GM, S. 77)40

Für das Volk also bleiben die Konventualinnen katholisch und können sich nur erhalten durch die für die eigene Verwandtschaft sorgende (natürlich ebenso lutherische) Junkerclique am Berliner Hof. An ihre Unterbringung bei den »Nonnen von Arendsee« hatte Gerdt schon früher gedacht, als er sich die Halbschwester Grete, »die Hexe«, aus dem Haus und ihrem Erbrecht zu bringen gedachte: »das ist nicht zu nah und nicht zu weit. Und da gehört sie hin, denn sie hat ein katholisch Herz […] und ich wollte schwören, daß sie zur Heiligen Jungfrau betet.« (GM, S. 65) Die steinalte und körperlich schwachsichtige, doch mit dem zweiten Gesicht begabte Arendseer Domina von Jagow, die fast fünfundneunzigjährig »schon geboren [war] und getauft, als der Wittenbergsche Doktor gen Worms ging _____________ 39

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Gibt es in der Zeichnung des ratstragenden Patriziats in der Erzählung auch eine gewisse anti-großbürgerliche Note, halte ich es doch für verfehlt, die politische Intention der Erzählung für eine vorrangig ständisch-soziale zu halten, wie es Klaus Globig (Theodor Fontane ›Grete Minde‹. Psychologische Studie, Ausdruck des Historismus oder sozialpolitischer Appell? In: Fontane Blätter 32 [1981], S. 706–713) mit Hinweis darauf zu konstruieren versucht, dass die von armer Mutter geborene historische Grete Minde mit einem »unsteten Soldaten namens Anton Meilahn« zusammenlebte und »als Dienstmagd nach Tangermünde zurück« gekommen war (S. 708). Denn so stellt es Fontane ja gerade nicht dar, und einen Appell, »der gerichtet ist auf die Versöhnung der Klassen, auf sozialpolitische Integration der Arbeiterschaft durch Gewährung von Teilhabe an den materiellen Erfolgen der Gesellschaft« (S. 706), vermag ich in dem frühneuzeitlichen Geschichtsentwurf keinesfalls zu erblicken. Betz (Erläuterungen [wie Anm. 7]) druckt diese den Autor Fontane offensichtlich den kulturpolitischen Vorgaben der damaligen DDR anpassende Studie in seiner Dokumentation der Forschungsgeschichte (S. 58–72) gleichwohl außergewöhnlich raumgreifend nach (S. 64–70). Fontanes besonderes Interesse an den in manchen Lebensformen und liturgischen Konventionen an der klösterlichen Tradition festhaltenden Evangelischen Damenstiften hängt sicher damit zusammen, dass die langjährig Vertraute Mathilde von Rohr »Stiftsdame (Konventualin) im evangelischen Kloster Dobbertin in Mecklenburg geworden war. Eine fromme Frau also, ›eine richtige Lutheranerin‹, wie Fontane sie in einem feinsinnigen Porträt nach ihrem Tode charakterisierte.« (Hüffmeier, Der ›volkstümlichste unserer geistlichen Liederdichter‹ [wie Anm. 30], S. 123)

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und vor Kaiser Carolus Quintus stand« (GM, S. 86),41 in vertraulichem Einvernehmen mit ihrer weit jüngeren Stellvertreterin und prospektiven Nachfolgerin Ilse von der Schulenburg, und die anderen »Nonnen von Arendsee: Barbara von Rundstedt, Adelheid von Rademin, Mette von Bülow und viele andere noch, alle mit Spitzhauben und langen Chormänteln« (GM, S. 87), sind in dieser Novelle die positivsten Figuren. Ihre gelassene Weisheit und Barmherzigkeit wird den lutherischen Eiferern gegenübergestellt, hier namentlich dem dogmatisch linientreuen, dabei aber herzensrohen Pastor Roggenstroh des Dorfes Arendsee. Ihm, der Grete mitleidlos, aber ganz im Sinne seiner kirchturm-beschränkten Gemeinde die Beerdigung ihres unter den Schaupielern verstorbenen Valtin verweigert hatte (»War ihr Kirchhof ein Begräbnisplatz für fahrende Leute, von denen keiner wußte, wes Glaubens sie seien, Christen oder Heiden! Oder vielleicht gar Türken«; GM, S. 82f.)42 – Raabe hat einem ähnlichen Fall historischer Intoleranz mit mehrfacher Umbettung eines Verstorbenen, der im Ruf stand, ein verkappter Jude zu sein, eine ganze Erzählung, Gedelöcke, gewidmet –,43 diesem starren Roggenstroh mögen die Stiftsdamen nur allzu gern »einen Strich durch die Rechnung machen. Er hat seinen Kirchhof und wir haben den unsren. Und auf unsrem, denk ich, schläft sich’s besser.« (GM, S. 85) Roggenstrohs städtischer Kollege Pastor Gigas ist, wie schon angedeutet, eine positivere Figur, und zwar trotz seiner ebenso kompromisslosen Haltung in Bekenntnisfragen dadurch, dass er den Menschen, also auch Grete, mit Einfühlung und Liebe begegnet; vom anfangs Gefürchteten wird er sogar ihr Vertrauter. Er, vom Erzähler klar unter »die Strenggläubigen« (GM, S. 40) gerechnet, also die ganz auf Kontroverstheologie _____________ 41

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Vom Datum des Tangermünder Grete-Minde-Brandes zurückgerechnet, war die Domina also ein- oder zweijährig, als Luther im April 1521 auf dem Wormser Reichstag den Widerruf einer Lehre ablehnte, die ihm nicht aus der Heiligen Schrift widerlegt werden könnte, und daraufhin nach der päpstlichen Bannung auch der Reichsacht verfiel. Dass sie noch katholisch geboren und getauft war, dann die entscheidende Zeit der Ausbreitung der neuen Lehre miterleben konnte, war Fontane offenbar um des Traditionszusammenhangs willen wichtig. Siehe ebenso auch bereits im Vorurteil der Tangermünder, GM, S. 17. Wilhelm Raabe, Gedelöcke. In: BA 9/2, Text, S. 65–210, Kommentar von Constantin Bauer und Hans Hoppe, S. 455–466, Abriss von Anlass und Entstehungsprozess, S. 455f. Knappe Angaben zur Entstehung (mit Literatur) auch in Wilhelm Raabe, Stuttgarter Erzählungen. Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 1, Frankfurt am Main 1985 (= insel-tb. 881), S. 338f., Textabdruck ebd., S. 237–285. Siehe Hans-Jürgen Schrader, ›Gedelöcke‹. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition. In: Mark H. Gelber et al. (Hrsg.), Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literaturund Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch, Tübingen 2009, S. 87–113. Zur Wiederaufnahme des Motivs der Begräbnisverweigerung aus Intoleranz in Fontanes Novelle Unterm Birnbaum siehe Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ (wie Anm. 4), S. 39, vgl. S. 49f.

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konzentrierte lutherische Orthodoxie, wird schon im die Novelle einführenden Kindergespräch Valtins mit Grete am Vorabend ihres beginnenden Katechumenenunterrichts in unverkennbarem Bezug auf ihr Ende im Flammeninferno als im Grunde »gut« zu den Menschen gekennzeichnet: »Es muß nur kein Kalvinscher sein oder kein Katholscher. Da wird er gleich bös und Feuer und Flamme.« (GM, S. 10) Und Grete scheint es anfangs »immer, als mein er, ich verstecke was in meinem Herzen und sei noch katholisch von der Mutter her« (GM, S. 26). Tatsächlich nimmt er sie beim Vorbereitungsgespräch wegen ihres als Talisman in Ehren gehaltenen Erb-Medaillons44 und einer von der Amme Regine geduldeten undogmatischen Volksfrömmigkeit hart ins Gebet: ›Und ich will es dir nicht nehmen, Grete, jetzt nicht. Aber ich denke, der Tag soll kommen, wo du mir es geben wirst. Denn verstehe wohl: wir sollen sein Kreuz tragen, aber keinen Splitter von seinem Kreuz, und nicht auf unserm Herzen soll es ruhen, sondern in ihm. […]. Regine, mit der ich sprechen will, hat nicht gebührlich gesorgt, den alten Spuk mit seinen Ränken und Listen auszutreiben. Ich denke, Grete, wir wollen die Tenne reinfegen und die Spreu von dem Weizen sondern. Du hast das rechte Herz, aber noch nicht den rechten Glauben, und irrt der Glaube, so irrt auch das Herz.‹ (GM, S. 30)45

An dieser mit Bibel- wie Luther-Allusionen gesättigten Rede schon zeigt sich, dass Fontane weit stärker als Raabe, in dessen Erzählung die zahllosen Bibelsprüche ebenso wie seine Literaturzitate weithin ironisch charakterisierende, oft sogar gegensinnig eingesetzte Redeblumen bleiben, in seinem Bild der Denkformen der Frühen Neuzeit theologische Argumente mit bemerkenswertem Sachwissen aufgreift, statt sich zu begnügen mit Hinweisen auf unterscheidende Äußerlichkeiten in der Frömmigkeitspra_____________ 44 45

An dieser »Goldkapsel« hält Grete tatsächlich bis zu ihrer Erbeinforderung bei Gerdt abergläubisch fest; siehe GM, S. 92. Dabei Anklänge an Bibelstellen: »der Tag soll kommen«: Jes 34,8, 1Thess 5,2, 2Petr 3,10, Hebr. 8,8, siehe Lk 21,34 und Rö 13,12; »verstehe wohl«: Spr 29,19, Lk 2,20; »wir sollen sein Kreuz tragen«: Lk 14,27, vgl. Mt 10,38, Mk 8,34 und 10,21, 2Kor 4,10; »mit seinen Ränken und Listen«: Ps 64,7 und Apg 13,10; »Tenne reinfegen und die Spreu von dem Weizen sondern«: Mt 3,12 und Lk 3,17; »hast das rechte Herz«: 1Chr 29,19, Ps 51,12 und Ps 119,80, vgl. 1Kön 8,61 und Hes 36,26. – Die literarische Figur des Pastors Gigas und dieses Religionsgespräch mit Grete untersucht umfassend Ester, ›Grete Minde‹ (wie Anm. 3), S. 55–60. Das Bild der Sonderung von Spreu und Weizen setzt Raabe übrigens poetologisch ein, als Auftrag an die Leser, die Progresse im Erzählverfahren, die das Augenmerk von der Spannung der Handlungen auf die Strukturen und Beziehungsdichte der Erzählkunst verlagern, wahrzunehmen und zu würdigen. Im Vorwort zu den gesammelten Erzählungen aus den Jahren 1858–1875 im Janke-Verlag schreibt er im August 1895: »Wenn der Leser, was Erfindung, Darstellung und Charakteristik betrifft, beim Durchblättern dieser drei Bände einen Fortschritt zum Besseren bemerkt, so wird das dem Verfasser angenehm sein. Jedenfalls aber überläßt er, der Autor, es besagtem freundlichem Leser ganz und gar, hier den Weizen aus der Spreu zu sondern.« (Wilhelm Raabe, Gesammelte Erzählungen. Bd. 1, Berlin 1896, Vorwort)

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xis seines Personals.46 Allein dieser kurze Auszug aus Gigas’ Rede setzt der Bild- oder Reliquienverehrung, die von dem lutherischen Fundamentalisten der Sphäre des Satans (formelhaft aufgerufen »mit seinen Ränken und Listen«) zugeschlagen wird, die Forderung nach Imitatio Christi entgegen. Das ›Christus in nobis‹ und der innere Herzenszustand wird ebenso der äußeren Religionsübung kontrastiert,47 schließlich werden die Grundsätze des rechten Glaubens über fromme Empfindungen gestellt. Kurz zuvor schon hatte Gigas Gretes inniges Selbstermunterungslied zu Frömmigkeit und Nächstenliebe mit seinen Schlussversen Was ich irdisch gebe hin Ist mir himmlischer Gewinn.

zwar milde lächelnd, aber doch dogmatisch entschieden als katholische ›Werkgerechtigkeit‹ zurückgewiesen: ›Nein, Grete, das macht es nicht; darin erkenn ich noch die Torheit von den guten Werken. […] Denn sieh, unsre guten Werke sind nichts und bedeuten nichts, weil all unser Tuen sündig ist von Anfang an. Wir haben nichts als den Glauben, und nur eines ist, das sühnet und Wert hat: der Gekreuzigte.‹ (GM, S. 29)

Da legt Fontane seinem Gigas, um den Geist und die Argumentationsmuster des Konfessionalismus recht zu fassen, die beinah kürzestmögliche Formel der auf die paulinische Rechtfertigungslehre Röm 3,21–28, Gal 2,16–21 und Gal 3,9–12 gegründeten lutherischen Zentrallehre von der als Gnadengeschenk Gottes allein erlösenden Kraft des Glaubens in den Mund.48 Grete aber hält trotzdem an ihrer Überzeugung einer fürs _____________ 46

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Dies wird übrigens auch sichtbar in dem Bibelspruch-Duell, das sich Trud mit ihrem durch das hineingeschriebene Motto Spr 16,18 (in der Luther-Bibel »Wer zugrundegehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall«) vergifteten Weihnachtsgeschenk und Grete liefern – mit deren korrigierend dagegen gesetzten Hos 14,5, dem leicht abgewandelten Spruch, den auch der Vater sterbend Trud ans Herz gelegt hatte (in der LutherBibel »Denn bei dir finden die Verwaisten Gnade«) (GM, S. 39, 51). Diese biblizistisch gewappnete Fehde der rachsüchtigen Frauen gibt aber konfessionspolemisch nicht viel her, weshalb ich sie in diesem Themenkontext übergehe. Zu den da angespielten Theologemen siehe Hans-Jürgen Schrader, Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 20 (1994), S. 55–74. Als eines der Grundaxiome der frühen Reformation schon 1520 ausführlich begründet, Martin Luther, Von den guten werckenn. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe (WA). Bd. 6, Weimar 1888, Reprint Weimar 2003, S. 202–276: »Das erste und hochste, aller edlist gut werck ist der glaube in Christum […]. Dan in diesem werck mussen alle werck gan und yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen von ym empfangen.« (S. 204); »Das leret sanct Paul Ro. xiiij. alles was nit ausz odder im glauben geschicht, das ist sunde. Von dem glauben und keinem andern werck haben wir den namen, das wir Christgleubigen heissen, als von dem heubtwergk […]. Und dieser glaub bringet also bald mit sich die liebe, frid,

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Gutestun zustehenden himmlischen Belohnung fest. Die spricht sie ihrem Valtin zu und bekräftigt das, indem sie die auch vom alten Gigas beglaubigend eingesetzte biblische »siehe«-Formel übernimmt: ›Du bist so gut. Und wer gut ist, demzuliebe geschehen Zeichen und Wunder. Und siehe, dessen bin ich gewiß, wenn wir zu Gott um seine Hülfe bitten, dann hilft er auch und führt uns aus dem Walde wieder ins Freie […].‹ (GM, S. 35)

Noch, wenn sie sich am Ende, um sich in Demut zu üben, in einer Postfiguration der Parabel vom Verlorenen Sohn Gerdt zu Füßen wirft, erwartet sie, solches Tun müsse zuverlässig mit erhörender Gnade belohnt werden.49 Reizvoll wäre es, für den Vergleich der Erzählweisen die in beiden Geschichten aufgerufenen, aber ganz anders instrumentierten bibelgegründeten Motive einander gegenüberzustellen, neben dem ProdigusModell (in Raabes Höxter und Corvey in Lambert Tewes’ vergeblicher Knieumfassung seines ihn, den »Träbernfresser«, unväterlich von der Schwelle weisenden Onkels Pastor Vollbort; HuC, S. 19, vgl. 21f.)50 auch die Motive des Friedenfindens und des erhobenen Palmwedels.51 Doch führte das _____________

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freud unnd hoffnung.« (S. 206); »Dan das erst werck ist glauben, ein gut hertz und zuvorsicht zu got haben. Ausz dem fleust das ander gute werck, gottis namen preysen, seine gnad bekennen, yhm alle ehre geben allein. Darnach folget das drit, gottis dienst uben mit beten, prediget horen, tichten und trachten gottis wolthat, dartzu sich casteyen und sein fleisch zwingen.« (S. 249) Siehe die knappe Zusammenfassung der Luther’schen WerkeLehre von Wolf Krötke, Gute Werke. Dogmatisch. In: RGG4. Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1344f. Zum Anklang in Grete Minde vgl. Ester, ›Grete Minde‹ (wie Anm. 3), S. 59. Siehe GM, S. 95f. Das Gewicht dieser literarisch adaptierten Postfiguration wird am Beispiel des gesamten Werks, aber auch in der biographischen Anverwandlung des Jakob Michael Reinhold Lenz eindrucksvoll vorgeführt von Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl., Göttingen 1968 (= Palaestra, Bd. 226), Kapitel »Wiederholung der exemplarischen Begebenheit«, S. 92–138. Bei Lenz wird die obsessive »Wiederholung der parabolischen Begebenheit« geradezu zum »Motivzwang«, ein »verborgenes Prinzip der dichterischen Gestaltung« seines ganzen Werks (ebd., S. 134). Der Begriff »Träbernfresser« nach der Prodigus-Erzählung Lk 15,16 im Lautstand älterer Luther-Bibeln, »er begehrete seinen bauch zu füllen mit träbern, die die säue aßen« (kurz darauf verschränkt mit Mt 7,6, »Perlen nicht vor die Säue werfen«), wird von Lambert selbst als Schimpfwort eingesetzt, HuC, S. 13f.; siehe Kommentar HuC, S. 130. Die Parabel vom »Verlorenen Sohn« wird in Grete Minde zu einem Leitmotiv ausgebaut (GM, S. 81, 88, 92 und 95f.). Das Emblembild der Palme als Zeichen sieghafter Überwindung wird dort hoch gewichtig im Auftrag des sterbenden Valtin, bei ihrem »Sündfall«Spiel den Moment seines Todes zu realisieren: »spiele den Engel. Und wenn die Stelle kommt, wo du die Palme hebst, dann denk an mich« (GM, S. 82; verschränkt mit dem am nächsten Morgen im Arendseer Kreuzgang Gretes Blick fesselnden, halbverblassten Bild der »Engelsgestalten, die schwebend einen Toten trugen«; GM, S. 83). Bei Raabe wird es humoristisch ins fressbegierige Erobern eines Schinkenbeins gekehrt (HuC, S. 42f., »palmam reportavi«; »zu seiner ›Palme‹ eine Märtyrerkrone verdient«; vgl. Komm. HuC, S. 154). Das Motiv des angesichts des nahenden Todes zu erringenden »Friedens« (der ein irdisches Vorzeichen auch für die ewige Seligkeit wäre) ist in beiden Erzählungen gleich

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von der Frage der Relevanz des Konfessionalismus in den Städtebildern des Frühen Neuzeit und der jeweiligen erzählerischen Sympathielenkung ab und muss hier deshalb unterbleiben. VIII. Die Erwartung, dass rettende Gnade am Ende, in letzter, eschatologischer Dimension auch dem in ärgste Abwege Geratenen, ohne zeitliche Erlösung in Sünde Verstrickten zufallen müsse, äußern auch die von Fontane zu Sympathieträgern erhobenen »Nonnen von Arendsee«, gegen die der unerbittliche Dogmatiker Roggenstroh allsonntäglich geradeso predigt wie gegen den Antichrist. Die glaubensfest-mildtätige Domina von Jagow scheint ganz korrekt die Position der lutherischen Rechtfertigungslehre zu wiederholen, wenn sie Grete mit der Zusage verabschiedet, Valtin gegen dogmatische Bedenken in ihren Gottesacker aufzunehmen, denn gerecht macht auch für sie nur der demütige Glaube und nicht eigenes Wirken und Anrecht: »Und nun geh, Kind. Ich hasse den Hochmut und weiß nur das eine, daß unser All-Erbarmer für unsere Sünden gestorben ist und nicht für unsere Gerechtigkeit.« (GM, S. 86) Auffällig ist aber der unbiblische Begriff für Gott als den »AllErbarmer«, der im Munde Roggenstrohs wie auch Gigas’ mit ihrem Reden von Satan und Antichrist ganz undenkbar wäre, impliziert er doch einen gnädigen Gott, dessen Wesen die Liebe ist und der sich deshalb nach einer notwendigen Frist gerechter Strafe spätestens am Ende der Zeiten selbst des schwärzesten und verfallendsten Sünders erbarmen wird. Diese im 18. Jahrhundert von vielen Pietisten aufgrund von Apg 3,21 verfochtene Lehre der »Wiederbringung aller«, der »αποκατάστασις πάντων«, war zur Lieblingsidee der deutschen Dichter seit Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin geworden.52 Sogar den zahllosen an die Sprachformen der eigenen _____________

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gewichtig aufgeladen, im Segensspruch der Arendseer Priorin für Grete (GM, S. 89) wie im ernsten Zwiegespräch der sterbenden Leah mit dem Mönch Henricus (HuC, S. 81, 95). Die Raabe’sche Quintessenz zum Konfessionenstreit spricht Lambert Tewes aus: »Zum Teufel, den Frieden haben wir erst dann, wenn niemand mehr sofort nach dem Prügel im Winkel greift, wann er sich darauf gespitzt hat zu hören: Vivat Doktor Luther! und es ihm vom andern Tisch herkrächzt: Vivat Clemens der Zehnte – oder umgekehrt!« (HuC, S. 87) Siehe die Sammlung der im Wortschatz von Pietismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang gehäuften »all«-Komposita schon bei August Langen, Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts. In: Friedrich Maurer und Friedrich Stroh (Hrsg.), Deutsche Wortgeschichte. 2., neu bearbeitete Aufl., Berlin 1959 (= Grundriss der Germanischen Philologie, Bd. 17/II), S. 111f. (außer den dort allein für Schubart nachgewiesenen Gottesbezeichnungen »Allbeherrscher«, »Allbelohner«, »Alldulder«, »Allerfüller«, »Allgeist«, »Allkönig«, »Allrichter«, »Allvollender«, »Allwisser« verzeichnet das Register, bearbeitet von Heinz Rupp, ebd., Bd. 3, Berlin 1960, S. 4f., auch noch »[der] All-Eine«, »allerbarmherzigst«, »Allheit«, »Allherrscher«, »allwaltend«), ferner August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2., er-

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Epoche annähernden Revisionen der Luther-Bibel war offenbar der begründende Schriftbeleg zu gefährlich, um sprachlich verständlich und nachvollziehbar gemacht zu werden, so dass man ihn in Konkordanzen nur unter dem verschrobenen Kunstwort »herwiederbringen« finden kann.53 Der Gott der Liebe steht da deutlich gegen den in Höxter und Corvey vom grimmen Pastor Vollbort, aber auch von der sterbenden Leah mit ihrer lebenslang erbarmungslosen Kriegserfahrung angesprochenen Gott als »Zebaoth«, »Herr der Heeresscharen«.54 Die Vorstellung dieses kriegerischen, kaum menschenfreundlich-verstehbaren Gottes war wohl auch dem immer wieder bohrend die Theodizee-Frage stellenden Raabe näher als die Zuversicht auf einen Gott unendlich erbarmender Liebe. Dem ganz offenbar einer Ausgleichstheologie zuneigenden Fontane55 aber muss die von den Dichtern des Idealismus propagierte Vorstellung eines all-liebenden, nicht endlos strafenden Gottes am ehesten eingeleuchtet haben, so dass er den auf Geheiß der alten Oberin von der künftigen Vorsteherin Ilse von der Schulenburg über Valtins Grab gesprochenen Leitspruch des Konvents, der von der gut lutherischen Verwerfung der Werkgerechtigkeit fortschreitet zur Vorstellung einer all-erlösenden Gnade gleichsam testamentarisch durch alle Stiftsdamen wiederholen lässt: Und nun schwieg die Glocke, und die Domina sagte: ›Sprich den Spruch, Ilse.‹ Und Ilse trat bis an das Grab und betete: ›Unsre Schuld ist groß, unser Recht ist

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gänzte Aufl., Tübingen 1968, S. 503 sowie 461–463. Literaturhinweise zur Herleitung der Wiederbringungslehre im Pietismus seit Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen habe ich zusammengestellt: Hans-Jürgen Schrader, Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranz-programmatischem Philadelphia. In: Johannes Burkardt und Bernd Hey (Hrsg.), Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz, Bielefeld 2009 (= Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 35), S. 157–194, hier S. 174f.; zur Vorliebe für die Vorstellung der Allversöhnung bei den genannten deutschen Dichtern, mit weiterer Literatur: ders., Modell des Menschen: ›Hiob‹ im Goetheschen ›Faust‹. In: Colloquium Helveticum 34 (2003), S. 159–191, hier S. 180–185; ders., Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (wie Anm. 35), S. 57–88, hier S. 84–88. Beispiel: Calwer Bibelkonkordanz oder vollständiges biblisches Wortregister. Hrsg. vom Calwer Verlagsverein. 3., verbesserte Aufl., Stuttgart 1922, S. 580 (zu Apg 3,21). HuC, S. 20, 84, 88 und Kommentar, S. 136 und 176f. Im Kommentar dieser Edition sind auch die weiteren häufigen Bibelallusionen ausgewiesen. Den Umgang mit biblischen Modellen und ihre Funktion (hier bes. »Sündflut«-Motiv) reflektiert grundlegend Detering, Theodizee (wie Anm. 5), S. 87–89, da zu »Zebaoth«, S. 173f.; siehe die Interpretation im Sinne der Geschichtssicht Schopenhauers: Fauth, Der metaphysische Realist (wie Anm. 5), S. 176, zu »Zebaoth« S. 177, 179, 181–184. Ganz auf das Kriegsmotiv in dieser Erzählung konzentriert sich die Untersuchung von Isabelle Chopin, Die Topographie des Krieges in Erzählungen Wilhelm Raabes. In: JbRG (2000), S. 52–73, hier S. 60–70. Auf bei Fontane häufige Figurationen einer Wiederbringung zur alliebenden Gottesgnade weist ohne diesen Terminus auch Sagarra, ›Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen‹ (wie Anm. 4), S. 47, 50, hin.

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klein, die Gnade Gottes tut es allein.‹ Und alle Nonnen wiederholten leise vor sich hin: ›Und die Gnade Gottes tut es allein.‹ (GM, S. 87)

Ich kann zusammenfassen: Bei aller extremen Unterschiedlichkeit der Erzählverfahren dienen die historisch grundierten Entwürfe frühneuzeitlicher Städte und der städtischen Gesellschaften Raabe wie auch Fontane weniger zu einem historistischen Lehrexempel des Lebens in weit vergangenen Zeiten oder als Basis zum Verständnis der Geschichtsgewordenheit der gegenwärtigen Zustände; – es geht vielmehr um alle Bevölkerungsschichten einbegreifende Warnungen gegen akute Gefahren der eigenen Zeit, konkret im neuen Deutschen Reich in der Phase des Kulturkampfs, wobei sich die Leser die Parallelen und Analogien zwischen dem plastisch entworfenen Einst und dem darin verfremdet vorgespiegelten Jetzt selber herauszufinden haben und ihre Handlungsmaximen damit überdenken können. Die im Vordergrund stehenden Gefahren aber sind die neuerlich das politische und soziale Miteinander bestimmende materielle Gesinnung und Habgier, die innere Zwietracht und die beschränkte Abwehr alles Fremden, die dazu führen, tatsächliche Außenbedrohungen und Keime neuer Kriege zu ignorieren oder in Kauf zu nehmen, schließlich vor allem die Bereitschaft zu neuer religiös ummantelter Verhetzung und rechtsverweigernder Ausgrenzung der Minoritäten, gehe es nun einmal aufs neue gegen die Katholiken oder gegen die Juden. Propagiert wird in beiden Erzählungen ein produktives und nicht durch auswärtige ideologische Direktiven im Sinne nur partikularer Interessen turbiertes Miteinander der unterschiedlichen Gesellschaftskräfte, Denkformen und Spiritualitäten in einer fruchtbar vielgestaltigen Gemeinschaft.

Vom Nebeneinander zur Durchkomponierung Beobachtungen zur Gleichzeitigkeit von Karl Gutzkows »Die neuen Serapionsbrüder« und Friedrich Spielhagens »Sturmflut« Jeffrey L. Sammons

Das Nebeneinander von Gutzkows Die neuen Serapionsbrüder und Spielhagens Sturmflut,1 beide in den Buchausgaben 1877 erschienen und jeweils schon vorher im Berliner Tageblatt in Fortsetzungen gedruckt, nochmals zu kommentieren, könnte müßig anmuten. Der Vergleich ist seit der ersten Rezeptionsstunde naheliegend gewesen und ist mehrmals in unserer Zeit gezogen worden, besonders von dem verdienten Mitarbeiter an der in Entstehung begriffenen digitalen Ausgabe von Gutzkows Werken, Kurt Jauslin.2 Wenn ich mir trotzdem anmaße, das Thema nochmals zur Sprache zu bringen, so mit dem Zweck, den Blick auf Spielhagen etwas über Sturmflut hinaus zu richten. Sturmflut ist wohl sein letzter wirklicher Publikumserfolg und der letzte große Roman mit einem optimistischen _____________ 1

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Beide Romane werden im Folgenden unter Verwendung von Textsiglen zitiert: ›NS‹ = Karl Gutzkow, Die neuen Serapionsbrüder. Hrsg. von Kurt Jauslin. Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. vom Editionsprojekt Karl Gutzkow. Erzählerische Werke. Bd. 17, Münster 2002; Sf = Friedrich Spielhagen, Sturmflut. Ausgewählte Romane. 1. Serie. Bde. 8–9, Leipzig 1890. Vgl. Kurt Jauslin, Die neuen Serapionsbrüder. Überlieferung bis Globalkommentar (PDF). In: http://projects.exeter.ac.uk/gutzkow/Gutzneu/gesamtausgabe/index.htm, S. 124–126; Jauslin, Ansichten ›realistischen‹ Erzählens. Gutzkows ›Die neuen Serapionsbrüder‹ im Vergleich mit Spielhagens ›Sturmflut‹. In: Gustav Frank und Detlev Kopp (Hrsg.), Gutzkow lesen! Beiträge zur Internationalen Konferenz des Forum Vormärz Forschung vom 18. bis 20. September 2000 in Berlin, Bielefeld 2001, S. 363–384. Auf Jauslins Vergleich bezieht sich Dirk Göttsche, Gutzkow und Laube. Poetologische Aspekte einer Zeitgenossenschaft zwischen Vormärz und Realismus. In: Gert Vonhoff (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Beke Sinjen und Sabrina Stolfa), Karl Gutzkow and His Contemporaries. Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen. Beiträge zur Internationalen Konferenz des Editionsprojektes Karl Gutzkow vom 7. bis 9. September 2010 in Exeter, Bielefeld 2011, S. 79–106, bes. S. 102–104. Andere bedeutsame Gegenüberstellungen finden sich bei Katherine Roper, German Encounters with Modernity. Novels of Imperial Berlin, Atlantic Highlands, New Jersey/London 1991, S. 60–69, und Gert Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage. Romane von Karl Gutzkow, Frankfurt am Main/Bern 1994, bes. S. 265f., 282–284, 336f.

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Ausblick auf die Lebensmöglichkeiten im Reich geblieben und folglich der letzte, der im Allgemeinen von der Literaturwissenschaft wahrgenommen worden ist.3 Er hatte aber fast ein Vierteljahrhundert literarischer Produktivität vor sich; dass die Rezeptionsgeschichte die Qualität nicht notwendigerweise verbürgt, kennen wir schon aus unserer Erfahrung mit Raabe. Ich meine, dass Spielhagens schriftstellerisches Können mit der Zeit zugenommen hat und dass er die Herablassung, mit der er oft betrachtet wird, nicht richtig verdient. In einigen Beziehungen scheint der Vergleich der beiden Romane unvermeidlich zu sein. Beide spielen kurz vor und während dem Börsenkrach von 1873, der die Euphorie der Reichsgründung merklich dämpfte, teilweise in Berlin, teilweise in der Provinz. Beide registrieren sich verändernde Klassenverhältnisse und Arbeiterunruhen. In beiden werden Liebesbeziehungen über Kreuz und über Klassengrenzen hinaus dargestellt, die manchmal gelingen, manchmal nicht. In beiden kommen blendend schöne Femmes fatales zu einem schlimmen Ende. In beiden gibt es Verbrechen verschiedener Art, von Veruntreuungen und unlauteren Börsenspekulationen bis hin zum Mord. In beiden wird am Ende eine leidlich ausgeglichene gesellschaftliche Ordnung wiederhergestellt. Das zeigt, dass sie literatursoziologisch zur selben Epoche gehören. Selbstverständlich gibt es auch beträchtliche Unterschiede, die auf einen literaturgeschichtlichen Generationswechsel hindeuten. Der alternde Gutzkow, der einst Spielhagens erste Publikation in sein Journal aufgenommen und ihn sonst ermuntert hat,4 fühlte sich jetzt von dem jüngeren Mann bedrängt, zunächst im ganz wörtlichen Sinne, da der Zeitungsdruck seines Romans auf das ziemlich umfangreiche Werk Spielhagens warten musste. Es verunsicherte Gutzkow, dass der Name »Ottomar« in beiden Romanen vorkam, obwohl die Figuren keine Ähnlichkeit

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Siehe z. B. Dieter Kafitz, Figurenkonstellationen als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Freytag – Spielhagen – Fontane – Raabe), Kronberg im Taunus 1978, S. 91–122. Kafitz beurteilt Spielhagen ziemlich negativ, behandelt aber fast ausschließlich Sturmflut. Vgl. Friedrich Spielhagen, Finder und Erfinder. Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1890, Bd. 2, S. 275f. Der Aufsatz Können und sollen unsere Frauen den Homer lesen? Nach einem mündlichen Vortrag, den Spielhagen für seine Schwester geschrieben hat, erschien in Unterhaltungen am häuslichen Herd 3 (1854/55), S. 379–382, 391–395. Die Behauptung seines Biographen Hans Henning, Friedrich Spielhagen, Leipzig 1910, S. 65, Spielhagen habe »diesen Homervortrag in seine Vermischten Schriften aufgenommen«, ist eine Verwechslung. Der Aufsatz Homer in Friedrich Spielhagen, Vermischte Schriften, Berlin 1864–1868, Bd. 2, S. 3–46, ist erst 1866 entstanden. Den Irrtum habe ich von Henning übernommen in Jeffrey L. Sammons, Friedrich Spielhagen: Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. 7. Für freundliche Hilfe zu diesem Punkt bin ich Gert Vonhoff und Wolfgang Rasch zu Dank verpflichtet.

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miteinander haben.5 Spielhagens mit dem Autor befreundeter Verleger bringt das Buch schnell auf den Markt, während Gutzkow noch auf die Korrektur wartet.6 Mit der Zeit ärgerte er sich über »das Tobsüchtige Wüthen bei Spielhagen«, die »Spielhagenerei« im Gegensatz zur eigenen »Rückkehr zur alten Tieck’schen Einfachheit, Langsamkeit der Fabel, Behaglichkeit der Ausführung«.7 Das ist schlicht Unsinn; Gutzkows Roman ist reich an Sensationen, melodramatischen Krisen, handgreiflichen Streitigkeiten, Geschrei, Drohungen mit Brandstiftungen, zerrissenen Familien mit einem Sohn, der wie Franz Moor nicht seinen Vater, sondern seine Mutter »durch Schrecken tödten« will (NS, S. 211). Spezifisch tadelt er nur, dass Spielhagens bürgerlicher Ernst Schmidt 1848 einen Hass auf einen mit Gewalt drohenden Offizier internalisiert hat: »Welch ein Unsinn! Man macht auch so auf der Barrikade persönliche Bekanntschaften u haßt Menschen, die ihre Pflicht thun müssen!«8 Dass gerade dieses sozialpolitische Moment den einstigen Jungdeutschen gestört hat, ist bezeichnend für den weltanschaulichen Kontrast. Erwähnt wird nicht, dass sich Ernst und der General im Lauf des Romans zu einer Versöhnung miteinander durchkämpfen. In der weiteren Perspektive liegt die Auseinandersetzung wohl in der aufreibenden Konkurrenz ambitionierter professioneller Schriftsteller miteinander in dieser Zeit, die wenigstens teilweise Raabes bittere Sicht auf Spielhagen erklärt; auf seiner Seite hat der umfassend belesene, kritisch schreibfreudige Spielhagen, so weit ich sehe, Raabe kein einziges Mal genannt.9 Raabe hat Gutzkow auch nicht sehr geschätzt, obwohl er bei dessen Tod die Mühsal seiner Laufbahn würdigte.10 Be_____________ 5

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Siehe Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 11f. Zwei Redewendungen, die Spielhagen als Titel gebraucht hat, kommen bei Gutzkow vor: »durch Nacht zum Licht« und »Hammer und Amboß« (NS, S. 164, 270); sie sind aber so bekannt, dass sie nichts mit Spielhagen zu tun haben müssen. Gutzkow selber hat »Durch Nacht zum Licht« früher als Titel benutzt; siehe Kurt Jauslin, Die neuen Serapionsbrüder. Einzelstellenkommentar. Bd. 1 (PDF). In: http://projects.exeter.ac.uk/gutzkow/Gutzneu/gesamtausgabe/index.htm, S. 74. Siehe Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 22f. Zitiert nach ebd., S. 46. Zitiert nach ebd. Siehe Jeffrey L. Sammons, Wilhelm Raabe und Friedrich Spielhagen. Eine kontrafaktische Spekulation. In: JbRG (2003), S. 44–56. Das liebenswürdige blinde Mädchen Cilli in Sturmflut könnte an die blinde Eugenie Leiding in Raabes Ein Frühling erinnern; wahrscheinlicher ist wohl, dass beide auf die blinde Liane in Jean Pauls Titan zurückgehen. Spielhagen, der manchmal als Gutzkows Nachfolger betrachtet wurde, hat ihn nicht als Modell gesehen; siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 7f., 56, 22. Die etwas beschränkte Nichte von Lina Nebelung in Eulenpfingsten liest »nur die neuen Bücher aus der Leihbibliothek […] ›Die Ritter vom Geist‹, Auerbachs ›Dorfgeschichten‹ und Freytags ›Soll und Haben‹«, nicht wie die intelligente Lina Tristram Shandy (BA 11, S. 384). Bei Gutzkows Tod erinnerte Raabe sich an seinen jugendlichen Besuch bei ihm und schrieb gleichsam als Nachruf: »Kein Poet aber ein großer Schriftsteller! Ein Mann,

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kanntlich führte der Konkurrenzdruck bei Gutzkow zum Verfolgungswahn.11 Das erste, was dem Betrachter von Gutzkows Roman in den Blick fällt, ist der Bezug zu E. T. A. Hoffmanns Serapionsbrüdern, der viele Leser irritiert hat. Ab und zu ist über die Funktion dieser Montagsgesellschaft eingesessener Bürger im Roman, die in unregelmäßigen Abständen den Weltlauf kommentieren, nachgedacht worden.12 Sie wird keineswegs als literaturkritischer Metadiskurs eingesetzt, noch gibt es eine Spur von Hoffmanns zweiter Wirklichkeit, die für ihn eben so real wie die alltägliche war.13 Gutzkow hat sich gelegentlich recht abfällig über Hoffmann geäußert.14 Einer der neuen Serapionsbrüder behauptet, er habe ihn noch gekannt (vor fünfzig Jahren?), »den Mann mit dem Eulengesicht und der Eulennatur, der diesen Namen für eine Sammlung Novellen verschiedenen Werthes wählte« (NS, S. 32). Wie Jauslin richtig bemerkt hat, »gilt ihm Hoffmann geradezu als Prototyp einer abgelebten Romantik«.15 Es gibt aber einen anderen literarischen Prototyp, der anscheinend ernster genommen wird: Goethes Wahlverwandtschaften. Gutzkow bezeichnete seinen Roman als »ein[en] Liebesroman im alten Goetheschen Sinne ohne alle Sensationsbestrebung«; »der Schlußeindruck [wird] der eines einfachen Liebesromans sein, nicht allzuweit vom Thema der Wahlverwandtschaften«; »Mein Roman ist ein Liebesroman im Geiste der Wahlverwandtschaften. Daß dabei m o d e r n e S u b s t r a t e vorkommen, ist durch die _____________

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dem man immer mit Erstaunen zusah, wie er sich im Schweiße seines Angesichts durch den Quark und Mist der Zeit arbeitete. Ich bin überzeugt, im Geheimen kommt sich mancher der Lieblinge unseres Publikums selber recht klein [vor] gegen diesen ruhelosen, keuchenden, mit Allem was ihm in die Hände fiel bauenden Menschen!« (Raabe an Wilhelm und Marie Jensen, 25. Dezember 1878; BA Erg.-Bd. 3, S. 301) Wenn es Differenzen gegeben hat, dann wohl wie oft bei Raabe in Fragen der Narrativik. Nathali Jückstock-Kießling, Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen 2004, S. 198–201, meint, Drei Federn sei eine Auseinandersetzung mit Gutzkows Nebeneinander. In Bezug auf Die neuen Serapionsbrüder beklagte er »die freche Aufdringlichkeit der Auerbachschen Dorfgeschichte u das Treiben der Grenzboten, das von Auerbach dirigirt wurde« (Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar [wie Anm. 2], S. 46). Siehe vor allem Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 112–114. Zwar könnte der Vorschlag, die Brüderschaft nicht nach dem heiligen Serapion, sondern nach dem von den Ptolemäern erfundenen ägyptischen Gott Serapis mit dem damit zusammenhängenden Motiv der »Sonne der Nacht« zu benennen (NS, S. 33f.), auf eine transzendentale Dimension hindeuten. Leider habe ich das Motiv der »Sonne der Nacht« nicht richtig verstehen können, auch nicht nach der Erläuterung von Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 137–148. Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum (wie Anm. 2), S. 292, verurteilt das Bekenntnis »zum geheimnisvollen Walten der Natur […] in seiner ganzen philiströsen Banalität.« Siehe auch weiter dazu ebd., S. 295–301. Siehe Jauslin, Einzelstellenkommentar (wie Anm. 5), S. 14. Eine der Figuren meint, die abscheuliche Baronin Ugarti würde »in Hoffmanns Märchen gepaßt haben« (NS, S. 335). Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 112.

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Zeit geboten.«16 Der Graf Udo Treuenfels heiratet aus familienpolitischen Gründen, aber ohne rechte Liebe die schöne, aber für seine Begriffe etwas überspannte Ada von Forbeck, liebt aber die bürgerliche Helene, Schwester seines Busenfreunds Ottomar Althing; Ottomar und Ada lieben sich leidenschaftlich. Da aber Udo und Ottomar als Gentlemen zu viel Respekt und Rücksicht voreinander haben, um die Sache ins Lot zu bringen, forciert Ada eine Lösung, indem sie Ottomar in von Udo stibitzter Männerkleidung besucht, dadurch einen Skandal provoziert, der eine Scheidung von Udo und die Verbindung mit Ottomar ermöglicht. Der etwas schwerfällige Graf gewinnt Helene aber nicht. Diese ungewöhnliche Episode mit ihrem Cross-dressing und Partnertausch ist recht amüsant und wohl für die Zeit ziemlich gewagt; sie bezeugt aber kein ernsthaftes Verhältnis zur mehrdeutigen psychologischen Tragödie der Wahlverwandtschaften, eher ein parodistisches. Spielhagen sollte mit der Zeit eine andere Beziehung zum literarischen Erbe entwickeln. Sturmflut bezieht sich, so weit ich sehe, auf keinen anderen spezifischen Roman. Ein erkennbarer Einfluss kommt aber von einem literarisch begabten Historiker, Jules Michelet, dessen essayistisches Werk La Mer, das Spielhagen 1861 übersetzt hat, von einem sechstägigen Sturm an der Mündung der Gironde berichtet und wohl in den Ton und die Einzelheiten seiner Darstellung der Sturmflut eingeflossen ist. Einflüsse aus der Weltliteratur wurden aber für sein Schaffen immer wichtiger. Immer wieder lassen sich literarische Texte, manchmal aus kritischer Perspektive, in Spielhagens Romanen als Folien erkennen: in Quisisana Goethes Der Mann von funfzig Jahren; in Alles fließt Ibsens Nora (allerdings mit umgekehrten Genderbeziehungen, da die Frau hofft, der etwas schlaffe Mann habe die Tür zugeschlagen, aber enttäuscht wird); in Noblesse oblige kritisch und nachdenklich Rousseaus Julie, ou la nouvelle Héloïse; in Sonntagskind mit subtiler Ironie Walter Scotts Quentin Durward und als Gegenbeispiel der von Spielhagen leidenschaftlich verabscheute Roman von Dumas fils, Affaire Clémence; in Faustulus, parodistisch und absichtlich trivialisierend, Goethes Faust.17 Anspielungen und Einflüsse finden sich an mehreren Stellen. Spielhagen hat schon früher die Szene der Belagerung des Blockhauses in Deutsche Pioniere von Charles Sealsfields Lebensbildern aus _____________ 16 17

Zitiert nach ebd., S. 11, 45, 46f. Siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 67, 178, 283, 138, 238–240. Zum besonderen Fall von Noblesse oblige siehe Jeffrey L. Sammons, Fighting Napoleon — Loving the French. Friedrich Spielhagen, ›Noblesse oblige‹ (1888). In: Waltraud Maierhofer, Gertrud M. Rösch und Caroline Bland (Hrsg.), Women against Napoleon. Historical and Fictional Responses to His Rise and Legacy, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 247–263. Zu Quisisana und Faustulus siehe Jeffrey L. Sammons, ›Heiliger Goethe, bitt’ für mich‹. Friedrich Spielhagen and the Anxiety of Influence. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S. 227–239, bes. S. 232–234.

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der westlichen Hemisphäre übernommen.18 Es ist denkbar, dass der Erfolg von Zolas Nana in Deutschland Spielhagens kontroverse Angela möglich gemacht hat.19 Der adlige, bildungsunzugängliche Liebhaber der jüdischen Rebekka in Herrin identifiziert sich irrtümlich mit Scotts Ivanhoe, während sie sich nach Thackerays Becky Sharp Becky nennt, was übrigens kein gutes Zeichen ist.20 Der Titel von Das Skelett im Hause stammt aus einer Redewendung, die Thackeray in Umlauf gesetzt hat.21 Stumme des Himmels ist voller Anspielungen auf die englische Literatur22 und das vorher erwähnte Sonntagskind auf die Weltliteratur; dort gibt es sogar ein mögliches Echo aus Gutzkows Die neuen Serapionsbrüder. Das unwiderstehlich schöne Waisenkind unklaren Ursprungs, Isabel, hat blondes Haar, braune Augen und schwarze Brauen,23 ähnlich wie die betörend schöne Femme fatale unklaren Ursprungs Edwina Marloff bei Gutzkow: »Aschblondes Haar – braune Augen – schwarze Wimpern und Brauen« (NS, S. 125). Zufällig war, dass Spielhagen mit Zum Zeitvertreib auf den selben Stoff wie Fontanes Effi Briest gekommen war, was zu einem etwas spröden Briefwechsel mit Fontane geführt hat;24 das könnte aber auch ein Zeichen dafür sein, dass Spielhagen einen festeren Platz in der literarischen Ordnung erlangte als Gutzkow wenigstens in seiner letzten Phase angestrebt hat. Die auffallende Intertextualität Spielhagens schafft im Text alternative Blickpunkte, die die Erzählperspektive komplizieren und mehrdeutig bereichern. Während das Motiv der Serapionsbrüder bei Gutzkow etwas unbestimmt und diffus wirkt, steht im Zentrum von Spielhagens Roman vom Titel an eine feste, starke Metapher. Vielleicht könnte man hier statt von einer Metapher von so etwas wie einem ›objective correlative‹ reden, weil die Sturmflut einerseits ein handfestes Ereignis der Handlung, andererseits ein Bild für gesellschaftliche und ökonomische Umwälzungen ist. Sie dient unter anderem als Gleichnis für die Goldmilliarden, die Bismarck von den besiegten Franzosen erpresst hat und die, wenigstens der Meinung der Zeit nach, wie von einer der Romanfiguren präzisiert wird (Sf 8, S. 70f.), wie eine böswillige antike tyche die noch etwas primitive deutsche Wirtschaft verwirrt und korrumpiert haben statt das Reich zu kräftigen. Das ist _____________ 18

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Siehe Jeffrey L. Sammons, Die Verteidigung des Blockhauses dreiunddreißig Jahre später. Streiflichter auf Friedrich Spielhagens ›Deutsche Pioniere‹ (1870). In: Alexander Ritter (Hrsg.), Charles Sealsfield. Lehrjahre eines Romanciers 1808–1829. Vom spätjosefinischen Prag ins demokratische Amerika, Wien 2007, S. 183–192. Siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 164. Siehe ebd., S. 263. Siehe ebd., S. 122f. Zur Quelle siehe Fred R. Shapiro (Hrsg.), The Yale Book of Quotations, New Haven/London 2006, S. 753. Siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 247. Siehe ebd., S. 234. Siehe ebd., S. 289–304.

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aber nicht ohne menschliche Verantwortung geschehen; bei Spielhagen wird die Krise von geldgierigen Spekulanten, nicht zuletzt von in finanzielle Verlegenheiten gekommenen Adligen herbeigeführt. Man meint, die finanziellen Nachrichten von 2009 zu lesen.25 Falls wir Leser etwas langsam von Begriff sind, wird von dem Präsident von Sanden das Korrelativ deutlich gemacht: Nun I h r e Sturmflut, – ich hoffe zu Gott, sie wird nicht kommen; – aber, wenn sie käme, wie Sie prophezeit haben – ich würde sie für ein Gleichniß dessen nehmen, was über uns hereindroht, ja! für ein Zeichen des Himmels, ob wir vielleicht, aus unserm frevelhaften Taumel, aus unserm Schaum- und Traumleben erwachend, emporschreckend, uns den gleißenden Schein aus den Augen reiben, um – wie unser Fichte sagt, zu sehen, – ›das, was ist‹. (Sf 9, S. 156)

Dies ist vielleicht nebenbei als eine Formel für den Realismus zu nehmen. Die Darstellung des Sturms ist eine Glanzleistung der Erzählkunst, m. E. vergleichbar mit Joseph Conrads Typhoon fünfundzwanzig Jahre später.26 Der Sturm beginnt auf S. 200 des zweiten Bandes in der Standardausgabe, lauert aber lange im Hintergrund, während sich die Krisen in der gesellschaftlichen und finanziellen Welt abspielen. Spielhagen rückt die Chronologie zurecht, damit der Sturm vom November 1872 mit der Rede Eduard Laskers vom 7. Februar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus, wo er den Filz in den Eisenbahnkonzessionen entlarvte, zusammenfällt. Wieder darf der Leser nicht missverstehen: Der Sturm, welcher heute durch die Kammerdebatte gebraust ist, wird die Dächer mancher Fabrik auf Actien noch ganz anders abdecken, manch’ großes Haus, das heute Morgen noch sehr fest zu stehen schien und die Börse beherrschte, bis in seine Grundmauern erschüttern und andere zum schmählichsten Falle bringen! (Sf 9, S. 227)

Die Nachricht von dieser Rede bringt Unruhe in ein vulgäres, prunkvolles, die chaotischen Zustände der gesellschaftlichen Verhältnisse inszenierendes Fest des Millionärs Philipp Schmidt, verstoßener Sohn des altliberalen Marmorhändlers Ernst Schmidt und Vetter des Romanhelden, des Kauf_____________ 25

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Ein neues Buch macht klar, dass der gleichzeitige amerikanische Eisenbahnbau ganz ähnliche Phänomene zeitigte, wie politische Korruption, raffgierige Kapitalisten, schlecht begründete Investitionen, verwässerte Aktien an ahnungslose Leute verkauft, fragwürdige Unternehmungen und endgültigen Krach: Richard White, Railroaded. The Transcontinentals and the Making of Modern America, New York 2011. Ein Kapitel heißt: »Annus Horribilis 1873«, S. 47–87. Siehe Martin Swales, Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen, Berlin 1997, S. 106: »Die Sturmflut wird zur organisierenden Konstellation einer differenzierenden, breitspektrigen epischen Darstellung.« Im Allgemeinen hat Swales keine große Meinung von Spielhagen.

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schiffkapitäns und späteren Lotsenkommandeurs Reinhold Schmidt. Am Höhepunkt des Taumels wird Philipp als Verbrecher verhaftet, entflieht aber mit Hilfe einer vorher ausgedachten List; viel später erfahren wir, dass er auf dem Wege nach Chile festgenommen wird, wobei er sich erschießt. Zur gleichen Zeit nehmen die zerrütteten Familienverhältnisse ihren Lauf. Der ekelhafte, mit Eisenbahnlinien spekulierende Graf Golm verführt Carla von Wallbach, die schicke Wagnerianerin und ungeliebte Braut Ottomars von Werben, der sich als Offizier entehrt, indem er Wechsel auf den Namen seines Vaters, General von Werben, fälscht. Der überstrenge Vater schickt ihm eine Pistole; statt sich zu erschießen, flieht er aber mit der geliebten Künstlerin Ferdinande Schmidt. Alle diese Verhältnisse mitsamt anderen münden in die Katastrophe des die Küstenlandschaft überflutenden Sturms, den unser Held Reinhold Schmidt schon am Anfang des Romans durch seine professionelle Kompetenz und bessere Einsicht vorausgesagt hat. Der epochale Sturm wird durch eine verlangsamte Erzählzeit zu einem erzählerischen Nebeneinander, wenn wohl nicht ganz im Sinne Gutzkows. Die Szene wechselt dauernd von einem Schauplatz zum anderen, von Todesgefahr zu Rettungsversuchen, vom Heldentum zur Feigheit, vom Überleben einerseits zum Untergang im Sinne poetischer Gerechtigkeit andererseits. Diese Architektonik könnte berechnet anmuten. Sicher ist der Formtrieb strenger als bei Gutzkow, dessen Spieltrieb zu einer lockeren Fügung führt, die unter Umständen einen weniger prätentiösen, vielleicht gar ›moderneren‹ Eindruck machen könnte. Der Unterschied ist Wilhelm Scherer aufgefallen. »Spielhagen«, schrieb er, »ist […] strenger als irgend ein Erzähler, den ich kenne«. Er fügte aber hinzu: Wie roh und ungeschlacht, wie nachlässig und bequem schrieb oft Gutzkow. Bei Spielhagen ist alles correkt, geputzt, durchgefeilt, höchst sauber und zierlich. Aber doch steckt in Gutzkows Stil ein Element der Ursprünglichkeit, ein naives, wild leidenschaftliches Greifen nach den Sachen, das man bei Spielhagen manchmal herbeiwünscht. Er hat immer Handschuhe an. Seine Sprache […] fährt uns angenehm auf Gummirädern; wir sehnen uns manchmal nach dem Rasseln oder selbst nach einem kleinen Stoße.27

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Wilhelm Scherer, Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Hrsg. von Erich Schmidt, Berlin 1893, S. 167, 170. Dass Scherers Kommentare zu Spielhagen eine systematische Abwehr der Zwänge seiner Theorien bezeigen, zeigt Lothar L. Schneider, Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tübingen 2005, S. 104–129. Dabei pflegten Spielhagen und Scherer ein freundschaftliches Verhältnis miteinander. Erstausgaben von Spielhagens Werken finden sich in Scherers Bibliothek; siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 53, Anm. 5.

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Für die Epoche des Realismus aber meine ich, dass die durchkomponierte Struktur Spielhagens zukunftsträchtiger sein mag. Was den Realismus angeht, ist der Bezug auf die zeitlichen Umstände bei Spielhagen deutlicher. Die erzählte Zeit wird gleich am Anfang in einem Brief fixiert: »26. August 72« (Sf 8, S. 6). Die aktuelle Technik der Eisenbahn und der Schifffahrt ist anschaulicher als bei Gutzkow. Die Klassengegensätze sind schärfer gezeichnet. Die Korruption wurzelt hauptsächlich in einem funktionslos gewordenen, hoffnungslos verschuldeten Adel, der versucht, seine zerrütteten Finanzen im Bunde mit Komplotte schmiedenden Gründern zu sanieren, die eine großbürgerliche Klasse für sich darstellen. Zwar steuert der Roman einer vielleicht etwas wirklichkeitsfernen Versöhnung zu. Die alten Gegner von 1848 her, der an seiner adligen Ehre festhaltende General von Werben und der ebenso fanatisch prinzipienfeste Altliberale Ernst Schmidt, kommen über den gemeinsamen Verlust ihrer Söhne zu einer Verständigung. Im Grunde aber trägt das Bürgerliche auf der ganzen Linie den Sieg davon. Ernst ist stolz darauf, dass seinem moralisch bloßgestellten Sohn Philip so viel Ehre geblieben ist, sich (im Gegensatz zu Ottomar von Werben) zu erschießen, während General von Werben am Ende wünscht, das Todesurteil zurücknehmen zu können, um nur den Sohn wiederzugewinnen. In den Liebesbeziehungen über Klassengrenzen hinweg siegen die Bürgerlichen. Der makellose Held Reinhold Schmidt kriegt Else von Werben, während Mieting von Strummin, die von vorn herein ihre adelige Herkunft als »dummes Zeug« betrachtet (Sf 8, S. 78), den angehenden Bildhauer Justus Anders heiratet, da ihr Vater einsieht, dass er mehr Zukunft hat als ein verdorbener Adliger. Unter den adligen Liebhabern wird Ottomar ein Opfer des Sturms und Graf Golm, obwohl von Reinhold gerettet, durch sein unmännliches Betragen in den Augen Carlas völlig vernichtet. Die Klassengegensätze werden bei Gutzkow weniger scharf gezeichnet; zwar gehört ein Baron zu den skrupellosen Gründern, aber auch ein Jude, der seinen Adel gekauft hat, während Graf Udo und der bürgerliche Ottomar Althing völlig unbeteiligt bleiben. Gutzkow scheint die Krise eher moralisch als gesellschaftspolitisch zu deuten: »Die moralische Unklarheit über das, was im Handel und Erwerb erlaubt ist, was nicht, rächte sich« (NS, S. 555). Letzten Endes sind alle am Krach schuld; der einzige Jude unter den Serapionsbrüder erklärt: »Kinder Israels waren damals alle geworden. Alle verfielen in die Vergötterung des goldnen Kalbes.« (NS, S. 249)28 _____________ 28

Siehe Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum (wie Anm. 2), S. 281: »Den Restriktionen der Gesellschaft wird in Gutzkows letztem Roman fast ausschließlich der individuelle Wille entgegengestellt. Standeskonflikte oder gar Klassenkonflikte bleiben so weitgehend ausge-

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Bei Gutzkow kennen wir Ort und Zeit der Handlung, aber ohne präzise Bezüge auf die Ereignisse und Persönlichkeiten der Zeit. Spielhagens Umgebung ist deutlicher gezeichnet. Die Machenschaften mit Investitionen, Aktien, Kredit und Hypotheken werden mit einer Genauigkeit beschrieben, die leider meine eigene Sachkenntnis übersteigt. In der Welt des Romans ist die Hauptfigur der Zeit nicht Bismarck, der im Roman ziemlich kritisch betrachtet wird, sondern Eduard Lasker. Er wird nicht gestaltet, es wird nur über ihn berichtet, aber sein Angriff auf die Gründer ist ein Angelpunkt des Romans. Charakteristisch ist, dass der skrupellose Millionär Philipp Schmidt vor seinen Gästen Lasker verlästert, während der junge Künstler Justus Anders ein dreifaches Hoch auf ihn ausbringt (Sf 9, S. 258, 263). Es ist auch bezeichnend, dass Gutzkow Lasker wegen seiner Duldung der Sozialdemokratie angegriffen hat (im Vorwort zur zweiten Auflage; NS, S. 591). Bei Spielhagen bleibt ein halb erblindeter Mann, »welcher, aller amtlichen Autorität entkleidet, dem Kanzler des deutschen Reichs mehr zu schaffen macht, als der Bevollmächtige eines Großstaates es vermöchte« (Sf 9, S. 20), unbenannt, lässt sich aber leicht als der katholische Parteiführer Ludwig Windthorst erkennen. In diesem Zusammenhang möchte ich die am wenigsten gelungene Dimension des Romans, nämlich die schauerliche Darstellung der Gefährlichkeit der katholischen Kirche, kurz streifen. Nicht nur scheint Spielhagen sich trotz seiner Distanz zu Bismarck dem Kulturkampf anzuschließen; das ist vielleicht wenige Jahre nach dem Schock der päpstlichen Unfehlbarkeitsproklamation verständlich. Unerfreulich ist vielmehr die Personifikation der Gefahr in dem aus dem dunkelsten Italien kommenden, arglistigen, manchmal größenwahnsinnigen vatikanischen Beamten Gregorio Giraldi, der die Schwester des dadurch erbitterten General von Werben sexuell hörig gemacht hat und nach ihrem Vermögen intrigiert. Fontane hat ihn als »einfach ridikül« abgetan.29 Das äußerst komplizierte Komplott füllt die Handlung aus und trägt zur Dichte der Erzählung bei, stammt aber aus den übelsten Stereotypen der Trivialliteratur und schadet mit seinem Melodrama dem Realismus des Romans. Noch vertieft wird dieser Eindruck durch die Figur des Bildhauerlehrlings Antonio, der sich als Sohn Giraldis entpuppen soll und Ferdinande aus hemmungsloser Leidenschaft ersticht. Darauf gerät er während des Sturms in ein Hand_____________ 29

spart.« Gutzkows Roman »reproduziert lediglich liberales Unverständnis gegenüber der sozialen Frage« (ebd., S. 302); siehe auch ebd., S. 338. Theodor Fontane, Friedrich Spielhagen. ›Sturmflut‹. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. von Kurt Schreinert et al. München 1959–1975, Bd. 22, Teil 2, S. 199–202, hier S. 200f. Fontane fand den Roman trotz des versöhnlichen Schlusses zu kritisch und düster; er forderte vom Roman, »daß er mich wohltuend berühren und mich entweder über das Alltägliche erheben oder aber […] mir auch das Alltägliche wert und teuer machen soll«; Spielhagen »wandelt weder künstlerisch noch ethisch auf den richtigen Wegen« (ebd., S. 200, 202).

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gemenge mit Giraldi, durch welches beide umkommen. So sind nun einmal die Italiener. Gutzkow dagegen scheint sich in seinem Roman wenig für den Kulturkampf zu interessieren. Überhaupt war er für religiöse Anschauungen zugänglicher als der streng antireligiöser Spielhagen – zumindest soweit sie konventionell waren, wie der landläufige Protestantismus und der Katholizismus, deren Versöhnung er in seinem Roman Der Zauberer von Rom angedeutet hat. Eine deutsch-katholische bzw. freireligiöse Gemeinde wird dagegen verulkt; eine Szene, wo eine Taufe in dieser Gemeinde von Witzbolden mit Wasser bespritzt wird, soll komisch wirken. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe von Die neuen Serapionsbrüder heißt es, möglicherweise in Hinblick auf Sturmflut: »Ist die beständige Karrikirung der Priester, Windthorst’s und anderer Persönlichkeiten nicht eine wahre Gemeinheit?« (NS, S. 595) Jedenfalls kommen dergleichen kulturkämpferische Schauergeschichten und melodramatische Kabalen nach Sturmflut in Spielhagens Romanen und Erzählungen nicht mehr vor. Ziemlich präzis dürfen sich die beiden Romane anhand der Darstellung der Arbeiterklasse vergleichen lassen. In beiden gibt es Arbeitgeber, die mit Arbeiterunruhen konfrontiert sind: der Fabrikant Wolny bei Gutzkow und der Marmorhändler Ernst Schmidt bei Spielhagen. Zunächst darf angemerkt werden, dass Gutzkows Nebeneinander das industrielle Milieu nicht umfasst; er bleibt außerhalb der Fabrikmauern. In dieser Hinsicht ist Spielhagen etwas zeitgemäßer. Schon 1869 hat er den Leser mit Hammer und Amboß in die Fabrik geführt. Auch in Sturmflut ist die Arbeit etwas schärfer als bei Gutzkow gezeichnet. In beiden allerdings kämpfen die Arbeitgeber unerbittlich gegen die unbotmäßigen Arbeiter. Bei Gutzkow sind die Arbeiter schlampig, unzuverlässig und streitsüchtig, Alkoholiker, Kriminalisierte, Polizeispione; sie versuchen zugunsten eines Verwandten ein Testament zu stehlen, werden aber ertappt. Ottomar Althing nennt sie »Die unseligen Aufhetzer« (NS, S. 39). Der Arbeitgeber Wolny bezeichnet »die sociale Frage« als »die Philosophie des Wegelagerers« (NS, S. 115). Als Wolny das Geschäft aufgeben will, kommt es in die Hände von drei Betrügern, einem Aristokraten, einem bürgerlichen Schwiegersohn von Wolny und einem Juden, die den Arbeiterführer als technischen Direktor einstellen. Die Aktien schießen in die Höhe, stürzen dann selbstverständlich wieder ab. Das Unternehmen wird durch »die progressive Rente« bzw. »productive Rente« ruiniert, d. h. die Schnapsidee, die Gewinne mit den Arbeitern zu teilen, über die Wolny nach seiner Rückkehr aus Amerika »laut auflachen« muss (NS, S. 266, 459, 531). Es gibt zwar noch gesunde Menschen im Volk, z. B. in der Umgebung eines Grafenschlosses, »die noch nicht vom Geist der socialen Bewegung angesteckt waren« – sie »zeigten nicht jene böse, tückische Miene, die beim Volk immer mehr überhand nimmt« – oder ältere Arbeiter, die es als Streikbrecher ermögli-

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chen, dass Wolnys Fabrik in Betrieb bleibt (NS, S. 383, 90). Aber Wolny behauptet: »Neid ist es, der blasse Neid, der sich die schimmernden Namen der Volksansprüche gibt.« (NS, S. 167) Die gute Schwester des liederlichen Arbeiterführers behauptet, die Arbeiter führen im Fiaker und tränken Champagner auf offener Straße (NS, S. 111). Als der Arbeiterführer auf den Hund gekommen ist, erklärt ihm Wolny, daß die sociale Frage ein reiner Schwindel der Faulheit, der Arbeitsscheu und einiger verrückten jüdischen Rabbinen, Marx und Heß ist. […] versucht doch einmal, Associationen mit geliehenem Capital! In zwei Jahren löst sich der Versuch auf. Der Kassirer brennt mit der Kasse durch. Der Ausschuß verliert seine Autorität – und wehe uns, wenn wir toll genug wären, mit der Gesellschaft Experimente zu machen! (NS, S. 530f.)30

Am Ende rettet Wolny die Fabrik ohne »die productive Rente« (NS, S. 582). Die Erklärung der Ansprüche der Arbeiter durch Neid, die Unterstellung, dass sie glaubten, nicht mehr arbeiten zu müssen und im Nichtstun zu schwelgen, ist altehrwürdige reaktionäre Mystifikation. Ein anonymer Rezensent von Gutzkows Roman beklagte »eine kreuzzeitungshafte Abkanzelung des Zeitgeistes«.31 Es muss hier betont werden, dass Wolny eine durchaus positive Figur ist. Durch den ganzen Roman hindurch wird er als gewissenhaft, einsichtig und zuverlässig dargestellt. Die grimmige Haltung gegen das einfache Volk und den Sozialismus kommt mehrmals in Gutzkows Schriften vor. Schon in Die Ritter vom Geiste ruft ein industrieller Techniker rebellischen Arbeitern zu: steht von Aufruhr und Empörung ab! [...] glaubt an den im Stillen arbeitenden Weltgeist, der uns mit Schöpfungen überraschen wird, von denen Ihr keine Ahnung habt. Eine Ordnung in diesem Leben muß sein! Sie beruht nicht auf der Vertheilung der Güter, die nur Mord und Brand erzeugen würde, sie beruht auf dem geänderten Begriff vom Staat […]. Das ist das Ziel, das wir nur im Siege des Geistes, nicht dem Siege der Materie finden können.32

In Der Zauberer von Rom ist ein italienischer Carbonaro gegen die Republik, »weil leider sie es ist, die, auf die Massen und deren geringe Bildung gebaut, uns immer und immer wieder in Rom die Macht der Päpste zurück-

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Man könnte fragen, wenn es der Mühe wert wäre, ob Gutzkow hier Marx und Heß mit Proudhon verwechselt. Zitiert nach Jauslin, Überlieferung bis Globalkommentar (wie Anm. 2), S. 87. Karl Gutzkow, Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern. Hrsg. von Thomas Neumann, Frankfurt am Main 1998, S. 3054f.

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geführt hat«.33 Diese Gesinnung, die im Hinblick auf Gutzkows eigene Herkunft aus einer unteren Stufe der Arbeiterklasse psychologisch interessant ist, wird in späteren Jahren, besonders in der Zeit seiner Geisteskrankheit, noch stärker.34 Spielhagens Ernst Schmidt steht auch im Kampf mit seinen Arbeitern. Alle, die sich als Sozialisten identifizieren lassen, werden fristlos entlassen, was einen branchenweiten Streik auslöst. Er meint, er habe alles für die Arbeiter getan, und fühlt sich verkannt. Onkel Ernst ist aber keine restlos bewunderungswürdige Figur wie Gutzkows Wolny. Seine Unnachgiebigkeit seinen Arbeitern gegenüber ist ein Spezifikum seiner ausgesprochenen Starrköpfigkeit, die sich auch in seinem unversöhnlichen Hass auf General von Werben, seiner unerbittlichen Verstoßung des eigenen Sohnes und seiner brutalen Frauenfeindlichkeit, besonders in seiner Beziehung zur eigenen Schwester, ausdrückt. Sein treuer alter Buchhalter erklärt, er müsse auch entlassen werden, da er Sozialist mit einem Hang zum Kommunismus sei, was Ernsts Aktion ad absurdum führt. Er kann nur damit fertig werden, dass er den alten Mann für unzurechnungsfähig erklärt. Sein allzeit vernünftiger und tüchtiger Neffe Reinhold versucht (zunächst erfolglos), den Onkel zu Verhandlungen mit seinen Arbeitern zu überreden. Er vergleicht den Streik mit einer Meuterei auf dem Schiff: Wenn man nicht die Macht hat, die Kerle zu Paaren zu treiben, und Schiff und Ladung nicht zu Grunde gehen lassen will – von dem eigenen Leben, das in Gefahr ist, ganz abgesehen – so muß man wohl Frieden mit ihnen zu machen suchen. Das kommt einem stolzen Manne schwer an – ich weiß es aus eigener Erfahrung; aber es ist doch schließlich das Vernünftige. (Sf 8, S. 251)

Das ist sicher keine entschiedene Parteinahme für die Sache der Arbeiter. Reinhold hat schon seinen Onkel mit gezogenen Pistolen vor drohenden Arbeitern verteidigen müssen, so wie auch Gutzkows Wolny der Forderung nach verkürzter Arbeitszeit mit einem Revolver begegnet (NS, S. 105f.). Ein erpresserischer Arbeiter bei Spielhagen heißt Roller, möglicherweise nach Schillers gehenktem Räuber (Sf 8, S. 293f., 357). Der trotzigste der Arbeiter wird vom Erzähler als »ein Bursch« beschrieben, »der hübsch gewesen sein würde, nur daß das junge Gesicht bereits von bösen Leidenschaften zerwühlt und verwüstet war. Seine hellen frechen Augen sahen wässerig aus, als ob er bereits der Flasche ungebührlich zugesprochen« (Sf 8, S. 154). Ein Diener der Werbens, der wohl die Gesinnung der _____________ 33

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Karl Gutzkow, Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern. Hrsg. von Kurt Jauslin, Stephan Landshuter und Wolfgang Rasch. Gutzkows Werke und Briefe (wie Anm. 1), Bd. 11, Münster 2007, S. 2345. Siehe Jeffrey L. Sammons, Observations on the Gutzkow Revival from the Periphery. In: Vonhoff (Hrsg.), Gutzkow and His Contemporaries (wie Anm. 2), S. 9–51, bes. S. 39–41.

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Jeffrey L. Sammons

Herrschaft assimiliert hat, sagt von Ernsts Arbeitern, dass »sie hingehen und Stricke machen, wie sie es nennen, wenn sie nicht arbeiten und Schnaps trinken« (Sf 8, S. 239). Somit sind wir nicht allzu weit von Gutzkows Sicht entfernt. Aber im Gegensatz zu Wolny darf Ernst nicht auf seinem Standpunkt verharren; nach den Konventionen der literarischen Gattung muss er am Ende etwas milder und humaner werden. Diese ausgleichende Flexibilität ist ein frühes Zeichen von Spielhagens allmählicher Annäherung an die Sozialdemokratie.35 Sie geschieht bei ihm als ursprünglichem Nationalliberalen wohl etwas gegen den eigenen Willen, ist ihm aber, so scheint mir, von der Macht der Tatsachen, d. h. von dem Geist des Realismus aufgezwungen worden.36 Heute wird die Forschung zum Werk von Karl Gutzkow mit außerordentlichem philologischen und interpretatorischen Einsatz betrieben. Man könnte meinen, er sei im Begriff, für die Literaturwissenschaft der neue Wilhelm Raabe zu werden. Es ist verständlich, dass eine gewisse Parteinahme für den wiederentdeckten Schriftsteller daraus erwächst, z. B. bei dem nahe liegenden Vergleich von Die neuen Serapionsbrüder mit Sturmflut. Mir als Außenseiter scheint es aber, dass Spielhagens Roman einen Wendepunkt ankündigt, nach dem sein Realismus kritischer und auch formal literarischer werden sollte.37

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Siehe Sammons, Spielhagen (wie Anm. 4), S. 94–97. Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum (wie Anm. 2), S. 306f., bemängelt Sturmflut in sozialpolitischer Hinsicht, bemerkt aber in der Folge von Kafitz: Figurenkonstellationen (wie Anm. 3), S. 116, dass Spielhagen sich in seinem zweitletzten Roman Opfer einem »ethischen Sozialismus« angenähert habe. Die Entwicklung hat schon früher eingesetzt. Siehe die Bemerkung von Dirk Göttsche, Zeit im Roman: Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 586: »doch bleibt es ein Grundproblem der Ritter vom Geiste, daß die dargestellten Konflikte (anders als später bei Spielhagen) nur zum Teil sozialer, politischer oder überhaupt spezifisch gesellschaftlicher Natur sind«.

Siglenverzeichnis Folgende Werkausgaben und Periodika werden in allen Beiträgen des vorliegenden Bandes unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl zitiert: BA

Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke. 20 Bde. und 5 Ergänzungsbände. Hrsg. im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft von Karl Hoppe und Jost Schillemeit, Göttingen 1960ff. Aus dieser »Braunschweiger Ausgabe« wird nach den jeweils neuesten Bandauflagen zitiert.

GBA

Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Gotthard Erler, Berlin 1994ff.

HFA

Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. 20 in 22 Bdn. in vier Abteilungen. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1962ff. Aus dieser FontaneAusgabe des Hanser-Verlages wird unter Angabe der Abteilung in römischer und des Bandes in arabischer Zahl zitiert.

JbRG

Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft

Zu den Autorinnen und Autoren ROLAND BERBIG, Prof. Dr. phil., Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1982 (Hölderlin-Rezeption in der DDR-Lyrik), Forschungsschwerpunkt Literatur des 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Publikationen u. a. zu Hölderlin, Heine, Storm, Fontane, Eich, Aichinger, Johnson und zu Theorie und Geschichte des literarischen Lebens. Neuere Publikationen: (Mithrsg.) Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium (2011); Theodor Fontane Chronik. 5 Bde. (2010); (Hrsg.) Theodor Fontane als Biograph (2010); (Mithrsg.) Margret Boveri und Ernst Jünger. Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973 (2008); (Redaktion) Ilse Aichinger. Heft 175 Text+Kritik (2007); (Hrsg.) Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann (2005). HELEN CHAMBERS, Emeritus Professor of German an der Universität St. Andrews (Großbritannien); PhD Glasgow 1978 (Supernatural and Irrational Elements in the Works of Theodor Fontane, 1980). Buch- und Aufsatzpublikationen zur modernen deutschen und österreichischen Literatur mit den Schwerpunkten Theodor Fontane und Joseph Roth, englisch–deutsche Kulturbeziehungen, Frauenliteratur, Gender, Reportage, Rezeptionsgeschichte, literarische Übersetzung. Hrsg. der Reihe »Cultural Identity Studies« (Peter Lang). Neuere Buchpublikationen: Theodor Fontane im Spiegel der Kritik (2003), Humor and Irony in Nineteenth-Century German Women’s Writing. Studies in Prose Fiction 1840–1900 (2007); (Hrsg.) Violence, Culture and Identity. Essays on German and Austrian Literature, Politics and Society (2006); Übersetzungen, zus. mit Hugh Rorrison: Theodor Fontane, No Way Back (Unwiederbringlich, 2010), Effi Briest (1997/2000). DAVID DARBY, Associate Professor of German and Comparative Literature und Leiter des Graduiertenprogramms für Komparatistik an der University of Western Ontario (Kanada); PhD Queen’s University at Kingston 1988 (Structures of Disintegration: Narrative Strategies in Elias Canetti’s ›Die Blendung‹, 1992). Publikationen zur Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zur literarischen Darstellung der Großstadt, sowie zur Erzähltheorie, darunter: (Hrsg.) Critical Essays on Elias Canetti (2000);

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Zu den Autorinnen und Autoren

Aufsätze: Stations, Dark Rooms, and False Worlds in W. G. Sebald’s ›Austerlitz‹ (voraussichtlich 2013); Elias Canetti’s Cities (2010); Landscape and Memory: Sebald’s Redemption of History (2006); The Unfettered Eye: Glimpsing Modernity from E. T. A. Hoffmann’s Corner Window (2003); Form and Context Revisited (2003); Form and Context: An Essay in the History of Narratology (2001); Photography, Narrative, and the Landscape of Memory in Walter Benjamin’s Berlin (2000). FRANZISKA FREI GERLACH, Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich; Dr. phil. Basel 1997 (Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden, 1998), Habilitation Zürich 2010 (Geschwister. Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800, 2012); UBS-Habilitationspreisträgerin 2011 der Universität Zürich. Publikationen zu Gender Studies, feministischer (Irigaray, Butler) und kulturwissenschaftlicher Theorie, Autorinnen des 20. Jahrhunderts, zur Erzählliteratur um 1800 (Jean Paul, Jacobi, Goethe) und des 19. Jahrhunderts, zu Gedächtniskonstellationen, Emotion und sozialer Beziehung, Materialität und Medialität; darunter: (Mithrsg.) KörperKonzepte. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung (2003); Aufsätze u. a.: Wybervolk. Intersektionalität von Geschlecht, Stand und Nation bei Jeremias Gotthelf (DVjs 2012); Die Macht der Körnlein. Stifters Sandformationen zwischen Materialität und Signifikation (Schneider/Hunfeld 2008); Auf Sand gebaut. Anselm Kiefers Antrag zur Geschwisterschaft an Ingeborg Bachmann (Schiller-Jb. 2000). DIRK GÖTTSCHE, Professor of German an der Universität Nottingham (Großbritannien); Dr. phil. Münster 1986 (Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, 1987), Habilitation Münster 1999 (Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, 2001); Vizepräsident der Internationalen Raabe-Gesellschaft und Mithrsg. des Jahrbuchs der Raabe-Gesellschaft. Buch- und Aufsatzpublikationen zur deutschen Erzählliteratur seit der Aufklärung, zur österreichischen Moderne und Ingeborg Bachmann, zur Kleinen Prosa, zum literarischen Afrika-Diskurs sowie zur postkolonialen und interkulturellen Literaturwissenschaft; darunter: Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature (im Druck, 2013); (Mithrsg.) Wilhelm Raabe: Global Themes – International Perspectives (2009); Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (2006); (Mithrsg.) Bachmann-Handbuch (2003); Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes (2000); (Mithrsg.) Ingeborg Bachmann, ›Todesarten‹-Projekt (1995).

Zu den Autorinnen und Autoren

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KATHARINA GRÄTZ, Akademische Rätin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., derzeit Professurvertretung an der Eberhard Karls Universität Tübingen; Dr. phil. Freiburg 1994 (Der Weg zum Lesetext. Editionskritik und Neuedition von Friedrich Hölderlins ›Der Tod des Empedokles‹, 1995), Habilitation Freiburg 2002 (Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, 2006). Buch- und Aufsatzpublikationen zur deutschen Literatur seit dem Barock: (Hrsg.) Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen (2011); (Mithrsg.) Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus (2007); (Mithrsg.) Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989 (2006). DANIELA GRETZ, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neugermanistik II der Ruhr-Universität Bochum; Dr. phil. Bonn 2007 (Die ästhetische Erfindung der Nation in der ›deutschen Bewegung‹. Zu einem (Re-)Konstruktionsmodell nationaler Identität um 1900; publiziert unter dem Titel: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, 2007). Buch- und Aufsatzpublikationen zur Literatur des Realismus in ihrem medialen Publikationskontext, zur klassischen Moderne, zur modernen Reiseliteratur und zur postkolonialen Gegenwartsliteratur, darunter: Expeditionen ins ›I/innere Afrika‹. Zur Reziprozität von existenzieller und kultureller Fremdheitserfahrung in Afrika-Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Literatur als Wagnis / Literature as a risk (voraussichtlich 2013); (Hrsg.) Medialer Realismus (2012); ›wie der Orient sich im Auge einer Tochter des Okzidents abspiegelt‹ – Frauen-Reisen in den Orient von Ida Pfeiffer bis Ella Maillart, in: Protestanten im Orient (2009). HANS-JOACHIM HAHN, Lehrbeauftragter im Bereich der Jüdischen Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich; Dr. phil. Berlin 2003 (Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979, 2005); Buch- und Aufsatzpublikationen zur deutschen Erzählliteratur seit der Aufklärung, zur deutsch-jüdischen Literatur, zur Erinnerungs- und Kulturtheorie sowie zur Intermedialitätsforschung; darunter: (Mithrsg.) trans-lation, trans-nation, trans-formation – Judentum und (kulturelle) Übersetzung (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 21; 2012); (Mithrsg.) Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen (2012); (Mithrsg.) Transitraum Deutsch. Literatur und Kultur im transnationalen Zeitalter (2007); (Mithrsg.) Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region (2005).

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Zu den Autorinnen und Autoren

JANA KITTELMANN, Dr. phil. Berlin 2009 (Von der Reisenotiz zum Buch. Zur Literarisierung und Publikation privater Reisebriefe Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds, 2010); Vorstandsmitglied der Fontane-Gesellschaft und Co-Redakteurin der Fontane Blätter, momentan wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Fürst Pückler Museum Park und Schloss Branitz; Aufsatzpublikationen zu Berthold Auerbach, Theodor Fontane, Georg Forster, Fanny Lewald, Hermann von Pückler-Muskau und zur Literaturund Gartengeschichte des 19. Jahrhunderts, darunter: Edition des Briefwechsels zwischen Berthold Auerbach und Fanny Lewald (2012). DIRK OSCHMANN, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig; Studium der Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena und Buffalo/USA; Promotion 1998 und Habilitation 2006 in Jena; Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der University of Wisconsin in Madison/USA 2001/02; Gastprofessuren an der University of California in Davis/USA 2006 und an der University of Notre Dame/USA 2010, Gastdozentur an der University of Kent in Canterbury/England 2009. Aufsätze zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart; Bücher: (Mithrsg.) Literatur & Lebenswelt (2012); Friedrich Schiller (2009); Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist (2007); Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers (1999). ROLF PARR, Professor für Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen; Dr. phil. Bochum 1989 (›Zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust!‹ Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks [1860–1918]), Habilitation Dortmund 1996 (Interdiskursive AsSociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg). Buch- und Aufsatzpublikationen zur Literatur-, Medien- und Kulturtheorie/-geschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts; zur (Inter-) Diskurstheorie und Normalismusforschung; Kollektivsymbolik; Mythisierung historischer Figuren und zu Literatur/MedienBeziehungen, darunter: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen, Konzepte, Perspektiven (2010, hrsg. zusammen mit G. Mein und W. Amann); ›Die besten Bissen vom Kuchen‹. Wilhelm Raabes Erzählwerk: Kontexte, Subtexte, Anschlüsse (2009, hrsg. zusammen mit S. R. Fauth und E. Rohse); Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation (2009, hrsg. zusammen mit P. Friedrich). JEFFREY L. SAMMONS, Leavenworth Professor of German Literature Emeritus, Yale University (New Haven, USA); PhD Yale 1962. Buch- und

Zu den Autorinnen und Autoren

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Aufsatzpublikationen zu Heinrich Heine, zum Vormärz; zum deutschen Amerikabild sowie zum Realismus: darunter: Kuno Francke’s Edition of ›The German Classics‹ (1913–1915): A Critical and Historical Overview (2009); Heinrich Heine: Alternative Perspectives 1985–2005 (2006); Friedrich Spielhagen: Novelist of Germany’s False Dawn (2004); Ideology, Mimesis, Fantasy: Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker, Karl May, and Other German Novelists of America (1998); (Hrsg.) North American Studies in Nineteenth-Century German Literature (43 Bde., 1988–2009); Wilhelm Raabe: The Fiction of the Alternative Community (1987); Heinrich Heine: A Modern Biography (1979); Six Essays on the Young German Novel (1972); Heinrich Heine: The Elusive Poet (1969). HANS-JÜRGEN SCHRADER, em. ord. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Genf (Schweiz); Dr. phil. Göttingen 1979 (Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, 1989); Vizepräsident der Raabe-Gesellschaft 1975–1997, Mithrsg. des Jahrbuchs der RaabeGesellschaft 1975–1993, Ehrenmitglied seit 1998, Ehrenpräsident seit 2006; Präsident der Société genevoise d’études allemandes seit 1991; Korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften seit 2004; Ehrenkreuz (1. Klasse) für Kunst und Wissenschaft der Republik Österreich, 2002. Literaturwissenschaftliche Publikationen und Editionen zur religiösen Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, u. a. Luther, Hoburg, Pietismus und Quietismus (Mithrsg. der Serien AGP, TGP, KTP und EPT), Bibelübersetzungen, Magie und Magnetismus, Toleranzbestrebungen, Inspirationspoetologie, Aspekte der literarischen Säkularisation, Buch- und Zensurgeschichte; zur Goethezeit (u. a. Kleist, Wieland, Goethe, Brentano), zur Dichtung und Kultur des 19. Jahrhunderts (u. a. Heine, Freiligrath, Nestroy, Grillparzer, Storm, Raabe, Keller, Meyer, Wagner, Fontane) sowie zur Moderne (u. a. Wiener Fin de Siècle, Avantgarde, Exilpoesie, Brecht, Lasker-Schüler, Celan, Kaléko, Arno Schmidt, Brandstetter, israelischer Lyris-Kreis). KERSTIN STÜSSEL, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bonn; Dr. phil. Köln 1992 (Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, 1993), Habilitation Dresden 2002 (In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, 2004); Forschung und Publikationen zur Funktion der Autobiographik, zu DDRLiteratur und -Kultur, zur Angestelltentopik, zu Gender und Familiarität, zum deutschsprachigen Realismus und zur Gegenwartsliteratur; darunter: (Mithrsg.) Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (2011); Angestellte und die Unwahrscheinlich-

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Zu den Autorinnen und Autoren

keit der Bundesrepublik (2011); Erzählte Familien und familiäres Erzählen im ›bürgerlichen‹ Realismus (2010); ›Dem Morgenrot entgegen‹? oder ›...dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint‹? Aurora in der DDR-Kultur, nach ihrem Ende (2007). LYNNE TATLOCK, Hortense and Tobias Lewin Distinguished Professor in the Humanities an der Washington University in St. Louis (USA); Dr. phil. Indiana University 1981 (Willibald Alexis’ ›Zeitroman‹ ›Das Haus Düsterweg‹); Vorstandsmitglied der Modern Languages Association (2008–2011); Präsidentin der Forschungsgruppe »Frühe Neuzeit Interdisziplinär« (2006– 2008). Übersetzungen von deutscher Literatur von Frauen, Buch- und Aufsatzpublikationen zur deutschen Literatur und Kultur seit 1650, zum deutschen Film, zu Gender und Literatur von Frauen, zu transatlantischen Beziehungen und Kulturtransfer sowie zur Buchgeschichte und Lesekultur; darunter: German Writing/American Reading. Women and the Import of Fiction, 1866–1917 (2012); (Hrsg.) Enduring Loss in Early Modern Germany: Cross Disciplinary Perspectives (2010); (Hrsg.) Publishing Culture and the ›Reading Nation‹: German Book History in the Long Nineteenth Century (2010); (Übersetzerin und Hrsg.) Catharina Regina von Greiffenberg, Meditations on the Incarnation, Suffering, and Dying of Jesus Christ (2009); (Mithrsg.) German Culture in Nineteenth-Century America. Reception, Adaptation and Tranformation (2005).

Personen- und Werkregister Allgemeine Zeitung 274 Andermatt, Michael 211 FN 32 Anderson, Benedict 80 FN 3 Anderson, Paul Irving 290 FN 3, 296 FN 15, 297 FN 16, 298 FN 18 Arendt, Dieter 295 FN 12 Arminius 124, 144 Auerbach, Berthold 3, 7–9, 49, 79–97, 123– 144, 249, 323 FN 10 – Andree Hofer 9, 127–134, 138, 140 – Auf einem Acker an der Eisenbahn 85f. – Dorfgeschichten 323 FN 10 – Das erlösende Wort 128 – Das Landhaus am Rhein 49, 87, 123 – Das Nest an der Bahn 8, 79, 82f., 85–88 – Schrift und Volk 83, 87, 249 – Eine seltene Frau 128 – Sträflinge 8, 82–85, 87 – Vom kranken Wald um Karlsbad 126 – Waldfried 9, 124, 126, 128, 134–143 – Was will der Deutsche und was will der Franzos? 125 – Wieder Unser 125, 136f. Auerbach, Erich 2, 5, 51 Auerbach, Jakob 87, 128, 135 FN 70, 144 Augsburger Allgemeine Zeitung 126 Aus dem Sudan. Briefe aus der Zeit der Gordon’schen Verwaltung 185 Aust, Hugo 4, 230 FN 38 Bachtin, Michail 6, 33, 65, 90, 273 FN 1 Baker, Geoffrey 156 FN 41 Baker, S.W. 173 Barth, Heinrich 167 Bastian, Adolf 242 FN 14 Beethoven, Ludwig van 265 – Fidelio 265 Begas, Carl Joseph 186f. FN 56 – Die Mohrenwäsche 186f. FN 56 Begemann, Christian 183 FN 47, 285 FN 25 Belgum, Kit 87 Berbig, Roland 296 FN 15 Berliner Tageblatt 108, 321

Betz, Frederick 298 FN 17, 309 FN 33, 312 FN 39 Bettelheim, Anton 88, 124, 135 Bhabha, Homi K. 39f. Bismarck, Otto von 120, 124, 136, 290, 298 FN 18, 330 Bitterli, Urs 183 FN 45 Blackbourn, David 100, 115 – The Conquest of Nature 100 Blaich, Hans Erich 117 FN 51 Böhme, Hartmut 53 FN 2 Brenner, Peter J. 73f. Browne, William George 172 Brugsch, Heinrich 245 – Die Anfänge des Weltverkehrs 245 Brunners, Christian 307f. FN 29, 308 Bruns, C.G. 252 – Die Verschollenheit 252 Bülow, Frieda 178 – Am andern Ende der Welt 178 Bürstenbinder, Elisabeth → E. Werner Bunyan, John 173 – The Pilgrim’s Progress 173 Burton, Richard Francis 167 Byram, Katra 179 Callot, Jacques 292 FN 7 Calvin, Johannes 306, 314 Canetti, Elias 124 Chambers, Helen 12, 227 FN 34, 228 FN 35 Chopin, Isabelle 318 FN 54 Comils, Kerstin 274 FN 3 Conrad, Joseph 327 – Typhoon 327 Cooper, James Fenimore 30, 32 – The Leatherstocking Tales 30, 32 Cornelius, Peter 259 Courbet, Amédée 125 Darby, David 9f. Darwin, Charles 234f. FN 45 David, Claude 291 FN 5 Dawison, Bogumil 128

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Personen- und Werkregister

Deffand, Madame du 261 FN 9 Detering, Heinrich 293 FN 9, 318 FN 54 Deutsche Roman-Zeitung 117, 168, 178 Deutsche Rundschau → Rodenberg, Julius Deventer, Jörg 295 FN 12, 300 FN 20 Diebitsch, Karl von 209 Dingelstedt, Franz von 128 Droysen, Johann Gustav 225 FN 30 – Historik 225 FN 30 Dulk, Albert 172 Dumas, Alexandre 171 Dumas, Alexandre fils 325 – Affaire Clémence 325 Dunker, Axel 39, 170, 178, 218 FN 11 Ebner-Eschenbach, Marie von 3, 12, 257– 270 – Aus Spätherbsttagen 266 FN 17 – Lotti die Uhrmacherin 12, 257, 266 – Der Nebenbuhler 260 – Die Reisegefährten 12, 257, 266–269 – Ein Spätgeborener 260 – Unsühnbar 12, 257, 260–265, 270 – Wieder die Alte 257f., 269 Eichendorff, Joseph von 215 – Eine Meerfahrt 215 Die Eisenbahn 97 Erhart, Walter 150, 258 Ester, Hans 314 FN 45 Exner, Marie 137 Fauth, Søren R. 291 FN 5, 293 FN 9, 294 FN 10, 301 FN 23 Feuerbach, Ludwig 126f. Fichte, Johann Gottlieb 127, 132 – Reden an die deutsche Nation 132 Fiedler, Matthias 176 FN 30 Finke, Reinhard 21 Fischer, Hubertus 185 Fischer, Norbert 110 FN 42, 111 FN 44 Flaubert, Gustave 231 FN 42 – Madame Bovary 231 FN 42 Fontane, Emilie 129 FN 34 Fontane, Theodor – Afrikareisender 74 – Allerlei Glück 182 – Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal 242f. – Berliner Umzug 62 – Cécile 9–11, 32–34, 158–160, 168f., 171, 183–186, 191, 194, 199, 201–211 – Die Drei-Treppen-hoch-Leute 62

– Effi Briest 10–12, 21, 31f., 38, 59, 75f., 160f., 168f., 171, 180, 183, 186–189, 191, 199, 239–245, 253f., 326 – Frau Jenny Treibel 26f., 69, 161, 198, 231f. – Graf Petöfy 21, 25, 38, 199 – Grete Minde 13, 240 FN 10, 289–319 – Im Coupé 12, 257, 266–269 – Irrungen, Wirrungen 12, 32, 34, 157f., 160 FN 49, 196, 197 FN 15, 198–200, 201 FN 27, 203 FN 29, 257, 266, 269 – Kriegsgefangen 68 – L’Adultera 186f. FN 56, 240 FN 10 – Mathilde Möring 160 FN 49, 200 FN 25, 231f. – Die Poggenpuhls 10, 21, 32, 50, 58f., 71f., 168f., 171, 180–183, 189 FN 68, 191 – Quitt 199 – Schach von Wuthenow 156f. – Der Stechlin 3, 8, 11, 18, 21, 50, 58f., 62, 64–66, 68f., 72, 160 FN 49, 161f., 194f., 199, 210, 213–236, 245f. FN 24 – Stine 32, 59 – Unterm Birnbaum 8, 111, 114–117 – Unwiederbringlich 5, 12, 25f., 37f., 50, 58, 65f., 70, 75f., 199, 245f. FN 24, 257–261, 263–265, 270 – Von, vor und nach der Reise 242 – Von Zwanzig bis Dreißig 296 FN 15 – Vor dem Sturm 9, 127, 130, 140–143, 155f., 289 – Wanderungen durch die Mark Brandenburg 9, 115, 124, 140 FN 101, 145–156, 159, 161f., 195, 247f., 286f. Fontenelle, Bernard le Bovier de 261 FN 9 Foucault, Michel 56 Frei Gerlach, Franziska 12f., 278f. FN 14 Freie Bühne 242 Frenzel, Karl 139, 144 Freud, Sigmund 10, 234f. FN 45, 275 FN 6 Freytag, Gustav 23, 30, 128, 194, 245f. FN 24, 323 FN 10 – Soll und Haben 23, 30, 194, 245f. FN 24, 323 FN 10 Friedrich III. 123 Friedrich der Große 115, 137 Friedrich Wilhelm (Großer Kurfürst) 307 FN 29, 308 Frisch, Max 215 – Montauk 215 Die Gartenlaube 8, 18, 102, 104, 106, 115, 120, 168 FN 9, 171, 250 FN 35 Gerhardt, Paul 307f., 309 FN 33

Personen- und Werkregister Gerstäcker, Friedrich 2, 48 Gigas, David 309 Gigas, Georg 309 FN 33 Globig, Klaus 312 FN 39 Göring, Hermann 124 Goethe, Johann Wolfgang von 99 FN 3, 138–140, 310, 317, 324f. – Faust 325 – Faust II 99 FN 3 – Die Leiden des jungen Werther 138–140 – Der Mann von funfzig Jahren 325 – Die Wahlverwandtschaften 324f. Göttsche, Dirk 5–7, 81, 90, 95, 171, 174, 321 FN 2, 334 FN 37 Goldammer, Peter 296 FN 14 Gordon, Charles George 185 Gordon, Lewis D.B. 185 Gordon, Robert von 185 Grätz, Katharina 10 Graevenitz, Gerhart von 169, 219 FN 13 Graf, Johannes 216 FN 7 Greimas, Algirdas J. 60 Gretz, Daniela 10, 12 Guardini, Romano 223 FN 24 Gudermann, Rita 100 FN 5 Günzel, Stephan 53f. – (Hrsg.) Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch 53f. Gumbrecht, Hans Ulrich 238 FN 5 Gundolf, Friedrich 139 Guthke, Karl S. 19 Gutzkow, Karl 13, 18, 321–334 – Die neuen Serapionsbrüder 13, 321–334 – Die Ritter vom Geiste 323 FN 10, 332, 334 FN 37 – (Hrsg.) Unterhaltungen am häuslichen Herd 18, 322 FN 4 – Der Zauberer von Rom 331–333 Hackländer, Friedrich Wilhelm 167 – (Hrsg.) Über Land und Meer 18, 72 FN 49, 167, 169 Häntzschel, Günter 69 Hahn, Hans-Joachim 8 Haines, Jackson 262 FN 10 Hallet, Wolfgang 53 FN 2, 64 FN 34 – (Hrsg.) Raum und Bewegung in der Literatur 56, 64 FN 34 Hamann, Christof 176 FN 32 Hamblet, Wendy 101, 112, 117, 119 – The Sacred Monstrous 101 Hardy, Thomas 231 FN 42 – Tess of the D’Urbervilles 231 FN 42

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Hartley, L. P. 1 Der Hase und der Igel 53 Hausen, Karin 187 FN 57 Haverkamp, Anselm 238 FN 5 Heine, Heinrich 87, 216 FN 6 – Deutschland. Ein Wintermärchen 87 – Englische Fragmente 216 FN 6 Heldt, Uwe 55, 63 FN 31 Hell, Julia 216 FN 7, 223 FN 24, 224 FN 29 Helmstetter, Rudolf 187f. Henning, Hans 322 FN 4 Herbart, Johann Friedrich 254 Hermann der Cherusker → Arminius Hermann, Georg 270 FN 20 Hertz, Wilhelm 292 FN 7 Heß, Moses 332 FN 30 Hettche, Walter 198 FN 19 Heymann Steinthal, Chajim 11f., 254 Heyse, Paul 43 – Medea 43 Hillebrand, Bruno 55 – Mensch und Raum im Roman 55 Hillern, Wilhelmine von 7f., 102–104, 108f., 113, 115, 117f., 120 – Aus eigener Kraft 102–104, 108f., 115, 117f., 120 Hölderlin, Friedrich 317 Hofer, Andreas 128, 133, 144 Hoffmann, E. T. A. 324 – Serapionsbrüder 324 Hoffmann, Gerhard 217 FN 8 Holtze, Friedrich Wilhelm 296 FN 15 Homer 322 FN 4 Hooghe, Romeyn de 292 FN 7 Horaz 303, 303f. FN 25 Horch, Hans Otto 126f. Hotz, Karl 55 Hüffmeier, Wilhelm 308, 312 FN 40 Humboldt, Alexander von 22, 152 FN 33 Humboldt, Wilhelm von 152 FN 33 Huyssen, Andreas 79 Ibsen, Henrik 231 FN 42, 325 – Nora oder ein Puppenheim 231 FN 42, 325 Jakob 88 Jakobson, Roman 60 Jakubowski-Tiessen, Manfred 307f. FN 29 Jauslin, Kurt 321, 324 Jean Paul 10, 175, 176 FN 30, 183, 323 FN 9 – Selina oder die Unsterblichkeit der Seele 175 – Titan 323 FN 9

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Personen- und Werkregister

Jehmüller, Wolfgang 90 Jensen, Wilhelm 3, 5, 19, 22, 23 FN 23, 36, 38, 40f., 43–45, 49, 52 – Brandenburg’scher Pavillon hoch! 23 FN 23, 43 – Späte Heimkehr 36 – Unter heißerer Sonne 22, 40f., 44f., 49 Jesus 68, 88, 304, 308 FN 31 Johann von Tirol 129 Joseph, Kaiser von Österreich 137 Jückstock-Kießling, Nathali 323f. FN 10 Jünger, Ernst 136 – Auf den Marmorklippen 136 Juncker, E. → Kobert Schmieden, Else Kafitz, Dieter 93, 322 FN 3, 334 FN 36 Kafka, Franz 213, 252 FN 44 – Das Schloß 213, 252 FN 44 – Der Verschollene 213, 252 FN 44 Karl IV., Kaiser 64 Kehlmann, Daniel 252 FN 44 – Ruhm 252 FN 44 Keller, Gottfried 3, 5, 19, 23–28, 30f., 37, 45, 49, 51, 137, 251 – Martin Salander 23–28, 30f., 45, 49 – Pankraz der Schmoller 251 Keyserling, Eduard 75f. – Wellen 75f. Kittelmann, Jana 9 Kladderadatsch 181 Klinger, Florian 238 FN 5 Klopstock, Friedrich Gottlieb 317 Knigge, Adolph von 45 – Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien 45 Kobert Schmieden, Else 8, 108f., 113 – Lebensräthsel 8, 108 Koll, Rolf-Dieter 55 Koopmann, Helmut 293 FN 9, 294 FN 10 Kopernikus, Nikolaus 234f. FN 45 Koselleck, Reinhart 1 Kracht, Christian 252 FN 44 – 1979 252 FN 44 Krah, Hans 59 Krobb, Florian 19, 22, 89, 178f. Kühn, Gustav 247 Kürnberger, Ferdinand 216 FN 6 – Der Amerikamüde 216 FN 6 Kwisinski, Gunnar 216 FN 7 Lasker, Eduard 327, 330 Latour, Bruno 54 FN 5

Lazarus, Moritz (oder Moses) 11f., 254f. – Verdichtung des Denkens in der Geschichte 254f. Lefebvre, François-Joseph 130f., 133 Lefebvre, Henri 54 FN 5 Leibniz, Gottfried Wilhelm 49f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 316 FN 49 Leo, Heinrich 231 FN 40 – Signatura temporis 231 FN 40 Lepsius, Richard 123 Levaillant, François 178 – Reise in das Innere von Afrika 178 Lewald, Fanny 124, 140, 144 Liebig, Justus von 28 Liebrand, Claudia 259, 260 FN 7 Lindau, Paul 240, 295f. – (Hrsg.) Nord und Süd 72 FN 49, 186f. FN 56, 240, 242, 244, 290, 295f. Lipsius, Justus 224 FN 27 Livingston, David 167 Loew Cadonna, Martin 293 FN 9 Lotman, Jurij M. 6, 57–59, 60 FN 20, 74f., 199 Ludwig, Otto 128, 211, 293 FN 9 Lübke, Wilhelm 296 FN 15 Lützow, Johann Adolph von 124 Luhmann, Niklas 246 Lukács, Georg 94, 236 Lukas, Wolfgang 183 FN 45, 190 Luther, Martin 87, 295, 298, 300–304, 306f., 308 FN 31, 308f. FN 32, 310, 312–315, 315f. FN 48, 316 FN 50, 316f. FN 51, 317f. Mann, Thomas 63 – Beim Propheten 63 Mannheim, Karl 81 Maria Magdalena 88 Martin, Peter 42 – Schwarze Teufel, edle Mohren 42 Martineau, Harriet 274 FN 5 Martini, Fritz 293 FN 9 Marx, Karl 332 FN 30 Maupassant, Guy de 155 Maximilian von Habsburg 29 Mecklenburg, Norbert 33, 195 Melbye, Anton 259 – Der Eddystone Leuchtturm 259 – Segelschiff vor Gibraltar 259 Melbye, Fritz 259 FN 4 Melbye, Vilhelm 259 FN 4 Meyer, Herman 55, 67 FN 40

Personen- und Werkregister Michelet, Jules 325 – La Mer 325 Mörike, Eduard 260 FN 6 Mohs, Friedrich 276f., 286 Mojem, Helmuth 215 FN 4, 223 FN 24, 225 FN 32, 226 FN 33 Mommsen, Theodor 134 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 45, 261 FN 9 – Lettres persanes 45 Moretti, Franco 55 FN 9 Morgenblatt für gebildete Leser 152 FN 33 Morrison, Toni 165 Müller, Joachim 229 FN 37 Nabokov, Vladimir 215 – Lolita 215 Nachtigal, Gustav 167 Napoleon III. 120 Napoleon Bonaparte 125, 129, 133, 156 Naundorff, Julius 103 Neumann, Birgit 53 FN 2 Neumann, Gerhard 143 Neumann, Michael 2f., 64 FN 34 – Magie der Geschichten 2f. – (Hrsg.) Raum und Bewegung in der Literatur 56, 64 FN 34 Noah 118, 120 Nora, Pierre 7 Nord und Süd → Paul Lindau Nordau, Max 134 Nünning, Ansgar 60 FN 25 Nürnberger, Helmuth 156 FN 41, 231 FN 40, 292 FN 7, 306 FN 27 Oberländer, Richard 240f. – Fremde Völker 240f. Ohff, Heinz 292 FN 7 Ohl, Hubert 65 Ort, Claus-Michael 4, 66 Oschmann, Dirk 11f. Osterhammel, Jürgen 5, 10, 17, 36–38, 44 Parr, Rolf 6f., 36f., 90, 168f., 183 FN 48, 195, 218 FN 12 Pastor, Eckart 290 FN 3, 292 FN 7, 311 FN 38 Pester Lloyd 134 Petermanns Mitteilungen 166 Peters, Karl 21 FN 17, 181, 189 FN 68 Petersen, Johann Wilhelm 317f. FN 52 Petersen, Johanna Eleonora 317f. FN 52 Piatti, Barbara 55 FN 9

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Pizer, John 50f. Platen, August Graf von 178 – Die verhängnisvolle Gabel 178 Plumpe, Gerhard 4, 19f. Pogge, Paul 167 Preece, Julian 188 FN 61 Preußische Zeitung 151 Proudhon, Pierre-Joseph 332 FN 30 Pückler-Muskau, Hermann von 26 Raabe, Wilhelm – Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge 10, 20f., 31, 34–36, 41, 46, 50, 59, 74, 167, 170–177, 179, 190, 214, 216 FN 6, 219 FN 14, 251 – Die Akten des Vogelsangs 31, 35f., 89, 252f. – Alte Nester 8, 31, 34, 36, 80–82, 88–96 – Altershausen 35, 58, 72f., 219 FN 14, 220 FN 15 – Die Chronik der Sperlingsgasse 30f. – Drei Federn 323f. FN 10 – Eulenpfingsten 323 FN 10 – Fabian und Sebastian 59, 63 – Der Frühling 323 FN 9 – Gedelöcke 313 – Höxter und Corvey 13, 67, 73, 289–219 – Im alten Eisen 58, 62f. – Die Innerste 8, 73, 111–114 – Die Kinder von Finkenrode 35, 95 – Die Leute aus dem Walde 31, 35 – Meister Autor oder die Geschichten vom versunkenen Garten 10, 31, 36, 41–43, 47, 167f., 177f., 191 – Das Odfeld 18 – Pfisters Mühle 1f., 221 – Prinzessin Fisch 28–31, 36, 47, 49 – Sankt Thomas 21 FN 17, 22 – Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte 8, 10–12, 21, 31f., 36, 58f., 67, 70, 89, 111, 114, 117–120, 168, 171, 178–180, 190f., 194, 213–236, 287 – Türmers Töchterlein 293 – Vorwort zu den gesammelten Erzählungen 314 FN 45 – Zum wilden Mann 27, 29, 31, 36, 45, 49, 59, 73 Ramponi, Patrick 19, 36 Rasch, Wolfgang 322 FN 4 Ravené, Louis Friedrich Jacob 186f. FN 56 Reichard, Paul 189 – Afrikanische Eindrücke 189 Reiling, Jesko 133 Reuter, Hans-Heinrich 157 FN 42

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Personen- und Werkregister

Richter, Helmut 303 FN 24 Riehl, Wilhelm Heinrich 249 – Land und Leute 249 Ritter, Alexander 90f. Rodenberg, Julius 168, 257 FN 1 – (Hrsg.) Deutsche Rundschau 99, 106, 168, 189, 257 FN 1 Rohlfs, Gerhard 167, 189f. FN 68 – Quer durch Afrika 189f. FN 68 Rohr, Mathilde von 312 FN 40 Roper, Katherine 321 FN 2 Rost, Wolfgang E. 55 – Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken 55 Rousseau, Jean-Jacques 325 – Julie, ou la nouvelle Héloïse 325 Ruttmann, Irene 116 FN 49 Sagarra, Eda 228 FN 35, 267, 304f. FN 26, 306 FN 27, 311 FN 36, 313 FN 43, 318 FN 55 Said, Edward 23, 46f., 165 Sammons, Jeffrey L. 13, 48, 118f., 322 FN 4 Sasse, Sylvia 60 Scherer, Wilhelm 327 Scherpe, Klaus R. 54, 198, 199 FN 23 Schillemeit, Rosemarie 303f. FN 25 Schiller, Friedrich 124, 185, 219, 317 – Die Räuber 124 Schivelbusch, Wolfgang 83–85 Schmid, Marion 166 FN 3 Schneider, Astrid 57, 64 FN 32 – Raumsemantik in Wilhelm Raabes Roman ›Fabian und Sebastian‹ 57 Schneider, Lothar L. 328 FN 27 Schneider, Sabine 277 FN 11 Schnyder, Peter 275 FN 6 Schöne, Albrecht 316 FN 49 Schoenichen, Walther 131 Schopenhauer, Arthur 291 FN 5, 293 FN 9, 318 FN 54 Schrader, Hans-Jürgen 13, 89f., 92, 290f. FN 4, 292 FN 6, 293 FN 9, 294 FN 11, 303f. FN 25, 306 FN 28, 315 FN 47, 317f. FN 52 Schultz, Hartwig 93 FN 59 Schweinfurth, Georg 167 Schwerin, Otto Freiherr von 308 FN 31 Scott, Walter 325f. – Ivanhoe 326 – Quentin Durward 325

Sealsfield, Charles 2, 48, 325f. – Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre 325f. Seiler, Bernd W. 197 – Fontanes Berlin 197 Simon, Ralf 223 FN 24, 225 FN 30 Sittig, Claudius 38, 187 Speke, John Hanning 167 Spielhagen, Friedrich 3, 7f., 13, 48f., 108– 111, 113, 134, 293 FN 9, 321–334 – Alles fließt 325 – Angela 326 – Deutsche Pioniere 325f. – Hammer und Amboß 331 – Herrin 326 – Können und sollen unsere Frauen den Homer lesen? 322 FN 4 – Ein neuer Pharao 49 – Noblesse oblige 325 – Opfer 334 FN 36 – Quisisana 325 – Das Skelett im Hause 326 – Sonntagskind 325f. – Stumme des Himmels 326 – Sturmflut 8, 13, 108–111, 321–334 – Zum Zeitvertreib 326 Spinoza, Baruch 126f., 144 Spokeine, Diane 265f. Sprengel, Peter 215 FN 4, 223 FN 24, 225 FN 32, 226 FN 33 Stanley, Henry Morton 167, 189 FN 68 – Quer durch Afrika 189 FN 68 Starr Kaiser, Catherine 293 FN 9, 303 FN 25 Stephan, Inge 184 FN 49 Sterne, Laurence 323 FN 10 – The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 323 FN 10 Stifter, Adalbert 3, 12f., 79, 183 FN 47, 223 FN 25, 273–287 – Abdias 283 – Aus dem bairischen Walde 277 FN 12 – Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes 284–286 – Bergkristall 277 FN 12 – Bunte Steine 79, 278, 281f. – Die drey Schmiede ihres Schicksals 183 FN 47 – Der fromme Spruch 223 FN 25 – Ein Gang durch die Katakomben 273 FN 2, 285f. – Kalkstein 284 – Der Kuß von Sentze 223 FN 25 – Mein Leben 278, 281

Personen- und Werkregister – Der Nachsommer 13, 273–280, 281 FN 19, 282–285 – Studien 278 – Wien und die Wiener 13, 278 – Witiko 223 FN 25 Stockhammer, Robert 197 Stolpe, Manfred 193 Storch, Dietmar 50 Storm, Theodor 3, 5, 8, 11, 19, 38f., 49, 51, 99, 106f., 111 FN 44, 120f., 251, 292 FN 7 – Acquis submersus 292 FN 7 – Carsten Curator 111 FN 44 – Hans und Heinz Kirch 251 – Der Schimmelreiter 8, 99, 106f., 120f. – Von Jenseit des Meeres 38f., 49 Struck, Wolfgang 217 FN 9 Stüssel, Kerstin 2f., 11f. – Magie der Geschichten 2f. Swales, Martin 327 FN 26 Tacitus 9, 131, 144 – Germania 9, 131 Tatlock, Lynne 8, 12 Tausendundeine Nacht 1 Tepe, Leo 223 FN 25 Thackeray, William Makepeace 326 – Vanity Fair 326 Tieck, Ludwig 323 Tietz, Hermann 135 The Times 247 Tolstoj, Lew 231 FN 42 – Anna Karenina 231 FN 42 Treitschke, Heinrich von 125, 134, 140, 143 Trojanow, Ilija 37 – Der Weltensammler 37 Über Land und Meer → Hackländer, Friedrich Wilhelm Unterhaltungen am häuslichen Herd → Gutzkow, Karl Viebig, Clara 270 FN 20 Viel, Bernhard 142 Virilio, Paul 221, 230 FN 39 Vogel, Eduard 167, 172 Vogel, Juliane 278f. FN 14 Volkow, Evgenij 57, 65, 74 FN 52 Voltaire 261 FN 9 Vom Fels zum Meer 168, 181

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Vonhoff, Gert 321 FN 2, 322 FN 4, 329f. FN 28, 334 FN 36 Vossische Zeitung 128, 245 Waiblinger, Wilhelm 259f. – Der Kirchhof 259f. Walkenhorst, Peter 142 Walpole, Horace 261 FN 9 Weber, Carl Maria von 124 – Der Freischütz 124 Weigel, Sigrid 184 Weiss, Christian Samuel 276 FN 10 Wendt, Reinhard 17 – Vom Kolonialismus zur Globalisierung 17 Werner, E. 7f., 104–108, 113, 115 – Die Alpenfee 8, 104, 106–108, 115 – Gebannt und erlöst 104–106, 108, 115 Westermanns Illustrirte Deutsche Monatshefte 18, 80, 111, 289 Wharton, Edith 231 FN 42 – The House of Mirth 231 FN 42 White, Michael 70 White, Richard 327 FN 25 – Railroaded 327 FN 25 Wildermuth, Ottilie 187 FN 57 – Aus dem Frauenleben 187 FN 57 Wilhelm, Gisela 55 – Dramaturgie des epischen Raums bei Theodor Fontane 55 Willems, Gottfried 228 FN 35 Willkomm, Ernst 216 FN 6 – Die Europamüden. Ein modernes Lebensbild 216 FN 6 Windthorst, Ludwig 330 Wissmann, Hermann von 167, 189f. FN 68 – Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost 189f. FN 68 Wittmann, Reinhart 108 FN 33 Wolfsohn, Wilhelm 128, 129 FN 34 Wruck, Peter 153 Wünsch, Marianne 4, 75 Würzbach, Natascha 211 FN 31 Wunberg, Gotthard 67 FN 39 Youngman, Paul A. 86 Zimniak, Pavel 59 FN 19 Zola, Émile 326 – Nana 326