Die Ökonomien des Realismus: Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850-1900 9783110292916, 9783110292794

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German Pages 553 [556] Year 2013

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Table of contents :
Vorrede
1. Einleitung
1.1. Die Entdeckung der Ökonomie in Literaturkritik und Poetik des Realismus
1.1.1. Mehr als eine Metapher - Literatur als Luxus bei Robert Prutz
1.1.2. Wilhelm Scherer und der ökonomische Zusammenhang der Poesie
1.2. Literatur und Ökonomie
1.2.1. Die versteckte Ökonomie - Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse
1.2.2. Entsagung und Gemeinsinn von Johann Wolfgang Goethe und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Wilhelm Roscher
1.2.3. Dynamische Gemeinschaften
1.3. Forschungsüberblick
1.3.1. Joseph Vogls Kalkül und Leidenschaft
1.3.2. Von der Diskursanalyse zum New Historicism
Die literaturwissenschaftliche Entdeckung der deutschen Nationalökonomie
2. Die Grundzüge der realistischen Poetik in Ökonomie und Literatur 1850-1900
2.1. Der Aufstieg zum Besonderen - Wilhelm Roschers realistische Grundsätze
Jenseits der Abstraktion - Der Mensch, >wie er istrealistischen Weges< bei Hans Vilmar Geppert 157 - Oszillierende Bedeutungsproduktion - Claus-Michael Orts Metasemiotik des Realismus 163 - Dynamisierung der Zeichen und Entsagung in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich
2.3.2.1. Selbstreferenz - Die Poetologie des Realismus in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes
Bildersturm und Referenzverlust in Gottfried Kellers. Der grüne Heinrich
2.3.2.2. Zusammenfassung - Sanfte Gesetze und das Textverfahren des Realismus
2.3.3. Der kulturalistische Ansatz der Ökonomie
2.3.3.1. Der kulturalistische Ansatz bei Wilhelm Roscher
2.3.3.2. Der Weg zur Spezialuntersuchung - Gustav Schmollers Institutionenökonomie
2.3.3.3. Die realistische Diskursivität und die ästhetischen Interessen der Ökonomen
Gustav Schmoller liest Friedrich Schiller 210 - Karl Bücher und der Anteil des Rhythmus bei der Entstehung der Arbeit 211 - Jenseits des Realismus - Eske Bockelmann und die Entstehung des Rhythmus aus dem Medium
3. Schöne Waren, schlechtes Geld - Warenwirtschaft in der realistischen Literatur
3.1. Der Realismus des Geldes - Gottfried Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe
3.2. Die Poetik der Ware und der Schrecken der Finanzökonomie
3.2.1. Personalität und Sachbezug
3.2.1.1. Stabilität im Kontor - Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel
3.2.1.2. Gustav Freytags Soll und Haben und die Kraft der Entsagung
3.2.2. Die Stabilität der Bedürfnisse und die Tücken des Konsums
Ein Schaufensterbummel mit Adalbert Stifter 257 - Gottfried Keller über Revalenta arabica
3.2.3. Neutralität der Vermittlung und die Tücken der Konkurrenz - Preiskampf bei Gustav Freytag
3.2.4. Medienskepsis
3.2.4.1. Zwischen Funktion und Substanz - Das Geld im ökonomischen Diskurs
Georg Simmels Chartal-Theorie des Geldes und ihre Rezeption durch Gustav Schmoller 278 - Der Stellenwert des Kredits in der realistischen Nationalökonomie 281 - Das Kreditdenken Adam Müllers und seine Aufnahme bei Bruno Hildebrand und Wilhelm Roscher
3.2.4.2. Blinde Spekulanten - Geld und Kredit in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich
Die Meierlein-Episode und der Absturz des Kreditjongleurs
3.2.4.3. Durchblicken - Die finanzwirtschaftliche Intrige in Gustav Freytags Soll und Haben und Friedrich Spielhagens Sturmflut
Die Dunkelmänner der Finanz - Friedrich Spielhagens Sturmflut
3.2.4.4. Eine Bankierskrise und die Diabolik des Kredits -Wilhelm Raabes Die Leute aus dem Walde und Zum wilden Mann
Die unheimliche Rückkehr des Geldgebers in Zum wilden Mann
4. Der realistische Weg und seine Ränder - Systemische und antisystemische Poetiken
4.1. Das System des Hungers - Wilhelm Raabes Der Hungerpastor und die Problematik systemischer Denkweisen im Realismus
Die >clearer vision< des Realisten - Charles Dickens’Oliver Twist 332 - Auf der Suche nach dem guten Hunger - Wilhelm Raabes Der Hungerpastor 335 -Das systemische Gegenangebot - Émile Zolas Germinal 343 - Der Ausweg Grunzenow in Der Hungerpastor
4.2. Realismus vs. Grenznutzentheorie - Die Tücken der Robinsonade
4.2.1. Robinson und seine Launen - Vom Anteil der Robinsonade bei der Theoriewerdung des Grenznutzens
4.2.2. Mehr als Robinson - Die realistische Ökonomie im Kontext der deutschen Robinsonaden
4.2.3. Robinson und seine Brüder in der realistischen Erzählliteratur
4.2.4. Rudimente des Grenznutzenkalküls bei Theodor Fontane
4.3. Karl Marx und Friedrich Engels - Der sozialistische Gegenentwurf
4.3.1. Leben aussaugen - Die Marx’sche Arbeitswerttheorie und der Angelpunkt der historischen Erzählung
4.3.2. Gespensterball und Karneval - Zur Poetik der Marx’schen Geschichtsschreibung
4.3.2.1. Exkurs: Im Fahrwasser von Marx - Die Revolutionserzählung bei Georg Weerth
4.3.2.2. Das Theater der Revolution - Karl Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
4.3.3. Wachsende Attraktion - Die Marx-Rezeption zwischen Älterer und Jüngerer Historischer Schule der Nationalökonomie
4.3.3.1. Wer schätzt den Wert? Bruno Hildebrand liest Friedrich Engels
4.3.3.2. Reform statt Revolution - Sozialistisches Echo in der Jüngeren Schule der deutschen Nationalökonomie
5. Die prekäre gute Mitte - Das Institutionendenken und seine Gefährdung
5.1. Gustav Schmoller und das Lob der besitzlosen Intelligenz
5.1.1. Die große Schule des öffentlichen Dienstes - Straßburgs Ministeriale im 13. Jahrhundert
5.1.2. Ordnung schaffen - Straßburgs Verfassungs- und Zunftgeschichte vom 13. bis zum 17. Jahrhundert
5.1.3. Exkurs: Zunftgeschichte im Roman - Otto Rüdigers Siegfried Bunstorp’s Meisterstück
5.2. Der öffentliche Dienst und die prekäre Lage der Ordnungspolitik in der Literatur
5.2.1. Die Wiege des Beamten und der Kaufmann als Ordnungshüter - Sturmflut und Soll und Haben
Geborgen im großen Staatskörper - Noch einmal Gustav Freytags Soll und Haben
5.2.2. Zwei Stützen der Wohlfahrt - Wilhelm Raabes Villa Schönow
5.2.3. Unter dem Druck des Eigennutzens - Von der Krise des Ordnungsbegehrens bei Gustav Freytag, Gottfried Keller, Theodor Storm und Wilhelm Heinrich Riehl
Theodor Storms Vater-Figuren in den Mühlen des Eigennutzens 472 -Wilhelm Heinrich Riehl -1848 und das Dilemma des Interessen politikers
5.2.4. Die letzten Entsagenden - Der öffentliche Dienst in Gottfried Kellers Martin Salander und Der grüne Heinrich
Der Beamte in Der grüne Heinrich und der letzte Kampf des Ratsmitglieds Kleinpeter in Martin Salander
5.2.5. Glanz und Elend des Beamten als Erzähler - Friedrich Spielhagens Erzähltheorie und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs
Eigentumsmüdigkeit in Die Akten des Vogelsangs
6. Literaturverzeichnis
6.1. Siglen
6.2. Primärliteratur
6.3. Sekundärliteratur
6.4. Dank
6.5. Personen- und Werkregister
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Die Ökonomien des Realismus: Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850-1900
 9783110292916, 9783110292794

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 200

Christian Rakow

Die Ökonomien des Realismus Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900

De Gruyter

D6 ISBN 978-3-11-029279-4 e-ISBN 978-3-11-029291-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Entdeckung der Ökonomie in Literaturkritik und Poetik des Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Mehr als eine Metapher – Literatur als Luxus bei Robert Prutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Wilhelm Scherer und der ökonomische Zusammenhang der Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Literatur und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Die versteckte Ökonomie – Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Entsagung und Gemeinsinn von Johann Wolfgang Goethe und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Wilhelm Roscher . . . . 1.2.3. Dynamische Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Joseph Vogls Kalkül und Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Von der Diskursanalyse zum New Historicism . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 20 29 43 47 53 60 65 70 76

Die literaturwissenschaftliche Entdeckung der deutschen Nationalökonomie  86

2. Die Grundzüge der realistischen Poetik in Ökonomie und Literatur 1850–1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.1. Der Aufstieg zum Besonderen – Wilhelm Roschers realistische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Jenseits der Abstraktion – Der Mensch, ›wie er ist‹ 98

2.2. Das Prinzip der Metonymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.2.1. Metonymien und die Konstruktion des Gewöhnlichen im literarischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Enzyklopädische Anker in Friedrich Spielhagens Sturmflut 102 – Die Stabilität der Gemeinplätze 106 – Das Wuchern der Enzyklopädie beim späten Gustave Flaubert  109 – Die Reduktion der Zeichenfülle im kanonischen Realismus 111

2.2.2. Echte Güter und die Wirklichkeit der Ökonomie . . . . . . . . . . . . . 115

V

2.2.3.

Güter historisch oder systematisch – Wilhelm Roscher vs. Carl Menger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.3. Die Verklärung des Wirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.3.1. Wie die Welt geordnet wird – Die formalpoetische Seite der Verklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Verklärung, Objektivierung und Dramatisierung bei Otto Ludwig, Gustav Freytag und Friedrich Spielhagen 130 – Die Läuterung des geschichtlichen Stoffes bei Wilhelm Roscher 142

2.3.2.

Wie die Welt bedeutsam wird – Die semantische Seite der Verklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Einsetzung und Aushebelung des klassischen Symbols in Novellen Gottfried Kellers 149 – Der Goldstaub der Konnotationen in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde 152 – Die Frage nach der Entsagung und das Konzept des ›realistischen Weges‹ bei Hans Vilmar Geppert 157 – Oszillierende Bedeutungsproduktion – Claus-Michael Orts Metasemiotik des Realismus 163 – Dynamisierung der Zeichen und Entsagung in Gottfr ied Kellers Der grüne Heinrich 164

2.3.2.1. Selbstreferenz – Die Poetologie des Realismus in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes . . . . . . . . . . . . . . . 170 Bildersturm und Referenzverlust in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich 176

2.3.2.2. Zusammenfassung – Sanfte Gesetze und das Textverfahren des Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.3.3. Der kulturalistische Ansatz der Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.3.3.1. Der kulturalistische Ansatz bei Wilhelm Roscher . . . . . . . . . . . . 181 2.3.3.2. Der Weg zur Spezialuntersuchung – Gustav Schmollers Institutionenökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.3.3.3. Die realistische Diskursivität und die ästhetischen Interessen der Ökonomen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Gustav Schmoller liest Friedrich Schiller 210 – Karl Bücher und der Anteil des Rhythmus bei der Entstehung der Arbeit 211 – Jenseits des Realismus – Eske Bockelmann und die Entstehung des Rhythmus aus dem Medium 215

3. Schöne Waren, schlechtes Geld – Warenwirtschaft in der realistischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.1. Der Realismus des Geldes – Gottfried Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.2. Die Poetik der Ware und der Schrecken der Finanzökonomie . . . . . . . . . 231 3.2.1. Personalität und Sachbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2.1.1. Stabilität im Kontor – Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2.1.2. Gustav Freytags Soll und Haben und die Kraft der Entsagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 VI

3.2.2.

Die Stabilität der Bedürfnisse und die Tücken des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Ein Schaufensterbummel mit Adalbert Stifter 257 – Gottfried Keller über Revalenta arabica 260

3.2.3.

Neutralität der Vermittlung und die Tücken der Konkurrenz – Preiskampf bei Gustav Freytag . . . . . . . . . . . . . 267 3.2.4. Medienskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3.2.4.1. Zwischen Funktion und Substanz – Das Geld im ökonomischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Georg Simmels Chartal-Theorie des Geldes und ihre Rezeption durch Gustav Schmoller 278 – Der Stellenwert des Kredits in der realistischen Nationalökonomie 281 – Das Kreditdenken Adam Müllers und seine Aufnahme bei Bruno Hildebrand und Wilhelm Roscher 284

3.2.4.2. Blinde Spekulanten – Geld und Kredit in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Die Meierlein-Episode und der Absturz des Kreditjongleurs 296

3.2.4.3. Durchblicken – Die finanzwirtschaftliche Intrige in Gustav Freytags Soll und Haben und Friedrich Spielhagens Sturmflut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Die Dunkelmänner der Finanz – Friedrich Spielhagens Sturmflut 305

3.2.4.4. Eine Bankierskrise und die Diabolik des Kredits – Wilhelm Raabes Die Leute aus dem Walde und Zum wilden Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Die unheimliche Rückkehr des Geldgebers in Zum wilden Mann 318

4. Der realistische Weg und seine Ränder – Systemische und antisystemische Poetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 4.1. Das System des Hungers – Wilhelm Raabes Der Hungerpastor und die Problematik systemischer Denkweisen im Realismus . . . . . . . . . 327 Die ›clearer vision‹ des Realisten – Charles Dickens’ Oliver Twist 332 – Auf der Suche nach dem guten Hunger – Wilhelm Raabes Der Hungerpastor 335 – Das systemische Gegenangebot – Émile Zolas Germinal 343 – Der Ausweg Grunzenow in Der Hungerpastor 347

4.2. Realismus vs. Grenznutzentheorie – Die Tücken der Robinsonade . . . . 4.2.1. Robinson und seine Launen – Vom Anteil der Robinsonade bei der Theoriewerdung des Grenznutzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Mehr als Robinson – Die realistische Ökonomie im Kontext der deutschen Robinsonaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Robinson und seine Brüder in der realistischen Erzählliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4. Rudimente des Grenznutzenkalküls bei Theodor Fontane . . . . .

349 350 360 367 371 VII

4.3. Karl Marx und Friedrich Engels – Der sozialistische Gegenentwurf . . . 375 4.3.1. Leben aussaugen – Die Marx’sche Arbeitswerttheorie und der Angelpunkt der historischen Erzählung . . . . . . . . . . . . . . 376 4.3.2. Gespensterball und Karneval – Zur Poetik der Marx’schen Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 4.3.2.1. Exkurs: Im Fahrwasser von Marx – Die Revolutionserzählung bei Georg Weerth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 4.3.2.2. Das Theater der Revolution – Karl Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. . . . . . . . . . . . . . . . . 397 4.3.3. Wachsende Attraktion – Die Marx-Rezeption zwischen Älterer und Jüngerer Historischer Schule der Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 4.3.3.1. Wer schätzt den Wert? Bruno Hildebrand liest Friedrich Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4.3.3.2. Reform statt Revolution – Sozialistisches Echo in der Jüngeren Schule der deutschen Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 5. Die prekäre gute Mitte – Das Institutionendenken und seine Gefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 5.1. Gustav Schmoller und das Lob der besitzlosen Intelligenz . . . . . . . . . . . . 420 5.1.1. Die große Schule des öffentlichen Dienstes – Straßburgs Ministeriale im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 5.1.2. Ordnung schaffen – Straßburgs Verfassungs- und Zunftgeschichte vom 13. bis zum 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 429 5.1.3. Exkurs: Zunftgeschichte im Roman – Otto Rüdigers Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 5.2. Der öffentliche Dienst und die prekäre Lage der Ordnungspolitik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 5.2.1. Die Wiege des Beamten und der Kaufmann als Ordnungshüter – Sturmflut und Soll und Haben . . . . . . . . . . . . . 451 Geborgen im großen Staatskörper – Noch einmal Gustav Freytags Soll und Haben 455

5.2.2. 5.2.3.

Zwei Stützen der Wohlfahrt – Wilhelm Raabes Villa Schönow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Unter dem Druck des Eigennutzens – Von der Krise des Ordnungsbegehrens bei Gustav Freytag, Gottfried Keller, Theodor Storm und Wilhelm Heinrich Riehl . . . . . . . . . . . . . . . . 468 Theodor Storms Vater-Figuren in den Mühlen des Eigennutzens 472 – Wilhelm Heinrich Riehl – 1848 und das Dilemma des Interessenpolitikers 476

5.2.4. Die letzten Entsagenden – Der öffentliche Dienst in Gottfried Kellers Martin Salander und Der grüne Heinrich . . . 479 VIII

Der Beamte in Der grüne Heinrich und der letzte Kampf des Ratsmitglieds Kleinpeter in Martin Salander 487

5.2.5.

Glanz und Elend des Beamten als Erzähler – Friedrich Spielhagens Erzähltheorie und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Eigentumsmüdigkeit in Die Akten des Vogelsangs 496

6. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507 507 507 519 539 541

IX

Vorrede

Because the tide is high And it’s rising still And I don’t wanna see it at my windowsill Arcade Fire, 2007

Am Anfang dieser Arbeit stand das Staunen über eine kleine Episode in Gottfried Kellers Opus magnum Der grüne Heinrich (1854/1855, 2. Fassung 1879/1880). Da verbringt der Protagonist Heinrich mit einem neuen Jugendfreund Meierlein seine Freizeit eigentlich auf ganz alterstypische Weise: Es werden Geschichten erzählt, Heinrich gefällt sich ein wenig als Angeber; gelegentlich veranstalten die beiden Wettkämpfe und Geschicklichkeitsproben, in denen Meierlein regelmäßig gewinnt. Wetteinsätze gibt es auch. Das alles wäre nicht sonderlich auffällig, hielte Meierlein diese gemeinsamen Spiele nicht in einer Buchführung nach dem Prinzip des ›Soll und Haben‹ fest. Sein Finanztrick verblüfft . Meierlein gelingt es mittels des Buchgeldes, die Freizeitbeschäftigungen der Jungen zu verrechnen, ohne die bis dahin stets real bemühten Ersparnisse des Helden antasten zu müssen. Gerade durch diese temporäre Aussetzung der Zahlungen häuft sich schnell eine größere Schuldensumme an, die am Ende des Sommers durch hartes Münzgeld aus dem Sparkästchen Heinrichs beglichen werden soll.1 Das Staunen, das diese Episode auslöst, ist Effekt einer quasi metaphorischen Konstellation. Bei Kaufleuten oder Finanzangestellten gehört Buchhaltung zur gängigen Geschäftspraxis. In einer Erzählung über vorpubertäre Jugendliche werden derartige Schilderungen dagegen als Elemente eines anscheinend fremden Bildbereichs auffällig. Diese Knaben spielen nicht Indianer, Räuber und Gendarm oder, wie oft in Texten des 19.  Jahrhunderts, den Inselhelden Robinson. Nein, es wird attraktiv, dem biederen Geschäftsmann nachzueifern. Die Ökonomie erobert die kindliche Phantasie. In der verblüffenden Kombination von unterschiedlichen Zeichenfeldern bezeugen literarische Artefakte ihre Eigentümlichkeit, ihre erstaunliche Singularität. Aber wie der amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Stephen Greenblatt hervorgehoben hat, entsteht dieses Staunen über die Einzigartigkeit künstlerischer Produktion nicht unabhängig von einer Qualität, die Greenblatt als ›Resonanz‹ des

1

Zur Analyse dieser Szene siehe Abschnitt 3.2.4.2. dieser Arbeit.

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Artefakts fasst: »Unter ›Resonanz‹ verstehe ich die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt und als deren – sei es metaphorischer oder bloß metonymischer – Repräsentant es vom Betrachter angesehen werden kann.«2 In dieser kulturwissenschaftlich geöffneten Perspektive steht ein Kunstwerk denn in einem vielgliederigen Zusammenhang mit den symbolischen Praktiken seines Entstehungszeitraums. Es erscheint nicht nur als selbstbezügliches Artefakt, das auf seine eigene Gestalt und auf seine Zugehörigkeit zu einem Genre, einer Kunstrichtung und, ganz allgemein, zum künstlerischen Diskurs verweist. Sondern es zeigt sich auch als Medium der Wissensverarbeitung, als spezifisches Zeichensystem, das in der Aneignung von außerliterarischem Diskursmaterial seine Form von Wirklichkeitsbezug herstellt. Vom staunenswerten Impuls führt der Weg der Forschung mithin in den Produktionskontext des Werkes. In den Blick rückt das paradigmatische Wissen der Kultur, das Texte syntagmatisch anzapfen, wenn sie mit anderswo gebräuchlichen Zeichenzusammenhängen operieren (wie in Meierleins Rechnungswesen). Erst von hier aus lässt sich abschätzen, inwieweit das Kunstwerk durch Import und Neukombination von Zeichen tatsächlich eine Spezifi k, aber auch eine Repräsentativität als diskursive Ausdrucksform erlangt. Inwieweit eignet also die Meierlein-Episode im Grünen Heinrich das zeitgenössische ökonomische Wissen an? Und was, wenn es sich denn um eine produktive Aneignung handelt, macht die Passage mit diesem Wissen? Am Startpunkt der vorliegenden Arbeit standen diese Fragen nach Gestalt und Reichweite des ökonomischen Wissens in der Ära des Realismus zwischen 1850 und 1900, in der Deutschland den Schritt in die Industrialisierung vollzieht, Zölle abbaut, Gründerzeitbooms ebenso wie Gründerkrisen erlebt.3 Die Fragen richteten sich von Anfang an auf den Zusammenhang außerliterarischer und literarischer Wissensbildung über die neue kapitalistische Wirtschaft. Das bedeutete umgekehrt auch, dass das ökonomische Wissen nicht einfach als neutrales, in Definitionen und Lehrbuchexempeln gegebenes Aussagenkonvolut hinzunehmen war. Vielmehr galt es, den Wirtschaftsdiskurs auf seine prägnante Rhetorik und Vermittlungskunst hin anzusehen. Die Entkoppelung von Form und Inhalt, die in der Literaturwissenschaft spätestens seit dem russischen Formalismus radikal in Zweifel gezogen worden ist, war in diesem Sinne auch für die außerliterarische Textproduktion aufzugeben. Man kann

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Stephen Greenblatt: Resonanz und Staunen. In: Stephen Greenblatt, Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, übers. von Robin Cackett, Frankfurt a.M. 1995, S. 7–29, hier: S. 15. Der Begriff ›Realismus‹ ist in der Literaturwissenschaft auf vielfältige Weise profi liert und problematisiert worden. Da ich ihn im zweiten Kapitel dieser Arbeit selbst vom verfahrensanalytischen Standpunkt aus umreiße, sei an dieser Stelle auf den jüngsten, eingehenden Forschungsüberblick zum Thema verwiesen: Ingo Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativsymbolistischen Strategien, Würzburg 2009, S. 130–278.

die Zeichenaneignung und die daraus entstehende Verhandlung ökonomischen Wissens im literarischen Werk nicht untersuchen, wenn man den ökonomischen Diskurs nicht auch in gleicher Weise in seiner ›Poetik‹, also als Ergebnis von Darstellungsstrategien und stilistischen Verfahren, begreift. In der ökonomiehistorisch und ökonomieanalytisch ausgerichteten Literaturwissenschaft – ich werde der Kürze halber von ›literarökonomischer‹ Forschung sprechen – ist dieser Fokus auf den Zusammenhang zwischen poetischer Konzeptbildung in der Ökonomie und ökonomischer Konzeptbildung in der Literatur durch Kurt Heinzelmans Studie The Economics of the Imagination (1980) und Marc Shells Untersuchungen zur Economy of Literature (1978) vorgeprägt worden.4 Auf die einmal aufgeworfenen Ausgangsfragen dieser Arbeit folgte umgehend die Enttäuschung. Während sich in literarischen Programmschriften bis hin zur literaturwissenschaftlichen Poetik der Zeit ein vergleichsweise reger Gebrauch ökonomischer Begrifflichkeit verzeichnen lässt, schließt sich die kanonische Prosaliteratur dieser Dekaden – von Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Storm, Adalbert Stifter oder Theodor Fontane – anscheinend gegen den aufkommenden kapitalistischen Wirtschaftsdiskurs ab. Einschlägige Zuspitzungen wie etwa in Émile Zolas Rougon-Macquart-Roman Die Beute (1871) – »An die Stelle des Familienbegriffs war bei ihnen der einer Art Kommanditgesellschaft getreten«5 – fehlen im deutschen Realismus weitestgehend. Zumal wenn damit nicht nur ein punktueller Vergleich gegeben ist, sondern, wie bei Zola, die Metapher ›beim Wort genommen‹ wird und hier also eine großflächige (Um-)Codierung des Zusammenlebens zwischen dem Börsianer Aristide Saccard, seiner Frau Renée und dem Stiefsohn Maxime angezeigt ist. Eine derartige strukturelle Metaphorizität, die auf die Monetarisierung der fi ktionalen Wirklichkeit hinlenkt, fällt bei den deutschsprachigen Autoren des Zeitraums aus. Diese Beobachtung ist nicht neu. Bereits Georg Lukács hatte in Anlehnung an Friedrich Engels dem bürgerlichen Realismus in Deutschland Provinzialismus und

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Heinzelman gibt dabei die zwei grundsätzlichen Ausrichtungen an: Als ›imaginative economics‹ bezeichnet er »the way in which economic systems are structured, by means of the imagination, upon what are essentially fictive concepts«; mit ›poetic economics‹ verweist er auf »the way in which literary writers use this fictive economic discourse, this body of systematized knowledge, as an ordering principle in their work« (Kurt Heinzelman: The Economics of the Imagination, Amherst 1980, S.  11f.). Shell hat das Konzept des (metaphorischen) ›Austauschs‹ bei der Konstitution von ökonomischen und literarischen Zeichensystemen stark gemacht. Vgl. allgemein über Entstehung und Profi l dieses am New Historicism orientierten Forschungsstrangs des ›Economic Criticism‹: Mark Osteen/Martha Woodmansee: Taking Account of the New Economic Criticism. An historical introduction. In: Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 3–50, hier: S. 4–6 u. S. 13–21. Émile Zola: Die Beute [franz. 1871], hg. und übers. von Rita Schober (Die RougonMacquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich, hg. von Rita Schober), München 1974, S. 178.

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Eskapismus attestiert. Der literarische Rückzug in die Innerlichkeit erscheint dabei als Konsequenz des »Anachronismus der deutschen Zustände«, in denen die verspätete kapitalistische Entwicklung die politische Emanzipation des Bürgertums verhindert habe.6 Der industrielle Aufschwung habe ohne demokratische Willensbildung stattgefunden und sei unmittelbar in den Abwehrkampf des Bürgertums gegen das Proletariat übergegangen. Autoren wie Wilhelm Raabe zögen sich angesichts dieser historischen Umstände auf eine kleinbürgerliche Wahrnehmung zurück. »Raabe sieht den ökonomischen Prozeß der Kapitalisierung Deutschlands nur in seinen äußerlichen Symptomen: hauptsächlich in der Zerstörung der alten Städte, der alten Landschaften, die Proletarisierung, die Auswanderung, das Ersetzen der alten persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen durch die fetischisierten, unmenschlichen, auf nackte Ausbeutung und Beherrschung ausgehenden Formen des Kapitalismus.«7 Was Raabe nicht sieht, so darf man Lukács paraphrasieren, ist die ökonomische Logik, die in diesen Transformationen waltet. Aber stimmt das eigentlich? Ist es nicht nur eine spezifische Auffassung von Ökonomie, die Raabe und andere nicht sehen? Lukács schließt sich ganz selbstverständlich der Auffassung von Friedrich Engels an, der Mitte des 19. Jahrhunderts die seinerzeit herrschende zeitgenössische deutsche Nationalökonomie und ihre spezifische Rezeption ausländischer Wirtschaftsklassiker rundum diskriminierte: »Aus dem Sammelsurium von schriftstellernden Industrierittern, Kaufleuten, Schulmeistern und Bürokraten entstand dann eine deutsch-ökonomische Literatur, die an Fadaise, Seichtigkeit, Gedankenlosigkeit, Breite und Plagiarismus nur am deutschen Roman ein Seitenstück hat.«8 Der Linie dieser Kritik von Engels bis Lukács ist die ökonomisch interessierte Literaturwissenschaft bis in die 1980er Jahre hinein im Wesentlichen gefolgt. Spätestens mit dem Scheitern des sozialistischen Experiments in der sowjetischen Ära ist dieses Paradigma auch in den Geisteswissenschaften brüchig geworden. Grundprinzipien der bürgerlichen Ökonomie haben sich gegen die Kritik von Marx und Engels behauptet. Das Axiom des Privatnutzens und die damit verbundene egoistische Motivationsstruktur stellen das Gerüst aktueller Gesellschaftstheorien dar von der Ökonomie bis zur Evolutionsbiologie (um nur zwei der derzeit dominanten und eben auch literatur- und kulturwissenschaftlich angeeigneten Forschungsdisziplinen zu nennen). Der historische Materialismus ist selbst historisch geworden. Es dürfte sich schon aus diesen Erwägungen heraus lohnen, einen Blick hinter das Felsmassiv der Marx’schen Kritik zu werfen, auf die von ihr zugestellte bürgerliche Ökonomie, zu der auch der marginalisierte Strang der ›deutsch-ökonomischen Literatur‹ zählt.

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Georg Lukács: Die deutschen Realisten des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl., Berlin 1956, S. 5. Lukács: Die deutschen Realisten, S. 238. Lukács: Die deutschen Realisten, S.  11. Lukács zitiert hier eine Rezension: Friedrich Engels: Karl Marx, »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«, Erstes Heft, Berlin, Franz Duncker, 1859 [Rezension, 1859]. In: MEW, Bd. 13, S. 468–477, hier: S. 469.

Zumal dann, wenn, wie das obige Zitat von Engels andeutet, der deutsche Roman als ›Seitenstück‹ dieser Wirtschaftsliteratur angesehen werden kann. Die Forschungsfrage dieser Arbeit richtet sich dann an den konkreten historischen Kontext, an eine Ökonomie, die von Autoren wie Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrand, Lujo Brentano oder Gustav Schmoller geprägt ist. Außerhalb des engeren Rahmens der fachwissenschaftlichen Doktringeschichte sind diese Vertreter der historischen oder – wie sie sich selbst wiederholt nannten – ›realistischen‹ Schule der deutschen Nationalökonomie heute nahezu vergessen. In ihrer Zeit definierten sie mit ihren Lehrbüchern und Periodika das Grundwissen des Diskurses, wirkten entscheidend auf die Berufungspolitik an Universitäten ein und gestalteten durch Vereinsarbeit und außeruniversitäre Publizistik die öffentliche Meinung über Wirtschaft. Die Gründungsväter der deutschen Soziologie, Max Weber und Werner Sombart, entstammen dieser Schule. Diesen Diskurs mit interdisziplinärem Interesse wiederzuentdecken, bedeutet gleichwohl, einige Hürden zu nehmen. Man ist hier mit Autoren konfrontiert, die zu voluminösen, mit historischem Wissen überfrachteten Darstellungen neigen (Marx meinte einmal in einem Brief an Engels, die »deutschen Hunde« pflegten »den Wert der Bücher nach dem Kubikinhalt« zu schätzen9). Eher breit katalogisierend denn streng systematisierend zeigen sich etwa die einschlägigen Lehrbücher von Wilhelm Roscher (Grundlagen der Nationalökonomie, 1854) und Gustav Schmoller (Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1900/1904). Sie durchmischen marktwirtschaftliche Theoriestücke mit kulturgeschichtlich Wissenswertem (und Vernachlässigbarem!); Preis- oder Bevölkerungsstatistiken stehen neben stärker narrativen und deskriptiven Passagen. In diesem Wust an Textmaterial das kulturell und letztlich auch literarisch relevante Potential zu erkennen, ist nicht die leichteste Aufgabe. Umso schwieriger wird sie, wenn die als Ausgangspunkt dienende belletristische Literatur allenfalls ein großmaschiges Beobachtungsraster abwirft. Konkrete Bezüge zu einzelnen Wirtschaftstexten lassen sich kaum ausmachen; eine breite lexikalische Aneignung ökonomischer Theoreme bleibt, wie bereits angemerkt, aus. Dieser Befund lässt sich auch über den hier abgesteckten Untersuchungsrahmen hinaus aufrechterhalten: Die im 19. Jahrhundert zunehmend explodierenden Thesauren kulturellen Wissens finden im literarischen Realismus kaum Niederschlag. Schon mit dem ›Grenzbotenstreit‹ zwischen dem vergleichsweise enzyklopädisch breit erzählenden Karl Gutzkow und den realistischen Programmatikern Julian Schmidt und Gustav Freytag setzte sich die Ansicht durch, die realistische Literatur habe gesellschaftliche und letztlich auch diskursive Komplexitäten in der literarischen Komposition einzuschmelzen. Anders ausgedrückt: Der deutsche Realismus immunisiert sich gegen die Diskursfülle seiner Zeit.10 Als Rückstände seiner Abwehrbewegung finden sich im

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Karl Marx: [Brief an Engels vom 18. Juni 1862]. In: MEW, Bd. 30, Berlin 1964, S. 248–249, hier: S. 248. Siehe Moritz Baßler: Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das

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gegebenen Text dann allenfalls vage Spuren, indirekte Hinweise und Oberbegriffe (wie der ›Markt‹, die ›Buchhaltung‹, der ›Kredit‹ etc.), die eine ganze konzeptuelle Vielfalt deckeln bzw. lose anzitieren. Mit dem Hinweis auf die ›Diskursarmut‹ des literarischen Realismus ist die Tür zur historischen Diskursbetrachtung abermals zugeschlagen. Wie wäre sie zu öffnen? Einzig und allein durch einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Es ist richtig, dass sich die Literatur gegen den akribischen Nachvollzug ökonomischer Theoriebildung sperrt. Aber die realistische Ökonomie verfährt ja ganz ähnlich, wenn sie der so genannten ›abstrakten‹ Ökonomie (der Traditionslinie von Adam Smith bis Carl Menger) mit Skepsis begegnet. Mit beschreibendem Interesse fokussiert diese spezielle Form der Nationalökonomie auf empirische Wirtschaftsräume und ihre Handlungsträger und erstattet vom historisch tatsächlich vollzogenen Wirtschaften Bericht, anstatt ahistorische Modelle zu entwickeln. Hier liegt ein gemeinsamer realistischer Ansatz vor, den die literarökonomische Untersuchung über die spärlichen konkreten Austauschbeziehungen zwischen Ökonomie und Literatur hinaus charakterisieren muss. Für die Verbindung beider Textfelder verwende ich den Begriff der ›realistischen Diskursivität‹. Die Diskursivität generiert sich, über die Diskursgrenzen hinweg, aus einem Ensemble von charakteristischen Textverfahren und inhaltlichen Motiven. Es handelt sich um eine Einheit paradigmatischer Muster, die die ›realistischen‹ Diskurse miteinander teilen, ohne dass ihre Unterschiedlichkeit damit verschwände. Selbstverständlich weichen die konkreten Redegegenstände in den Diskursen voneinander ab. Gemeinsam ist die zugrunde liegende Disposition, die spezifisch realistische Hinsichtnahme auf ›Wirklichkeit‹. Um eine zentrale Kategorie innerhalb dieser realistischen Diskursivität zu bemühen: Das ›Partikulare‹ ist in der Literatur durch individuelle, meist fi ktive Handlungsträger gefüllt; die Ökonomen bewegen sich eine Abstraktionsstufe höher und zielen auf konkrete historische Institutionen, auf Wirtschaftsgruppen, teilweise auf ganze Völker. Nie aber soll, hier wie dort, den Beschreibungen ein universaler Begriff des wirtschaftenden Menschen abgewonnen werden. Stets scheuen sich die realistischen Textformen vor systemischen Abstraktionen, vor einem ahistorischen Begriff wirtschaftlicher Rationalität. Mit der ›Diskursivität‹ ist demnach eine paradigmatische Einheit oberhalb der Diskurse bezeichnet. Sie liegt allerdings unterhalb des Abstraktionsgrades der Episteme, auf die sich diskursanalytische Untersuchungen in der Nachfolge Michel Foucaults ausrichten. Es geht in meiner Arbeit nicht um eine Epochengeschichte (wie sie etwa Joseph Vogl in Kalkül und Leidenschaft 2002 vorgelegt hat), sondern um eine strukturale Beschreibung eines konkreten Zeit- und Diskursraums zwischen 1850

Problem der Repräsentation von Wissen. In: Michael Neumann/Kerstin Stüssel (Hg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, Kostanz 2011, S.  429–442; vgl. auch Ingo Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 17–30 u. S. 164–167.

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und 1900. Die Differenzen zwischen den darin auftretenden Diskursivitäten – die sich namentlich im Vergleich des Realismus mit der österreichischen Neoklassik (Menger) und der sozialistischen Politischen Ökonomie (Marx/Engels) mitsamt den entsprechenden Literaturen zeigen – werden hier nicht aufgehoben, sondern sind der eigentliche Untersuchungsgegenstand. In der seit den 1990er Jahren rapide anwachsenden literarökonomischen Forschung gehen die maßgeblichen Studien von einem systemischen Ökonomieverständnis aus, wie es in der ›abstrakten‹ Ökonomie seit Adam Smith entwickelt und im 20. Jahrhundert akademisch vorherrschend wurde. So verdankt sich Joseph Vogls Diskursgeschichte des ›ökonomischen Menschen‹ in Kalkül und Leidenschaft einem systemtheoretisch geschärften Analysefokus. Andernorts stellt das Rationalitätsmodell des Homo oeconomicus ein Instrument zur Re-Lektüre literarischer Texte bereit.11 Hier wie dort findet die Literaturgeschichte Anschluss an die neueste Theoriebildung, gelingt, durch systemische Allegoresen des Interpreten, eine oft verblüffende Modernisierung des älteren Kanons. Die Gefährdungen dieser Arbeitsweise liegen fraglos in einem verschärften Reduktionismus. Was sich nicht in den vom Modell vorgegebenen Kategorien (z.B. Knappheit, Präferenz, Restriktion) erfassen lässt, droht unter den Tisch zu fallen. Die narrative und deskriptive Breite der jeweils untersuchten Texte wird dann bisweilen stark eingekürzt. Mehr noch: Wenn, wie bei Joseph Vogl, die ›Geburt‹ des modernen ökonomischen Kalküls auf die Zeit um 1800 datiert wird, geraten konkurrierende Optionen der Politischen Ökonomie schnell in den Schatten der Geschichtsschreibung. Die kulturelle Entwicklung wird auf einen verengten Ökonomiebegriff gebracht, der sich aus der Vorstellung autopoetisch geschlossener Systeme speist. Gerade diese Form von Schließung weist die hier untersuchte realistische Ökonomie nicht auf. Im Gegenteil, bei vielen Texten des Zeitraums stellt sich dem modernen Betrachter nachdrücklich die Frage, ob es sich überhaupt um wirtschaftswissenschaftliche Texte handelt, die da unter dem Label der ›nationalökonomischen Forschung‹ firmieren. Ethnologisches, Geographisches, Psychologisches reichert die dominant soziologisch und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Werke an. Es ist eine breit orientierte kulturalistische Ökonomie, die sich hier – das muss stets in Erinnerung bleiben – als Komplettangebot dessen versteht, was als ›Volkswirtschaftslehre‹ aufgefasst werden soll. Demgegenüber stelle die ›Abstraktion‹, also die gerade im Aufbau befindliche Systematisierung und Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft, allenfalls einen Nebenstrang im historisch-kulturalistischen Gesamtentwurf des Faches dar. Bisweilen reibt sich der moderne Interpret die Augen vor der schreienden Antiquiertheit dieses Wirtschaftswissenschaftsentwurfs. Auch das zählt zu den Hürden

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Vgl. Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, München 2004; Fritz Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes. Zur Geschichte einer Legitimationsfigur, Frankfurt  a.M. 2008. Weitere Literatur im Forschungsüberblick, Abschnitt 1.3. dieser Arbeit.

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dieser Arbeit. Und es tröstet nur bedingt, dass einzelne ihrer Motive im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor fest verankert sind: der allgegenwärtige Hang zur Moralisierung in fachexternen Debatten etwa. Wenn im Zuge der weltweiten Finanzkrise seit 2008 vermehrt Diskussionen um Managergehälter und Unternehmermoral einsetzen, dann erneuert sich darin eine subjekt- und handlungsorientierte Wirtschaftsauffassung, die unter systemischem Gesichtspunkt längst als verabschiedet zu gelten hätte.12 Zumindest das populäre Gedächtnis der Kultur hat die ethischen Motive des realistischen Wirtschaftsdiskurses gut abgespeichert. Aber die Frage nach der Aktualität lässt sich noch mindestens eine Abstraktionsstufe höher anschauen: Mit der globalen Finanzkrise und der Schuldenkrise der EU formiert sich eine frische Kritik am vermeintlichen Selbststeuerungspotenzial der Märkte. Das enge neoliberale Ökonomieverständnis, das vor allem durch die Chicagoer Schule um Milton Friedman zum dominanten Paradigma der letzten vierzig Jahre erhoben wurde und ab den 1980er Jahren durchgängig die Politik der Industriestaaten prägte,13 gerät unter Druck. Und von hier aus mag denn auch ein Schlaglicht auf die realistischen Volkswirtschaftler des 19. Jahrhunderts und ihre Auseinandersetzung mit der Manchester-liberalen Laisser-faire-Ökonomie fallen. Ein wichtiger Bestandteil der damaligen Debatten war, wie angedeutet, die Beschränkung der ›abstrakten Methode‹ und die Forderung nach einem beständigen Abgleich zwischen Modellbildung und historisch-empirischem Wissen.14 Auf einem ungleich komplexeren Level wiederholt sich diese Problemkonstellation in der aktuellen Krise der fi nanzwirtschaftlichen Modellbildung. »Ein grundlegendes Problem der Kreditmärkte ist es, dass man die dort enthaltenen Risiken nicht wirklich numerisch bewerten kann«, sagt Wolfgang Münchau (Direktor des Wirtschaftsinformationsdienstes Eurointelligence.com) und schreibt der angewandten Finanzmathematik, die eine solche sichere Risikobewertung nahe legt, eine entsprechend »unrühmliche Rolle« in der krisenhaften Bankenpraxis zu.15 Im Hintergrund dieser Kritik steht die Verbriefungspraxis des Kreditmarkts: Verbriefung ist die Umwandlung eines klassischen Kredits in ein Wertpapier, das

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Vom systemischen Standpunkt aus betrachtet, stellt sich das Problem der Managergehälter denn auch eher als Wurmfortsatz des allgemeineren Strukturproblems der Entlohnung von Aktionären unter Bedingungen der Haft ungsbeschränkung dar. Vgl. Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist [2009], vollständig aktualisierte Ausgabe, Berlin 2010, S. 126f. u. S. 388f. In der rapide anwachsenden Literatur zur Finanzkrise hat sich diese Studie des Präsidenten des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung als Standardwerk auf der Schwelle zwischen Populär- und Fachwissenschaft herauskristallisiert. Zu dieser Entwicklung vgl. Ulrich Schäfer: Der Crash des Kapitalismus. Warum die entfesselte Marktwirtschaft scheiterte und was jetzt zu tun ist, Frankfurt a.M., New York 2009, S. 49–70. Siehe Abschnitt 2.1. dieser Arbeit. Wolfgang Münchau: Flächenbrand. Krise im Finanzsystem, Bonn 2008, S. 142.

auf dem Markt an andere Käufer veräußert werden kann.16 Der positive Effekt besteht darin, dass damit das Risiko eines Kreditausfalls auf mehrere Schultern verteilt wird und sich auch für größere Investitionen leichter eine Finanzierung findet. ›Liquidität‹ ist das Zauberwort hinter dieser Praxis: Zahlungsmittel werden einfacher verfügbar, wenn sie nicht auf das konkrete Verhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger beschränkt sind, sondern potenziell global gehandelt werden können. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist ein einsetzendes Transparenzdefizit: »Die gute alte Bank kannte ihre Pappenheimer noch sehr genau«, so Münchau: »Wer heute in den Kreditmarkt investiert, kann in der Regel nicht so genau einschätzen, was für Kredite einer CDO zugrunde liegen.«17 Diese Einschätzung betrifft insbesondere jene Klasse von verbrieften Papieren zweiter, dritter und n-ter Ordnung, zu denen die hier erwähnten CDOs gehören (Collateralized Debt Obligation, das sind Wertpapiere, die andere verbriefte Kredite bündeln). Sie betrifft ebenso die zweite wesentliche Klasse von modernen Finanzinstrumenten: die Ausfallversicherungen (Credit Default Swaps, die dem rechtlichen Status nach keine Versicherungen, sondern bloße Finanztransaktionen sind18). Mit ihnen sichern sich Banken untereinander gegen jegliche Art von Zahlungsausfall ab. Das Zusammenwirken von Absicherungen (CDS) und Kreditbündelungen in Wertpapieren (CDO) setzte in der Finanzpraxis der letzten Jahre regelrechte »Verbriefungskaskaden« frei, in denen Papiere regelmäßig in sechs, in Ausnahmefällen in bis zu 40 Stufen weiter umgewandelt und abstrahiert wurden.19 Was dabei zunehmend aus dem Blick geriet, war die tatsächliche Deckung dieser Papiere und mithin die Frage nach dem ursprünglichen wirtschaftlichen Zusammenhang, in dem der Kredit auf erster Stufe ausgegeben wurde: im Falle der ›Subprime-Krise‹ also die Frage nach der Bonität der amerikanischen Immobilienkreditnehmer20 und der gesamten Stabilität ihres Immobilienmarktes. Ohne die angewandte Finanzmathematik, die den Ausfall realer Referenz durch abstrakte Modelle kompensiert,21 wäre dieses Spiel höherer Verbriefungskunst nicht möglich geworden. Und auch nicht der Absturz der Werte, als das Vertrauen in ihre Deckung aussetzte. Daher die Kritik. Grob vereinfacht gesagt, setzte die Mathematik die Kredite als isolierte Ereignisse an und kalkulierte ihre Ausfallwahrscheinlichkeit nach der Gauß’schen Normalverteilung, während sie de facto als verbunden einzuschätzen gewesen wären, aus dem Gesamtzusammenhang des Immobilienmarktes heraus. Für eine solche Berechnung, die letztlich das Risiko des Zusammenbruchs

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Im Falle der ›Subprime-Krise‹ waren diese Wertpapiere erster Stufe so genannte MBS (Morgage Backed Securities, also hypothekenbesicherte Wertpapiere). Vgl. Münchau: Flächenbrand, S. 142. Vgl. Münchau: Flächenbrand, S. 89f. Vgl. Sinn: Kasino-Kapitalismus, S. 167–175. Sehr anschaulich zur Arbeit der Drückerkolonnen, die in den USA Immobilienkredite an den Mann brachten: Schäfer: Der Crash des Kapitalismus, S. 151–154. Zur systemtheoretischen Betrachtung dieser Vorgänge vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. 4. Aufl., Zürich 2010, S. 83–114.

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des gesamten Häusermarktes einkalkulieren muss, taugen die finanzmathematischen Modelle nicht (ein Grund, weshalb Banker, die sich dieser Begrenzung ihrer Modelle bewusst waren, die CDO’s wie »heiße Kartoffeln« weiterreichten und entsprechend komplex verbrieften).22 Die Finanzmathematik beschrieb aber nicht nur die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Sachverhalte inadäquat, weil idealisiert. Sie generierte auch ein (illusionäres) Vertrauen in die finanzwirtschaftlichen Medien, das selbst die Risikobereitschaft im System maximal erhöhte.23 Motor dieser Vertrauensbildung waren die Rating-Agenturen, die auf Basis dieser mathematischen Modelle ihre Bewertung der verbrieften Papiere abgaben. Dass diese Agenturen von jenen Institutionen bezahlt wurden, deren Finanzprodukte sie einschätzten, unterstellt sie nicht nur dem »Verdacht des opportunistischen Verhaltens«.24 Es bezeugt auch die Selbstreferenz eines Finanzsystems, das sich von seinen Umweltbedingungen nahezu vollständig gelöst hatte. Wenn nunmehr die Forderung nach einem Verbot mehrstufiger Verbriefung laut wird,25 dann ist das nur ein Baustein in einem Ensemble von Regulierungsforderungen, die darauf abzielen, die Finanzwirtschaft wieder näher an die Realwirtschaft heranzuführen (Forderungen nach dem Verbot von ungedeckten Leerverkäufen, der Entmachtung von Rating-Agenturen und vor allem nach der Erhöhung der Eigenkapitalquoten, die letztlich den Haftungsumfang der Anleger festschreiben, zielen in dieselbe Richtung). Anders gesagt: Das goldene Kalb der Liquidität soll, wenn nicht geschlachtet, so doch mindestens in eine mäßige, angemessene Erträge abwerfende Milchkuh verwandelt werden. Mit diesem realistischen Aufbäumen geht eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Arbeiten des Harvard-Ökonomen John Kenneth Galbraith einher, der als einer der prominentesten Fortführer sowohl der historischen wie der institutionenökonomischen Forschungsangebote des 19. Jahrhunderts (wie sie bei Roscher und Schmoller zu finden sind26) gelten darf. Bezüglich neuer Finanzinstrumente formulierte Galbraith in seiner Short History of Financial Euphoria (1990) eine ›eiserne Regel‹: »Die Regel besagt, dass sich Finanzgeschäfte nicht für Innovationen eignen«, d.h.: »Jede finanzielle Neuerung erfordert in der einen oder anderen Form eine Verschuldung, die mehr oder weniger angemessen durch reale Vermögenswerte abgesichert ist.«27 Eine Leistungssteigerung in der Realwirtschaft hängt, so

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Sinn: Kasino-Kapitalismus, S. 170f. Vgl. Münchau: Flächenbrand, S. 151. Sinn: Kasino-Kapitalismus, S. 394. Sinn: Kasino-Kapitalismus, S. 396. Vgl. insbesondere die Abschnitte 2.1., 2.2.2. und 2.3.3. dieser Arbeit. Die Institutionenökonomie wird im angloamerikanischen Raum im Übrigen von Thorstein Veblens The Theory of the Leisure Class begründet (Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen [engl. 1899], Frankfurt a.M. 2007). Von der deutschen Nationalökonomie gibt es eine zarte Rezeptionslinie zu John Maynard Keynes, auf den sich auch Galbraith beruft . John Kenneth Galbraith: Eine kurze Geschichte der Spekulation [engl. 1990], übers. von Wolfgang Rhiel, Frankfurt a.M. 2010, S. 34.

betrachtet, nicht von der Herausbildung neuer Kreditformen ab. Münchau schließt hieran an: »Es gibt tatsächlich keinen Grund, anzunehmen, warum das jährliche Wachstum von Aktienmärkten so viel größer sein sollte als die drei bis fünf Prozent nominalen Produktivitätswachstums, die die meisten Industrieländer generieren.«28 Die Krise der Modellbildung im Finanzsektor geht mit einer Aufwertung empirischer Argumente einher, die auch die Mainstream-Theorie des Faches nicht unbeeindruckt lässt. Mit ihrer Konzeption der ›Animal Spirits‹ haben der Berkley-Ökonom George A. Akerlof (Nobelpreisträger 2001) und sein Kollege aus Yale Robert J. Shiller eine »empirisch gehaltvolle« Neo-Keynesianische Kritik des orthodoxen Liberalismus vorgelegt, die eine kulturalistische Ausweitung ökonomischer Basisannahmen verspricht.29 Schon der titelgebende Begriff der ›Animal Spirits‹ bedeutet eine Kritik des klassischen Rationalitätsaxioms, von dem das Modell des Homo oeconomicus getragen wird:30 ›Animal Spirits‹ meint das diff use Feld der irrationalen Einstellungen, Antriebe oder Neigungen, die das tatsächliche wirtschaftliche Handeln von Akteuren mitbestimmen. Sie sind in fünf Einflusssphären unterteilt: Der Stellenwert von Vertrauen, Fairness, die Versuchungen der Korruption, die Persistenz der Geldillusion und die Rolle von Geschichten werden als Komponenten des intuitiven wirtschaftlichen Handelns etabliert. Diese Erweiterung der Ökonomie um soziologische und literarökonomische Dimensionen steckt zweifelsohne noch in den Kinderschuhen.31 Aber der Zug zur empirisch akzentuierten, kulturwissenschaftlich breit angelegten Wirtschaftstheorie ist allemal bemerkenswert. Hier erneuert sich eine Ambition, wie man sie in dieser Arbeit in der realistischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts antreffen wird: die Ambition, wirtschaftliche Abläufe konkret und in größtmöglicher Komplexität zu beschreiben. Es ist ein realistischer Spin auf dem Niveau moderner systemischer Denkweisen. Die besagte Aufwertung empirischer Argumente erfasst neben theoretischen auch wirtschaftspolitische Überlegungen. Galbraith hatte in seiner Analyse der Welt-

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Münchau: Flächenbrand, S. 196. George A. Akerlof/Robert J. Shiller: Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt a.M., New York 2009, S. 24. Vgl. Gebhard Kirchgässner: Homo Oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991. Schon der Fachfremde darf etwa das Fehlen der geldpsychologischen Forschung im Themenkreis der ›Geldillusion‹ bedauern (für den deutschen Raum etwa: Günter Schmölders: Die Psychologie des Geldes, Reinbek bei Hamburg 1966; Georg Simmel: Die Philosophie des Geldes [1900], hg. von David P. Frisby/Klaus Christian Köhnke, Gesamtausgabe, Bd.  6, Frankfurt a.M. 1989). Das Ausbleiben der neueren Institutionenökonomie (die seit den 1980er Jahren mit Douglass C. North bis hin zu den jüngeren Nobelpreisträgern Elinor Ostrom und Oliver E. Williamson gerade auch in den USA einen rapiden Aufschwung genommen hat) ist regelrecht verblüffend. Auch eine Einarbeitung der literarökonomischen Forschung zur Rolle des Geschichtenerzählens in der Wirtschaft dürfte sich zukünftig als fruchtbar erweisen.

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wirtschaftskrise 1929 eine Beobachtung vorgebracht, die man in ähnlicher Form schon in der Historiographie der Volkswirtschaft von Wilhelm Roscher findet: Eine unausgewogene Einkommensverteilung befördert Krisen (nach Galbraiths Schätzung wurde 1929 ein Drittel der Einkommen von 5 Prozent der Bevölkerung erzielt).32 Denn Ungleichheit schränkt die Spannweite des volkswirtschaftlichen Konsums ein. »In einer gespaltenen Gesellschaft«, folgert Ulrich Schäfer (Wirtschaftsjournalist der Süddeutschen Zeitung) aus dieser Beobachtung, »wächst die Gefahr, dass ein Börsencrash verheerende Folgen hat.«33 Oder in den Worten Roschers: »Zur wirthschaftlichen Blüthe des Volkes muß darum eine Harmonie der großen, mittleren und kleinen Einkommen die unentbehrliche Voraussetzung heißen.«34 Auf das Problem der wachsenden Ungleichverteilung von Einkommen in den letzten drei Dekaden hat ein amerikanisches Forscherteam um Robert J. Shiller und Leonard E. Burman mit einem Vorschlag zu einem neuartigen Steuermodell reagiert: dem ›Rising Tide Tax System‹.35 Die Grundidee ist simpel: Auf Basis der jährlich erhobenen Steuerdaten wird die Einkommensverteilung empirisch eingeschätzt; wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, erhöht sich der Steuersatz für die oberen Einkommensklassen, während derjenige für die unteren sinkt. Schließt sich die Schere, fällt der Spitzensteuersatz und die Geringverdiener werden wieder relativ vermehrt zur Kasse gebeten. Da dieser Mechanismus in sich dynamisch und unabhängig funktioniert und also auch der tagespolitischen Willkür zu einem gewissen Grad entzogen ist, liegt die beträchtliche politische Hürde bei der Einführung und Taxierung der Sätze (nach Shillers Modell läge der Spitzensteuersatz in Zeiten hoher Ungleichverteilung bei 90 Prozent, eine Größe, die gegen die entsprechenden Lobbys kaum durchsetzbar sein dürfte). Ob es sich hierbei schon um eine realpolitische Option oder einstweilen um ein wichtiges Desiderat handelt, sei dahin gestellt. Ablesbar ist hieran mindestens, dass wirtschaftspolitische Steuerungsvorschläge eine Renaissance feiern. Unter neoliberalen Gesichtspunkten wäre ein derartiger staatlicher Eingriff in die Einkommensstruktur nicht einmal entfernt vorstellbar. Die Ideologie des radikal befreiten Marktes ist beherrscht von einem Grundvertrauen in die Kraft der Allokation (also in die Verteilung der produzierten Güter aus der Eigendynamik des Markes heraus). Wenn der Kuchen nur insgesamt wächst, dann komme gemäß dem ›Trickle-Down‹-Effekt

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John Kenneth Galbraith: The Great Crash 1929, Cambridge 1955, S. 182f. Schäfer: Der Crash des Kapitalismus, S. 219. Wilhelm Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende [1854], (System der Volkswirthschaft slehre, Bd.  1), 20. Aufl., Stuttgart 1892, § 205, S. 570. Mehr dazu in Abschnitt 2.3.3.1. dieser Arbeit. Ein Manuskript ihres Papiers ist im Internet verfügbar, aber nicht zur Zitation freigegeben, siehe: Leonard E. Burman/Robert J. Shiller/Gregory Leiserson/Jeff rey Rohaly: The Rising Tide Tax System. Indexing the Tax System for Changes in Inequality [zitiert nach http://newfi nancialorder.com/burman-nyu-030807.pdf, abgerufen am 22.07.2010]. Die Überlegung hat Eingang gefunden in den Vorschlagskatalog von: Schäfer: Der Crash des Kapitalismus, S. 285–287.

über kurz oder lang noch immer ein Stück auch bei den schlechter gestellten Bevölkerungsschichten an, so die lange gültige Maxime. Aber »langfristig sind wir alle tot«, witzelte schon John Maynard Keynes über die Vorstellung, dass sich auf den Märkten das Gleichgewicht auch ohne aktive Wirtschaftspolitik dauerhaft, wie von ›unsichtbarer Hand‹ bewirkt, wiederherstellt.36 Die Namensgebung des ›Rising Tide Tax System‹ spielt vor diesem Hintergrund ironisch auf ein liberalistisches Bonmot von John F. Kennedy an: »A rising tide lifts all the boats«.37 Schön wäre es. Aber die ewig wiederkehrende Flut der Wachstumswirtschaft spült eben doch nicht alle Boote nach oben, und schon gar nicht alle in gleichem Maße. Überhaupt nicht zu reden von jenen Booten, die die ›Sturmflut‹ einer geplatzten Finanzblase zerschlagen zurücklässt (man wird diese einschlägige Metaphorik bei Friedrich Spielhagen wiedertreffen38). »Es gibt keine Selbstregulierung der Märkte, nur eine Selbststeuerung innerhalb des staatlich gesetzten Regulierungsrahmens«, betont Hans-Werner Sinn die aktuelle wirtschaftspolitische Aufgabe, einen »starken Ordnungsrahmen« für den Finanzmarkt herzustellen.39 Die Verstärkung des Haftungsprinzips verbunden mit einer strafferen Eigenkapitalregulierung und die oben angesprochene Zurückdrängung der mehrstufigen Finanzmarktpapiere gehören in seinen Forderungskatalog. Der ordnungspolitische Akzent, der sich hier Gehör verschafft , steht expressis verbis in der ordoliberalen Tradition eines Walter Eucken. Es ist eine Tradition, die dem Laisser-faire des klassischen Liberalismus stets ein starkes institutionentheoretisches Gewicht entgegenbrachte. Als Vorläufer dieser Richtung darf man die realistische Ökonomie eines Wilhelm Roscher oder Gustav Schmoller ansehen. Sinn selbst steht als ehemaliger Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik (1997–2000) institutionell in einer Linie mit Schmoller, der 1873 zu den Gründungsvätern dieses wirtschaftspolitisch einflussreichen Expertengremiums gehörte und der dem Verein zwischen 1890 und 1917 selbst vorsaß. Es wird in der hier vorliegenden Arbeit gleichwohl auch davon die Rede sein müssen, inwiefern sich diese Ökonomie mit modernen Ansätzen inkompatibel zeigt und inwiefern mithin die institutionenökonomischen Impulse Schmollers paradigmatisch verschieden sind von den systemischen Vorschlägen, die die heutigen Diskussionen prägen.40 Einen Schritt von den ökonomischen Diskussionen zurückgetreten, stellt sich gleichwohl die Frage, ob in dieser Inkompatibilität nicht auch ein produktives Moment liegen kann. Diese Frage betrifft die gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die jenseits der vergleichsweise konkreten Optimierungsfragen, die aktuell die Finanzmarktdebatte beherrschen, anfallen. In seinem viel diskutierten Essay Post-

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Zitiert nach Schäfer: Der Crash des Kapitalismus, S. 35. John F. Kennedy: Remarks in Herber Springs, Arkansas, at the Dedication of Greers Ferry Dam, October 3, 1963 [zitiert nach http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index. php?pid=9455, abgerufen am 22. Juli 2010]. Vgl. Abschnitt 3.2.4.3. dieser Arbeit. Sinn: Kasino-Kapitalismus, S. 367. Siehe insbesondere Abschnitt 2.3.3.2. dieser Arbeit.

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demokratie hat Colin Crouch diese gesellschaftspolitische Problemstellung umrissen. Der neoliberale Trend seit Anfang der 1970er Jahre hat eben nicht nur zu einem Abbau von Regulierungsschranken im Finanzsektor geführt; er hat auch die politische Sphäre grundlegend umstrukturiert. Unter dem Einfluss quasi-aristokratischer Wirtschaftseliten (Lobbys) hat die öffentliche Sphäre einen Prozess sukzessiver Kommerzialisierung durchlaufen. Im downsizing und outsourcing kommunaler Aufgaben ordnet sich der Staat nach Maßgaben privatwirtschaftlicher Markteffizienz neu. Jedoch, so Crouch: »Es ist nicht sinnvoll, den Markt zu einem absoluten Prinzip oder kategorischen Imperativ zu erheben, da er lediglich ein Mittel darstellt, gewisse Ziele zu erreichen, keinen Zweck an sich.«41 Gerade im Bereich wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (wie etwa der Herstellung von ›Gerechtigkeit‹, Gesundheitskontrollen oder des Zugangs zum ›öffentlichen Raum‹) beschädige die Verpflichtung auf eine quantifizierende, marktförmige Logik das angestrebte Gut.42 In diesen Sektoren, so legt Crouch nahe, braucht es daher qualitative Aussagen über Zwecke (also ›Was wollen wir‹, und nicht ›Was ist effektiv machbar‹), mithin ein »absolutes Qualitätsurteil«.43 Mit dieser Differenzierung, die letztlich auf eine Erneuerung der Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Markt, zwischen öffentlichen und privaten Gütern, hinausläuft, landet Crouch nun auch explizit im Diskursfeld des 19. Jahrhunderts: Wir müssen der Idee des öffentlichen Dienstes als eines Feldes mit eigenem Ethos und spezifischen Aufgaben zu erneutem Ansehen verhelfen. Es ist lehrreich, sich daran zu erinnern, daß die Eliten des Viktorianischen Großbritanniens – größtenteils archetypische Kapitalisten – ein tiefgehendes Verständnis für den Unterschied zwischen dem Dienst an der Öffentlichkeit und privatem Gewinnstreben entwickelten und etablierten, ohne dabei die eigentlichen Funktionen des Kapitalismus in irgendeiner Weise abzulehnen.44

Inwieweit diese historische Konstellation nicht nur im viktorianischen England, sondern auch in der ordnungspolitisch ausgerichteten deutschen Nationalökonomie im 19. Jahrhundert mit ihrem Pathos des Beamtenstandes eine Rolle spielt, wird in dieser Arbeit zu verfolgen sein.45 Was Crouch mit der historischen Einlassung anregt, ist eine neuerliche Ausweitung des Spielraums für inhaltliche politische Teilhabe. In der Postdemokratie dominiere ein eng gefasster Demokratiebegriff, der Partizipation im Wesentlichen auf den Akt der freien, geheimen und gleichen Wahl reduziert, wobei die Wahlkampfthemen von oben (top down) gesetzt werden (was die Wahlen in der Konsequenz zum reaktiven Vorgang macht). Die ausschlaggebende politische Praxis wird von Expertenkommissionen und Lobbyisten besorgt, auf Grundlage des stillschweigenden Ein-

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Colin Crouch: Postdemokratie [ital. 2003], übers. von Nikolaus Gramm, Frankfurt a.M. 2008, S. 108. Vgl. Crouch: Postdemokratie, S. 110–114. Vgl. Crouch: Postdemokratie, S. 109. Crouch: Postdemokratie, S. 139. Insbesondere in Abschnitt 5.1. dieser Arbeit.

verständnisses, dass Marktteilnehmer letztlich über das Optimum an Information verfügen und also den politischen Entscheidungsträgern in Sachfragen überlegen sind.46 Genau diese Prämisse wird im wirtschaftspolitischen Diskurs des Realismus mit Nachdruck angezweifelt. Im Horizont des Entsagungsdenkens47 entfaltet sich hier eine wohlfahrtsstaatliche Wirtschaftsvorstellung, die eine Balance sucht zwischen dem freien Spiel egoistischer Marktakteure und dem Ordnungsrahmen, den neutrale, externe Beobachtungsinstanzen garantieren. Crouchs Essay zeigt, dass dieses Argument nicht auf ein obrigkeitsstaatliches Reglementdenken verpflichtet ist. Die Unterbrechung des Dogmas der überlegenen Marktinformation, die Crouch anstrebt, zielt auf die Revitalisierung der demokratischen Herrschaftsausübung von unten, durch die Formierung neuer kollektiver Interessen (ein Prozess, in dem Rentabilität zunächst noch gar keine Rolle spielt). Allein der Begriff »Postdemokratie« impliziert, dass im Hintergrund dieser Ausführungen ein Zyklenmodell des Aufstiegs und Niedergangs demokratischer Herrschaftsformen lagert. »Angesichts der Schwierigkeiten, die politische Realität dauerhaft dem oben skizzierten Ideal [der kollektiven Teilhabe von unten] anzunähern, müssen wir uns damit abfinden, daß die wahrhaft demokratischen Phasen begrenzt sind«, konzediert Crouch.48 Diese vergleichsweise nüchterne Haltung liest sich als Absage an eine Euphorie, die noch um 1990 herum den globalen Siegeszug des westlichen Wirtschafts- und Politikmodells begleitete. »[L]iberal democracy remains the only coherent political aspiration that spans different regions and cultures around the globe«, verkündete seinerzeit Francis Fukuyama mit neohegelianischem Zungenschlag und fügte an: «In addition, liberal principles in economics – the ›free market‹ – have spread, and have succeeded in producing unprecedented levels of material prosperity«.49 Eine freie Kultur der Anerkennung unter Gleichen und die liberale Wachstumsökonomie hatten den Lauf der Geschichte ans Ende gebracht – das waren die »good news« damals.50 Es waren auch die ›good news‹ im Hintergrund des finanzkapitalistischen Optimismus, der nach mehreren Vorbeben (Asienkrise 1997/1998, Crash der New Economy 2000) 2008 seinen jähen Einbruch erlebte.51 Gegenüber diesem teleologischen Modell des Aufstiegs zum liberalen Idealzustand stellen Crouchs Ansichten einer transitorischen Demokratie das realistischere Geschichtsbild dar. ›Realistischer‹ unter dem Gesichtspunkt der Charakteristik, die in dieser Arbeit vorgestellt wird. Phasen des ordnungspolitischen Optimums, der

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Vgl. Crouch: Postdemokratie, S. 126. Vgl. insbesondere Abschnitt 1.2.2. und Kapitel 5. dieser Arbeit. Crouch: Postdemokratie, S. 20. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man [1992], New York et al. 2006, S. xiii. Fukuyama: The End of History, S. xiii. Der Verweis auf Fukuyamas Werk als geistesgeschichtliches Korrelat jener Kultur des entfesselten Finanzkapitalismus erfolgt neuerdings häufiger. Vgl. hier lediglich Schäfer: Der Crash des Kapitalismus, S. 96f.

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weitreichenden Güterverteilung, der sozialen Befriedung gelten im zyklischen Geschichtsbegriff der Realisten um Roscher und Schmoller stets als vergänglich. Der historische Prozess ist selbst bestimmt durch einen Widerstreit partikularer Interessen und institutioneller Eindämmung des Kräftespiels, letztlich als Ringen zwischen Markt und Ordnungspolitik. Aus diesem Widerstreit heraus bildet der Realismus seinen Wirklichkeitsbegriff. In Kapitel 1 dieser Arbeit wird vorbereitend umrissen, wie ökonomische Denkmuster in die poetologischen Beschreibungen von Literatur nach 1850 Einzug halten und in welcher Perspektive auch die notorisch diskursarme Prosaliteratur des Realismus Anschlussstellen für ökonomische Fragestellungen der Zeit aufweist. Kapitel 2 stellt in Grundzügen die Textverfahren realistischer Prosa in der Wirtschaftswissenschaft und in der Belletristik zwischen 1850 und 1900 vor. Hier wird die Grundcharakteristik der realistischen Diskursivität vorgenommen, die den Hintergrund für die anschließenden Fallstudien darstellt. Kapitel 3 widmet sich verschiedenen einschlägigen Prosatexten des literarischen Realismus und beschreibt die poetische Konzeption der Realwirtschaft und das dominante finanzskeptische Ressentiment. In Kapitel 4 wird das realistische, antisystemische Textverfahren in zwei Richtungen abgegrenzt: gegen die neoklassische Grenznutzentheorie Carl Mengers und gegen die sozialistische Wirtschaftswissenschaft von Karl Marx und Friedrich Engels. Auch hier stehen jeweils die Poetiken zur Betrachtung, sind Verweise auf literarische Beispiele, die sich diesen systemischen Denkstilen verpflichten, eingeflochten. Kapitel 5 entwickelt abschließend im Zeichen der Beamtenfigur das bereits angedeutete ordnungspolitische Schema und stellt damit eine grundlegende inhaltliche Dimension der Verarbeitung wirtschaftlicher Probleme in ökonomischen und literarischen Texten des Realismus vor.

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1.1.

Einleitung

Die Entdeckung der Ökonomie in Literaturkritik und Poetik des Realismus

Maschinen anfertigen, Baumwollfelder bestellen oder Aktien handeln – das ist etwas anderes als Literatur verfassen; allein dem materiellen Output nach. Unterschiedliche Tätigkeiten bringen unterschiedliche Dinge hervor, und in diesem Sinne stehen kulturelle Praktiken immer in Distanz zueinander. Diese Distanz ist gleichwohl eine relative. Insofern Kulturen (oder zumindest moderne Kulturen) sich, wie Dirk Baecker sagt, über die Praxis des Vergleichens generieren1, können einzelne Tätigkeiten schnell in Zusammenhang gebracht werden, je nachdem, ob man sie eben miteinander vergleicht. Die Praxis des Vergleichens ist eine symbolische, realisiert etwa durch sprachlichen oder monetären Zeichengebrauch (in dieser Arbeit interessieren allein diese beiden). Vermittels symbolischer Kommunikation lassen sich unterschiedlichste materielle Vorgänge in Beziehung setzen. So entsteht Kultur, wie Stephen Greenblatt sagt, im ›Austausch‹: »Eine Kultur ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen [negotiations] über den Austausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und – durch Institutionen wie Sklaverei, Adoption oder Heirat – Menschen.«2 Diese Vorstellung von der Kultur als ›Marktplatz‹, auf dem auch, ja vielleicht sogar bevorzugt, die Kunst den »allgemeinen Symbolhaushalt, bestehend aus den Myriaden von Zeichen, die Verlangen, Furcht und Agression der Menschen erregen«, umschichtet3, ist für den von Greenblatts Arbeiten inspirierten New Historicism prägend geworden. Natürlich ist diese Vorstellung selbst ein Produkt neuerer Kulturentwicklung. ›Austausch‹ wird erst dort zu einem relevanten Konzept, wo eine Spezialisierung und Ausdifferenzierung der sozialen Praktiken stattgefunden hat. Es ist die Kultursemiotik der explodierenden Marktgesellschaft, die der New Historicism verkörpert. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass sein Reden über Verhandlungen und

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Dirk Baecker: Wozu Kultur?, 3. Aufl., Berlin 2003, S. 46. Stephen Greenblatt: Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1996, S. 48–59, hier: S. 55. Greenblatt: Kultur, S. 55. Dort heißt es weiter über den Status der Kunst: »Durch ihr Vermögen, einprägsame Geschichten zu konstruieren, ihre Beherrschung effektvoller Bildlichkeit und vor allem ihr Gespür für die größte kollektive Schöpfung jeglicher Kultur: die Sprache, sind literarische Künstler dazu befähigt, diesen Haushalt zu manipulieren.«

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marktförmige Tauschprozesse durchaus eine ungerade Rezeption ökonomischen Wissens bedeutet.4 Schließlich wechselt in der monetären Transaktion, anders als in der sprachlichen Kommunikation, das Tauschmittel (das Geld) tatsächlich die Hand. Zahlung bedeutet Verlust des Zahlungsmittels (während Wissen einem Mitteilenden weiter verfügbar bleibt). Man muss sich im Sinne dieser Kritik davor hüten, in das Fahrwasser des ›ökonomischen Imperialismus‹5 zu geraten und also wirtschaftliche Begrifflichkeit unumwunden auf alle sozialen Bereiche und eben auch auf die Literatur anzuwenden. Tatsächlich verfährt die kulturpoetische Analyse des New Historicism weitaus subtiler, als es der Einwand nahelegt, und ihre Stärke besteht dabei gerade in der unscharfen Aneignung des Verkehrsbegriffs ›Austausch‹. Nichts liegt dieser Schule literarhistorischer Forschung ferner als eine Analyse kulturellen Transfers im sorgsam definierten Begriffsraster der Wirtschaftstheorie. Das Konzept des ›Austauschs‹ ist vielmehr Ergebnis einer vitalen metaphorischen Bewegung von der Art, wie sie der New Historicism im historischen Objektbereich untersucht. Es geht ihm um die Frage, wie Wörter in verschiedenen Wissensbereichen funktionieren, mit welchen Begriffen sie sich in einem anderen Diskursfeld zusammenschließen, um Redegegenstände unterschiedlich zu fokussieren. Die Ausdrucksweise, dass Wörter ›wandern‹ oder eben ›ausgetauscht‹ werden, ist dabei als gezielt offener Tropus für gleichsam gezielt offene Forschungsfragen anzusehen (wie alle guten Metaphern löst sie eine semantische Suchbewegung aus). Die Vergleichsperspektive, die hier grundsätzlich aufgemacht ist, schlägt sich in der Praxis des New Historicism nieder.6 Es geht, anders als vom Begriff ›Austausch‹ nahegelegt, weniger um konkrete Rezeptionslinien und personal vermittelte Tauschvorgänge (was nicht heißt, dass nicht auch manchmal diese untersucht werden). Wichtiger ist ihm die Analyse von Wörtern und Konzepten in den jeweiligen Kontexten ihres Gebrauchs, inner- wie außerliterarisch. Wo aber setzt der diskursive Vergleich an? Die Aufspaltung des kulturellen Wissens in etwas, das man als selbstständige ökonomische und literarische Diskurse zu unterscheiden vermag, ist ein langer Prozess. Joseph Vogl hat die wesentlichen Schritte zur Autonomisierung der ökonomischen Theoriebildung gegenüber dem breiteren

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Amy Koritz/Douglas Koritz: Symbolic Economics. Adventures in the metaphorical marketplace. In: Martha Woodmansse/Mark Osteen (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 408– 419. Dieses Stichwort verbindet sich wesentlich mit den Arbeiten des Chicagoer Ökonomen Gary Becker, der für sein Bemühen, die mikroökonomische Analyse auf weite Bereiche menschlichen Sozialverhaltens auszudehnen, 1992 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Die Grundlagen dieser kulturpoetischen Methodik sind zuerst einschlägig beschrieben worden von Alan Liu: Die Macht des Formalismus. Der New Historicism, übers. von Stephan Dietrich. In: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1996, S.  94–163. Mehr zu den Perspektiven dieser Arbeit folgt im Forschungsüberblick in Abschnitt 1.3.

kameralistischen Policey-Wissen einschlägig auf die Zeit um 1800 datiert.7 Kurt Heinzelman legt mehr Gewicht auf die Entwicklung ab 1871, in der sich die subjektive Werttheorie durchzusetzen beginnen.8 An beiden Schnittstellen finden sich wichtige Entwicklungsmomente einer tendenziell systemischen, modellorientierten Ökonomie: um 1800 die Etablierung der arbeitswerttheoretischen Klassik mit Adam Smith, um 1871 die Entstehung der nachfrageorientierten Neoklassik mit Carl Menger, Léon Walras und Stanley Jevons. Wie sich zeigen wird, arbeitet sich die deutschsprachige Nationalökonomie, die sich ab 1805 begrifflich und institutionell formiert9, an dieser systemischen Ökonomie ab. In der hier zur Untersuchung stehenden Phase zwischen 1850 und 1900 ist sie universitär im Fächerkanon der Staatswissenschaften verankert. Spuren einer literarischen Auseinandersetzung mit diesem sukzessive autonomer werdenden Wirtschaftswissen finden sich zuallererst im Feld der Poetologie und Literaturkritik des Poetischen Realismus (und also im konzeptionellen Umfeld des literarischen Schaffens). Literarische Werke werden als »zur gemeinen Industrie herabgesunken«10 charakterisiert; man spricht von »lackierten Waren, die der Dilettantismus auf den Markt bringt«11. Wer literaturwissenschaftliche Kategorien klärt, behauptet »das Gepräge der Münze zu erneuern«12. Gern ist die Rede vom »Capital«13 des Poeten. Und Rudolf Gottschall schreibt über die Spannungsgestaltung im Roman: »Je größer der Kredit ist, den der Romandichter für seine poetischen Schul-

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Woodmansee/Osteen datieren ebenso. Vgl. Mark Osteen/Martha Woodmansee: Taking Account of the New Economic Criticism. An historical introduction. In: Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 3–50, hier: S. 5. Vgl. Heinzelman: The Economics of the Imagination, S. 85–88. Der Begriff ›National-Oekonomie‹ taucht 1805 als Titelbegriff in den Werken bei Ludwig Heinrich von Jakob und Friedrich Julius Heinrich Graf von Soden auf. Vgl. Birger P. Priddat: Nur der halbe Smith. Modernisierungsschwierigkeiten der deutschen Nationalökonomie im 19.  Jahrhundert. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (1992) H. 2, S. 147–167. Julian Schmidt: Idee und Wirklichkeit [1858]. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart 1997, S. 121–124, hier: S. 124. Rudolf Gottschall: Gegen Julian Schmidt [Auszüge aus der Vorrede zu »Die deutsche Nationalliteratur des 19.  Jahrhunderts« 1861]. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart 1997, S. 127–130, hier: S. 129. Wilhelm Scherer: Bürgerthum und Realismus [1870]. In: Wilhelm Scherer, Kleine Schriften, Bd.  2 (Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Essays zur Litteratur, Kunst und Politik), hg. von Erich Schmidt, Berlin 1893, S. 183–187, hier: S. 183. So schreibt Friedrich Spielhagen über literarische Reiseerfahrungen: »Bei alledem kommt es, wohlgemerkt, auf das materielle Abenteuer viel weniger an, sondern auf das glänzende Kapital für Geist und Gemüt, das der Autor aus diesem unscheinbaren Material zu gewinnen versteht.« Friedrich Spielhagen: Die epische Poesie unter dem wechselnden Zeichen des Verkehrs. In: Friedrich Spielhagen, Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 17–51; zum ›Kapital des Poeten‹ vgl. auch, im Vorgriff auf die Ausführungen im nächsten Kapitel, Robert Prutz: Vorlesungen über die

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den in Anspruch nehmen darf, desto größer ist seine Kunst. Jede Erfindung des Romans ist ein Wechsel, der erst am Schluß fällig ist.«14 In allen diesen Fällen handelt es sich um eine vergleichsweise einfache Übertragung. Die metaphorische Konstruktion einer Trivialliteratur als ›gemeine Industrie‹ z.B. appliziert kaum mehr, als einem durchschnittlichen Alltagsverständnis zugänglich ist: Sie stützt sich ebenso auf die denotativen Komponenten des verbreiteten Begriffs ›Industrie‹ (Massenproduktion qua standardisierter Arbeitsabläufe) wie auf die konnotativen (Zerstörung originären ›guten Handwerks‹, Entfremdung der Arbeitstätigkeit). Komplizierter verhält es sich dagegen, wenn der Literaturwissenschaftler Erich Schmidt in seiner Wiener Antrittsvorlesung von 1880 formuliert: »Der Begriff der Nationalliteratur duldet gleichwohl keinen engherzigen Schutzzoll; im geistigen Leben sind wir freihändlerisch.«15 Eine Paraphrase könnte hier lauten: ›Wir wollen eine Germanistik, die auch internationale Einflüsse zur Kenntnis nimmt‹. Wie immer man diese Aussage übersetzt, man muss dafür schon einlässlicher auf den Ursprungsdiskurs der metaphorischen Begriffe rekurrieren, eben auf die zeitgenössische ökonomische Debatte um Schutzzölle (Protektionismus) und Freihandel (Liberalismus). Erst hier stecken dann signifi kante Momente diskursiven ›Austauschs‹, wird die Ökonomie als Referenzrahmen der literarischen Äußerung überhaupt kenntlich. 1.1.1.

Mehr als eine Metapher – Literatur als Luxus bei Robert Prutz

Die Ausgangssituation eines solchen Austauschs zwischen ökonomischem und literarisch-realistischem Diskurs hatte der Literat und Literaturhistoriker Robert Prutz bereits 1859 in seinem Abriss der jüngeren Literaturgeschichte markiert.16 Prutz, der in seinem Schaffen eine Brücke zwischen Vormärz- und realistischer Nachmärzliteratur schlägt, spricht darin gezielt die defensive Positionierung der nachrevolutionären Kunst an. Die demokratischen Hoffnungen der Epoche vor 1848 hätten sich zerschlagen, die künstlerische Mitgestaltung der Politik sei ausgeblieben und die Literatur zum »Prügeljungen« geworden, »für alles, was die Nation verschuldet« hat.17 Nunmehr regiere in Kunst und Kunstkritik ein antiidealistisches Selbstverständnis, das

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deutsche Literatur der Gegenwart [1847]. In: Robert Prutz, Zur Theorie und Geschichte der Literatur, hg. von Ingrid Pepperle, Berlin 1981, S. 239–362, hier: S. 353. Rudolf Gottschall: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit [1858], 2 Bde., 6. Aufl., Breslau 1893, hier: Bd. 2, S. 196. Erich Schmidt: Wege und Ziele der Literaturgeschichte. Eine Antrittsvorlesung. In: Erich Schmidt, Charakteristiken, Bd. 1, Berlin 1886, S. 480–498, hier: S. 493. Den Zusammenhang zwischen Prutz’ Kunstmarktreflexion und der realidealistischen Programmatik des Nachmärz hat bereits Silvia Serena Tschopp aufgezeigt: Silvia Serena Tschopp: Kunst und Volk. Robert Eduard Prutz’ und Gottfried Kellers Konzept einer zugleich ästhetischen und populären Kunst. In: JbdRG, 2001, S. 130–146. Robert Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart [1859, Auszug aus »Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848–1858«]. In: Robert Prutz, Schriften zur Literatur und Politik, hg. von Bernd Hüppauf, Tübingen 1973, S. 47–64, hier: S. 55.

Prutz gezielt karikiert. Mit der geborgten Stimme realistischer Programmatiker (vom Schlage der Grenzboten-Autoren wie Julian Schmidt) spricht er: Auch haben wir jetzt in der Tat anderes und dringenderes zu tun als Bücher zu lesen und Verse mitanzuhören. Wir müssen Geschichte studieren und Nationalökonomie, um uns für die praktischen Fragen vorzubereiten, die das Schicksal über lang oder kurz noch einmal an uns stellen wird. Wir müssen Aktienvereine gründen und Fabriken anlegen und Dampfmaschinen bauen, um unsere Industrie auf die Beine zu bringen und dem nationalen Wohlstand aufzuhelfen: denn nur reiche Völker – wobei man nach England schielt – verstehen frei zu sein, und bevor wir nicht, gleich England, über eine wohlhabende Gentry zu gebieten haben, die im Parlament sitzen kann auch ohne Diäten, eher werden alle Konstitutionen und alle Parlamente der Welt nichts nützen.18

Wo die Kunst mit ihren hehren Bildungsansprüchen realpolitisch gescheitert ist, schlage die Kunstkritik ins Gegenteil um. Das Pathos der industriellen Vervollkommnung regiere und lasse keinen Raum für Literatenträume. Die »Stimmführer der neuen – wie sie sich selbst nannte – realistischen Richtung«19, die Prutz hier als namenlose Attrappen auftreten lässt, begegneten dem in der Vormärzepoche ›volksfremd‹ gewordenen, abgehobenen Literatentum mit Verabschiedungsgesten: »Also noch einmal: hinweg mit der Literatur! Hinweg mit den Poeten, den volksverderberischen!«20 Von nun an obliege es dem Regime der Wirtschaft, den nationalen Wohlstand zu befördern.21 Mehrung von Reichtum trete an die Stelle politischer Bildung. Prutz, der selbst das ›Volksferne‹ und Unpopuläre der deutschen Literatur in seinen Texten immer wieder kritisiert, bricht die ironischen Spitzen dieser Diagnose des literaturkritischen Status quo nach 1848 alsbald ab, ohne allerdings eine andere Position entgegensetzen zu können. Tatsächlich ist die Gegenwartsliteratur um die Jahrhundertmitte unter Legitimationsdruck geraten. Nicht ihre Existenz, wohl aber ihre Relevanz für die Belange des ›tätigen Lebens‹ steht infrage. Wenn ökonomische und politische Umstrukturierungen letztlich ohne die Steuerungsbemühungen der Literatur ablaufen – wie die Ereignisse um 1848 in Prutz’ Sicht lehrten22 –, dann muss 18 19 20 21

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Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, S. 57. Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, S. 58. Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, S. 57. Vgl. zu den Hintergründen und überhaupt als guten neueren Überblick über die wirtschaft liche Ausrichtung des Nationalliberalismus nach 1848 (mit Bezug auf die hier behandelte deutsche Nationalökonomie) Karolina Brock: Kunst der Ökonomie. Die Beobachtung der Wirtschaft in G. Kellers Roman »Der grüne Heinrich«, Frankfurt a.M. et al. 2008, S. 25–47. Hier liegt ein Krisennarrativ zugrunde, das aus der ideologiekritischen Literaturwissenschaft bekannt ist: Das nationalliberale und nationalpädagogische Engagement der Literatur und ihrer Geschichtsschreibung vor 1848 schlagen nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution in eine resignative Stimmung um, die sich in jenem ›hinweg mit der Literatur überhaupt‹ ausdrückt. Vgl. mit Bezug auf Prutz Bernd Hüppauf: Einleitung. Über die Anfänge der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: Bernd Hüppauf (Hg.), Literaturgeschichte zwichen Revolution und Reaktion. Aus den Anfängen der Germanistik 1830–1870, Frankfurt a.M. 1972, S. 1–55.

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sich die Literatur programmatisch neu positionieren. Anstatt nationalpädagogische Avantgarde zu sein, heißt es jetzt, Anschluss zu finden an jene Bereiche, von denen die wirtschaftlichen und kulturellen Reformen eigentlich ausgehen. So mündet Prutz’ kritische Bestandsaufnahme in eine zurückhaltend ironische Empfehlung an die Programmatiker des Realismus: Der literarisch Interessierte studiere denn also Geschichte und Nationalökonomie und Statistik, er sei ein regelmäßiger Zuhörer auf den Tribünen unserer Kammern und stähle seine Geduld, indem er das hundertmal Vernommene zum hundert und erstenmale wieder hört; er sehe auch dem Bauern zu, wie er seinen Dünger fährt, und dem Schuster, wie er Pechdraht zieht; ja er lade, wenn dies so zu seinem ästhetischen Katechismus gehört, auch unsere angehenden Dichter ein, ihm dabei Gesellschaft zu leisten und sich ebenfalls in den Realismus der Düngerbereitung zu vertiefen. – //Aber nur das Dichten selbst verbiete er nicht!23

›Aber nur das Dichten selbst verbiete er nicht‹: Das ist bei aller Ironie eine defensive Positionierung der Literatur, die davon zeugt, dass in der Epoche des Realismus die Kunst gegenüber Ökonomie nachrangig wird.24 Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus lässt sich festlegen, welche kulturellen Praktiken unter welchen Bedingungen – eben als Teilhabe am ökonomischen Gefüge – relevant sind. Diese nachrangige Stellung der Literatur ergibt sich hier auf zweifache Weise: Zum einen liegt, wie die Passage bei Prutz deutlich macht, ein relativ direkter Mimesis-Anspruch zugrunde: Der Bauer fährt immer schon seinen Dung, ehe der Dichter hinzutritt; etwas muss zuvor passiert sein, damit die Literatur ihre Gegenstände ›findet‹.25 Zum anderen bekommt es die Literatur in ihrer Hinwendung zum ›tätigen Leben‹ mit konkurrierenden Diskursen zu tun: Man kann eben auch ›Nationalökonomie und Statistik studieren‹. Und diese Diskurse produzieren eine eigene Logik, die ihrerseits die Selbstbeschreibung von Kunst verändert. Ersichtlich wird das schon in Prutz’ eigenem Werk. In seinem Aufsatz Über die Unterhaltungsliteratur (1845) diskutiert er den Nutzen belletristischer Werke: Die Nutzbarkeit ist ein recht schönes Ding: nur sie darf nicht der einzige Gott des Lebens werden wollen, man darf den Luxus der Dichtung, die Gaukelbilder der Kunst nicht ganz verbannen, auch nicht aus dem ärmsten Dasein und nicht in ihrer ärmsten Gestalt: wie ja auch die Erde nicht überall Kartoffeln trägt und wie auch der magerste Acker noch sein Blümchen hat, und wär’ es ein weißblühendes Unkraut.26

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Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, S. 62. Vgl. zu den Anschlussbemühungen der Literatur ebenso wie zur Konzeptualisierung der Kunst durch die Ökonomie Brock: Kunst der Ökonomie, S. 57–81. Entsprechend ist denn auch der Literat im Realismus als ›Finder‹ konzipiert, nicht als ›Erfi nder‹, wie es prominent ausgeführt ist bei Friedrich Spielhagen: Finder oder Erfi nder? [1871] In: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [1883], Faksimiledruck nach der 1. Aufl., Göttingen 1967, S. 1–34. Robert Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen [1845]. In: Robert Prutz, Schriften zur Literatur und Politik, hg. von Bernd Hüppauf, Tübingen 1973, S. 10–33, hier: S. 32.

Unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit erscheint die Literatur als ›Luxus‹, und das zieht sofort defensive Formulierungen nach sich: ›Nicht ganz‹ sollen die ästhetischen ›Gaukelbilder‹ ›verbannt‹ werden. Wieso dieser Duktus? Weil ›Luxus‹ eigentlich eine Klasse von Gütern meint, die als entbehrlich angesehen werden können.27 Nach dem führenden Lehrbuchökonomen der Zeit, Wilhelm Roscher, der in dieser Arbeit noch ausgiebig vorgestellt wird28, tauchen Luxusbedürfnisse auf, nachdem Naturbedürfnisse und sozialrelevante Anstandsbedürfnisse gedeckt sind.29 ›Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‹ (Brecht). Und ganz am Schluss kommt, wenigstens in dieser Hierarchie, die Ästhetik. Prutz’ Abgleich am Kriterium der ›Nützlichkeit‹ fällt zusammen mit der Einordnung der Literatur in Warenkategorien. Und diese erfasst zeitgenössisch nicht nur die Unterhaltungsliteratur. In einer Reflexion über die Absatzschwächen im deutschen Buchhandel bezieht sich z.B. der führende Literaturtheoretiker Julian Schmidt auf die Nationalliteratur im Allgemeinen: »Sobald ein Amerikaner zu einigem Wohlstand gekommen ist, verlangt die Sitte gebieterisch, daß er sich eine Bibliothek anschafft«; bei den Deutschen hingegen gehöre der Besitz einer Bibliothek »noch nicht zu den nothwendigen Luxusartikeln«.30 Die Wendung ›notwendige Luxusartikel‹ – an sich ein Oxymoron – signalisiert, dass es auch innerhalb der Güterklassen eine Durchstufung gibt. Gemäß den jeweiligen kulturellen und sozialen Sitten werden Güter relativ gewichtet: Champagner, die Delikatessen der Jahreszeit oder eben die Aufstockung der häuslichen Bibliothek stehen etwa zur Abwägung. Das ist das Konkurrenzverhältnis, dem sich Literatur als ›Luxusgut‹ ausgesetzt sieht, wenn sie in Begriffen ökonomischer Nützlichkeit repräsentiert wird. Selbstbeschreibungen der Art ›Bücher sind notwendiger Luxus‹ manifestieren die Relation der Nachrangigkeit, mit der sich die realistische Problemstellung gegen das Denken der Romantik abhebt. Bei Autoren wie Novalis oder Adam Müller werden Kunst und Ökonomie noch als wesentlich homolog konzipiert. Sie erscheinen

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Wilhelm Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 224, S. 614. Wilhelm Roscher (1817–1894) habilitierte sich 1840 für Geschichte und Staatswissenschaften und erhielt 1844 seinen ersten Ruf nach Göttingen. Von 1848 bis zu seinem Lebensende hatte er in Leipzig einen Lehrstuhl für Nationalökonomie inne. Roscher ist der Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie, die er selbst auch als ›realistische‹ Schule bezeichnet. Gemeinsam mit dem Kopf der ›Jüngeren Historischen Schule‹, Gustav Schmoller, gilt er als einflussreichster deutscher Ökonom in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Roschers Hauptwerk ist das fünfbändige System der Volkswirthschaft, dessen erster Band Die Grundlagen der Nationalökonomie bis zu seinem Lebensende 21 Auflagen erfährt. Nicht minder bedeutsam ist seine Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland (1874), die bis ins 20. Jahrhundert hinein die kanonische Dogmengeschichte des Faches blieb. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 1. Julian Schmidt: Notizen. Für den Büchertisch. In: Preußische Jahrbücher, Bd. 38 (1876), S. 564–568, hier: S. 564.

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gleichursprünglich als verschiedene Erscheinungen einer Geistesbewegung.31 Erst mit der fortschreitenden Autonomwerdung der Diskurse nach 1800 setzt die wirtschaftstheoretische Definitionshoheit ein, also eine, wie Joseph Vogl formuliert, »Bewegung, in der sich die Begrenzung einer Wissenschaft mit der Universalisierung ihrer Kategorien verknüpft«.32 Diese Universalisierung, das Übergreifen ökonomischer Denkschemata, lässt sich textlich in metaphorischen Transfers beobachten. Wenn sie nicht ephemer auftreten, dann wird mit Metaphern immer auch ein Koordinatensystem eingeführt. Eine Tropus wie ›Bücher sind notwendiger Luxus‹ rekurriert eben nicht nur punktuell auf ein durchschnittliches Begriffscluster (Luxus = ›Verschwendung‹, ›Prunk‹), sondern bereits auf komplexere Vorstellungen von gestuften Güterklassen und Wertungsnormen, nach denen relative Nützlichkeit und Bedarfsdeckung bestimmt werden. Solche Metaphern sind also nicht bloß Ad-hoc-Erscheinungen, sondern wirken strukturierend im Rückgriff auf den ökonomischen Diskurs. An Robert Prutz’ bereits angesprochenem Aufsatz Über die Unterhaltungsliteratur wird dieser weitergehende Rekurs erkennbar. Der Text widmet sich einlässlich den sozialhistorischen Bedingungen der leichten Belletristik und darf darin als frühes Zeugnis einer Trivialliteraturforschung avant la lettre gelten. Was genau ›unterhaltsam‹ ist, wird nicht definiert. Prutz führt einzelne Autorennamen an, verlegt sich ansonsten auf Synonymbildungen (›spannend‹, ›kurzweilig‹, ›amüsant‹, ›ergötzlich‹) und deutet an textstrukturellen Überlegungen lediglich an, dass zeitgenössische Stoffe mit Intrigen und wechselvollen Plots unterhaltend wirken.33 Einschlägiger ist seine pragmatische Bestimmung: Unterhaltungsliteratur ist eine Literatur des schnellen Tempos, insofern sie keine umfangreichen Lektürevoraussetzungen macht. Als ›kompakte Speise‹ geht sie ganz im Moment einer ephemeren, rein konsumtiven Lektüre auf und verlangt weder Vor- noch Nachbereitung.34 Und damit ist sie sowohl für die arbeitende Bevölkerung, die wenig Freizeit hat, geeignet als auch für die aristokratische Schicht, die nach zügig wechselnden Genüssen – nach Moden – verlangt. Im Einzelnen differenziert Prutz ihre ständespezifischen Funktionen: Idealisierung für den Proletarier, Entspannung für den Mittelständler (den Kaufmann, Gewerbetreibenden oder Beamten), Neuheit und Reizsteigerung für die Aristokratie. Aber der geringe Zeit- und Aufwandsfaktor bleibt das grundlegende Kriterium. In ihrer Effi-

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Vgl. Birger P. Priddat: Poetische Weltfamilie/Schöne Haushaltung des Universums. Novalis’ Ökonomie aus seinen Fragmenten. In: Birger P. Priddat, Produktive Kraft , sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 79–110; vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen [2002], 2. Aufl., Zürich, Berlin 2004, S. 255–288. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 347. Das Publikum will »Stoff, Abenteuer, Verwicklungen, es will Umgebungen, die ihm bekannt sind, es will Situationen, die es versteht, es will Personen, für die es sich interessieren kann; es will Abwechselung, Farbenglanz, Fülle und Lebendigkeit.« Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 28. Vgl. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 12f.

zienz hebt sich die Unterhaltungsliteratur gegen »das Höchste der Kunst, das wahrhaft Klassische« ab, das dem Leser abverlange, »Monate und Jahre nur mit einem Autor, einem Buche zu verkehren«.35 Mit diesen Beschreibungen rückt Prutz die Unterhaltungsliteratur in die Reichweite einer ökonomischen Literaturbetrachtung: Es geht um die Haushaltung mit Zeit und Arbeitskraft (hier als Lektüreanstrengung), es geht um Absatz und Erfolg beim Publikum und damit, allgemein gesprochen, um den Produktcharakter der Literatur. Allein die Ausarbeitung zu einer Theorie des literarischen Marktes fehlt. Denn Prutz behandelt die Unterhaltungsliteratur weniger um ihrer selbst Willen denn als Medium für eine Kritik des hochkulturellen Schrifttums: der deutschen ›Literatur‹. Diese E-Literatur erweist sich in seinen Augen als das genaue Gegenteil einer ›marktgängigen‹ Kunst: Sie finde kaum Verbreitung, sei aus der literarischen Kritik entstanden und letztlich eine Literatur »von Literaten für Literaten« geblieben.36 In dieser Selbstreferenzialität entferne sie sich auch von der traditionellen hochkulturellen Aufgabe, »den geistigen Grundbesitz eines Volkes, die Documente seiner inneren Geschichte«, zu bilden.37 Entsprechend stehe in Deutschland die tradierbare, ›bleibende‹ Kunst in großer Distanz zur Gebrauchsliteratur, die ›für den Moment‹ geschrieben sei, so diagnostiziert Prutz. Diese Konstellation aber birgt ein Problem: Denn eine Elitekultur, die den ›Grundbesitz eines Volkes‹ weiten Teilen ebendieses Volkes vorenthält, gerät in einen inneren Widerspruch. Folgerichtig mündet Prutz’ Kritik in ein Plädoyer für eine Literatur mit unterhaltender Tendenz. Dieses Plädoyer ist sowohl politisch wie ökonomisch konnotiert. Politisch zielt das literaturkritische Projekt auf eine umfassende Demokratisierung und stößt darin auf zeitgeschichtliche Widerstände. Weil Deutschland um 1850 keine stabile bürgerliche Öffentlichkeit und keine parlamentarische Vermittlung des Staatslebens besitzt, weil es ihm »an einem praktischen Vereinigungspunkte gebricht, auf welchem Gelehrte und Laien, Gebildete und Ungebildete in gemeinsamem Interesse zusammenkommen«38, deshalb fehlten den Literaten die populären, aber nicht trivialen Stoffe und Darstellungsweisen, deshalb sei die deutsche Literatur teils epigonal, teils bloß unterhaltend, teils abgehoben. Prutz’ Vermittlungsversuch zwischen unterhaltenden und bildenden Literaturen aber findet genau an diesem einstweilen virtuellen Vereinigungspunkt statt; auch er handelt auf dem von ihm visionär antizipierten »Marktplatz«, auf dem »Bildung und Leben, Theorie und Praxis, Literatur und Wirklichkeit ihre Schätze gegeneinander umtauschen«. 39

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Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 13. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 22. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 10. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 23. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 23.

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Tatsächlich breitet sich die hier angesprochene Marktaktivität zeitgenössisch auch unabhängig von der Parlamentsdemokratie und überhaupt der Demokratisierung der Öffentlichkeit, wie sie Prutz mit Blick auf England und Frankreich anvisiert, aus. Unter ihrem Eindruck konzipiert der Literaturkritiker jene Denkfigur des ›Austauschs‹, die, wie oben gesagt, gute 150 Jahre später zu Zeiten des Hochkapitalismus im New Historicism als ›exchange‹ prominent wird. In der Marktgesellschaft restrukturiert sich die Literatur als Produkt, das nunmehr auf breite Distribution abzielt. Die eigentlich literarturwissenschaftliche Fragestellung liegt dabei in der semiotischen Anschlussfähigkeit des Produkts (die zeitgenössische Ökonomie würde hier von ihrem ›Gebrauchswert‹ sprechen). Entsprechend wird die Popularität, von der Prutz ausgeht, im New Historicism weniger als Positivismus der Absatzzahlen angeschaut (das ist der Weg der Buchmarktforschung), sondern als inhaltliche Frage im Konzept der ›sozialen Energie‹ aufgeworfen.40 Greenblatts schillernder Begriff der ›sozialen Energie‹ soll genau die vielfältigen diskursiven Verstrickungen des künstlerischen Artefakts erfassen, die eine umfangreiche Rezeption durch diverse gesellschaftliche Interessengruppen erlauben.41 Das aber ist Zukunftsmusik, die aus Robert Prutz’ visionärem Aufsatz erklingt, wenn er die Literatur an den ›Marktplatz‹ verweist. Deutlicher noch als in dieser Metapher lässt sich der ökonomische Hintergrund des Popularisierungsprojekts von Prutz in seiner achten Vorlesung über die deutsche Literatur der Gegenwart erkennen. Dort diskutiert er am Beispiel der Hallischen Jahrbücher das Verschwinden der großen Einzelkünstler angesichts der modernen Tendenz zu Schriftstellerkooperationen und literarischer Lagerbildung: [S]o wenig viele versammelte Lichter eine Sonne ergeben, so wenig geben viele ungeordnete und mittelmäßige Talente ein Genie. Aber wenn es nun fürs Erste auf diesen Glanz überhaupt nicht mehr ankäme? Aber wenn der demokratische Genius unseres Zeitalters nun auch hierin sich bewähren sollte, daß das Capital des Geistes, statt wie bisher bei wenig einzelnen Besitzern zusammengehäuft zu sein, fortan zu bequemem Umlauf gleichmäßig unter Alle vertheilt wird? – Nicht das Land ist reich, wo es wenig einzelne Familien von außerordentlichem Reichthum giebt: sondern wo, in gleichmäßigem Wohlstand, ein Jeder besitzt, wessen er bedarf.42

Das geistige Erzeugnis als ›Capital‹ steht hier nicht in einer privatökonomischen Argumentation. Es geht nicht um Fragen des Urheberrechts, das von 1837 an im

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Vgl. Stephen Greenblatt: Die Zirkulation sozialer Energie. In: Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, übers. von Robin Cackett, Frankfurt a.M. 1993, S. 7–33. Auf die semiotischen Grundlagen dieses Konzepts der ›sozialen Energie‹ ist meines Wissens erstmals hingewiesen worden bei Wolfgang Behschnitt: Die Macht des Kunstwerks und das Gespräch mit den Toten. Über Stephen Greenblatts Konzept der »Social Energy«. In: Jürg Glauser/Annegret Heitmann (Hg.), Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft , Würzburg 1999, S. 157–169. Prutz: Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart, S. 353.

Deutschen Bund durchgesetzt wird, oder um Vermarktungsstrategien von Autoren, obwohl auch in solchen Redezusammenhängen das geistige Eigentum mit dem Kapitalbegriff zusammengebracht wird.43 Von einem monetären Gegenwert, der durch Veräußerung des geistigen Besitzes erzielt wird, ist keine Rede. Prutz verfolgt vielmehr einen nationalökonomischen Gedanken: Eine weitläufige Zirkulation von Gütern ist besser als das elitäre Horten von Besitz, und zwar gemäß einem harmonischen Modell von gleichmäßigem Wohlstand, in dem ›ein Jeder besitzt, wessen er bedarf‹. Prutz bedient sich hier eines Verteilungsgedankens, der in der zeitgenössischen Ökonomie gepflegt wird. So gibt Wilhelm Roscher in seinem Lehrbuch die gleichmäßige Verteilung des nationalen Einkommens als volkswirtschaft liches Ziel aus: Eine »Harmonie der großen, mittleren und kleinen Einkommen« kennzeichne die ›gesunde‹ Volkswirtschaft, wobei die mittleren Einkommen zahlenmäßig den breitesten Anteil ausmachen würden.44 Wie Roscher beispielreich belegt, brechen Volkswirtschaften genau dann auseinander, wenn diese Mitte schrumpft und sich zwischen den oberen und unteren Schichten eine weite Schere auftut. Die Synthese zwischen unterhaltenden und hochkulturellen Momenten in der Literatur, die Robert Prutz anmahnt, zielt im Analogieschluss genau auf diese Mitte der bürgerlichen Gesellschaft und also auf ein kulturelles Verteilungsmodell, in dem Bildungsgüter weithin zugängig sind – für die unteren Schichten nicht zu hoch, für die oberen nicht zu flach, für die Mittelschicht genau passend. In solchen Beispielen deutet sich an, dass zwischen dem ökonomischen Diskurs und dem Feld der Literatur um 1850 mehr passiert als nur ein punktueller metaphorischer Austausch. Die Aneignung ist nicht bloß ornamental; sie beschränkt sich nicht auf ein rhetorisches Spiel mit zeitgenössisch beliebtem Fremdvokabular (Markt, Kapital, Tausch). Vielmehr werden in diesen Fällen ökonomische Denkfiguren für die Konzeptualisierung von Literatur aufgerufen. Es findet also das statt, was die holländische Kulturwissenschaft lerin Mieke Bal unter dem Begriff der ›travelling concepts‹ beschrieben hat.45 ›Travelling concepts‹ sind metaphorische Transfers, die über eine marginale Beziehung hinausgehen. Der Rahmen des metaphorischen Ausdrucks (das Bedeutungsgefüge seines Originalzusammenhangs) wird hier nicht

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Diesen Fragen zur Stellung der realistischen Autoren am Markt geht die Buchmarktforschung nach, insbesondere Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880, Tübingen 1982; Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830–1870, München 1985; aus marxistischer Sicht: Lutz Winkler: Entstehung und Funktion des literarischen Marktes. In: Lutz Winkler, Kulturwarenproduktion. Aufsätze zur Literatur- und Sprachsoziologie, Frankfurt a.M.1973, S.  12–75. Für einen konzisen Überblick über die Phase nach 1850 siehe auch Eva D. Becker: Literaturverbreitung. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, hg. von Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München, Wien 1996, S. 108–143 u. S. 747–750. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 205, S. 570. Vgl. Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002.

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einfach nur durchlaufen, um das Vergleichsmoment – das Tertium Comparationis – zwischen Tenor und Vehikel abzurufen und dann zu verschwinden. Vielmehr bleibt der Frame erhalten und dient als Orientierungsraster für den Text, in dem die Metapher auftritt. Damit handelt es sich um mehr als eine Ad-hoc-Metapher. Es entsteht eine komplexe ›Vorstellung‹ mit dazugehörigem Begriffscluster, in der das metaphorisch fokussierte Feld – in den hier diskutierten Fällen: der Literaturbegriff – neu ausgerichtet wird.46 Der Begriff der ›travelling concepts‹ beschreibt damit eine Form der Aneignung, die mehr leistet als eine spontane, ephemere Attribuierung, aber weniger als eine systematische Ausarbeitung von Konzepten. Genau dies ist der Fall in den Schriften von Robert Prutz. Prutz’ Redeweise legt ein Grundverständnis des Warencharakters von Literatur an, ohne damit schon eine umfangreiche literarökonomische Theorie zu formulieren. Die Wirkungsweisen des Buchmarktes und überhaupt die privatwirtschaftlichen Interessen des literarischen Produzenten interessieren ihn nicht. Der Fokus richtet sich auf das gesellschaftliche Ganze, auf den Wohlstand und Bildungsreichtum der Nation. Wenn die Rede dann auf den individuellen Nutzen kommt, wechselt die Perspektive von Absatz- und Verteilungsfragen hinüber zum allgemeinen Gebrauchswert. Seinen Aufsatz Über die Unterhaltungsliteratur der Deutschen schließt Prutz erhellend mit einem Vergleich zwischen Unterhaltungslektüren und Sachbuchliteratur: Wir wollen nicht behaupten, daß der Soldat in der Wachtstube, der mit stieren Augen und glühendem Kopfe sich in die Wunder des Rinaldo Rinaldini vertieft , dadurch eben einen großen Zuwachs seiner Bildung gewönne; wir wollen sogar zugeben, daß es ihm vermutlich viel zuträglicher wäre, wenn er statt dessen das Exerzierreglement oder die »kurze Anweisung, ohne Geld ein reicher Mann zu werden, durch lauter einfache und bewährte ökonomische Mittel« zu seiner Lektüre wählte. Aber du lieber Himmel, immer Exerzierreglement?!47

Der Gebrauchswert von Lektüren beweist sich, so sieht man, in ihrer Rückwirkung auf das praktische Leben. Ökonomische Texte sind für die Praxis ebenso ›zuträglich‹ wie Militärhandbücher: Man wird durch sie im besten Falle reich, oder ein Leutnant. Aber belletristische Literatur? Sie wird gelesen, nun gut. Aber verrichten der Proletarier und der Kaufmann nach einem verklärenden oder entspannenden Buch anderntags bessere Arbeit? Eher scheint hier diejenige Literatur, die den höchsten Absatz findet (Rinaldo Rinaldini), den geringsten Bildungszuwachs zu garantieren. Ökonomischer Tauschwert und intellektueller Gebrauchswert stehen im Widerspruch. Prutz geht diesem Wertparadoxon nicht nach. In Ermangelung einer weiteren Aufklärung über die pragmatischen Dimensionen von Lektüren schließt sein Vergleich

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In kognitionspsychologischer Sicht haben Lakoff/Johnson diese strukturbildenden und mithin erkenntnisfundierenden Metaphern als ›structural metaphors‹ defi niert: Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980, S. 3–14. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, S. 32.

mit einer suggestiven Aposiopese: Immer nur Exerzierregeln und Wirtschaftstexte durchwühlen? Das kann man nicht wollen! Vor dem Richterstuhl der Nützlichkeit hat die Literatur einstweilen keine bessere Antwort, als dass sie ein angenehmer Luxus ist, während sich alles andere Schrifttum potenziell zwar instruktiver und lehrreicher, aber auf Dauer eben auch fader ausnimmt. 1.1.2.

Wilhelm Scherer und der ökonomische Zusammenhang der Poesie

Das Interesse am diskursiven ›Austausch‹ zwischen Ökonomie und Literaturkritik hat mit Robert Prutz’ Ausführungen zu einer populären Literatur das Feld bloß punktueller Metaphorik verlassen und den Bereich konzeptioneller Adaptionen ökonomischer Theoreme aufgeschlossen. Das wohl eindrucksvollste Zeugnis einer Aneignung auf derartigem Komplexitätsniveau hat in der realistischen Epoche nach 1850 der renommierte Sprach- und Literaturhistoriker, Mitbegründer der neueren Literaturwissenschaft und Feuilletonist Wilhelm Scherer vorgelegt, in seiner 1888 posthum erschienen Poetik. Bereits die zeitgenössische Kritik urteilte über das von Scherers Schüler Richard M. Meyer auf Grundlage von Kollegmitschriften aus dem Sommer 1885 herausgegebene Werk, es sei »vom national-ökonomischen Gesichtspunkt aus gemacht« und erweise sich darin als »Signatura temporis«.48 Die ersten Notizen zur Poetik stammen von 1875, aus der Zeit, als Scherer an der Universität Straßburg lehrte, die nach dem Sieg Preußens über Frankreich mit zahlreichen aufstrebenden Wissenschaftlern als Elitehochburg des neuen Reiches eingerichtet wurde. Scherer pflegte in den Jahren im Elsaß 1872 bis 1875 intensiven Umgang mit dem kommenden deutschen Nationalökonomen Gustav Schmoller49, der

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H(eymann) Steinthal: Wilhelm Scherer, Poetik [Rezension]. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 19 (1889), S. 87–97, hier: S. 88 u. S. 97. Gustav Schmoller (1838–1917) studierte Kameralwissenschaft in Tübingen, ehe er 1864 seine erste Professur für Staatswissenschaften in Halle/Saale übernahm. 1872 folgte er einem Ruf nach Straßburg. Ab 1882 lehrte Schmoller Nationalökonomie in Berlin. Er war einer der Mitgründer des einflussreichen Vereins für Socialpolitik (1872), was ihm den Ruf eines ›Kathedersozialisten‹ einbrachte. In den 1880er Jahren führte er mit Carl Menger den ›Methodenstreit‹ über die künftige Ausrichtung der Ökonomie (Schmoller stand für eine historische, empirisch-statistische Arbeitsweise in der Tradition der deutschen Historischen Schule, Menger für die abstrakte, modellorientierte Methode). Im späteren ›Werturteilsstreit‹ wurde Schmoller von Max Weber für seine Politisierung der Wissenschaft attackiert. Schmoller trat mit zahlreichen Untersuchungen zur Zunftund Gewerbegeschichte ebenso wie mit aktuellpolitischen Aufsätzen zur ›sozialen Frage‹ an die Öffentlichkeit. Die Essenz seiner wissenschaft lichen Anschauungen liegt im Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1900, Zweiter Teil 1904) vor. Einen detaillierten Überblick über Biographie und Werk gibt Nicholas W. Balabkins: Not by Theory alone  … The Economics of Gustav von Schmoller and Its Legacy to America, Berlin 1988. Zur öffentlichen Wirkung des Schmoller’schen Schaffens siehe auch Max Webers Einschätzung in Rüdiger vom Bruch: Nationalökonomie zwischen Wissenschaft und öffentlicher Meinung im Spiegel Gustav Schmollers. In: Rüdiger vom Bruch, Ge-

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seinerseits die Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie von Wilhelm Roscher fortsetzte.50 In Scherers erstem Entwurf zur Poetik heißt es: »Poesie ist ein Thun. Mithin ein Wollen, das auf einen Zweck gerichtet. Werth desselben; nationalökonomische Begriffe, die darauf anwendbar (aus der allgemeinen Productionslehre); z.B. die Honorare behandeln.«51 Mit der hier anvisierten nationalökonomischen Produktionslehre hatte sich Scherer bereits früh bekannt gemacht. Schon 1866 war er in einer Fachrezension für die methodologischen Grundlagen der Historischen Schule nach Roscher eingetreten und hatte dessen ökonomische Schriften dabei ausgiebig ins Spiel gebracht.52 Die mediävistischen Studien desselben Jahres kommen den darin angelegten wirtschaftshistorischen Ansprüchen bereits nach, wenn Scherer etwa in Leben Willirams. Abtes von Ebersberg in Baiern (1866) ausgiebig das Kloster als »Mittelpunct einer ansehnlichen Ökonomie«53 schildert und dabei kurzerhand die religiöse Wertbildung unter die Logik des Tauschhandels stellt: Das Prinicip, auf welches die Verbesserung der materiellen Lage von Klöstern und Stiftern gestellt war, bestand in der Umsetzung des Gebrauchswertes der idealen Güter, welche die Kirche spendet, in den greifbaren Tauschwert reeller Sachgüter. Die Kirche stellt gleichsam einen Wechsel auf die ewige Seligkeit aus und bringt ihn je nach den veränderlichen Umständen des geistigen Marktes zu höheren oder niedrigeren Preisen an den Mann.54

In selber Weise macht er »das Gesetz von Angebot und Nachfrage« als Rahmenbedingung der individuellen Bewusstseinsbildung in der Schrift Pater Abraham a Sancta (1866) geltend.55 Programmatisch formuliert Scherer dann zwei Jahre später im Vorwort seiner wirkungsmächtigen Geschichte der deutschen Sprache (1868):

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lehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20.  Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister/Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 311–331, hier: S. 316 f. Schmollers einschlägige und später noch ausführlich zu diskutierende Rektoratsrede von 1874 erscheint in Scherers Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker (Bd.  6). Die Beziehung der beiden nennt Scherers Schüler Edward Schröder anlässlich der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer ein ›Freundschaftsverhältnis‹. Vgl. Edward Schröder: Zur Einführung. In: Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. von Albert Leitzmann, Berlin, Leipzig 1937, S. VII–XX, hier: S. XII. Wilhelm Scherer: Poetik, hg. von Richard M. Meyer, Berlin 1888, S. 279. Vgl. Wilhelm Scherer: Geschichte und Geschichtsschreibung unserer Zeit [1866]. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 213–221. Mit Karl Knies beruft sich Scherer in dieser Kritik auch auf einen zweiten namhaften Nationalökonomen der Historischen Schule. Wilhelm Scherer: Leben Willirams. Abtes von Ebersberg in Baiern. Beitrag zur Geschichte des XI. Jahrhunderts, Wien 1866, S. 280. Scherer: Leben Willirams, S. 276. Wilhelm Scherer: Pater Abraham a Sancta Clara [1866]. In: Wilhelm Scherer, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 147–192, hier: S. 189.

Goethe’s Selbstbiographie als Causalerklärung der Genialität einerseits, die politische Oekonomie als Volkswirthschaftslehre nach historisch-physiologischer Methode andererseits zeichnen die Richtung vor, die wir für den ganzen Umfang der Weltgeschichte einzuhalten streben.56

Die ›Volkswirtschaftslehre nach historisch-physiologischer Methode‹ meint dabei genau die selbst ernannt ›realistische‹ Richtung der Nationalökonomie, die von Wilhelm Roscher bis hin zu Gustav Schmoller die deutsche Wirtschaftstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert und deren Zusammenhänge mit dem literarischen Diskurs in der vorliegenden Arbeit beschrieben werden sollen. Aus diesem bereits früh angelegten Bemühen um eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Perspektive in der Literaturwissenschaft heraus wird verständlich, weshalb Scherers Schüler die nachgelassene Poetik bei ihrer Veröffentlichung als Kulminationspunkt seines Schaffens begrüßten, als »das kühnste Werk, welches Scherer geschrieben, zugleich dasjenige, in welchem allein er sich völlig unbefangen gab und welches daher seine Individualität am besten zum Ausdruck bringt«.57 Trotz ihrer vielfach betonten Originalität, die gerade auch aus dem Gebrauch ökonomischer Theoreme rührt, wird die Poetik in den Rezensionen als konsequentes Ergebnis der empirisch-naturwissenschaft lichen Grundausrichtung Scherers aufgefasst: »[E]s ist keine bloße Koketterie mit modernen Kunstausdrücken, wenn Sch. der allgemeinen Productionslehre wichtige Begriffe entlehnt. Sch. verfährt inductiv, analytisch; er sammelt und classificiert die concreten Erscheinungen«, betont etwa Konrad Burdach.58 Ausdrücklich formuliert Scherer seine Poetik gegen die Tradition der idealistischspekulativen Ästhetiken Hegels oder Vischers. Während im Idealismus poetische Erscheinungen aus metaphysischen Erkenntnissen über das ›Wesen des Schönen‹ systematisch deduziert würden, sucht Scherer in historisch vergleichenden Untersuchungen einen Zugang zum Ablauf und zu den Umständen der tatsächlichen dichterischen Produktion.59 Programmatisch wird von der Poetik, der Lehre von der ›gebundenen Rede‹, gefordert: Die »dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche, ist vollständig zu beschreiben in ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen«.60 Im Hinweis auf die historisch ›möglichen‹ Formen

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Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. VIII. Jakob Minor: Wilhelm Scherer. Poetik [1889, Rezension, Auszug]. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 266–267, hier: S. 266. Konrad Burdach: Wilhelm Scherer. Poetik [1888, Rezension, Auszüge]. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 242–245, hier: S. 243. Vgl. Wilhelm Scherer: Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S.  45–47. Wegen der besseren Verfügbarkeit ziehe ich in den folgenden Ausführungen diese Ausgabe der textidentischen Originalausgabe von Richard M. Meyer aus dem Jahr 1888 vor. Scherer: Poetik, S. 49.

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schwingt die Vorstellung mit, dass die Klassifi kation von Erscheinungen letztlich auf Strukturgesetze der Dichtkunst führt, ähnlich wie in der Phonologie aus einer Menge bekannter Laute auf mögliche, wenngleich nicht notwendig realisierte Lautverbindungen geschlossen werden kann. Diese Orientierung auf Gesetzmäßigkeiten, die Scherers gesamte sprach- und literaturgeschichtliche Arbeit durchzieht, ist Teil seines naturwissenschaftlichen Grundanspruchs, der allerdings in den zeitgenössisch herrschenden mechanistischen und deterministischen Konsequenzen eher behauptet denn durchgeführt wird.61 Trotz durchweg intaktem Pathos der Naturwissenschaftlichkeit (»Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle gefesselt sind.«62) laufen bei Scherer materialistische und idealistische Auffassungen von Handlungsmotivation und Bewusstseinsbildung parallel.63 Dazu gleich mehr. In Anlehnung an das relativistische Credo des Historismus, das Wilhelm Roscher bereits 1854 in seinem Lehrbuch für die Ökonomie geltend gemacht hatte64, formuliert Scherer: »[B]estimmte Stufen und Formen der Wirthschaft sind zweckmäßig für bestimmte Epochen; nicht aber ist eine wahre Wirtschaft zu finden. In diesem Sinne ist die Geschichte Lehrerin.«65 Die Untersuchung des dichterischen Artefakts bleibt demnach stets konkret auf den Entstehungskontext und die darin vorhandenen Möglichkeiten des Ausdrucks bezogen. Mit volkswirtschaftlicher Optik fokussiert Scherer seinen Gegenstand: Die Poesie oder, besser gesagt, das poetische Product, ist heut eine Waare wie eine andere, und die nationalökonomischen Gesetze des Preises und Umsatzes haben auch auf das poetische Product, wie auf das Buch im Allgemeinen, ihre Anwendung. 66

Um das ›poetische Produkt‹ näher zu qualifizieren, bedient sich Scherer der seinerzeit gängigen nationalökonomischen Unterscheidung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert, den er freilich ›idealen‹ Wert nennt. Der Tauschwert ist dabei der als Preis darstellbare monetäre Wert, der dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage und also den Verhandlungen zwischen Dichter und Publikum auf dem literarischen Markt entspringt. Scherer reißt kurz an, dass dieser Austauschprozess durch histo-

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Vgl. Wolfgang Höppner: Das »Ererbte, Erlebte und Erlernte« im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik, Köln, Weimar, Wien 1993, S. 34f. Wilhelm Scherer: Die neue Generation [1870]. In: Wilhelm Scherer, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 408–414, hier: S. 411. Vgl. Jürgen Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer. Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen, Frankfurt a.M. et al. 1979, S. 131–141. Die entsprechende, später noch zu diskutierende Stelle lautet bei Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 25, S. 58: »Es gibt ebenso wenig ein allgemein gültiges Wirtschaftsideal der Völker, wie ein allgemein passendes Kleidermaß der Individuen.« Scherer: Poetik, S. 52. Scherer: Poetik, S. 85.

risch veränderliche Institutionen vermittelt wird (Leihbibliotheken, Zeitungen, Verlage, die Rolle der Kritik in der Geschmacksbildung etc.), ohne dass er der privatwirtschaftlichen Seite der Buchproduktion größere Beachtung schenkt. Eine Bestimmung des Eigentumsbegriffs findet ebenso wenig statt wie eine Diskussion zur Urheberrechtspraxis, die immerhin bis ins 19.  Jahrhundert hinein problematisch war.67 Dabei begreift Scherer das Marktgefüge keineswegs als akzidentiell für die literarische Produktion. »Das Publicum arbeitet sehr stark mit«, wendet er sich gegen autonomieästhetische Vorstellungen.68 Denn Dichtung als Ware existiert eben nicht unabhängig vom Gebrauch respektive von der Lektüre, für die sie bestimmt ist. Eine verwandte Betrachtungsweise hatte Scherers Weggefährte Erich Schmidt in seiner Wiener Antrittsvorlesung Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte (1880) bekundet, in der er die Literaturgeschichte als »statistische Wissenschaft« definierte, die u.a. eine »Übersicht über Production und Consumtion, des Imports und Exports, der Bearbeitungen, der beliebten Stoffe« sowie »das Subscribentenverzeichnis« oder auch »Absatzregister« als »Quelle der Erkenntnis« zu nutzen habe.69 Mithilfe dieser quantitativen Daten lasse sich dann auch einschätzen, »was in einzelnen Gattungen geleistet worden ist und welche blühten«.70 Scherer nimmt dieses Angebot einer empirisch-statistischen Literaturwissenschaft in der Poetik nicht auf. Ähnlich wie bei Robert Prutz führt die »Lehre vom Erfolg«71 des poetischen Produkts auch hier auf die Frage nach seinen inhaltlichen und formalen Eigenschaften, aus denen seine Brauchbarkeit letztlich erklärbar werden soll. Scherer nennt diesen Aspekt, wie gesagt, den ›idealen‹ Wert der Dichtung (›ideell‹ träfe es im heutigen Sprachgebrauch besser). Bereits in seinen einleitenden Bemerkungen zum ›Ursprung der Poesie‹ macht er ihren allgemeinen Güterwert an Vergnügen und Belehrung fest (in Anlehnung an das Horaz’sche ›prodesse et delectare‹). Vergnügen gilt dabei als die ursprüngliche Eigenschaft: »Poesie entspringt aus den primitiven Äußerungen der Freude, Springen, Singen, Lachen; sie fließt aus angenehmer Stimmung und will angenehme Stimmung erregen.«72 Auf späteren Kulturstufen treten diskursive Funktionen hinzu, eben weil ein Medium, das durch

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Zur Genese des Urheberrechtsgedankens vgl. den konzisen Beitrag von Nils Werber: Der Markt der Musen. Die Wirtschaft als Umwelt der Literatur. In: Gerhard Plumpe/Nils Werber (Hg.), Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft , Opladen 1995, S. 183–216. Scherer: Poetik, S. 125. Der marktbedingte Publikumsbezug, den Scherer hier reflektiert, ist jüngst am konkreten Falle Fontanes eingehend untersucht worden von Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1997, besonders: S. 69–95. Schmidt: Wege und Ziele der Litteraturgeschichte, S. 492. Schmidt: Wege und Ziele der Litteraturgeschichte, S. 492. Scherer: Poetik, S. 90. Scherer: Poetik, S. 67.

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Unterhaltsamkeit bestimmt ist, auch Wissen und Normvorstellungen transportieren und publikumswirksam machen kann.73 Scherer nimmt beide Komponenten auf, wenn er explizit auf den ›idealen‹ Gebrauch und also auf die Lektürezusammenhänge des literarischen Produkts zu sprechen kommt: Der »ideale Werth der Poesie richtet sich nach ihren Zwecken: man wünscht sie zur Ergötzlichkeit, zur Belehrung, zur Erbauung«.74 Dieser generelle Gebrauchswert der Dichtung hängt von inhaltlichen wie formalen Eigenschaften ab, deren Hervorbringung Scherer wiederum in nationalökonomischen Kategorien erfasst. Auch die ›dichterische Produktion‹ speise sich aus den drei Quellen der Güterherstellung: Natur, Arbeit und Kapital. Der Volkswirtschaftler Wilhelm Roscher fasst unter ›äußerer Natur‹ die in der Umwelt befindlichen Ressourcen (im Gegensatz zu Leib und Seele des Menschen). Relevant sei dabei, ob es sich bei diesen »wirthschaft lich brauchbaren Gaben«, also bei der Gesamtheit der »(Stoffe, Kräfte und Verhältnisse) der äußeren Natur«, um solche handele, die qua Knappheit oder Überfluss, »fähig oder unfähig sind, Tauschwert zu erlangen«.75 Als ›Arbeit‹ behandelt Roscher demgegenüber die humanen Kraftanstrengungen in der Produktion, ganz gleich, ob manuell oder intellektuell, und erläutert: »Arbeit nicht mit Thätigkeit zu verwechseln, die auch bei jedem Genusse vorkommt. Zum Begriff der Arbeit gehört immer das Merkmal einer Mühe, die auf einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck gerichtet ist.«76 Kapital meint »jedes Product, welches zu fernerer wirthschaftlicher Production (auch zu planmäßigem spätern Gebrauche) aufbewahrt wird«.77 Scherer macht diese drei Produktionsfaktoren für das dichterische Schaffen mit diskreten Hinweisen auf seinen abweichenden Gebrauch geltend. Der Faktor ›Natur‹, signifi kanterweise nicht als ›äußere‹ Natur attribuiert, ist bei ihm nicht trennscharf von der menschlichen Aktivität geschieden. Alle »Erscheinungen dieser Welt« sollen darunter fallen und zwar ebenso die der äußeren, sinnlich erfahrbaren Welt wie die des inneren Erlebens.78 Das Kriterium der Knappheit, durch das Ressourcen laut der ökonomischen Theorie zum Gegenstand wirtschaftlicher Aktivität werden, ist in den Erörterungen durchweg ausgespart. Unter ›Kapital‹ rechnet Scherer »schon angesammelte Producte […], Tradition, traditionelle Stoffe, traditionelle Behandlungsart der Form, die der Dichter vorfindet«.79 Modern gesprochen umfasst der Kapitalbereich alle kanonischen intertextuellen Einheiten von zitierbaren Ausdrücken, über Motive bis zu Gattungsnormen, die die Spezifi k des literarischen Diskurses ausmachen. Auch hier liegt ein metaphorischer Gebrauch des Begriffs

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Vgl. Scherer: Poetik, S. 80. Scherer: Poetik, S. 95. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 31, S. 68. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 38, S. 85, Fn. 1. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 42, S. 99. Scherer: Poetik, S. 101. Scherer: Poetik, S. 101.

›Kapital‹ vor. Schließlich sind im gemeinen Produkt (z.B. in einem Haus) die Kapitalmittel (Werkzeuge, Kredite etc.) nicht vergegenständlicht, während beim literarischen Werk die Gattungsnormen und textuellen Beziehungen wiedererkennbar in den makrophysikalischen Eigenschaften des Produkts reproduziert werden. Der allgemein auf (Inter-)Textkompetenz abzielende Kapitalbegriff Scherers rückt in Richtung des ›immateriellen‹ Gutes der Bildung (er bezieht sich, moderner ausgedrückt, auf das in der poetischen Schulung produzierte ›Humankapital‹), ohne dass Scherer diese Erweiterung gegenüber Roschers stärker materiell orientiertem Kapitalgriff ausdrücklich reflektiert.80 Die dichterische ›Arbeit‹ besteht schließlich in der »Art, wie er [der Dichter] diese Tradition sich aneignet, das Kapital fortpflanzt und vermehrt und von neuem aus der poetischen Stoff welt schöpft«.81 Dass auch diese Analogie nicht vollends aufgeht, macht die anschließende Diskussion Scherers deutlich. Denn während in der Ökonomie die Arbeitsteilung als entscheidendes Merkmal einer kulturellen Höherentwicklung gilt, verhält es sich in der Literatur gerade umgekehrt. Hier garantiert der große Einzelne – und das ist bei Scherer vornehmlich: Goethe – die organische Einheit des Werkes. Ein Lob für Dichtergruppen, wie es Robert Prutz am Beispiel der Hallischen Jahrbücher ausspricht, fällt hier nicht. Die Leistung dieser eher unscharfen Metaphorik erschöpft sich also darin, gängige literaturwissenschaftliche Themen mithilfe ökonomischer Kategorien neu zu perspektivieren. Unter dem Begriff der ›Natur‹ wird letztlich die Goethe’sche Gliederung poetischer Stoffe abgehandelt82; der Arbeitsbegriff führt auf die Modefrage des 19. Jahrhunderts nach der Nähe von Genie und Wahnsinn, insofern Arbeit letztlich das Erfassen des Stoffes in Phantasie und Traum sei, bei anschließender Geschmackswahl aus dem so Erträumten.83 Über den Kapitalbegriff schaltet Scherer die traditionelle Ausrichtung seiner Poetik: Es geht weniger um Innovationen als um den Anschluss an den kanonisierten literarischen Bestand. Das wird auch in den Ausführungen zum Publikum deutlich. Scherer unterscheidet zwei Rezeptionsweisen literarischer Texte: das formale Interesse, das sich in der wiederholten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand manifestiert, und die Neugier, die sich an seiner stoffl ichen Seite festmacht. Beide sind aufeinander bezogen. Das ›Neue‹, das in der Marktgesellschaft zum wesentlichen Anker des Rezeptionsinteresses wird84 , kann nur im Rekurs auf bestehende Kunstnormen er-

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Die hier eher vom Literatur- denn vom Ökonomieprofessor vollzogene Abstraktionsbewegung, die diese Übertragung des Kapitalbegriffs auf immaterielle Kompetenzen und Tätigkeiten bedeutet, ist gleichwohl eine gängige rhetorische Leistung ökonomischer Schriften im 19. Jahrhundert. Die Wirtschaftswissenschaften generieren »unreal words« (Heinzelman), die geistige Tätigkeiten unter die Logik konkreter Produktionszusammenhänge stellen. Vgl. Heinzelman: Economics of the Imagination, S. 70–110. Scherer: Poetik, S. 101. Vgl. Scherer: Poetik, S. 137–141. Vgl. Scherer: Poetik, S. 111f. Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie [1992], 2. Aufl., Frank-

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scheinen. So läuft die Thematisierung der Aufmerksamkeitssteuerung auf standardisierte Präsentationsformen des Kunstwerks hinaus (ein Roman habe drei Bände, ein Vortrag dauere eine Stunde); die Anordnung der Werkteile folge (in Anlehnung an Gustav Theodor Fechners empirische Ästhetik) Prinzipien der Widerspruchslosigkeit, Klarheit, Verständlichkeit und Leichtigkeit.85 Scherer nimmt hier das traditionelle Theorem der ›Einheit in der Mannigfaltigkeit‹ auf und wendet es rezeptionstheoretisch. Die überindividuellen Anteile in dieser ›interessanten‹ Verarbeitung eines Stoffes deuten auf einen entscheidenden Punkt in dieser Konzeption der Literatur als Ware. Scherer schließt die Wertentwicklung, wie oben gesagt, nicht mit kontingenten Marktbewegungen kurz. Der Gebrauchswert differiert als ›idealer‹ Wert vom quantifizierbaren, in Absatzzahlen messbaren Tauschwert des Produkts. Er entstammt einer Beziehung auf etablierte kulturelle Codes. Nicht der partikulare Lusteffekt, das bloß Angenehme, macht, von hier aus betrachtet, die Kunst zum Bedarfsgegenstand. Vielmehr hängt ihre Brauchbarkeit an tradierten ästhetischen Normen, die Produktion und Rezeption steuern. Das literarische Produkt ist somit kein individuelles Gut, sondern ein gemeinschaftliches; sein ›Zweck‹ erscheint als vermittelter, allgemeiner. Entsprechend bestimmt Scherer den ›idealen Wert‹ bzw. ›Gebrauchswert‹: »Also wir verstehen unter Gebrauchswerth [idealer Wert] einen größeren Werth, ein allgemeines Gut ohne Tauschwerth.«86 Wenn Scherer dazu reichlich ungenau erläutert, »Gebrauchswerth haben die Sonne, das Meer, die Luft und andere Dinge, die nicht verkauft werden können«87, dann unterstreicht er damit, dass sich seine Erörterung der Nutzbarkeit von Dichtungen letztlich nicht von einer tendenziell essentialistischen Erörterung ihrer Qualitäten zu lösen vermag. »Der ideale Werth der Poesie richtet sich nach ihren Zwecken«88, aber diese Zwecke werden in letzter Instanz nicht an den Markt gekoppelt. Mit dieser Konzeptualisierung scheidet eine alternative Option ökonomischer Theoriebildung, von der in dieser Arbeit noch mehrfach zu reden sein wird, als Bezugsgröße für Scherer aus. 1871 entsteht mit den Schriften des Österreichers Carl Menger, des Engländers Stanley Jevons und des Franzosen Léon Walras die neoklassische Grenznutzenökonomie. Ihr Ansatz ähnelt in mancher Hinsicht dem empirischen Aufbau der Scherer’schen Poetik. Auch Stanley Jevons’ Ökonomie basiert grundlegend auf dem Begriff des Angenehmen bzw. der Freude: »Freude und Leid sind zweifellos die wichtigsten Gegenstände der Wirtschaftsrechnung«; ein Gut ist mithin »jede Substanz, Handlung oder Dienstleistung«, die »Freude macht oder

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furt a.M. 2002. Siehe auch im Rückgriff auf die Theorie vom Produktlebenzyklus Werber: Der Markt der Musen, S. 209. Vgl. Scherer: Poetik, S. 129f. Vgl. Scherer: Poetik, S. 94. Vgl. Scherer: Poetik, S. 94. Vgl. Scherer: Poetik, S. 95.

Leid abwenden kann«.89 Aber der Begriff des Guts ist in dieser Theorie immer auf einen individuellen Bedürfnishaushalt bezogen. Gut ist, was ich mehr oder weniger nötig habe. Damit fällt auch die Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert weg. Denn was ich nötig habe, manifestiert sich in den Zahlungen, die ich tätige. In der Konsequenz bemisst sich der Nutzen eines Objekts am zahlenmäßig messbaren Gegenwert, den es auf dem Markt erzielt. Genau von diesem Begriff des individuellen Guts unterscheidet sich die deutsche, ›realistische‹ Schule der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, an der sich Scherer orientiert. So heißt es bei Roscher: »Güter nennen wir alles dasjenige, was zur mittelbaren oder unmittelbaren Befriedigung eines wahren menschlichen Bedürfnisses anerkannt brauchbar ist.«90 Der kleine Zusatz ›wahr‹ fügt dabei eine marktferne Normativität in die Güterbestimmung ein. In der entsprechenden Anmerkung seines umfangreichen Fußnotenapparats ist ausgeführt: Der Zusatz »wahr« scheidet nicht allein dasjenige, was nur unvernünftige und unsittliche Bedürfnisse befriedigen könnte, vom Reiche der Güter aus […], sondern vindicirt auch gleich den Grundbegriff der ganzen Volkswirthschaftslehre als einen Gegenstand ebenso wohl ethischer, wie psychologischer Untersuchung.91

An diese Bestimmung schließt Scherer an, wenn er allgemeine, ›ideale‹ Normen in die Warentheorie der Dichtung einführt. Gattungsbedingungen steuern die Wahrnehmung des Neuen und lassen so Literatur als überindividuelles Gut entstehen. Scherers Ausführungen über die Produktionsfaktoren korrespondieren nicht von ungefähr eng mit Roschers, bei dem es heißt: »Uebrigens wirken auch bei der rein geistigen Production, wie z.B. der poetischen, Natur, Arbeit und Erfahrung, tradirte Bildung früherer Zeitalter (eine Art geistigen Kapitals) regelmäßig zusammen.«92 Hier liegt der spezifische Akzent dieser Nationalökonomie. Die Güterbestimmung verbindet sich stets mit dem Interesse an den kulturellen, institutionellen Standards, die das individuelle Angebot und dessen Nachfrage vermitteln. Im Sprachgebrauch der Zeit sind diese Handlungsstandards als ›Sittlichkeit‹ angesprochen. Kunst, so hat Karolina Brock unlängst nachgewiesen, begreifen Ökonomen in diesem Paradigma folgerichtig nicht nur als bloß absatzfähiges Unterhaltungsgut, sondern vor allem als Medium »der Vermittlung und Aufbewahrung von sittlichen Werten«.93 Der Künstler ist, in den Worten des Volkswirtschaftlers Albert Schäffle, »das Selbstbewußtsein des sozialen Körpers«.94 89 90 91 92 93

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William Stanley Jevons: Die Theorie der Politischen Ökonomie [engl. 1871], übers. u. eingeleitet von Otto Weinberger, Jena 1924, S. 36f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §1, S. 2. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §1, S. 3. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 47, S. 118, Fn. 7. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 61–69, hier: S. 69. Dass Brock den Sittlichkeitsbegriff aus der Güterdefi nition ausspart (S. 90–94), um ihn später in der Thematisierung des Wertbegriffs doch nachzureichen (S. 109–118), ist textstrategisch irritierend. Albert Schäffle, zitiert nach Brock: Kunst der Ökonomie, S. 68.

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Ebendiese Spur verfolgt auch Scherer in der Poetik, wenn er seine Erörterung des ›idealen‹ Werts der Dichtung auf eine Sittlichkeitsdiskussion zuführt. Sittlichkeit nennt er die »Summe der Forderungen, welche die Gesammtheit an den Einzelnen stellt, die Schranken, mit denen die Gesellschaft ihr Mitglied umgiebt«.95 Mit diesen Forderungen setze sich auch die Poesie auseinander, ob offen affirmativ (wie in der Aufk lärungspoetik) oder implizit (wie etwa in Goethes Dichtungstheorie, die sich dem Sittlichkeitsanspruch zwar vorderhand verweigere, ihn aber, laut Scherer, tatsächlich performativ realisiere). Dem Selbstverständnis nach weniger normativ denn deskriptiv sucht Scherer die Frage zu behandeln, wenn er behauptet: Historisch unzweifelhaft ist, daß die Poesie eine große sittliche Bildnerin der Völker, daß sie ein Haupterziehungsmittel der Nationen ist. Die Poesie hat in unzähligen Fällen seit Jahrtausenden das zu empfehlen gesucht und in glänzenden Farben dargestellt, was die Aufopferung in den Menschen verstärken und den Egoismus zurückdrängen konnte. Sie hat unendlich viele Vorbilder des Großen, Guten, Edlen aufgestellt.96

In der Eindämmung partikularer, ›egoistischer‹ Tendenzen erscheint die Poesie als wesentliches Medium der Vermittlung überindividueller, ›nationaler‹ Ansprüche. Der Traditionsbezug, den Scherer schon für die formale Konstitution geltend gemacht hat, wiederholt sich hier für die inhaltlich-thematische Seite. Poesie fügt sich in den sittlichen Rahmen einer spezifischen Kultur schon deshalb ein, weil der Dichter, der ein Publikum finden wolle, nicht gegen dessen Wertehorizont agieren könne. Scherer unterscheidet in dieser Hinsicht drei Klassen von Literaturen: solche, die direkt sittlich veredeln (z.B. Lehrdichtungen), solche, die indirekt veredeln (z.B. Romane mit kontrastiven Darstellungen, bei Akzentuierung der positiven Haltung), und solche, die nicht sittlich veredelnd wirken, deren Position Scherer allerdings als intern widersprüchlich schildert und die sich in der Praxis schnell als indirekt veredelnd erweisen würden. Ein zeitgenössischer Rezensent der Poetik bemerkte, dass Dichter ebenso gut sittlich verderbend wirken könnten (mit ›Schmutzliteratur‹).97 Aber diese Klasse von Literatur ist in einer Theorie, die gemeinschaftliche, ethische Normen zum integralen Bestandteil der Güterbestimmung macht, ganz zwangsläufig ausgeschlossen. Was immer als Ware erscheinen will, muss sich in Scherers (und Roschers) Sichtweise in den Rahmen von Geboten und Verboten einfügen, der in einer ›nationalen‹ Öffentlichkeit in einer historischen Situation gilt. ›Schmutzliteratur‹ und andere unsittliche Warenangebote können dabei als Erscheinungen unterhalb der Tabuzone aus der Analyse der Märkte ausgeschlossen werden. Dass diese Erwägungen ohne eine Anbindung an normative Instanzen nicht auskommen, zeigt sich bei Scherer dort, wo er die unterschiedlichen Literaturen nach

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Scherer: Poetik, S. 99. Scherer: Poetik, S. 95. Richard Maria Werner: Wilhelm Scherer [1889, Rezension]. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 262–266, hier: S. 262.

dem »Standpunct des öffentlichen Wohles« für das Publikum vorsortiert: »die directe sittliche Wirkung für die Masse, die indirecte für die feiner Gebildeten.«98 Die Ausscheidung von dezidiert Unsittlichem im Dienste eines Schutzes der Massen übernehme dann die »Censur«, deren Praxis in Preußen Scherer zwar kritisiert, deren theoretische Berechtigung er aber nicht in Zweifel zieht.99 Dieser Rückgriff auf normative Institutionen ist notwendiges Korrelat einer qualitativen Güterlehre, die Wertbildung nicht auf die kontingenten Tauschprozesse zwischen Individuen reduziert, sondern ethische Normen mit den Marktprozessen vermitteln will. Dass diese Normen historisch wandelbar sind, steht dem öffentlichen, sittlichen Charakter der Dichtkunst nicht entgegen. Als Medium der kollektiven Selbstverständigung erfüllt sie gerade in ihrer konkreten kulturellen, moralischen und politischen Verankerung die Aufgabe, die Scherer ihr bereits in seiner Vorrede zur Geschichte der Sprache (1868) zugedacht hat: »Die Poesie bemüht sich nationale Lebens- und Zeitbilder aufzurollen, bald diese bald jene socialen Schichten theils in Liebe theils in Hass uns abzuschildern«100, und in dieser Rolle wird sie zum Baustein für »eine nationale Güterund Pflichtenlehre«.101 Mit dieser Zweckbestimmung der Literatur überwindet Scherer die Selbstklassifizierung als überflüssiger, aber schöner ›Luxus‹ und behauptet sie im Kanon der ›immateriellen‹ Dienstleistungen, die etwa bei Adam Smith noch als ›unproduktive‹ Arbeit aus dem Bereich des Sozialprodukts ausgeschieden waren.102 Freilich geschieht das um den Preis, dass die Literatur nun vollends unter nationalökonomische Begriffe rückt. Literatur darf sich hier als brauchbare Ware begreifen, insoweit sie als ebenso angenehm wie ethisch sanktioniert, ebenso individuell wie allgemein konstruiert erscheint. Diesen Bezug auf die Sittlichkeit besitzt, nach nationalökonomi-

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Scherer: Poetik, S. 99. Otto Brahms hat hierin auch einen Anschluss an die Moralphilosophie von Paul Heyse, die zwischen Sitte und Sittlichkeit, niederer und höherer Moral unterscheide, ausgemacht. Vgl. Otto Brahm: Wilhelm Scherer [1886–1888]. In: Otto Brahm, Kritische Schriften. Literarische Persönlichkeiten aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1915, S. 283–311, hier: S. 310. Vgl. Scherer: Poetik, S.  99f. Gunter Reiss hat in seiner Einleitung zur Neuauflage der Poetik ausführlich auf die Widersprüche zwischen obrigkeitsstaatlich ›feudaler‹ und demokratisch-liberaler Tendenz des Werkes, die letztlich in eine Unentschiedenheit zwischen normativem und deskriptivem Standpunkt münden, hingewiesen: Vgl. Gunter Reiss: Einleitung. Germanistik im Kaiserreich. Wilhelm Scherers »Poetik« als wissenschaftsgeschichtliches Dokument. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S.  IX–XLII, hier: S. XXVIII–XXXIV. Scherer: Geschichte der deutschen Sprache, S. VI. Scherer: Geschichte der deutschen Sprache, S. VII. Vgl. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen [engl. 1776], nach der 5. Aufl. von 1789 (letzter Hand) übers. und mit einer Würdigung versehen von Horst Claus Recktenwald, München 1974, S. 273. Diese Lehre wird im 19. Jahrhundert zunehmend kritisiert und auch von Roscher zurückgewiesen: Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 50, S. 123f.

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schem Verständnis, jedwedes Gut. Die Literatur zeichnet aus, dass sie als sprachliches Medium diesen Bezug explizit zu machen vermag. Ebendeshalb nimmt sie bei Scherer einen prominenten Ort in der Analyse der »nationalen Ethik« ein.103 Literatur, insofern sie ebenso Kulturerzeugnis wie Kulturzeugnis ist, macht jenen Wertekanon transparent, vor dessen Hintergrund kultureller Gütertransfer ökonomisch verstanden werden soll. Scherers ›originelle‹ Rezeption der nationalökonomischen Theorie stieß, wie die Poetik überhaupt, auf wenig Gegenliebe in der Kritik. Die Poetik »enttäuschte schon, als sie hervortrat; sie mag den Leser heute noch mehr enttäuschen«, befindet Oskar Walzel 1930 im Rückblick.104 Die Enttäuschung verbreitete sich auf verschiedenen Seiten. Wissenschaftshistorisch markiert Scherers positivistische Orientierung an den Naturwissenschaften einen vorläufigen Schlusspunkt in der Annäherung der Wissenschaften. Wilhelm Diltheys Unterscheidung zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Methodik, zwischen ›Erklären‹ und ›Verstehen‹, zeichnet der Germanistik nach 1900 eine andere Richtung vor. Den naturwissenschaftlich aufgeschlossenen Rezipienten der Poetik missfiel die Zweck- und Sittlichkeitsdiskussion als letztlich normativ anmutende und empirisch unbegründete Wiederaufnahme der Positionen aufk lärerischer Regelpoetik.105 Von stärker idealistischem Standpunkt aus wurde eingewandt, die nationalökonomischen Entlehnungen dienten der »geflissentlichen Herabdrückung des künstlerischen Charakters der Poesie«.106 Diese Kritik, die sehr gut die Vielstimmigkeit des Scherer’schen Werkes reflektiert, setzte sich in der Rezeption des 20. Jahrhunderts fort.107 Scherers misslungene Synthese aus positivistischen, deterministischen, ökonomischen und evolutionistischen Anteilen einerseits und spekulativen, nationalpolitisch-moralischen und idealistischen Akzenten andererseits ließ sein Gesamtwerk wissenschaftshistorisch schon bald nach seinem Tod 1886 verblassen.108

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Scherer: Geschichte der deutschen Sprache, S. VII. Oskar Walzel: Wilhelm Scherer und seine Nachwelt. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 55 (1930), S. 391–400, hier: S. 397. Vgl. Julius Hart: Eine schein-empirische Poetik [1889]. In: Wilhelm Scherer: Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S.  273–287; Rudolf Lehmann: Wilhelm Scherer. Poetik. [1889, Rezension]. In: Wilhelm Scherer, Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 269–273; Brahm: Wilhelm Scherer, S. 309f. Anonymus: Poetische Theorien und Theorie der Poesie [1888]. In: Wilhelm Scherer: Poetik, mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 251–262, hier: S. 256. Vgl. den ausführlichen Überblick bei Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, S. 12–49. Zu den Paradoxien des Scherer’schen Schaffens vgl. auch: Peter Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer – Walzel – Staiger, übers. von Marlene Lohner, Tübingen 1970, S. 5–35, besonders: S. 19f.

Tatsächlich ist diese Inkommensurabilität empirischer und idealistisch-spekulativer Momente ein Kennzeichen der Epoche, an deren Ende Scherers Bemühungen stehen. Wie noch ausführlich zu diskutieren sein wird, stößt die realistische Literatur und Literaturkritik im Windschatten eines ausgezehrten Idealismus auf ebendiese Konstellation: Man wendet sich von den subjektivistischen Eskapaden der Romantik und den politisch-idealistischen Programmen des Vormärz ab, ohne dabei selbst den Bezug auf eine ideale Tiefendimension der Wirklichkeit aufzugeben. Man sucht Orientierung an der zeitgenössischen sozialen Phänomenebene und will diese Inhalte doch gleichsam auf eine höhere Form der Objektivität – der Nation, ihres ›Geistes‹, ihrer Geschichte – beziehen. In dem Maße, in dem diese beiden Richtungen der Repräsentation nicht mehr synthetisiert, sondern vielmehr in oszillierenden Bewegungen aufeinander verwiesen werden, entfaltet sich das Verfahrensmodell des Realismus.109 Die Inkonsequenzen des Scherer’schen Unterfangens sind in dieser Hinsicht durchaus typische Zeichen der Zeit. »Die neue Generation baut keine Systeme«, formuliert Wilhelm Scherer in einer Rezension zu Julian Schmidts Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit (1870) den realistischen Tenor seiner Epoche.110 »Die ›Weltanschauungen‹ sind um ihren Credit gekommen.«111 Nunmehr gelte: »Gewissenhafte Untersuchung des Thatsächlichen ist die erste und unerlässliche Forderung.«112 Was Scherer in der Auseinandersetzung mit dem führenden Programmatiker des literarischen Realismus Julian Schmidt proklamiert, darf als Konsens unter den wissenschaftlichen und künstlerischen Publizisten des Realismus gelten. »Wir verlangen Einzeluntersuchungen«113 – diese Hinwendung ans Partikulare bei, wie sich zeigen wird, ungebrochen hohem Repräsentativitäts- und Idealisierungsanspruch kehrt ebenso in den realistischen Literaturprogrammen wie in der realistischen Ökonomie von Roscher bis Schmoller wieder. Scherers Poetologie steht hier innerhalb eines diskursiven Zusammenhangs, der sich über die einzelnen Fachdisziplinen hinaus ins weite Feld der öffentlichen Meinung erstreckt. Für diesen Zusammenhang werde ich den Begriff der ›realistischen Diskursivität‹ gebrauchen und ihn in den kommenden Kapiteln nah an den ökonomischen und literarischen Schreibverfahren profi lieren. Es ist ein dezidiert textualistischer Begriff, der auf die zugrunde liegende Poetologie der beiden unterschiedlichen Diskurse (Ökonomie und Literatur) abzielt. Die materiellen Verbindungen, über die sich diese Diskursivität herstellt, sind vielfältiger Art, werden jedoch im Einzelnen nicht ausführlich zur Sprache kommen. Teilweise vertiefen persönliche Kontakte die Zusammenhänge, wie im Fall von Scherers Bekanntschaft mit Gustav Schmoller oder

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Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2 dieser Arbeit. Scherer: Die neue Generation, S. 411. Scherer: Die neue Generation, S. 411. Scherer: Die neue Generation, S. 412. Scherer: Die neue Generation, S. 411.

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von Schriftstellern wie Gustav Freytag mit dem Kaufmann Theodor Molinari114 und Gottfried Keller mit dem Eisenbahnmagnaten Alfred Escher. Die realistische Schule der Nationalökonomie um Gustav Schmoller hat, wie die Forschung zur Gelehrtenpolitik in den letzten Jahren umfangreich herausgearbeitet hat, entscheidenden Einfluss auf die universitäre Ausbildung der höheren Beamtenschicht.115 Das Kapitel 5 dieser Arbeit zeigt, inwieweit sich die Figuration dieser Beamtenschicht als zentral für die ökonomischen Fragestellungen der realistischen Literatur ausnimmt. Scherer wiederum ist als einer der einflussreichsten Literaturwissenschaft ler des Kaiserreichs auch im Feuilleton aktiv.116 Er schreibt u.a. für Julius Rodenbergs namhafte Deutsche Rundschau über Gegenwartsliteratur. Literaten wie Friedrich Spielhagen und Gustav Freytag standen mit ihm persönlich in Kontakt.117 Die Tendenz der Grenzboten, von Autoren wie Schmidt und Freytag vorgetragen, wird als Einflussfaktor für sein nationalliberales Profi l angesehen118; Freytags Soll und Haben gilt als prägend für Scherers essayistischen Stil.119 Tatsächlich befindet sich hier in den zeitgenössischen Populärmedien ein wichtiger diskursiver Schnittpunkt. Ökonomische wie literarische und literaturprogrammatische Texte erscheinen in den Grenzboten und in den Preußischen Jahrbüchern. Der Nachruf auf Wilhelm Roscher steht in der Gartenlaube neben belletristischen und essayistischen Textsorten.120 Es braucht demnach nicht zu verwundern, wenn noch 1904 in Max Martersteigs kanonischer, soziologisch orientierter Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts Wilhelm Roscher die Referenzquelle für politökonomisches und kulturgeschichtliches Wissen abgibt.121 Nichtsdestotrotz sind solche konkreten Verweise auf den Lehrbuchökonomen, wie sie bei Martersteig oder Scherer vorkommen, im Feld dieser Diskursivität durchaus selten. Denn mit dem Grad der Popularisierung, sei es in öffentlichen Vorträgen, in Vereinsarbeit oder in Publikationen bis hin zum zeitgenössischen Familienblatt,

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Vgl. Gustav Freytag: »Mein theurer Theodor«. Gustav Freytags Briefe an Theodor Molinari 1847–1867, nach den Handschriften hg. und kommentiert von Izabela Surynt und Marek Zybura, Dresden 2006. Vgl. die grundlegenden Arbeiten zur Gelehrtenpolitik von Rüdiger vom Bruch. Einzelnachweise erfolgen später in den konkreten Diskussionen. Als Überblick über die Wirksamkeit der Schule um Gustav Schmoller empfiehlt sich: Harald Winkel: Nationalökonomie und Gelehrtenpolitik im ausgehenden 19.  Jahrhundert. In: Gustav Schmidt/ Jörn Rüsen (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830–1930. Referate und Diskussionsbeiträge, Bochum 1986, S. 107–132. Vgl. Höppner: Das »Ererbte, Erlebte und Erlernte«, S. 159–191. Vgl. Wolfgang Höppner: Universitätsgermanistik und zeitgenössische Literatur. Wilhelm Scherers Berliner Jahre 1877–1886. In: Peter Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, Berlin 1987, S. 157–203. Vgl. Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, S. 64–68. Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft , S. 33. Anonymus: Wilhelm Roscher [Nachruf]. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Heft 25 (1894), S. 428. Max Martersteig: Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert. Eine kulturgeschichtliche Darstellung, Leipzig 1904. Siehe dort das Register.

löst sich auch die Einzeltextreferenz auf.122 Das ökonomische Wissen gewinnt dann einen Allgemeinheitsgrad, der sich problemlos von konkreten Quellen zu lösen vermag (Roscher wird in Scherers Poetik im Übrigen nicht ein Mal ausdrücklich erwähnt). Bezeichnenderweise verortet ein Rezensent Scherers literarökonomische Konzeption präzise als Feuilletonprodukt: »Naive Tageblätter versprechen sich Wunderdinge von der Anwendung dieser ›neuen‹ Methode.«123 Und Julius Hart disqualifiziert die nationalökonomisch inspirierte Poetik schlechthin als »Salonweisheit« bzw. »Salongeschwätz«.124 Der Treffpunkt von Literatur und Ökonomie, vor diesem Hintergrund betrachtet, ist mithin der Gemeinplatz. Allerdings handelt es sich um einen Gemeinplatz, der – wie zu zeigen sein wird – deutlich von alternativen Angeboten der Zeit geschieden ist. Es ist ein realistischer Gemeinplatz. Ihm fragt diese Arbeit nach, wenn sie sich auf die textuellen Konstitutionsweisen der realistischen Diskursivität konzentriert. Sie zielt damit nicht mehr auf spezifische Einzeltextreferenzen und also auf konkrete, markierte Austauschprozesse, sondern auf die abstrakteren, auch fachextern rezipierbaren Anteile des ökonomischen Diskurses der Zeit.125 Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, ist diese Arbeitsweise auch der Spezifi k der literarischen Diskursarbeit geschuldet. Die realistische Belletristik tendiert dazu, die konkreten Spuren ihrer Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Wissen zu tilgen. Geschichten erscheinen in dem Maße als anschaulich realistische, wie sie das zugrunde liegende Handlungswissen und seine diskursive Gestalt zu verbergen vermögen. Die Leistung der narrativen Verarbeitung der sich zunehmend spezialisierenden Diskurse wird verdeckt, damit die histoire als möglichst unverstellte, allgemein menschlich rezipierbare Ereignisfolge erscheint. Inwiefern trotz einer solchen Diskursstrategie die Frage nach dem Geltungsgrad ökonomischen Wissens im literarischen Text nicht verabschiedet ist, soll der folgende Abschnitt diskutieren.

1.2.

Literatur und Ökonomie

Bis dato ist das Verhältnis von Ökonomie und Literatur auf der Ebene des programmatischen poetologischen Diskurses thematisiert worden. Beide Bereiche verbindet eine handfeste Begrifflichkeit, ein Reden von Produkten und Märkten, teilweise

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Die Relevanz der Publikationsorgane für die Textgestalt der poetisch-realistischen Literatur ist einschlägig betont worden von Rudolf Helmstetter, ohne dass dabei das Potenzial intertextueller Untersuchungen schon vollends ausgeschöpft worden wäre (am weitesten geht Helmstetter in dieser Hinsicht im Kapitel zu Effi Briest). Vgl. Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, S. 167–177. Anonymus: Poetische Theorien, S. 254. Hart: Eine schein-empirische Poetik, S. 275. Den Begriff der Markierung verwende ich hier im Sinne von Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 31–47.

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sogar, wie im Falle von Wilhelm Scherers Poetik, ein konzeptueller Austausch. Was dagegen die literarischen Artefakte anbelangt, so lassen diese zunächst kaum solche konkreten Beziehungen erkennen; sie scheinen sich vielmehr, wie oben angedeutet, geradezu über den Ausschluss von nichtliterarischen Diskursen zu konstituieren. In einer Eingangsszene in Wilhelm Raabes 1890 erschienenem Spätwerk Stopfkuchen ist das Problem angerissen. Eine männerbündlerische Runde, Freunde aus Jugendtagen, verlässt gegen Mitternacht das Lokal ›Brummersumm‹. Die Nacht ist sternenklar, man blickt gen Himmel. Und der Erzähler sinnt nach: Zu den Stunden auf einem Feldwege allein mit den noch übrigen Genossen seiner Jugend zu sein – das ist etwas! Wovon man auch reden mag, ob Politik, Börsengeschäften, Fabrikangelegenheiten, Ästhetik: jeder Mann und berufenste Mitredner in allem diesen darf ungehöhnt sein gescheitestes Wort abbrechen und aufblinzelnd bemerken: Da liegt doch auch was drin!126

›Wovon man auch reden mag‹: Im Paradigma des Herrengesprächs liegen die Diskursfelder der Ökonomie, Politik und Ästhetik noch eng beieinander. Jeder redet von allem. Aber was genau gesagt wird, davon steht im Roman nichts. Die Themen sind verschwunden bis auf die Platzhalter. Und auch das Totalitätsversprechen – alles Reden ist sich nah, weil es unter ein und demselben Sternenhimmel abläuft – wird schnell widerlegt. Denn der Roman inszeniert die Diskurstrennung: »Ich aber war eine geraume Zeit hinter den andern gegangen, ohne an der Unterhaltung teilzunehmen, und hatte nur wiederum alte Erinnerungen lebendig werden lassen«.127 Um sich erinnern und in der Folge erzählen zu können, muss sich der Ich-Erzähler Eduard distanzieren von den ökonomisch-politischen Unterhaltungen der Gefährten. Der Weg zu seinem alten Schulkameraden Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, bleibt ihm allein vorbehalten. Und auf dem Schiff zurück nach Südafrika brütet er denn auch nicht »über seinem Geschäftskonto«128, sondern schreibt die Geschichte Stopfkuchens auf. Es geht eben nur das eine oder das andere: entweder Geschäftskonten führen oder Erzählungen schreiben, entweder Ökonomie oder Literatur. Dieses Entweder-Oder hängt, gattungsgeschichtlich betrachtet, eng mit dem Siegeszug der erzählenden Literatur überhaupt zusammen, namentlich mit dem Aufblühen des Romans, der in der Nachfolge Hegels als dasjenige Medium aufgefasst wird, das die »Prosa der Verhältnisse« abbildet.129 Bekanntermaßen wird die intime Beziehung des Romans zur alltäglichen Sprache (zur ›Prosa‹) und zu gängigen Themen (zum ›Prosaischen‹) anfangs keinesfalls unproblematisch gesehen. Für eine Poetolo-

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Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte [1890]. In: BA, Bd.  18, 2. Aufl., Göttingen 1969, S. 5–207, hier: S. 9. Raabe: Stopfkuchen, S. 11. Raabe: Stopfkuchen, S. 118. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik [1835–1842], 3 Bde., auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (Werke, Bd. 13–15), 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1996, hier: Bd. 3, S. 393.

gie der ›Realabstraktion‹, die im kontingenten Gegenwartsstoff stets den essenziellen Anteil, in profanen Oberflächen immer auch die Tiefendimension offenlegen will130, steht der Roman dem eigentlich Poetischen zunächst fremd gegenüber. Seine ideelle Aufwertung verlangt formale und thematische Restriktionen.131 Programmatisch formuliert Karl Gutzkow in seiner Kritik an Gustav Freytags Soll und Haben: »Den Roman an die Welt der Arbeit verweisen, heißt ihn in seiner ganzen Natur aufheben; denn es ist gerade das Wesen des Romans, die Wochentagexistenz des Menschen gleichsam beiseite liegen zu lassen und seinen Sonntag zu erörtern. Wir verstehen unter Sonntag die Offenbarung seiner poetischen Natur, sei es nun im Leiden oder im Handeln. Der ewige Sonntag jedes Menschen ist sein Lieben, sein Gefühl für Freundschaft, seine Religion, sein Geschick.«132 Erzählkunst entsteht, in dieser Sichtweise, aus einer Entkoppelung: des Poetischen vom Alltäglichen, des Handelns vom Arbeiten, des Sonntags vom Wochentag. Wo sich Kunst abspielt, da sind die ökonomischen Verhältnisse und ihre Prosa abwesend. Diese Auffassung ist sogar für Autoren maßgebend, die kraft ihres täglichen Berufs eigentlich dem ökonomischen Diskurs nahestehen. Der Kulturhistoriker und Lehrstuhlinhaber Wilhelm Heinrich Riehl, dessen Forschungen von Nationalökonomen rege rezipiert werden133, gibt sie in seiner Novelle Abendfrieden (1867), die als Vorwort seiner kulturgeschichtlichen Novellensammlung Durch tausend Jahre vorangestellt ist, wieder. Es handelt sich um ein Zeugnis seiner Initiation als Schriftsteller und zugleich um ein Selbstporträt des Feierabend-Künstlers Riehl als zehnjähriger Knabe. Schon zum Eingang der Novelle beschwört Riehls junger Ich-Erzähler, der seine Freunde tagein, tagaus auf ihrem Schulweg mit Abenteuergeschichten erfreut, die Kraft der Poesie: »Indem wir nun aber so erzählend und hörend heimwärts zogen, bekam die Landstraße ein völlig neues Gesicht; sie sah ganz sonntäglich aus, obgleich es doch immer nur Werktag war.«134 Die Kunst macht alles sonntäglich – Gutzkow lässt grüßen. Allerdings handelt es sich hier, wie schnell zu erfahren ist, noch gar nicht im engeren Sinne um Kunst. Denn als die Freunde bemerken, dass ihr Kompagnon seine Geschichten lediglich erfindet und nicht, wie sie annahmen, aus Büchern wiedergibt, jagen sie ihn zornig davon. Mit zerrissenem Kittel kehrt der Held zu seinen Eltern heim und erhält prompt Hausarrest. Nun aber ereignet sich das novellistisch

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Vgl. dazu die nach wie vor einschlägigen Arbeiten von Ulf Eisele, insbesondere Ulf Eisele: Realismus-Theorie. In: Deutsche Literatur – Eine Sozialgeschichte, Bd. 7 (Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus), hg. von Horst Albert Glaser, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 36–46. Siehe zu den formalen Restriktionen Abschnitt 2.3.1. dieser Arbeit. Karl Gutzkow: Der Roman und die Arbeit [1855]. In: Theorie und Technik des Romans im 19. Jahrhundert, hg. von Hartmut Steinecke, Tübingen 1970, S. 45–49, hier: S. 47. Siehe die entsprechenden Registereinträge in den Lehrbüchern von Wilhelm Roscher (Grundlagen der Nationalökonomie) und Gustav Schmoller (Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre). Wilhelm Heinrich Riehl: Abendfrieden. Eine Novelle als Vorrede [1867]. In: RKN, Bd. 1, Meersburg, Leipzig 1933, S. 5–25, hier: S. 13.

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Bemerkenswerte. Als er später heimlich in den Schlossgarten135 hinausschleicht, erblickt der Held dort Sir Walter Scott. Und der hoch betagte, altersschwache Dichter lächelt den Knaben milde an, weil dieser inzwischen in einem viel zu engen, abgetragenen Kittel herumläuft. So finden die Turbulenzen des Tages einen ›versöhnlichen‹ Ausgang und der Streit um die erfundenen Erzählungen und die anschließenden Raufereien erhalten ex post einen höheren Sinn: Denn ohne seinen kuriosen Ersatzkittel wäre er dem Dichter kaum aufgefallen, erklärt der Ich-Erzähler sein Schicksal. Scotts Auftritt leistet in dieser Novelle ein Mehrfaches: Als gedruckter Autor repräsentiert er den Zugang zur ›echten‹, künstlerischen Literatur und gibt damit dem Heranwachsenden die Richtung seiner Fabulierfreude vor. Von nun an wird er seinen Kameraden auf dem Schulweg Scott-Romane nacherzählen. Die ›lebendige Begegnung‹, das Zusammentreffen von gedruckter Literatur und Wirklichkeit, soll darüber hinaus den poetisch-realistischen Zuschnitt der hier initiierten Erzählkunst verbürgen: [W]ie die plötzliche Erscheinung des Mannes den ersten Seelenkampf meines kindlichen Alters zum versöhnten Ausgange gewendet hatte, so ruhte mir der Geist eines Friedebringers auch fort und fort verklärend über seinen Dichtungen. Gar reiches, buntes Leben, oft derb und breit, mitunter auch ungleich und unfertig gezeichnet, gar mancher Kampf, gar manches Schicksal zieht über die Bühne seiner erdichteten Welt, allein der Abendfriede des gemütlichen Erzählers ruht doch versöhnend und heiter erhebend auf allen diesen Schöpfungen. Das ist das Wahrzeichen des echten Epikers.136

Das ›reiche und bunte Leben‹ mit all seinen Turbulenzen ist nur dort künstlerisch legitimiert, wo es auf einen poetischen ›Abendfrieden‹ zusteuert. Und dieses Erzählen im Geist des Abendfriedens weiß sich schließlich auch über die ökonomische Wirklichkeit erhaben. So erfährt es der junge Erzähler bei der ›Lästerbank‹, wo sich nach Arbeitsschluss das Gesinde trifft: Diesen Engländer [Scott] grüßt die ganze Dienerschaft , weil er uns schon so oft erfreut hat, mag er nun im übrigen hoff ähig sein oder nicht. Als hingegen neulich der alte Baron Rothschild zur Tafel geladen war, da grüßten ihn etliche Bediente nicht […].137

Mit »epischem Refrain« schließt der Bedienstete seinen Bericht ab: »Den Rothschild habe auch ich nicht gegrüßt, aber den Walter Scott […] grüßt die ganze Dienerschaft.«138 Wo Kunst so beispielhaft wie volkstümlich wirkt, dass selbst das Gesinde sie emphatisch verschlingt, da muss die Welt der Hochfinanz (Rothschild) wie die Ökonomie überhaupt außen vor bleiben. Kunst schöpft in diesem Sinne zunächst und zuallererst aus Kunst. Scott zum Gruße und Rothschild zum Schimpf, so liebt das Publikum ebenso wie der Autor selbst die Literatur. Riehl, der Professor für Kul-

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Riehls Vater war Schlossverwalter beim Herzog von Nassau in Bieberich bei Wiesbaden. Riehl: Abendfrieden, S. 25. Riehl: Abendfrieden, S. 21. Riehl: Abendfrieden, S. 21.

turgeschichte und Statistik, muss sich an der etablierten Kunst eines Sir Walter Scott orientieren, wenn er sich nach Feierabend als Literat behaupten will. Darin liegt die Pointe seiner Novelle Abendfrieden. Es ist eine Pointe, die so vom Gros der kanonischen Literaten seiner Zeit unterschrieben werden könnte: Literatur beschäftige sich mit dem Sonntag, nicht mit dem Alltag; sie meide das Fabrikleben wie die Börsenwelt der Rothschilds. Wie aber kann man von dieser Problemlage auf die Untersuchung ökonomischer Diskursivität umstellen? Lässt die hier beschriebene Ausblendungsstrategie abseits der rein thematischen Fragestellung, was dargestellt wird, einen Zugang zum ökonomischen Wissen der Zeit erkennen? 1.2.1.

Die versteckte Ökonomie – Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse

In Wilhelm Raabes 1856 erschienenem Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse findet sich auf den Blättern vom 3. Dezember folgende Szene: Johannes Wachholder, der Erzähler der Chronik, erinnert sich an den Begräbnistag von Marie Ralff, der Mutter seiner Ziehtochter Elise: Das Leben der großen Stadt begann wieder seinen gewöhnlichen Gang; der Reichtum gähnte auf seinen Kissen oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer als die Armut, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huschte, um einen neuen Ring der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die Gewerbe faßten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wieder zu hämmern und zu rauschen; die Wagen rollten in den Straßen […]. Ich ging hinüber. Der Kesselschmied Marquart – er war damals noch jünger und kräftiger als heute – hatte sein Hämmern eingestellt und lehnte traurig in der niedrigen Tür, die in seine unterirdische Werkstatt hinabführt; er liebte die tote Marie so gut wie alle, die mit ihr je in Berührung gekommen waren.139

Das ist ein Morgen in einer industrialisierten Großstadt, Berlin. Die Wirtschaft rollt. Nur erfährt man davon nicht mehr als Distanzwahrnehmungen: Maschinen ›hämmern‹ und ›rauschen‹. Die dazugehörige Sozialstruktur wird grob gerastert über zwei Personifi kationen, die als Kollektivsingularia fungieren – ›Reichtum‹ und ›Armut‹. So stellt die knappe deskriptive Pause denn nicht mehr als einen Hintergrund für die folgende Episode her. Damit diese Episode und mit ihr die Nahsicht einsetzen können, müssen die Zeichen industrieller Tätigkeit verschwinden, lässt der Kesselschmied Marquart signalförmig seinen Hammer sinken. Ähnlich wie in Theodor Storms einschlägigem Gedicht Abseits (1848) sucht die Poesie den Ort, der unerreichbar für das Rauschen des Maschinenzeitalters ist.140 Hier hämmert nur noch der Tischler Rudolf – an Maries Sarg.141 Raabes Erzählung zoomt in den klein-

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Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse [1856]. In: BA, Bd. 1, 2. Aufl., Göttingen 1980, S. 7–171, hier: S. 27. Vgl. Theodor Storm: Abseits [1848]. In: SSW, Bd. 1 (Gedichte. Novellen 1848–1867, hg. von Dieter Lohmeier), Frankfurt a.M. 1998, S. 12. Vgl. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 28.

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gewerblichen Bereich, der freilich von jeglichen Konnotationen der Erwerbstätigkeit gereinigt ist. Gleichzeitig mit dieser Einschränkung auf den szenischen Nahbereich findet aber auch eine Ausweitung des Fokus statt. Denn mit Marie wird keine beliebige Person begraben, sondern ein bindendes Prinzip der Nachbarschaft: eine »sonnige, gute, kleine Fee, die überall, wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden hervorrief«.142 Eine zweite Ersetzung folgt mit dem Leichenzug: »Der Tod zieht vorüber!«143 Und vor diesem Tod erzittern nun sowohl ein Traupaar in einer eleganten Equipage – Vertreter jenes gähnenden Reichtums vom Beginn des Chronikeintrags – als auch ein proletarischer »Arbeiter, der dort das Beil sinken läßt«.144 So ist an Maries Tod vermittels Abstraktion ein zwar wenig behagliches, doch harmonisierendes Moment gefunden, das den Reichen wie den Armen und Proletarier, ja selbst den »kettenklirrenden Verbrecher« zusammenbindet.145 Wachholders Erinnerung wird zum ständeübergreifenden Appell, der – wie der Tod – einen jeden umfängt. In dieser Allgemeinheit steuert die Szene auf zwei finale Allegorien zu: die erste durchzogen von Vanitas-Weltschmerz: »Verkehrt auf dem grauen Esel ›Zeit‹ sitzend, reitet die Menschheit ihrem Ziele zu«146; die zweite aber – die Inschrift auf dem Grabstein des verstorbenen Komponisten Albert Lortzing – mit deutlichen Anklängen an die politische Situation nach 1848 (»Der Kampf ist aus – das Lied tönt fort!«147). In der Kette der Ersetzungen vom Maschinenhämmern bis zum Epitaph gelangt man also dort an, wo das Erzählen mit Gutzkow bereits vermutet wurde: bei einem Wochentag, der keiner ist, sondern eine exemplarische Szene für die Verfassung der Deutschen wie der Menschen im Allgemeinen; zweitens bei den Kunstmitteln der Allegorie (im weiteren Romanverlauf dann auch gern als offene Fabeln oder Parabeln realisiert148; man denke an die Geschichte von Katz und Hund am Küchenschrank oder an Margareths Erzählung vom Brand der Sophienkirche); und schließlich beim literarischen Selbstbezug (die Lortzing- und Calderón-Anspielungen am Ende sind da nur die offensichtlichsten intertextuellen Verweise). So wäre denn eine mögliche Darstellung der Wirtschaft überführt in einen Kunstzusammenhang. Und eine Thematisierung ökonomischer Verhältnisse weicht der impliziten Selbstthematisierung des Erzählens. Doch so einfach ist es nicht. Die ältere Raabe-Forschung hat, durchaus affirmativ, den hier beschriebenen Aufbau einer relativ kontextfreien, idealen und dadurch literaturfähigen Nachbarschafts-

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Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 27. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 29. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 29. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 27. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 31. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 31. Wachholder erhebt die Offenheit selbst zum Erzählprogramm: »[I]ch aber freute mich, wieder einmal ein Märchen beendet zu haben, wie ein wahres Märchen enden muß; nämlich ohne allzu klugen Schluß und ohne Moral.« Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 67.

welt als ›Idylle‹ markiert. In der neueren Forschung begreift man diese Idyllisierung als kalkulierte Textstrategie, die darauf abzielt, in Wachholder einen inkompetenten Erzähler aufzubauen und damit den Leser in eine kritische Distanz zu ihm zu setzen.149 Noch einen Schritt weiter geht Sabina Becker, wenn sie die Heterogenität des Textes, sein Scheitern an der Chronikform, zum Ausdruck protomoderner Erzählverfahren und zur indirekten Widerspiegelung großstädtischer Erfahrung macht.150 Dieser entscheidende Perspektivwechsel in der Forschung bleibt festzuhalten: Auch in der Frage nach der ökonomischen Bezugnahme geht es nicht um die Erzählgegenstände und -themen, mithin um die diegetische Welt, sondern um die Konstitution des Erzählens selbst. Dessen Thematisierung läuft wiederum über die Figur der Marie. Auf den Blättern vom 30. November stößt man auf einen am Prinzip der Laterna magica geschulten Bilderwechsel151, den der Erzähler Wachholder schließlich als Traum ausweisen wird und der Stationen seiner verfehlten Liebesbeziehung zu Marie von der Kindheit bis zum Mannesalter nachvollzieht: »Ich liebe dich«, flüstert mein Schattenbild, »ich will dich reich, ich will dich glücklich, ich will dich berühmt machen, ich will« – der schreibende Greis kann jetzt nur lächeln – »die Welt für dich gewinnen, Marie!«152

›Ich will dich reich und glücklich machen‹ – das sind die Ambitionen des Studenten Wachholder, wohlgemerkt bevor er zum Erzähler wird (es spricht das erzählte Ich). Wie so oft bei Raabe, wird die zeitliche Differenz zwischen Erzählen und Erzähltem geschickt ausgespielt. Der Erzähler Wachholder, der ›schreibende Greis‹, kann über das Vergangene ›jetzt nur lächeln‹. Etwas steht zwischen beiden Wachholder-Figuren, zwischen der erzählten Zeit und der Zeit des Schreibens: der Tod Maries, die Erziehung ihrer Tochter Elise und ein genuiner Ambitionswechsel: »Marie« – – – Würde ich diese Erinnerung mit all ihrem Schmerz für der ganzen Welt, Macht, Reichtum, Weisheit lassen? – – – Ich glaube nicht.153

Der Wunsch nach Reichtum ist eingetauscht worden gegen die Möglichkeit der Erinnerung und gegen das Erzählen, das darauf basiert.

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Gert Vonhoff: Erzählen im 19.  Jahrhundert. Raabes »Chronik der Sperlingsgasse«. In: Thomas Althaus/Stefan Matuschek (Hg.), Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Münster, Hamburg 1994, S. 153–177. Die Problematisierung der Idylle bei Raabe wurde erstmals umfangreich untersucht von Uwe Heldt: Isolation und Identität. Die Bedeutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes, Frankfurt a.M. et al. 1980. Sabina Becker: Chronist der städtischen Moderne. Wilhelm Raabes »Chronik der Sperlingsgasse«. In: Sigrid Th ielking (Hg.), Raabe-Rapporte. Literaturwissenschaft liche und literaturdidaktische Zugänge zum Werk Wilhelm Raabes, Wiesbaden 2002, S. 81–104. Vgl. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 19. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 21f. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 152.

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Eine gendertheoretisch informierte Lektüre würde spätestens hier einen Kurzschluss zur traditionell weiblich codierten Gabe-Ökonomie herstellen154, nach der die Position der Frau im ökonomischen Gefüge so bestimmt ist, wie es beispielsweise Ferdinande, eine Hauptfigur in Friedrich Spielhagens Sturmflut, denkt: »Eine Frau fragt darnach nicht, wenn sie liebt – sie rechnet nicht, sie marktet nicht – sie liebt und giebt willig, freudig Alles, Alles, was sie zu geben hat – sich selbst!«155 Die Frau kalkuliert nicht – sie gibt. Von Marie, der Impuls gebenden Frauenfigur der Chronik, sind solche Gedankengänge nicht zu erfahren. Sie bleibt im ganzen Text stumm. Aber dass sie, wie oben gesehen, als gute ›Fee‹ der Nachbarschaft angesprochen wird, zeigt, dass auch in ihrem Fall die zeitgenössischen Rollenvorgaben intakt sind. Eine Fee schenkt und erwartet dafür keine Gegenleistung. Mit einiger Plausibilität ließe sich argumentieren, dass dieses weibliche Gabe-Programm durch den Tod Maries auf den Erzähler Wachholder übergegangen ist – die Gabe der Erzählkunst kompensiert den Verlust männlicher Erwerbsambitionen. Allerdings ist diese Gabe-Theorie in der neueren Fachliteratur dezidiert gegen das liberalistische Konzept eines in Nutzenkalkülen operierenden (maskulin codierten) Homo oeconomicus formuliert worden. Und damit reflektiert sie eine Abspaltung der altruistischen, sozialpolitischen Komponente aus der Güterökonomie, die sich zur Zeit des Romans, wenigstens in Deutschland, so noch gar nicht vollzogen hat. Eckhardt Meyer-Krentler hat in seiner kanonischen Studie zum Freundschaftskonzept im bürgerlichen Zeitalter (seit der Aufk lärung) die Rolle von Johannes Wachholder aus der Dreieckskonstellation mit Marie und Franz Ralff erläutert. In seiner Entsagung zugunsten seines Freundes und seiner Geliebten vollziehe Wachholder noch einmal, wenngleich bereits stark resignativ gefärbt, jene Bewegung auf eine ideale Gemeinschaftlichkeit hin, die am Epochenwechsel zwischen Stände- und Individualgesellschaft mit dem Freundschaftsethos regelmäßig besiegelt wurde. Der Entsagungsbereite rücke bei Raabe »in Richtung auf eine gebrochene Existenz, auf ein notwendiges Heraustreten aus der Lebensmitte«.156 Trotzdem erlangt Wachholder in seinem Zurücktreten jene Kompetenz, die dem Entsagenden bis in die Biedermeierzeit hinein konventionell zufiel: die altruistische Orientierung.157 Sie wird ma-

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Vgl. etwa Lewis Hyde: The Gift. Imagination and the Erotic Life of Property [1979], London et al. 1999, S. 102–108. Friedrich Spielhagen: Sturmflut. Roman in sechs Büchern, 3 Bde., Leipzig 1877, hier: Bd. 1, S. 217. Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren Erzählliteratur, München 1984, S. 246. Vgl. dazu Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd.  1 (Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Stilmittel), Stuttgart 1971, S. 119: »Die ältere, geistesgeschichtlich orientierte Biedermeierforschung sah in der Entsagung, die sich aus dem Zwiespalt von Ideal und Leben ergibt, einen Grundbegriff des Biedermeiers, mit Recht, wenn man nicht vergißt, daß die Entsagung eine Voraussetzung für den höchsten Wert des Biedermeiers, die Liebe, mit dem Akzent auf ihren ›höheren Stufen‹ der Mutterliebe und der Karitas, war.«

nifest in der karitativen Liebe zu seiner Adoptivtochter Elise, derer er sich nach dem Tod der Freunde annimmt, gemäß dem normalen »Mechanismus in der Tradition des Freundschaftshandelns«.158 Diese Form von uneigennütziger Einstellung bleibt festzuhalten, denn sie reicht tatsächlich über den personalen Rahmen des ›sozialethischen Programms‹ hinaus bis in die nationalökonomischen Entwürfe der Zeit. Zudem zeigt sich diese altruistische Orientierung eng mit der Erzählerposition verknüpft. Denn Wachholder erlangt eben – was Meyer-Krentler mit dem augenscheinlichen Scheitern der Chronik-Gattung etwas zu schnell als Selbstproblematisierung bzw. Selbstmarginalisierung des Erzählens bei Raabe relativiert – auch die Fähigkeit, entlang seiner entsagungsbereiten Beziehung zu Elise die Gemeinschaftlichkeit innerhalb der Sperlingsgasse narrativ einzufangen.159 Aus diesen beiden Momenten (Gemeinschaftsorientierung und rückwärts gewandtes Erzählen) heraus führt denn eine Spur in den zeitgenössischen ökonomischen Kontext. Im selben, oben erwähnten Chronikeintrag spitzt sich die ökonomische Demotivierung Wachholders in folgender Programmatik zu: Ihr Weisen und Prediger der Völker, nicht der Gedanke an Glück oder Unheil in der Zukunft ist’s, der liebevoll, rein, heilig macht; nie ist dieser Gedanke rein von Egoismus, und über jede Blüte, die das Menschenherz treiben soll, legt er den Mehltau der Selbstsucht: die wahre, lautere Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, ist die traurig süße Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit ihren ganz oder halb verklungenen Taten und Träumen.160

Das Erzählen des Geschehenen, so darf man paraphrasieren, ist nur um den Preis des Abschieds vom ›Egoismus‹ und überhaupt von der Sorge um Zukünftiges, von der Vorsorgementalität, zu haben.161 Wachholders Vergangenheitsemphase tritt zunächst als Antithese auf gegen den Fall des ›verwunschenen Mannes‹ Mr. Redlaw aus Charles Dickens’ Erzählung The Haunted Man. Jener hatte, über vergangenes Unheil verzweifelnd, seine Erinnerungsfähigkeit an einen Geist abgetreten, woraus verschiedene Folgeschäden für ihn und die Menschen seiner Umgebung eintreten. »Lord keep my Memory green«, lautet das Resumee der Dickens’schen Erzählung angesichts dieser fatalen Konsequenzen des Gedächtnisverlusts.162 Wachholder nimmt das Urteil implizit auf; aber er radikalisiert es zu einem ›Turn‹. Dabei darf seine Hinwendung zur Vergangenheit nicht mit erzählerischem Eskapismus verwech-

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Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 248. Zur Konstruktion einer »Kultur des Miteinanders« in der Narration Wachholders vgl. auch Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 29f. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 150. Zum Status der Sorge im modernen ökonomischen Diskurs siehe Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 331–336. Charles Dickens: The Haunted Man and The Ghost’s Bargain. A Fancy for Christmas Time [1848]. In: Charles Dickens, Christmas Books, hg. von Andrew Lang (The Works of Charles Dickens in 34 volumes, Bd. 18), London, New York 1897, S. 411–525, hier: S. 525.

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selt werden. Das Vergangene wird hier nicht isoliert, um seiner selbst Willen angepeilt. Schon auf den ersten Seiten hatte die Chronik ihre rekursive Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit deutlich gemacht. Zur Erinnerung: Der über der Zeitungslektüre verzweifelnde Wachholder (»Es ist eigentlich eine böse Zeit!«163) greift zur Erbauung nach den Jahrzehnte alten Feuilletons des Wandsbeker Boten von Matthias Claudius. Die Lektüre der alten Blätter stellt aber nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Erzählgegenwart dar: Mit der gleichsam visuellen Vergegenwärtigung des Claudius (»Sieh – da ist der herbstliche Garten zu Wandsbek«164) richtet sich der Blick auf Wachholders Umgebung neu aus. Wachholder liest über Schnee, und in der Sperlingsgasse beginnt es zu schneien: »Welche Veränderung da draußen!«165 Diese veränderte Welt ist die erzählbare Welt, die spezifische Diegese der Sperlingsgasse: mit den Schneebälle werfenden Kindern und dem Lehrer, der nach Hause geht. Und da es keine Diegese ohne ein Erzählen gibt, entsteht an dem Punkt, da der Schnee der Claudius-Lektüre und der Schnee in der Gasse zusammentreffen, auch ganz explizit das Schreibprojekt des Erzählers Wachholder: »Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!« bzw. »Eine Chronik der Sperlingsgasse!« wird er anlegen.166 Die derart qua Lektüre auf das eigene Schreiben hin geprägte Wirklichkeit kann dann auch auf dieses Schreiben zurückstrahlen. Im Fenster gegenüber erscheint ein Kinderkopf und projiziert einen Schatten auf die Folianten in Wachholders Wohnung – »Ein gutes, ein glückliches Omen!«167 –, denn dieser Kinderkopf wirft sinnbildlich seinen Schatten voraus auf eine Hauptfigur der Chronik: die Ziehtochter Elise. So oszilliert das Schreiben zwischen Prätext, Welt und Text, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine Textstrategie der Bearbeitung »dieses großen Bilderbuches, Welt genannt«, die in ebendieser Formulierung ihre Strukturmetapher findet.168 Eine buchförmige Welt kann auch ins Buch gebracht werden. Dass dieses Erzählverfahren mit dem Begriff ›idyllisch‹ hinreichend erfasst ist, darf angezweifelt werden: Der Kinderkopf initiiert ja nicht allein die schreibende Erinnerung an Elise. Er ruft ebenso den kleinen Anton auf, das Kind der Balletttänzerin Rosalie, das stirbt, während seine Mutter für die Königin tanzen muss. Und damit signalisiert bereits die Initiationsszene der Chronik keine einfache Abkehr vom gelehrten Schreiben an De vanitate hominum – in dessen Kontext die Erwähnung der Folianten wohl zu sehen ist – hin zu einer idyllischen Nachbarschaftsschilderung. Sondern man darf das Bild durchaus simpel auffassen: Die Folianten des Gelehrten

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Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 11. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S.  11. Die Stelle bezieht sich wohlgemerkt nicht auf eine Illustration im Wandsbeker Boten, sondern entspricht einer Belebung des Textes aus dem Lesen heraus. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 12. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 13. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 13. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 14.

werden überschattet. Das ›glückliche Omen‹ ist ohne seine dunkle Seite nicht zu haben; und für das vergegenwärtigende Erzählen gilt wie für die Vergangenheit an oben zitierter Stelle: Sie folgen der Logik des Oxymorons, sind ›traurig süß‹.169 Es ist diese komplexe Form des rekursiven Vergangenheitsbezugs, die man im Blick behalten muss, um Wachholders scheinbar eskapistische Abkehr von ›Egoismus‹, Glück und Unheil in der Zukunft richtig einzuschätzen. Der Gegenwartsbezug ist jederzeit mitgedacht: »Die Erinnerung ist das Gewinde, welches die Wiege mit dem Grabe verknüpft«.170 Wie aber verhält sich diese Akzentuierung der Vergangenheit zur ökonomischen Entsagung Wachholders? Den Willen zum Reichtum hat er, wie oben gesagt, eingetauscht für die Kraft der Erinnerung. An dieser Stelle geht es um mehr: Es geht um die Abwehr von ›Egoismus‹ und ›Selbstsucht‹, es geht um die Relativierung des Selbstbezugs mitsamt seiner immanenten Zukunftsorientierung und damit um eine Kernfrage der zeitgenössischen, ökonomischen Diskussionen. 1.2.2.

Entsagung und Gemeinsinn von Johann Wolfgang Goethe und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Wilhelm Roscher

Das Motiv der Entsagung ist in seiner gesellschaftsphilosophischen und literarökonomischen Dimension bereits eingehend in der Goethe-Forschung, namentlich zum Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821), zur Sprache gekommen. Bis in die neuesten Darstellungen hinein gilt die im Untertitel der Wanderjahre apostrophierte Entsagung als spezifische Existenzform in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Entsagung garantiere in Goethes Fiktion die Objektivierung des Selbst: »Die Begrenzung eines unbedingten, subjektivistischen Strebens freiwillig auf sich zu nehmen, bedeutet folglich eine Freiheit höheren Grades, Steigerung, die Einordnung des Einzelnen ins Kosmische […]. Das Motiv der Entsagung steht immer im Zeichen der Überwindung eines übersteigerten Individualismus, der langfristig ohnehin keine Überlebensmöglichkeiten bietet und der in der Zeit, die jetzt ansteht, vollkommen obsolet wird.«171 Entsprechend ›entsagen‹ in den Wanderjahren diverse Mitglieder des Bundes (der Turmgesellschaft der Lehrjahre) auf je unterschiedliche Weise: der Theaterkunst, der Sesshaftigkeit, der unmittelba-

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In seiner Analyse des Entfremdungszusammenhangs der Idyllen bei Raabe spricht Heldt allgemeiner und stärker subjektphilosophisch orientiert von einer »Inkongruenz zwischen Mensch und Raum«, die durch das projizierende, idyllisierende Erzählen Wachholders überhaupt erst kenntlich gemacht werde. Vgl. Heldt: Isolation und Identität, S. 51. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 150. Sabine Appel: Johann Wolfgang von Goethe. Ein Porträt, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 266. In der älteren Goethe-Forschung, die bei Appel durchaus nachklingt, wurde der Entsagungsakt noch stärker als mystische Erfahrung der Selbstüberwindung gedeutet. So im Standardwerk von Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman, Tübingen 1954, S. 147: Entsagung »ist eine geistigere Lebensstufe, die nicht mit der natürlichen zusammenzufallen braucht. In der Entsagung als einer Anschauung des Ganzen kommt der Mensch zugleich erst recht zu sich selbst.«

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ren sinnlichen Liebe und überhaupt aller tendenziell subjektiv geprägten Aktivitäten. Signifi kanterweise bildet sich Wilhelm, der Protagonist der Lehrjahre, im Spätwerk zum Wundarzt aus. Der Schwenk ins Karitative, noch dazu in einem vergleichsweise niedrig gestellten Metier, hilft, die engeren individuellen Bildungsambitionen zu überwinden.172 »Einsicht in die Notwendigkeit« gesellschaft licher und naturgesetzlicher Prozesse propagiere Goethes Spätwerk und leiste damit auch der Überzeugung Vorschub, »dass das Individuelle sich überhaupt erst im Zusammenspiel mit Gleichgesinnten, in der Arbeit für die Gemeinschaft verwirklichen kann«.173 Diese Denkfigur findet sich im deutschen ökonomischen Diskurs nicht minder prominent in der Hegel’schen Rechtsphilosophie vorformuliert.174 Im Eingang zu den Paragraphen über das ›System der Bedürfnisse‹, das Hegels Wirtschaftstheorie darstellt, heißt es einschlägig: Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kann er von ihnen nur erreicht werden, insofern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen.175

Im Zugriff auf äußere Ressourcen befindet sich die Einzelperson (die ›subjektive Besonderheit‹) immer schon in einem kollektiven Zusammenhang mit anderen (in einer ›Allgemeinheit‹).176 Das Ziel des Wirtschaftens, die je individuelle Bedürfnisbefriedigung, ist somit von vornherein als vermittelt anzusehen. Und in dem Maße, wie die Einzelperson diesen Vermittlungsvorgang in ihrem eigenen ›Wissen, Wollen und Tun‹ reflektiert, erlangt sie einen vernünftigeren, ›gebildeten‹ Begriff von sich selbst im allgemeinen Zusammenhang. »Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der

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Vgl. Henkel: Entsagung, S. 39. Anneliese Klingenberg: Goethes Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden«. Quellen und Komposition, Berlin, Weimar 1972, S. 90. Darauf hat bereits Thomas Degerin in marxistischer Deutung hingewiesen: Thomas Degering: Das Elend der Entsagung. Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, Bonn 1982. Degering wendet sich gegen die orthodoxe Goethe-Forschung der Nachkriegszeit, indem er eine kritische Distanz des Autors Goethe gegen die dargestellte bürgerlichkapitalistische Wirklichkeit der ›Entsagenden‹ nachzuweisen sucht. Entsagung ist bei ihm allerdings sehr eng als Mittel der Akkumulation von Kapital bestimmt (S. 157–160). Andeutungen seiner These zur Distanznahme fi nden sich bereits bei Leo Löwenthal: Erzählkunst und Gesellschaft. Die Gesellschaftsproblematik in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, mit einer Einleitung von Frederic C. Tubach, Neuwied, Berlin 1971, S. 63. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1821], mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen auf der Grundlage der Werke 1832–1845 neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (Werke, Bd. 7), Frankfurt a.M. 1986, § 187, S. 343. Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 189, S. 346.

subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt.«177 Bildung führt letztlich auf die wissentliche und willentliche Selbstbeschränkung und Unterordnung unter einen ›Stand‹ (Ackerbau, produzierende und handelnde Gewerbe oder staatliche Verwaltung). Mit dieser bewusstseinsphilosophischen Einrichtung der Ökonomie ist eine grundlegende Weichenstellung für die deutschen Staatswissenschaften der kommenden Jahre vorgenommen. Wenn Hegel die Reflexion allgemeiner Zusammenhänge durch das Individuum als Grundlage einer gelingenden bürgerlichen Wirtschaft ansetzt, dann wendet er sich damit dezidiert gegen die von Adam Smith vorgeschlagene klassische Wirtschaftstheorie. Die Pointe der Smith’schen Ökonomie lag ja gerade in einem Effizienzmodell, das ausschließlich auf dem Eigennutzenprinzip (und also auf Partikularinteressen) aufbaut.178 Der konsequente Vollzug des Selbstinteresses jedes Wirtschaftsteilnehmers führt hierbei im System von Angebot und Nachfrage zu maximalen Wachstumseffekten und im Resulat zu der breitestmöglichen Verteilung von Gütern. Dieses Theorem der Marktallokation, das unter dem Stichwort ›invisible hand‹ Berühmtheit erlangt hat, wird von Hegel nicht übernommen.179 Statt auf die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes setzt der deutsche Philosoph auf die bewusste Regulierung der Marktvorgänge, die ebenso staatliche Regulierung wie korporative Selbstregulierung umfasst. In jedem Fall ist dabei gefordert, dass sich der (ansonsten kontingente) Einzelwille in Beziehung zur kollektiven Allgemeinheit setzt. Zwei Aspekte dieser tendenziell antiliberalistischen Orientierung 180 werden für die nachfolgenden deutschen Ökonomen bedeutsam: a) Hegel schließt die Ökonomie über ihren rechtlichen und institutionellen Zusammenhang auf: Die »Allgemeinheit als Anerkanntsein ist das Moment, welches sie [die Individuen] in ihrer Vereinzelung und Abstraktion zu konkreten, als gesellschaftlichen, Bedürfnissen, Mitteln und Weisen der Befriedigung macht«.181 Marktaktivitäten sind in diesem Sinne immer auch als sittlich und juristisch gerahmte Interaktionsvorgänge zu beschreiben. b) Gegenüber der liberalistischen Tradition hebt Hegel nachdrücklich auf das Problem des Marktversagens ab (das etwa am fundamentalen Problem der Arbeitslosigkeit augen-

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Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 187, S. 345. Smith lanciert das Eigennutzenprinzip in einer mittlerweile zum ökonomischen Gemeinplatz avancierten Pointierung des liberalen Tauschgeschäfts: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.« Smith: Wohlstand der Nationen, S. 17. Vgl. Birger P. Priddat: Hegel als Ökonom, Berlin 1990, S. 22–35. Vgl. ausführlicher zu Hegels ethischer Kritik an der ›Ökonomiegesellschaft‹ Albena Neschen: Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen, Hamburg 2008, S. 196–198. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 192, S. 349.

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scheinlich wird182) und bezieht von dort aus – in herkömmlich kameralistischer Tradition183 – einen starken Begriff wirtschaftspolitischer und ›polizeilicher‹ Staatsfürsorge: »Die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten können in Kollision miteinander kommen, und wenn sich zwar das richtige Verhältnis im Ganzen von selbst herstellt, so bedarf die Ausgleichung auch einer über beiden stehenden, mit Bewußtsein vorgenommenen Regulierung.«184 Entsprechend muss eine aktive Verteilungspolitik dort ansetzen, wo die Marktallokation eine Ungleichverteilung des erwirtschafteten Kapitalreichtums und die Einschränkung der Beschäftigungsmöglichkeiten der Bürger nach sich zieht.185 Die Hegel’sche Grundfigur der Objektivierung des subjektiven Bedürfnisses und die damit einhergehenden rechtlich-institutionalistischen und wirtschaftspolitischinterventionistischen Akzente bestimmen die deutsche Ökonomie auch in der Folgezeit. Wilhelm Roscher wendet mit seinen Grundlagen der Nationalökonomie (ab 1854) die Hegel’sche Dialektik in eine anthropologische Polarität von Eigennutzen und Gemeinsinn.186 Jeder normalen Wirtschaft, heißt es bei ihm, liegen regelmäßig zwei geistige Triebfedern zu Grunde. Zuerst der Eigennutz, selfinterest, welcher sich positiv in dem Streben äußert, möglichst viele Güter zu gewinnen, negativ in dem Streben, möglichst wenige Güter zu verlieren: Erwerbtrieb – Sparsamkeit. Bei sündlicher Ausartung wird der Eigennutz Egoismus, der Erwerbtrieb Habsucht, die Sparsamkeit Geiz.187

Roschers moralistische Zuspitzung, Eigennutzen drohe in Egoismus und Habsucht ›auszuarten‹, nimmt das gängige deutsche Ressentiment gegen die klassische Wirtschaftstheorie auf, die sich ausschließlich auf dem Prinzip des Selbstbezugs gründet.188 Obwohl Roscher wesentliche Grundlagen des Marktmodells in der Smith-Tradition 182 183 184 185

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Dass Problem liegt selbstredend darin, dass Arbeit für den Prozess der Subjektbildung als schlechthin unabdingbar angesehen wird. Priddat: Hegel als Ökonom, S. 18 u. S. 42–48. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 236, S. 384. Vgl. hierzu insbesondere Birger P. Priddat: Das allgemeine Vermögen. Eine sublunare Theoriefigur in der deutschen Ökonomie: von Justi über Hegel zu Schmoller. In: Birger P. Priddat, Produktive Kraft , sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 133–162. Den versteckten Hegelianismus bei Roscher, der allein durch eine »ziemlich primitive Form religiöser Gläubigkeit« unterdrückt werde, hat bereits Max Weber kritisch aufgezeigt. Max Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie [1903–1906]. In: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Tübingen 1951, S. 1–145, hier: S. 41. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 11, S. 24. Hier irrt Karolina Brock m.E., wenn sie Roschers Sittlichkeitsbegriff in die Tradition Smiths rückt, in der Gemeinsinn aus dem Selbstinteresse abgeleitet wird (vgl. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 50). Vielmehr bleibt auch bei ihm, wie bei seinen Nachfolgern, die Sittlichkeitssphäre strukturell vom Marktmechanismus geschieden (so wie im Übrigen auch die organizistische Metaphorik und die mechanistischen Marktbegriffe nicht aufeinander abzubilden sind und die deutsche Wirtschaftslehre entsprechend Staat und Ge-

erläutert189, umgeht er – ähnlich wie Hegel – die liberalistischen Konsequenzen. Eine Begrenzung der einzelnen, selbstbezüglichen Wirtschaftsaktivität durch ebensolche Aktivitäten der Ko-Teilnehmer und mithin das Vertrauen auf die Wirkungsmechanismen der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes ist für diese Wirtschaftsauffassung nicht akzeptabel. Entsprechend setzt Roscher einen zweiten Handlungsantrieb an – das Gewissen als ›die Stimme Gottes in uns‹: Durch diese Richtung nun wird der Eigennutz im Zaume gehalten, ja, er wird zum irdisch verständigen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt. Wie im Weltgebäude die scheinbar entgegengesetzten Bestrebungen der sog. Centrifugalkraft und Centripetalkraft die Harmonie der Sphären bewirken, so im gesellschaft lichen Leben des Menschen der Eigennutz und das Gewissen den Gemeinsinn. Auf diesem Gemeinsinne beruhet stufenweise das Familien-, Gemeinde-, Volks- und Menschheitsleben, (welches letzte mit dem Leben der Kirche zusammentreffen sollte).190

Das Gewissen als Funktion der Moralität191 schränkt den je individuellen Eigennutzen ein und macht ihn gemeinsinnfähig. Anders als noch bei Hegel wird diese Durchdringung von Partikularinteresse und Allgemeinheit aber keineswegs mehr als selbstverständlicher Bildungsprozess beschrieben, sondern als Kräftespiel. Für Hegel ist die Objektivierung der subjektiven Antriebe noch eine Funktion einer alles durchwirkenden Geistigkeit. Die scheinbare ›Beschränkung‹ des Selbst im Rahmen von Institutionen stellt sich bei ihm tatsächlich als ›vernünftige‹ Vermittlung des Privatinteresses dar.192 Roscher, wiewohl augenscheinlich von einem kosmologisch-harmonistischen Glauben an die Reziprozität von Eigennutzen und Gemeinsinnorientierung beseelt, drückt sich hier deutlich skeptischer aus. Das Eigennutzenprinzip erweist sich anscheinend als unstrittig, positiv wirksam und ist also ›allen Menschen gemein‹, während das Gewissen unter der Hand zu einer virtuellen Größe der ›Sehn-

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meinschaft nicht als Aggregat der Einzelhaushalte versteht; dieser Punkt sei angemerkt als geringfügige Kritik an Brock: Kunst der Ökonomie, S. 102). Mehr dazu in Kapitel 2. Die Smith-Rezeption und damit die Grundlagen der klassischen Ökonomie beginnen sich in Deutschland spätestens mit dem dreibändigen Lehrbuch von Rau durchzusetzen: Karl Heinrich Rau: Lehrbuch der politischen Ökonomie, 3 Bde. (Bd. 1: Volkswirthschaftslehre, Bd.  2: Volkswirthschaftspflege, Bd.  3: Finanzwissenschaft), Heidelberg 1826–1832. Dass dabei die Smith’sche Allokationstheorie durch staatswirtschaft liche Gemeinwohlkonzeptionen umgangen wird, gehört zum spezifisch deutschen Theoriedesign. Siehe für einen guten Überblick Birger P. Priddat: Nur der halbe Smith; ausführlicher stellt Priddat die Entwicklungslinien in Produktive Kraft, sittliche Ordnung und geistige Macht (1998) dar. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 11, S. 24f. Roscher setzt, als emphatischer Protestant, für Moralität gern »Stimme Gottes« ein, lässt aber auch eine philosophische Paraphrase zu, wenn er Gewissen mit »Ideen der Billigkeit, des Rechts, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und inneren Freiheit« umreißt. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 11, S. 24. Zu Roschers Religionsauffassung: Ulrich Werner: Der Einfluß der lutherischen Ethik auf die Sozial- und Wirtschaftsauffassung von Roscher und Knies, Berlin 1938. Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 207, S. 359f.

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sucht‹ wird. Das Gewissen besagt, wie »sehr auch immer bei den meisten Menschen das göttliche Ebenbild getrübt worden ist, so ist doch bei keinem die Sehnsucht nach demselben spurlos verschwunden«.193 Mit anderen Worten: Die ideale Bezugsgröße der Allgemeinheit wird hier bereits weniger als historische Wirklichkeit denn als Desiderat formuliert. Und erst in diesem Kontext erhält die Hegel’sche ›Selbstbeschränkung‹ jenes Pathos, das vom späten Goethe über den Biedermeier bis in den Realismus nach 1850 bestimmend wird: das Pathos der Entsagung. Bei Roscher und den Realisten erhält die Leistung, den ›Eigennutzen im Zaume zu halten‹, den Charakter der Aufopferung, mit der ein Bezug zum ›idealen‹ Horizont gewahrt wird. Wer sich im Zaume zu halten vermag, objektiviert nicht seinen Eigennutzen, sondern er ›verklärt‹ ihn, wie Roscher im oben stehenden Blockzitat sagt. Das poetologisch relevante Stichwort der ›Verklärung‹, dessen konzeptueller Rahmen im nächsten Kapitel zu umreißen sein wird, bezeugt dabei die Virtualisierung der idealen Bezugsgrößen. Die Hegel’sche Dialektik ist damit in ihre Koordinaten aufgelöst und in ihrem Versöhnungsversprechen zumindest problematisiert. Bewahrt wird der Fokus auf institutionelle Zusammenhänge, in denen Partikulardynamiken vermittelt und – hier greift Roscher das Hegel’sche Schlagwort auf – ›versöhnt‹ werden. »Durch den Gemeinsinn«, so Roscher, »wird dann auch der ewige, Alles zerstörende Krieg, das bellum omnium contra omnes, welches der gewissenlose Eigennutz zwischen den Einzelwirtschaften hervorrufen würde, zu einem höhern, wohlgegliederten Organismus versöhnt.«194 Diesem organischen Ganzen der Gemeinwirtschaft mit ihren verschiedenen Stufen – »die Hauswirthschaft, die Corporations- oder Associationswirthschaft, die Communalwirthschaft, die Staats-, die Volkswirthschaft«195 – haben die Untersuchungen der Nationalökonomik zu gelten. Roscher nennt die Ökonomik entsprechend eine »Anatomie oder Physiologie der Volkswirthschaft«.196 Ihre Aufgabe »ist die einfache Schilderung, zuerst der wirthschaftlichen Natur und Bedürfnisse des Volkes; zweitens der Gesetze und Anstalten, welche zur Befriedigung der letzteren bestimmt sind; endlich des größeren oder geringeren Erfolges, den sie gehabt haben«.197 An diesem Punkt trennt sich Roschers ›realistische‹ Methode von den idealistischen Vorgaben. Denn die Beschreibung dieser Institutionen könne letztlich nur in konkreter, relativistischer Forschung stattfinden. Roscher beharrt auf der empirischen Besonderheit von historisch und regional verschiedenen Einzelwirtschaften: »Es gibt ebenso wenig ein allgemein gültiges Wirtschaft sideal der Völker, wie ein allgemein passendes Kleidermaß der Individuen.«198 Vielmehr könne es sehr wohl der Fall sein, dass verschiedene ›Anstalten‹ (d.h. institutionelle Rahmenbedingungen)

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 11, S. 24. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 12, S. 28. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 12, S. 28. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 26, S. 59. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 26, S. 59. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 25, S. 58.

gleichermaßen als ideal erkannt werden müssten je nach der Spezifi k des Wirtschaftsraumes, für den sie gelten; und wer »also das Ideal einer besten Volkswirtschaft ausarbeiten wollte, – und das haben im Grunde die meisten Nationalökonomen wirklich gewollt, – der müßte, um vollkommen wahr und zugleich praktisch zu sein, ebenso viele verschiedene Ideale neben einander stellen, wie es verschiedene Volkseigenthümlichkeiten gibt«.199 Diese Untersuchung der ›Volkseigenthümlichkeiten‹ – hinsichtlich ihrer klimatischen Bedingungen, ihrer Ressourcen, der mentalen Einstellungen der Wirtschaftsteilnehmer und der institutionellen Strukturen – ist das Ziel der von Roscher und seinen Mitstreitern200 entworfenen ›physiologischen oder geschichtlichen Methode‹. Physiologisch wird sie genannt im Hinblick auf das ›organische‹ Zusammenwirken der einzelnen Teile der Wirtschaftskultur; historisch, insofern sie ›tatsächliche‹, an spezifischen Orten und zu bestimmten Zeiten beobachtbare Wirtschaftszustände beschreibt. In Kapitel 2 folgt eine eingehendere Charakteristik dieser Methode. An diesem Punkt ist die Abgrenzung gegen die so genannte ›idealistische Methode‹ festzuhalten. Roscher fasst darunter zum einen, wie angedeutet, eine normative, vom Fortschrittsoptimismus getragene Wirtschaftskonzeption, die das Ideal der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zum Maßstab der historischen Rekonstruktion erhebt. Zum anderen wird die Mathematisierung der Ökonomie als ›idealistisch‹ zurückgewiesen, insofern sie das Verhältnis von Verkäufer und Käufer ausschließlich in abstrakten Gesetzen der Preisbildung wiedergibt, ohne dabei die je spezifische kulturelle Umgebung zu analysieren, in der die Subjekte samt ihren Tauschakten eingebettet sind. Die Mathematisierung als Mittel der Abstraktion bedeute so eine unzulässige Reduktion der konkreten ›komplizierten‹ Bedingungen und Einflüsse, unter denen eine Wirtschaft abläuft. Roscher ersetzt diese Idealismen durch die historisch-relativistische Rekonstruktion, die, »wenn sie von Menschen handelt, dieselben so nehmen [muss], wie sie sind: von sehr verschiedenen, auch nichtwirthschaftlichen Motiven zugleich bewegt, einem ganz bestimmten Volke, Staate, Zeitalter angehörig u. dgl. m.«.201 Die Hinwendung zur Historie, die mit Roscher für die Nationalökonomie nach 1850 bestimmend wird, erscheint dabei selbst als ein Resultat der zeitgenössisch als problematisch empfundenen Vermittlung von Eigennutzendynamik und institutionellem Rahmen. Das mit den preußischen Reformen 1807 bis 1820202 eingeleitete Wirtschaftswachstum wird von massiven institutionellen Transformationen (u.a. Wegfall der Zünfte) begleitet, die letztlich das idealistische Integrationsversprechen schwächen. An seine Stelle tritt

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 25, S. 58f. Das hier umrissene Programm darf als paradigmatisch angesehen werden für die Ältere und Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland, die im folgenden Kapitel ausführlicher vorgestellt werden. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 22, S. 51. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat [1983], broschierte Sonderausgabe in Kassette, München 1998, S. 33–69.

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mit dem Biedermeier die entsagungsvolle ›Sehnsucht‹ und die angesprochene Umorientierung auf historische Zusammenhänge, in denen sich die tatsächliche Wirksamkeit sozialer und wirtschaftlicher Anstalten und mithin das apostrophierte Walten des Gemeinsinns weiterhin nachvollziehen lassen. Ökonomie entwirft sich in diesem historistischen Paradigma als gleichnishafte Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die den zeitgenössischen Bourgeois durch historisch-kulturalistische Schulung zu läutern beabsichtigt. In diesem Sinne beansprucht Roschers Nationalökonomie, praktisch bildend zu wirken. Verschiedene zeitlich und regional wirksame »Maßregeln« möge der Ökonom anzuerkennen lernen, um in der Lage zu sein, »nach gewissenhafter Abwägung aller Umstände, sich selbst Verhaltensmaßregeln für die Praxis zu schaffen«.203 Der intendierte Leser und gleichsam der Vorzeigetypus dieser Ökonomie ist damit der allseitig informierte, historisch-relativistisch denkende Wirtschaftspraktiker, der daran gewöhnt ist, »bei der geringsten einzelnen Handlung der Volkswirthschaftspflege immer das Ganze, nicht bloß der Volkswirthschaft, sondern des Volkslebens vor Augen« zu haben.204 Das bedeutet: Der Ökonom kalkuliert nicht allein das Produzenten- und Konsumentenverhalten bei wechselnden Parametern des Marktes (das ist die moderne Auffassung), sondern er ist gleichsam Kulturwissenschaftler, der den Output des Marktes mit gesellschaftlichen Konzepten von Moralität und Sittlichkeit in Verbindung setzt. Hier ist mithin ein Ökonom gesucht, der der besagten Gefahr, seinen Eigennutzen in Egoismus ›entarten‹ zu lassen, entgeht und sich stattdessen entsagungsbereit im Lichte der ›göttlichen‹ Idee von Sittlichkeit ›verklärt‹. 1.2.3.

Dynamische Gemeinschaften

›Lord keep my memory green.‹ – Die enge Verknüpfung zwischen einer Entsagung, die einen starken sozialen Gedanken formuliert, und der emphatischen Hinwendung an die Vergangenheit schlägt nunmehr die Brücke zwischen ökonomischem und literarischem Diskurs. Im historistischen Paradigma205 entfaltet sich eine realistische Wirklichkeitskonzeption, die einen tendenziell retrospektiven, sentimentalen Akzent mit einem starken Interesse für soziale und ordnungspolitische Institutionen verknüpft. In Literatur wie Ökonomie formuliert sich das realistische Programm als

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 29, S. 64. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 29, S. 64. Vgl. Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften [1919], 2. Aufl., Tübingen 1930; Jörn Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a.M. 1993. Für die literaturwissenschaft liche Rezeption war bahnbrechend: Lothar Köhn: Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: DVjs, Jg. 48 (1974), S.  704–766 u. DVjs, Jg. 49 (1975), S. 94–165. Mit Bezug auf die hier diskutierte Literatur: Moritz Baßler/ Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996.

anschauliche, auf konkrete Ereignisverknüpfungen angelegte Vertextungsmethode, die in ihren Untersuchungen gleichwohl stets einen idealen Bezugsrahmen mitzuartikulieren beabsichtigt. Hinsichtlich der thematischen Gegenstände ist selbstredend auf der Differenz zu beharren: Wo der Literat Raabe das wirtschaftlich blasse Milieu einer städtischen Nachbarschaft aufsucht, da interessiert sich das Lehrbuch des Ökonomen primär für den tätigen, Güter herstellenden Menschen und seine institutionelle Umgebung (für Zunft-, Zoll- oder Fabrikgesetzgebungen usw.). Einen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte im Sinne Roschers hat Raabe nicht geschrieben. Signifi kant wird der Vergleich erst auf der Ebene oberhalb der thematischen Bezüge, in der Ordnung des Erzählens. Wie gesehen, ist das Erinnern in der Chronik von einer emphatischen Abwehr von Egoismus und Reichtumsorientierung begleitet. Entsprechend bestimmt das Motiv der Uneigennützigkeit auch den Erzählaufbau: zunächst auf der Handlungsebene – in der karitativen Beziehung Wachholders zu Elise. Über diese Beziehung erfährt man wenig mehr, als dass sie die entsagende Freundschaft mit Marie und Franz Ralf fortsetzt. Elise ist, wie ihre Mutter, »das bewegende Prinzip der ganzen Hausgenossenschaft«.206 Sie hält die Nachbarschaft in Atem, und wo sie auftaucht, da lassen sich Episoden aus der Sperlingsgasse in die Chronik eintragen. Weil das Mädchen agiert, hat der auf der Handlungsebene weitestgehend inaktive Wachholder etwas zu erzählen. So entsteht aus dem Fürsorgeverhältnis, das Wachholder diegetisch beteiligt sein lässt, die passive Erzählsituation der Chronik – allerdings, und das ist die zentrale Einsicht des Romans, erst unter der Bedingung, dass das Verhältnis nicht mehr gefüllt ist: »Elise, Elise, komm zurück!«207 Erst wenn Marie tot und auch ihr Ersatz, Elise, mitsamt Ehemann fort nach Italien ist, kann überhaupt erzählt werden, lässt sich der abwesende Adressat der Fürsorge als Signifi kat der Geschichte erinnernd vergegenwärtigen. So ist es denn die doppelte Bedingung dieses Erzählens, dass je anderswo gehandelt wird.208 Die derart im aktionsfreien Raum angesiedelte Chronik ist dann auf zweifache Weise gegen ökonomische Selbstinteressen abgesetzt: Zum einen wird der immanente Rezipientenbezug einer Verwertungslogik entzogen. Formelhaft – und typisch für viele Raabe-Romane – wendet sich der Erzähler von seinem Publikum ab: »[I]ch schreibe keinen Roman. […] Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie? //Doch

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Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 58. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 56. Nathali Jückstock-Kießling hat jüngst noch einmal auf die neutrale, unpolitische Haltung Wachholders hingewiesen, die es ihm erlaubt, verschiedene politische Stimmen in seine Chronik einzuspeisen. Vgl. Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen 2004, S. 56–62. In dieser Arbeit wird zu verfolgen sein, in welcher Weise dieser neutrale Repräsentationsstandpunkt eine paradigmatische Position im diskursiven Feld ausmacht.

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– einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen«.209 Auf äußeren Nutzen hin (für eine Leserschaft) soll das Erzählen in der Chronik nicht stattfinden.210 Zum anderen ist der auktoriale Alleinvertretungsanspruch auf die Repräsentation der Sperlingsgasse aufgehoben. Im Chronikformat finden nicht nur diverse Binnenerzählungen Platz, sondern auch Fremdeinträge wie die Liebestexte des Lehrers Roder oder die Strobeliana, die auf derselben narrativen Ebene wie Wachholders Einträge angesiedelt sind. So wird Wachholders Blick auf die Gasse polyperspektivisch relativiert und das Erzählen eines Einzelnen durch das Erzählgefüge einer lokalen Hausgemeinschaft erweitert. Für eine etwaige Mikroökonomie innerhalb der Diegese bleibt dieses kollektive Schreiben folgenlos, denn wo kein Leser prätendiert ist, werden auch urheber- und vermarktungsrechtliche Fragen eines solchen Teamworks irrelevant, ganz im Sinne von Wachholders selbst erklärter Poetik: Wir alle sind Sonntagskinder, in jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des Marktes.211

Darin bestünde die anökonomische Lehre des Chronikformats: ›Sonntagskinder‹ (lies: Schreibende) hegen ihre Fähigkeiten eben gegen den ›Lärm des Marktes‹. Zum Teil spielt der Roman hiermit unter der Hand auf die Momente Zweckfreiheit und Interesselosigkeit an, die seit der Autonomwerdung des literarischen Feldes in der Genieepoche die Kunst gegen andere soziale Tätigkeitsbereiche kategorial abgrenzen.212 Die Reinigung von eigenen Verwertungsabsichten, die Zurückweisung von unmittelbaren finanziellen Interessen, kurz: die programmatische Verweigerung einer Konsumtionslogik – das ist die Strategie der nichtmonetären Valorisierung von Kunst. Bereicherung durch professionelles Erzählen, Wuchern auf dem ›lärmenden Markt‹ – so etwas darf getrost der Unterhaltungsliteratur überlassen bleiben! Das bleibende, chronistisch wahrhaftige Erzählen weiß sich in sicherer Distanz. Die ästhetische Autonomiebehauptung bleibt in Wachholders Reflexionen gleichwohl implizit, und das aus gutem Grunde. Schließlich tritt dieser Erzähler nicht als Künstler, sondern als Gelehrter und Chronist auf. Dieses neutrale, dezidiert unartistische Selbstverständnis ist für seinen Diskurs wichtig. Es bestimmt auch das spätere Werk Raabes. Sechs Jahre nach der Chronik positioniert er in Die Leute aus

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Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 75. Das ist natürlich eine Selbststilisierung im Roman. Der Autor Raabe war sich der Marktbedingungen seines Schreibens sehr wohl bewusst und hat bekanntlich sensibel auf den ökonomischen Misserfolg seiner Spätwerke reagiert. Vgl. auch den konzisen Abriss zum wirkungsästhetischen Selbstverständnis Raabes als freier Schriftsteller bei Horst Denkler: Wilhelm Raabe. Leben – Legende – Literatur, Tübingen 1989, S. 151–154. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 36. Die Arbeiten zur Kunstautonomie sind Legion. Für die hier relevante Forschung zu Ökonomie und Literatur verweise ich auf Martha Woodmansee: The Author, Art, and the Market. Rereading the History of Aesthetics, New York 1994, darin besonders: The Interest in Desinterestedness, S. 11–33.

dem Walde (1862) sein Erzählprojekt in sinnfälliger Weise gegen selbstreferenzielle, ästhetizistische Tendenzen, wenn der Luftikus und Schauspieler Julius Schminkert karikiert wird: »Julius Schminkert war ein Künstler, ein Künstler in des Wortes verwegenster Bedeutung, und nur deshalb kein Genie, weil er die eine Grundbedingung der Genialität, Selbstvertrauen, in zu hohem Grade, und die andere, Konzentrationsfähigkeit, in zu geringem Maße oder, besser gesagt, gar nicht besaß.«213 Wer Ästhetik absolut setzt und sich im anspruchsvollsten Sinne des Wortes als Künstler behauptet, der dient dem realistischen Erzähler allenfalls als Lachnummer. Er mag einen erzählenswerten Gegenstand abgeben; zur ordnenden Repräsentationsinstanz aber taugt er selbst nicht. Denn die Funktion des Erzählers verlangt eben auch ›Konzentrationsfähigkeit‹ und Weitblick. So heißt es vom Künstlertypus Schminkert: Gentile Schäbigkeit umhauchte die ganze Erscheinung, und etwas Unwägbares, Unfaßbares, Unfühlbares, welches seinen Sitz ebenso gut in dem lockern Halstuch wie in den hellblauen Zeugstiefelchen haben konnte, verkündete unwiderleglich, daß der Gegenstand unserer Schilderung mit mehr Phantasie als Verstand begabt sei und daß er nicht zu jenen soliden Klassen und Stützpfeilern der Gesellschaft gehöre, auf welche das Auge des Nationalökonomen mit Wohlgefallen blickt.214

Der realistische Erzähler vermag nicht nur den eigenwilligen Künstlergecken vorzuführen, er kann auch einschätzen, auf wen ›das Auge des Nationalökonomen‹ mit ›Wohlgefallen‹ blickt. Denn er steht selbst auf mittlerer Distanz zwischen der Boheme und den soliden Klassen der Gesellschaft. Folgerichtig vermag der auktoriale Erzähler in Die Leute aus dem Walde auch die jeweiligen Diskurse nach Belieben abzubilden. Da führt er mit Vergnügen Schminkerts hoch digressive, mit literarischen und historischen Assoziationen überfrachtete Deklamationen vor.215 Während er ein andermal selbst in die Sprechrolle der Börsenberichte schlüpft, um ein Fest beim Bankier Wienand zu schildern: »Die ältern Herren unverändert – Konsumgeschäft. Die jüngern Herren in matter Haltung zur Notiz. Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen.«216 Solche Virtuosenstücke verdanken sich einer gelehrten Erzählerposition, die sich oberhalb der partikularen Diskursfelder – betont subjektiver Kunstauftritte und ökonomischer Darstellungszusammenhänge – anzusiedeln beabsichtigt. In diese Richtung einer Objektivierung durch Polyperspektivierung zielt Raabes narratives Projekt.

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Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde, Ihre Sterne, Wege und Schicksale. Ein Roman [1862]. In: BA, Bd. 5, Göttingen 1962, S. 28. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 28. Vgl. z.B. Schminkerts Bericht über Eva Dornbluths Abreise nach Amerika mit Friedrich Wolf, dem Bruder des Protagonisten Robert Wolf. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 140–145. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 64.

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Mit derartigen Erzählern und Gelehrten vom Schlage Wachholders217 will der realistische Text also ebenso Fühlung zur luftigen künstlerischen Phantasie wie zur soliden, nationalökonomisch erfassbaren Verstandesleistung halten. Wie bereits angedeutet, gelingt diese Fühlung auch, weil sich die zeitgenössische deutsche Nationalökonomie selbst anschlussfähig zeigt, indem sie nicht allein auf indviduellem Nutzenkalkül und monetären Codes aufbaut, sondern auf weit reichenden überindividuellen, kulturellen und historischen Fragestellungen. Ähnlich wie der Literatur geht es nach 1850 auch der Ökonomie in der Nachfolge Wilhelm Roschers um altruistische Motive und die Beobachtung von gemeinschaftlichen Zusammenhängen. Wenn Raabe mit der Chronik eine Struktur schafft , die nicht nur auf der Ebene der erzählten Welt, sondern auch in der Narration Gemeinschaftlichkeit thematisiert, so entspricht das genau ihrer Problemstellung. Roscher hatte 1854 den Gemeinsinn in den Mittelpunkt der Überlegungen zur Egoismusprävention gestellt. Auf ihm beruhen »stufenweise das Familien-, Gemeinde-, Volks- und Menschheitsleben, (welches letzte mit dem Leben der Kirche zusammenfallen sollte)«.218 Nicht unerwartet trifft man in der Chronik (1856) auf eine ähnliche Durchstufung: Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte – Gottes!219

Nur fügt Raabe, bei Gott angekommen, hinzu: »Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um«.220 Die Totalität (Gott!), die Roscher dezisionistisch voraussetzt, ist für den Literaten fragwürdig geworden. Schon seine Allegorie der Menschheitsverfassung – auf einem Esel, ohne erkennbares Ziel trottend221 – lässt keinen religiösen Überbau des irdischen Wandels erkennen. Stattdessen gibt Raabes Erzähler einen Richtungswechsel vor: »Kehren wir schnell um, und steigen wir die Treppen hinunter in das unterste Stockwerk.«222 Gemeinschaftlichkeit wird hier auf den unteren Stufen konstruiert: über sinnliche Gegenstände, die von Hand zu Hand gehen (eine »vertrocknete Blume«223), über Gegenstände, die in Wachholders Zimmer archiviert sind und zu Medien seiner Erinnerung an nachbarschaftliches Zusammensein werden. Entsprechend lernt man hier, in den Worten des Karikaturenmalers Strobel, auch den Keim der »wunderbaren Religion« am 24. Dezember nicht

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In Abschnitt 5.2.5. werde ich diese narrative Instanz als Beamtenerzähler weiter qualifizieren. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §  11, S.  24f. Siehe Abschnitt 1.2.2. dieser Arbeit. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 92. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 92. Vgl. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 31. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 92. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 142.

in der Kirche, sondern auf dem Weihnachtsmarkt kennen.224 Erbaulich sind diese Worte wohl nicht aufzufassen. »[D]enn um die Mysterien eines Weihnachtsmarktes zu durchdringen, ist es jedenfalls nötig, ein Kind bei sich zu haben.«225 Das Kind, das Wachholder und Strobel daraufhin treffen, ist Anton – das Kind der Balletttänzerin, das wenige Wochen nach dem Besuch des Weihnachtsmarktes stirbt (und dessen Schatten entsprechend auf Wachholders Folianten in der Eingangsszene fällt). Gemeinschaften, so zeigt es die Chronik, sind fragil. Wie das Erzählen von Wachholder zwischen Abwesenheit und Vergegenwärtigung oszilliert, so geraten die Figuren in ein Wechselspiel von Zusammenführung und Zerfall, Kommen und Gehen. Die erzählten Verbindungen in der Nachbarschaft werfen wie das Erinnern keine statischen Bilder ab – sie sind ebenso temporäre Phänomene, ebenso changierend ›traurig süß‹. Wie diese dynamische Poetik eines Gemeinsinns auf ›unterer Stufe‹ sich gegen die entsprechenden wissenschaftlichen Konzeptualisierungen verhält, wird in dieser Arbeit zu verfolgen sein.

1.3.

Forschungsüberblick

Ehe sich die Arbeit weiter ihrem Gegenstandsbereich widmet, ist es an der Zeit, einige Bemerkungen zur hier diskutierten Forschungsfrage und zur Methode ihrer Untersuchung zu machen. Für eine weit umfassendere Literaturschau, als sie hier vorgenommen werden soll, sei vorab auf die einschlägigen Publikationen von Martha Woodmansee/Mark Osteen (The New Economic Criticism, 1999)226 und Bernd Blaschke (Der homo oeconomicus, 2004)227 sowie auf eine neuere Zusammenfassung von Dirk Hempel/Christine Künzel (»Denn wovon lebt der Mensch«, 2009)228 verwiesen. Die Überblicksdarstellungen präsentieren ein breites und überaus heterogenes Spektrum an neueren ›literarökonomischen‹ Forschungsansätzen. Themen wie: das Medium Geld und seine kognitiven Auswirkungen229, der symbolische und monetäre

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Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 50. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 51. Mark Osteen/Martha Woodmansee: Taking Account of the New Economic Criticism, S. 3–50. Blaschke: Der homo oeconomicus, S. 37–106. Dirk Hempel/Christine Künzel: Einleitung. In: Dirk Hempel/Christine Künzel (Hg.), »Denn wovon lebt der Mensch«. Literatur und Wirtschaft, Frankfurt a.M. et al. 2009, S. 9–18. Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a.M. 1996; Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004; Enrik Lauer: Literarischer Monetarismus. Studien zur Homologie von Sinn und Geld bei Goethe, Goux, Sohn-Rethel, Simmel und Luhmann, St. Ingbert 1994. Richard T. Gray: Money Matters. Economics and the German Cultural Imagination 1770–1850, Seattle, London 2008.

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Tausch230, der Homo oeconomicus und seine Handlungsrationalität231, Konzepte des Wertes232, der Arbeit233 und des Marktes234 markieren in diesem Feld nur einige der prominentesten Aspekte, unter denen ökonomische Fragestellungen in literarischen Texten beleuchtet werden. Der amerikanische Ökonom Michael Watts hat vor nicht allzu langer Zeit eine Anthologie mit Primärtexten vorgelegt, die größtenteils englischsprachige Prosa, Dramatik und Lyrik unter entsprechenden thematischen Fragestellungen zusammenfasst und sie mit einer ökonomisch popularisierenden, literarisch liebhaberhaften Kommentierung versieht.235 Diese Bündelung des literarökonomischen Korpus entspricht der sprunghaft angewachsenen Forschung. Dass die besagte Themenliste mittlerweile auch auf eine ganze Reihe von deutschsprachigen Untersuchungen verweisen kann, reflektiert eine Entwicklung der letzten Jahre, die mit der Finanzkrise 2008 noch einmal einen Schub bekommen hat.236 Noch 1996 musste Jochen Hörisch in seinem Standardwerk Kopf oder Zahl konstatieren, dass, ungeachtet der reichhaltigen Geldmotive in der Weltliteratur, eine entsprechende Sekundärliteratur kaum vorhanden sei.237 Tatsächlich gab es zuvor zwar eine Tradition sozialgeschichtlicher, oft marxistisch argumentierender Untersuchungen, die ökonomische Sachverhalte behandelten. Aber diese Untersuchungen verblieben zumeist im engen Rahmen einer Widerspiegelungsästhetik. Ihr literaturwissenschaftliches Interesse lag in Inhaltsanalysen. Fragen nach der Genauigkeit der literarischen Abbildung von Produktionsverhältnissen verbanden sich – jedenfalls was die marxistische Auslegung anbelangte – mit Werturteilen über die ideologischen Standpunkte der Werke und ihrer Autoren.238 Monographien zu Kaufmanns-

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Thomas Wegmann: Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe, Würzburg 2002. Blaschke: Der homo oeconomicus; Fritz Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes. Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller, Tübingen 1997. André Lottmann: Arbeitsverhältnisse. Der arbeitende Mensch in Goethes »Wilhelm Meister«-Romanen und in der Geschichte der Politischen Ökonomie, Würzburg 2011. Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing, Tübingen 2005. Michael Watts (Hg.): The Literary Book of Economics. Including Readings from Literature and Drama on Economic Concepts, Issues, and Themes, Wilmington 2003. Vgl. den Sammelband zur Innsbrucker Ringvorlesung 2009 von Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literatur und Ökonomie, Innsbruck 2010. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 21. Die Einschätzung der Text-Ideologie als ›affirmativ‹ oder ›subversiv‹ hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs wurde zum klassischen Topos eines guten – nicht des schlechtesten! – Teils der germanistischen Forschung nach 1945. Vgl. etwa Autorenkollektiv sozialistischer Literaturwissenschaft ler Westberlin: Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im Klassenkampf. Grundlagen einer historisch-materialistischen Literaturwissenschaft , Berlin 1972.

bildern, Industriellenfiguren, zu Arbeiter- oder Fabrikdarstellungen waren Früchte dieses früheren Forschungsprogramms.239 Mit einem Sammelband Der literarische Homo oeconomicus, den der Mediävist und Frühneuzeitforscher Werner Wunderlich 1989 herausbrachte, kündigte sich eine Neuausrichtung an. Zum einen, weil man sich nunmehr, wie schon der Titel erkennen lässt, näher an Vorgaben der liberalen Wirtschaftstheorie orientierte. Zum anderen, weil mit dieser Annäherung die Frage nach der eigenen literaturwissenschaftlichen Methodik wieder stärker ins Blickfeld rückte. So qualifizierte Wunderlich in seinem Vorwort den Begriff des ›Homo oeconomicus‹ als »Tropus, mit dessen Hilfe Wirtschafts- und Sozialtheorie Modellvorstellungen ökonomischer Handlungsrationalität personifizieren«.240 Der mit diesem Fokus mögliche textanalytische Zugriff auch auf wirtschafts- und sozialtheoretische Korpora, in denen ebendas Konzept des ›Homo oeconomicus‹ maßgebend gebildet wird, blieb in den anschließenden Untersuchungen gleichwohl aus. Die Beiträge des Bandes zeigten sich literaturhistorisch und motivgeschichtlich interessiert und beließen ihr ökonomisches Wissen im Hintergrund der Überlegungen. Diese tendenziell literaturimmanente Schwerpunktsetzung hält vielfach bis heute vor. Wenn in jüngeren Studien von Werner Wunderlich (»Geld im Sack und nimmer Not«, 2007)241 oder auch Bernd Blaschke (Der homo oeconomicus, 2004) nach dem ›Homo oeconomicus‹ gefragt wird, dann bedient man sich der Ökonomie wie eines neutralen Wissensspeichers. Mit rein inhaltlichem Zugriff bezieht man von dort Konzepte, um einzelne Themen und Handlungsabläufe in der Literatur wirtschaftsaffin zu fokussieren. Die fruchtbringende diskursanalytische und literaturwissenschaftliche Frage nach der textuellen Konstitution des in Anspruch genommenen außerliterarischen Wissens bleibt dabei ausgespart. Eine stärkere Abkehr von solch thematischen Zugriffen bedeuteten in den 1980er und 1990er Jahren die bahnbrechenden Arbeiten von Jochen Hörisch (Gott, Geld und Glück, 1983242; Kopf oder Zahl, 1996). Auch sie waren tendenziell literaturimmanent

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Vgl. den (selbst-)kritischen Rückblick auf dieses Forschungsprogramm, insbesondere auch zur Problematik der Vermischung von ästhetischen und politischen Kategorien, bei Hugh Ridley: Die Fabrik als Aufschreibesystem. In: Martina Lauster/Günter Oesterle (Hg.), Vormärzliteratur in europäischer Perspektive, Bd. II (Politische Revolution – Industrielle Revolution – Ästhetische Revolution), Bielefeld 1998, S.  111–121, hier: S.  111–113. Vgl. aus der nichtideologiekritischen sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft Gertrud Milkereit: Das Unternehmerbild im zeitkritischen Roman des Vormärz, Köln 1970; Ilsedore Ratrisch: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption der frühen Industrialisierung, Berlin 1977. Werner Wunderlich: Der literarische Homo oeconomicus. Allegorie und Figur. In: Werner Wunderlich (Hg.), Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern, Stuttgart 1989, S. 9–21, hier: S. 14. Werner Wunderlich: »Geld im Sack und nimmer Not«. Betrachtungen zum literarischen Homo oeconomicus, Zürich 2007. Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe, Frankfurt a.M. 1983.

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orientiert, leisteten aber einen Anschluss an stärker poetologische Fragestellungen, die im angelsächsischen Raum seit den späten 1970er Jahren Verbreitung fanden, namentlich in den Pionierstudien von Marc Shell (The Economy of Literature, 1978; Money, Language, and Thought, 1982)243 und Kurt Heinzelman (The Economics of the Imagination, 1980). Untersucht wurden hier die »Perspektiven, in denen Literatur selbst Geld beobachtet« (Hörisch).244 Man fragte nach dem systematischen tropischen Zusammenhang von Geld und Sprache (Shell).245 Statt dem mimetischen Gehalt von Kunstwerken galt das Interesse jetzt ihrer Fiktionalität und poetischen Zeichenhaftigkeit. Programmatisch heißt es dazu bei Hörisch: »[N]ichts ist weniger gedeckt als die poetische Rede. Ebendeshalb aber kann Dichtung solchen ansonsten eher vermiedenen Fragestellungen wie der nach der Geltung und Deckung anderer Codes nachgehen.«246 Hier wurde nach Fundamentalerem gefragt: Die Regulierungsprinzipien (Codes) von Geld-, Kredit- und Tauschverkehr wurden zum Forschungsgegenstand. Und damit verband sich gleichzeitig das literaturwissenschaft liche Versprechen, dass diese Prinzipien ökonomischer Prozesse beschreibbar würden mittels genauer Analyse der ›ungedeckten‹ Rede klassischer Dichtungen. Mit anderen Worten: Der Diskurs der Dichtung sollte in Beziehung gesetzt werden zu ökonomischen Strukturzusammenhängen, und ebendas erforderte ein Abrücken von der Frage, welche Figuren und Handlungen in der histoire repräsentiert sind, zugunsten der komplexeren Frage nach dem strukturalen Aufbau des poetischen Diskurses. Was hierbei ›Strukturzusammenhang‹ genannt wird, ist in der Folge unterschiedlich aufgefasst worden. Die an Niklas Luhmann orientierte Literaturwissenschaft begreift ihn als ›System‹. Jochen Hörisch selbst nutzt die Luhmann’sche Begrifflichkeit, wenn er ökonomisches Wissen (etwa Definitionen von Kategorien wie ›Medium‹, ›Knappheit‹ oder ›Geld‹) in seine Lektüren einfließen lässt (seine Textanalysen operieren hingegen mit dem Vokabular der klassischen Rhetorik). Andere (post-)strukturalistische Ansätze neigen dazu, vom ›Diskurs‹ der Ökonomie (und vice versa vom ›Diskurs‹ der Literatur) zu sprechen. Hier gibt es eine weitere Auslegung, die den Diskurs nicht nur auf seine manifesten Begriffszusammenhänge abklopft, sondern darüber hinaus die transzendentalen, regulativen Bedingungen offenlegen will, die diese Zusammenhänge zwischen Ereignissen, Aussagen, Handlungen, Praktiken etc. hervorbringen. Neben den einschlägigen Abschnitten in Michel

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Marc Shell: The Economy of Literature, Baltimore, London 1978; Marc Shell: Money, Language, and Thought. Literary and Philosophic Economies from the Medieval to the Modern Era [1982], Baltimore, London 1993. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 26. So lautet Mark Shells These: »[M]oney, which refers to a system of tropes, is also an ›internal‹ participant in the logical or semiological organization of language, which itself refers to a system of tropes.« Shell: Money, Language, and Thought, S. 3. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 18.

Foucaults Die Ordnung der Dinge (1966)247 ist hier die bereits mehrfach erwähnte Arbeit von Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft (2002), zu nennen. Und es gibt die engere Auffassung, die vom Diskurs als Redezusammenhang ausgeht und entsprechend die Regelmäßigkeiten der Selektion und Kombination in gegebenen Texten (der Literatur und der Ökonomie) untersucht, mithin: die paradigmatische Achse von Texten. In dieser Weise textnähere Diskursanalysen stammen aus der amerikanischen Wissenschaft, u.a. von Walter Benn Michaels (The Gold Standard and the Logic of Naturalism, 1987248) und Willi Henderson (Economics as Literature, 1995); in Deutschland hat Franziska Schößler (Börsenfieber und Kaufrausch, 2009) jüngst diesen Weg beschritten. Das Gegenüber entspricht der Ausdifferenzierung zwischen (Foucault’scher) Diskursanalyse und New Historicism. Es wird in den nächsten Abschnitten ausführlicher zur Sprache kommen. Gemeinsam verabschieden diese Untersuchungsrichtungen, die das Gros der heutigen, ›literarökonomisch‹ genannten Forschung ausmachen, die reine Inhaltsanalytik zugunsten strukturaler Betrachtungsweisen. Dass darüber hinaus viele Gemeinsamkeiten bestünden, lässt sich kaum sagen. In Themenwahl und Methodik ist das Feld der Literarökonomik, wie voranstehend angedeutet, überaus heterogen. Eine Auseinandersetzung mit einzelnen Studien empfiehlt sich daher im Konkreten dort, wo sich Erkenntnisse fruchtbringend für die hier dargelegten Analysen zeigen. Einzig auf die paradigmenbildende Untersuchung von Joseph Vogl Kalkül und Leidenschaft möchte ich gesondert eingehen, insofern sie für die Methodik und Fragestellungen meiner eigenen Untersuchung zur Diskursivität der poetisch-realistischen Ökonomie und Literatur nach 1850 von entscheidender Bedeutung war. Dazu gleich mehr in den folgenden Abschnitten. Was nicht in den Rahmen meiner Untersuchung fällt, ist das weite Feld der Buchmarktforschung, das Woodmansee/Osteen ausdrücklich der Literarökonomik zuschlagen. Schon Wilhelm Scherer hatte, wie in den oben stehenden Abschnitten geschildert, zwischen ›Gebrauchswert‹ und ›Tauschwert‹ des Kunstwerks auf dem literarischen Markt unterschieden. Der Gebrauchswert betrifft dabei die Literatur als signifi kanten Zeichenzusammenhang; der Tauschwert die in Preisen zu taxierende Ware ›Literatur‹. In der aktuellen Forschung lässt sich eine vergleichbare Zweiteilung ausmachen. Woodmansee/Osteen nennen Programme, die sich den Zeichenstrukturen von Diskursen widmen, ›formalistisch‹, insofern sie die formale und semiotische Struktur von Texten untersuchen. Ihre Frage ist im Kern linguistisch und literaturwissenschaftlich. Die am ›Tauschwert‹ orientierte Untersuchungsrichtung

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Michel Foucault: Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [franz. 1966], übers. von Ulrich Köppen, 14. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, besonders: S. 211–266, S. 274–279 u. S. 310–322. Walter Benn Michaels: The Gold Standard and the Logic of Naturalism. American Literature at the Turn of the Century, Berkley, Los Angeles, London 1987.

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konzentriert sich demgegenüber auf die Genese des Literaturmarktes.249 Sie fragt nach Urheberschaftsgesetzen, nach Honorarhöhen, nach Verlegerbeziehungen von Autoren, nach Strategien zur Gewinnmaximierung und Ähnlichem.250 Ihre Frage ist im Kern ökonomisch. Deshalb sind bemerkenswerte Studien hierzu auch von Wirtschaftswissenschaftlern vorgelegt worden, etwa Manfred Tietzels Literaturökonomik (1995).251 Die vorliegende Arbeit, insofern sie literaturwissenschaftlich verfährt, befindet sich auf Seiten des ›formalistischen‹ Ansatzes. Ökonomische Konzeptualisierungen von ›Literatur als Ware‹ nimmt sie dabei nicht als gegebene Instrumente hin, sondern unterwirft sie selbst der historischen Untersuchung. Um eine Verallgemeinerung des ökonomischen Standpunkts, wie sie teilweise die Untersuchungen zum ›Homo oeconomicus‹ erkennen lassen, kann es in einer textanalytisch geschulten Literaturwissenschaft nicht gehen. Ihr Interesse macht sich immer an der rhetorischen und poetischen Hervorbringung von Inhalten fest. In diesem Sinne werden in dieser Arbeit ökonomische Konzepte selbst zum Gegenstand der literaturwissenschaft lichen Betrachtung. Nicht ›Literatur als Ware‹, sondern ›Ökonomie als Text‹. 1.3.1.

Joseph Vogls Kalkül und Leidenschaft

Die komplexeste Darstellung der Genese des modernen ökonomischen Diskurses ist von Joseph Vogl in seiner umfangreichen, diskursanalytischen Studie Kalkül und Leidenschaft (2002) vorgelegt worden. Schon im Ansatz unterscheidet sie sich von vielen anderen literarökonomischen Projekten. Denn hier geht es nicht um die Interpretation literarischer Texte auf Grundlage eines ökonomischen Basiswissens, über das man selbst nicht weiter aufgeklärt wird. Vogl untersucht vielmehr die Historizität ebendieses ökonomischen Wissens. Dazu kommen neben literarischen Texten auch klassische Schriften der Politischen Ökonomie sowie Texte aus Physiologie, Chemie und Politik ins Blickfeld. Der Vergleich der Korpora zielt auf ihre zugrunde liegende Wissensformation, die das ökonomische Denken zwischen Aufk lärung und Moderne strukturiert. Vogl beschreibt zunächst die im Zeitalter der Aufk lärung beginnende Ausgliederung des ökonomischen Wissens aus der Politik, um in einem zweiten Schritt die Neuformulierung eigenständiger ökonomischer Kategorien und damit die Formie249

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Nils Werber: Der Markt der Musen; Martha Woodmansee: The Author, Art, and the Market; aus marxistischer Sicht: Lutz Winkler: Entstehung und Funktion des literarischen Marktes. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn et al. 1981; Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert; als Einzeluntersuchungen zum Korpus dieser Arbeit siehe Ulrike Koller: Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen, Göttingen 1994; Wolfgang Wiesmüller: Adalbert Stifter und Gustav Heckenast. Einblicke in die ökonomischen Beziehungen zwischen Schriftsteller und Verleger im 19. Jahrhundert. In: Sieglinde Klettenhammer (Hg.), Literatur und Ökonomie, Innsbruck 2010, S. 110–124. Manfred Tietzel: Literaturökonomik, Tübingen 1995.

rung eines autonomen Wirtschaftsdiskurses um 1800 zu erörtern.252 Dabei stelle dieses neue ökonomische Wissen nicht einfach einen Diskurs unter vielen dar; es sei kein »geschlossenes Funktionssystem«, das »als partielle Realität neben andere Realitäten seit dem 19. Jahrhundert tritt«, sondern die Ökonomie setze sich selbst als »›Basis‹ anderer Wissensformen« und erlange so Priorität in der Beschreibung sozialer Realität.253 Mit anderen Worten: Der moderne Mensch versteht sich in den Begriffen des ›ökonomischen Menschen‹. Wie kommt es zu diesem Schritt? Die Herausbildung der neuzeitlichen Ökonomie setzt mit der Ablösung einer einheitlichen politisch-ökonomischen Konzeption ein, die auf das aristotelische ›oikos‹-Modell zurückgeht. Dieses Modell basiert nicht auf den Einzelwillen der Individuen, sondern auf dem sozialen Verbund. Der Staat stellt darin ein Abbild des Hauses (›oikos‹)254 und der Familie dar. Wie der Vater dem Haushalt vorsteht, so regiert der Souverän die Polis. Den gesamten politischen Raum durchzieht entsprechend ein binäres, hierarchisches Gefüge von Herrscher und Beherrschtem, wobei die souveräne Macht der Herrschaft als ›Fixpunkt‹ nicht auf die Regierten rückführbar ist.255 Diese grundlegende Homogenität des politischen und ökonomischen Zusammenhangs löst sich in den Naturrechtslehren der Aufk lärung auf. Die Formierung des politischen Körpers wird jetzt auf eine initiale Übereinkunft von Individuen zurückgeführt, die im Staatsvertrag ihre souveränen Rechte an den Herrscher abtreten. Dieser Seite der politisch-repräsentativen, institutionellen Bildung des Staates tritt ein empirisches Staatswissen gegenüber256; Staat und Haus (›oikos‹) verlieren ihre Einheit. Denn, so die Denkfigur, wo der Hausvater den ökonomischen Zusammenhang seines Anwesens mit eigenen Augen überschauen kann, da erblickt der Souverän das

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Diese zeitliche Situierung der Wissenstransformationen in der frühen Aufk lärung (etwa ab 1650) sowie um 1800 verdankt sich der diskursanalytischen Perspektive der Arbeit und entspricht der Foucault’schen Differenz zwischen der klassischen und der modernen Episteme, gemäß der Ordnung der Dinge (1966). Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 347. In dieser These unterscheidet sich Vogl von Niklas Luhmann, der ansonsten, was die Charakteristik des modernen autopoetischen Wirtschaftssystems anbelangt, als zweiter Gewährsmann der Studie gelten darf. Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft [1988], 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, besonders: S. 43–90. Was Vogl hier nur anreißt, hat er unlängst weiter ausgeführt; siehe Joseph Vogl: Epoche des ökonomischen Menschen. In: Dirk Hempel/Christine Künzel (Hg.), »Denn wovon lebt der Mensch«. Literatur und Wirtschaft, Frankfurt a.M. et al. 2009, S. 19–36. Die These wird in Ökonomie und Sozialphilosophie als ›ökonomischer Imperialismus‹ diskutiert. Vgl. Norbert Brieskorn/Johannes Wallacher (Hg.): Homo oeconomicus. Der Mensch der Zukunft?, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 33–37. Der prominenteste Vertreter des ›ökonomischen Imperialismus‹ ist der bereits erwähnte Chicagoer Ökonom Gary Becker. Vgl. Gary S. Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens [engl. 1976], Tübingen 1982. Bekanntlich geht der Begriff ›Ökonomie‹ als Haushaltsführung auf diese griechische Wurzel zurück. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 47–49. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 38f.

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tatsächliche Staatsleben »›nur durch die Augen anderer‹«.257 Das aus diesem Denken entstehende empirische Staatswissen beginnt dementsprechend, die ›wirklichen Kräfteverhältnisse‹ des Staates, seine Bevölkerungszahl, die Wirtschaftsoperationen, die Wohlfahrt und Ähnliches statistisch-buchhalterisch zu registrieren (Kameralismus) und auf diese Verhältnisse praktisch kontrollierend und regulierend einzuwirken (Policey).258 Es entstehen die ›Zwei Körper des Staates‹ – politisch-repräsentativ und empirisch-physisch259 –, denen Vogl zwei gegensätzliche Darstellungsweisen des Wissens, zwei poetische Programme260, zuordnet: das ›Theater-Programm‹, das etwa über das Sympathie-Konzept261 auf die Herstellung personaler, vertraglicher Bindungen und damit auf die moralische und repräsentative Seite des Staatslebens abzielt262; und das ›Diagrammatische oder Tableau-Programm‹, das Vogl an der Gattung des Romans festmacht. In diesem Programm stehen die Zusammenführung und Ordnung kontingenter Ereignisfolgen im Vordergrund.263 Der abschließende Teil der Studie widmet sich anhand der romantischen Ökonomie und Poetik (insbesondere bei Novalis) und des Spätwerks von Goethe der Formierung der modernen Ökonomie um 1800. Die umfangreiche kategoriale Neubestimmung lässt dabei drei zentrale Gesichtspunkte erkennen: einen systemtheoretischen, einen anthropologischen und einen semiotischen. 1) systemtheoretisch: Die Aufk lärung ist bestimmt von einem Zirkulations- und Kompensationsdenken, das auf permanenten, zyklischen Ausgleich von Disproportionen abzielt.264 Für die Ökonomie heißt das: Wenn irgendwo in der Wirtschaft ein Mangel auftritt, dann spricht das dafür, dass anderswo ein Übermaß an Gütern vorhanden ist, das darauf wartet, in den Umlauf gebracht zu werden. Tausch bedeutet ein permanentes Austarieren von Ungleichgewichten, wobei dieses Austarieren noch in der Form der politischen Intervention gedacht wird. Dieses Kompensationsmodell – der ›Homo compensator‹ – wird in der Nachfolge von Adam Smith durch die offene, autoregulative Ökonomie des ›Homo oeconomicus‹ abgelöst. Grundlegend ist hierfür die Umwertung der Kategorie des ›Mangels‹. Denn im Mangel als ›Knappheit‹ findet das ökonomische System ein immanentes Steuerungsprinzip.265 257 258 259 260 261 262 263 264 265

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Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 55. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 73f. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 53. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 86. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 87–107. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 92–138. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 170–222. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 223–246. Knappheit ist, mit Niklas Luhmann betrachtet, Ergebnis einer sozialen Operation: Durch den Zugriff eines Agenten (A) auf endliche Mengen von Ressourcen werden andere Wirtschaftsteilnehmer (B) vom Zugriff ausgeschlossen. Knappheit fungiert dabei als Antrieb (für A) und Effekt (für B) des Zugriffs und baut so die notwendige Selbstreferenz auf, die ein System zu einem autopoietischen werden lässt (vgl. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 179). In einer weniger elaborierten Fassung taucht Knappheit unter den

Wo etwa, wie anhand von Malthus’ Bevölkerungsgesetz erläutert,266 ein Übermaß an Lebensmitteln herrscht, da vermehrt sich die Bevölkerung überproportional mit der Konsequenz, dass die Lohnarbeit knapp wird. Ein Großteil der Bevölkerung kann an diesem Punkt keine monetär wirksame Güternachfrage mehr aufbringen. Es entstehen Hunger und Elend, wodurch sich wiederum die Bevölkerungszahl reduziert. Wo aber die Bevölkerung schrumpft, da werden neue Überschüsse an Gütern und vergütungsfähiger Arbeit verfügbar. Und der Zyklus kommt neuerlich in Gang. Dieser moderne ökonomische Kreislauf regelt sich demnach über die permanente Produktion von Knappheiten (an Arbeit, an Gütern, an Leuten), »Krisen [sind] damit nicht mehr die Ausnahme, sondern zum Normalfall ökonomischer Regulierung geworden; sie sind nicht mehr das, was reguliert werden muss, sondern selbst der regulative Faktor«, so Vogl.267 2) anthropologisch: Mit dieser Umgestaltung der Ökonomie zu einem autopoietischen System, das in jeder Mehrproduktion auch Knappheiten produziert und sich dadurch selbst aussteuert, korreliert eine Neubestimmung der menschlichen Antriebsstruktur. Vogl verdeutlicht diese an den Begriffen der ›Sorge‹ und der ›Arbeit‹. Sorge werde ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr – ontisch – als konkrete, situative Besorgnis (um etwas) bestimmt, sondern – ontologisch – als grundlegende, dynamisierende »Verfehlungsstruktur«, die jede »Selbstgegenwart unterbricht«.268 Der Heidegger’sche Hintergrund dieser Erörterungen ist offensichtlich.269 In der ontologischen Sorge sind die Entbehrungen des Daseins ›existenzial‹ vorausgesetzt; sie ermöglichen ein unablässiges Streben, nicht aber die endgültige Erfüllung des sorgenden Anliegens. Analog dazu stellt Arbeit jetzt etwas anderes dar als ein Tun, das »seine Grenze in den hervorgebrachten Gegenständen findet« und sein Maß in klar umrissenen Bedürfnissen besitzt.270 Arbeit nimmt die Form einer »›unbeschränkten Arbeitsamkeit‹« an, die die »Ordnung von Subsistenz, Bedarf und Nutzen« überschreitet.271 Diese neue Art offener Produktivität am »Übergang von begrenzten Bedürfnissen zu grenzenlosen Begierden« entspringt der Teilung und Vernetzung der Arbeit vermöge des Äquivalenz stiftenden Mediums Geld.272 Denn im Geld als

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Axiomen der heutigen Volkswirtschaftslehre auf: »Knappheit bedeutet, daß die Gesellschaft weniger anzubieten hat, als die Menschen haben wollen. […] Volkswirtschaftslehre ist die Wissenschaft von der Bewirtschaftung der knappen gesellschaft lichen Ressourcen.« (N. Gregory Mankiw: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre [2000], übers. von Adolf Wagner, 2. Aufl., Stuttgart 2001, S. 3f.) Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 253f. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 255. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 335. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, S. 191f. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S.  331. Vgl. dazu auch Lottmann: Arbeitsverhältnisse, S. 49–116. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 338. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 339.

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Instrument des Aufschubs der Bedürfniserfüllung und der universalen Vergleichbarkeit der Bedarfsgüter ist jener motivierende, abstrakte »Vorgriff auf alle möglichen Genüsse« vermittelt.273 3) semiotisch: Diese Bestimmung der Geldfunktion hängt mit einer veränderten Zeichenauffassung zusammen. Während bis in die Aufk lärung hinein das Geldzeichen seine semiotische Qualität daraus bezog, dass es sich auf natürliche Gegenwerte (Bodenressourcen, Edelmetalle) beziehen ließ, wird das moderne Geldzeichen – augenscheinlich in dem Moment, da das Papiergeld von der Deckung durch Münzvorräte entbunden wird274 – rein funktional, pragmatisch aufgefasst. Geld kann, wie Vogl am Beispiel der Kredittheorien um 1800 verdeutlicht, Tauschoperationen über unterschiedliche Zeiträume hinweg verknüpfen. Dementsprechend müssen die Güter und Werte, die es in Beziehung setzt, nicht immer schon vorhanden sein, sondern können später aufgebracht werden. Geld wird zum Platzhalter und Motor in der Wachstumsökonomie der aufgeschobenen Bedürfniserfüllung. Seine Bedeutung ist nicht mehr referenziell festgelegt, sondern verdankt sich seinem Gebrauch, der je neue Zahlungssituationen miteinander verkoppelt. In diesem Sinne ist die moderne Ökonomie semiotisch durch die »Umstellung von repräsentativen zu funktionalen Qualitäten des Zeichens« markiert.275 Einer der großen Vorzüge dieser Darstellung des Strukturwandels um 1800 ist, dass sie eine ganze Reihe von Bestimmungen versammelt und bündelt, die ebenso in anderen prominenten Studien zur Genese der modernen Ökonomie auftauchen. Die Ablösung der souveränen Herrschaftssprache absolutistischer Politik durch den Geldcode bildet in Jochen Hörischs Kopf oder Zahl einen Ausgangspunkt276, ohne dass Hörisch dabei mit vergleichbaren Analysen außerliterarischer Texte aufwarten würde. Hörisch widmet dafür (gemäß seinem bekannten historischen Dreisatz: Abendmahl – Geld – neue Medien) der religiösen Fundierung absolutistischer Macht größere Aufmerksamkeit. Die Medientheorie des Geldes vertreten beide Kulturwissenschaftler in ähnlicher Weise (was nicht verwundert, weil bei ihnen jeweils die Luhmann’sche Wirtschaftstheorie im Hintergrund steht). Anders als Vogl neigt Hörisch aber dazu, den medialen Charakter des Geldes absolut zu setzen. Die historische Bewegung zeigt sich dann allein in der zunehmenden Ausbreitung dieses (in sich identischen) Mediums. Vogl hingegen geht hier, wie gesagt, von einer Umstrukturierung

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Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 339. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 271–281 u. S. 316–328. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S.  270. Vogl beschreibt die semiotische Neukonzeptualisierung allgemeiner als mediale Wende, in der Geld vermöge der »Fähigkeit, Fernwirkungen herzustellen, Übertragungen zu leisten und so eine universale Vermittlungsfunktion zu garantieren«, nicht länger als Zeichen oder Maß fungiert, sondern »zu einem Medium nämlich im engeren – systemtheoretischen – Sinn: Träger von feedback-Schleifen und rekursiven Effekten« geworden ist. Siehe Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 264. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 12f.

aus: Geld wird erst in der modernen Ökonomie vom repräsentativen Zeichenträger zum funktionalen Medium. An diesem Punkt mag man auch die in der Literarökonomik hochkanonische Philosophie des Geldes von Georg Simmel zurate ziehen. Dort findet sich die historische Veränderung in der Werttheorie des Geldes vom Substanzwert hin zur reinen Funktionalität eingehend erörtert.277 Dass diese Veränderung allerdings noch am Ende des 19.  Jahrhunderts keineswegs abgeschlossen war, lässt sich sehr gut in Walter Benn Michaels’ Studie The Gold Standard nachvollziehen. Der Streit zwischen Realisten und Nominalisten, der ein Streit darüber ist, ob Geld durch wertvolle Substanzen (Gold) oder allein durch die Produktivität einer Volkswirtschaft gedeckt ist, ist mitnichten um 1800 entschieden. Simmel braucht das in seiner philosophischen Perspektive nicht zu interessieren, der Diskurshistoriker sollte hier hingegen aufmerken. Dazu gleich mehr. Neben der Geldtheorie ist in der Philosophie des Geldes auch die anthropologische Neuerfindung des Menschen, die sich bei Vogl an den Begriffen der ontologischen Sorge und der unbeschränkten Arbeitsamkeit festmacht, diskutiert. Die Moderne zeichnet sich, laut Simmel, durch eine Verschiebung von einem qualitativen hin zu einem quantitativen Individualitätsbegriff aus, eine Verschiebung vom ›Charakter‹ hin zum ›Intellekt‹. Im Stadium des Charakters, so kann man paraphrasieren, verfügt der Einzelne über ein bestimmtes abgeschlossenes Set an Präferenzen. Der charaktervolle Mensch arbeitet mit bestimmten dienlichen Werkzeugen, um konkrete Zwecke zu verwirklichen. Erst mit dem Gebrauch des Geldes, dem beharrlichsten und allgemeinsten Werkzeug, das über alle konkreten Gebrauchssituationen hinausreicht, kann der Geist auf die Stufe des Intellekts treten. Es ist die Stufe universeller Vergleichbarkeit. Sie nivelliert die konkreten Sets an Präferenzen.278 Um die Sachen an sich geht es dem vergleichenden Intellekt nicht, sondern allein um ihre relative Geltung. Gleichzeitig mit dieser nivellierenden Tendenz formt sich der quantitative Begriff der Individualität, der sich im ›Stil‹ reflektiert. Einen (gemeinschaftlichen) Stil zu entwickeln heißt, subjektiv über bestimmte Teile der ständig wachsenden objektiven Kultur zu verfügen.279 Wer Stil hat, bildet dynamisch neue Sets an Präferenzen, die sich mit relativem Gültigkeitsanspruch gegen andere Sets absetzen. Mit seinen Reflexionen über den Stil geht Simmel über Vogls abstrakte Bestimmungen der modernen anthropologischen Offenheit hinaus. Was man in ihnen vorgeführt bekommt, ist ein Nachdenken über prozessuale Grenzziehungen individuellen Handelns. Mit diesem Nachdenken steht Simmel nahe an institutionentheoretischen Erwägungen, die, wie zu sehen sein wird, das 19. Jahrhundert stark prägen und in denen gefragt wird, welche Normen und Gebräuche es ermöglichen, unterschiedliche Präferenzen und Handlungen zu bündeln. Die realistische Ökonomie des 19. Jahrhunderts, aus deren Tradition Simmels Studie stammt, registriert nicht allein

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Simmel: Philosophie des Geldes, S. 173–198. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 591–596. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 628.

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die »Atomisierung der Gesellschaft« (Simmel)280, sondern sie forscht stets auch nach neuen Formen der individuellen oder staatlichen Steuerung und nach möglichen institutionellen Restrukturierungen. Für die folgende Epochencharakteristik genügt es mithin nicht, lediglich die Ausdifferenzierungen qua Arbeitsteilung und Wachstumsökonomie zu verzeichnen. Sie muss auch dem diskursiven Begehren nach der Formung von Handlungszusammenhängen, nach Institutionalisierungen bzw. Umbauten von Institutionen Aufmerksamkeit schenken. Vogls Arbeit hinterlässt hier ein Desiderat, das sie gegen Ende selbst anspricht. Über die allgemein diagnostizierte Verabschiedung der Politik aus der Ökonomie heißt es da: »Dies [die Selbststeuerung der Ökonomie] hat zu einer weitreichenden Differenzierung des Regierungshandelns geführt, mit der sich – bis hin zu Doktrinen, die man ›liberalistisch‹ nennen mag – immer neu die Frage nach der Proportion zwischen Selbstorganisation, institutionellem Eingriff und rechtlicher Ordnung stellen wird.«281 Das Futurum zeigt an, dass von dieser Frage bei Vogl nicht mehr gehandelt wird. Der Grund dafür ist in der methodischen Ausrichtung seiner ›Poetologie des Wissens‹ zu suchen. 1.3.2. Von der Diskursanalyse zum New Historicism Man betrachte ein Beispiel vom Anfang des Buches, in dem Vogl Thomas Hobbes’ Konzept des Staatsaufbaus erläutert. Das Konzept basiert auf der Definition des Personenbegriffs. Eine Person ist ein öffentlicher Darsteller eigener oder fremder Rede. Jemanden, dessen Rede anerkannt wird als fremde, d.h. von jemand anderem autorisierte, Rede, nennt Hobbes eine künstliche oder fingierte Person. Eine solche künstliche Person ist der Souverän. Seine Rolle entsteht in dem Moment, da sich die Einzelwesen als künftige Staatsangehörige versammeln, um ihren Interessenvertreter und seine Gewaltausübung zu autorisieren. Laut Vogl ist diesem Akt der Staatengründung ein theatrales Moment eingeschrieben. So folgert er: »Wenn also Person derjenige ist, dem Worte und Handlungen von Menschen – tatsächlich oder fi ktiv – beigelegt werden, so ist deren Gesetz die Inszenierung und die Gesetzmäßigkeit der Bühnenraum selbst.«282 Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit zunächst nicht leicht einzusehen. Denn Stellvertreterworte und -handlungen kommen ja in unzähligen Kontexten vor (vom alltäglichen Botengang bis zum Anwaltsplädoyer), und diese lassen nicht unbedingt alle gleich an die Gesetzmäßigkeit des Bühnenraums denken. Tatsächlich aber stützt sich Vogl auf einen Hinweis bei Hobbes: Das Wort ›Person‹ ist lateinischer Herkunft. Die Griechen sagen dazu πρόσωπου, was das Gesicht bedeutet, wie auch persona auf lateinisch eine Verkleidung oder die äußere Erscheinung eines Menschen bedeutet, der auf der Bühne dargestellt wird, und manchmal auch in einem engeren Sinn den Teil, der das Gesicht verkleidet, wie eine Maske oder ein

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Simmel: Philosophie des Geldes, S. 606. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 347. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 22.

Visier. Und von der Bühne wurde dieser Begriff auf jeden übertragen, der stellvertretend redet und handelt, im Gerichtssaal wie im Theater. So ist also eine Person dasselbe wie ein Darsteller, sowohl auf der Bühne als auch im gewöhnlichen Verkehr, und als Person auft reten heißt soviel wie sich selbst oder einen anderen darstellen oder vertreten. […] Und bei verschiedenen Gelegenheiten wird sie [die Person] verschieden bezeichnet, z.B. als Vertreter, Vertretung, Stellvertreter, Vikar, Anwalt, Abgeordneter, Bevollmächtigter, Darsteller und dergleichen.283

Eine Person ist dasselbe wie ein Darsteller, ›sowohl auf der Bühne als auch im gewöhnlichen Verkehr‹. Die Gleichsetzung, die Hobbes hier vornimmt, reißt die Frage nach der Theatralität im öffentlichen Raum an. Doch Hobbes verfolgt diese Frage nicht. Aus seiner etymologischen Herleitung gewinnt er lediglich den schematischen Begriff einer ›Person als Darsteller‹ im Sinne eines Stellvertreters. Um Chormasken, Musik, Fabel, Bühnenbilder, das geschriebene Wort eines Dramatikers oder Ähnliches, kurz: um Elemente der Bühnengesetzlichkeit geht es nicht.284 Statt einer metaphorischen Übertragung eines ganzen Clusters von Theaterassoziationen auf die Figur des öffentlichen Stellvertreters ist die Basis dieser Ausführungen bei Hobbes ein Vergleich. Und dieser Vergleich ist lediglich auf eine spezifische Hinsicht, auf ein Tertium Comparationis abgestimmt: eben die Stellvertretung. Die Begriffsgeschichte spielt dafür keine Rolle. Entsprechend rekurriert Hobbes im weiteren Verlauf auch nicht wieder auf das Theater und dessen diskursive Bedingungen, wenn er sein Vertragsmodell erörtert. Sein einleitender Vergleich bleibt punktuell – eingeführt, um überwunden zu werden. Zurück lässt er einen Begriff der Repräsentation, der in seiner Allgemeinheit ebenso gut Gegenstand moderner Bildwissenschaft285 wie der politwissenschaftlichen Performanzforschung286 werden kann. Joseph Vogls diskursive Verknüpfung des Hobbes’schen Personenbegriffs und des Modells der kontraktuellen Staatenbildung mit den Bühnengesetzlichkeiten des theatralen Raums können sich mithin nicht auf eine entsprechende Ausarbeitung bei Hobbes stützen. »Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autori-

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Thomas Hobbes: Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [engl. 1651], hg. von Iring Fetscher, übers. von Walter Euchner, 8.  Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 123. Vgl. zur Logik des Theatervergleichs auch Hanna Fenichel Pitkin: The Concept of Representation, Berkeley, Los Angeles 1967, S. 24–27. Vgl. hierzu die einschlägigen Analysen des Frontispiz des Leviathan durch Horst Bredekamp, die auch für Vogls Ausführungen einen wichtigen Bezugspunkt darstellen: Horst Bredekamp: Thomas Hobbes’ visuelle Strategien. Der Leviathan. Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Porträts, Berlin 1999. Vgl. Dirk Tänzler: Repräsentation als Performanz: Die symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen im »Leviathan« des Thomas Hobbes. In: Jan Andres/Alexa Geisthövel/Matthias Schwengelbeck (Hg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M., New York 2005, S. 19–44.

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sierst«287 – diese Reflexionsfigur wird bei Vogl und nur bei ihm zum Inbegriff einer theatralen Konfiguration.288 Und wenn diese später in den Sympathiekonzepten der aufk lärerischen Theatertheorie und Dramenpraxis wiederholt nachgewiesen wird, dann ist es also eher die Materialzusammenschau des Interpreten, die diese diskursive Analogie vermittelt. Im Ausgangstext bei Hobbes liegt sie nicht in dieser Weise ausgearbeitet vor. Es geht also, methodologisch betrachtet, bei Vogl um etwas ganz anderes als um das, was Literaturwissenschaftler gemeinhin interessiert und interessieren sollte, selbst wenn sie mit außerliterarischen Texten befasst sind: Zeichenkontiguitäten in gegebenen Syntagmen und also die Materialität des textuellen Gegenstandes stehen hier nicht zur Untersuchung. Stattdessen zielt Vogls ›Poetologie des Wissens‹ auf ein mehr oder minder abstraktes »Wissenssubstrat«, das in transtextuellen Vergleichen gewonnen wird.289 Die Aufgabe lautet, zwischen den untersuchten Texten, etwa den literarischen und den polit-ökonomischen, »Aussagen der einen auf die Aussagen der anderen zu beziehen und darin einen gemeinsamen Wissenszusammenhang zu erkennen«.290 Aussagen – hier durchaus konventionell im Sinne von hermeneutischen Sinneinheiten (Propositionen) verstanden – geben also die Basis des Vergleichs ab. Die Isolation einzelner Texteinheiten bringt dabei ein Problem mit sich. Argumentative und explikative Zusammenhänge der herausdestillierten Aussage, überhaupt ihre gesamte intratextuelle Umgebung gehen in dieser Form der Diskursanalyse verloren. Von der überaus reichhaltigen Primärliteratur hört man in Kalkül und Leidenschaft entsprechend wenig; Blockzitate sind die Ausnahme, das auf seinen Thesengehalt reduzierte Material erscheint überwiegend im Modus der Paraphrase, die immer bereits die Zusammenschau, d.h. die Metaaussage, im Blick hat. Mit anderen Worten: Was verloren geht, ist eine eingehende Schilderung der Poetik der untersuchten Gegenstände, mithin ein Blick auf die formalästhetischen Verfahren ihrer Wissenshervorbringung. Und das, obwohl man es von den Ankündigungen her anders erwarten konnte. Denn Vogls ›Poetologie des Wissens‹ gibt sich als »eine Lehre von der Verfertigung der Wissensformen zu verstehen, als Lehre von ihren Genres und Darstellungsmitteln«.291 Zudem heißt es: »Jede epistemologische Klärung ist mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft.«292 Da möchte es scheinen, als solle hier das Foucault’sche Projekt der Analyse diskursiver Formationen genau um das darin ausgesparte formalästhetische Untersuchungsmoment erweitert werden. Doch diese Erwartung erfüllt sich nicht. Die Fokussierung auf Aussagen und transdiskursive Analogiebeziehungen führt Vogl genau dorthin, wohin auch Foucaults Diskursanalyse ihre Materialbasis überspringt: in ein Ensemble von systemisch aufzufassenden Regeln (ausgedrückt

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Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 134. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 23. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 14. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 14. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 13. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 13.

in Behauptungssätzen der Art ›Arbeit findet bis 1800 ihre Grenze in den hervorgebrachten Gegenständen‹), die als Bedingungen der Möglichkeit von Zeichenproduktion in diversen Diskursen aufgefasst werden sollen.293 Zwei Schwierigkeiten, die sich aus dieser methodischen Ausrichtung ergeben, sind bereits in einer kritischen Rezension von Eric Achermann hervorgehoben worden.294 Eine Analogiebildung, die weit von den textuellen Gegebenheiten abstrahiert, verliert nicht nur den Blick für Textsortenspezifi ka, etwa von Briefen, Tagebucheintragungen, Traktaten, kameralistischen Lehrbüchern und vielen weiteren Diskurseinheiten, die Vogl mit Romanen, Dramentexten und ihren jeweiligen Poetiken unter eine Wissensformation subsumiert. Sie handelt sich auch leicht ein Virtuosenproblem ein: Bei hinreichendem Abstraktionsvermögen wird letztlich alles mit allem vergleichbar und also drohen die Ordnungen des historischen Wissens, die es zu schildern gilt, mit dem Arrangement zusammenzufallen, das der Interpret setzt. Wo aber das Feststellen von Beziehungen vom Herstellen ununterscheidbar wird, da wird Wissenschaft entweder beliebig oder tautologisch: Entweder es passt schlichtweg alles zusammen oder es passt wenigstens all das, was sich ohnehin den Forschungsprämissen fügt. Zweitens, und das betrifft die Ergebnisse dieser Arbeitsweise, entgehen in dieser Methodik Differenzen, die gerade die Besonderheit einer historischen Situation kennzeichnen. Physiokratie, Kameralistik und Merkantilismus, die Vogl in einem Atemzug als scheinbar lediglich marginal differierende Ausprägungen ein und derselben Wissensformation des 17. Jahrhunderts diskutiert, sind in ihren Grundbegriffen nicht weniger eigentümlich und verschieden als – um auf den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit zu verweisen – der klassische englische Liberalismus Smith’scher Prägung, die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie oder die um 1870 aufkommende Grenznutzentheorie (diese in der Ökonomiegeschichtsschreibung oft als ›Revolution‹ bezeichnete Herausbildung der Neoklassik wird bei Vogl in einer Fußnote abgehandelt, als ein Moment unter vielen innerhalb des modernen ökonomischen Metaparadigmas).295 Dabei muss eine Besinnung auf das historisch Besondere keinen Zug zu positivistischer Kleinkrämerei bedeuten. Eigenheiten von ökonomischen Positionen zu markieren, heißt dasjenige im Blick zu behalten, wofür auch die Diskursanalyse einmal angetreten ist: alternative Konzeptu-

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Vgl. Foucaults kanonische Erörterungen zur Methodologie, insbesondere zum Status der ›Aussage‹, in Michel Foucault: Archäologie des Wissens [franz. 1969], übers. von Ulrich Köppen, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 115–190. Für eine detaillierte Kritik der Foucault’schen Diskursanalyse im Sinne der hier vorgeschlagenen literaturwissenschaft lichtextualistischen Ausrichtung einer historisch-konkret arbeitenden Kulturanalyse siehe Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, besonders: S. 89–98. Vgl. Eric Achermann: [Sammelrezension zu Blaschke: Der homo oeconomicus; Bockelmann: Im Takt des Geldes; Vogl: Kalkül und Leidenschaft]. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft, Jg. 24 (2006) Heft 1, S. 116–129, hier: S. 126–129. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 346, Fn. 128.

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alisierungen von Wirklichkeit, alternative Denk- und Schreibweisen zu untersuchen und dadurch einen Begriff von der Kontingenz des tradierten Wissens zu gewinnen. Wo, wie bei Vogl, konkurrierende Strömungen homogenisiert werden, wo letztlich ganze Jahrhunderte unter eine Systematik (›episteme‹) gebracht werden, da mögen zwar konventionelle Begriffe der Ideengeschichte (Werk, Autor, historisches Subjekt, Epoche und Ähnliches) und ihre teleologischen Metaerzählungen verabschiedet sein. Das ihnen zugrunde liegende Projekt einer weit greifenden historischen Gesamtschau aber ist es nicht. Und so sieht man sich hier, statt mit einer linearen Großerzählung, mit diachronen Metatableaus konfrontiert, die nicht weniger grobe Synthesen und Generalisierungen enthalten. Angesichts dieser Ergebnisse ist es wichtig, daran zu erinnern, dass gerade die Verabschiedung solcher großen Einheiten (des übermächtigen ›Meta‹) das initiale und völlig berechtigte Anliegen des poststrukturalistischen Projektes war.296 Beide Kernpunkte dieser Kritik hängen eng zusammen. Sie betreffen eine Form abstrakter Analogiebildung, die auf maximale Verallgemeinerung abzielt und darin kaum mehr falsifizierbar ist. Für Eric Achermann resultieren diese Unschärfen und Beliebigkeiten aus dem konstruktivistischen Grundansatz, der Vogl bei seiner »nominalistische[n] Kritik der Geschichte«297 leitet. Wenn ein jedes mögliches Objekt immer schon als Ergebnis eines diskursiven Konstruktionsprozesses gedacht werde, dann lasse sich auch der Objektbereich, den der Diskurs des Interpreten konstruiert, nicht mehr sinnvoll an einem Außen seines Diskurses abmessen, kritisieren und verifizieren.298 Diese sehr basale epistemologische Wendung des Problems scheint mir allerdings gar nicht notwendig. Denn auch von einem konstruktivistischen Standpunkt aus lässt sich die Art und Weise der diskursiven Konstruktion durchaus kritisieren. Eine solche Kritik hängt dabei nicht vom Vergleich mit einem außerdiskursiv präsenten Gegenstand ab, sondern von einer Verständigung über die Prämissen, nach denen der Diskurs des Interpreten seinen Gegenstand bildet. Kohärenz ist etwa eines dieser Kriterien; weitere sind im Zuge der Vogl-Rekonstruktion oben genannt worden: die Fokussierung auf Aussageeinheiten und transtextuelle Vergleiche, die Grup-

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Man denke noch einmal an die einschlägige Kritik der historischen Meta-Narrative bei Jean-Françoise Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht [franz. 1979], übers. von Otto Pfersmann, Graz, Wien 1986. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 13. Achermann: [Rezension], S.  126: »Diese Annahme, die dasjenige, was sie widerlegen könnte, bereits als ontologische Unmöglichkeit ausschließt, scheint mir zum Fragwürdigsten und Kontraproduktivsten zu gehören, dessen wir uns bei historischen Arbeiten überhaupt bedienen können: Die Grundfrage aller Erklärung, das ›warum‹, wird schlicht und einfach mit ›daß‹ beantwortet, dessen Grund in einem ›dadurch‹ liegt, das mit dem ›daß‹ identisch ist; und die Grundfrage allen Verstehens wird damit beantwortet, daß die eigentliche Bedeutung einer Äußerung mit der Äußerung und gleichzeitig mit den Regeln der Äußerung identisch sei. Nicht daß Konstruktivismus platterdings falsch ist, nein, es ist schwierig, ja vielleicht gar unmöglich, konsequent konstruktivistische Positionen ontologisch zu widerlegen.«

pierung von Aussagenverbünden zu systematisch aufzufassenden Wissensformationen (›epistemen‹), diachrones Anordnen von gegensätzlichen Wissensformationen (statt Narration einer linearen historischen Entwicklung). Dieses sind Kategorien, nach denen Vogl seinen Objektbereich konstruiert. Selbstverständlich kann die aus ihnen resultierende Form der Konstruktion, wenn man sich nicht auf realistische Annahmen zurückziehen will, immer nur relativ zu eigenen Prämissen zurückgewiesen werden. Was wären diese? Ich werde im Folgenden versuchen, größere syntagmatische Anteile der Quellentexte in die Analyse mit einzubeziehen (und also nicht nur eine Auswahl von Thesen/ Propositionen/Aussagen). Dabei tritt der Präsentationsmodus der Paraphrase in den Hintergrund, durch den das Material allein indirekt, als immer schon verarbeitetes erscheint. Die Konzentration richtet sich auf engere historische Zeiträume, denn dadurch wird es auch möglich, die Oppositionen und Konkurrenzverhältnisse zwischen synchron auftretenden Diskursen genauer anzuschauen. Anstelle von epochalen Aussageregeln kommen demnach paradigmatische diskursive Verknüpfungen (›Diskursivitäten‹) in den Blick, die sich von alternativen zeitgenössischen Paradigmen abheben. Mit dieser konkreteren Ausrichtung werden also tendenziell andere Fragen als in Kalkül und Leidenschaft gestellt, und der Vorzug der jeweiligen Betrachtungsweise zeigt sich darin, wie sie Materialkomplexität und konstruktives Strukturangebot miteinander vermittelt. Von meiner stärker partikularistischen Prämisse aus gelten ein Zugewinn an synchroner historischer Differenzierung und mithin eine präzisere Strukturierung des Materials selbstredend als Vorzug. Über die Ontologie jenseits des gegebenen Textmaterials muss in dieser Bewertung noch gar kein Urteil abgegeben werden. Die Andersartigkeit der zu erwartenden historischen (Re-)Konstruktion ruht schon in ihren stärker textfokussierten, weniger metahistorisch orientierten Kategorien. Aus dem Gesagten ergibt sich also, dass zunächst zwei Analyseeinheiten in den Mittelpunkt dieser Arbeit rücken: der Einzeltext als Syntagma-Paradigma-Struktur und der Diskurs, in dem Einzeltexte als paradigmatisch verbunden erscheinen und dadurch wiederum in Opposition zu anderen paradigmatisch gruppierten Texten treten. Die Historische Schule der Nationalökonomie z.B. arbeitet mit starken temporalen Isotopien, etwa zum Aufbau von zyklischen Geschichtserzählungen (Roscher). Ebenso charakteristisch sind die verschiedenen Ausformulierungen des paradigmatischen Topikfeldes ›Fremde Völker und Kulturen‹. Nimmt man die diversen textuellen und paratextuellen Bezugnahmen der Texte untereinander (Widmungen etc.), die programmatischen Selbstbezeichnungen und -gruppierungen (eben als ›Historische Schule‹ bzw. ›realistische Ökonomie‹) sowie die institutionellen Verbindungen (Schriftenreihen etc.) hinzu, dann erkennt man, wie dieser Diskurs der Historischen Schule gegenüber anderen zeitgleichen Diskursformationen eine distinkte Einheit gewinnt. Durch diese textnahe und letztlich strukturalistisch verankerte Deutung des Diskursbegriffs lässt sich auch die Beziehung zwischen unterschiedlichen Diskursen anders denken als bei Vogl. Man vergleiche etwa das oben diskutierte Beispiel, 81

wie Thomas Hobbes bei Vogl in Anspruch genommen wird, mit einer Diskussion zu Theatralität und Exorzismus bei Stephen Greenblatt (Greenblatt darf dabei als Wegbereiter der literaturwissenschaft lich-textualistisch gewendeten Diskursanalyse gelten, die in dieser Arbeit genutzt wird299). Greenblatt erörtert in seinem Essay Shakespeare und die Exorzisten, wie der Dichter in seinem Spätwerk King Lear (1604/05) umfangreich Begriffe und Konzeptualisierungen aus dem Diskurs des zeitgenössischen englischen Protestantismus, genauer: aus einem exorzismuskritischen Pamphlet des Londoner Kaplans Samuel Harsnett entlehnt hat.300 Diese Begriffsaneignungen ermöglichen es Shakespeare, seine Figur Edgar von Gloucester in glaubhafter Verkleidung vorzuführen, wenn dieser sich auf seiner Flucht in die südenglischen Wälder als Aussätziger tarnt. Die importierten Wahnreden haben Wiedererkennungswert. Aber der Zeichentransfer leistet noch mehr. Er sorgt auch für eine kulturelle Aufladung und Aktualisierung des eigentlich mythischen Lear-Stoffes. Denn Edgars Spiel mit dem Wahn rückt ihn in die Nähe der Besessenheit, die zeitgenössisch als Performanz teuflischer Präsenz aufgefasst wird. Der Besessenheit kommt eine zentrale Rolle innerhalb des Exorzismus-Rituals zu; und dieses Ritual ist zu Zeiten Shakespeares überaus umstritten. Das Stück verweist an dieser Stelle, in der Form der indirekten Anspielung, auf einen brisanten zeitgenössischen Diskurs über den Exorzismus, der mit Katholikenverfolgungen unter Elisabeth I. einhergeht. Dieser Diskurs, der von Aktivisten wie dem Kaplan Harsnett vorgetragen wird, zeigt sich in Greenblatts Erörterung keineswegs als undurchlässig gegenüber Fremddiskursen, insbesondere nicht gegenüber dem Theater. In dem erwähnten Pamphlet bemüht Harsnett selbst ausgiebig das Erklärungsmodell des Bühnenspiels zur Entlarvung der in seinen Augen betrügerischen Exorzismus-Praktiken. Exorzismus wird bei Harsnett gewissermaßen als paratheatrale Inszenierung konzeptualisiert. An diesem Punkt ist man mit Greenblatt tief in die chiastische Struktur neohistoristischer Diskursanalyse eingetaucht. Zwei Diskurse zeigen sich in gegenseitigem

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Bekanntlich vereinigt der New Historicism Greenblatts zwei Traditionslinien: die akribische, formalistische Analysepraxis des New Criticism und die historisch orientierte Diskursanalyse, die das Untersuchungsfeld der Literaturwissenschaft auf außerliterarische, primär textliche Gegenstände ausdehnte. Beide Linien verdichten sich in dem bekannten Chiasmus von Louis Montrose, der »ein reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte« propagiert. Siehe Louis Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur, übers. von Moritz Baßler. In: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 60–93, hier: S. 67. Die einschlägigen Texte zur textualistischen Deutung des New Historicism sind Moritz Baßler: Einleitung. New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 7–28; Liu: Die Macht des Formalismus; Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 1–53. Vgl. Stephen Greenblatt: Shakespeare und die Exorzisten. In: Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, übers. von Robin Cackett, Frankfurt a.M. 1993, S. 124–166.

symbolischen Austausch verbunden: Das Theater nutzt außerliterarisches Wissen, um seinen eigenen symbolischen Horizont zu erweitern; die protestantische Kritik wiederum bezieht sich auf die Darstellungsformen des Theaters, um katholische Glaubenspraktiken rhetorisch schlagkräftiger zu widerlegen. Zu entdecken sind also die kulturelle Markierung des Theaters und die theatrale Markierung eines kulturellen Diskurses. Die Unterschiede zu der oben beschriebenen Arbeitsweise in Kalkül und Leidenschaft sind dabei augenscheinlich. Wenn Greenblatt von theatralen Modellen in Diskursen spricht, wenn er auf Bühnengesetzmäßigkeiten rekurriert, dann basiert dieser Rekurs auf Kontiguitäten, die im konkret gegebenen Syntagma vorliegen. Harsnetts Text selbst bedient sich umfassend beim theatralen Diskurs und nutzt ihn nicht nur punktuell – wie etwa Hobbes – zu einem Vergleich, der letztlich auf den denotativen und konnotativen Rahmen des Vergleichsgegenstandes (des Theaters) verzichten kann. Den Verweis auf das Theater kann man mithin bei Hobbes durchstreichen und trotzdem wird seine Argumentation erhalten bleiben. Bei Harsnett geht das nicht. Da der New Historicism in dieser Weise textnäher verfährt, sind seine Grundfragen auch anders gelagert. Zum einen untersucht er das literarische Textformular als Möglichkeitsbedingung von Bedeutungszuschreibungen, und zwar relativ zu den konkreten kulturellen Paradigmen. Greenblatts Analyse zeigt, dass Shakespeares Edgar-Figur durch den Exorzismus-Diskurs lesbar wird, dass also der Exorzismus-Code am Textformular des Stückes ansetzen kann. Ob jedoch die Dekodierung im Sinne des protestantischen Pamphletisten vorgenommen werden muss (Shakespeare also ›pro Harnsett‹ war, weil er im Anschluss an dessen Argumentation vorführt, wie Besessenheit als katholische ›Show‹ abläuft), oder ob Shakespeare mit seinem Stück im Gegenteil als heimlicher Katholik aufzufassen ist (schließlich ist Edgar, der quasi katholische Betrüger, im Stück ein Sympathieträger) – diese Fragen bleiben bei Greenblatt offen. Es genügt ihm, beide Lesarten vorzuführen als alternative Optionen der Bedeutungszuweisung, die das Textformular zulässt. Eindeutige Sinnstiftung obliegt dem Leser, nicht dem Wissenschaft ler. In der Wissenschaft geht es um die textuellen Bedingungen von Sinnzuschreibung. Damit verbunden ist die Auflösung des Textes als homogene, in sich bedeutungstragende Einheit. Denn insofern die semantische Achse des Textes immer über außerliterarische kulturelle Paradigmen zu analysieren ist, löst sich der Horizont möglicher Bedeutungszuweisungen auch in die Vielheit dieser kulturellen Bezüge auf. Letztlich erfährt man in Greenblatts Aufsatz eine Menge über die Wahnsinnsreden im Lear, aber wenig von der Fabel und überhaupt nichts über Lears Rentenvertrag und andere relevante Aspekte des Dramas. Dazu gibt es dann weitere Essays.301 So will es die Komplexität dieser kulturanalytischen Me-

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Vgl. Stephen Greenblatt: The Cultivation of Anxiety: King Lear and His Heirs [1982]. In: Stephen Greenblatt, Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture, New York, London 1990, S. 80–98.

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thode. Die Ganzheit des Dramas erschlösse sich erst über die Summe seiner lesbaren Kodierungen. Zweitens verspricht die neohistoristische Methode im Rahmen ihrer paradigmatischen Analyse auch ein Close Reading kultureller Texte. Harsnett mag kein Schreiber vom Range William Shakespeares gewesen sein, aber sein Diskurs war wirksam für die (religiöse) Deutung und Neugestaltung der Lebenswirklichkeit im elisabethanischen England. Das rechtfertigt den Einsatz aller Instrumente der poetischen Analyse, die sonst nur ›dichten‹ literarischen Artefakten vorbehalten sind. Denn die Frage nach der Wirksamkeit oder Macht von Diskursen richtet sich immer auch an die textuellen Mittel, in denen diese sich formt und manifestiert. Nimmt man von hier aus das Untersuchungsgebiet der vorliegenden Arbeit in den Blick, so gilt das Augenmerk entsprechend nicht allein dem Aussagegehalt in Texten der Historischen Schule der Nationalökonomie, die seinerzeit in Deutschland den Diskurs prägten. Mindestens ebenso genau ist die Poetik dieser Texte zu untersuchen. Und unter Poetik ist hier – im Gegensatz zu Vogls Poetologie-Begriff – die Gesamtheit der Mittel zur Formung der Rede zu verstehen, stilistisch-rhetorische wie gattungskonventionelle. An diesem Punkt darf sich die Untersuchung in Nachbarschaft zu jüngeren Entwicklungen in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte sehen. Im Zuge des linguistic turn ist auch im Bereich der ›harten‹ sciences den textuellen Vermittlungsformen wissenschaftlicher Erkenntnis vermehrt Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Ob man dabei – konstruktivistisch – die generelle Fiktionalität von wissenschaftlicher Theoriebildung nachweisen will302 oder – literaturwissenschaftlich bescheidener – lediglich Formen der Popularisierung und Außenkommunikation der Wissenschaften untersucht303, das hängt letztlich von der erkenntnistheoretischen Verortung ab und muss hier nicht diskutiert werden. Bedeutsam ist die beiden Positionen gemeinsame Einsicht in die fundamentale Rolle textlicher Darstellungsweisen. Diese dienen der Durchsetzung und Verbreitung neuen Wissens, das anschließend in der normalwissenschaftlichen Arbeit304 dann durchaus in Formalisierungen überführt werden kann. Im Paradigma kopernikanischer Astronomie z.B. lassen sich viele interstellare Beziehungen in Zahlenverhältnissen ausdrücken und berechnen. Aber zur Positionierung und Verbreitung der einschlägigen Axiome

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Man denke etwa an das Konzept der ›Faitiches‹ bei Bruno Latour: Die Hoff nung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft [engl. 1999], übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2002. Vgl. etwa (mit weiterführenden Hinweisen) Lutz Danneberg/Jürg Nierhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Methodische Aspekte – theoretische Überlegungen – Fallstudien, Tübingen 1998. Die Unterscheidung zwischen wissenschaft licher ›Revolution‹ (Durchsetzung eines neuen Paradigmas) und normalwissenschaftlicher Arbeit (im Paradigma) stammt bekanntlich aus dem Gründungstext der neueren konstruktivistischen Wissenschaftsgeschichte: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaft licher Revolutionen [engl. 1962], übers. von Kurt Simon, 15. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, hier: S. 25.

bedurfte es verbalisierter Darstellungen wie der Galilei’schen Discorsi. In ähnlicher Form kann die moderne Ökonomie hoch formalisiert verfahren. Aber ihre Basisaxiome – der klassische methodologische Individualismus (Adam Smith) oder das neoklassische Grenznutzentheorem (Jevons, Walras, Menger) – wurden in sprachlich argumentativen Schriften erarbeitet. Entsprechend ist auch der Diskurs der Ökonomie für linguistische und literaturwissenschaftliche Analysen geöffnet worden. Es sind die ›schönen Theorien‹ (»beautiful theories«), die uns dazu bringen, Millionen von Steuergeldern für empirische Forschungen auszugeben, in denen diese Theorien dann getestet werden.305 Mit dieser Hypothese setzte Deirdre N. McCloskey306 ihre Pionierarbeiten zur Analyse des ›literarischen Charakters ökonomischer Wissenschaft‹ an. Wirksame und für unsere Konzeption von Wirklichkeit konstitutive Beschreibungen basieren in ihrer Sichtweise immer auch auf gelungenen persuasiven Akten. Und diese Akte gilt es mit der Methodik von Sprach- und Literaturwissenschaften zu untersuchen. McCloskey hat bereits auf die zwei grundlegenden Modi der Präsentation ökonomischen Wissens hingewiesen: den metaphorischen, auf Modellbildung abzielenden (›modelling‹) und den narrativierenden Modus (›storytelling‹).307 Um eine Kongruenz zu gewährleisten, sollte man in letzterem Falle besser von der metonymisierenden Vertextung sprechen. Das sei vorab gesagt, weil beide Modi in den folgenden Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen werden. Betrachtet man noch einmal den Ausgangspunkt dieses Abschnitts, so wird deutlich, dass eine Diskursanalyse, die auf die Isolierung einzelner repräsentativer Aussageeinheiten abzielt, hinter den Fragestellungen moderner Wissenschaftsanalysen zurückbleibt. Gerade die Einbettung von Aussagen in explikative und argumentative Zusammenhänge, ihre rhetorische Gestaltung und narrative oder deskriptive Versinnlichung gilt es historisch konkret zu untersuchen, will man die Profi lierung eines Diskurses in den Blick bekommen. In diesem Sinne untersuchen die kommenden Abschnitte das Feld der historistischen, realistischen Nationalökonomie in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts mit literaturwissenschaftlich-textanalytischem Fokus. Um diesen Fokus einzustellen, bleiben die Erörterungen stets eng an der Frage nach der literarischen Anbindung orientiert. Wie sich zeigen wird, gibt es zwischen literarischem und ökonomischem Diskurs im Realismus signifi kante Übereinstimmungen in den Textverfahren. Ich schlage für diese Zusammenhänge den Begriff der ›realistischen Diskursivität‹ vor, der auf gemeinsame Prinzipien der Textgestaltung in den verschiedenen Diskursen referiert. Im kommenden Abschnitt werden die besagten

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Deirdre N. McCloskey: The Rhetoric of Economics [1985], Madison/Wisconsin 1998, S. 21. Der Begriff der ›schönen Theorien‹ geht hier auf den Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg zurück. Deirdre N. McCloskey ist der neue Name von Donald N. McCloskey, der sich 1995 einer Geschlechtsumwandlung unterzog. Vgl. Donald N. McCloskey: Storytelling in Economics. In: Christopher Nash (Hg.), Narrative in Culture. The Use of Storytelling in the Sciences, Philosophy, and Literature, London, New York 1990, S. 5–22.

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Verfahrensweisen in ihren Grundzügen erläutert. Sie formen die Poetik dieser Diskursivität, durch die eine spezifische, ›realistische‹ Hinsichtnahme auf Wirklichkeit organisiert wird. Neben der verfahrensanalytischen Untersuchung des literarischen und ökonomischen Diskurses des Realismus bewegt die Arbeit auch die semantische Fragestellung, was sich Literatur einhandelt, wenn sie ökonomische Begriffe importiert, und was vice versa die Ökonomie aus den Konzeptualisierungen, die die Literatur vornimmt, beziehen kann. Es geht mithin, ganz in der Tradition neohistoristischer Kulturwissenschaft, um das ökonomische Wissen der Literatur und um die Literarizität der Ökonomie. Die literaturwissenschaftliche Entdeckung der deutschen Nationalökonomie Die in dieser Arbeit vorgestellte bürgerliche Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts ist unlängst in einem wichtigen Beitrag zur Gottfried-Keller-Forschung von Karolina Brock (Kunst der Ökonomie, 2008) erstmalig umgangreich betrachtet worden.308 Ohne die Pointen meiner nachstehenden Untersuchungen vorwegnehmen zu wollen, sei kurz auf einige Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser beiden Arbeiten aufmerksam gemacht, die in den Textinterpretationen an gegebener Stelle präzisiert werden. Brocks mehrfach anklingender Befund, dass »die Sicht des Ökonomen auf die Kunst von der des Schriftstellers kaum zu unterscheiden« sei309, wird mit der Frage nach der realistischen Diskursivität fundamentaler angesetzt. Es geht dabei nicht nur um die programmatischen Positionen, die Brock mit der Herausarbeitung des Sittlichkeitsdenkens in der deutschen Nationalökonomie des 19.  Jahrhunderts gut umreißt310, sondern auch darum, welche Konsequenzen diese Programmatik für das ökonomische Forschungsprogramm besitzt. Erst die Zusammenschau der Wirtschaftslehrbücher mit einigen der empirischen Studien, die in ihrem Geiste entstanden sind, erlaubt denn einen Blick auf die Textverfahren dieser realistischen Ökonomie.

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2007 hat bereits Uwe Seja die Relevanz dieses nationalökonomischen Diskurses für Kellers Realismus angedeutet, wobei sein aus moderner mikroökonomischer Perspektive argumentierender Aufsatz auf die Besonderheit der ethischen Nationalökonomie deutscher Prägung kaum eingeht. Vgl. Uwe Seja: »Seldwyla« – A Microeconomic Inquiry. In: Hans Joachim Hahn/Uwe Seja (Hg.), Gottfried Keller, »Die Leute von Seldwyla«. Kritische Studien – Critical Essays, Oxford, Bern et al. 2007, S. 93–116. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 90. Als ›der Ökonom‹ ist an dieser Stelle Albert Schäffle angesprochen, der die prominenteste Rolle in Brocks Korpus spielt. Ihre – im Vergleich zur vorliegenden Arbeit – latente Zurückstellung der beiden Hauptvertreter der Historischen Schule, Wilhelm Roscher und Gustav Schmoller, zeitigt jedoch, aufgrund der großen Homogenität des deutschen ökonomischen Diskurses nach 1850, keine gravierend unterschiedlichen Ergebnisse. Vgl. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 51–56 u. S. 99–118.

Als Setzung nimmt Brock den nationalökonomischen Versuch, »den Sittlichkeitsgedanken innerhalb des Wirtschafssystems zu verankern«, auf.311 Welche Eigenlogik dieser Versuch hat und inwieweit er überhaupt trägt, wird der Vergleich mit den konkurrierenden Strömungen der Grenznutzenökonomie und der Marx’schen Ökonomie in den Kapiteln 2. und 4. dieser Arbeit erkennen lassen.312 Aus diesen Abgrenzungen heraus wird die deutsche Nationalökonomie nicht nur detailierter, sondern überhaupt als strukturale Einheit (eben als spezifischer, realistischer Diskurs) beschreibbar. Schließlich führt die Reflexion der Zeichenproblematik des Realismus (Kapitel 2. und 3. dieser Arbeit) auch zu unterschiedlichen Textinterpretationen zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. Brock akzentuiert sozialhistorisch die »zentrale Stellung der Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft«313 und schildert entsprechend die diversen Bestrebungen der Literatur, Anschluss an den ökonomischen Diskurs herzustellen. Sie vertritt die These, »der Grüne Heinrich richte sich weder gegen den Künstler noch gegen die Ökonomie, sondern plädiere für ein Gleichgewicht der beiden Faktoren in der bürgerlichen Gesellschaft. Damit wiederholt der Text die Aussage der zeitgenössischen Ökonomen, die sich eindeutig für die Verbindung von Kunst und Wirtschaft aussprechen.«314 So fruchtbar diese Kontextualisierung ist, ein ›Wiederholungsverhältnis‹ scheint m.E. bei aller diskursiven Nähe nicht vorzuliegen. Auch nicht in der weitaus wirtschaftsoptimistischeren ersten Fassung des Grünen Heinrich von 1854/1855315, auf die Brock ihre Untersuchungen stützt. Spätestens mit der stärker rezipierten316 zweiten Fassung von 1879/1880 (die ich zugrunde lege) treten die in der Forschung oft thematisierten ökonomie- und zeitkritischen Momente des Textes stärker hervor317, mit denen sich Keller in den Tenor literarischer Wirtschaftsbetrachtung im Realismus einordnet. Im Vergleich mit den Ökonomen pflegen die Literaten eine skeptischere Sicht auf den neuzeitlichen Marktverkehr und die Medien, die

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Brock: Kunst der Ökonomie, S. 52. Die Grenznutzenökonomie spielt bei Brock keine Rolle. Der Abgrenzung zu den sozialistischen Theorien wird in einer Fußnote vorgenommen (Brock: Kunst der Ökonomie, S.  56f., Fn. 121), die lediglich auf die (oberflächlich) kritischen Stimmen zum Marx’schen Schaffen, nicht aber auf die tatsächlich vorhandenen Gemeinsamkeiten wie auf die Unterschiede beider Schulen Bezug nimmt. Dazu genauer Kapitel 4.3. der vorliegenden Arbeit. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 133. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 134. Dass die Welt des Ökonomischen in der Erstfassung vergleichsweise »robust« gezeichnet ist, ist bereits erörtert worden von Fritz Breithaupt: Der reine und der unreine Markt. Pathologien ökonomischer Individualität in Kellers »Der grüne Heinrich«. In: Thomas Wegmann (Hg.), Markt. Literarisch, Bern et al. 2005, S. 99–114, hier: S. 110f.; vgl. auch Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 172f. Vgl. Ulrich Kittstein: Gottfried Keller, Stuttgart 2008, S. 48. Vgl. zum Ökonomiethema und seinen Tendenzen im Gesamtwerk etwa Christian Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers, Frankfurt a.M. et al. 1998, S. 235– 241.

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ihn tragen. Diese Sicht erschließt sich erst in einer poetologischen Lesart, die für die Zeichenreflexionen des Realismus sensibel ist. Eine wichtige inhaltliche Beziehung zwischen Literatur und Ökonomie stellt sich demgegenüber über die ordnungspolitischen Positionen her, die in Die Kunst der Ökonomie kaum ausgewertet sind (dazu Kapitel 5. dieser Arbeit). Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen hält Brocks breit aufgestellte Studie wichtige Erkenntnisse über die ökonomische Konzeptualisierung der Kunst, insbesondere bei Albert Schäffle, bereit. Der Abschnitt 1.1. meiner Arbeit über die Entdeckung der Ökonomie durch den literarischen Diskurs darf sich, wie bereits angedeutet, durch ihre Ausführungen über die entsprechenden Sichtweisen der Ökonomen ideal ergänzt sehen. Theorien über den aufblühenden Kunstmarkt des 19. Jahrhunderts, die in meiner Studie weitestgehend ausgespart sind, werden bei Brock im Lichte der deutschen Nationalökonomie überzeugend vertieft. Sie akzentuiert (von Luhmann her kommend) wiederholt das marktwirtschaftliche Potenzial dieser Ökonomie, das aus der Adam-Smith-Rezeption erwächst. In meiner Arbeit wird letztlich ihre grundlegende Verschiedenheit von diesen klassischen wie den darauf aufbauenden modernen, systemischen Positionen erörtert. Der Fokus liegt auf dem Ordnungsdenken, das sich gegen die liberalistischen Ökonomien sperrt. Für die nächsten Schritte in der Erschließung der realistischen Nationalökonomie als Kontext des literarischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfte die weitere Untersuchung und Gewichtung beider Dimensionen wichtig werden.

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2.

Die Grundzüge der realistischen Poetik in Ökonomie und Literatur 1850–1900

Die Frage nach der ökonomischen Codierung realistischer Literatur ist in den einleitenden Abschnitten dieser Arbeit auf einen spezifischen Kontext gestoßen: die deutsche historische Nationalökonomie um Wilhelm Roscher und Gustav Schmoller. Im zweiten Kapitel sollen nunmehr die ›realistischen‹ Programme und Verfahrensweisen dieser Nationalökonomie eingehender Betrachtung finden. Zu entdecken ist eine eigentümliche Poetik der Wissensverarbeitung, die auf textstrukturierenden Prinzipien aufbaut, die dem Literaturwissenschaftler aus Praxis und Poetologie der realistischen Literatur bekannt sind. Das Kapitel wird immer wieder über literarische Beispiele dieses basale poetologische Rüstzeug in Erinnerung rufen, um letztlich die ökonomischen Textverfahren zu charakterisieren. Gelegentlich wird dabei bereits eine Abgrenzung dieser Verfahren gegen alternative Optionen angedeutet, die ausführlicher im vierten Kapitel dieser Arbeit vorgenommen wird. Der Diskurs der Historischen Schule oder, wie sie sich selbst auch bezeichnete, der ›realistischen‹ Nationalökonomie1 befand sich über weite Strecken des 20. Jahrhunderts im Schatten der dogmengeschichtlichen Aufmerksamkeit. Ihre Kritik am Laisser-faire-Prinzip der klassischen und neoklassischen Ökonomie fand zwar unter stärker etatistischen Denkern wie John Maynard Keynes Zustimmung.2 Und ein zaghaftes Revival zeichnet sich seit den späten 1980er Jahren in der neueren Institutionenökonomie ab, für die die Historische Schule als sozial und kulturalistisch orientierte Alternative zur individualistischen Mainstream-Ökonomie diskutabel wird.3 Doch in der Tendenz bleibt ihr Echo dünn. Im Kanon theoretischer Posi-

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Vgl. Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland [1874], 2. Aufl., München, Berlin 1924, § 209, S. 1032f. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner epochalen General Theory of Employment, Interest and Money kritisiert Keynes zwar die historistische und tendenziell untheoretische Ausrichtung der deutschen Ökonomie, beruft sich aber auf ihre ablehnende Haltung gegenüber der orthodoxen Laisser-faire-Lehre in der Tradition von Smith und Ricardo. Vgl. John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes [engl. 1935, dt. 1936], übers. von Fritz Wagner, Berlin 1955, S. VIII. Vgl. hierzu etwa den Sammelband von Peter Koslowski (Hg.): The Theory of Ethical Economy in the Historical School. Wilhelm Roscher, Lorenz von Stein, Gustav Schmoller, Wilhelm Dilthey and Contemporary Theory, Berlin et al. 1995. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch das ab 1991 von der Fritz-Thyssen-Stift ung geförderte Frankfurter Forschungsprojekt ›Wirtschaftssysteme‹, das sich ausdrücklich in die Tradition der verstehenden Tatsachenforschung der Historischen Schule (von Wilhelm Roscher bis

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tionen wird die Bandbreite deutschsprachiger Ökonomie zur Zeit des bürgerlichen Realismus gemeinhin auf zwei sehr gegensätzliche, international prominent gewordene Repräsentanten eingeschränkt: Karl Marx, den sozialistischen Kritiker der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, dessen Standardwerk Das Kapital im ersten Band 1867 erschien, und Carl Menger, den Begründer der Österreichischen Schule der Nationalökonomie4, der mit seiner nachfrageorientierten Grenznutzentheorie in den Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre von 1871 einen fundamentalen Baustein zur heute noch dominanten neoklassischen Ökonomie beisteuerte. Beide Positionen werden im vierten Kapitel dieser Arbeit diskutiert. Sie stehen im scharfen Kontrast zu der Strömung, die, aus historischem Blickwinkel angeschaut, das ökonomische Feld des Untersuchungszeitraums dominiert: Die Historische Schule der Nationalökonomie beherrscht den Diskurs nach 1850 über verschiedene Kanäle. Mit einer stark rechtswissenschaftlichen Verankerung richten ihre Vertreter die Lehre an deutschen Hochulen ein5 und halten enge Verbindungen zu den höheren Staatsbeamten.6 Wesentliche Periodika gehen aus ihrem Kreis hervor.7 Über außeruniversitäre Institutionen wie den Verein für Socialpolitik (gegründet 1872)8 übt die Schule einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die

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Werner Sombart) stellte. Vgl. Bertram Schefold/Helge Peukert: Wirtschaftssysteme im historischen Vergleich: ein Projekt. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (1992) Heft 1, S. 243–254. Zur Geschichte und Rezeption der Österreichischen Schule vgl. die knappe Einleitung von Kurt R. Leube in Kurt R. Leube (Hg.): Die Österreichische Schule der Nationalökonomie, Texte Bd. 1 (Von Menger bis Mises), Internationales Institut »Österreichische Schule der Nationalökonomie«, Wien 1995, S. 13–24. Wie die führenden Köpfe der Historischen Schule der Nationalökonomie, Wilhelm Roscher und Gustav Schmoller, die Lehrstuhlvergabe an deutschen Universitäten beeinflussten, lässt sich ausschnitthaft an ihrem Briefwechsel ersehen. Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Roscher und Gustav Schmoller. Wilhelm Stieda. Ansprache gehalten bei der Akademischen Nachfeier seines 70. Geburtstages am 29. April 1922 in Leipzig. Zwei Beiträge zur Literaturgeschichte der Nationalökonomie, hg. von Dr. W. Ed. Biermann, Greifswald 1922, S. 3–34. Vgl. Rüdiger vom Bruch: Die Staatswissenschaft liche Gesellschaft zu Berlin 1883–1919. Bestimmungsfaktoren, Voraussetzungen und Grundzüge ihrer Entwicklung. In: Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20.  Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister/Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 332–383, hier: S. 359. Vgl. ferner zu den Kanälen und Wirkungen der Schmoller’schen Gelehrtenpolitik Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft , Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, S. 320–347. Vgl. die 1863 von Bruno Hildebrand mitgegründeten Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, das lange Zeit von Gustav Schmoller herausgegebene Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche (ab 1913 als Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft weitergeführt) und Schmollers 1878 gegründete Reihe Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. Vgl. Franz Bosse: Zur Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932, Berlin 1939. Für einen konzisen Überblick über die Anfangsjahre vgl. Michael Buss: Von Schmollers

Meinungsbildung im Land aus.9 Wie nachhaltig diese Form der Nationalökonomie das deutsche Wohlfahrtsstaatsdenken, das bis in unsere Gegenwart hinein die wirtschaftspolitischen Debatten bestimmt, mitgeprägt hat, wurde in der aktuellen Forschung zur Gelehrtenpolitik bereits intensiv erörtert.10 Die neuere Ökonomiegeschichte hat die diskursive Einheit dieser Nationalökonomie durch den Begriff des ›Denkstils‹ zu fassen gesucht, ohne ihm terminologisch allzu weit nachzuspüren.11 Im Anschluss an die einschlägigen wissenschaftstheoretischen Studien von Ludwik Fleck lässt sich Denkstil als »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« definieren.12 Ein solcher Denkstil, der sich also in einer relativ homogenen Form der Hinsichtnahme auf die empirische Wirklichkeit niederschlägt, wird von einem sozialen Körper, einem »Denkkollektiv«, getragen.13 Das Kollektiv stellt die verbindlichen Grundannahmen, methodischen Instrumente und Stimmungen bereit, vermittels derer ein Forscher sein Objektwissen bildet. Es übt, wie Fleck sagt, einen »Denkzwang« aus, der die Möglichkeiten neuer Erkenntnis paradigmatisch begrenzt.14 Die erwähnten (und in Studien zur Gelehrtenpolitik ausführlich erforsch-

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wissenschaft lichem Denken zu seinem sozialpolitischen Engagement. Zur Rolle der Volkswirtschaftslehre während der Industrialisierung und staatlichen Neuordnung in Deutschland, Frankfurt a.M. et al. 2001, S.  135–184. Zum politischen und gesellschaftlichen Kontext der Vereinsarbeit vgl. Irmela Gorges: Sozialforschung in Deutschland 1872–1914. Gesellschaft liche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik [1980], 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1986. Zur öffentlichen Rolle und Wirksamkeit der Nationalökonomie in der Spätphase des hier zur Betrachtung stehenden Zeitraums siehe Rüdiger vom Bruch: Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland. In: Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20.  Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister/Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 45–81. Zur Kontinuität der sozialpolitischen Ausrichtung in Deutschland vgl. Rüdiger vom Bruch: Einleitung. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.), »Weder Kommunismus noch Kapitalismus«. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, S. 7–19. Vgl. etwa den Untertitel der kanonischen Studie von Birger P. Priddat: Produktive Kraft , sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998. Der Ökonomiegeschichtler Bertram Schefold spricht in durchaus ähnlicher Absicht von ›Wirtschaftsstilen‹. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft lichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], hg. und eingeleitet von Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, S. 130. Fleck: Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft lichen Tatsache, S. 54. Vgl. zum Denkzwang Fleck: Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft lichen Tatsache, S. 131. Bekanntlich ist Flecks wissenschaftssoziologischer Ansatz, der in der Anfangszeit, angesichts der Dominanz des Wiener Kreises und dessen Wissenschaftstheorie, nahezu unbeachtet blieb, von Thomas S. Kuhn wirkungsmächtig aufgenommen worden. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Fleck setzte allerdings erst in den letzten Jahren ein. Vgl. Mary Douglas: How Institutions Th ink, London 1987, besonders: S.  12–19 u. S. 31–43.

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ten) sozialen Kanäle, in denen die sprechenderweise als ›eine Schule‹ apostrophierte deutsche Nationalökonomie ihre Einheit herstellt, dienen in diesem Sinne als institutionelle Mittel, durch die das Denkkollektiv sich formt. Neben der wissenschaftssoziologischen Perspektive deutet Fleck aber noch eine zweite Dimension des ›Denkkollektivs‹ an, die stärker auf die publizistische Seite abzielt. Einen Denkstil, schreibt er, »begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems«.15 Mithin wäre die distinkte Art und Weise der Selektion und Ordnung empirischen Materials auch von einem spezifischen Textverständnis, eben von einem ›literarischen Stil‹, mit geprägt. Um dieser Intuition des Wissenschaftstheoretikers nachzugehen, ist der Literaturwissenschaftler gefordert. Welche Art der Textorganisation die nationalökonomische realistische Prosa auszeichnet und welchen Anteil daran auch literarische Formen nehmen, soll in diesem Kapitel in Grundzügen vorgestellt und anschließend in Fallstudien vertieft werden. Die Poetologie des literarischen Realismus16, die in drei Schritten nachvollzogen wird (metonymische Konstruktion der Darstellungsachse, Poetisierung und semiotische Selbstreflexion), stellt hierfür das Verfahrenswissen bereit, mit dessen Hilfe Textformen der realistischen Ökonomie paradigmatisch erfasst werden können. Die Fragen richten sich dabei noch weniger auf die Semantik der je einzelnen Texte. Was zunächst in den Blick kommt, ist eine generelle Weise des Wirklichkeitszugangs, der den realistischen Denkstil charakterisiert und sich in einer entsprechenden realistischen ›Diskursivität‹ niederschlägt.

2.1.

Der Aufstieg zum Besonderen – Wilhelm Roschers realistische Grundsätze

Der Ausgangspunkt der Historischen Schule der Nationalökonomie liegt in dem 1843 erschienenen Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirthschaft, den der Leipziger Lehrstuhlinhaber Wilhelm Roscher noch in seiner Göttinger Zeit verfasste. Kanonisch wird das Programm wenig später durch Roschers Grundlagen der Nationalökonomie (1854), den ersten Teil in seinem System der Volkswirthschaftslehre, der bis 1922 in insgesamt 26 Auflagen erschien und zum Standardlehrbuch der Ökonomie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte. Unter dem Namen der historisch-realistischen Schule finden die Doktrinen und ihre Vertreter Eingang in Roschers maßgebliche Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland von 1874. Parallel dazu verhelfen Bruno Hildebrand sowie Karl Knies dem Historismus in der deutschen Na-

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Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft lichen Tatsache, S. 130. Nach langjährigem Ausbleiben von Forschungsberichten liegt nunmehr eine umfangreiche Studie vor, die auch die Forschungsansätze seit den 1970er Jahren erfasst und mit stark kritischem Einschlag diskutiert: Ingo Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009.

tionalökonomie zum Durchbruch.17 Dieses Dreigestirn – Roscher, Hildebrand und Knies – bildet die so genannte ›Ältere Historische Schule‹ der Nationalökonomie. Um Gustav Schmoller und die Köpfe des Vereins für Socialpolitik (u.a. Lujo Brentano) formiert sich ab 1872 eine Nachfolgegeneration, die ›Jüngere Historische Schule‹, die häufiger auch als ›historisch-ethische Schule‹ der Nationalökonomie angesprochen wird.18 Was man von den Untersuchungen dieser realistischen Nationalökonomen erwarten darf, hat Carl Menger 1884 in polemischer Absicht auf dem Höhepunkt des Methodenstreits19 mit Gustav Schmoller in seiner Streitschrift Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie herausgestellt: Ein halbes »Dutzend Schriften […] über die Entwicklung der Strassburger Gewerbsverhältnisse« gebe es hier zu entdecken20, lauter »historisch statistische Kleinmalerei«21, »Specialissima der Volkswirthschaft«22, Material »etwa über die Strassburger Fleischpreise oder gewisse Tuchmacherzünfte«23 und dergleichen. Verärgert resümiert Menger: Sollte die Wirthschaftsgeschichte, ehe wieder an die Bearbeitung der theoretischen Nationalökonomie geschritten werden könne, im Geiste der historischen Mikrographie Schmoller’s vollendet werden – man denke nur an die Fleischpreise von Eberfeld! von Pforzheim! von Mülheim! von Hildesheim! von Germersheim! von Zwickau! u.s.f. – so würden hierzu nur Aeonen ausreichen.24

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Vgl. die theoretischen Grundlagenschriften: Bruno Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft [1848]. In: Bruno Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft und andere Schriften, hg. von Hans Gehrig, Jena 1922, S. 1–267; Karl Knies: Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode, Braunschweig 1853. Für einen konzisen Überblick über die Entwicklung des ökonomischen Historismus in Deutschland und die Abfolge seiner Programme siehe Karl Pribam: Geschichte des ökonomischen Denkens, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1992, hier: Bd. 1, S. 401–428. Der Methodenstreit verhandelt die Ausrichtung der nationalökonomischen Forschung im deutschsprachigen Raum nach 1871, wobei eine auf Abstraktion abzielende, primär deduktive, systemische Theoriebildung (Menger) und eine primär induktive, empiristische Forschung (Schmoller) einander in ihren Prioritätsansprüchen gegenüberstehen. Der Methodenstreit ist ausgiebig dokumentiert; siehe Gerhard Ritzel: Schmoller versus Menger. Eine Analyse des Methodenstreits im Hinblick auf den Historismus in der Nationalökonomie, Diss. masch., Frankfurt a.M. 1950. Für einen jüngeren Abriss (mit weiterführender neuerer Literatur) vgl. Shirō Takebayashi: Die Entstehung der Kapitalismustheorie in der Gründungsphase der deutschen Soziologie. Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie Werner Sombarts und Max Webers, Berlin 2003, hier: S. 25f. u. S. 42–47. Carl Menger: Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Wien 1884, S. 33. Menger: Die Irrthümer des Historismus, S. 26. Menger: Die Irrthümer des Historismus, S. 40. Menger: Die Irrthümer des Historismus, S. 40. Menger: Die Irrthümer des Historismus, S. 38.

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Das ist eine überaus adäquate Bestandsaufnahme. Die Sammlung empirischer Daten über historisch oder aktuell gegebene Wirtschaftsräume, die der Historischen Schule zum Zentralanliegen der Wirtschaftswissenschaft wird, mündet tatsächlich in Texte von ausufernder Materialfülle. Diese Fülle mag ›mikrologisch‹ auftreten, wie in den hier polemisch angegriffenen Arbeiten von Gustav Schmoller, oder ›polyhistorisch‹ vom Blick für das menschheitsgeschichtlich Große und Ganze künden, wie Roschers nationalökonomische Studien. Es mag um Zünfte in Straßburg gehen oder um Luxusgesetzgebungen zwischen Antike und Neuzeit – stets umgibt sich diese historistische Forschung mit einem Gestus von Beflissenheit und entsagungsvoll hartem Studium, dient ihr quantitativer Reichtum zum Nachweis von Wissenschaftlichkeit. Über 1000 Autoren habe Wilhelm Roscher für seine Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland studiert und ausgewertet, schreibt Gustav Schmoller in einer Charakteristik seines Wegbereiters bewundernd.25 Nicht geringer ist der Aufwand in Roschers Hauptwerk, den Grundlagen der Nationalökonomie. Formal an der bis dahin gültigen Lehrbuchgestaltung von Karl Heinrich Rau26 orientiert, wächst das Werk – über relativ stabil bleibende Begriffsdefinitionen und Klassifi kationen, die die Didaxe des Haupttextes ausmachen, hinaus – mit jeder seiner 26 Neuauflagen insbesondere im Anmerkungsapparat stetig an. Wobei es darin um weit mehr als um die obligatorische, kontinuierliche Einarbeitung neuerer Fachpublikationen geht. Der Text versammelt enzyklopädische Häppchen aus einer ganzen Bandbreite kulturgeschichtlichen Wissens des 19. Jahrhunderts.

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Gustav Schmoller: Wilhelm Roscher [1888]. In: Gustav Schmoller, Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, Leipzig 1888, S. 147–171, hier: S. 161. Vgl. Rau: Lehrbuch der politischen Ökonomie. Die Volkswirtschaftslehre wird bei Rau entlang den Dogmen der Smith’schen Ökonomie entwickelt und schrittweise in Paragraphen vorgetragen. Fußnoten dienen ihm hauptsächlich zum Quellennachweis. Die Volkswirtschaftspflege umfasst Fragen politischer Wirtschaftsförderung und schließt an die deutsche kameralistische Tradition an. Roscher handelt die Wirtschaftspolitik demgegenüber nicht in einem eigenständigen Band ab, sondern beendet die wirtschaft stheoretischen Abschnitte jeweils mit Anmerkungen zu möglichen Staatseingriffen in die wirtschaft lichen Abläufe. Tendenziell ist Roschers wirtschaftspolitische Auffassung liberaler; staatliche Interventionen hält er nur für eingeschränkt sinnvoll. Vgl. dazu Erich W. Streissler: Wilhelm Roscher als führender Wirtschaftstheoretiker. In: Bertram Schefold (Hg.), Vademecum zu einem Klassiker der historischen Schule. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe der 1861 erschienenen Erstausgabe von Wilhelm Roscher »Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte«, Düsseldorf 1994, S. 37–121; Erich W. Streissler: Nationalökonomik als Naturlehre. Roscher als Wirtschaftspolitiker, verglichen mit dem »liberalen« Rau. In: Christian Scheer (Hg.), Die ältere historische Schule. Wirtschaftstheoretische Beiträge und wirtschaftspolitische Vorstellungen, Berlin 2005, S. 13–37. Das Charakteristische an Roschers Ökonomie stellt aber sein Bemühen um Durchdringung der Theorie mit konkreten Schilderungen historischer und zeitgenössischer Wirtschaftsräume, insbesondere in den umfangreichen Fußnotenapparaten, dar.

Schon ein Blick in den mit zwei Seiten vergleichsweise kurz ausfallenden Endnotenapparat zum ebenso langen Haupttext des ersten Paragraphen (in dem der Grundbegriff des wirtschaftlichen ›Gutes‹ erläutert wird) gibt etwas von der zu erwartenden Vielstimmigkeit zu erkennen: Ethnographische Anekdoten aus Arabien (Fn. 11, Fn. 12)27, äußerst speziell anmutende Statistiken über den Jahresbedarf des bayerischen Volkes an Nahrung, Kleidung und Getränken (Fn. 3) und Erwägungen zur kulturgeschichtlichen Rolle des Feuers oder zum wechselhaften Status des römischen Colosseums (Fn. 5, Fn. 13) stehen in Roschers Endnoten neben konventionellen Quellenangaben, Nachweisen zu weiterführenden Begriffsdiskussionen und Dauerreferenzen auf die je größtmögliche Traditionslinie, in die sich eine Erörterung stellen kann (nach dem Muster ›Schon Aristoteles sagte‹, Fn. 10). Der quantitative Reichtum (1000 Autoren!) korrespondiert mit qualitativer Vielfalt; materiale Heterogenität zeichnet das Textwachstum aus. So entsteht in Roschers Lehrbuch für die historisch-realistische Schule ein pluraler Text, der auf gut 800 Seiten (nach der 20. Auflage von 1892 gezählt) einen größtmöglichen Ausschnitt kulturellen Wissens seiner Zeit mit abbilden will, und zwar in losen Stichproben: von der Anzahl an Advokaten und Notaren in Galizien 186628 oder der jährlichen Regenmenge in St. Petersburg29 über altertumskundige Berichte, geographische, mineralogische, religiöse, landwirtschaftliche und diätetische Details bis hin zu ethnographisch Wissenswertem über die »sexuelle Kälte der indianischen Männer«30. »In dicken Wälzern und trockenen Vorlesungen«, so urteilt der Ökonomiehistoriker Joseph Schumpeter 1965, habe Roscher »die orthodoxe – in erster Linie englische – Doktrin seiner Zeit« vorgetragen, die er »einfach durch historische Fakten illustrierte«.31 Diese bis heute weithin geteilte Einschätzung zerlegt die Textoberfläche des Roscher’schen Lehrbuchs in zwei Bestandteile: eine doktringeschichtlich relevante Theorieschicht, die als konventionell eingestuft wird, insofern sie sich aus der eng-

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Alle an in diesem Absatz folgenden Fußnotenangaben nach Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 2–4. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 3, S. 38, Fn. 7. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 32, S. 72, Fn. 4. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 244, S. 686, Fn. 7. Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965, hier: Bd.  2, S.  988. Schumpeters Ökonomiegeschichte nimmt heute den Rang ein, den Wilhelm Roschers Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland für das 19.  Jahrhundert innehatte. Der Vorwurf, die Historische Schule der Nationalökonomie würde Theoreme der klassischen theoretischen Ökonomie lediglich illustrieren bzw. »mit allerhand historischem Beiwerk verbrämen«, fi ndet sich bereits bei Carl Menger im Methodenstreit ausgesprochen. Siehe Carl Menger: Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der Politischen Ökonomie insbesondere [1883], 2. Aufl. In: Carl Menger, Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Friedrich August Hayek, Tübingen 1969, S. 119.

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lisch-orthodoxen Marktkonzeption herleitet, und demgegenüber das die Theorie ummantelnde illustrative Beiwerk. Ersterem gilt das Interesse der Ökonomiehistoriker.32 Nach doktringeschichtlicher Auffassung verbreitet Roscher in den Grundzügen eine klassische Produktionswerttheorie, deren Lehrsätze zum Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf der freien Interaktion rationaler, eigennütziger und nutzenmaximierend agierender Marktteilnehmer fußen. Wie sämtliche Vertreter der klassischen Ökonomie – nach Smith und vor Menger, Jevons und Walras – verbindet auch Roscher dieses individualistische Wirtschaftsmodell mit einem produktionswerttheoretischen Ansatz.33 Die Frage, nach welchem Maßstab Marktteilnehmer bei ihrem Tauschgeschäft ihre Waren vergleichen, wird hierin zurückgeführt auf die Produktionskosten, die zur Herstellung der betreffenden Ware aufgebracht werden.34 In gering entwickelten Gesellschaften sind diese Produktionskosten gleich der aufgewandten Arbeit. Um ein in der Ökonomiegeschichte berühmtes Beispiel von Adam Smith35 zu bemühen: Wenn es doppelt so viel Arbeit macht, einen Biber zu fangen wie einen Hirschen, dann ist Ersterer auch doppelt so viel wert.36 Sobald die Ausdifferenzierung der Wirtschaft und die Kapitalbildung voranschreiten, umfassen die Produktionskosten neben dem Arbeitslohn auch den Zins für die Kapitalinvestition, d.h. den Profit. Diese etwas grobe dogmentheoretische Verortung deckt, wie gesagt, nur eine Seite des Roscher’schen Schaffens ab, und auch diese in letzter Instanz unzureichend. Sie übergeht nicht nur die – bereits im ersten Kapitel angeklungenen – gebrauchswerttheoretischen Überlegungen in dieser Ökonomie (die de facto der Grenznutzentheorie Carl Mengers ihren Weg mitebnen37). Sie übergeht auch die diversen programmatischen Abgrenzungsbestrebungen gegen die Vorgaben der britischen Klassik. Und

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Die Einkürzung der ›Pluralität von Stimmen‹ in den historischen Werken zugunsten einer geradlinigen Ausrichtung auf aktuell relevante Doktrinen durch die kanonisierende Ökonomiegeschichtsschreibung hat auch Willi Henderson kritisiert und zum Ausgangspunkt seiner breiteren literaturwissenschaft lichen Analysen ökonomischer Texte gemacht. Vgl. Willi Henderson: Economics as Literature, London, New York 1995, S. 1–3. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §§ 106f., S. 272–275. Vgl. für die folgenden Ausführungen Bernd Ziegler: Geschichte des ökonomischen Denkens. Paradigmenwechsel in der Volkswirtschaftslehre, München, Wien 1998, S. 106f.; Pribam: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, S. 247–250; siehe weiterführend zu den Unschärfen der Smith’schen Produktionswerttheorie Gerhard Kolb: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Dogmenhistorische Positionen des ökonomischen Denkens, 2. Aufl., München 2004, S. 55–58. Smith: Wohlstand der Nationen, S. 42 Das Bedürfnis nach dem Gut, also sein Gebrauchswert, wird dabei als konstant vorausgesetzt, anders als in der neoklassischen Grenznutzentheorie, die den Güterwert in Relation zu einem in sich gegliederten Bedürfnishaushalt analysiert. Menger verweist in seinen Grundsätzen entsprechend ausgiebig auf gebrauchswerttheoretische Ansätze in der herrschenden deutschen Nationalökonomie. Vgl. zu diesem später noch weiter zu erörternden Punkt Birger P. Priddat: Theorien des subjektiven Wertes in der deutschen Nationalökonomie. In: Birger P. Priddat, Produktive Kraft, sitt-

damit übergeht sie vor allem die Aufgaben, die den riesigen Textmengen, in die Roscher die ›abstrakten‹, produktionswerttheoretischen Lehrsätze der Smith-Tradition einbettet, zukommen. Für eine ausschließlich am ›harten Kern‹ nationalökonomischer Theorie orientierte Geschichtsschreibung nehmen sich Roschers historische und statistische38 Erläuterungen als im Grunde unnötige, eben bloß ›illustrative‹ Zugabe aus. Sie erscheinen als gigantische Amplifi kation, deren kontinuierliches Anwachsen das theoretische Gebäude seines Lehrbuchs über 26 Auflagen hinweg im Wesentlichen unverändert lässt.39 Doch ebendieses Anwachsen des vermeintlichen Beiwerks ebenso wie die zahlreichen weiteren historischen Arbeiten Roschers, gesammelt in den Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, deuten an, dass die Pointe dieser Ökonomie gerade nicht in den systematisch theoretischen Aspekten liegt. Tatsächlich handelt es sich bei Roscher weniger um eine historisch-deskriptive Ummantelung der Smith’schen Markttheorie denn um eine Verschiebung ihrer Akzente. Die ›abstrakten‹ Modelle sollen rekontextualisiert, also zeitlich und räumlich konkretisiert, und damit letztlich in ihrer theoretischen Geltung relativiert werden. Roscher selbst hat das Verhältnis zwischen den auf Abstraktion abzielenden Lehrsätzen des Haupttextes und den wirtschaftsgeschichtlichen Präzisierungen folgendermaßen bestimmt: In einer Antwort auf Kritik am ausufernden Fußnotenapparat seiner Lehrbücher sagt er, dass der kurze Haupttext erlaube, »zunächst [!] das Buch als Ganzes auf sich wirken« zu lassen, der Leser dann aber, vermöge der anhängenden statistischen und historischen Angaben sowie »praktischen Detailerörterungen«, »tiefer ins Einzelne gehen« könne.40 Im Einzelnen also, in den mannigfaltigen Realia des Wirtschaftlebens, die der Textapparat speichert – und zwar Pars pro Toto für

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liche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 377–390. Historische und statistische Methode sieht Roscher unter dem Dach einer allgemein beschreibenden Staatenkunde vereinigt, sodass Statistik bei ihm als »»vorzugsweise exacte Benutzung vorzugsweise reichlicher Geschichtsquellen« defi niert ist (Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, §  209, S.  1035). Eine Unterscheidung zwischen einer mathematischen Statistik, als Auszählung einzelner staatlicher Bevölkerungsverhältnisse, wie sie in den im 19. Jahrhundert vermehrt gegründeten Statistischen Büros betrieben wird (Tabellenstatistik), und einer sprachlichen Beschreibung des Staatszustandes (Schilderungsstatistik oder Demographie) wird von Roscher zwar registriert, doch nicht als wissenschaftstheoretisch relevant erachtet. Auszählende und beschreibende Verfahren sieht er als lediglich graduell, nicht als strukturell verschieden an (vgl. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, § 203, S. 1011). Innovationen wie die Menger’sche Grenznutzentheorie übergeht Roscher in den Ausgaben nach 1871 bzw. gemeindet sie, in durchweg harmonisierender Absicht, in seine jeweils vorgetragene Doktrin ein. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 4, S. 12. Wilhelm Roscher: [Selbstanzeige] Roscher, Wilhelm: System der Volkswirthschaft: ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende. Dritter Band. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller, Bd. 6 (1882) Nr. 1, S. 351–353, hier: S. 351.

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die umfangreicheren wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, die andernorts, in den Periodika der Historischen Schule, erscheinen – liegt der Interessepunkt dieser Ökonomie. Auf diese ›tatsächliche‹ Realisierung des Allgemeinen hin soll die Umsicht der Praktiker des Wirtschaftslebens, der Geschäftsmänner und Studierenden, an die sich Roschers Lehrbuch ausdrücklich richtet, geschult werden. Ein Aufstieg zum Besonderen ist hierin angezeigt, und diese Stoßrichtung zeichnet den realistischen Zugang der deutschen Nationalökonomie aus. Jenseits der Abstraktion – Der Mensch, ›wie er ist‹ Die jetzt auf unseren Universitäten vorherrschende Richtung der Nationalökonomik ist mit Recht eine realistische genannt worden. Sie will die Menschen so nehmen, wie dieselben wirklich sind: von sehr verschiedenen, auch nichtwirthschaftlichen Motiven zugleich bewegt, einem ganz bestimmten Volke, Staate, Zeitalter angehörig u. dgl. m. Die Abstraktion von alle dem, welche so manchen, auch großen Nationalökonomen zu schweren Irrthümern verleitet hat, bleibt also nur für das Stadium der Vorarbeiten gestattet; aber für die fertige Theorie ebenso wenig, wie für die Praxis.41

So kennzeichnet Wilhelm Roscher in seiner Geschichte der National-Oekonomik die nach 1850 in Deutschland dominante, von ihm selbst führend vertretene realistische Richtung nationalökonomischer Forschung und bringt sie gleichzeitig in eine signifi kante Opposition gegen die ›abstrakte‹ Ökonomie englischer Provenienz. Der Begriff ›Abstraktion‹, von Roscher auch gern als ›idealistische‹ Verfahrensweise angesprochen, umfasst zweierlei: zum einen die Festlegung auf ein Menschenbild, wie es in Deutschland im Zuge der Adam-Smith-Rezeption von der Freihandelsschule vertreten wird.42 Der idealtypisch freie, tatkräftige, auf seinen eigenen Nutzen bedachte Akteur als Agens einer wachstumsorientierten Marktwirtschaft, die auf kontinuierliche Bedürfnis- und Produktivitätssteigerung abzielt, ist darin der Ausgangspunkt der ökonomischen Theoriebildung. Eine Abstraktion bedeutet diese Form wirtschaftsanthropologischer Auffassung, weil sie weder spezifische Handlungsmotive (insbesondere auch gemeinnützige Einstellungen) realer Akteure noch institutionelle Einbindungen noch historische, regionale und nationalkulturelle Prägungen in den Blick nimmt. Kurzum: Sie abstrahiert, so Roscher, von der ›Mannigfaltigkeit‹ der Menschen, wie sie wirklich leben. Dieser Einwand trifft auch auf den zweiten Aspekt der Abstraktion zu: die mathematische Abbildung der Marktverhältnisse.43 Roscher registriert zwar die zunehmenden Formalisierungsbestrebungen seiner Zeitgenossen, von v. Thünen bis hin zu

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Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, §  209, S.  1032f. Der zweite Satz dieses Zitats fi ndet sich wortwörtlich auch in den entsprechenden methodischen Ausführungen in Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 22, S. 51. Vgl. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, § 205, S. 1017f. Vgl. Birger P. Priddat: Über W. Roschers ›historische Methode‹ der Nationalökonomie. Intention und Scheitern. In: Birger P. Priddat, Produktive Kraft , sittliche Ordnung und

Walras und Jevons, schätzt sie aber als Unterfangen für »mathematisch veranlagte Köpfe« und im Ganzen als »curios« ein.44 Wie im ersten Fall richtet sich seine Kritik auch hier gegen den Reduktionismus der Methode. Sie isoliere »eine Menge von Elementen, welche das Leben immer verbunden zeigt«.45 Demgegenüber garantiert Roschers ›geschichtliche oder physiologische‹ Methode als eine beschreibende, vertextende Methode gerade das Wissen um die Verbundenheit: »So lässt sich z.B. die Nährkraft verschiedener Speisen wohl berechnen, (Roggenwerth, Heuwerth, etc.); aber nicht ihre Geschmacksgüte, die damit verbundene Augenweide etc.«, heißt es zum Problem der Mathematisierung.46 Die beschreibende Methode betrachtet also Güter im kulturellen Gebrauchszusammenhang und erfasst somit, zeichentheoretisch gewendet, Begriffe (z.B. ›Speise‹) mit ihren dazugehörigen Konnotationen (›schmeckt‹, ›sieht gut aus‹ etc.). Die anvisierte ›Verbundenheit‹ ist also eine Kontiguitätsbeziehung, resultierend aus einer sachlichen Nachbarschaft, und kann als solche in Texten abgerufen werden. Es gilt hier einen Moment innezuhalten, weil in diesen zwei Aspekten grundlegende Bestimmungen vorliegen, die nicht nur die realistische Nationalökonomie gegen die systemische oder abstrakte Ökonomie abheben und profi lieren, sondern überhaupt den Ausgangspunkt einer realistischen Diskursivität markieren: 1) Mit Roman Jakobson ist die Ausrichtung auf Kontiguitätsbeziehungen als Grundbestandteil der realistischen Textverfahren festzuhalten.47 2) Die Orientierung auf kulturell situierte Wirtschaftssubjekte, wie sie in den soziologischen Prämissen ersichtlich wird, macht demgegenüber einen zentralen inhaltlichen Punkt aus und ist also auf der Darstellungsebene48 der Texte anzusiedeln. Beiden Aspekten wird in den folgenden Abschnitten ausführlich nachgegangen: den metonymischen Grundlagen des Verfahren in Abschnitt 2.2.; der kulturalistischen Dimension im Rahmen der poetologischen Erörterungen zur Verklärung in Abschnitt 2.3.

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geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 283–319, hier: S. 292f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 22, S. 53, Fn. 4. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 22, S. 53, Fn. 3. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 4, S. 9. Roman Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störung. In: Roman Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. von Wolfgang Raible, Frankfurt a M., Berlin, Wien 1979, S. 117–141, hier: S. 134. Ich spreche von ›Darstellungsebene‹ – im Gegensatz zur ›Textebene‹ –, insofern die (erste) Bedeutung bzw. der propositionale Gehalt eines Syntagmas in der Textebene gemeint ist. Ereignisse, Figuren, Handlung, Erzählinstanz etc. sind Kategorien der Darstellungsebene, während grammatische Kategorien wie Substantiv oder Verb die Textebene bilden. Diese Terminologie verdankt sich dem Rostocker Strukturalismus, der in den 1990er Jahren von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Staszak an der Universität Rostock gelehrt wurde.

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2.2.

Das Prinzip der Metonymie

Es gibt keinen realistischen Text ohne eine Darstellungsebene, auf der sich unterschiedliche Sachverhalte und Ereignisse, egal ob real oder fi ktiv, kohärent miteinander verkettet zeigen. Die Kohärenz entspringt einem gegebenen Gegenstandswissen, das kausale, teleologische oder morphologische Zusammenhänge innerhalb des repräsentierten Sachverhalts abdeckt. Mit anderen Worten: Sie verdankt sich metonymischen Relationen (Ursache-Folge, Zweck-Mittel, Teil-Ganzes usw.). Wenn Ereignisse auf diese Weise geordnet sind, entsteht eine Diegese, die als realistisch aufgefasst werden kann. Natürlich werden diese basalen Ereignisreihen auch durch poetische Zugriffe weiter organisiert: nach Prinzipien der Ähnlichkeit, nach Responsionsstrukturen oder Antinomien etwa. Ereignisse mögen auf einen metaphorischen, symbolischen oder allegorischen Bildsprung angelegt sein. Das alles kann hinzutreten. Grundlegend für den realistischen Text ist aber, dass er überhaupt erst einmal ein stimmiges Bildfeld aufbaut, das sachhaltig und potenziell referenzialisierbar wirkt. In diesem Sinne steht vor der Untersuchung zu den im engeren Sinne poetischen Verfahren, die weiter unten im Begriff der ›Verklärung‹ betrachtet werden, die Frage nach dem Aufbau dieser fundamentalen Darstellungsebene. 2.2.1.

Metonymien und die Konstruktion des Gewöhnlichen im literarischen Realismus

Bekanntlich hat Roman Jakobson das Primat der Metonymie als zentrales Charakteristikum realistischer Literatur hervorgehoben. »Den Prinzipien der Kontiguitätsrelation folgend«, so Jakobson, »geht der realistische Autor nach den Regeln der Metonymie von der Handlung zum Hintergrund und von den Personen zur räumlichen und zeitlichen Darstellung über.«49 Im Grünen Heinrich von Gottfried Keller wird dieses metonymische Gestaltungsprinzip bereits im Titel ersichtlich. Denn das Attribut ›grün‹ verweist hier zunächst nur auf den Umstand, dass der Protagonist Heinrich Lee sonntäglich wie wochentags grüne, aus der Uniform seines Vaters gefertigte Kleidung trägt. Insofern hier also eine Kontiguitätsbeziehung von Träger und Kleidungsfarbe vorliegt, lässt sich Heinrich als ›der Grüne‹ ansprechen. Zwar kann – wovon noch ausführlicher zu reden sein wird – diese Zeichenkombination zusätzliche Bedeutungen aquirieren. Schließlich lässt sich ›grün‹ im Kontext des Bildungsromans ebenso gut als Metapher auffassen und also etwa mit ›unreif‹ übersetzen. Heinrich wäre dann derjenige, der sich, gemessen an dem eingangs des Romans implizit aufgestellten Bildungsideal des Vaters (Berufserfolg, Ehe, soziales Engagement), nicht voll entwickelt, eben ›grün‹ bleibt. Doch gründet diese Form der Zweitcodierung in dem metonymischen Prinzip, das zuallererst regelt, dass Texte überhaupt eine Darstellungsebene mit einer Geschichte aufbauen. Wer ›Gabel‹ für ›Messer‹ sagt –

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Jakobson: Die zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störung, S. 135.

um Jakobsons Beispiel für die krankhafte Similaritätsstörung aufzugreifen –, lässt in dieser Substitution das Wissen um Kontiguitätsbeziehungen erkennen, also das in gewohnheitsmäßigen Sachverhalten gemeinsame Auftreten von Elementen wie ›Messer‹, ›Gabel‹, ›Löffel‹, ›Teller‹, ›Tisch‹, ›Essen‹ etc. Im Anschluss an die neuere Kognitionspsychologie ist man dazu übergegangen, solche standardisierten Zeichenzusammenhänge, die spezifische Situationen konstruieren (hier etwa das ›Essen bei Tisch‹), als ›Rahmen‹ (›Frames‹) bzw., insofern der Akzent auf Ereignisverläufen liegt, als ›Skripte‹ zu bezeichnen.50 Beide Begriffe ermöglichen nicht nur die Gliederung von Kontiguitätsbeziehungen, sie stellen auch konkrete und operable Einheiten unterhalb des allgemeineren Begriffs des ›Codes‹ bereit, den Roland Barthes in S/Z, seiner kanonischen Realismus-Studie zu Honoré de Balzacs Sarrasine, verwandt hat. Barthes proaïretischer Code (die Stimme der Empirie) umfasst in diesem Sinne diejenigen Skripte, die zum Aufbau von Geschehnisabläufen notwendig sind; sein hermeneutischer Code wiederum verdankt sich einer engeren literarischen Kompetenz, die mögliche Handlungsverläufe aus einem Ereignis heraus vorgibt und also das Rätsel des Textes organisiert. Der gnomische Code (die Stimme der Wahrheit) ruft demgegenüber ein stärker variables kulturelles Wissen auf, das Vorgänge erklären hilft und sich in seiner schlichtesten Form in Stereotypen niederschlägt.51 So entfaltet sich Kellers Der grüne Heinrich, in der einfachsten Hinsicht, entlang der zeitgenössischen Weisheit, dass es ohne väterliche Anleitung eben schwer fällt, einen bewussten Umgang mit Geld zu entwickeln. In den drei genannten Codierungstypen52 zeigt sich der realistische Text aufs Engste verzahnt mit dem außerliterarisch gebildeten Weltwissen, mit der Enzyklopädie53 seiner Kultur: Als Resümees vulgären Wissens liefern die kulturellen Codes den […] Syllogismen der Erzählung ihre obere Prämisse, die sich immer auf eine geläufige (»wahrscheinliche«, sagt die alte Logik) Meinung gründet, auf eine endoxale Wahrheit, mit einem Wort auf den Diskurs der Anderen.54

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Umberto Eco spricht von Rahmen und Skripten als »Speicher an Kompetenz«, die es ermöglichen, Textlücken im Rekurs auf das je verfügbare enzyklopädische Wissen zu ergänzen. Vgl. Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache [ital. 1984], übers. von Christiane Trabant-Rommel/Jürgen Trabant, München 1985, S. 111. Vgl. Roland Barthes: S/Z [franz. 1970], übers. von Jürgen Hoch, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 21–26. Barthes beobachtet darüber hinaus den Code der Seme (Stimme der Person) und den Symbolcode. Unter ›Enzyklopädie‹ soll hier, mit Umberto Eco, das Weltwissen verstanden werden, das notwendig ist, um Texte zu interpretieren. Insofern Interpretanten selbst Gegenstand weiterer Interpretation werden können, ist die Enzyklopädie als Netz, als Rhizom, wie Eco im Anschluss Deleuze/Guattari erläutert, strukturiert. Siehe Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 126. Barthes: S/Z, S. 183.

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Gerade diese Unterordnung unter eine zunächst außerliterarisch vertraute und deshalb als ›wahrscheinlich‹ erachtete kontige Kombinatorik lässt nun, das ist die Pointe der Barthes’schen Realismus-Theorie, die literarische Darstellung als ›realistisch‹ erscheinen: [K]ulturelle Codes, von Zitat zu Zitat verstreut, bilden in ihrer Gesamtheit ein kleines enzyklopädisches, merkwürdig zusammengestückeltes Wissen, einen Wust: dieser Wust bildet die landläufi ge »Realität«, im Verhältnis zu dem das Subjekt sich anpaßt und lebt.55

Die Kritik, die Barthes mit diesem Sekundärwerden der Literatur verbindet, ist bekannt. ›Ekel‹ befällt den Theoretiker moderner Textualität angesichts eines ›Realitätsprinzips‹, das Literatur auf »gesellschaftliche Wahrheit« und den »Code der Institutionen« zurückführt.56 Seine Feier einer ›schreibbaren‹ Literatur, d.h. einer avantgardistischen Kombinatorik, die nicht primär auf Kontiguität, sondern, im Sinne der poetischen Funktion, auf Äquivalenz beruht und dadurch das enzyklopädische Wissen selbst in seiner Arbitrarität zur Disposition stellt, ist das Korrelat dieser Kritik 57 (in ihr zeigt sich Barthes’ Werk auch als Produkt der antiautoritären Bewegung der 1960er Jahre). Für eine produktive Weiterarbeit lohnt es fraglos, die polemischen Aspekte der Barthes’schen Realismus-Kritik zugunsten ihrer konzeptuellen Überlegungen zu übergehen. Was mit Barthes nachhaltig beschreibbar wird, ist die intertextuelle Konstruktion der Darstellungsebene. In ihrer einfachsten Form zeigt sie sich bereits dort, wo referenzialisierbare Orts- und Zeitangaben in das fi ktionale Fabrikat eingearbeitet sind, auf dass sich die Diegese in einem historisch konkreten Raum situieren lasse.58 Literaturwissenschaft lich interessant wird diese Verankerung jedoch erst, wenn das abgerufene kulturelle Wissen ideologisch komplexer ist. Enzyklopädische Anker in Friedrich Spielhagens Sturmflut So wird die intertextuelle Konstruktion insbesondere dort deutlich, wo sich ein realistischer Text, wie etwa bei Friedrich Spielhagen, bestimmte Formen interner Kontextbildung59 versagt. Gemäß seiner programmatischen Forderung nach maximaler

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Barthes: S/Z, S. 183f. Barthes: S/Z, S. 184. Noch pointierter ist die Realismus-Kritik in dieser avantgardistischen Ausrichtung vorgetragen in Roland Barthes: Die Lust am Text [franz. 1973], übers. von Traugott König, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1996. Vgl. dazu im Anschluss an Barthes Lilian R. Furst: Realism and its »Code of Accreditation«. In: Comparative Literature Studies, Bd. 25 (1988) Heft 2, S. 101–126. Mit Roman Jakobson lassen sich die Satzbestandteile als Kontext des je einzelnen Wortes auffassen, so wie die Textumgebung eines Satzes dessen Kontext darstellt (Jakobson: Die zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störung, S. 121). Diese Kontexte be-

›Objektivität‹ des Dargebotenen60 und der damit einhergehenden Verabschiedung einer deutlich markierten Erzählinstanz – mit Genette würde man von einer Bevorzugung des mimetischen Erzählmodus sprechen61 –, trifft man bei Spielhagen auf stark fokalisierte Erzählungen. Figuren werden über Figurenwahrnehmungen eingeführt; überall dominieren die Modi der erlebten und der inneren Rede. Auktoriale Einmischungen und metakommunikative Wendungen, die an sich auch zu realistischen Erzählformen gehören (man denke an den Romananfang von Freytags Soll und Haben: »Hinter der weißen Gardine wurde der Held dieser Erzählung geboren.«62), versagt sich der Spielhagen’sche Erzähler. Trotzdem sind Spielhagens Romane alles andere als streng polyperspektivisch eingerichtet, ist man bei ihm als Leser stets bestens orientiert, wer in seinen Erzählungen als Held fungiert und wessen Wissen man als relevant für die Verhältnisse in der Diegese ansetzen darf. Die Sympathieträger erkennen sich untereinander als sympathisch; die Gegenspieler fallen je sofort als Bösewichter auf. Und nur die positiv markierten Figuren können die entscheidenden handlungsrelevanten Prognosen und Einschätzungen abgeben. So kündigen in dem berühmten populärwissenschaft lichen Gespräch auf Schloss Golmberg zu Anfang des Romans Sturmflut der bürgerliche Protagonist Schiffskapitän Reinhold Schmidt und der Verwaltungsbeamte Präsident von Sanden sowohl die bevorstehende, titelgebende Sturmflut als auch den Börsenkrach, auf den der Plot zustrebt, an. Nebenbei tun sie damit, wie bereits die Gebrüder Hart beanstandeten63, implizit poetologisch den zentralen kompositorischen Einfall des Romans kund: den metaphorischen Kurzschluss zwischen dem Ostseehochwasser und dem Platzen einer Spekulationsblase bei Eisenbahnaktien. Wie kommt es zu einer solch exponierten Stellung von einzelnen Figuren, von der aus sich das Handlungs- und Figurengerüst der Romane auch ohne Erzählerkommentierung abmessen lässt? Eben hierfür greift die externe kontextuelle Absicherung

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zeichne ich als interne, d.h. im gegebenen Text vorhandene, gegenüber den externen bzw. intertextuellen Kontexten. Spielhagens Erzähltheorie ist niedergelegt in den Sammelbänden Beiträge zur Theorie und Technik des Romans und Vermischte Schriften. Sie wird in dieser Arbeit noch ausgiebig zur Sprache kommen. Für eine neuere Bestandsaufnahme der Poetologie Spielhagens vgl. Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tübingen 2005, S. 79–104. Gérard Genette: Die Erzählung [franz. 1972/1983], übers. von Andreas Knop, hg. von Jochen Vogt, 2. Aufl., München 1998, S. 116–119. Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern, 3 Bde., Leipzig 1855, hier: Bd. 1, S. 4 [Hervorhebung von Ch. R.]. Vgl. Heinrich Hart/Julius Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart [1884]. In: Heinrich Hart/Julius Hart, Kritische Waffengänge, Heft 6, hg. von Mark Boulby, London, New York 1969, S.  33. Ungeachtet der hier von ihm ausgeübten Praxis stand Spielhagen selbst dieser Art von Symbolik in der Erzählkunst kritisch gegenüber. Vgl. Jeffrey L. Sammons: Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. 65f.

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des Textes. Über die Figuren wird bei Spielhagen in geradezu auffallend stereotyper Weise zeitgenössisches Wissen auf Gemeinplatzniveau in den Roman eingebracht. Als »Unermüdliche[n]«, als tüchtigen Seemann mit »großen blauen gutmüthigen Augen« nimmt Else von Werben, Reinholds zukünftige Gattin, den Helden schon bei seinem ersten Auftritt wahr.64 Er wiederum erkennt sie als »anmuthig und entzückend«.65 Der hier von vornherein aufgebaute Thesaurus der guten Meinung, über den die positiv besetzten Figuren reziprok konzipiert sind, wird dabei in der Ereignisebene verankert. Reinhold sinnt über die anmutige Adligentochter nach, […] wie sie auf dem Vorderdeck mit der Arbeiterfrau sprach, die vor ihr auf dem zusammengerollten Tau saß und unter dem übergedeckten Tuch ihr Jüngstes stillte; – wie sie sich dann niederbeugte, das Tuch – auf einen Moment nur – lüftete und zu dem verborgenen Schatz lächelnd hinabblickte […].66

So wird Else schon auf den ersten Seiten in ihrer Fürsorgegeste mit dem weiblichen Rollenideal der Mütterlichkeit konnotiert – das nebenbei bürgerlich codiert erscheint, wenn sie hier empathetisch die gegebenen Standesunterschiede zwischen Adel und Arbeiterschicht überwindet (und damit gleichsam den Fortgang des Romans andeutet, in dem sich Else schließlich mit dem bürgerlichen Schiffskapitän vermählt). Die karitative Grundausrichtung wiederholt sich dann mehrfach in der Sorge um ihre älteren Begleiter, ihren Vater General von Werben und Präsident von Sanden, oder um die kranke Pächterfamilie auf Golms Anwesen. Dass Else sich zudem patriarchalisch orientiert zeigt, was sie durch prompte Übernahme der Aussagen und Expertisen Reinholds beim Schiffbruch beweist, und sich, wenn sie sich einmal nicht sorgend umtut, zum Zeitvertreib mit Lesen und Zeichnen beschäftigt, rundet die konsequent auf kulturelles Prestige angelegte Figurenzeichnung ab. Hier sind in nuce alle Komponenten eingespeist, die eine hoch bewertete (bürgerliche) Frauenrolle im Deutschland des 19. Jahrhunderts umfasst.67 In ähnlicher Weise ist der Protagonist Reinhold konstruiert und abgesichert. Nach kaum zwanzig Seiten hat sich der Schiffskapitän bereits mit zwei zutreffenden Prognosen – eine gilt dem Schiffbruch, eine der Strandgegend – bewährt (was seinen zentralen Sturmflut-Diskurs und die dort gegebenen Vorhersagen bereits vorab mit

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 7. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 8. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 8. Eine solche auf Allgemeingültigkeit zielende Schilderung der deutschen Frau als treue, unselbstständige Hausfrau und Mutter gibt Sidney Whitman im Kapitel »Die Frau und das Familienleben« seiner Bestandsaufnahme zum »Imperial Germany« von 1888. Vgl. Sidney Whitman: Das kaiserliche Deutschland. Eine kritische Studie von Thatsachen und Charakteren [1888], autorisierte Übers. von O. Th . Alexander, Berlin 1889, S.  170–182. Vgl. überblicksartig aus neuerer Sicht Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866– 1918 [1983], Bd.  1 (Arbeitswelt und Bürgergeist), borschierte Sonderausgabe in Kassette, München 1998, S. 73f.

Glaubwürdigkeit ausstattet). Sinnbildlich führt er das Ruder bei der Rettungsaktion der Schiffbrüchigen. Reinholds Rolle als Macher verbindet sich dabei mit einem Gestus der Sachlichkeit, Bescheidenheit und Pflichttreue, der schon früh in seiner militärischen Anmutung auffällt (»Der Mann muß Soldat gewesen sein«, meint General von Werben, »ich wünschte von meinen Officieren immer so klare, sachgemäße Rapporte zu bekommen«68). Auf Nachfrage gibt sich Reinhold denn auch als Kriegsveteran der Schlacht von Gravelotte69 und dekorierter Reserveleutnant zu erkennen.70 Entsprechend auf Pflichtbewusstsein getrimmt sind seine Handlungsmaximen: »[D]er Soldat marschiert auf den Donner der Kanonen los!«71 Oder: »Wer einmal A gesagt, muß auch B sagen«.72 Die positive Figurenkonzeption ist hier also ebenfalls durch eine extraliterarische Semantik von Tatkraft, militärischem Ethos und Karriereerfolg (Avancement und Kriegsauszeichnungen) getragen. Darüber hinaus wird die kulturelle Codierung bis in das sentenziöse Reden der Figur hinein kenntlich. Auf verschiedenen Ebenen – im Handeln und Diskurs der Figur – zeigt sich der Spielhagen’sche Text so in der Enzyklopädie seiner Zeit verankert.73 Selbiges gilt für die Makrostruktur des Romans. Noch die zentrale Metaphorisierung der Börsenkrise (die deutlich auf den Gründerkrach von 1873 anspielt) als ›Sturmflut‹ ist, wie Axel Drews und Ute Gerhard nachgewiesen haben, den zeitgenössischen journalistischen und feuilletonistischen Sprechweisen über Finanzlagen entlehnt.74 Es ist also kein Wunder, dass bei einer solch stabilen Herleitung der diegetischen Struktur aus dem

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 18. Es handelt sich hier um eine der zentralen Schlachten des deutsch-französischen Krieges am 18. August 1870. Vgl. Spielhagen: Sturmflut, S.  96. Zum Prestige der Reserveoffi ziere vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918 [1983], Bd.  2 (Machtstaat vor der Demokratie), broschierte Sonderausgabe in Kassette, München 1998, S. 230. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 39. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 73. Einschlägig ist auch Spielhagens Aneignung der Parlamentsreden von Eduard Lasker während der Gründerkrise 1873. Vgl. dazu Dieter Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Dargestellt an Romanen der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts (Freytag – Spielhagen – Fontane – Raabe), Kronberg/Ts. 1978, S. 102f. Axel Drews/Ute Gerhard: Wissen, Kollektivsymbolik und Literatur am Beispiel von Friedrich Spielhagens »Sturmflut«. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848– 1890, hg. von Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München, Wien 1996, S. 708– 728, besonders: S. 713f. Vgl. zum Hintergrund dieses diskursanalytischen, ebenfalls auf die Textproduktion der Epoche ausgerichteten Forschungsansatzes (mit einigen Beispielen auch zur Topik des ökonomischen Diskurses) Jürgen Link: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution. In: Jürgen Link/Wulf Wülfi ng (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19.  Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 63–92.

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zeitgenössischen Wissen eine elaborierte Erzählerfunktion ausfallen kann. Die angestrebte narrative Objektivität ist hier schon vorab gegeben: in der Konventionalität der verarbeiteten enzyklopädischen Kenntnis, als Funktion des Wissensschatzes der Kultur. Die Stabilität der Gemeinplätze So zeigt sich bei Spielhagen, dank der narratologischen Zuspitzung, am deutlichsten, was Roland Barthes als Charakteristikum des (europäischen) Realismus im Ganzen herausgearbeitet hat: Die Konstruktion entlang kultureller Klischees situiert den realistischen Text im landläufig Gesagten und Gedachten. Es sind paradigmatische Strukturen, die hier abgerufen werden – kein partikulares, sondern ein mit größtmöglicher Allgemeinheit ausgestattetes Wissen also. Die Intertextualität schlägt sich dementsprechend weniger in konkret markierten Einzeltextbeziehungen nieder75 als vielmehr in der Referenz auf diskursive Zusammenhänge (das Hausfrauenbild, die Werteordnung des deutschen Militärs). Barthes hat folgerichtig die Synekdoche ›Schulbuch‹ gewählt, um die Verknüpfung des Textes mit diesem weithin geteilten außerliterarischen Wissen zu beschreiben, von dem aus sich die Vertrautheit des realistischen Textes bemisst, das ›Ja, so ist es, so etwas kommt vor‹, das der Lektüre ihren Rahmen vorgibt:76 Diese Zitate [die Redewendungen aus den kulturellen Codes] sind in der Tat einem Wissenskorpus entnommen, einem anonymen Buch, dessen bestes Modell wohl das Schulbuch ist. Denn einerseits ist dieses Vor-Buch zugleich ein Buch des Wissens (empirischer Beobachtung) und der Weisheit, und andererseits entspricht das didaktische Material, das im Text mobilisiert wird (oft um, wie wir gesehen haben, Überlegungen zu begründen oder um den Gefühlen seine schrift lich niedergelegte Autorität zu geben) in etwa dem Stapel von sieben oder acht Nachschlagewerken, über die ein Durchschnittsschüler klassischer bürgerlicher Schulerziehung verfügen konnte […]. Obwohl diese Codes durchweg aus Büchern kommen, scheinen sie, durch ein der bürgerlichen Ideo-

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Das heißt nicht, dass realistische Texte nicht auch gezielt Prätexte einspeisen können, wie es z.B. in den Romanen Wilhelm Raabes in großem Umfang geschieht. Diese Form konkreter Intertextualität tritt dann der fundamentaleren systemischen Intertextualität hinzu. Zur Gegenüberstellung von Einzeltext- und Systemintertextualität vgl. Ulrich Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 48–52; Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 52–58. Gerade in dieser Vertrautheit gründet die scheinbare Geschlossenheit (clôture) des realistischen, ›lesbaren‹ Textes, die ihn, nach Barthes, in den schärfsten Gegensatz zu den ›schreibbaren‹ Texten der Avantgarden bringt. Als Obersatz einer ›schreibbaren‹ Literatur mag man den folgenden aus Carl Einsteins Bebuquin ansehen: »Die Negation besagt garnichts, ebenso wenig die Bejahung. Das Künstlerische beginnt mit dem Wort anders.« Carl Einstein: Bebuquin [1906/1909], hg. von Erich Kleinschmidt, Stuttgart 2000, S. 15.

logie eigentümliches Drehmoment, das die Kultur in Natur umkehrt, das Wirkliche, das »Leben« zu begründen. Das »Leben« wird dann im klassischen Text zu einer abscheulichen Mischung landläufiger Meinungen, zu einer erstickenden Schicht stereotyper Meinungen […].77

Vor dem Hintergrund dieser Theorie wird ersichtlich, weshalb Sentenzen und Sprichwörter eine so prominente Rolle in realistischen Texten spielen. Sie lesen sich poetologisch als Marker für das textkonstitutive Prinzip: Die diegetische Ordnung wird eben im Rückgriff auf standardisierte Kontiguitäten aus der zeitgenössischen kulturellen Enzyklopädie (aus dem ›Schulbuch‹) hergestellt. Originalität und Neuheit der Geschichte – Grundanforderungen des neuzeitlichen ästhetischen Diskurses78 – entwickeln sich im Realismus stets vor einer betont konventionellen Kulisse. »Ja, ich habe es dir immer gesagt, wer sich grün macht, den fressen die Ziegen; der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht, mit gefangen, mit gehangen«, so schimpft in Friedrich Wilhelm Hackländers Roman Handel und Wandel (ein Vorläufer für Gustav Freytags Soll und Haben) die Großmutter mit dem jugendlichen Protagonisten und gibt damit gleichzeitig den Rahmen vor für eine (selbstredend auf Verfehlungen und Irrwege und also auf Kollision mit der Weisheit der Sprichwörter angelegte) Lausbubengeschichte.79 Vergleichbare, mit Sprichwort- und Maximenproduktion aufwartende Figuren80 oder Erzähler81 sind Legion in den Texten der Zeit. Oft markiert eine Erzählersentenz die Logik für größere Handlungsabschnitte, wie am Eingang zur Bildungsgeschichte des Anton Wohlfart in Soll und Haben: »Man sage nicht, daß unser Leben arm ist an poetischen Stimmungen, noch beherrscht die Zauberin Poesie überall das Treiben der Erdgebornen. Aber ein Jeder achte wohl darauf, welche Träume er im heimlichsten Winkel seiner Seele hegt, denn wenn sie erst groß gewachsen sind, werden sie leicht seine Herren, strenge Herren!«82 Folgerichtig muss sich der bürgerliche Held Wohlfart in der Abwehr der übergreifenden poetischen Stimmungen bewähren, die sich für ihn mit der Adelssphäre (und der Adelstochter Leonore)

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Barthes: S/Z, S. 202f. Vgl. Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung, München 2005, S. 43f. Friedrich Wilhelm Hackländer: Handel und Wandel [1850], mit 240 Illustrationen von A. Langhammer, Stuttgart 1888, S. 6. Man denke bei Raabe an Oheim Grünebaum im Hungerpastor oder an den Schiefersteinbruchbesitzer Wilhelm Schönow in Villa Schönow. Am prominentesten, wenn man den europäischen Realismus insgesamt betrachtet, ist vermutlich die von Gemeinplätzen durchsetzte erlebte Rede der Madame Bovary von Flaubert. So heißt es von Heinrich Lees Mutter, die ihre Haushaltung auf die »nüchterne Mittelstraße« abstimmt: »Sie schien mit ihrer weisen und maßvollen Hand, am Herde stehend, täglich das Sprüchwort zu verkörpern: Der Mensch ißt, um zu leben, und lebt nicht, um zu essen!« Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erster und zweiter Band [1879/1880]. In: HKKA, Bd. 1, Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2006, S. 42. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 8. Freytag hat diese Sentenz selbst als Leitidee seines Buches hervorgehoben. Vgl. Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1887, S. 261.

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verbinden. In seiner Besprechung des Romans erhebt Theodor Fontane dieses Verfahren denn auch zum poetischen Credo: »[D]er gedankliche Inhalt jedes guten Dramas [hier sind die Handlungsstränge des Romans gemeint, Anm. Ch. R.] lässt sich fast ausnahmslos auf ein simples Sprichwort zurückführen.«83 Immer wieder beweist der Realismus diese Maxime auch in selbstreflexiver Absicht. So in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes, wo ein Sprichwort explizit zum Gegenstand der Novelle gemacht wird, oder vermittels der verschiedenen Erzählerfiguren Wilhelm Raabes, die gern die Konventionalität ihres Sprachgebrauchs mitreflektieren. Etwa in Ein Frühling (1857): »So ist die Welt; das Glück oder Vergnügen des einen wurzelt sehr oft in dem Elend, dem Mißbehagen des andern! – Gemeinplatz!«84 Mit der Häufung solcher betont auff ällig und oft ironisierend eingesetzten Stereotypen, wie sie gerade bei Wilhelm Raabe bevorzugt auftreten, wächst der Grad an Markiertheit der Verbindung zwischen literarischem Text und kulturellem Wissen. »Da haben wir den alten Schnarrwergk liegenlassen, als ob ihm gar nichts Bedenkliches begegnet sei«, kommentiert der Erzähler in Raabes Spätwerk Der Lar (1889) den Zusammenbruch eines seiner Protagonisten und fügt mit gewohnt ironischem Unterton hinzu: »Nicht ein einziges medizinisches Buch haben wir nachgeschlagen, um mit unserer tiefen Einsicht auch in solche Dinge großzutun und hypochondrischen Seelen die Nachmittagsruhe zu verderben.«85 Kein Buchwissen solle hier eingespeist werden, um die ›lieben Leser‹86 nicht zu beunruhigen. So behauptet es der Erzähler – nur um dann umgehend eine Liste von Symptomen aufzuführen, die geeignet wären, den Kollaps der Figur eingehender auszumalen und ergo die besagten hypochondrischen Leser besorgt zu stimmen (»hohe Röte des Gesichts, Schwindel, Ohrenbrausen, stockendes Gedächtnis, Übelkeit bei leerem Magen«).87 Indirekt und poetologisch aufschlussreich situiert sich die Narration also doch dort, wo sie behauptet, nicht zu sein: im Feld des popularisierten Sachwissens, dessen diskursiver Hintergrund (das ›medizinische Buch‹) stets potenziell konsultiert werden kann. Entsprechend steht das Erzählen gerade beim späten Raabe (man werfe einen Blick in die editorischen Apparate zu seinen Texten) in einem ganzen Netz von zitiertem oder angespieltem Sachbuchwissen.

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Theodor Fontane: Gustav Freytag. »Soll und Haben« [1855]. In: Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 21,1 (Literarische Essays und Studien), hg. von Kurt Schreinert, München 1963, S. 214–230, hier: S. 225. Raabe: Ein Frühling [1857]. In: BA, Bd. 1, 2. Aufl., Göttingen 1980, S. 173–422, hier: S. 217. Wilhelm Raabe: Der Lar. Eine Oster-, Pfi ngst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte [1889]. In: BA, Bd. 17, Göttingen 1966, S. 221–395, hier: S. 367. Mit betont ironischer Leserorientierung verpflichtet sich der Roman dem eingangs gesteckten Happy-End-Motto: »O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!« Siehe Raabe: Der Lar, S. 222. Raabe: Der Lar, S. 367.

Das Wuchern der Enzyklopädie beim späten Gustave Flaubert Mitte der 1990er Jahre hat eine Tübinger Forschergruppe um Gotthart Wunberg solche spätrealistischen Verfahren spezifischer Intertextualität als Vorstufe der modernen, avantgardistischen Literatur untersucht. Man kann sie genauso gut als Endstufe des realistischen Projekts ansprechen, als Kulminationspunkt der metonymischen Akribie, durch die Fiktionen möglichst passgenau im zeitgenössischen Sachwissen verankert werden sollen. Ins Blickfeld der Tübinger rückten Professorenromane und überhaupt das historistische Erzählwerk des Realismus, das im ausgiebigen Gebrauch von Fußnotenkommentaren und Quellennachweisen sowie in methodologischen Einleitungstexten die »Heteronomie« des literarischen Projekts erkennbar werden lässt, also seine Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung, namentlich in der Historiographie.88 Die wuchernden Apparate dieser Werke89 künden von jener oben angesprochenen, ausgestellten Wissensfülle, die auch das außerliterarische Schrifttum (das ihnen als Quelle dient) auszeichnet. Im hochliterarischen Kanon zeigt am deutlichsten Gustave Flauberts unvollendeter letzter Roman Bouvard et Pécuchet diese explizite Beziehung des realistischen Textes zum kulturellen Wissensbestand. An die 1500 Bücher wälzte Flaubert90 im Bestreben, die landläufige Bildung seiner Epoche parodistisch zu verarbeiten. Und genau diese Arbeit hat sich auch in die Textoberfläche des Buches eingeschrieben. Während seine beiden biederen Protagonisten weitestgehend schablonenhaft und entpsychologisiert durch den Roman geistern, um die Wissensbestände ihrer Zeit zu exzerpieren, einander zu präsentieren und in Selbst- und Fremdversuchen zu erproben, und der Plot sich dabei in einem ewig gleichen Schema totläuft (»Begeisterung – gläubige Aneignung – Enttäuschung – Übergang zu Neuem«91), wird gerade das von den Figuren angelesene Gemeinwissen in parataktischen, katalogartigen Reihen zum eigentlichen Fokus der Darstellung. So heißt es über sozialistische Wirtschaftstheoretiker: Nach Saint-Simon und Fourier beschränkt sich das Problem auf Lohnfragen. Im Interesse der Arbeiter will Louis Le Blanc die Abschaff ung des äußeren Handels, Lafarelle die Besteuerung der Maschinen; wieder ein anderer Steuerfreiheit für Getränke oder Wiederbelebung der Zünfte, oder das Austeilen von Suppen. Proudhon

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Christoph Brecht: Historismus und Realismus im historischen Roman. In: Moritz Baßler/ Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 36–67, hier: S. 38. Ein Beispiel aus diesem Korpus, das direkt im Diskurs des ökonomischen Historismus verankert ist, diskutiere ich in Abschnitt 5.1.3. dieser Arbeit. Arthur Schurig: Zur Entstehungsgeschichte des Werkes [Nachwort]. In: Gustav Flaubert: Bouvard und Pécuchet, hg. von Wilhelm Weigand et al. (Gesammelte Werke, Bd.  1), München 1923, S. 372–377, hier: S. 376. Moritz Baßler: Erzählen. In: Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 265–280, hier: S. 270.

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kommt auf den Gedanken eines einheitlichen Tarifs und verlangt für den Staat das Zuckermonopol.92

Passagen wie diese stehen im Text oft autonom, also bar jeder Zuschreibung zu einer der möglichen Sprechinstanzen – wer redet hier: Bouvard oder Pécuchet oder der Erzähler? Der narrative Kontext ist auf ein Minimum reduziert, sodass die aufgelisteten Gedanken der Theoretiker gerade in einer lexikongemäßen Form hervortreten können, geordnet unter einem virtuellen Stichwort, das an dieser Stelle etwa lauten dürfte: ›sozialistische Vorschläge zur Harmonisierung der Gesellschaft‹. Das Sammeln und Zusammenordnen des Angelesenen wird zum eigentlichen Zweck der Darstellung. Obgleich die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet ihr Wissen gelegentlich auch experimentell erproben, geht es dem Roman im Ganzen weniger um eine tatsächliche, handlungstragende Verarbeitung der Bildungsfrüchte als um ihre bloße Präsentation: »Bouvard strich mehrere Stellen an und zeigte sie seinem Freund.«93 Die Figuren, die Erzählinstanz und selbst der Autor Flaubert in seiner jahrelangen Schreibtischarbeit verbinden sich in einem Projekt des permanenten Abschreibens und Aufschreibens des kulturellen Wissens. Es ist eine Vertextung, die die Buchförmigkeit des Wissens stets mitmarkiert und es entsprechend im Modus einer ›historistischen‹ (also rein auf metonymische Vollständigkeit zielenden) Katalogizität präsentiert.94 Im ebenfalls unvollendet gebliebenen Wörterbuch der Gemeinplätze (Dictionnaire des idées reçues), das an Bouvard und Pécuchet anschließt, fällt der narrative Rahmen schließlich ganz weg, und das Flaubert’sche Spätwerk nimmt vollends jene Lexikonform an, an der das parataktische Erzählverfahren hier immer schon ausgerichtet war. Im späten Realismus Flauberts wird somit die Abhängigkeit vom ›Schulbuch‹ (Barthes) auch intratextuell manifest. Das paradigmatische Wissen, das zur Kodierung und Dekodierung von Zeichen notwendig ist, bleibt hier nicht in absentia, sondern ist in den Syntagmen des gegebenen Textes in größtmöglichem Umfang mitrepräsentiert. »Ein pars pro toto gilt in diesem Diskurs als gemogelt«, schreibt Christoph Brecht über die historistischen Textverfahren, die auf die akribische Repräsentation eines Wissensausschnitts hin angelegt sind.95 Bei einem Oberbegriff wie ›Essen bei Tisch‹ – um das Eingangsbeispiel Roman Jakobsons aufzugreifen – bleibt diese Literatur nicht stehen. Sie buchstabiert den semiotischen Rahmen mit seinen

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Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 209. Flaubert: Bouvard und Pécuchet, S. 209. Baßler: Erzählen, S. 268. Die Tübinger Autoren unterscheiden ›historistische‹ Kataloge, die darauf angelegt sind, einen Wissensbereich unter einem beliebigen Oberbegriff möglichst vollständig wiederzugeben (man denke etwa an die Edelsteinkataloge in Joris-Karl Huysmans’ Gegen den Strich), von ›rhetorischen‹ Katalogen, die das Zeichenmaterial nach poetischen oder eben rhetorischen Prinzipien neu ordnen. Christoph Brecht: Enzyklopädie. In: Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/ Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 293–332, hier: S. 299.

metonymischen Bestandteilen im Text aus. Die üppig ausstaffierten Tischgesellschaften in Flauberts Salammbô oder – am Übergang vom Realismus zur Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende – in Huysmans’ Gegen den Strich legen von diesen Verfahren Zeugnis ab.96 Insofern es dabei immer noch um eine möglichst sachgemäße, d.h. in Übereinstimmung mit dem kulturell gültigen Gegenstandswissen stehende Schilderungen geht, zeigen sich diese historistischen Verfahren als Verlängerung des realistischen Projekts. Ja, sie markieren am deutlichsten, wo sich realistische Diskurse – seien sie nun literarisch oder außerliterarisch – treffen: bei einer tendenziell additiv angelegten Registratur des Wirklichen, die, weil sie nicht modellhaft, sondern zunächst singulär sammelnd verfährt, zumindest potenziell vom Hundersten ins Tausendste kommt. Dass eine Diff usion ins Singuläre dabei keineswegs bezweckt ist (die Fülle mithin immer einen Rahmen braucht), versteht sich. Man wird in den folgenden Abschnitten unter dem Stichwort der ›Verklärung‹ sehen, wie die jeweiligen Wissensbereiche innerhalb der realistischen Diskursivität diesem Problem einer übermäßigen Vervielfältigung von Sachinformationen begegnen. Die Reduktion der Zeichenfülle im kanonischen Realismus Für die kanonischen literarischen Textverfahren lässt sich eine Lösung bereits hier, auf der metonymischen Ebene, andeuten. Sie läuft über die Betonung der handlungsfunktionalen Elemente. Schon Roland Barthes hat geschildert, inwiefern der literarische Realismus auf einer sparsamen Zeichenökonomie aufbaut. Ein »Exzeß an Präzision«, den Roland Barthes an Bouvard und Pécuchet beobachtet (wenn es dort etwa heißt: »Tischtücher, Laken, Handtücher hingen, mit Holzklammern an gespannten Leinen aufgehängt, vertikal herab«), gefährdet die realistische Struktur.97 Denn das detailreiche Ausbuchstabieren des hier zugrunde liegenden Rahmens ›Wäsche an der Leine‹ bis hinein in den Pleonasmus – das Adverb ›vertikal‹ ist schließlich schon im Prädikat ›hängen‹ enthalten – lässt die Darstellungsfunktion der Zeichen langsam hinter die Rhetorik zurücktreten. Das Augenmerk fällt dann auf die Formierung der Rede selbst, eben auf das ›Zeigen‹ der Repräsentation und nicht mehr auf ihr Gemeintes. Wo aber der Sachverhalt verblasst, da verliert die Erzählung ihre kleinste konstitutive Einheit: das in der einfachen Prädikation bezeichnete Ereignis, aus dem sich Geschehen und Handlung aufbauen. Die Selbstreferenz der ›Textur‹, eben der Verweis auf die Materialität und Kombination der Zeichenträger, führt den Text so aus dem Geschichtenerzählen heraus.98

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Vgl. Gotthart Wunberg: Naturalismus und Décadence als Verfahren. In: Moritz Baßler/ Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S.  105–133, hier: S. 117–119. Barthes: Die Lust am Text, S. 42. Im Umfeld des Tübinger Forschungsprojekts sind diverse Texturierungsverfahren in Avantgardeliteraturen untersucht worden bei Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur.

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Georg Lukács hat in seiner prominenten Gegenüberstellung von ›Beschreiben‹ und ›Erzählen‹ ein Überwiegen solcher deskriptiven Passagen, die ein Minimum an handlungsrelevanter Information bereitstellen, als Krisensymptom des realistischen Erzählprojektes ausgemacht. Der Obersatz seiner Kritik ist dabei konsequent subjektzentriert auf das epische Vermögen ausgerichtet: »Die innere Poesie des Lebens ist die Poesie der kämpfenden Menschen, der kampfvollen Wechselbeziehung der Menschen zueinander in ihrer wirklichen Praxis.«99 Der Erzähltext zeigt sich in diesem Verständnis durch Handlungsträger und deren Konflikte miteinander oder mit der Umwelt regiert. Lukács schließt an bereits vorgeformte Grundbegriffe der realistischen Programmatik an. Schon bei Spielhagen war ja der tätige Held als Epizentrum des Erzähltextes definiert worden, als »Maßstab, welchen der Zeichner auf seiner Karte notiert«, um von ihm aus Ereignisse zu strukturieren.100 Der Held ist »die Schranke gegen das Hereinbrechen des Unorganischen, des Grenzenlosen [,] d.h. er ist die Bedingung und Gewähr des Kunstwerks«.101 Was über den Helden oder allgemeiner den Handlungsträger organisiert wird, ist zunächst die Hierarchie der dargebotenen Ereignisse. In der neueren Erzähltextforschung untergliedert man diese Ereignisstruktur eines Textes nach ›Kernen‹ und ›Katalysen‹ (Füllungen). Kerne sind für den Handlungsverlauf substanzielle Entwicklungspunkte, die alternative Verlaufsmöglichkeiten eröffnen; Katalysen stellen demgegenüber Zusatznotationen dar, die sich an die Kerne anlagern, ohne den Handlungsverlauf zu modifizieren.102 Die Seerettungsaktion, die der Schiffskapitän Reinhold Schmidt in den ersten Kapiteln von Sturmflut unternimmt, gehört in diesem Sinne zu den Kernen, weil hierüber die für den Fortgang der Geschichte notwendige Bekanntschaft des Helden mit der Familie des Generals von Werben und Präsident von Sanden motiviert ist. Das Lesen der Else von Werben, bevor sie den Helden in der Eingangsszene malt, ist dem Bereich der katalytischen, narrativen Füllung zuzuschlagen. Sowohl Kerne als auch Katalysen lassen sich konventionell und, wie gesehen, im Einklang mit den Vorga-

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Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994. Vgl. auch Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, Abschnitt II, S. 105–261. Die Autoren unterscheiden ›Texturen‹, als nicht paraphrasierbare Anteile des Artefakts, von den handlungs- und figurenkonstitutiven ›Strukturen‹ literarischer Texte. Georg Lukács: Erzählen oder Beschreiben? In: Georg Lukács, Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 103–145, hier: S. 117. Friedrich Spielhagen: Der Held im Roman. Mit besonderer Beziehung auf George Eliots Middlemarch [1874]. In: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [1883], Faksimiledruck nach der 1. Aufl., Göttingen 1967, S. 67–100, hier: S. 72. Spielhagen: Der Held im Roman, S. 73. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 2002, S.  102–143, hier: S.  112f. Die Gliederung entspricht der Unterscheidung zwischen ›verknüpften‹ und ›freien‹ Motiven bei Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 6. Aufl., München 2005, S. 109.

ben der klassischen Erzähltheorie bei Spielhagen, über die Figur paradigmatisieren. Kerne zeigen die Figur im Handlungsgeflecht verortet; in den Katalysen wiederum werden Aspekte der Figurenzeichnung mitgeliefert. So ist das expositorische Lesen und Zeichnen der Else von Werben zwar kein notwendiger Bestandteil des Handlungsaufbaus, sehr wohl aber dient es der Ausschmückung ihrer auf Feinsinn angelegten weiblichen Rolle. In dieser Hierarchie lässt sich noch eine dritte Klasse von Prädikationen feststellen, die sich gerade als Abweichung von den Strukturen der Figurenkonstellation und Figurenzeichnung manifestiert und die letztlich das Einfallstor für historistische Wucherungen darstellt. Diese umfasst jene Detailbezeichnungen, die Roland Barthes unter dem Stichwort des ›Realitätseffekts‹ einschlägig diskutiert hat. Es handelt sich hier um ›unnötige‹ Notationen im Text, ›unnötig‹ jedenfalls vom Standpunkt der narrativen Integration und Motivierung der Ereignisse aus betrachtet. Denn diese Elemente konnotieren nicht mehr als die vermeintliche Tatsächlichkeit des Dargestellten. Als Widerstand gegen die Verweisstruktur innerhalb des Textes sind sie bei Barthes definiert, als »Widerstand gegen den Sinn«, der »den großen mythischen Gegensatz zwischen dem Lebensechten (Lebendigen) und dem Intelligiblen« bekräftigt.103 Sie stellen den Eindruck des Realen her, der sich nur mehr tautologisch vermittelt: ›Es steht da, weil es so war‹, wollen sie sagen. Willkürliche Zeitangaben oder eine überflüssig wirkende Erwähnung eines Barometers bei Flaubert sind Barthes’ berühmt gewordene Beispiele für Realitätseffekte. Bei Spielhagen, der durchweg eine starke Motivierung seiner Handlung anstrebt, sind solche Details rar, aber es gibt sie: »Sie las ein paar Minuten, blickte dann wieder auf und verfolgte die Rauchwolke, die aus dem Schlot in dicken, schwarzgrauen, durcheinanderwirbelnden Ballen, ebenso wie zuvor, sich über das Schiff wälzte.«104 In dem Maße, in dem Elses Aufblicken zur Rauchwolke als kontingentes Randereignis aus der Struktur von Figurencharakteristik und Handlungsmotivation herausfällt, gehört es in den Bereich des Realitätseffekts, in die Sphäre der Kleinstdetails, die allein die Möglichkeit der Szene beglaubigen. Insofern aber Elses Blick mit der Rauchwolke über das Deck hin zu Reinhold wandert, scheint auch dieses Ereignis zur poetischen Motivierung des Kernmoments ›Kenntnisnahme der Protagonisten‹ beizutragen. Das Ereignis bewegt sich bei Spielhagen so gesehen im Grenzbereich zwischen Realitätseffekt und Motivierung, zwischen Kontingenz und Poetisierung. Für die Poetik des literarischen Realismus ist diese Hiearchisierbarkeit von Informationen fundamental. Denn erst diese Strukturierung erlaubt die figurale Verankerung der Darstellung und die Unterordnung aller szenischen Requisiten. Der realisti-

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»The pure and simple ›representation‹ of the ›real‹, the naked relation of ›what is‹ (or has been) thus appears as a resistance to meaning; this resistance confirms the great mythic opposition of the true-to-life (the lifelike) and the intelligible«. Roland Barthes: The Reality Effect [franz. 1968]. In: Roland Barthes, The Rustle of Language, übers. von Richard Howard, Oxford 1986, S. 141–148, hier: S. 146. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 6.

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sche Text setzt voraus, dass zwischen notwendigen und akzidentiellen Prädikationen, zwischen Kernen, charakterisierenden Anteilen oder bloß auf Realitätseffekte hin gearbeiteten Füllungen unterschieden werden kann. Eben deshalb bilden die realistischen Kanoniker selten den gesamten enzyklopädischen Rahmen zur Darbietung einer Situation mit ab. Sie halten die repräsentationstragenden Zeichenmengen überschaubar105 und gliederungsfähig und aktualisieren mithin tendenziell synekdochische Ausschnitte aus dem kulturellen Wissen. Wo hingegen Details selbst universale Geltung erlangen, wie in den historistischen Texturen des späten Flaubert, wo sich die Enzyklopädie in größtem Umfang repräsentiert zeigt und die Gewichtung zwischen Unwichtigem und Wichtigem relativiert ist, da wird die Diskursivität des Realismus auf ihr Extrem getestet. In ersten Grundzügen ist die Textorganisation im Realismus hiermit bezeichnet, wobei die Darlegung zunächst auf das Metonymieprinzip und die externe Kontextualisierung zum Aufbau der textlichen Darstellungsebene beschränkt ist. Noch ist nichts gesagt über die Verarbeitung dieser metonymischen Dimension und mithin auch über die poetische Formung der Literatur, die in der Zeit zwischen 1850 und 1900 in Deutschland nicht von ungefähr den Namen des ›Poetischen Realismus‹ trägt.106 Die Referenzen auf Ort und Zeit, aber auch die Aneignung kultureller Weisheit bis hin zum Klischee zeigen zunächst nur die Anbindung des literarischen Artefakts an eine vorhandene Enzyklopädie, an das Wissen einer Kultur. Wie dieses außerliterarische Wissen selbst metonymisch erarbeitet ist, wird im folgenden Abschnitt untersucht. Fürs Erste bleibt der oft besprochene Aspekt der umfangreichen ›external fields of reference‹ (Furst107) bzw. der ›Fremdreferenz‹ (Plumpe108) festzuhalten, die den realistischen Text gegen die stärker autonom strukturierte Literatur der Moderne abheben. Mit dieser externen Verknüpfung korreliert, wie schon bei Fritz Martini ausgeführt, die Annäherung des literarischen Stils an die außerliterarisch gebräuchliche Sprache.109 Die Entrhetorisierung des literarischen Lexikons wird zum Indikator seines sachlichen Gehalts. Was die Präzision dieses Lexikons anbelangt, so verdankt sich die Verankerung des literarischen Artefaktes in der Enzyklopädie der tendenziell nur partiellen Repräsentation von Rahmen und Skripten, d.h. einer sparsamen Zeichenökonomie. Denn erst der ›lesbare‹ Text (Barthes), der Information maximiert

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Vgl. auch Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 276f. Dazu mehr in Abschnitt 2.3. dieser Arbeit. Vgl. Furst: Realism and its »Code of Accreditation«. Vgl. Gerhard Plumpe: Realismus als Programm moderner Literatur. In: Dogilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik, Jg. 39, Bd. 68 (1998) Heft 4, S. 3–23. Vgl. Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898, 3.  Aufl., Stuttgart 1974, S.  101–111; ähnlich Gerhard Plumpe: Vorbemerkung. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, hg. von Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16.  Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München, Wien 1996, S. 7–15, hier: S. 11f.

und also Ereignisse transparent darbietet, ist überhaupt auf seine Kompatibilität mit dem landläufig Gewussten hin zu prüfen. Im ›lesbaren‹ Text erfüllt sich die Anforderung, die Theodor Fontane an den realistischen Roman überhaupt gestellt hat: Aber das ist nicht Aufgabe des Romans, Dinge zu schildern, die vorkommen können. Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen, wie die Wirklichkeit.110

In dieser Umwertung des traditionellen ästhetischen Postulats der Wahrscheinlichkeit hin auf tatsächliche, faktuale Wirklichkeitsnähe liegt der wohl präziseste und anschaulichste Ausdruck jener Forderung nach externer Kontextualisierbarkeit, die das konstitutive Merkmal der realistischen Literatur ist. 2.2.2. Echte Güter und die Wirklichkeit der Ökonomie Wenn sich die realistische Nationalökonomie, wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, auf die Untersuchung konkreter volkswirtschaft licher Zustände verlegt, dann scheint dieses Unternehmen zunächst gänzlich verschieden vom literarischen Projekt zu sein. Der Literatur geht es um den fi ktionalen Entwurf einer Fabel, die zwar möglichst genau in den gegebenen Wissensvorrat einer Kultur eingepasst wird, die sich dabei aber nie vollends auf historische Tatsachentreue verpflichten muss. Die Erinnerungsfähigkeit der Leser, für die – wie Fontane sagt – Erlesenes und wirklich Erlebtes in eins fallen mögen, ist in Zeiten der historistischen Objektivierung des kulturellen Gedächtnisses kein Gradmesser von Faktizität.111 Auch wenn gelegentlich fi ktive Informationen von der Lesergemeinschaft für bare Münze genommen werden und Eingang in Lexika finden, wie im Falle einiger historischer Angaben aus Raabes Odfeld geschehen, so bleibt doch das romangemäße Zugleich von Vortäuschung einer Wirklichkeit und Einräumung dieser Täuschung112 und damit die gattungskonstitutive Grenze zwischen fi ktionalen und nichtfi ktionalen Textsorten im Ganzen stets vorausgesetzt. Literatur ist etwas anderes als historische Tatsachenforschung, nicht zuletzt in pragmatischer Hinsicht.113 Und auch die Partikularitäten, die die jeweili-

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Theodor Fontane: Roman-Reflexe. Paul Lindau. »Der Zug nach dem Westen«. In: Theodor Fontane. Aus dem Nachlaß, hg. von Josef Ettlinger, Berlin 1908, S. 268–271, hier: S. 269. Zum Prozess der historistischen Objektivierung der Geschichtsschreibung im 19.  Jahrhundert durch Rationalisierung des Orientierungsbedürfnisses vgl. Rüsen: Konfigurationen des Historismus, S. 45–46. Vgl. Bode: Der Roman, S. 55. Für einen einführenden Überblick über die Fiktionalitätsdebatte siehe Lutz Rühling: Fiktionalität und Poetizität. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.), Grund-

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gen Textsorten aufbauen, unterscheiden sich markant. Den historisch arbeitenden Ökonomen geht es in ihren Darstellungen stets um kollektive Subjekte, seien es ganze Völker oder Bevölkerungsgruppen. Geschichten von einzelnen Protagonisten, ›stories‹, wie sie die Literatur zu bieten hat, findet man bei ihnen nicht. Es mögen gelegentlich Personen identifiziert werden, wie in Schmollers Straßburger Untersuchungen, die u.a. den Zunftbeitrag der Tucherin Frau Kathrine Cüntzel aus dem Jahre 1434 nennen.114 Doch steht die Erwähnung solcher Partikularia von vornherein im Horizont einer verallgemeinernden Erörterung: Mit der Frau Kathrine Cüntzel zielt der Text auf die allgemeine Charakteristik von Zunftregularien, nicht auf ein individuelles Schicksal. Die Repräsentativität, die ein literarischer Plot implizit anstrebt, ist in den Schilderungen der Ökonomen je schon von vornherein expliziert. Die Gemeinsamkeiten von literarischem und nationalökonomischem Diskurs im Realismus liegen also nicht in den wahrheitsfunktionalen Eigenschaften der Texte noch in der konkreten Ausformung der Darstellungsebene. Es ist vielmehr die spezifische Art und Weise des Wirklichkeitszugangs, die innerhalb der realistischen Diskursivität geteilt wird und sich entsprechend in paradigmatischen Zugriff sweisen textkonstitutiv niederschlägt. Ausgangspunkt dieser Diskursivität ist das Bestreben, Wirklichkeit nicht modellhaft und struktural zu erfassen, sondern phänomenologisch konkret. Wirklichsein bedeutet hier: raumzeitlich lokalisierbar sein und in der metonymischen Komplexität eines kulturellen Zusammenhangs stehen. Bei den Gründungsvätern der realistischen Nationalökonomie ist diese kulturalistische Ausrichtung, wie oben angeklungen, programmatisch vorgegeben: Der Realismus wolle »die Menschen so nehmen, wie dieselben wirklich sind: von sehr verschiedenen, auch nichtwirthschaft lichen Motiven zugleich bewegt, einem ganz bestimmten Volke, Staate, Zeitalter angehörig u. dgl. m.« (Roscher)115; darzustellen ist die »concrete Eigenthümlichkeit des nationalen Menschen, welcher in der Volkswirthschaft mit Leib und Seele, Erkennen und Begehren thätig wird« (Knies)116; es gilt das Credo, »daß der Mensch als soziales Wesen stets ein Kind der Zivilisation und ein Produkt der Geschichte ist, und daß seine Bedürfnisse, seine Bildung, seine Beziehungen zu den Sachgütern wie zu den Menschen niemals dieselben bleiben, sondern sowohl geographisch verschieden sind, als auch historisch

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züge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 25–51. Kennzeichnend für neuere Ansätze ist die Verabschiedung des ontologischen Fiktionalitätsbegriffs zugunsten eines funktional pragmatischen. Nicht mehr Textmerkmale, sondern Gebrauchszusammenhänge stehen dabei im Mittelpunkt der Untersuchungen fi ktionaler Artefakte. Gustav Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft. Urkunden und Darstellung. Nebst Regesten und Glossar. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Weberei und des deutschen Gewerberechts vom XII.–XVII. Jahrhundert, Strassburg 1879, S. 404. Mehr zu dieser Schrift in Abschnitt 5.1.2. dieser Arbeit. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, § 209, S. 1032f. Siehe Abschnitt 2.1. dieser Arbeit. Knies: Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode, S. 58f.

sich immer verändern und mit der gesamten Kultur des Menschengeschlechts fortschreiten« (Hildebrand)117. Diesem Programm folgend beschränken sich realistische Nationalökonomen nie auf einen rein definitorischen Zugang zu den Kategorien ihrer Wissenschaft, sondern machen Kontexte für die verhandelten Begriffe auf. Entsprechend liest sich bereits die erste Seite in Roschers Lehrbuch paradigmatisch. Der Grundbegriff des wirtschaftlichen Gutes wird hier erörtert über die These, dass die Wertschätzung von Dingen historisch und kulturell relativ ist: So hat zum Beispiel die Tabakpflanze wahrscheinlich seit Jahrtausenden existiert: ein Gut aber ist sie erst geworden, seitdem man ihre Brauchbarkeit zum Schnupfen, Rauchen etc. erkannt hat und bedürfen gelernt hat. Auf ähnliche Art sind die Kalksteinschiefer von Solenhofen erst seit Erfi ndung des Steindruckes in höherem Grade zu Gütern geworden, die schlechtesten Knochen seit Erfi ndung des Knochenmehldüngers, die Blutegel seit Broussais, der Kautschuk seit ungefähr 1825, die Guttapercha seit ungefähr 1844. Andererseits haben Zaubermittel, Liebestränke, selbst Reliquien mit dem Glauben an ihre Wirksamkeit etc. auch ihre Güterqualität verloren.118

Eine rein funktionale Erklärung, dass ein Objekt Güterwert relativ zu einem betreffenden subjektiven Bedürfnis erhält, genügt hier nicht für die Darstellung. Es wird zudem ein Minikatalog historischer Güter angefügt. Denn erst diese semantische Füllung, die Denotation tatsächlicher Waren und Bedürfnisse, erlaubt in diesem Verständnis jene praktische Übersicht über das »Ganze, nicht bloß der Volkswirtschaft, sondern des Volkslebens«, auf die das Lehrbuch in der Ausbildung von Geschäftsmännern und Studierenden abzielt.119 Sachliche Unkenntnis, Blindheit für bestehende Verhältnisse stellen sich vice versa als Krisensymptome dar. So heißt es in Roschers zentraler Abhandlung über die volkswirtschaftlichen Absatzkrisen:120 Bei manchen Speculanten ging der Schwindel so weit, daß sie Schlittschuhe und Bettwärmer in Menge nach Brasilien schickten, elegante Porzellan- und Krystallsachen an Leute, die bisher nur aus Kuhhörnern oder Kokosschalen getrunken hatten; nach Sidney Purgirsalz in solcher Masse, daß alle damaligen Einwohner 50 Jahre lang wöchentlich einmal damit hätten versehen werden können!121

Schlittschuhe in Brasilien! Diese groteske Konstellation innerhalb der englischen Krise der Jahre 1825/26, die Roscher mit dem Ton unterschwelliger Empörung gegen

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Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 6, S. 23. Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie, §1, S. 2. Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie, § 29, S. 64. Vgl. Priddat: Über W. Roschers ›historische Methode‹ der Nationalökonomie, hier: S. 304–314. Wilhelm Roscher: Zur Lehre von den Absatzkrisen [1849]. In: Wilhelm Roscher, Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, dritte verbesserte und mit acht Abhandlungen vermehrte Aufl., Bd. 2, Leipzig, Heidelberg 1878, S. 355–493, hier: S. 405.

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das kurzsichtige122 Spekulantentum vorträgt, gibt den eigentlichen Charakter der hier konzeptualisierten Absatzkrisen preis. Eine rasch anwachsende Produktion trifft qualitativ oder quantitativ nicht mehr mit den vorhandenen Bedürfnissen in einem Absatzraum zusammen und führt daher zur Überproduktion.123 Roscher nennt vielfältige geschichtliche Gründe für diesen je spontanen Verlust des konsumtiven Bezugspunkts (u.a. die neuzeitliche Arbeitsteilung, Mode- bzw. Bedarfswechsel, vorübergehende Nachfrageerweiterungen, Auswirkungen von Kriegen oder inneren Unruhen etc.). Um dem Problem zu begegnen, setzt Roscher ›therapeutisch‹ auf den Ausbau der Statistik. Ein Mehr an Information sowohl über die Nachfrage- wie über die Konkurrenzverhältnisse auf den Märkten werde dazu führen, dass »bedeutende Krisen kaum möglich sein« dürften.124 Metonymisierende Arbeit also, d.h. die Aufklärung über gegebene Kontexte, soll die Intransparenz beseitigen, die der Anlass von krisenhafter Spekulation und Überproduktion ist. Der ›therapeutische‹ Vorschlag verdankt sich einem Ideal umfassender Sachkenntnis, das, wie Roscher selbst problematisiert, dem Modell der Hauswirtschaft abgeschaut ist, in dem eine jede Produktion mit einem realen Bedarf zusammentrifft .125 In analoger Weise gestaltet sich bei ihm das »Gedeihen jeder Volkswirtschaft« als »gleichmäßige Entwicklung von Production und Consumtion«.126 Denn nur im Verzehr, so der Wortgebrauch der Ökonomen, »realisirt« sich die Produktion und kann so Teil des Volksreichtums werden.127 Von hier aus betrachtet erweist sich also das Einflechten historischer und statistischer Informationen nicht mehr nur als akzidentielle Beigabe der Ökonomie, sondern, wie Roscher stets selbst hervorhebt, als ihre eigentliche Kernaufgabe. Wer nicht weiß, wie es um die Sachen selbst und ihre kontextuellen Zusammenhänge bestellt ist, kann nicht zum Praktiker der Volkswirtschaft aufsteigen. Zwei Aspekte sollen zur weiteren Charakteristik dieser Ausrichtung auf die tatsächliche Gestalt von Wirtschaftsräumen hervorgehoben werden: 1) die empirisch-historistische Zurückweisung rationalistischer Systematik 2) die ethische Konzeptualisierung der deutschen Nationalökonomie Beide Aspekte werden in den weiteren Untersuchungen und Fallstudien wiederholt begegnen, weshalb im folgenden Kapitel zunächst lediglich ein kurzer Abriss gegeben werden soll.

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Der fehlende Überblick und Sinn für Zusammenhänge bei den Akteuren ist ein Leitmotiv des Textes. Vgl. Roscher: Lehre von den Absatzkrisen, S. 365. Roscher: Lehre von den Absatzkrisen, S. 457. Roscher: Lehre von den Absatzkrisen, S. 457f. Roscher: Lehre von den Absatzkrisen, S. 364; Hervorhebung im Original. Roscher: Lehre von den Absatzkrisen, S. 364, Fn. 3.

2.2.3.

Güter historisch oder systematisch – Wilhelm Roscher vs. Carl Menger

Die Sammlung des empirischen Materials führt bei Roscher, wie bereits in seinen Ausführungen über die historische Relativität der Güter gesehen, auf ein additives Schreibverfahren. Anstelle von kausalen Folgebeziehungen regiert das Asyndeton, also eine lose Reihung von Äquivalenten unter einem virtuellen Oberbegriff (›Güter‹). Als übergreifendes Klassifi kationsraster für seine aufs Konkrete abzielende Güterdiskussion gibt Roscher eine dreigliedrige Einteilung vor: Bedürfnisse, auf die die jeweiligen Güter bezogen sind, können entweder »Natur-, Anstands- oder Luxusbedürfnisse« sein.128 Damit ist eine Möglichkeit zur Gruppierung von Erscheinungen gegeben, die allerdings selbst auf historische Zusatzinformationen angewiesen ist. Denn, so macht Roscher in seiner einschlägigen Studie Ueber den Luxus deutlich, was als Luxus anzusehen ist, wird von verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgelegt.129 Bewertungen, die eine Kultur selbst vornimmt, die Zahl und Qualität ihrer Güter und die Verteilung derselben in der Bevölkerung – diese im Kern sozialen Faktoren müssen in Betracht gezogen werden, will man den Begriff ›Luxus‹ erfassen. Die Klassifi kation, die Roscher anbietet, führt also nicht auf eine abstrakte Systematik, sondern in die historische Detailuntersuchung, gewissermaßen zurück in den Zirkel aus empirischer Materialsichtung und Zusammenordnung ebendieses Materials. Wie anders demgegenüber eine systemische Ökonomie arbeitet, lassen schon die ersten Seiten in Carl Mengers Theorieklassiker Grundsätze der Volkswirtschaftslehre von 1871 erkennen. Auch Mengers Untersuchung nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Definition des ›Gutes‹ als wirtschaftliche Basiskategorie. Und wie in der deutschsprachigen Nationalökonomie üblich, wird der Begriff des Gutes zunächst mit dem des subjektiven Bedürfnisses korreliert. Doch schreitet Menger nicht zur Exemplifi kation fort, sondern zur Zergliederung der Prämisse: Damit ein Ding ein Gut werde, oder mit andern Worten, damit es die Güterqualität erlange, ist demnach das Zusammentreffen folgender vier Voraussetzungen erforderlich: 1. 2.

Ein menschliches Bedürfniss. Solche Eigenschaften des Dinges, welche es tauglich machen, in ursächlichen Zusammenhang mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses gesetzt zu werden. 3. Die Erkenntniss dieses Causal-Zusammenhanges Seitens der Menschen. 4. Die Verfügung über dies Ding, so zwar, dass es zur Befriedigung jenes Bedürfnisses thatsächlich herangezogen werden kann.

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Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie, §1, S. 1. Wilhelm Roscher: Ueber den Luxus [1843]. In: Wilhelm Roscher, Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, dritte verbesserte und mit acht Abhandlungen vermehrte Aufl., Bd. 1, Leipzig, Heidelberg 1878, S. 103–203, hier: Kap. 2, S.  112–118. Die Aufsätze aus Roschers einschlägiger Textsammlung Ansichten der Volkswirtschaft haben in kondensierter Form auch Eingang in seine Grundlagen der Nationalökonomie gefunden; vgl. über ›Luxus‹ Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §§ 224–236, S. 614–643.

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Nur wo diese Voraussetzungen zusammentreffen, kann ein Ding zum Gute werden, wo immer aber auch nur eine derselben mangelt, kann kein Ding die Güterqualität erlangen; besässe es aber bereits dieselbe, so müsste sie doch sofort verloren gehen, wenn auch nur eine jener vier Voraussetzungen entfallen würde.130

›Nur wo diese Voraussetzungen zusammentreffen, kann ein Ding zum Gute werden.‹ Die Bestimmung, die Menger hier gibt, ist an sich hinreichend, wird aber noch im selben Satz durch zwei zusätzliche Antithesen abgesichert (›wo immer aber eine derselben mangelt‹; ›besäße es aber bereits dieselbe‹). Und als genügten auch diese Hinzufügungen nicht, um die Definition zu schließen, ergänzt Menger die obige Liste um eine zweite, durch Negation gewonnene. In dieser wird noch einmal an jedem Punkt erörtert, dass ein Ding seine Güterqualität verliert, wenn eines der vier Kriterien nicht erfüllt ist. Diese außergewöhnlich beflissene Form der Begriff sklärung, die das gesamte Buch durchzieht, erfüllt mehr als nur logische Erfordernisse. Von Anfang an wird hier eine antithetische und auf starken Redundanzen beruhende Rhetorik profi liert, die das Denken des Lesers auf Binaritäten (entweder/oder) ausrichtet. Nahezu alle Definitionen und veranschaulichenden Beispiele des Buches erhalten ihre Umkehrungen, werden je von zwei Seiten beleuchtet: Gegebenes und Negation, tertium non datur. »Ich will es nämlich, nach dem Grundsatze Adam Smith’s, immerhin mit etwas Langweile wagen, wenn dadurch die Klarheit der Darlegungen gewinnt«, reflektiert Menger sein Verfahren selbst.131 Was ›langweilig‹ anmutet, ist tatsächlich Einübung in strukturales Denken. Schon die erste größere Systematik, die Güter als Mittel zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung bestimmt, bedeutet hier einen signifi kanten Unterschied zur Klassifi kation des Tatsächlichen, wie sie bei Roscher begegnet. In auch heute noch gebräuchlicher Weise unterscheidet Menger Güter, die zum Endverbrauch genutzt werden (Güter erster Ordnung), von solchen, die zur Herstellung dieser Güter benötigt werden (Güter zweiter, dritter, vierter usw. Ordnung). Für jedes einzelne Endprodukt lässt sich dabei eine Güterpyramide aufstellen, die den kausalen Produktionszusammenhang repräsentiert: So hängt z.B. die Herstellung von Brot als Gut erster Ordnung vom Vorhandensein von Mehl, Brennstoff, Salz und Öfen (Güter zweiter Ordnung) ab sowie von Mühlen und Getreide (Güter dritter Ordnung), Äckern und landwirtschaftlichem Gerät (Güter vierter Ordnung). Auch bei Menger – das BrotBeispiel ist bei ihm nachzulesen132 – trifft man also auf metonymische Sachkenntnis. Doch steht diese ganz im Dienste der Systematik. Der Rahmen (Brotherstellung) veranschaulicht das abstrakte Theorem über den Kausalzusammenhang zwischen Gütern, das selbst unabhängig von der spezifischen Kenntnis darüber besteht, was genau

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Carl Menger: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre [1871], 2. Aufl. In: Carl Menger, Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. und eingeleitet von Friedrich August Hayek, Tübingen 1968, S. 3. Menger: Grundsätze, S. 100. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 8f.

in gewissen Kulturen als Gut gehandelt wird und wie es hervorgebracht wird. Die Abhängigkeitsrelation als solche ist hier Gegenstand der Theoretisierung. Und sie kann historisch abstrakt bleiben, anders als die klassifi katorische Kategorisierung (Natur-, Anstands-, Luxusbedürfnisse), mit der Roscher ostentativ auf spezifische kulturelle Urteile und Gebrauchszusammenhänge verweist, ja verweisen muss.133 Denn schon die Unterscheidung etwa zwischen Naturbedürfnissen, deren Nichtbefriedigung, wie es bei Roscher heißt, »Leben und Gesundheit gefährden« würde, und Anstandsbedürfnissen, deren Nichtbefriedigung zum »Verlust der gesellschaftlichen Stellung« führe,134 lässt sich ohne konkrete inhaltliche Qualifi kationen (was heißt gesund?, was umfasst eine gesellschaftliche Stellung?) nicht treffen. Wie von Ökonomietheoretikern hinlänglich nachgewiesen, liegt die Leistung Mengers in der Ausschaltung ebendieses Redens über tatsächliche, kulturspezifische Bedürfnisse und Güter aus der Wirtschaftstheorie zugunsten einer rein begrifflichen Grundlagenforschung.135 Die Fragen der Theorie spalten sich von den empirischen Untersuchungen ab, während sie bei den historistischen Ökonomen von Roscher bis Schmoller noch zusammengebracht werden sollen.136 Wer die Begriffe primär struktural denkt, braucht sich um die materiale Füllung keine Gedanken zu machen. Am deutlichsten lässt sich dieser Umschlagpunkt an Mengers Definition des subjektiven Bedarfs nachvollziehen.137 Bedarf ist bei ihm zunächst definiert als die »Quantität von Gütern, welche ein Mensch zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benöthigt«.138 Die kulturelle Entwicklung lässt hierbei einen Zeitfaktor erkennen, denn Menschen sichern ihren Bedarf auch, wenn ihre Bedürfnisse aktuell noch gar nicht auftreten. Die Bedarfssicherung ist in diesem Sinne durch eine Vorsorge-Mentalität gekennzeichnet. Weshalb der Bedarf präziser aufzufassen ist als »jene Quantität von Gütern, die erforderlich ist, um seine Bedürfnisse innerhalb jenes Zeitraums, auf welchen sich

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Vgl. zu den Arten der Begriffsbildung in rationalistischer und empiristischer Nationalökonomie Walter Eucken: Was leistet die nationalökonomische Theorie? In: Walter Eucken, Kapitaltheoretische Untersuchungen, Tübingen, Zürich 1954, S.  1–51, hier: S. 5–10. Beide Zitate bei Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 1. Vgl. auch Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 164f. Ebendiese Aufspaltung ist Gegenstand des Methodenstreits der 1880er Jahre, der den Vorrang der jeweiligen Betrachtungsweise verhandelt: zwischen den rationalistischen Theoretikern (Menger) und historistischen Empiristen (Schmoller). Aus späterer Sicht liest sich der Streit entsprechend undramatisch als an sich unnötiger Begleitlärm der fachlichen Ausdifferenzierung. Vgl. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 2, S. 994f. Vgl. zum Folgenden das Kapitel ›Über die Trennung von Ökonomie und Ethik zum Ende des 19. Jahrhunderts – Carl Mengers Gütertheorie‹ in Birger P. Priddat: Der ethische Ton der Allokation. Elemente der Aristotelischen Ethik und Politik in der deutschen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 1991, S. 181–232. Menger: Grundsätze, S. 32.

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seine Vorsorge erstreckt, zu befriedigen«.139 Zwei Faktoren sind bei der Abschätzung dieses Vorsorgeaufwands ins Kalkül zu ziehen: Wir müssen uns klar werden: a) über unseren Bedarf, das ist, über die Güterquantitäten, die wir in jenen Zeiträumen, auf welche sich unsere Vorsorge erstreckt, zur Befriedigung unserer Bedürfnisse benöthigen werden, und b) über die Güterquantitäten, die uns für den obigen Zweck zur Verfügung stehen. Die gesammte auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gerichtete vorsorgliche Thätigkeit der Menschen beruht auf der Erkenntniss dieser beiden Grössen.140

Mit anderen Worten: Menger löst die Frage, wie Bedürfnisse bestimmbar werden, in eine relationale Abwägung zwischen zukünftig benötigten Gütern und aktuell verfügbaren Mitteln (Gütern höherer Ordnung) auf. »Die ökonomischen Güter sind«, wie Birger P. Priddat erörtert, »demnach nicht durch den Bedürfniszweck, sondern durch das Verhältnis von Bedarf und verfügbaren Mitteln, d.h. durch ›Knappheit‹, wie man bei A. und L. Walras liest (rareté), spezifisch definiert«.141 Es handelt sich hierbei um die Grundlagen eines Modells wirtschaftlichen Handelns, das unter dem Namen des ›Homo oeconomicus‹ Eingang in die sozialwissenschaft liche Forschung gefunden hat.142 Aus dem Verhältnis der verfügbaren Güter (Mittel) und der benötigten (Bedarf) entsteht überhaupt erst das wirtschaftliche Kalkül. Denn nur da, wo der Bedarf den verfügbaren Güterbestand überschreitet und also ›Knappheit‹ herrscht, werden Dinge zu ökonomischen Gütern,143 verlangen sie eine Reflexion auf Kosten und Nutzen, die sich letztlich in der Bestimmung des ökonomischen ›Wertes‹ niederschlägt. Wert, als fundamentale Kategorie und Grundlage der Preisbildungstheorie, ist zunächst als subjektives Urteil über die Bedeutung von Dingen für den menschlichen Bedarf definiert: »[E]s ist somit der Werth die Bedeutung, welche concrete Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, dass wir in der Befriedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu sein uns bewusst sind.«144 Dieses Urteil aber, darin liegt die wirkungsgeschichtlich bedeutsame Pointe der Menger’schen Werttheorie, besitzt kein absolutes, objektives Maß, sondern es ist eine streng relative Einschätzung anhand zweier Koordinaten: 1) der Dringlichkeit des Bedürfnisses, auf die ein betreffendes Gut bezogen ist, und 2) der bereits vor-

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Menger: Grundsätze, S. 34. Menger: Grundsätze, S. 35. Priddat: Der ethische Ton der Allokation, S. 196. Eine sehr gute Einführung in die Grundlagen und Forschungsperspektiven dieses Modells bietet Gebhard Kirchgässner, auf den sich auch die literaturwissenschaft lichen Untersuchungen von Bernd Blaschke stützen. Siehe Kirchgässner: Homo Oeconomicus; Blaschke: Der homo oeconomicus. Einen knappen historischen und dabei betont populären Abriss bietet Wunderlich: »Geld im Sack und nimmer Not«, S. 11–24. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 51–53. Menger: Grundsätze, S. 78.

handenen Quantitäten dieses Gutes. Während klassische Werttheorien die ökonomischen Qualitäten von Dingen (ihren Güterwert) zu objektivieren bemüht waren – sei es, dass sie die allgemeine Brauchbarkeit145 von Dingen in die Wertbestimmung mit einbezogen oder, wie in der klassischen Arbeitswerttheorie, die inkorporierte Arbeitskraft zum Maß des Güterwertes erhoben –, gründet Menger die Wertbestimmung subjektiv und relational, d.h. in der Struktur eines je spezifischen Haushalts. An zentraler Stelle seiner Grundsätze stellt Menger diese Struktur in einem Diagramm dar:146 I

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Das Diagramm bildet einen beliebigen individuellen Haushalt ab. Dieser verfügt über zehn distinkte Bedürfnisse, die mit römischen Ziffern bezeichnet sind. I repräsentiert, gemäß Mengers Veranschaulichung, das Nahrungsbedürfnis. An Stelle V steht in seinem Beispiel das Tabakbedürfnis. Die arabischen Zahlen bezeichnen die abnehmende Dringlichkeit des entsprechenden Bedürfnisses von 10 (lebensnotwendig) bis 0 (irrelevant). Zwei Relevanzachsen sind in dieser Weise angelegt: Horizontal lassen sich die Bedürfnisse hierarchisieren: Nahrung (10) ist, geht man vom maximalen Nutzen aus, wichtiger als Tabak (6). Auf der vertikalen Achse zeigt sich die abnehmende Bedeutung der einzelnen Bedürfnisbefriedigung, umgekehrt proportional zum Anwachsen des entsprechenden Gütervorrats. 10 markiert hier die Stufe, auf der 145

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Unter ›Brauchbarkeit‹ versteht man in den zeitgenössischen Diskussionen die absolute, rein auf Qualitäten bezogene Nützlichkeit von Dingen, die gern mit dem Begriff des Gebrauchswertes koordiniert wird. Aus dem Rekurs auf solche objektiven Dingqualitäten entsteht das klassische Wertparadox, dass Gegenstände mit absolut höherer Brauchbarkeit (z.B. Wasser) einen geringeren Tauschwert besitzen als solche mit geringerer Brauchbarkeit (z.B. Diamanten). Siehe dazu im Folgenden Mengers Lösung sowie Abschnitt 4.2.1. dieser Arbeit. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 93.

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ein Quantum an Nahrung den lebensnotwendigen Bedarf deckt. Bei weiterer Zufuhr von Nahrung nimmt dann die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung stetig ab: Auf den Stufen 9, 8, 7 wäre sie nicht mehr lebensnotwendig, aber doch gesundheitsfördernd, wünschenswert oder angenehm; in den unteren Skalenbereichen gegen 0 wird jeder weitere Nahrungszugewinn für das Individuum belangloser. Die vertikale Achse verzeichnet also die abnehmende Intensität des Individualbedürfnisses bei wachsender Bedürfnisbefriedigung.147 Damit ist der Grundstein für die Theorie des Grenznutzens gelegt, in der das konkrete Vorhandensein von Gütern mit dem individuell zu stiftenden Nutzen gekoppelt wird. Je knapper ein nachgefragtes Gut, desto größer der Bedürfnisgrad und desto wertvoller das Gut. Die Kombination beider Koordinaten erlaubt die Abwägung und Hierarchisierung unterschiedlicher Güter – und zwar eine Abwägung zwischen tatsächlich verfügbaren Mengen von Gütern gemessen am Grad der je spezifischen Bedürfnisdeckung. Wenn, um beim Beispiel zu bleiben, der Drang nach Nahrung weit über die elementare Notwendigkeit hinaus befriedigt ist (5), werden an sich geringere Bedürfnisse wie der Tabakgenuss bedeutsamer (6). In diesem Falle kommt es zur relativen Präferenz (6:5) für ein Gut, das bei sinkenden Quantitäten und einem entsprechend wachsenden Bedürfnisgrad minder wichtig wäre. Der Vergleich des jeweils zu stiftenden Grenznutzens führt Menger zur Lösung eines ökonomiegeschichtlich bedeutsamen Theorieproblems. Es handelt sich um das klassische Wertparadox, das bis ins 19.  Jahrhundert hinein die Ökonomen beschäftigte: Wie können ein Pfund Gold oder ein Pfund Diamanten, die doch einen ungleich geringeren Nutzen für die Menschen besitzen als etwa eine gleiche Menge Trinkwasser, einen größeren ökonomischen Wert erzielen?148 Diese Fragestellung macht sich am maximal zu stiftenden Nutzen fest, und eben darin liegt – vom neoklassischen System aus betrachtet – der Denkfehler. Wasser, so erläutert Menger, ist nämlich gemeinhin in so großen Mengen verfügbar, dass damit für das einzelne Individuum auch noch die geringsten Bedürfnisse gedeckt werden können, wohingegen das rare Vorkommen von Gold und Diamanten nur die spezifisch wichtigsten mit diesen Gütern verbundenen Bedürfnisse befriedigt. Es folgt in diesem Normalfall, dass, wo Wasser nahezu belanglos ist, ein Zugewinn weiterer Quanten vom Individuum geringer geschätzt wird als der Erwerb anderer Güter wie Gold oder Diamanten. In einer Notlage, in der Wüste etwa, lässt sich hingegen leicht ausdenken, dass sich das Verhältnis wieder umkehrt, weil dort die Knappheit des Wassers dazu führt, dass alle relativ unwichtigeren Güter in den

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Dieses heute als ›Gossen’sches Gesetz‹ bekannte Theorem ist erstmals von dem deutschen Ökonomen Hermann Heinrich Gossen formuliert worden. Gossens Grundlagenschrift Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln (1854) fand bei den Zeitgenossen kaum Beachtung und auch Menger kannte die Schrift nicht, als er seine Grundsätze verfasste. Vgl. Emil Kauder: Aus Mengers nachgelassenen Papieren. In: Weltwirtschaftliches Archiv, Jg. 89 (1962) Heft 1, S.  1–26, hier: S. 14. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 113f.

Hintergrund treten. Zu vergleichen ist also in allen Regel- wie Ausnahmefällen die Bedeutung der jeweils geringsten Bedürfnisse, die ein Gut zu erfüllen imstande ist – eben der Grenznutzen des Gutes. In Mengers Schrift fehlt der neoklassische Terminus technicus ›Grenznutzen‹149, doch zeigt sich das Prinzip ausgiebig beschrieben: Es sind demnach in jedem concreten Falle von der Verfügung über eine bestimmte Theilquantität der einer wirthschaftenden Person verfügbaren Gütermenge nur jene der durch die Gesammtquantität noch gesicherten Bedürfnisbefriedigungen abhängig, welche für diese Person die geringste Bedeutung unter diesen letztern haben, und der Werth einer Theilquantität der verfügbaren Gütermenge ist für jene Person demnach gleich der Bedeutung, welche die am wenigsten wichtige der durch die Gesammtquantität noch gesicherten und mit einer gleichen Theilquantität herbeizuführenden Bedürfnissbefriedigungen für sie haben.150

Diese Formulierung des zentralen und entsprechend typographisch herausgehobenen Grenznutzen-Theorems vermittelt einen exemplarischen Eindruck von Mengers Schriftsprache. Der Stil ist durchweg spröde und umständlich.151 Eine Häufung von Demonstrativpronomina (›jene‹, ›diese‹), gespreizte Relativpronomen (›welche‹) und die Aufblähung des Syntagmas durch Partizipialgruppen (›der von einer wirtschaftenden Person verfügbaren Gütermenge‹) hemmen den Lesefluss. Nicht von ungefähr unterläuft im letzten Nebensatz eine grammatische Inkongruenz (die am wenigsten wichtige … haben), verliert sich die Hypotaxe in ihrer Komplexität. Die These zum Grenznutzen besitzt, stilistisch betrachtet, also ein Prägnanzdefizit. Dieses Defizit wird jedoch ausgeglichen durch eine umfangreiche literarische Unterfütterung der Gedankenführung. Wie bereits angeklungen, lagert Menger an jeden Schritt seiner Erörterung zahllose fi ktionale Beispiele zur Veranschaulichung an, die im Wesentlichen – so pointierte schon Gustav Schmoller in seiner ersten Kritik des Menger’schen Werkes152 – dem Gattungsmuster der ›Robinsonade‹ entsprechen.153 Einsame Leute, manchmal auch isolierte Gemeinschaften – in der Wildnis, in Wüsten oder an Bergbächen – erfahren, vermittelt durch den Einbruch einer Naturkatastrophe, die Logik ökonomischer Abläufe. Menger bevorzugt zunächst zweistufige Narrative nach dem Schema Vorher/Nachher. Etwa zur Erläuterung des Güterwertes: »Wenn die Bewohner eines Dorfes täglich tausend Eimer Wasser be149

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Gleiches gilt für andere heutige Fachausdrücke, wie z.B. ›Knappheit‹. Die Terminologie wird im Anschluss an Menger in den Schriften von Eugen Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser geprägt. Menger: Grundsätze, S. 98f. [Hervorhebung im Original, Anm. Ch. R.]. Als luzide werden demgegenüber Mengers mündliche Darlegungen in seinen Seminaren beschrieben, vgl. die Charakteristik von Friedrich August Hayek in seiner Einleitung zu Menger: Grundsätze, S. XXXIV. Auch spätere Veröffentlichungen, insbesondere die Streitschrift Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie (1884), sind pointierter formuliert. Gustav Schmoller: Rez.: Menger, Dr. Carl, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, In: Literarisches Centralblatt, No. 5 (1873), 1. Februar, S. 142–143. Dazu ausführlicher Abschnitt 4.2. dieser Arbeit.

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nöthigen […] und über einen Bach verfügen, der täglich hundertausend Eimer Wasser führt«, so ist ihnen ein einzelner Eimer Wasser kein ökonomisches Gut.154 »Würde dagegen die Quantität Wasser, welche jener Bach führt, in Folge einer aussergewöhnlichen Dürre, oder eines anderen Naturereignisses bis auf fünfhundert Eimer täglich sinken«, so hätte jede Quantität dieses Gesamtvorrats an Wasser für sie Bedeutung und Wert.155 Mengers Einsiedel-Erzählungen – hier äußerst gerafft wiedergegeben – steuern je auf den deutlich markierten Umschlagpunkt (Dürre, Naturkatastrophe) zu, der zwei distinkte Zustände gegeneinander abgrenzen lässt (+/- 1000 Eimer täglich). Legen die Kippnarrative anfangs allein binäre Oppositionen fest (ökonomisch/ nichtökonomisch), so bauen später umfangreichere Stufenbildungen darauf auf. Das Grenznutzenprinzip wird entsprechend über den diskret gegliederten Wasserhaushalt eines ›isoliert‹ wirtschaftenden Subjektes, ›das eine felsige Meerinsel bewohnt‹, erörtert: 1 Maß Wasser, so die Fiktion, braucht der Protagonist zum Trinken, 19 für die Tiere, 40 zum Waschen und weitere 40 zur Blumenpflege.156 Die narrative Dynamisierung dieses Ausgangszustandes erfolgt dann schrittweise über die Verknappung des Wassers, woraus, so die Pointe, die Aufwertung der einzelnen Teilquantitäten resultiert. Menger resümiert: Wir haben demnach gesehen, dass im ersten Falle, insolange nämlich dem in Rede stehenden Subjecte viele tausend Eimer Wasser täglich zur Verfügung standen, eine Theilquantität hievon z.B. ein Eimer gar keinen Werth hatte – weil keinerlei Bedürfnissbefriedigung von einem einzelnen Eimer abhängig war, wir sahen im zweiten Falle, dass eine concrete Theilquantität der ihm verfügbaren 90 Mass für ihn bereits die Bedeutung von Genüssen erhielt, denn die am mindesten wichtigen Bedürfnissbefriedigungen, die in diesem Falle von jener Quantität von 90 Mass abhingen, waren Genüsse, wir sahen, dass im dritten Falle, wo nur 40 Mass Wasser täglich zu seiner Verfügung standen, bereits wichtigere Bedürfnissbefriedigungen von der Verfügung über jede concrete Theilquantität abhängig waren und demgemäß sahen wir auch den Werth der Theilquanität steigen, welcher im vierten Falle, als noch wichtigere Bedürfnissbefriedigungen von jeder concreten Theilquantität abhängig wurden, sich abermals erhöhte.157

Diese Zusammenfassung ist die Raff ung einer knapp dreiseitigen Erzählung, die Menger zuvor dargeboten hat. Nach dem besagten Redundanzprinzip wird die Lehre anschließend an einem Schiffbruchsbeispiel durchgeführt, ehe die Narrative des Verlusts antithetisch um Erzählungen von Zugewinn und Wertminderung erweitert werden, die in der Sache analog sind. So zeigt sich die immer gleiche Moral, dass sich der Wert eines Gutes an der letzten hinzugewonnenen Quantität dieses Gutes festmacht, umfangreich literarisch ausstaffiert und illustriert. Die zahlreichen Minierzählungen erweisen sich dabei in ihrer auf klare Distinktionen abhebenden Strukturierung (Vorher/Nachher; Fall bzw. Zustand 1, 2, 3, 4) als narratives Korrelat der exakten,

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Menger: Grundsätze, S. 82. Menger: Grundsätze, S. 83. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 100–104. Menger: Grundsätze, S. 103f.

diskret gliedernden Tabelle, die das Grenznutzenprinzip numerisch darstellt. Jedes Ereignis, jeder Fall ist darin immer schon mit dem Vektor auf seinen Ort in der Systematik hin ausgestattet. Die Erzählung von der Felseninsel und den gering geschätzten 40 Eimern Wasser für Blumen verweist nicht mehr auf eine außerhalb ihrer liegende, allegorische Bedeutung (etwa den bedauerlichen Stellenwert der Ästhetik in Zeiten materiellen Notstands), sondern nurmehr auf die spezifische Relation, die dieser an sich beliebige Zustand gegenüber anderen, höher bewerteten einnimmt. Der dingliche Gegenstand der Bewertung wird Makulatur; er entleert sich zur Variablen für ein rein funktionales Kalkül. Menger war selbst kein mathematischer Ökonom und die bei ihm stets diskontinuierlichen Darstellungen werden erst einige Jahre später von Alfred Marshall (Principles of Economics, 1890) als kontinuierliche, berechenbare Nachfragekurven entworfen. Seine innovative Leistung besteht demnach in eben jener theoretischen Ausprägung und Literarisierung eines strukturalen Denkstils, der Ereignisse nur insofern zulässt, als sie in einer vorgegebenen Systematik einen Ort (in einem Haushaltskalkül) finden können. Wie anders lesen sich illustrative Passagen bei Wilhelm Roscher. Auch hier findet sich Durchgestuftes: Es ist ein Spiegelbild der Weltgeschichte im Kleinen, wie das römische Colosseum erst ein Schauspielhaus war, im Mittelalter eine Festung, dann ein Steinbruch, weiterhin ein kirchlicher Platz, neuerdings eine Antike wurde.158

Doch stellt diese diachrone Abfolge von Zuständen, die Roscher in einer der ersten Fußnoten seines Lehrbuches präsentiert, keine internen Relationen und damit kein übergreifendes System der Aufzeichnung her. Roschers rein additive Reihung von historischen, in sich unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Colosseums bleibt metonymisch offen und kann gerade deshalb auf eine außerhalb ihrer liegende Bedeutung anspielen, nämlich zum ›Spiegelbild der Weltgeschichte‹ werden. Als Memento mori symbolisiert diese Bilderfolge den kontingenten, richtungslosen Lauf der Welt, den ewigen Wandel der irdischen Güter. Der Vergleich, den die Spiegelmetapher hier abruft, regiert das Syntagma, ohne dass dieses damit immanent, systemisch determiniert wäre. Das Verhältnis, das sich hierin ankündigt, erlangt für die realistischen Textverfahren eine fundamentale Bedeutung. Es geht um die Ordnungsweisen, in denen die prinzipiell unabschließbaren Reihen von Sachverhalten erscheinen können, es geht um die Herstellung einer metonymisch offenen und doch organisierten Textform der wirtschaftshistorischen Untersuchungen. Diesen Ordnungsweisen soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten, wobei sich auch hier die Poetologie des literarischen Realismus als aufschlussreich erweist. Roscher selbst hatte in den Prolegomena seiner frühen geschichtstheoretischen Abhandlung Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides von 1842, in der sich die methodologischen Grundlagen seiner späteren ökonomi-

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 4, Fn. 13.

127

schen Arbeit erörtert finden, gewarnt, man dürfe nicht auf der Stufe des historischen »Handwerkers« stehen bleiben, der sich in der »bloßen Sammlung des Stoffes« verliere.159 Urkunden abschreiben, Quellen edieren – das sei dessen Geschäft. Nirgends aber gelinge es ihm, das Wesentliche vom Unwesentlichen eines Untersuchungsgebietes zu scheiden. Dieser Schritt bleibe dem eigentlichen Historiker vorbehalten. Der Historiker ist, in Roschers Auffassung, ein »wissenschaft licher Künstler«, der qua »unparteiischem« Naturell und Begabung »zur nachschaffenden Darstellung«160 überhaupt erst vermag, Ordnung in die Vielfalt eines vorliegenden Materials zu bringen. Diese Charakterisierung der schöpferischen historischen Arbeit bedient sich einer Reihe von Denkfiguren und Vergleichen, die aus dem real-idealistischen Diskurs der realistischen Poetologie bekannt sind: Nicht um die exakte Abbildung einer Persönlichkeit, nicht um »Totenmasken« und »Daguerrotypen«161 möge sich der Historiker kümmern, sondern vom »Zufälligen des Augenblicks« absehend solle er streben, das »Wesentliche des Charakters herauszulesen.«162 Auf der anderen Seite verfahre er doch auch nicht wie der Dichter, der selbst, »wo er historische Personen in sein Kunstwerk herübernimmt«, »ihre Hauptzüge immer zu verstärken, ihre Nebenzüge dagegen völlig verschwinden zu lassen« pflegt.163 Zwischen historischem Handwerk und Dichtkunst, zwischen der bloßen Häufung einer kontingenten Stoff menge und einer idealistischen Verwesentlichung soll sich der Historiker situieren – also genau dort, wo der literarische Diskurs den realistischen Autor positioniert.

2.3.

Die Verklärung des Wirklichen

Bekanntlich ist die hier angesprochene Frage nach der Ordnung eines ›Wirklichkeitsstoffes‹ in der literarischen Programmatik ab den 1850er Jahren eingehend diskutiert worden und liegt heute unter dem Stichwort ›Verklärung‹ umfangreich dokumentiert vor. Entsprechend sollen an dieser Stelle nur einige zentrale Aspekte der Denkfigur aufgerufen werden, die sich mit diesem Begriff verbindet. Es geht dabei um die Strategien der poetischen Organisation jenes mannigfaltigen und potenziell grenzenlosen kulturellen Wissens, über das, wie oben beschrieben, die Darstellungsebene realistischer Texte metonymisch aufgebaut wird.

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Wilhelm Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer Einleitung zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen 1842, S. 11. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 13. Der geringe Stellenwert, den die Photographie im ästhetischen Diskurs des Realismus einnimmt, ist einschlägig beschrieben worden von Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, insbesondere: S. 31– 52. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 13. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 31.

Verklären ist zunächst ein Selektionsverfahren164, das – auf unterster Stufe und im heute noch gebräuchlichsten Verständnis – die Ausscheidung negativer Attribute an einem dargestellten Gegenstand garantiert. Verklären heißt in diesem Sinne eine Wirklichkeit positiver repräsentieren, als es eine oberflächliche Betrachtungsweise zunächst zuzulassen scheint. Es ist diese Strategie der Läuterung und Verschönerung, die Wilhelm Roscher der Kunst anempfiehlt, wenn er sie auf die Arbeitsweise des Malers Ludwig Richter verweist, der »selbst die armseligsten äußeren Verhältnisse so darstellt, daß sich der gemüthvolle Mensch darin glücklich fühlen kann«.165 Literaten wie Theodor Fontane haben den Verklärungsauftrag angenommen: Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, […] sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.166

Die Ausscheidung negativer oder – mit dem Sprachgebrauch der Zeit – ›tendenziöser‹ Momente (ein sterbender Proletarier von hungernden Kindern umstellt!) verdankt sich, eine Stufe abstrakter betrachtet, einem erkenntnistheoretischen Begehren: ›Läuterung‹ zielt auf die Ausscheidung des Unwesentlichen oder ›bloß Handgreiflichen‹ aus dem Bereich des Wahrhaften und Kunstgemäßen: [Der Realismus] ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst […]. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.167

Gebetsmühlenartig und erkennbar in der Tradition idealistischer Ästhetiken stehend beschwören die realistischen Programmatiker nach 1850 das Wahre, Wesentliche und 164

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Die Verfahren der Ausschließung in der Literatur des Realismus sind in diversen Studien und Monographien der semiotisch orientierten Realismusforschung um Manfred Titzmann und Marianne Wünsch untersucht worden. Hier sei lediglich auf zwei der grundlegenden theoretischen Aufsätze verwiesen, die einen guten Überblick über die Forschung beinhalten: Michael Titzmann: »Grenzziehung« vs. »Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«. In: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hg.), Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2000, S.  181–209; Marianne Wünsch, Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In: Manfred Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S.  187–204. Vgl. zu den Arbeiten aus diesem Forscherkreis die kommentierte Bibliographie von Peter Klimczak in: Marianne Wünsch, Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche, mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker/Peter Klimczak/Hans Krah/Martin Nies, Kiel 2007, S. 371–398. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 78, S. 187, Fn. 2. Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, S. 12. Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, S. 13.

129

Dauerhafte als diejenige Sphäre, die es im künstlerischen Prozess der Verklärung freizulegen gilt.168 Zwei Aspekte dieser Wesentlichwerdung sind dabei von besonderer Bedeutung: der formalpoetische und der semantische. 2.3.1.

Wie die Welt geordnet wird – Die formalpoetische Seite der Verklärung

Der formalpoetische Aspekt betrifft im Wesentlichen den Bauplan der Diegese und mithin die Frage, wie die tendenziell offenen metonymischen Reihen derart bearbeitet werden können, dass sie als (poetisch) organisiert erscheinen. Es wird sich zeigen, dass Literatur und Ökonomie ihre Gestaltungsfragen in ähnlicher Weise erkenntnistheoretisch ausrichten, sodass das, was in der Literatur als Vertiefung und Poetisierung erarbeitet wird, in der Ökonomie als Verwesentlichungsbestreben auftaucht. Die folgende Diskussion konzentriert sich – weiterhin in raffender Absicht – allein auf die Darstellungsebene der Texte. Sie überspringt mithin die Spezifi ka der zugrunde liegenden Textebene, auf der sich Verklärung etwa im Gebrauch von Euphemismen oder auch in syntaktischen Besonderheiten niederschlägt.169 Verklärung, Objektivierung und Dramatisierung bei Otto Ludwig, Gustav Freytag und Friedrich Spielhagen Dass die Textwelt, die der Realist in seinem Kunstwerk herstellt, über den Begriff des inneren organischen Zusammenhangs zunächst idealästhetisch bestimmt ist, lässt sich bereits bei Otto Ludwig erkennen, der den Begriff des ›Poetischen Realismus‹ erstmals in programmatischer Absicht aufruft. Nicht »ein Stück Welt« werde vom Poetischen Realisten dargestellt, so Ludwig, sondern »eine ganze, geschlossene [Welt], die alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen in sich selbst hat«.170 Dabei versteht sich diese zweite, geschaffene Welt (lies: die Diegese des epischen Textes) als

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In der stärker idealistisch gesinnten Poetik von Rudolf Gottschall bezeichnet »Verklärung« die erste Gegebenheitsweise eines Motivs in der Phantasie des Dichters, d.h. die Beziehung eines Stoffes auf eine zunächst noch intuitive künstlerische Idee, die zum Arbeitsanlass wird. Ihr folgen die Produktionsschritte der Läuterung und Komposition, wobei Läuterung die »Ausscheidung des Stoffartigen« gegenüber dem kontextuellen Anlass meint, die sich etwa in der Reduktion der dramatis personae oder in der Zusammenziehung von Raum und Zeit etc. niederschlägt. Vgl. Gottschall: Poetik, Bd.  1, S.  168 u. S. 173. Vgl. für einen Abriss zu dem gesamten Problemkreis Eisele: Realismus-Theorie. Man denke hier etwa an Adalbert Stifter, dessen komplexe Hypotaxen den Gegenstand des Hauptsatzes sukzessive entrücken, was als Strategie der Idealisierung rezipiert worden ist. Vgl. das bemerkenswerte Lehrheft von Wilhelm Schneider: Deutsche Kunstprosa. Übungen des Sprach- und Stilgefühls an Prosastücken aus dem 19. Jahrhundert, Leipzig 1926, hier: S. 33. Otto Ludwig: Der poetische Realismus. In: Otto Ludwig, Shakespeare-Studien, hg. von Moritz Heydrich (Nachlassschriften Otto Ludwig’s, Bd. 2), Leipzig 1874, S. 264–268, hier: S. 264.

verdeutlichendes Abbild der ersten (der außerliterarischen Wirklichkeit). »So ist es mit ihren Gestalten, deren jede in sich so notwendig zusammenhängt, als die in der wirklichen [Welt], aber so durchsichtig, daß wir den Zusammenhang sehen, daß sie als Totalitäten vor uns stehen«.171 In der Verdeutlichung wird eine Darstellung wesentlich. Wie man sich eine solche Verdeutlichung des Wirklichen im epischen Text vorzustellen hat, gibt Otto Ludwig in seiner prominentesten Erzählung Zwischen Himmel und Erde (1856) zu erkennen. Als der Protagonist Apollonius Nettenmair, nach seiner Lehrzeit in Köln, ins Haus des Vaters zurückkehrt, lässt ihn der Erzähler kurz vor dessen Gartenhütte ausruhen, um selbst einen Moment über seine Figur und ihre Gedankenwelt nachsinnen zu können: [E]r scheint in tiefe Gedanken versunken. Denkt er sich die weite Erde mit ihren Bergen und Tälern und Flüssen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende?172

Der Blick von außen, der hier die Figur dem Wissen ihres Erzählers entrückt und einem mutmaßlich nicht erzählten Geschehen Raum gibt, inszeniert eine scheinbar darstellungsunabhängige diegetische Realität. Was die Figur an dieser Stelle denkt, bleibt in der externen Fokalisierung verborgen. Doch zeigt sich die Reichweite dieses blinden Flecks in der Erzählerreflexion sorgsam begrenzt. Denn die Überlegung, ob Apollonius an ›Wanderer, fortziehende und heimkehrende‹, denke, wirft den Helden genau dorthin zurück, wo er im Fabelverlauf bereits verortet wurde: in die Situation der Heimkehr nach längerer Wanderschaft. Die Leerstelle des Wissens über die Figur, diese auf einen Realitätseffekt hin kalkulierte Unschärfe (von einem Erzähler, der ansonsten ausgiebig das Seelenleben seiner Figuren nachzuzeichnen vermag), ist in der Starrheit des Handlungsarrangements aufgehoben. Auf dieses verweist denn auch der anschließende Erzählerkommentar, mit dem die externe Fokalisierung verlassen wird: Wer ein scharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu sehen, die sich spinnen die Straßen entlang über Hügel und Tal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dunkeln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgespannt, solang die Herzen leben, aus denen sie gesponnen sind; manche ziehen mit unentrinnbarer Gewalt zurück.173

Man darf diese Passage poetologisch auffassen: Verworren ist die Alltäglichkeit; und doch besitzt jemand ein ›scharfes Auge‹ für dieses ›traumhafte Gewebe‹, das es ihm erlaubt, überall wirkliche Zusammenhänge – ›Herzensfäden‹ (lies: Figurenbezie-

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Ludwig: Der poetische Realismus, S. 264. Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde [1856]. In: Otto Ludwig, Sämtliche Werke, hg. von Paul Merker unter Mitwirkung des Goethe- und Schiller-Archivs, Bd.  3 (Zwischen Himmel und Erde. Novellenfragmente, hg. von Paul Merker/Hans Heinrich Borcherdt), München, Leipzig 1914, S. 26. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 27.

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hungen)174 in ihren gegensätzlichen Färbungen – zu erkennen. Dieses Auge besitzt der Poetische Realist, der hiermit sein ästhetisches Verdeutlichungsprogramm aufruft und das Strukturierungsprinzip der Fabel preisgibt: Die gesamte Erzählung wimmelt von Antonymien: hell oder dunkel, Himmel oder Erde, Leben oder Sterben, Fortziehen oder Heimkehren, gut oder schlecht, Apollonius oder Fritz, Valentin oder der Geselle, Vater Nettenmair oder der Vetter und Ziehvater in Köln bzw. (später dann:) der Bauherr als väterlicher Freund. Diese bipolare Strukturierung der Figurenkonstellationen und Topographien garantiert der Erzählung eine übersichtliche Diegese (und mit ihr einen letztlich recht durchschaubaren Handlungsfortgang), über der sich das narrative Raffinement, die permanente, variable Fokalisierung des Geschehens durch den Erzähler, entfalten kann. Ludwigs viel gerühmte Psychologisierung, Polyperspektivierung und seine, in der neueren Forschung – anders als in der zeitgenössischen Kritik175 – gewürdigte, vergleichsweise schillernde Figurenzeichnung176 zeigen sich in einer festen, als natürliche Ordnung angesetzten Tiefenstruktur verankert. Denn tatsächlich wird das Zusammen- und Auseinandertreten der Figuren, das den Konfliktverlauf markiert, immer wieder auf den Ausgangspunkt, gewissermaßen den initialen Herzenszusammenhang, zurückgeführt. Von Christiane, die durch eine Intrige von Apollonius’ Bruder Fritz um ihre Verbindung mit Apollonius gebracht wurde und nun, bei Ankunft des Helden, mit dem Ränkeschmied Fritz selbst verheiratet ist, heißt es, ihre Gesichtszüge hätten sich inzwischen denen Fritzens angeglichen. Wobei das Ähnlichwerden als einseitig erscheint, als Resultat der Okkupation des Mannes: »[E]r hatte nur gegeben, aber nicht empfangen«.177 Bald darauf ähnelt Christiane schon Apollonius178, und das nicht von ungefähr. Die Angleichung an Fritz war letztlich eine akzidentielle, eine lediglich äußere »Beschmutzung« der eigentlichen Wesenszüge.179 Wo Oberfläche und Tiefe säuberlich geschieden sind, kann sich Christianes innere Natur bald als unberührt vom Unbill ihrer Ehe erweisen: »Wenig mehr von der Ähnlichkeit mit ihrem Gatten lag in ihren Zügen. Sie war nur eine äußerliche gewesen, nur Äußerliches schien die heitern Linien berührt zu haben; kein tiefinneres Erlebnis hatte seine Marke ihnen aufgeprägt.«180 Die Anver-

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Es handelt sich hier um eine Synekdoche (Herzen für Menschen), die zur Metapher (Herzensfäden für Personenbeziehungen) ausgearbeitet ist. Julian Schmidts einschlägige Kritik nimmt die Figuren noch über ihre stereotype Anlage wahr, wobei das Unbehagen des Rezensenten daraus entspringt, dass in dieser Erzählung einem »Lump der gemeinsten Sorte« übermäßig viel Platz eingeräumt werde. Julian Schmidt: Otto Ludwig. In: Die Grenzboten, Bd.  16,2 (1857) Heft 4, S.  401–412, hier: S. 407. Vgl. Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2006, S. 219. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 28. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 93. »Wieviel Zeit mag nötig sein, wieviel Schmerzen wird sie zu Hülfe nehmen müssen, von einem ursprünglich so schönen Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnhet [sic!] von Jahren es beschmutzt!« Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 28. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 59.

wandlung an das Antlitz Apollonius’ ist von hier aus betrachtet eine Rückkehr zur inneren Bestimmung und zur eigentlichen Zusammengehörigkeit der Gutmütigen, die dem Handlungsverlauf vom ersten Kernereignis an (Christiane hinterlegt am Abend des Schützenfestes zum Liebesgruß eine Blume für Apollonius) vorgezeichnet ist. Wieso diese Zusammengehörigkeit in der Erzählung schlussendlich nicht realisiert werden kann, davon wird in den Ausführungen zur Semantik noch zu reden sein. Zunächst soll die hier besprochene Passage noch einmal in Gänze in den Blick genommen werden, insofern sie exemplarisch für die poetische Organisation des Textes ist. Die Stelle schließt an eine Gedankenwiedergabe an, die Fritz’ Absicht, den Heimkehrer Apollonius schnellstmöglich wieder aus dem Hause zu befördern, darlegt: Seine junge Frau scheint Ähnliches zu denken. Auch sie sieht in den Spiegel; ihre Blicke begegnen sich darin. Die Ehe soll die Gatten sich ähnlich machen. Hier traf die Bemerkung. Das Zusammenleben hatte hier zwei Gesichter sich ähnlich gemacht, die unter andern Umständen sich vielleicht ebenso unähnlich sehen würden. Und es hatte eigentlich nicht beide einander ähnlich gemacht, sondern nur eins davon dem andern. Die übereinstimmenden Züge – das konnte ein scharfes Auge sehen – waren nur ihm eigen; er hatte nur gegeben, aber nicht empfangen. Und doch wäre es umgekehrt besser gewesen für beide, wenn er es auch nicht eingestehen würde und sie es nicht fühlte, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wieviel Zeit mag nötig sein, wieviel Schmerzen wird sie zu Hülfe nehmen müssen, von einem ursprünglich so schönen Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnheit von Jahren es beschmutzt!181

Die Ausführungen, die fokalisiert beginnen (›scheint Ähnliches zu denken‹), wechseln schnell in den auktorialen Diskurs.182 Der Erzähler durchstößt – mit ›scharfem Auge‹ – die perspektivisch beschränkte Figurenreflexionen auf die fundamentalen Ordnungsmomente der Fabel hin und streut en passant noch eine moralische Erwägung ein: Es wäre umgekehrt besser gewesen für beide, wenn Fritz etwas von Christianes Wesensart angenommen hätte. Dass eine solche paritätische Angleichung oder gar eine Synthese in dem Komplementärmodell des Textes keinen Ort hat, nimmt schon etwas von seiner Pointe vorweg. Was der Erzähler als ethisches Desiderat einfordert – eine goldene Mitte, ein Sich-aufeinander-zu-Bewegen von Figuren – ist in dieser streng polar modellierten Diegese gar nicht vorgesehen. Hier regieren die Antonymien und Parallelismen, das Zusammen- und Auseinandertreten der Akteure im Rahmen ihrer vorgezeichneten Funktion als Träger oppositioneller Attribute (aufrichtig vs. verschlagen, sauber vs. unsauber etc.). Und genau diese Strukturierung garantiert denn auch, dass man bei aller Polyperspektivität, bei aller Sprachlosigkeit

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Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 28. Zum exemplarischen Status dieses Verfahrens vgl. die Textanalyse von Richard Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1957, S. 145–216.

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zwischen den Figuren183 und bei aller gelegentlichen externen Fokalisierung mit der dazugehörenden Verrätselung der Figurensicht stets bestens orientiert bleibt, wer sich jetzt mit wem gruppiert und wie die Verhältnisse gemäß dem Verlauf der ›Herzensfäden‹ eigentlich zu sein hätten. Dass eine solche formalästhetische Organisation einen Kernpunkt der im Poetischen Realismus angestrebten Verwesentlichung des Wirklichen ausmacht184, hat niemand so nachdrücklich hervorgehoben wie Gustav Freytag. In seinen Lebenserinnerungen führt er das Verdienst seines Hauptwerks Soll und Haben (1855), eine »wahrhafte und wirksame Darstellung von Menschennatur« geschaffen zu haben185, auf dessen Kompositionsprinzip zurück: Will man sich aber die Mühe geben, die geschilderten Menschen gegen einander zu stellen, so kann man fi nden, daß sie unter einem eigenthümlichen Zwange gebildet sind, dem des Gegensatzes: Anton und Fink, der Kaufmann und Rothsattel, Leonore und Sabine, Pix und Specht haben einander veranlaßt. Denn wie in dem menschlichen Auge jede Farbe ihre besondere Ergänzungsfarbe hervorlockt, so treibt auch in dem erfi ndenden Gemüth ein lieb gewordener Charakter seinen contrastirenden hervor. Auch Charaktere, welche dieselbe Grundfarbe erhalten, wie Ehrenthal und Itzig, werden durch die Zumischung der beiden Gegenfarben von einander abgehoben.186

Eine Komplementärästhetik garantiert also dem dickleibigen Roman seine Anschaulichkeit und Lebensnähe bei gleichzeitiger Exemplarizität. Ähnlich wie in Otto Ludwigs Erzählung ordnen sich die Figuren in Gegensatzpaaren, wobei das Tableau hier weiter ausdifferenziert ist.187 Denn Freytag denkt Attribute in Mischungsverhältnissen. Nimmt man eine der Grundoppositionen des Romans, ›deutsch‹ vs. ›jüdisch‹, so wird eine Binnendifferenzierung innerhalb des jüdischen Paradigmas dadurch erreicht, dass das ansonsten als deutsch codierte Sem ›patriarchaler Familiensinn‹ auch dem Spekulanten Hirsch Ehrenthal zugeordnet ist, womit sich dieser gegen sein Pendant, den Außenseiter Veitel Itzig, abhebt. Eine zweite Unterscheidung ruht in

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Eine Kommunikationshemmung durchzieht motivisch die Erzählung, vom autoritären Vater (»Ja, hast du je gehört, daß der im blauen Rock ein Warum hervorgebracht hätte?« Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.  12) bis zum stillen Einverständnis im fi nalen Tableau (»Wird in dem Familienkreise weniger gesprochen, so scheint ein Aussprechen von Wünschen und Meinungen des einen überflüssig, wo der andere mit so sicherem Instinkte zu erraten weiß.« Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 6f.). Vgl. zum Folgenden auch das Standardwerk von Dieter Kafitz, das, insofern es Figurenkonstellation als Mittel der ›Objektivierung‹ der dichterischen Phantasie, »die in die Erfahrungswirklichkeit eingebunden ist und sie doch produktiv-schöpferisch zu potenzieren vermag«, behandelt, selbst an Verfahrensprämissen des literarische Realismus anschließt, Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 20. Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 265. Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 265. Vgl. ausführlich zu den Kontrastkonstellationen des Romans und zu ihren ideologischen Implikationen Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel des Wirklichkeitserfassung, S. 69– 84.

der Nuance ›Handeln wider die guten Sitten‹ (Ehrenthal) vs. ›Handeln wider das Gesetz‹ (Itzig). Die Freytag’sche Farbgebung ist, semiotisch begriffen, ein Prinzip der Bildung und Paradigmatisierung von basalen semantischen Oppositionen, aus denen durch Verschiebung einzelner Seme eine Individualisierung der Figur erreicht wird. So zeigt sich etwa die schematische Gegenüberstellung von jüdischem und deutschem Handlungskreis im Roman, anhand einiger ausgewählter semantischer Paare: Deutsch

Jüdisch

Produktion oder Warenhandel

Finanzgeschäfte

sesshaft

mobil

Geschäfte mit Blick für ganzheitliche (nationale etc.) Zusammenhänge

egoistische Interpretation von geschäft lichen Interdependenzen

patriarchalischer Umgang mit Angestellten

rein zweckhafte Beziehung zu den Angestellten

mit den guten Sitten

wider die guten Sitten

mit dem Gesetz

gegen das Gesetz

Ist die jüdische Sphäre im Roman, dem kulturellen Klischee entsprechend188, mit Finanzgeschäften besetzt, die deutsche Sphäre hingegen streng an der Produktion bzw. dem Handel von Waren orientiert, so resultiert die Individualisierung im Fall Rothsattel gerade daraus, dass sich der Baron zum Zwecke der Gründung einer Zuckerrohrfabrik (deutsch, produktorientiert) auf jüdische Finanzspekulationen einlässt. Die Wanderung des Sems ›Geldgeschäfte‹ garantiert also die Besonderheit seines Handlungsstrangs. So löst Freytag das Problem, Wesenhaftes (Paradigmatisches) mit Singulärem (Individuellem) zu verbinden, um, wie im Programm beabsichtigt, ein ebenso typisches wie besonders scheinendes Figurenensemble herzustellen, das als »Abbild der gesammten Menschenwelt im Kleinen«189 zu nehmen ist. Den ›ernstlichen‹, sorgsamen Bau des Romans hat Theodor Fontane in seiner berühmt gewordenen Besprechung von Soll und Haben zur Grundlage seiner Würdigung des Werkes gemacht (Gesamturteil: »die erste Blüte des modernen Realis-

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Der stereotype Antisemitismus von Soll und Haben ist in der Forschung ausgiebig zur Sprache gekommen. Anders als Freytags teilweise widersprüchliche publizistische Stellungnahmen zur ›Judenfrage‹ erscheint das Judenbild seines Romans als homogener Ausdruck eines »prärassistischen Anti-Semitismus«, so Peter Heinz Hubrich: Gustav Freytags »Deutsche Ideologie« in »Soll und Haben«, Kronberg/Ts. 1974, S.  117. Die Judenfeindlichkeit wird mit dem kulturellen Klischee zur Gewinnung des ›Realitätseffekts‹ eingekauft . Vgl. Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 147–156. Durch die »Eigenlogik der Kontrastkonstellation« wird sie im Roman dann erhärtet. Vgl. Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 75. Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 266.

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mus«190). Mit dem Drama und dessen »strengen Anforderungen und Gesetzen«191 vergleicht Fontane den Handlungsaufbau des Romans, zwei Tragödien (mit den jeweiligen Protagonisten Rothsattel und Veitel Itzig) und ein bürgerliches Schauspiel (um Anton Wohlfart) findet er darin. Dabei gelinge es Freytags, »drei in sich geschlossene Geschichten zu einem Ganzen zu verweben und jeder einzelnen nur ebensoviel Lücke zu geben als nötig ist, um sich auf die beiden übrigen als auf ihre Ergänzung anzuweisen«.192 Noch die geringsten Details von Aktion zeigen sich vor dem genauen Auge des Kritikers Fontane motivisch eingebunden.193 In der maximalen Integration von Handlungsmomenten in die Totalität der Handlungsstruktur ruht also der poetische Qualitätsnachweis. Wenn Fontane den Roman auf die Formprinzipien des geschlossenen Dramas zurückführt, dann rührt das nicht von ungefähr. Die seit der Weimarer Klassik traditionell am höchsten bewertete Gattung194 hat nicht nur der Paradekunstform des Realismus, der Novelle, ihre Begrifflichkeit und Legitimation verliehen, wenn diese nach dem berühmten Diktum von Storm als »Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung«195 begriffen wird. Das Dramenschema trägt, wie gesehen, seinen Teil zur Valorisierung und sukzessiven Durchsetzung auch der größeren Prosagattung bei.196 Freytag selbst hat, ganz im Sinne der Beobachtungen Fontanes, seinen Roman auf die Bauform des Dramas zurückgeführt.197 Und zwar durchaus auf jene konsequent in der Intentionalität der Figuren gegründete Bauform, die er selbst in seiner Technik des Dramas (1863) prominent erläutert hat. Dort heißt es: »Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern der Leidenschaft, die zu einem Tun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihre Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst«.198 In diesem Schema von Aktion und Reaktion, dem steten

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Fontane: Gustav Freytag »Soll und Haben«, S. 215. Fontane: Gustav Freytag »Soll und Haben«, S. 218. Fontane: Gustav Freytag »Soll und Haben«, S. 219. Fontane: Gustav Freytag »Soll und Haben«, S.  219: »Da wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde«. Dass der hohe Rang des Dramas ungeachtet der ästhetisch zunehmend als unbefriedigend empfundenen Dramenproduktion bestehen bleibt, ist in der Realismus-Forschung ausgiebig angemerkt worden. Vgl. Helmut Schanze: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche »Schwäche«. In: Klaus-Detlef Müller (Hg.), Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpretationen, Königstein/Ts. 1981, S. 229–237. Theodor Storm: Verteidigung der Novelle [1881]. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart 1997, S. 268 –269. Neben dem Drama spielt das Versepos eine Rolle bei der Formgesetzgebung und Aufwertung des Romans. Vgl. Helmuth Widhammer: Die Literaturtheorie des deutschen Realismus (1848–1860), Stuttgart 1977, S. 80–85. Vgl. Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 261f. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas [1863], Berlin 2003, S. 22.

Wechsel von Tun und Leiden, sind die polare Figurenkonzeption und die Makroopposition von Spieler und Gegenspieler (Protagonist und Antagonist) verankert.199 Von anderer Seite und doch ebenfalls unter erkennbarem Einfluss des dramatischen Paradigmas nähert sich die Romantheorie Friedrich Spielhagens den Fragestellungen einer realistisch verklärenden Textorganisation.200 Spielhagen geht zunächst von einer prinzipiellen Verschiedenheit von Dramatik und novellistischer Kunst auf der einen Seite und Romankunst auf der anderen aus. Der Gegensatz ruht im Stofflichen bzw. im jeweiligen Zugriff auf die unverklärten Sachverhalte der außerliterarischen Wirklichkeit. Während die dramatische Kunst auf dem »einfachen Sehen« bzw. dem »Sehen des Einfachen« basiere201 und die ihr verschwisterte Novelle es mit »fertigen Charakteren«202 zu tun habe, weshalb die Handlung in beiden Fällen darauf angelegt sei, die fi xen Charaktere »in ihrer allereigensten Natur zu offenbaren«203, zeigt sich der Roman von der Komplexität der Darstellung aus definiert. Eine »möglichst vollkommene Übersicht der Breite und Weite des Menschenlebens« werde darin präsentiert204; die Hauptfiguren seien dynamisch und bildungsfähig. Hier sollen sich also große soziale Panoramen mit Sensibilität für vielgestaltige Details verbinden. Folgerichtig hebt sich der Roman in Umfang und potenzieller Offenheit seiner Struktur gegen die dramatisch-novellistischen Konfigurationen ab: So gleicht die Novelle einem Multiplikationsexempel, in welchem mit wenigen Faktoren rasch ein sicheres Produkt herausgerechnet wird; der Roman einer Addition, deren Summe

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Auch Rudolf Gottschall, der in seiner Poetik die kontrastive Anordnung als Kernpunkt der dichterischen Komposition heraushebt, stellt Roman und Drama nebeneinander. Im Drama sieht er den Kontrast stärker in Gegensätzen ausgearbeitet, während der Roman seine Gruppierungen über gestufte Kontraste (Unterschiede) vornehme. Vgl. Gottschall: Poetik, Bd. 1, S. 179. Vgl. zum ›pseudodramatischen-epischen Credo‹ Spielhagens Winfried Hellmann: Objektivität, Subjektivität, Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens [1957]. In: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt 1969, S. 86–159, hier: S. 91; Joachim Worthmann: Probleme des Zeitromans. Studien zur Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1974, S. 108. Oskar Walzel diskutiert in ähnlicher Weise mit Bezug auf Otto Ludwig die szenische Darbietungsweise als Verfahren der Dramatisierung des realistischen Textes und kritisiert dabei Spielhagens Dogmatik, die die ›eigentliche‹ Erzählung, d.h. die nicht mimetische Erzählweise, zurückstelle. Vgl. Oskar Walzel: Objektive Erzählung [1915]. In: Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung [1926], 2. Aufl., Darmstadt 1968, S. 182–206. Friedrich Spielhagen: Drama oder Roman? (Gelegentlich Henrik Ibsens Nora) [1881]. In: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [1883], Faksimiledruck nach der 1. Aufl., Göttingen 1967, S. 295–313, hier: S. 298. Friedrich Spielhagen: Novelle oder Roman? (Gelegentlich der Novellen von Marie v. Olfers) [1876]. In: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [1883], Faksimiledruck nach der 1. Aufl., Göttingen 1967, S. 243–257, hier: S. 245. Spielhagen: Novelle oder Roman?, S. 245. Spielhagen: Novelle oder Roman?, S. 245.

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zu gewinnen, wegen der langen Reihe und der verschiedenen Größe der Summanden, umständlich und im ganzen etwas unsicher ist.205

Mit bemerkenswerter Prägnanz hebt Spielhagen das grundlegend additive Verfahren der Romankunst hervor, d.h. die Reihung von Sachverhalten und Ereignissen, die in den oben stehenden Abschnitten als Prinzip der Metonymie, im Anschluss an Roman Jakobson, erläutert wurde. Auf die Verarbeitung von kultureller Komplexität angelegt, korrespondiere diese Kunstform mit dem ›mikroskopischen‹ Blick der Moderne – ein Topos, der bei Spielhagen wiederholt die Diversifi kation von Lebens- und Wissenszusammenhängen im »prosaischen« Zeitalter metaphorisiert.206 Komplexität, Offenheit und Besonderheit aber stellen nur eine Seite des Romanschaffens dar. Sie sollen sich, gemäß der Spielhagen’schen Theorie, mit dem traditionellen epischen Totalitätsversprechen verbinden, als dessen Gewährsmann bevorzugt Homer ins Feld geführt wird.207 Erst da, wo Sujets eine Allgemeinheit gewinnen und Individuen als Repräsentanten eines ganzen Kulturzustands erscheinen, realisiere der Roman seinen eigentlichen künstlerischen Anspruch208, die Menschheit »zu erfassen und darzustellen als ganzes, im Zusammenhang mit, in der Abhängigkeit von der Natur, in der Bedingtheit von den Kultur- und sonstigen Verhältnissen, die in dem betreffenden Volke in der bestimmten Epoche die herrschenden waren.«209 Diese kulturalistische Ausrichtung wird nun – darin liegt die Pointe der Spielhagen’schen Romantheorie – in eine narratologische Fragestellung überführt. Denn die Totalisierung, der »Ein205 206

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Spielhagen: Novelle oder Roman?, S. 246. Als Kennzeichen des eigenen Zeitalters sieht Spielhagen einen säkularisierten Pragmatismus, der sich naturwissenschaft lich aufgeklärt zeigt und sich ausdrückt durch »den Drang und den Entschluß«, das »zugewiesene Erbe endlich einmal voll und ganz anzutreten; es sich heimisch zu machen auf dieser unserer Erde, der selbstgegründeten, dauernden, die nicht Vorstufe des Himmels oder der Hölle ist, sondern der Grund und Urgrund, aus dem unsere Leiden und Freuden quillen, das Rhodus, auf dem wir tanzen müssen, es tanze sich nun gut oder schlecht.« Friedrich Spielhagen: Das Gebiet des Romans [1873]. In: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [1883], Faksimiledruck nach der 1. Aufl., Göttingen 1967, S. 34–63, hier: S. 38f. Der Totalitätsbegriff gehört zu den Grundbegriffen, die Spielhagens Romanpoetik der idealistischen, insbesondere Humboldt’schen Ästhetik entleiht. Nach Günter Reibing erfolgt in Spielhagens Aneignung eine Umwertung des Totalitätsbegriffs. Während Wilhelm von Humboldt Totalität intensiv denkt (das Kunstwerk soll ein verdichtetes, symbolisches Abbild der Welt darstellen), wird der Begriff bei Spielhagen durch den beschriebenen Akzent auf der metonymischen Offenheit des Romans zunehmend extensiv ausgerichtet: Ein möglichst umfangreiches Bild der Menschheit zu geben, ist hier das romanpoetische Ziel. Vgl. Günter Reibing: Der Halbbruder des Dichters. Friedrich Spielhagens Theorie des Romans, Frankfurt a.M. 1972, S. 82f. Hiermit hebt sich Spielhagens Romantheorie von späteren Auffassungen ab, etwa der noch heute prominenten These von Ian Watt, die die Realismusfähigkeit des Romans gerade in dessen Tendenz zur Individualisierung und Partikularisierung der Sujets begründet sieht. Vgl. Ian Watt: The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, London 1957, insbesondere: S. 9–34. Spielhagen: Das Gebiet des Romans, S. 49.

blick in die Gesetze, welche das Menschenleben regieren, welche das Menschentreiben zu einem Kosmos machen«210, hängt von der ›Objektivität‹ der epischen Darstellung ab. Zwei Kompositionsprinzipien wirken am Zustandekommen der objektiven Darstellung. Zum einen geht es um die Begrenzung der potenziellen epischen Fülle und damit die Verhinderung des Irrwegs, auf dem ein Dichter bloß additiv alles metonymisch Repräsentierbare speichert und also »Gestalten über Gestalten vorführt, Ereignisse auf Ereignisse, Fakta auf Fakta häuft, Handlung in Handlung schlingt«.211 Diese Begrenzung wird über den ›Helden‹ erreicht. Als »Auge, durch welches der Autor die Welt sieht«212, ist er der Maßstab, nach dem sich die Handlung, die Anordnung von Milieus, Szenerien, Nebenfiguren etc. gestaltet. Spielhagens Vorstellung von der Romanfigur lässt den modernen Zeitgenossen an die Ausgangsbedingungen denken, die sich etwa in epischen Rollenspielen vom Schlage des Schwarzen Auges vorfinden. Die Kompetenzen und Charakteranlagen des Helden entscheiden dort über den jeweiligen Verlauf der Geschichten, bestimmen Handlungsknotenpunkte und lassen in einer potenziell unbegrenzten Diegese eine tatsächliche, konkrete Szenerie in den Blick kommen. Ein Magier etwa scannt seine Umgebung nach Kräutern, okkulten Wissensbezügen etc. ab; mit einem dumpfen Krieger kann man keine komplizierten Rätsel lösen; und wo ein abergläubischer Protagonist ins Rennen geht, kann man darauf wetten, dass diesem vom Spielleiter früher oder später eine schwarze Katze zur Spannungserzeugung über den Weg geschickt wird. In dieser Weise leitet sich die in realistischem Sinne stets eingeforderte Motivierung und Plausibilisierung des Handlungsfortgangs aus den Fertigkeiten der Helden ab. Anders als im Schwarzen Auge ist der Held bei Spielhagen allerdings nicht als mythischer Typus gedacht, sondern als Zeitgenosse213, dessen historisch spezifische Gestalt sich anthropologisch verallgemeinerbar zeigt. Denn auch hier garantieren die überindividuell nachvollziehbaren Eigenschaften je die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten mit der strukturadäquaten Umgebung. So ist denn der Held als Mittelpunkt des epischen Kosmos definiert: Wenn wir es überhaupt als die Aufgabe des Romandichters bezeichnen können, das Leben so zu schildern, daß es uns als ein Kosmos erscheint, der nach gewissen großen ewigen Gesetzen in sich und auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt, so muß er, mit einer unwiderstehlich logischen und ästhetischen Notwendigkeit, aus diesen vielen Menschen einen aussondern, der gleichsam als der Repräsentant der ganzen Menschheit dasteht, und

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Spielhagen: Der Held im Roman, S. 67. Spielhagen: Der Held im Roman, S. 67. Spielhagen: Der Held im Roman, S. 72. Entsprechend kann das Vorbild des Helden auch zum Gegenstand einer eigenen betont nichtfi ktionalen Erzählung werden, so wie im Falle Friedrich Müllers (des Stoffgebers für die Figur des Reinhold Schmidt in Spielhagens Sturmflut). Siehe Friedrich Spielhagen: Wie ich zu dem Helden von »Sturmflut« kam. In: Friedrich Spielhagen, Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 208–224.

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mit dessen Leben und Schicksalen er das Leben und die Schicksale anderer Menschen in eine Verbindung bringt, die in ihrer Innigkeit und Unabweisbarkeit ein Abbild und Typus der Solidarität der Menschengeschicke im großen und ganzen ist.214

Der realistische Protagonist ist kein Typus, kein wandelndes Cluster an Eigenschaften, in dem das Besondere (der Eigennamensträger) mit dem Allgemeinen (der sozialen Rolle) zur Deckung kommt. Vielmehr erlangt er seine ebenso konkrete wie allgemeine Gestalt dadurch, dass zwar jede einzelne seiner Eigenschaften als überindividuell nachvollziehbar gilt, die spezifische Gewichtung und Kombination dabei aber eine je individuelle Formation (eben die besondere, komplexe Figur) erstellt. Während das Modell des Helden, wie Spielhagen sagt, ein genuin episches Problem betrifft – eben die Begrenzung des erzählbaren Stoffes –, richtet sich das zweite Kriterium der ›Objektivität‹ auf eine Frage, die in Spielhagens Verständnis über den Bereich der epischen Kunst hinausreicht. Es handelt sich hierbei um das Problem der Einmischung einer Erzählinstanz in die Darstellung. Kommentare, Erläuterungen des Figurenverhaltens, Leseransprache, philosophische, ästhetische oder anderweitige Exkurse – mit einem Wort: sämtliche Erzählerrede, die sich nicht auf die möglichst neutrale Wiedergabe eines Geschehens (also auf mimetische Sätze215) beschränkt, – soll aus dem Diskurs der Erzählung ausgeschieden werden. Man hat es hier mit einem Steckenpferd der Spielhagen’schen Narratologie zu tun. Zurückgewiesen wird ein extrem markiertes und reflexives Erzählverfahren, wie es die Literatur von Laurence Sterne über Jean Paul bis zu Wilhelm Raabe auszeichnet. Wieso? Weil sich die »Kongruenz zwischen Idee und Form«, als die die ›Objektivität‹ des Kunstwerks definiert ist, allein aus der dargebotenen Handlung erschließen soll: Jedermann wird zugeben, daß in einem Roman (so gut, wie in einem Drama) nicht bloß die Hauptidee, um deren Darstellung es dem Dichter zu thun ist, sich aus dem Ganzen der dargestellten Begebenheiten (im weitesten Sinne) ergeben, sondern daß auch jeder der vorgeführten Charaktere durch Das, was er thut und sagt, sich selbst vollkommen erklären muß.216

Spielhagen bevorzugt, mit anderen Worten, einen mimetischen Darstellungsmodus217, der die vermittelnde Instanz weitestgehend kaschiert und den Erzähltext in die Nähe des Dramas rücken lässt. Die Überhäufung des Textes mit dialogischen Passagen, mit direkt wiedergegebener innerer oder erlebter Rede wird als Konsequenz dieses gewissermaßen antinarrativen Erzählverfahrens bewusst mit eingekauft. Dass Spielhagens dogmatische Forderung nach einem ›showing‹ statt ›telling‹218 von den

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Spielhagen: Der Held im Roman, S. 73f. Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 99f. Friedrich Spielhagen: Ueber Objectivetät im Roman. In: Friedrich Spielhagen, Vermischte Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S. 174–197, hier: S. 179. Genette: Die Erzählung, S. 118f. Henry James’ Begriffl ichkeit ist für die von Spielhagen aufgeworfene Problemstellung immer noch einschlägig. Zu den Graden der Markiertheit einer Erzählinstanz vgl. Wolf

zeitgenössischen Prosaautoren in dieser Radikalität kaum geteilt wird, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass hierin die Zuspitzung eines Programms vorliegt, das den realistischen Erzählstil tatsächlich weithin prägt: Es geht um ein unkompliziertes Erzählen, das eine maximale Transparenz der Narration in Hinblick auf die dargebotene Geschichte beabsichtigt.219 »Der wahre Dichter giebt blos Dargestelltes, blos den Bau, der sentimentale giebt die Materialien, Risse etc. mit dazu«, verpflichtet sich auch Otto Ludwig dem poetischen Objektivitätsanspruch.220 Der eigentliche Konstruktionsakt wird camoufliert und das Erzählen als Widerspiegelung bzw. sachgemäße Repräsentation ausgegeben.221 Genau diesem Ziel sind die verschiedenen narrativen Mittel untergeordnet: die Vermeidung von Digressionen, die stets nicht darbietungs-, sondern geschehensbezogene Kommentierung oder die Präferenz für szenische Textpassagen. Das implizite Dogma eines solchen leicht lesbaren Erzähltextes lautet dann: Es ist, wie es ist; und deshalb erzählt es sich gewissermaßen von selbst. Mit diesem Akzent auf der Evidenz der Geschichte flankiert Spielhagen letztlich narratologisch die am Drama orientierte Einrichtung der realistischen, auf einen höheren Grad an Deutlichkeit abzielenden Diegese. Nicht von ungefähr entpuppt sich die bei ihm zuvor beobachtete Entgegensetzung zwischen Drama und Roman bei genauerem Hinsehen als bloß quantitative Abstufung: Deshalb beachte man wohl die Klimax, daß der lyrische Dichter im Grunde nur sich selbst als Stoff seiner Kunst braucht; daß der dramatische Dichter eine furchtbare Tragödie zwischen wenigen Personen, im Schoße einer Familie, wenn er es anders will, abspielen lassen kann; der epische Dichter aber – ich spreche von der höchsten Leistung auf dem epischen Gebiete – mindestens ein Volk, und meistens mehrere Völker brauchen wird, wenn er seiner Aufgabe genügen will.222

Im Dogma der – über einen charakterlich repräsentativen Helden – wohl organisierten, quasi darstellungsautonomen Handlung verbinden sich dramatische und epische Kunst.

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Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin et al. 2005, S. 77–81. Vgl. Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 229 u. S. 314. Otto Ludwig: Dichterische Objektivität. In: Otto Ludwig, Shakespeare-Studien, hg. von Moritz Heydrich (Nachlassschriften Otto Ludwig’s, Bd. 2), Leipzig 1874, S. 285–288, hier: S.  288. Zum Stellenwert des Objektivitätskriteriums in späteren Konzepten des Realismus siehe René Wellek: The Concept of Realism in Literary Scholarship. In: René Wellek, Concepts of Criticism, hg. von Stephen G. Nichols, Jr., New Haven, London 1963, S. 222– 255, hier: S. 246–253. Stärker markierte Erzählinstanzen wie bei Raabe (zumal aufgespaltene Erzählinstanzen wie in Drei Federn) stellen die bestens bekannte Ausnahme dar. Spielhagen: Das Gebiet des Romans, S. 48.

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Die Läuterung des geschichtlichen Stoffes bei Wilhelm Roscher Bei aller gebotenen Vorsicht, was die Analogien zwischen Ökonomie und Literatur anbelangt; bei allem notwendigen Beharren darauf, dass sich individualisierte, szenische Darbietungsweisen, wie sie die Literatur kennt, im ökonomischen Diskurs nicht finden, gibt es doch auch auf dieser Ebene, in der weiteren Organisation des metonymisch repräsentierten Stoffes, signifi kante Gemeinsamkeiten. Die Dominanz dramaturgischer Denkweisen in der Poetik des 19. Jahrhunderts reicht bis in die geschichtstheoretischen Fragestellungen, die Wilhelm Roscher um 1850 an die Ökonomie heranträgt. Wie bereits anhand der Prolegomena zu Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides (1843) angedeutet, muss sich auch in der historiographischen Arbeit die empirische, metonymische Basisarbeit des Stoffsammelns mit einer künstlerischen Strukturierung verbinden. Gegenüber den »Bergwerksarbeitern« der historischen Zunft wisse erst der Künstler-Historiker, die »Schlacken aus dem Erze herauszuschmelzen, das edle Metall gediegen darzustellen und sich selbst und die Welt in Wahrheit dadurch zu bereichern«, heißt es bei Roscher.223 Echte Geschichtsschreibung ist also – Roscher kommt hier unausgesprochen auf die Etymologie des poetologischen Kernbegriffs des Realismus zurück – ›Läuterung‹. Die Komponenten dieses Läuterungsprozesses diskutiert Roscher in den Prolegomena mit Bezug auf Aristoteles’ Poetik. Aristoteles, den Roscher bereits in seiner Dissertation als »wahren Historiker« aufgefasst hatte224, gibt mit den Kategorien ›Stoffgebundenheit‹, ›Einheit‹, ›Notwendigkeit‹ und ›Universalität‹ den Maßstab zu einer Erörterung, die sukzessive Dichtkunst und Historiographie einander annähert und dadurch Letztere aufzuwerten beabsichtigt.225 Den aristotelischen Vorwurf, dass die Geschichtsschreibung durch ihre höhere Stoffgebundenheit der freieren Dichtung unterlegen sei, entkräftet Roscher über einen realistischen Gedanken: Wo der Dichter nicht nur »Phantasterei« betreiben wolle, müsse auch er auf die Erfahrung zurückgehen226, müsse er – um mit Spielhagen zu sprechen – mehr ›Finder‹ denn ›Erfinder‹ sein.227 Der Unterschied zwischen beiden Weisen der Wirklich-

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Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 13. Vgl. Wilhelm Roscher: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten [1838], hg., übersetzt, mit Erläuterungen und einem Anhang versehen von Leonhard Bauer, Hermann Rauchenschwandtner, Cornelius Zehetner, Marburg 2002, S. 99–102. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen vgl. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S.  17–33. Zu den epistemischen Dimensionen und zur Abgrenzung der Historiographie von der Philosophie bei Roscher, die im Wesentlichen auf eine Kritik der Systemphilosophie mit ihrer deduktiven Begriffsbildung hinausläuft , vgl. Karl Milford: Roschers historische Methode. In: Bertram Schefold (Hg.), Vademecum zu einem Klassiker der historischen Schule. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe der 1861 erschienenen Erstausgabe von Wilhelm Roscher »Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte«, Düsseldorf 1994, S. 161–191. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 18. Vgl. Spielhagen: Finder oder Erfi nder; vgl. dazu Wilhelm Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 18.

keitserfassung ist dann nurmehr ein gradueller und bemisst sich an der Einbeziehung oder Weglassung der Nebenzüge von Ereignissen und Charakteren.228 Daher werden in Roschers Schrift Dichter und Historiker durchweg in einem Atemzug als ›Künstler‹ angesprochen und entsprechend gleichrangig zitiert. Mit den Begriff en der ›Einheit‹ und ›Notwendigkeit‹ reklamiert er folgerichtig poetische Kategorien für den Geschichtstext. Im Sinne des organischen Kunstwerkbegriffs werden alle Teile eines Geschichtstextes insofern als ›notwendig‹ aufgefasst, als ihre Weglassung zu einem Verständnisverlust im ›Ganzen‹ führen würde. Die ›Einheit‹ wiederum entspringe einer im Werk gespiegelten ›Gesamtanschauung‹, die sich intuitiv vermittelt und also nicht auf allgemeine Begriffe (oder Lehrsätze) zurückgeführt werden könne. Sie zeige sich allein darin, dass das Werk beim ›idealen Leser‹ keine Frage aufwerfe, die es nicht auch beantworte. Mit der Einfütterung ästhetischer Basistheoreme in die Theorie der historiographischen Darstellungsform werden die diskursiven Grenzziehungen zusehends unschärfer. Die Frage, ob der wandelbare Stoff der Wirklichkeit in den Prinzipien des aristotelischen Fabelaufbaus angemessen repräsentiert werden kann, und ob also die Fabel schon im Realen abläuft, behandelt Roscher nicht. Erkenntnistheoretisch hat der Text über die induktivistische Prämisse hinaus, dass die Historie »auf ebener Erde« baue und daher auch in ihren Urteilen mit der Wirklichkeit »congruirt«, wenig zu bieten.229 Roschers Fragen sind kompositorischer Art und werden entsprechend ästhetisch behandelt. Der wesentliche Schritt seiner Erörterung findet unter dem Punkt ›Universalität‹ der Geschichtsschreibung statt und läuft schließlich auf das hinaus, was Roscher unter ›Gesetzmäßigkeiten‹ in der Geschichte versteht. ›Universalität‹ dürfe die wissenschaftliche Geschichtsschreibung insofern für sich beanspruchen, als jede ihrer Einzelfallschilderungen immer schon einer Verallgemeinerung unterliegt: »Kein historisches Meisterwerk, das nicht im engsten Raume die Geschichte der Menschheit wiederspiegelt!«230 Die Verallgemeinerung komme dabei durch Vergleiche zwischen den verschiedenen Volksgeschichten in ihren jeweiligen Abschnitten zustande: »Jedes wahrhaft historische Urtheil beruhet auf unzähligen Analogien«, heißt es.231 Wie aber können Vergleiche mehr abwerfen als Ähnlichkeiten zwischen je verschiedenen Zuständen, und wie wäre also eine Ordnung in diesen Serien von Ähnlichkeiten festzustellen? Roscher löst das Problem ästhetisch, indem er implizit eine Metaanalogie einführt: Hinter den einzelnen Vergleichen stehe das Wissen, »daß alles Menschliche demselben Gesetze des Werdens, Blühens und Vergehens gehorcht«.232 Und ebendieser ›gesetzmäßige‹ Zyklus dient als Vergleichsschema zur

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Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 31. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 27. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 20. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 20. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 43.

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Klassifi kation der geschichtlichen Beobachtungen: In der Geschichte gelte es, das Heranreifen, die Vollendung und den anschließenden Verfall aller empirischen Erscheinungen zu beobachten. Wenige Jahre nach diesen geschichtstheoretischen Grundlegungen richtet Roscher seine historische Nationalökonomie an diesem Zyklendenken aus: Mit ihrem Volke zugleich wächst auch die Volkswirthschaft heran und kommt zur Blüthe und Reife. Diese Blüthen- und Reifezeit charakterisirt sich durch die höchste Kraft und zugleich vollkommenste Harmonie aller wichtigeren Organe. […] Endlich sinkt auch die Volkswirthschaft mit ihrem Volke.233

Die Metapher, die die Volkswirtschaft mit den Reifestadien von Lebewesen zusammenbringt, beruht auf der Voraussetzung, dass Völker und ihre wirtschaftlichen Institutionen nicht – wie in der klassischen englischen Ökonomie – als Aggregate von Einzelwillen aufzufassen sind, sondern als organische Gebilde, und dass folglich der Begriff ›Volk‹ wie ein biologischer Gattungsname gebraucht werden kann.234 Diese im staatswissenschaftlichen Denken seit der Romantik konventionelle OrganismusMetaphorik235 erlaubt Roscher nicht nur, komplex gegliederte Erscheinungen als singuläre, gewissermaßen anthropomorphe Entitäten und Handlungsträger anzusprechen. Sie führt auch ein umfangreiches Bildfeld in die Darstellung ein, anhand dessen z.B. ›Leben‹ und ›Sterben‹, ›Physiologie‹, ›Krankheiten‹, ›Fieber‹, ›Diäten‹, ›Therapien‹ und ›Heilung‹ des volkswirtschaftlichen ›Körpers‹ erfasst werden. Es handelt sich hier, im Sinne der Metapherntheorie von Lakoff/Johnson, um Strukturmetaphern, die nicht nur punktuell, sondern verbreitet auftauchen und die, indem sie ein Ordnungsraster für die Wissensverarbeitung anlegen, textstrukturierend wirken.236 Die wichtigsten dieser Strukturmetaphern sind bereits benannt:

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 14, S. 34f. Weber: Roscher und Knies, S. 23. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper [Artikel]. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 519–622, hier: S. 587. Zur Hochkonjunkturphase der organizistischen Metaphorik in der Romantik vgl. insbesondere die Diskussionen zu Adam Müller bei Achermann: Worte und Werte, S. 282–304. Noch bei Werner Sombart, dem neben Max Weber wichtigsten Nachfolger der historistischen Nationalökonomie, wird die organizistische ›deutsche Staatsidee‹ (mit starkem Bezug auf das romantische Denken) gegen die vertragstheoretische englische Theorie, die den Staat zum ›Kontor‹ herabwürdige, behauptet. Vgl. dazu Sombarts, anlässlich des Kriegsausbruchs 1914/1915 verfasstes, chauvinistisches Pamphlet Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München, Leipzig 1915, insbesondere: S. 35–40 u. S. 72–81. Vgl. Lakoff/Johnson: Metaphors We Live By, S. 3–14.

1) Die Wirtschaft ist ein Körper. (Organismus-Metapher) und daraus abgeleitet: 2) Die Wirtschaft wächst, blüht und stirbt bzw. die Wirtschaft hat Jugend, Reife und Alter. (Lebenszyklus-Metapher)237 3) Die Wirtschaft krankt und gesundet. (Medizin-Metapher) Daneben verwenden die Texte weitere Zyklenmetaphern: 4) Die Wirtschaft steigt und sinkt. (Sonnenlauf-Metapher) 5) Die Wirtschaft hat Ebbe und Flut. (Gezeiten-Metapher) In allen genannten Fällen können als Tenor der Metapher neben ›Wirtschaft‹ auch ›das Volk‹, ›das Volksleben‹, ›der Staat‹ oder ähnliche Begriffe fungieren. Die Medizin-Metaphorik und die Gezeiten-Metaphorik sind für kurzfristige Erscheinungen reserviert, wie etwa für Krisen einzelner Gewerbe, die in Roschers konkreten volkswirtschaftlichen Analysen entsprechend in Abschnitten zur ›Physiologie‹, ›Pathologie‹ und ›Therapie‹, gegebenenfalls auch ›Diätetik‹ diskutiert werden.238 Für breitere geschichtliche Untersuchungen ist demgegenüber, wie oben gesagt, die auf längere Zeiträume abgestimmte Lebenszyklus-Metaphorik ausschlaggebend. Sie stellt das triadische Muster ›rohe/unreife Zeiten – blühende/reife Zeiten – sinkende Zeiten‹ bereit, nach dem zentrale wirtschaftliche Kategorien wie ›Arbeit‹, ›Natur‹, ›Kapital‹, ›Bevölkerung‹ oder auch ›Luxus‹ historisierend erörtert werden. Mit seiner Zyklen-Metaphorik gelingt es Roscher, ein Klassifi kationsraster anzulegen, das Daten zu gruppieren erlaubt, ohne dass dabei jede einzelne Erscheinung (etwa individuelle Handlungen) auf eine zugrunde liegende Mechanik und Systematik zurückgeführt werden müssen.239 Denn zwingend ist in dieser Darstellung nur die Abfolge der Lebensstadien. Wie sich Ursachen und Wirkungen im Speziellen verketten, bleibt unbestimmt. Dass Roscher hier an seinem selbst gesetzten Anspruch scheitert, im Zyklendenken naturwissenschaftliche ›Gesetzmäßigkeiten‹ für die Geschichte zu erheben, hat bereits Max Weber einschlägig dargelegt und damit gleichsam markiert, wo sich die Jüngere Schule von Vorgaben der Gründungsväter der Historischen Schule verabschiedet.240 Geschichte wird von den Generationen

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Häufig wird der Begriff ›roh‹ anstelle von ›jung‹ oder ›unreif‹ verwandt, um das frühe Entwicklungsstadium einer Volkswirtschaft und ihrer Sitten zu beschreiben. Vgl. Wilhelm Roscher: Ueber Kornhandel und Theuerungspolitik [1846], 3.  Aufl., Stuttgart, Tübingen 1852. Dieser antisystemische Ansatz in der wissenschaft lichen Arbeit hatte sich bereits oben im Vergleich mit den Textverfahren von Carl Menger gezeigt. Siehe Abschnitt 2.2.3. Vgl. Weber: Roscher und Knies. Die Ausrichtung der Historischen Schule der Nationalökonomie an naturwissenschaft lich-deterministischen Gesetzesbegriffen ist bereits von den beiden anderen großen Vertretern der Älteren Schule, Hildebrand und Knies, kritisiert worden. Vgl. Bruno Hildebrand: Die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Jg. 1 (1863),

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nach Roscher wesentlich offener, als unablässiger Prozess sozioökonomischen Wandels gedacht.241 Die Blütezeit-Metaphorik rückt dann in den Rahmen einer evolutionistischen Geschichtserzählung, die die permanente Reformierbarkeit wirtschaftlicher und kultureller Institutionen in den Vordergrund stellt. Statt vom Aufstieg und Niedergang ganzer Völker hört man etwa bei Gustav Schmoller, dem prominentesten Erben Roschers, von Blütezeiten und Krisen einzelner Gewerbe, z.B. im elsässischen Straßburg. Dieser Hinwendung zu stärker metonymisierenden Spezialuntersuchungen wird im Abschnitt 2.3.3.2. nachzugehen sein. An Roschers geschichts- und staatswissenschaft lichen Grundlegungen der 1840er Jahre lässt sich einstweilen der Punkt ersehen, an dem der Realismus auf (halbe) Distanz zum idealistischen Ganzheitsdenken tritt. Die metaphorische Konstruktion der Epochengeschichte über den anschaulichen Alltagsbereich zyklischer Erscheinungen liegt im Anschluss an die aristotelische Kunstauffassung nahe. Schon das geschlossene, antike Dramenmodell verdankt sich den Rhythmen des Tagesverlaufs. In der Theorie der Erregungszustände bis hin zur medizinisch konnotierten Katharsis, die Roscher konsequenterweise auch bei seinem Gewährsmann, dem exemplarischen Historiker Thukydides nachweist242, spiegelt sich das Wissen um Krankheitszyklen bei Lebewesen. Als Teil einer umfangreichen organischen Metaphorik hat sich das Zyklendenken von der Antike bis in die Geschichtsschreibung der Neuzeit erhalten.243 Roscher bezieht sich im Zusammenhang seiner Antikerezeption auch auf seinen Lehrer Gervinus und dessen, von Hegel übernommenes, Entwicklungsmodell der Gattungstrias. Demnach stellt die Geschichtsschreibung, in Analogie zum Drama, die am höchsten entwickelte historiographische Gattung dar, insofern sich darin objektive und subjektive Wirklichkeitserfassung (d.h. Chronik und Memoire) ebenso synthetisieren wie im Drama epische und lyrische Dispositionen. Doch schwächt Roscher die Teleologie der idealistischen Gattungskonzeption ab. Bekanntlich hatte Hegel im modernen Drama bei Goethe und Schiller eine höhere Entwicklungsstufe ausgemacht, als sie dem weniger individualistisch durchformten, antiken Schauspiel möglich war.244 Diese Höherentwicklungsthese verdankt sich dem historischen Verlaufsmodell, das die Wirklichkeit als sukzessive, dialektische Entfaltung des absoluten Geistes auffasst. Ein solcher Aufstiegsoptimismus widerstrebt Roscher. Wenn bei ihm von Kulturfortschritten die Rede ist, dann verbindet sich damit stets eine relati-

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S. 5–25 u. S. 137–146, hier: S. 137–146; Karl Knies: Die politische Oekonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode, S. 236–244. Priddat: Über W. Roschers ›historische Methode‹ der Nationalökonomie, S. 318f. Roscher: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, S. 236. Vgl. Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 17–123; vgl. Jochen Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufk lärung, München 1980. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, S. 555f.

vistische Wendung.245 Die Volkswirtschaft zeige »ebenso viele verschiedene Ideale« wie »verschiedene Volkseigenthümlichkeiten«246, weshalb der geschichtliche Vergleich die Bedingtheit und Relativität des eigenen Standpunkts konzedieren müsse: Ein anderer sehr in die Augen fallender Charakterzug unserer Methode besteht darin, daß sie der Selbstüberhebung entgegentritt, womit die meisten Menschen »verhöhnen, was sie nicht verstehen«, und womit namentlich die höheren Kulturstufen auf die niederen herabschauen. Wer die Entwicklungsgesetze der Pflanze kennt, der mag weder im Samenkorne den Keim des Wachstums, noch in der Blüthe den Vorboten des Verwelkens übersehen.247

Der für das historistische Denken im 19. Jahrhundert typische Relativismus248, der von der kulturellen Gebundenheit jeglicher kultureller Erscheinung, sei sie ideell oder materiell, ausgeht, nimmt an dieser Stelle die zeitgenössische Fortschrittsthese in sich auf. Das gelingt gleichwohl nur, indem die Zyklen-Metapher radikalisiert wird. Wie das Leben einzelner Völker so sieht Roscher auch die Geschichte der gesamten Menschheit in einem Wachstums- und Alterungsprozess. Und dessen Verlauf kann nur von einem göttlichen Auge überblickt werden: Wer möchte das Vorhandensein eines Standpunktes leugnen, für welchen die Menschheit nur Ein großes Ganzes bildet, alle bunte Mannichfaltigkeit ihres Lebens nur Einen großen Plan, Einen »wunderbaren, herrlich hinausgeführten« Rathschluß Gottes? Aber wer ist auch so keck, von sich zu behaupten, daß er diesen Standpunkt inne habe?249

Wenn eine Gesamtschau des Entwicklungsgangs für den Forscher prinzipiell unmöglich ist, wenn in letzter Instanz offen bleibt, in welchem Stadium sich die Menschheitsgeschichte gerade befindet, »ob im ersten oder letzten Zehntel«250, dann wird nicht nur der Glaube an den Kulturfortschritt hypothetisch.251 Auch der zugrunde liegende Erkenntnisrahmen, die philosophische Spekulation, die sich der idealen Durchformung des Wirklichen widmet, ist hier als historiographisches und epistemologisches Modell verabschiedet. Roschers Agnostizismus, seine »ziemlich primitive Form religiöser Gläubigkeit«, distanziert ihn, wie schon Max Weber darlegte,252 vom hegelianischen Gesetzesdenken und öffnet seine Historiographie in der Konse-

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Die Kritik der idealistischen Philosophie stand bereits im Zentrum von Roschers Dissertation, die, vermittelt über den sophistischen Relativismus, Platons Ideenlehre historisierte und durch Geschichtsschreibung zu ersetzen suchte. Vgl. Roscher: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 25, S. 59. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 28, S. 62. Vgl. Rüsen: Konfigurationen des Historismus, S. 27f.; vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933 [1983], 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 51f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 265, S. 779. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 265, S. 779. Roscher selbst zeigt sich nichtsdestotrotz persönlich davon überzeugt, »daß die Menschheit im Ganzen vom Anfange der historischen Kenntniß bis auf den heutigen Tag immer höher gestiegen ist«. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 28, S. 63, Fn. 4. Vgl. Weber: Roscher und Knies, S. 20 u. S. 41.

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quenz für ein methodologisch vergleichsweise inkonsistentes, unbefangenes empirisches Sammeln. In seiner praktischen Textarbeit kompensiert Roscher den drohenden Sinnverlust, der aus dieser dualistischen Aufspaltung zwischen dem ideellen/ religiösen Bezugssystem und dem Bereich der empirischen Erscheinung entstehen könnte, durch den umfangreichen Einsatz von Luther’schen Maximen und Bibelzitaten. An die 200 Seiten umfasst die Sammlung christlicher Sinnsprüche, die Roschers Sohn nach seinem Tod 1894 in der Anthologie Geistliche Gedanken eines NationalOekonomen vorlegt. Etwa die Hälfte davon war bereits in seinen ökonomischen und politischen Büchern verarbeitet. Auch Roschers Standardwerk Grundlagen der Nationalökonomie überführt die Idealismuskritik in ein Glaubensbekenntnis. Wenn Völker auch durch Trägheit, Eitelkeit, Sicherheitsdenken oder »Streben nach dem Neuen um seiner Neuheit willen« regelmäßig über ihren Idealzustand hinausgeführt werden253, so tröstet doch den Zeitgenossen wie den Autoren selbst ein erbaulicher Gedanke: »Uebrigens darf zur Beruhigung des menschlichen Freiheitsgefühls kühn versichert werden, daß noch kein religiös und sittlich tüchtiges Volk, so lange es diese höchsten Güter bewahrte, aber freilich auch nur so lange nicht, verfallen ist.«254 Roschers Religiosität ist keineswegs systematisch ausgearbeitet, vielmehr lässt er sie ad hoc über Sentenzen einfließen. Man hat es mit einer Zwei-Ebenen-Struktur zu tun, in der sich die Diskussion volkswirtschaftlicher Besonderheiten und Regelmäßigkeiten punktuell Sinn stiftend überformt zeigt. Die ›höchsten Güter‹ sollen dadurch stets im Blick bleiben, selbst wenn es um profane Wirtschaftsabläufe geht. In den folgenden Erörterungen zur semantischen Seite der Verklärung wird deutlich werden, inwiefern eine solche Aufspaltung zu den konstitutiven Prinzipien realistischer Texte gehört. 2.3.2.

Wie die Welt bedeutsam wird – Die semantische Seite der Verklärung

Die Verklärung als Verfahren der Läuterung und Poetisierung eines zeitgenössisch gegebenen Stoffes besitzt nicht nur eine formalästhetische Seite. Die Selektion und Organisation der metonymischen Ereignisse schlägt sich auch semantisch nieder. Garantiert der formale Bau eine Verdichtung und Übersichtlichkeit der Diegese, so steht im semantischen Aspekt die Frage nach der Bedeutsamkeit ebendieser diegetischen Verhältnisse im Vordergrund. Verklärung tritt hier als inhaltliche Verwesentlichung auf. Der »wahre Realismus der Beobachtung« erfordert nach Julian Schmidt, »daß man bei jeder Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die charakteristischen Züge herausfindet, mit anderen Worten, daß man Sinn für Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge«.255 Schmidt, der Doyen der Li253 254 255

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 264, S. 777. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 264, S. 778. Julian Schmidt: Wahrer und falscher Realismus [gekürzte Fassung des Aufsatzes »Schiller und der Idealismus« 1858]. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart 1997, S. 119–121, hier: S. 120.

teraturtheorie nach 1850, verweist bei seiner Einführung des Realismuskonzepts ausdrücklich auf dessen idealistische Wurzeln, wenn er eine der Gründungsszenen der klassischen Literatur zitiert: Goethes und Schillers Auseinandersetzung über die Idee der Urpflanze. »Goethe«, so resümiert Schmidt, »nennt sich einen Realisten, weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Lebendige erscheinen.«256 Realistisch meint hiernach im Anschluss an Goethe den symbolischen Modus des Schauens, in dem eine Erscheinung auf ihren ideellen Gehalt hin erfasst und in einem Bild (eben im Symbol) repräsentiert wird. Wobei das konkrete Symbol die Idee stets nur näherungsweise trifft . Demgegenüber verkörpert Schiller traditionell den allegorischen Modus, in dem die Dichtkunst philosophisch und also begrifflich-kognitiv ausrichtet ist. In der allegorischen Erscheinung ist die Idee vollständig ausgesprochen.257 Schmidt privilegiert in seiner Realismuskonzeption deutlich die Position Goethes und dessen Realismus der Beobachtung gegenüber dem Schiller’schen begrifflichen Zugang zur Wirklichkeit, löst dann aber die klassische Dichotomie zugunsten einer abstrakteren Vermittlung beider Positionen im realidealistischen Basistheorem auf: »Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben, Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die Idee der Dinge ist auch ihre Realität.«258 Wo das wirkliche Wesen der Erscheinung geschaut und zur Darstellung gebracht wird, da verschwindet also der Unterschied zwischen idealistisch allegorischem und realistisch symbolischem Wirklichkeitszugang. Einsetzung und Aushebelung des klassischen Symbols in Novellen Gottfried Kellers Die Konsequenzen dieses idealistischen Erbes für die Literatur des deutschen Realismus nach 1850 sind bekannt. Ohne einen permanenten Rekurs auf eine Semantik von Wesenhaftigkeit und transhistorischer Dauer kann dieser Realismus seinen beabsichtigten zeitgenössischen Wirklichkeitsbezug nicht erlangen. Paradigmatisch formuliert dies Gottfried Kellers Eröffnung zu Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856): Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.259

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Schmidt: Wahrer und falscher Realismus, S. 119. Für einen konzisen Abriss der Debatte um Symbol (Goethe) und Allegorie (Schiller) siehe Jürgen Fohrmann: Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der »Kunstperiode«, München 1998, S. 136–139. Ausführlicher zur klassischen Tradition des realistischen Symbolisierungsverfahrens siehe Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 364–371. Schmidt: Wahrer und falscher Realismus, S. 121. Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe [1856]. In: HKKA, Bd. 4 (Die Leute von Seldwyla. Erster Band), Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 74–159, hier: S. 74.

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Die Romeo-und-Julia-Fabel ist hier als gewissermaßen archetypische Konstellation angesprochen, die es dem sehenden bzw. (wie später erwähnt) Zeitung lesenden Künstlerauge ermöglicht, einen an sich prosaischen Dorfvorfall als Erscheinung eines Wesentlichen zu fokussieren: als Erneuerung der ewig währenden Liebestragödie. Von der Überschrift an exponiert der Text somit eine Zwei-Ebenen-Struktur, die das Gegenwartsgeschehen der Novelle auf das tradierte Schema der Liebestragödie hin lesbar macht. Diese doppelte Codierung der Ereignisse, im mythischen Bedeutungszusammenhang wie im zeitgenössischen Dorfplot, betrifft nicht nur die Makrostruktur der Erzählung. Noch an den Details der histoire lässt sich das Bestreben nach Übercodierung der Ereignisse nachvollziehen. Wie bereits bei Fritz Martini wirkungsmächtig hervorgehoben wurde, operiert Kellers Novelle mit einer dominant symbolischen Darstellungsweise. Gegebenheiten der Diegese erscheinen als Konkretion eines allgemeinen, ideellen Zusammenhangs, sei es, dass der schwarze Geiger als »Symbolfigur des ›Unbehausten‹« auftritt (Martini)260, ein Stein die »Inkarnation des Bösen, Zerstörenden und Unheilbringenden« darstellt (Kultermann)261 oder das Reden von Fischen in der Schlussszene auf dem Hochzeits- bzw. Todesfloß erotisch aufgeladen scheint: »Der Fisch ist ein Sexualsymbol, das hier in der höheren Unschuld und Heiterkeit der sich erfüllenden Liebe auftaucht« (Kaiser)262. Die Liste der symbolisch lesbaren Details ist nahezu unerschöpflich und bis in die Schulbuchinterpretationen der Novelle hinein bestens dokumentiert.263 Grundlegend für das realistische Symbol ist dabei seine diegetische Verankerung.264 In der symbolischen Übercodierung wird der primäre Darstellungszusammenhang, der die Dorfszenerie mitsamt ihren bäuerlichen Protagonisten konstruiert, intakt gelassen. Denn nur dort, wo alles vordergründig echt und wirklichkeitsgetreu anmutet, darf das Poetische hindurchschillern. Das Symbolisierte erscheint demgemäß als Überschuss zu den stets und zuallererst auf die Figuration der Diegese hin referenzialisierbaren Zeichen. Wenn in der Eingangsszene der Novelle eine Fliege im Puppenkopf eingeschlossen wird, so muss darin zunächst der Kontext des Kinderspiels von Sali und Vrenchen manifest werden, ehe das Zeichen sekundär für den angepeilten Tragödienkomplex funktionalisiert werden kann (mithin als Zeichen für das Eindringen des Wilden, Naturhaften und Anderen in den geordneten Kosmos eines dörflichen Puppenheims). In diesem Sinne erfüllt der symbolische Modus die Belange einer Literatur, die um Poetisierung unter der Bedingung von Mimesis und

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Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 585. Udo Kultermann: Bildformen in Kellers Novelle »Romeo und Julia auf dem Dorfe«. In: Der Deutschunterricht, Jg. 8 (1956) Heft 3, S. 86–100, hier: S. 91. Gerhard Kaiser: Sündenfall, Paradies und himmlisches Jerusalem in Kellers »Romeo und Julia auf dem Dorfe«. In: Euphorion, Jg. 65 (1971), S. 21–48, hier: S. 36. Edgar Hein: Gottfried Keller. »Romeo und Julia auf dem Dorfe«. Interpretation, München 1987, S. 59–72. Vgl. Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 341–363.

rhetorischer Unauff älligkeit265 bemüht ist, und wird entsprechend für weite Teile der Novellenliteratur des Realismus einschlägig.266 Dass eine solche Zweitcodierung von Geschichten gleichwohl keineswegs unproblematisch durchzuführen ist, hat Keller selbst, ebenfalls im ersten Band der Leute von Seldwyla, eindringlich vorgeführt. In Pankraz, der Schmoller (1856) wird die realistische Ausgangsfrage nach der Vermittlung von Idealität und diegetischer Realität ganz explizit und programmatisch folgerichtig in eine Klassikerdiskussion eingehängt. Pankraz berichtet in der Binnenerzählung, wie ihm in Indien von der Gouverneurstochter Lydia »ein dicker Band wie eine Handbibel« überreicht wurde: »Dies Buch nannte man den Shakespeare.«267 Shakespeare, das ist die Literatur mit dem bestimmten Artikel, die Literatur mit Standardwerkcharakter. Und genau so wird sie vom Helden eingeschätzt: Er [Shakespeare] schildert nämlich die Welt nach allen Seiten hin durchaus einzig und wahr wie sie ist, aber nur wie sie es in den ganzen Menschen ist, welche im Guten und im Schlechten das Metier ihres Daseins und ihrer Neigungen vollständig und charakteristisch betreiben dabei durchsichtig wie Krystall, jeder vom reinsten Wasser in seiner Art […].268

Mit einem Wort: Shakespeare und seine Figurenwelt repräsentieren genau jenes Wahre, Ganze und Charakteristische, auf das hin die Wirklichkeit im Realismus angeschaut werden soll. Konsequenterweise probiert Pankraz, hierin ganz der realidealistischen Fragestellung verpflichtet, einen Abgleich der Shakespeare’schen Idealtypen mit seiner Umgebung – und scheitert: Ach es [das wesentliche Leben] ist schon in der Welt, aber nur niemals da, wo wir sind oder dann, wann wir leben. Es giebt noch verwegene schlimme Weiber genug, aber ohne den schönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand.269

Shakespeares Typenkosmos kommt nicht zur Deckung mit der vielgestaltigen Realität, in der sich Pankraz befindet; »nie«, so räsoniert er, »trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen wehrbaren Mann, nie ein vollständiger Narr auf einen unbedingt klugen Fröhlichen«.270 Diese Einsicht – wie die gesamte Passage im Präsens und damit als generalisierender Exkurs dargeboten – erfolgt rückblickend. Denn tatsächlich muss Pankraz in seiner Geschichte zunächst am eigenen Leib erfahren, wie wenig die

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Zur Kritik der Rhetorik im Realismus vgl. Widhammer: Die Literaturtheorie des deutschen Realismus, S. 80–82. Zur entsprechenden Vereinfachung und Anpassung des literarischen Stils an die gesprochene Sprache vgl. wie oben Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 101–111; ähnlich Plumpe: Vorbemerkung, S. 11f. Benno von Wiese: Die deutsche Novelle. Von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Bd. 1, Düsseldorf 1964, S. 28f. Gottfried Keller: Pankraz, der Schmoller [1856]. In: HKKA, Bd.  4 (Die Leute von Seldwyla. Erster Band), Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 13–73, hier: S. 47. Keller: Pankraz, der Schmoller, S. 47. Keller: Pankraz, der Schmoller, S. 47. Keller: Pankraz, der Schmoller, S. 48.

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Welt des Buches mit der Welt um ihn herum zusammenstimmt. Motiviert durch die »schönen Bilder der Desdemona, der Helena, der Imogen und anderer«271, offenbart er der besagten Lydia seine Zuneigung – und wird von ihr in eitler Manier zurückgewiesen. Mit den selbstlosen Frauen von Shakespeare, so zeigt sich, hat die Kolonialistentochter nichts gemein. Die Katastrophe der Liebesepisode offenbart vielmehr den Bruch zwischen klassischer Idealität und zeitgenössischer Realität, zwischen literarischer Handbibel und moderner Welt.272 Kellers Text inszeniert also keine vermittelnde Synthese zwischen Ideal und Wirklichkeit, sondern die Ko-Präsenz beider Bedeutungsfelder. Während innerhalb der Geschichte die Pragmatisierung des Wissens um das Wesenhafte und Charakteristische misslingt, bleibt es auf der Ebene der (intradiegetischen) Narration, in der Rhetorik des Vergleichs, als Bezugspunkt intakt. In der Ko-Präsenz ist aber auch die Differenz der beiden Ebenen angezeigt. Anders als in der realidealistischen Programmatik beabsichtigt, kommt es hier eben nicht zur Vereinheitlichung von Besonderem und Allgemeinem im Symbol, zur Verwesentlichung des aktuell lebensweltlich Erfahrbaren. Vielmehr macht der Vergleich deutlich, dass man sich in einem Verweisungszusammenhang befindet, in Momenten des Abgleichs zwischen einer offensichtlich pluralen, auch mittelmäßigen Wirklichkeit und einer Tiefenschicht, die zwar Essenzielles und Wahres beinhaltet, aber eben nicht mehr zeitgenössisch aktualisierbar ist. Mit anderen Worten: Statt einer Synthese zwischen beiden Bedeutungsräumen erhält Pankraz – und der Leser mit ihm – lediglich Referenzbezüge. Eins deutet auf ein anderes und geht doch nicht in ihm auf. Die beiden Ebenen bleiben strukturell geschieden. Der Goldstaub der Konnotationen in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde Das Modell, das Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller vorführt und problematisiert, läuft somit – durchaus entgegen dem realidealistischen Programm und seinen Absichten – auf einen fundamentalen Dualismus von idealem und realem Bedeu-

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Keller: Pankraz, der Schmoller, S. 49. Das ›Scheitern der Klassiker‹ ist ein Topos der zeitgenössischen, textimmanenten Poetologie. Ein vergleichbarer Aufriss des Problems fi ndet sich in der kleinen Novelle Die Dichterprobe (1865) von Wilhelm Heinrich Riehl, in der es dem Protagonisten misslingt, vermittels einer Ad-hoc-Interpretation der Räuber von Friedrich Schiller einen Streit zwischen tumben Dörflern im Isenecker Tal zu schlichten. Der Klassizist unter den Realisten Paul Heyse packt in seiner poetologischen Novelle Der letzte Zentaur (1870) dasselbe Problem dann zwei Stufen fundamentaler an, indem er ein griechisches Fabelwesen an den wissenschaft lichen und sozialen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts scheitern lässt. Diese hochallegorische Begebenheit wird intradiegetisch vom Maler Bonaventura Genelli mitgeteilt, der darin seinen prekären Status als idealistischer Künstler in der Moderne reflektiert. Dabei taucht Genelli selbst lediglich gespensterhaft , im Rahmen eines Traumes des Erzählers erster Stufe, auf, sodass das idealistische Moment bereits zweifach gebrochen erscheint.

tungszusammenhang hinaus. Und dieser Dualismus wird für die literarische Praxis des Realismus ausschlaggebend. Die erzählte Welt zeigt sich zwar poetisch überformt, nicht aber konsistent idealisierend durchgearbeitet. Dieses Charakteristikum der realistischen Literatur wurde in der Forschung lange Zeit als defizitäre Anlage, als Scheitern an den Idealen der klassischen Kunstepoche interpretiert.273 So etwa im bereits erwähnten, exemplarischen Fall Otto Ludwigs: Schon die Programmatik des Künstlers erschien eingehenden Analysen als zweifelhafte Aneignung der »Begriffswelt« Hegels, als Wiederkehr des Idealismus in »schablonenhafter Starre« und »zum Jargon entwertet«.274 Was bei Ludwig fehle, sei das systemische Moment, die Aufhebung des geschichtlich Besonderen im »dialektisch prozessierenden WeltGeist-Geschehen«.275 Wo eine solche teleologische Vermittlung ausbleibt, findet sich bloß das formelhaft auf Versöhnung getrimmte Gegenüber von Begriffshorizont und zeitgenössischem Stoffbezug, eben der besagte Dualismus. In welcher Weise dieser Dualismus auch den literarischen Stil Ludwigs prägt, hat Richard Brinkmann in seiner kanonischen Untersuchung von Zwischen Himmel und Erde vorgeführt. Brinkmanns Analyse erfolgt ebenfalls vor dem Hintergrund eines beispielhaften idealistischen Konzepts, das er in Goethes Werken realisiert sieht und gegenüber dem sich Ludwigs Erzählung als Symptom poetischen Verfalls ausnimmt. Während bei Goethe alle Darbietung der erzählten Welt auf eine Totalität bezogen werden könne und also sämtliche anschaulich erfassten Ereignisse »gefüllte Augenblicke, gefüllt aus der Weite der Idee«, darstellten276, zerfalle bei Ludwig die Erzählung in zwei Perspektiven: die subjektive, über die Figuren fokalisierte und dabei auf die »›historische Glaublichkeit‹ momentaner Anschauung« zielende, und die objektive, allwissend unfokalisierte, an ästhetischer Zweckmäßigkeit orientierte.277 Insofern ihm das Anschauliche nicht mehr intuitiv und unmittelbar symbolisch werde, sei der Realist

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Der kritische Tenor bestimmt auch die sozialgeschichtlichen Thesen, die den idealistischen Zuschnitt der deutschen realistischen Literatur als ›Kompensation‹ des Versagens des politischen Idealismus und seines nationalen Einigungsprojekts nach 1848 verstehen. Vgl. Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen, Basel 2003, S. 104. Aus materialistischer Sicht zeigt sich die Entkoppelung und Gleichpräsenthaltung der idealistischen und realistischen Bedeutungsfelder als Konsequenz des Übergangsstadiums einer vorindustriellen, patriarchalischidyllischen Ökonomie in die ausdifferenzierte, kapitalistische Moderne. Vgl. Georg Lukács: Die deutschen Realisten, S. 5–17. Reinhard Aulke: Kalkulierte Illusion – harmonisierte Totalität. Die poetologischen Studien. In: Claudia Pilling (Hg.), Otto Ludwig. Das literarische und musikalische Werk, Frankfurt a.M. et al. 1999, S. 281–323, hier: S. 287. Aulke: Kalkulierte Illusion, S.  287. Aulke spitzt hier zu, was Pramod Talgeri in seiner unkritischen, um die Nachzeichnung der Hegel-Rezeption bei Ludwig bemühten Studie lediglich angedeutet hat: den fehlenden Systemgedanken. Vgl. Pramod Talgeri: Otto Ludwig und Hegels Philosophie. Die Widerspiegelung der »Ästhetik« Hegels im »poetischen Realismus« Otto Ludwigs, Tübingen 1972, S. 153f. Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 187f. Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 160.

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Ludwig genötigt, die Empirie seiner Diegese unentwegt intellektualistisch aufzupeppen und also Momente von Symbolik und Bedeutsamkeit ›künstlich‹ beizugeben. »Die Deutung auf einen innewohnenden bedeutsamen, ja symbolischen Sinn hin entstammt […] einer rein rationalen Setzung des Dichters.«278 Beispiele für solche Setzungen findet Brinkmann in der gemischten Psychologisierung der Figuren (die nie allein aus den Figuren und ihren Handlungen heraus, sondern unter ständiger Beigabe von Erzählkommentierungen erfolgt279), in den beharrlichen Vergleichen oder im finalen moralistischen Bedeutungsangebot des Textes. Mit solchen Hinzufügungen rutscht die Erzählung, laut Brinkmann, in den Kitsch ab. Das angestrengt Bedeutsame gerinne zur »Sauce«280, die der Erzähler über eine Wirklichkeit ausgießt, die aus sich selbst heraus nicht bedeutend ist. Brinkmanns Analyse der Erzählung trifft genau dorthin, wo die Problematik des realistischen Bedeutungsmodells mit Keller bereits verortet wurde. Die scheinbar natürliche Verschaltung von idealem Bedeutungskreis und realer Anschauung im Goethe’schen Symbol ist ausgesetzt zugunsten eines Verweisungszusammenhangs zwischen beiden Ebenen. Wenn es bei Ludwig bereits eingangs heißt, die »Emporlaube«, die an das Haus der Nettenmairs angebaut ist, sei »einer halben Dornenkrone nicht unähnlich«281, dann macht dieser Vergleich in expliziter Weise deutlich, dass die reine Beschreibung des diegetischen Sachverhalts (Laube) den Zweitcode (Ort einer Heilsgeschichte) selbst nicht trägt. Anders als in der Programmatik antizipiert, forciert die realistische Literatur tatsächlich das Auseinandertreten der Bedeutungsebenen. Das Goethe’sche Symbol wird entarretiert (Baßler).282 Was vormals – wenigstens idealiter – als totale Zweitcodierung, als ideale Rahmung eines Darstellungszusammenhangs aufzufassen war, löst sich in ein punktuelles Surplus an Bedeutsamkeit, in das Spiel der Konnotation auf. Roland Barthes hat diese Trennung von Denotation und Konnotation als Charakteristikum des realistischen Textes herausgestellt (er nennt ihn ›klassisch‹ im Gegensatz zu den modernistischen, texturierten Grenztexten): »Die Konnotation ist der Zugang zur Polysemie des klassischen Textes, zu jenem begrenzten Pluralen, das dem Text klassischer Herkunft zugrunde liegt [.] […] Konnotation gewährleistet eine (begrenzte) Disseminiation der Sinne, die wie Goldstaub auf der sichtbaren Oberfläche des Textes verteilt sind (Sinn ist Gold).«283

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Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 203. Ein Beispiel für dieses Verfahren habe ich oben im Abschnitt 2.3.1. gegeben. Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 207. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 3. Ich entnehme diesen Terminus den Diskussionen des Oberseminars ›Zur Logik des Spätrealismus‹, das Prof. Dr. Moritz Baßler an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom Sommersemester 2006 bis zum Wintersemester 2008/2009 leitete. Siehe dazu den demnächst bei de Gruyter erscheinenden Sammelband Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der Frühen Moderne (hg. von Moritz Baßler). Barthes: S/Z, S. 12f.

Bei Otto Ludwig ist diese Goldstaubanlagerung bereits im Titel angezeigt. Zwischen Himmel und Erde, das meint ebenso den (diegetisch realen) Raum des Schieferdeckergewerbes (die Kleinstadtdächer zwischen sky und ground) wie das metaphysische Gewölbe des Daseins (heaven und earth). Im Zentrum der Handlung steht die folgerichtig symbolisch aufzufassende Reparatur eines Kirchendachs, in der die spirituelle Restauration einer kleinstädtischen Glaubensgemeinschaft des 19.  Jahrhunderts antizipiert ist.284 Doch trotz mannigfaltiger Verweise auf heilsgeschichtliche Zusammenhänge zeigt sich der religiöse Hintergrund der Fabel keineswegs konsistent durchgearbeitet.285 Einmal sind die Protagonisten Apollonius und Fritz als Wiedergänger des mythischen Bruderpaares Kain und Abel angesprochen286; dann wieder figuriert Apollonius als Heilandsgestalt, die mit der Reparatur des Kirchendaches für einen Schub an Gemeindeaktivität und öffentlichem Engagement sorgt. Dabei hält sich die Integrationskraft des Helden tatsächlich in Grenzen. Denn Apollonius gibt der Gemeinde am Schluss seiner Geschichte selbst das größte Rätsel auf: »Die Nachbarn wundern sich, daß der Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheiratet.«287 Die Rede ist hier von der Entsagung des Apollonius, der nach dem Tod seines Bruders Fritz mit dessen Witwe Christiane lediglich ›geschwisterlich‹ zusammenlebt. Und das, obwohl die beiden, vom moralischen Standpunkt der Erzählung aus betrachtet (man erinnere sich an den Verlauf der ›Herzensfäden‹!), als rechtmäßig füreinander bestimmt gelten dürfen. Gerade diese Entsagung, die als das Interessemoment der Geschichte im analytischen Rückblick der Erzählung erarbeitet werden soll, macht die Entkoppelung der Ebenen deutlich. Denn was im Rekurs auf die mythischen Zusammenhänge der Kains-Geschichte noch eine gewisse Plausibilität besitzt, lässt sich intradiegetisch, in das Gegenwartsgeschehen hinein, nicht mehr kommunizieren. Vom Kains-Mythos borgt die Geschichte den Bruderkonflikt und dessen Handlungslogik: Einer begehrt fremdes Gut. Wobei das Rätsel des Textes darin gründet, dass in seiner Aktualisierung der falsche Bruder (Fritz/Kain) stirbt und die Denkfigur des problematischen Begehrens auf die Abel-Figur Apollonius übertragen wird. Nachdem die Intrige aufgedeckt und das Rivalitätsverhältnis für beide Brüder bewusst gemacht ist (hier geschieht die Umschreibung der mythischen Konstellation), träumt Apollonius, wie er seinem Widersacher »im schmerzlichen Zorne« entgegentritt.288 Kurze Zeit darauf stürzt Fritz beim Showdownkampf der Brüder vom Kirchendach – offenkundig selbstverschuldet, doch bleibt das Ereignis für den Hinterbliebenen, Apollonius, am-

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Hermann Böschenstein: Zum Aufbau von Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde«. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Bd. XXXIV (1942), S. 343–356, hier: S. 355. Vgl. Heinz Wetzel: Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde«. Eine Säkularisierung der christlichen Heilslehre. In: Orbis Litterarum, Bd. XXVII (1972), S. 102–121. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 135f. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 7. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 163.

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bivalent: Wie weit reicht seine Mitschuld an dem Todesfall? Wer eines anderen Habe begehrt, der tötet ihn auch. So will es die Logik des Kains-Mythos. Dass Apollonius mit dem Moment, da er die Intrige durchschaut und seine Zuneigung zu Christiane entfaltet, in den Bannkreis dieser Logik gerät, signalisiert die auktoriale Erzählerstimme überdeutlich, wenn sie die Bewusstwerdung als »Abgrund« und »Gefahr« anspricht.289 Die Frage nach der Mitschuld koppelt sich für Apollonius folgerichtig an das mythische Problem von Begehren und Besitzergreifung: »Nimmt er des Bruders Weib, die frei wurde durch den Sturz, so hat er ihn hinabgestürzt. Hat er den Lohn der Tat, so hat er auch die Tat.«290 Von hier aus betrachtet, ist die Entsagung des Helden eine retrospektive Durchstreichung seines Begehrens und damit eine Expost-Durchstreichung des biblischen Verlaufsschema ›Wer fremden Besitz begehrt, der tötet‹. Die Erzählerstimme ist durchaus bemüht, in dieser Wendung einen erhabenen Akt der Selbstbestimmung mitsamt einer pragmatischen Relevanz zu konstruieren, wenn es abschließend heißt: »Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt.«291 Tatsächlich aber korreliert das Glücksmoment des Apollonius, seine nachträgliche Selbstimmunisierung, innerhalb der diegetischen Realität sowohl mit dem Scheitern seiner Liebesbeziehung zu Christiane als auch, teils daraus resultierend, mit einer relativ starken Isolation innerhalb der städtischen Gemeinde. Seine eingangs der Erzählung ausführlich beschriebene Altersexistenz ist charakterisiert durch Stille, Kommunikationsunlust und Zurückgezogenheit. Was im mythischen Zusammenhang noch aufgeht, ja eine heroische Dimension besitzt, bleibt in der Jetztzeit der Diegese ungelöst: Als Märtyrer wird Apollonius für die Welt um ihn herum nicht lesbar. Und das nicht zuletzt, weil die besagte Umschreibung des Mythos mit einer Internalisierung einhergeht. Die entscheidenden Interpretationen sind in der inneren Rede der Figur entwickelt als Schachzüge einer psychologisch eigenwilligen »moralischen Kasuistik«.292 Von außen betrachtet, also vom Standpunkt der Alltagsanschauung, die wohl die ratlosen Stimmen im Städtchen, ganz sicher aber einige Interpreten zugrunde legen293, stellt sich Apollonius’ Deutung der Ereignisse eher als latent pathologisch dar, als »a hy-

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Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 152. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 181. Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 204. Vgl. Jörg Schönert: Otto Ludwig: »Zwischen Himmel und Erde« (1856). Die Wahrheit des Wirklichen als Problem poetischer Konstruktion. In: Horst Denkler (Hg.), Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 153–172, hier: S. 160. Schon Heinrich Treitschke erscheinen in seiner Besprechung von 1859 die Motivationen des Apollonius rätselhaft, hält er doch eine fi nale Versöhnung für ›sittlich‹ geboten. Vgl. Heinrich von Treitschke: Otto Ludwig [1859]. In: Heinrich von Treitschke, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 7. Aufl., Leipzig 1918, S. 300–327, hier: S. 318.

pochondriac way of thinking«.294 Denn im Sinne einer säkularisierten Schuldfrage nach Maßstäben des bürgerlichen Strafgesetzbuches wäre Apollonius’ Verwicklung in den Tod seines Bruders komplett unproblematisch.295 Über das Handlungsmoment der Entsagung, mit der Otto Ludwigs Erzählung endet, wird also das komplizierte Auseinander der verschiedenen Ebenen sinnfällig: die Trennung zwischen Innen- und Außenperspektive der Figuren wie zwischen mythischem Sinnzusammenhang und intradiegetischem common sense und damit zwischen dem auf zweiter Ebene Bedeutsamen und der primären Darstellungswirklichkeit. Mit anderen Worten: Die Entsagung markiert das Scheitern des poetischen Verklärungsbegehrens. Wo entsagt wird, da misslingt die homogene Sinnüberformung des Geschehens. Konsequenterweise lokalisiert Otto Ludwig in seinen Notizen die Sphäre der Idealität seiner Erzählung in einer Leerstelle: Meine Intention war, zu zeigen, wie jeder Mensch seinen Himmel sich fertig mache und seine Hölle, d.h. seinen Himmel. Ich zeigte in zwei Menschen die Extreme, zwischen denen es tausend Nuancen gibt, in deren Mitte das absolute Ideal liegt.296

Wo das ›absolute Ideal‹ nicht mehr darstellbar ist, sondern vielmehr in eine virtuelle ›Mitte‹ zwischen den konfligierenden realen Kräften der Geschichte rückt, da wird allein seine Abwesenheit verklärungsfähig. In diesem Sinne hält die Entsagung phatisch den Anspruch auf Idealität aufrecht, der sich in der Diegese nicht mehr konkretisiert. Die Frage nach der Entsagung und das Konzept des ›realistischen Weges‹ bei Hans Vilmar Geppert Es ist bemerkenswert, wie die gesamte Literatur des Poetischen Realismus von solchen Momenten der Entsagung durchzogen ist: von Heinrich Lee und Judith in Kellers Der grüne Heinrich, über Pankraz in Pankraz, der Schmoller oder Anton Salan-

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William J. Lillyman: Otto Ludwig’s »Zwischen Himmel und Erde«. A Study of its artistic structure, The Hague, Paris 1967. Bekanntlich hat Otto Ludwig gegen die zu positiven Deutungen des Helden Apollonius dessen neurotische Beschränkung im Notizheft selbst hervorgehoben. Vgl. dazu auch Paul Merker: Einleitung zu »Zwischen Himmel und Erde«. In: Otto Ludwig, Sämtliche Werke, hg. von Paul Merker unter Mitwirkung des Goethe- und Schiller-Archivs, Bd. 3 (Zwischen Himmel und Erde. Novellenfragmente, hg. von Paul Merker/Hans Heinrich Borcherdt), München, Leipzig 1914, S. VII–XXII, hier: S. XVI–XXII. Man darf Ludwigs Erzählung als eines von vielen Beispielen nehmen für die »gebrochene Form, in der die Mythologie im ›realistischen‹ Roman des 19.  Jahrhunderts« auftritt. Vgl. Renate Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit. Raabe – Wagner – Fontane. In: JbRG, 1986, S.  7–34, hier: S.  7. Vgl. ausführlich zur »Trivialisierung des Mythos« als Charakteristikum des Realismus auch Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S.  230– 242. Zitiert nach Merker: Einleitung zu »Zwischen Himmel und Erde«, S. XXI.

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der in Martin Salander, Reinhard in Storms Immensee, Gustav R. in Stifters Condor oder T. O. Schröter297 in Freytags Soll und Haben bis zu den zahllosen Einzelgängern bei Raabe, angefangen mit Johannes Wachholder (Chronik der Sperlingsgasse) und endend mit Minchen Ahrens (Altershausen).298 Setzt man nicht nur den engen Begriff der Entsagung an, der sich am Verzicht auf die Ehe- und Familienoption festmacht299, erweitert sich das Feld noch einmal schlagartig. Dann nämlich rücken auch die zahllosen Fälle in den Blick, in denen sich Protagonisten des Realismus einem Wertsystem entziehen, das sie im Verlauf ihrer Geschichte als ebenso allgemein hoch angesehen wie individuell nicht mehr verbindlich erfahren. Raabes Rückzügler aus den lokalen Sozialverbänden wie Heinrich Schaumann (in Stopfkuchen) oder Hans Unwirrsch (in Der Hungerpastor) zählen ebenso wie Kellers Protagonisten in Die mißbrauchten Liebensbriefe oder Riehls amtsmüder Märzminister Rudolf Gärtner hierher. Noch die Figur der Frau Jenny Treibel in Fontanes gleichnamigem Roman setzt diese Reihe fort durch ihren Verzicht auf ein poetisch erfülltes Leben (mit dem Gymnasiallehrer Prof. Schmidt) zugunsten einer ebenso profanen wie materiell sorglosen Ehe (mit dem Fabrikanten Treibel). Bei einer solchen Verbreitung des Topos wäre es verfehlt, seine Logik allein aus dem jeweiligen Handlungsgeschehen heraus, etwa über die Psychologie der Helden, zu erklären. Vielmehr hat man es in der Entsagung, wie bereits angedeutet, mit einer poetischen Wahl zu tun, die weniger eine im landläufigen Sinne ›realistische‹, gesellschaftlich tragfähige Option reproduziert (geheiratet wurde beim Gros der Literaten wie bei ihren Lesern allemal), sondern vielmehr eine poetische Denkfigur produziert. Das Ereignis ist mithin extradiegetisch plausibel zu machen, d.h. aus der Logik der Narration heraus, nicht aus den intradiegetischen Abläufen. Die Metafrage zielt also auf den künstlerischen Bauplan: Wieso stellt der Realismus seine Erzählwelten so her, dass in ihnen entsagt werden muss?

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Der Topos des geschwisterlichen Zusammenlebens (Schröter und Sabine), der in dasselbe semantische Feld zu rechnen ist, zeigt sich in der Literatur des Realismus entsprechend häufig vertreten. Man denke an die Geschwisterpaare Kristeller (in Raabes Zum wilden Mann) und Carstens (in Storms Carsten Curator). Der Topos der Entsagung kehrt regelmäßig auch bei der – aus heutiger Sicht betrachtet – zweiten Riege der Poetischen Realisten wieder. Man denke etwa an die Protagonisten bei Paul Heyse (Unvergessbare Worte) oder Marie von Ebner-Eschenbach (Das Gemeindekind). Selbst die Unterhaltungsliteratur des Realismus verlegt sich mit Vorliebe auf entsagende Helden, so z.B. Paul Lindau mit seinen Titelfiguren in Kollege Schnabel oder in seinem Erfolgroman Herr und Frau Bewer. Zum zentralen Stellenwert der Familie als Vermittlungsort überindividueller sozialer Normen ist in der Realismus-Forschung viel geschrieben worden. Hier sei lediglich auf einen jüngeren Abriss zu den Familienkonstellationen und scheiternden Disziplinierungsformen bei Gottfried Keller verwiesen: Jörg Schönert: Die ›bürgerlichen Tugenden‹ auf dem Prüfstand der Literatur. Zu Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich«, »Die Leute von Seldwyla« und »Martin Salander«. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.), Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850–1918, Tübingen 1996, S. 39–51.

Im Zuge der semiotischen Neuausrichtung der Realismusforschung seit den 1980er Jahren haben sich zwei Studien in einschlägiger Weise mit diesen Grundfragen der realistischen Textkonstruktion auseinandergesetzt: Hans Vilmar Gepperts Der realistische Weg (1994) und Claus-Michael Orts Zeichen und Zeit (1998).300 Geppert macht, im Anschluss an ideen- und sozialgeschichtliche Forschungen301, den gedanklichen Ausgangspunkt des realistischen Erzählens an der »Wirklichkeitskrise« des 19.  Jahrhunderts fest, d.h. an dem als »krisenhaft erlebte[n] Auseinanderfallen ökonomischer, gesellschaftlicher, ideeller und persönlicher Einzelinteressen«.302 Diese Pluralisierung des Wissens über die Welt werde in der Literatur allerdings nicht einfach nur wiedergegeben, sondern – hier löst sich Geppert von älteren Forschungsansichten – produktiv bearbeitet in der Form pragmatischer Erzählexperimente. Literarischer ›Pragmatismus‹ meint dabei die fi ktionale Durchführung und Erprobung verschiedener, tendenziell gleichrangiger ›Wirklichkeitsentwürfe‹. Es ist ein Operieren ohne letzte Garantien, »mit einer kontinuierlichen Serie von Realitätsgrammatiken, Charakter- und Konfliktkonstellationen unter wechselnden Prämis-

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Beide Werke sind unlängst einer scharfen Kritik unterzogen worden von Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 181–189. Dabei scheinen sie mir, gerade in der hier vorgeschlagenen verfahrensanalytischen Zuspitzung, durchaus nicht gänzlich inkompatibel mit Meyers Beschreibung des Realismus als Illusionen erzeugendes narrativ-symbolistisches Textverfahren. Es ist Meyer unumwunden zuzugeben, dass die Peirce’sche Terminologie bei Geppert den Zugang zu Primärwerken in letzter Instanz eher verstellt denn eröff net, weshalb sie in den folgenden Darlegungen auch keine große Rolle spielt. Die Kritik an Orts Durchstreichung der ›Fremdreferenz‹, die dessen ›Metasemiotik‹ des Realismus dezidiert autonomieästhetisch ausrichtet, ist ebenso berechtigt. Umgekehrt besitzt Meyers eigener Entwurf m.E. dort Defizite, wo er den Illusionscharakter des realistischen Textes (der letztlich, wie oben beschrieben, über die metonymische Funktion fundiert wird) relativ kontextfrei auf die Wirkungsdimension des Artefakts zurückführt (vgl. Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 306–317). Dabei wären doch, wie in dieser Arbeit vorgeschlagen, die paradigmatischen Verankerungen jener Zeichen, die die diegetischen Illusionen erzeugen, zu überprüfen, konkret also die Diskurse, die die Vorstellungen davon, was etwa wirtschaftliche Tatsachen etc. sind, mitprägen. Diese Dimension ist in Meyers luzider Verortung der Literatur zwischen einer entstehenden Soziologie und den florierenden Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert zwar angedeutet (vgl. Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S.  17–102), wird dann aber in den Textanalysen nicht weiter fruchtbar gemacht. Insgesamt schätzt Meyer in seiner Kritik an Geppert und Ort nach meinem Dafürhalten jene Dimensionen zu gering, die den Prozesscharakter der Bedeutungserzeugung und damit letztlich die Unterwanderung des klassizistischen Totalitätsbegriffs (den Meyer im Rückgriff auf die Forschung der 1950er Jahre für den Realismus rehabilitieren will) betreffen, mithin auch das im Folgenden zentrale Theorem des ›realistischen Wegs‹. Hervorzuheben sind hier Pars pro Toto Martinis Ausführungen zur »bürgerlichen Krisensituation« (Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S.  21f.) und Brinkmanns Thesen zum »Problematischwerden von Realität« (Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 312f.) Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 6.

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sen, Formen und Intentionen der Darstellung«.303 An die Stelle verbindlicher Orientierungen und Metanarrationen tritt dann der offene ›realistische Weg‹, der zwar das Begehren nach totaler Sinnstiftung (nach dem ›finalen Interpretanten‹, wie Geppert mit Charles Sanders Peirce sagt) noch kennt und es stets mitartikuliert, dabei jedoch keines der konkurrierenden epistemischen oder moralischen Deutungsangebote abschließend durchsetzt. Verklärung ist, so gesehen, nur noch das »Offenhalten der Option auf Wirklichkeitssinn«.304 So weit die These. Erkennbar wird diese pragmatische Grundausrichtung realistischer Literatur in einem Textverfahren, das Geppert als ›Verbrauchen von Codes‹ bezeichnet: Realisten gehen immer aus von sprachlichen Regularitäten, ebenso aber auch von vorgegebenen Typen des Sehens, Denkens und Sichverhaltens aller Art, konventionellen und natürlichen Codes, gesellschaft lichen, literarischen und so fort. […] Aber […] die Autoren bleiben nicht bei diesen allgemeinen Regularitäten, Konventionen und Typen stehen. Sie setzen immer von neuem bei ihnen an, schichten sie übereinander, aktualisieren sie, um in ihnen etwas Singulares sozusagen ›festzustellen‹: Dinge, Personen, Situationen. So entstehen in der Tat genuine sin-Zeichen. Aber es entsteht auch eine gewisse Spannung, ein latenter oder manifester Widerspruch zu den Gesetzmäßigkeiten, die nach wie vor zugrundeliegen und weiterbestehen. […] Man könnte realistische Zeichensprachen dadurch kennzeichnen, daß sie ihre Codes ›aufbrauchen‹, abnützen und in einem begrenzten, unsicheren oder Anders-Funktionieren zeigen als anfänglich erwartet oder defi niert […].305

Das hier Gesagte will zunächst wie eine Gegenthese erscheinen zu dem, was oben mit Verweis auf Roman Jakobson und Roland Barthes erörtert wurde. Ging es nicht bei der Konstruktion realistischer Strukturen gerade um die Verlässlichkeit der Codes, um eine Fiktionalität auf Basis des Immer-schon-Gewussten? Und nun sollen es gerade die Codes selbst sein, die im Zuge des realistischen Erzählens zur Disposition gestellt, ja ›verbraucht‹ werden? Tatsächlich setzt Geppert seinen Begriff des Codes an dieser Stelle eine Stufe oberhalb derjenigen Ebene an, die mit Jakobson und Barthes als metonymische Ebene beschrieben wurde. Die Konstruktion der Darstellung als solche, die Aktualisierung von vertrauten Frames und Skripten, auf deren Grundlage wir Handlungen lesen und verstehen, um schließlich sagen zu können: ›Ja, so ist das in der Welt, so gehen die Dinge vor sich‹ – diese basale Codierung wird für die Zwecke der Untersuchung bewusst306 übergangen. Die Beziehung zwischen legi- und sin-Zeichen, die Geppert diskutiert (und für die man in der hier gebräuchlichen Terminologie die Begriffe ›Paradigma‹ (legi) und ›Syntagma‹ (sin) einsetzen darf), betrifft Verhältnisse der

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Geppert: Der realistische Weg, S. 9. Geppert: Der realistische Weg, S. 7. En passant ist damit die These vom deutschen Sonderweg verabschiedet und der Anschluss des Poetischen Realismus an den europäischen Realismus hergestellt. Vgl. für eine kritische Diskussion dieser These Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen, Berlin 1997, S. 37–47. Geppert: Der realistische Weg, S. 126f. Geppert: Der realistische Weg, S. 129.

Zweitcodierung. Es geht also um den Zugewinn von Signifi kanz über den unmittelbaren Bedeutungszusammenhang hinaus. Man stelle sich z.B. vor, ein Jugendlicher kaufe in den 1980er Jahren auf dem Konzert seiner Lieblingsband ein T-Shirt mit dem Aufdruck ›Spandau Ballet‹. Als Kleidungsstück kann dieses T-Shirt eine Reihe von Funktionen erfüllen: getragen werden, einschmutzen, gewaschen werden, ausbleichen. Und genau diese Dimension rufen realistische Erzählungen zunächst ab, um die Diegese (die primäre Bedeutung) zu figurieren. Aber das T-Shirt besagt natürlich noch mehr: Mit dem Aufdruck ›Spandau Ballet‹ outet sich der Träger zugleich (im Regelfall) als Fan der Band, als New-Romantic und Charts-Hörer. Mit dem Kleidungsstück hat man sich einen semiotischen Überschuss eingekauft. Und dieser ist variabel. Dasselbe T-Shirt, getragen auf einer Party Ende der 1990er Jahre, markiert bereits alles andere als einen Mainstream-Geschmack; eher schon ein Moment von Kennerschaft, das Verfügen über ein Archiv, die Vorliebe für Abseitiges und Verblasstes. Wobei in dieser neuen Paradigmatisierung das T-Shirt mit anderen Elementen äquivalent werden kann, mit denen es im Gebrauchszusammenhang der 1980er Jahre noch wenig zu tun gehabt, ja unter Umständen sogar in Opposition gestanden hätte (ein Hemd der New-Wave-SynthieBand Soft Cell tut in den 1990ern vermutlich denselben Dienst wie ein Spandau-Ballet-T-Shirt). Gute 50 Jahre in die Zukunft bezeugt das T-Shirt, so es nicht den Motten zum Opfer gefallen ist, dann vermutlich nurmehr eine tiefe Sentimentalität. In einer solchen Abfolge von Neukodierungen muss man das Verfahren realistischer Erzählungen begreifen. Ein einzelnes Zeichen (das ›T-Shirt‹) wird wiederholt syntagmatisch eingesetzt, um nicht nur neue Handlungskontexte zu strukturieren (›Tragen‹ in verschiedenen Umgebungen), sondern eben auch je andere Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Mit Fortdauer der Erzählung wird das T-Shirt einmal als Devotionalie, ein andermal als Camp und schließlich als Nostalgieobjekt lesbar, wobei keine einzelne der Semiosen eine höherrangige Interpretation darstellt (das T-Shirt ist in den 1980ern gewissermaßen genauso ›wahr‹ und relevant wie zu irgendeinem späteren Zeitpunkt). So fungiert in der Zweitcodierung etwas diegetisch Manifestes zugleich als etwas anderes, ohne dass diese Zusatzbedeutung zwingend intradiegetisch verhandelt werden muss (etwa in Partygesprächen). Gepperts Beispiele sind selbstredend erhabener. Der Hochzeitsstrauß in Flauberts Madame Bovary, das Zittern Effi Briests, wenn sie Innstetten entgegentritt, oder das ›Effi, komm‹, das in Fontanes Roman die Geschichte durchzieht und den Zustand der Protagonistin je neu bestimmbar werden lässt, sind hier Indikatoren für das realistische Erzählverfahren. Zwei Aspekte scheinen diese Zeichen in Gepperts Sicht zu charakterisieren. Zum einen bezeichnen sie immer Details in der Diegese, und schon ihr erstes Auftreten deutet einen latent prekären Status und eine gewisse Unkonventionalität der Situation an, so etwa, wenn Emma Bovary bei der Erstbegehung ihres neuen Hauses auf den Hochzeitsstrauß ihrer Vorgängerin stößt.307 Das Zeichen

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Geppert: Der realistische Weg, S. 145; vgl. das Effi-Briest-Beispiel S. 127f.

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öffnet, über den gegebenen Rahmen hinaus, ein Fenster zur Vorgeschichte und wird bereits darin zu einem immanenten Symbol, zu einem Zeichen, das nicht allein eine Darstellungsfunktion im Moment erfüllt, sondern auf den Gesamtzusammenhang des Erzählten anspielt. In der Wiederholung manifestiert sich dann diese spezifische Form der Symbolizität, worin der zweite Aspekt liegt. Denn erst das wiederholte Auftreten unterstreicht den Vor- und Rückbezug und macht die unterschiedlichen konzeptuellen Rahmen (Ehe, Liebschaften etc.), die darin aufgerufen werden, jeweils als begrenzte lesbar. In diesem Sinne deutet das realistische Symbol nicht auf Einheit und Totalität der Welt, sondern auf die Spezifi k eines ›Weges‹308, auf die Differenz der Lebensstationen und Ansichten und auf die Codes, die diese jeweils regulieren und die sich im bloßen Weitermachen der Protagonisten verbrauchen. Damit ist ein exakter Gegenentwurf zum Symbolkonzept bei Goethe gegeben: Der Realismus kennt nur ein Verweisen auf Sinn, nicht dessen vollständige, wenn auch modellhafte Darstellung, nur eine Geschichte, nicht ein Gesetz, und sei es ein spekulatives, das in die Erscheinung tritt, keine letztliche, freilich postulierte Subjekt-Objekt-Identität, nur eine Methode, die von einem zum anderen führen »könnte«, keinen »symbolischen«, aber eben nur symbolischen Sinnraum, sondern einen von Realien getragenen und begrenzten Weg.309

Dies hatte sich bereits oben, im Anschluss an Brinkmanns Otto-Ludwig-Lektüre gezeigt. Im Realismus wird das Goethe’sche Symbol entarretiert und in eine binäre Verweisstruktur überführt, in der das Handgreifliche der Geschichte nurmehr punktuell übercodiert erscheint. Das Bedeutsame wird transitorisch: aufgerufen und relativiert in einer Abfolge von heterogenen Anspielungen, die die metonymische Basisarbeit des Textes begleiten. Ebendiese primär lineare Verkettung der Zeichen, mit der sich der Realismus, nach Geppert, vom verräumlichenden Ordnungsmodell Goethe’scher Provenienz ablöst, findet sich in der Allegorie des ›Weges‹ angesprochen. Es ist die »metapoetische« Allegorie eines Verfahrens, das das »Prinzip unvollständiger Induktion« (lies: das Anspielen auf die zweite Ebene von Wesenhaftigkeit und Bedeutsamkeit) zur Grundlage seiner Textproduktion macht.310

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Zu den Funktionen des Symbols vgl. auch Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 71. Geppert: Der realistische Weg, S. 215. Christian Begemann hat dieses dynamische Textverfahren der »Kipphänomene« jüngst noch einmal, wie in dieser Arbeit oben auch geschehen, an die epistemologischen Prämissen des Realismus zurückgebunden. Was er für die experimentelleren Erzählformen bei Adalbert Stifter und Gottfried Keller betont, darf man durchaus als paradigmatische Beschreibung des Realismus aufnehmen: »In der Tat entstehen die spannenden Erzählexperimente des häufig als ästhetisch antiquiert gescholtenen Realismus im aporetischen Binnenraum der kaum umstrittenen programmatischen Forderung, Kunst durch Hinwendung zur Wirklichkeit neu zu begründen. Da das nicht im Bezug auf die sinnfällige Oberfläche der Welt geschehen soll (und kann), sondern in einem Rekurs auf ihren wesentlichen Kern, der sich epistemologisch wie künstlerisch aber kaum einlösbar erweist, gerät das realistische Programm ins Trudeln und setzt Suchbewegungen frei, die sowohl

Oszillierende Bedeutungsproduktion – Claus-Michael Orts Metasemiotik des Realismus Diesem Moment metonymischer Dynamisierung bei gleichzeitiger Garantie von Bedeutungsüberschuss geht auch Claus-Michael Ort in seiner Realismusstudie Zeichen und Zeit (1998) nach. Ort untersucht die Selbstreferenz realistischer Texte, ihre – wie er es nennt – metasemiotische Dimension, die erkennbar wird, wenn der Akt der Zeichenbildung von der Darstellung selbst (implizit) thematisiert wird. Überprüft wird die Jakobson’sche Hypothese, dass realistische Texte die metonymische Verkettung von Zeichen zulasten der metaphorischen privilegieren.311 Daher kommen insbesondere solche Szenen in den Blick, die den Umgang mit ›similaren‹ Zeichen (etwa mit Porträtbildern) vorführen. Es sind Szenen, in denen der deutsche Realismus unter der Hand sein romantisches Erbe verhandelt, wie in der Meretlein-Episode in Kellers Der grüne Heinrich.312 Anlass des Erzählens ist hier ein zunächst isoliert auftretendes, ikonisches Zeichen, auf das der Protagonist Heinrich im Dorfe seines Oheims stößt: das unheimlich reizvolle, bedrohliche Bildnis des Mädchens Meretlein, von dem es zu seinen Lebzeiten, am Anfang des 18. Jahrhunderts, hieß, es sei mit dem Teufel im Bunde. Auf zwei Ebenen wird, wie Ort zeigt, dieses prekäre Bildzeichen semiotisch verarbeitet. 1) Seine Entstehung korreliert mit der Tilgung des Referenten: Das Meretlein stirbt, damit sein Bildnis als Zeichen freigesetzt wird. Dieser Handlungsablauf verdankt sich dem Prinzip der ›Funktionalität‹ des Zeichens. Um zu zirkulieren, muss es aus seinem Motivierungszusammenhang – aus der Phase der Ko-Präsenz von Zeichen und Referent – herausgelöst werden. 2) Ein gutes Jahrhundert später, zum Zeitpunkt der Betrachtung durch Heinrich, stellt das Bildnis erneut eine prekäre Konstellation her. Denn in der Ikonizität, in der bedrohlichen ›Lebendigkeit‹ des Bildes, werden Vergangenheit und Gegenwart als verbunden erfahren, erneuert sich der ursprüngliche Reiz des Referenten. Genau hier setzt das Erzählen an. Um das Bildzeichen zu entproblematisieren, wird es metonymisiert und also auf seinen Motivierungszusammenhang rückgeführt. Statt eines isolierten und darin prekären Zeichens entfalten sich so sukzessive kontige Zusammenhänge, wird ein genealogischer Kontext aufgebaut, der das Zeichen mit einer Entstehungsgeschichte ausstattet. Uninterpretierte oder »zu wenig verbalisierte Bilder«, so verallgemeinert Ort, erhalten im Realismus »indirekt den Status von (mehr oder weniger) unmotivierten Zeichen, fungieren also […] als Leerstellen, als ›Rätsel‹ und ›Geheimnisträger‹, als

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den Zugang zum Wirklichen überhaupt wie die eigenen künstlerischen Verfahren dabei betreffen.« Christian Begemann: Roderers Bilder – Hadlaubs Abschriften. Einige Überlegungen zu Mimesis und Wirklichkeitskonstruktion im deutschsprachigen Realismus. In: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19.  Jahrhunderts, Würzburg 2008, S.  25–41, hier: S. 32. Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, Tübingen 1998, S. 5. Vgl. zum Folgenden Ort: Zeichen und Zeit, S. 49–53.

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solche stellen sie aber zugleich einen ›semiotischen Überschuß‹ dar, der nur durch remotivierende Operationen abgebaut werden kann«.313 Demnach verbinden sich in der realistischen Semiotik zwei Bestrebungen: die Verdichtung metonymischer Zusammenhänge zu bedeutsamen Zeichen (Bildwerdung) und die Auflösung ebendieser Zeichen in das konsekutive Nacheinander ihrer Entstehungsgeschichte (Metonymisierung). Was wirklich ist, muss Zeichen werden; aber die Zeichen bleiben als solche stets an die wirkliche Geschichte ihrer Zeichenwerdung rückzukoppeln. Oder in den Worten Orts: Das Grunddilemma ›realistischer‹ Zeichenbildung kann somit zusammenfassend als Konflikt zwischen zwei implizit konkurrierenden Zielen präzisiert werden, nämlich dem der semiotischen Motiviertheit und dem der semiotischen Funktionalität (Motiviertheitspostulat und Funktionalitätspostulat).314

Von hier aus wird erklärbar, wieso realistische Texte zwar unablässig zeichenhafte Momente generieren, diese aber stets umgehend in eine intradiegetische Handlungslogik auflösen. Die ›metasemiotischen‹ Inszenierungen markieren auf zweiter Ebene ein Verhältnis, das den Realismus bereits bei seiner Basisarbeit betrifft , beim Aufbau der Darstellungsebene. Es ist das Verhältnis jeglicher realistisch-literarischer Zeichenbildung: Wie sich intradiegetisch die Bildzeichen mit ihren fi ktionalen Trägern (Figuren) ambivalent verbunden zeigen, so hängen die Textzeichen überhaupt mit ihrer kontextuellen, außerliterarischen Umgebung zusammen: Nirgends soll ein Zuviel an Zeichenhaftigkeit auftreten, nirgends aber auch eine völlige heteronome, von außen vorgegebene Motiviertheit. Was auf der einen Seite die Grenze zur hyperpoetischen Autonomisierung der Zeichen berührt (freie Funktionalität), stößt auf der anderen Seite an den gewöhnlichen, profanen Text, der zeitgenössisch etwa mit der Zeitungsprosa assoziiert wird (völlige Motiviertheit). Die Zeichenkunst des Realismus bewegt sich zwischen beiden Polen. Dynamisierung der Zeichen und Entsagung in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich In Realismus-Seminaren ist entsprechend oft zu erleben, wie sich die Textdiskussionen in die eine oder andere Richtung bewegen: Wo manche Studenten Allegorien oder Symbole entdecken, finden die Kommilitonen an den nämlichen Stellen alles ›ganz natürlich‹, im Rahmen der Handlung ›völlig plausibel‹ und ›realistisch‹ vertraut. Die Konkurrenz der Interpretationen rührt eben daher, dass in den Texten beide Zeichenprozesse gleichursprünglich am Werk sind. Exemplarisch und zusammenfassend für diese semiotischen Überlegungen sei das Begräbnis der Anna in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich in Erinnerung gerufen:

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Ort: Zeichen und Zeit, S. 53. Ort: Zeichen und Zeit, S. 100.

Der letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die Glasscheibe in das bleiche Gesicht, das darunter lag; das Gefühl, das ich jetzt empfand, war so seltsam, daß ich es nicht anders als mit dem fremden und kalten Worte »objektiv« benennen kann, welches die Gelehrsamkeit erfunden hat. Ich glaube, die Glasscheibe that es mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem hinter Glas und Rahmen gebrachten Teil meiner Erfahrung, meines Lebens in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben sah; noch heute weiß ich nicht, war es Stärke oder Schwäche, daß ich dies tragische und feierliche Ereignis viel eher genoß, als erduldete und mich beinah des nun ernst werdenden Wechsels des Lebens freute.315

Genussfähig, in ›gehobener und feierlicher Stimmung‹ wohnt Heinrich Lee der Bestattung seiner Jugendfreundin Anna bei. Und das aus der Narration ex post verdeutlichend gesetzte Signalwort ›objektiv‹ verstärkt den Eindruck, dass an dieser Stelle eine – in aller beschriebenen Komplexität – ›verklärte‹ Präsentation des Begräbnisses vorgenommen wird. Kein greller Kummer über einen frühen Tod, sondern die geläuterte Darstellung eines letzten Abschieds ist hier zu lesen. Als Anlass dieser Verklärung gilt dem Erzähler die Glasscheibe im Sarg. Nicht von ungefähr. Gerade diese Glasscheibe hatte wenige Seiten zuvor, während des Sargbaus, für ein mirakulöses Erlebnis beim Helden gesorgt: Dann hob ich sie [die Glasscheibe] empor und ließ das lautere Wasser ablaufen, und indem ich das glänzende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute, erblickte ich das lieblichste Wunder, das ich je gesehen. Ich sah nämlich drei musizierende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und sang; die beiden andern spielten auf altertümlichen Geigen, und alle schauten freudig und andachtsvoll nach oben […].316

Wer diese Beschreibung in Erinnerung hat, kann das Begräbnisbild zur Allegorie zusammensetzen: Umspielt von den ›Engelknaben‹ verklärt sich das Gesicht der – im Roman ohnehin als ätherisch entworfenen – Anna vollends zur Heiligenikone. Aber wie gesagt, die allegorische Dimension wird nur in der Zusammensetzung narrativ entrückter Beschreibungen ersichtlich. Darüber hinaus ist die wundersame Erscheinung der Engel auf der Glasscheibe bereits bei ihrer Erwähnung metonymisch abgeschwächt: Ich habe seither erfahren, daß Kupferstiche oder Zeichnungen, welche lange Jahre hinter einem Glase ungestört liegen, während der dunklen Nächte dieser Jahre sich dem Glase mitteilen und gleichsam ihr Spiegelbild in demselben zurücklassen. Ich ahnte jetzt auch etwas dergleichen, als ich die Schraffierung alter Kupferstecherei und in dem Bilde die Art Van Eyckscher Engel erkannte. Eine Schrift war nicht zu sehen und also das Blatt vielleicht ein seltener Probedruck gewesen. Jetzt aber galt mir die kostbare Scheibe als die schönste Gabe, welche ich in den Sarg legen konnte.317

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 84. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 81. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 81.

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Das bedeutsam allegorische Begräbnis zeigt sich also auf zweifache Weise intradiegetisch motiviert: Als Verklärung wird die Szene nur lesbar, wenn man die Herstellung des Sarges und die Einarbeitung der Glasscheibe mitbedenkt. Und diese Glasscheibe wiederum darf nur erscheinen unter der Bedingung, dass miterzählt wird, wie das rätselhafte Bildnis darauf zustande kam. Die realistische Allegorie ist ohne die jeweilige Geschichte ihrer Bildwerdung nicht zu haben. Wobei die Dynamisierung des Bedeutungsmoments sowohl retrospektiv als auch prospektiv funktioniert. Das Bildhafte hat eine Vorgeschichte, es deutet aber auch auf je neu zu generierende Bildmomente voraus. Eben darin liegt das ›Verbrauchen‹ (Geppert), d.h. die stete Herstellung und Überwindung, übercodierter Momente.318 Fast schon exemplarisch heißt es denn noch in der zitierten Begräbnisbeschreibung des Grünen Heinrich, dass sich der Held in seiner Hochstimmung »des nun ernst werdenden Wechsels des Lebens freute«.319 Gefeiert wird das Weiterleben, die Möglichkeit, neue Kontexte zu durchschreiten. Bald nach dieser Szene beginnt der Münchener Künstlerroman. Von hier aus lässt sich nun auch die aufgeworfene Frage nach dem Stellenwert der Entsagung im Poetischen Realismus beantworten. Denn wenn das realistische Erzählen von einem permanenten Wechsel zwischen ›similarer‹ Verdichtung und Metonymisierung gekennzeichnet ist, dann stellt sich in neuer Weise das Problem der clôture. Wie aufhören, wenn doch der realistische Weg prinzipiell unabschließbar ist? Ebenhier setzen realistische Texte das Moment der Entsagung an. Entsagung ist das unheroische Ende, in dem das Leben als weiterhin lebbar angezeigt wird, auch wenn alle seine idealen Optionen aufgebraucht sind. Es ist nicht nur die mittlere Lösung zwischen einem erfüllten Happy End und einer pathetischen Katastrophe, es ist auch ein Schluss, der sich einem statischen Zustand (Ehe oder Tod) versagt. Mit seiner Entscheidung, die Neufassung des Grünen Heinrich (1879/1880) nicht im Tod des Helden, sondern in seiner Entsagung als Staatsdiener enden zu lassen, hat Keller in diesem Sinne nicht allein eine biographisch verankerte, sondern überhaupt die realistischere, offenere Variante gewählt. Die Erfüllung des vom Vater vorgelebten Bürgerlichkeitsideals (fruchtbare Ehe, beruflicher Erfolg mit Kapitalbildung, soziales Engagement, Kunstinteresse)320 und damit ein pyramidaler Handlungsaufbau nach dem Modell des klassischen Bildungsromans war bereits in der ersten Fassung von

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Einen guten, konzisen Überblick über Kellers Gesamtwerk und die verschiedene Verfahren, Codierungen zu relativieren und damit offen zu halten, gibt auch Erika Swales: Gottfried Kellers (un)schlüssiges Erzählen. In: Hans Wysling (Hg.), Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, München, Zürich 1990, S. 91–108. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 84. Gert Sautermeier fasst die Vaterfigur als Einheit »der drei Gestalten, in die der moderne Bürger auseinanderfällt: die des Wirtschaftsbürgers (bourgeois), des öffentlich-politischen Bürgers (citoyen) und des privaten Kulturbürgers (homme)«. Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55; 2. Fassung 1879/80). Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: Horst Denkler (Hg.), Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 80–123, hier: S. 84.

1854/1855 obsolet geworden.321 Das Weiterleben des Helden in der zweiten Fassung verabschiedet dann das entgegengesetzte Extrem: den tragischen Schluss. Mit dieser Verabschiedung verbindet sich eine erzählpraktisch bedeutsame Wendung: Insofern der Held in der Fassung von 1879/1880 mit dem Erzähler identisch ist, wird seine Entsagung auch narratologisch relevant. Denn nur als Überlebendem ist es Heinrich Lee vergönnt, sein Erzählwerk zusammenzubinden und so »noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln«.322 Wie bereits an Raabes Chronik der Sperlingsgasse beobachtet323, und wie wiederholt in Texten des Realismus anzutreffen324, leitet sich die Erzählsituation also über die Entsagung her. Entsprechend auffällig wird dieser einschlägige Moment bei Keller inszeniert: Im Schlusskapitel des Grünen Heinrich begegnet Lee, zurück in der Schweizer Heimat, noch einmal seiner Jugendliebe Judith, womit erstmals im Roman eine Frauenfigur jenseits der ihr zugedachten Episode wieder auftaucht. In der Dorfgeschichte des zweiten und dritten Bandes war Judith deutlich die Rolle des sinnlichen, vollweiblichen Gegenparts zur fragilen Anna zugedacht worden. Und dieser Rolle angemessen erfolgte dort die Zweitcodierung, wenn Judith etwa als tückische Verführerin – »komm, ich habe schöne Aepfel«325 – Heinrich vom Geistwesen Anna ins Reich irdischer Lüste herabzog.326 Man erkennt darin die dreifache Strukturierung des realistischen Textes wieder:

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Wie oft bemerkt wurde, relativiert sich der klassisch bürgerliche Lebensentwurf des Vaters bereits durch dessen frühen Tod, womit das Telos des Romans von Anfang an als unlebbar, weil unzeitgemäß erscheint. Vgl. hierzu die kanonischen Interpretationen: Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a.M. 1981, S.  118–122; sowie, mit stärkerem Akzent auf dem sozialgeschichtlichen Wandel von der Handwerkswirtschaft zum Industriekapitalismus, Adolf Muschg: Gottfried Keller, Frankfurt a.M. 1980, S.  95–106. Durch das Fehlen der familiären Vermittlungsinstanz unterbleibt auch eine ›Disziplinierung‹ des Helden auf die ›bürgerlichen Tugenden‹ hin – eine Konstellation, die Kellers Gesamtwerk durchzieht. Vgl. dazu Jörg Schönert: Die ›bürgerlichen Tugenden‹ auf dem Prüfstand der Literatur. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 281. Vgl. Abschnitt 1.2.1. zu Johannes Wachholders Erzählen aus dem Dickens’schen Grundsatz ›Lord, keep my memory green!‹ heraus. In Reinform liegt die Koppelung zwischen Entsagung und Erzählen im homodiegetischen Erzählen vor, und zwar ebenso im extradiegetischen (Chronik der Sperlingsgasse, Der grüne Heinrich) wie im intradiegetischen. Darüber hinaus verknüpft sich das Entsagungsmoment oft auch mit der personalen Erzählsituation, also mit einem heterodiegetischen und dabei intern fokalisierten Erzählen. Intradiegetisch-homodiegetische Entsagungsnarrative liegen z.B. vor in Kellers Pankraz, der Schmoller (Pankratz), Raabes Altershausen (Minchen Ahrens) oder Stopfkuchen (Heinrich Schaumann). Personal angebundene, heterodiegetische Entsagungsnarrative besitzen Storms Immensee und Carsten Curator oder Raabes Else von der Tanne. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 42. Zur Übercodierung der Frauenfiguren siehe ausführlich Frauke Berndt: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999, S. 231–265.

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1) Auf der Darstellungsebene begegnen ›echte Mädel‹, die so gemacht sind, dass man in ihnen bei Bedarf Gefährtinnen aus dem Umkreis des Dichters Gottfried Keller327, in jedem Falle aber Figuren aus ›Fleisch und Blut‹ erkennen kann. (metonymische Ebene) 2) Diese Figuren treten in eine antithetische Beziehung. (formalpoetische Verklärung) 3) Gelegentlich zeigen sie sich zudem semantisch überhöht, wenn wie hier Judith als quasi biblische Eva-Figur inszeniert wird. (semantische Verklärung) Dass Judith mit dem Tod Annas aus dem Leben Heinrichs verschwindet und nach Amerika auswandert, ist formalpoetisch nur konsequent. Denn ohne Widerpart fällt sie aus ihrer antithetischen Rolle. Der Wiedereintritt am Ende des Buches stellt dann eine neue Qualität her. Als einziger Figur neben Heinrich fällt Judith das Privileg zu, mehr als einen Handlungskontext zu durchschreiten. Ihre Rückkehr macht sie, in Gepperts Sinne, zu einem singulären Zeichen, dessen Auftreten die vormalige Codierung (ihre Rolle im Rahmen der Dorf- und Jugendgeschichte) als überholt erscheinen lässt. Doch gelingt diese realistische Wanderung zwischen den Kontexten nur um den Preis eines versagten Happy Ends. Tatsächlich stellt Lees Wiedersehen mit der Jugendfreundin ja eine clôture par excellence in Aussicht.328 In heimatlichen Gefi lden könnte sich der Kreis schließen und der immerhin doch berufstätig gewordene Held in den Hafen der Ehe einbiegen. Sinnfälligerweise blicken denn die Protagonisten in der Schlussszene wieder auf eine Glasscheibe, womit eine Parallele zum oben diskutierten Anna-Begräbnis geschaffen ist: In einem der Fenster leuchtete eine zweihundertjährige gemalte Scheibe mit den Wappen eines Ehepaares, das nun schon lange zu Staub geworden. […] Der Hintergrund, auf welchem die zwei Wappen standen, zeigte ein Gartenland mit einer Gesellschaft zechender Engelsfigürchen zwischen Rosenbüschen. Ein geschmücktes Paar, die Handschuhe in den Händen, sah den kleinen Trinkgesellen wohlgefällig zu.329

Das anakreontische Idyll, das hier als Harmonisierungsversprechen eben im Sinne eines Happy Ends aufgeboten ist, stellt die Lizenz zum Heiraten aus. Doch die Figuren greifen nicht zu – und zwar aus poetologischen Gründen. Noch im selben Glas-

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In biographischer Hinsicht trägt denn Anna Züge der Jugendliebe Henriette Keller, Dortchen Schönfund erinnert an die Berliner Salonschönheit Betty Tendering. Vgl. Hans Wysling (Hg.): Gottfried Keller. 1819–1890, Zürich, München 1990, S. 62 u. S. 195. Wobei eine Erwartung auf diese Form von clôture über einige Wendungen des Romans hinwegsehen muss, u.a. darüber, dass das für eine solche Konstruktion anzusetzende zyklische Denken, aus dem sich etwa die alte Dorfgemeinschaft speist (vgl. Kapitel 1: Lob des Herkommens), gerade nicht mehr tragfähig ist und also das entsprechende Erzählmotiv von Auszug und Heimkehr des Helden kaum naheliegt. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 277f.

bild entdeckt Heinrich Lee einen Sinnspruch wieder, der ihm bereits auf dem Grafenschloss bei Dortchen Schönfund begegnet war: »Hoffnung hintergehet zwar, Aber nur was wankelmütig; Hoffnung zeigt sich immerdar Treugesinnten Herzen gütig! Hoffnung senket ihren Grund In das Herz, nicht in den Mund!«330

Die Wiederholung zeigt immer schon die Differenz mit an. Es ist der gleiche Spruch, aber eine andere Frau. Es ist wieder ein Glasbild mit Engelchen, aber eine andere Frau. Das Prinzip der stets nicht dauerhaft realisierten Harmonisierung, der je aufgeschobenen, gebrochenen und verbrauchten Verklärung, das den Roman durchzieht, wird auch in der Schlussszene nicht aufgegeben. Und es bleibt Judith vorbehalten, das Bild der Einkehr in den sicheren Hafen folgerichtig zu verabschieden: »Schau, ich habe es mir schon auf dem Meere und während eines Sturmes überlegt, als die Blitze um die Masten zuckten, die Wellen über Deck schlugen und ich in der Todesangst deinen Namen ausrief, und die letzten Nächte wieder hab’ ich es hin und her gewendet und mir gelobt: Nein, du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen! Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen, als es schon geschehen ist!«331

Wo der Sturm (der Zeiten), der Wechsel differenter Lebensmomente vorausgesetzt ist, muss ein stabiler Endzustand illusionär erscheinen. An seine Stelle tritt die Entsagung – zum Zeichen der steten Verschiebung zwischen idealer Einheit (Glück) und profaner Alltäglichkeit (Lebenstrübheit). Das Leben danach, das der Erzähler in einer kurzen Raff ung andeutet, liest sich dann wie eine Rückbestätigung der dynamischen Verfassung, die den gesamten Roman kennzeichnet: »Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest.«332 Ein unregelmäßiges Leben gemäß dem ›Lauf der Welt‹, eine Ansammlung von Episodischem, von spontanen ›Festen‹, eine offene Partnerschaft ohne Verpflichtungen – so sieht die Geschichte über das Erzählenswerte hinaus aus. Insofern diese neue Freiheit jenseits des bis dahin gültigen Bildungsziels liegt, deutet sich hier die Auflösung des realistischen Wegs in die offene Dynamik der Metonymisierung an. Aber es bleibt bei der Andeutung. Dass der Erzähler dieser Entwicklung lediglich eine Raff ung gönnt, dass er die Entsagung mit offenkundiger Larmoyanz begleitet, lässt erkennen, dass der Realismus ohne einen Bezug auf tradierte Normen

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 278. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 279f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 280f.

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seine Darstellungen nicht ablaufen lässt.333 Wo der Sinnhorizont komplett verloren geht, da findet auch der Text sein Ende. Im Umkehrschluss heißt das: Der realistische Weg ist ohne eine, wenn auch stets unvollständige, Möglichkeit idealisierender Zweitcodierungen nicht zu haben. 2.3.2.1. Selbstreferenz – Die Poetologie des Realismus in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes Das realistische Verfahren ist nunmehr in seinen Grundzügen nachgezeichnet, und im folgenden Abschnitt werden entsprechend die Verklärungsstrategien im ökonomischen Diskurs zu verfolgen sein. Zuvor ist allerdings ein Zwischenschritt vonnöten, der dem Eindruck vorbeugen soll, dass Ökonomie und Literatur durch die gegenseitige Kontextualisierung hier zu eng geführt würden. Literarische Texte wirken, anders als außerliterarische Gebrauchstexte, nicht unmittelbar pragmatisch, sondern leisten ihren Anteil am kulturellen Wissen indirekt. Sie stellen Wahrnehmungsmuster bereit, nicht aber, wenigstens nicht in der Regel, konkret referenzialisierbare Wahrheitsaussagen. Damit geht zusammen, dass literarische Texte, gleich anderen Kunstwerken, in einem erhöhten Maße ihre Vermittlungsbedingungen zu reflektieren im Stande sind. Während in den übrigen Textsorten die referenzielle Funktion der Sprache für gewöhnlich unthematisiert bleibt und die Textur, die den Darstellungsakt trägt, als mehr oder minder transparent gegenüber den denotierten Sachverhalten zurücktritt, vermögen Kunstwerke ihre Darstellungsleistungen zu exponieren. Indem Literatur für die Materialität und Funktionalität des schrift lichen Zeichens sensibilisiert, etabliert sie sich gleichsam als Laboratorium, das kulturelles Wissen auf seine diskursiven Bedingungen hin lesbar macht. Poetologische Passagen im Realismus, die eine solche Selbstreferenz des künstlerischen Verfahrens aufbauen, sind bereits zahlreich in den Blick gekommen. Längere explizit poetologische Texte sind im Realismus dagegen seltener. Aber es gibt sie. In exemplarischer Weise führt Gottfried Kellers Seldwyler Novelle Der Schmied seines Glückes (1874) eine solche poetologische Stellungnahme vor. Die Tendenz realistischer Texte, im inflationären Gebrauch von Sprichwörtern und Sentenzen eine metonymische Basisarbeit zu markieren, ist bereits zu Sprache gekommen.334 Die Idiome verweisen auf ein Routinewissen, durch das, mit Roland Barthes gesehen, das Realitätsprinzip der Fiktion verbürgt ist. Nur wo vertraute Situationen durchlaufen werden, kann eine Fabel glaubhaft und echt wirken. Poetologisch betrachtet hat man es hierbei mit einem Tarnkappenversuch zu tun: Der realistische Text glückt in dem Maße, wie er sich unauffällig in das vorhandene kulturelle Wissen einfügt. Ästhetisch liegt genau darin ein Problem, auf das die Verklärungs-

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Zur Verbindlichkeit der Normativität im Realismus vgl. Titzmann: Grenzziehung vs. Grenztilgung. Vgl. Abschnitt 2.2.1. dieser Arbeit.

strategie antworten soll. Will der realistische Text nicht bloß zum Sachtext verkommen, braucht er eine zeichenhafte Verdichtung. Diese Verdichtung wiederum muss sich, wo sie nicht artifiziell wirken soll, möglichst passgenau in die metonymischen Reihen einfügen. Dieser Gedanke ist programmatisch in der Symboltheorie aufgefangen. In der Praxis entspringt daraus jene Spannung, die das beschriebene oszillierende Verfahren des Poetischen Realismus in Gang setzt. Poetologisch äußern sich realistische Texte nun bevorzugt dadurch, dass sie den zweiten Pol, die künstlerische Verdichtung, als prekären Auftrag schildern. Immer wieder werden Formen uneigentlicher oder zumindest problematischer Zeichenverwendung inszeniert, über die sich das realistische Projekt ex negativo selbst verortet. Ebendies führt Der Schmied seines Glückes vor. Kellers Text, der selbst ein Sprichwort narrativiert (›Jeder ist seines Glückes Schmied‹), liefert seine Veranschaulichung realistischer Textprinzipien nach Art der Parabel. Und er tut dies, indem er mit seinem lächerlichen Protagonisten eine spezifisch antirealistische Semiotik scheitern lässt. Alles kann man herstellen, schmieden oder umbiegen, d.h. alles ist arbiträr und frei konstruierbar. Mit dieser Grundhaltung startet der Held John Kabys in seine Glückssuche. Dabei verdankt sich bereits sein anglophoner Name einer eigenmächtigen Umformung, von der sich der eigentlich ›Johannes Kabis‹ getaufte Seldwyler einen konnotativen Überschuss, einen »angelsächsisch unternehmenden Nimbus«335, verspricht. Denn das Englische steht für (wirtschaftlichen) Erfolg. Als dieser dem arbeitsscheuen Glücksritter wider Erwarten nicht automatisch zufliegt, erweitert Kabys seine Namensspekulation. Angeregt durch die Doppelnamen ortsansässiger Firmen, die für Kreditwürdigkeit bürgen, beabsichtigt er, ein Fräulein mit dem wohlklingenden Familiennamen »Oliva« zu ehelichen.336 Schon nach vier Seiten ist man so mit der Pointe der Novelle bestens vertraut: Kabys hat nirgends die Handlungszusammenhänge, in denen Namen ihre soziale und wirtschaftliche Signifi kanz aufbauen, im Blick. Dass ein Frauenname ökonomisch nur relevant wird, insofern er auf einen Kapitalzuwachs für Eigentümerunternehmen hindeutet, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig kümmert er sich um die Gelingensbedingungen einer soliden bürgerlichen Ehe (Zuneigung und Kapitalstock). Stattdessen nimmt Kabys Namen entkoppelt wahr, werden ihm die Zeichen selbst zum primären Interessengegenstand, was mit einer Verstärkung seiner poetischen Sensibilität einhergeht. Namen müssen für ihn zunächst gut klingen. Aus der poetischen folgt dann die semantische Funktion. Die dekontextualisierten Zeichen werden ihm

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Gottfried Keller: Der Schmied seines Glückes [1873]. In: HKKA, Bd. 5 (Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band), Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 63–96, hier: S. 63. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 65–67. Diese Werbeunternehmungen vermitteln einen Hauch »modernster Warenästhetik«, so wurde leicht ironisch angemerkt. Siehe Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen, Berlin 2001, S. 83. Kaiser vernimmt dagegen ungleich allegorischer »ein Rüchlein von Manchester-Liberalismus« bei Kabys und in der Doppelnamensfi ndung »eine dem Zeitgeist gemäße Illumination von Wirtschaftsmacht durch aristokratischen Glanz«. Kaiser: Gottfried Keller, S. 353f.

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frei kombinierbar und ermöglichen daher, eine neue Wirklichkeit, eben das Glück, zu ›schmieden‹. So verhält es sich mit Kabys’ Idee. Dass dieses mit deutlichen Anleihen an die romantische Poetik ausgestattete Projekt einer frei schwebenden Kombinatorik kein gutes Ende nehmen wird, ahnt man ebenso schnell. Ist es doch gerade der Personenname, der traditionell für einen stabilen Zusammenhang von Handeln und Bedeuten bürgt. So hatte es jedenfalls Jeremias Gotthelf, der zweite große Epiker der Schweiz und Vorläufer Kellers, exemplarisch vorgeführt. Im guten Namen manifestieren sich die moralische Integrität einer Figur und ihre Rolle in der sozialen Gemeinschaft. »Aber so, wie man durch sein Tun sich inwendig eine Gewohnheit bereite, so mache man sich auswendig einen Namen«, gibt der Meister in Uli der Knecht (1841) den Leitbilddiskurs des Pfarrers (und des Romans) wieder.337 »An diesem Namen, an dem Ruf, der Geltung unter den Menschen, arbeite ein jeder von Kindsbeinen an bis zum Grabe, jede kleine Ausübung, ja jedes einzelne Wort trage zu diesem Namen bei. Dieser Name öffnet oder versperrt uns Herzen, macht uns wert oder unwert, gesucht oder verstoßen.«338 Folgerichtig erhält Uli zum Abschluss seines heimatlichen Ausbildungsweges, der ihn vom Rüpeldasein zu einer im Wesentlichen fleißigen, mäßigen, gottesfürchtigen Existenz führt, vom Pfarrer selbst den Heimatschein mit seinem vollen Namen: »Du heißest Ulrich Merk«.339 Und damit einhergehend weiß der Pfarrer – als wachsames Auge der Gemeinschaft – zugleich Ulis positiven Werdegang zu resümieren. Aufs Engste zeigt sich der Name der Person hier mit ihrer Existenz in der familial fundierten Dorfgemeinschaft verknüpft. Formbar ist allein das eigene Tun, das als Dienst für das ›ganze Haus‹ (›oikos‹), das Zentrum des christlich geprägten sozialen Verbunds, und als Anpassung an seine Erfordernisse definiert ist.340 Ihm gilt der Bildungsweg des Uli, der in letzter Instanz ein Weg der Initiation in eine bestehende Ordnung ist.341 In John Kabys’ eigenwilliger Onomastik kehrt sich also dieser traditionelle Weg vom Handeln zum Bezeichnen, von der treuen Arbeit zum guten Namen um. Und genau das wird ihm zum Problem. Scheitert sein Heiratsvorhaben noch an einer rein poetischen Verstimmung – Fräulein Oliva entpuppt sich als eine uneheliche Tochter mit dem unpassenden Namen Häuptle –, so wirkt sich in der zentralen Episode der

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Jeremias Gotthelf: Wie Uli der Knecht glücklich wird. Eine Gabe für Dienstboten und Meisterleute. In: Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius), Sämtliche Werke in 24 Bänden, in Verbindung mit der Familie Bitzius hg. von Rudolf Hunziker und Hans Bloesch, Bd. 4, Zürich 1921, S. 31. Gotthelf: Wie Uli der Knecht glücklich wird, S. 31. Gotthelf: Wie Uli der Knecht glücklich wird, S. 140. Der Zerfall dieses patriarchalisch gesteuerten ›ganzen Hauses‹ gehört zu den hinlänglich bekannten Charakteristika der Industrialisierungszeit und wurde von Joseph Vogl eingehend diskursanalytisch beschrieben. Vgl. Abschnitt 1.3.1. dieser Arbeit. Vgl. Werner Hahl: Jeremias Gotthelf – der »Dichter des Hauses«, Stuttgart, Weimar 1993, S. 87–94.

Novelle gerade seine Blindheit für Handlungskontexte negativ für ihn aus. Angeregt durch Gerüchte eines Reisenden, er möge in Süddeutschland wohl entfernte Verwandte besitzen, verlässt Kabys Seldwyla und trifft im Haus des begüterten Augsburgers Adam Litumlei auf ein ihm ebenbürtiges Pendant. Denn den greisen Litumlei, der selbst zwar verheiratet, doch kinderlos ist, treibt der Wunsch um, seinen materiellen Reichtum semiotisch zu veredeln und darob ein »lang andauerndes Geschlecht zu stiften, dessen gefeierter Stammvater« er werden möge.342 Dieses Vorhaben lässt sich mit dem Eintreffen von Kabys realisieren: »Sie opfern äußerlich Ihre eigene Familienüberlieferung (sind Sie ja doch der letzte Ihres Geschlechtes) und nehmen nach meinem Tode, d.h. bei Antritt des Erbes, meinen Namen an! Ich verbreite unter der Hand das Gerücht, daß Sie ein natürlicher Sohn von mir seien, die Frucht eines tollen Jugendstreiches; Sie nehmen diese Auffassung an, widersprechen ihr nicht!«343 Vom mutmaßlichen oder tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden, so entfernt es auch sein mag, ist also von Anbeginn keine Rede. Sattdessen soll eine neue, enge Verbindung gestiftet werden. Kabys willigt ein. An diesem Punkt wird das Thema der Eigennamen und ihrer Dekontextualisierbarkeit auf eine allgemeinere Stufe gehoben. Es geht nunmehr um die fi ktionale Entkoppelung von Zeichenzusammenhängen schlechthin und entsprechend beginnt der Keller-Text in hohem Maße poetologisch reflexiv zu werden.344 Litumlei lehrt, dass die bloße Verknüpfung zweier Figuren als Zeichenträger (wie sie Kabys noch mit Fräulein Oliva beabsichtigte) nicht genügt, um eine sozial und semiotisch tragfähige Rolle zu kreieren. Vielmehr wird eine umfangreiche (Neu-)Kontextualisierung benötigt. Zu diesem Zwecke beginnen Litumlei und Kabys, einen »Roman zu erfinden und aufzuschreiben, durch welchen John zu seinem natürlichen Sohn erhoben wurde«.345 Erst die nach den Regeln der Familienchronik geschaffene Erzählung situiert und beglaubigt das hier geschaffene Verwandtschaftsverhältnis. Umgehend beginnen die beiden Geschichtsfälscher ihr Projekt, und der auktoriale Erzähler erster Stufe versäumt dabei nicht, es von vornherein zu karikieren. Nur unter starkem Einsatz von Genussmitteln regt sich die Kreativität der zwei, und sie mündet in einen stilistisch auffallend inkohärenten und »kaum einen Bogen« umfassenden Roman.346 Historistische Beglaubigungspassagen, wie etwa die Eröffnung im Stile des Kameralismus mit einer langen Preisstatistik des Jahres »17. .«347, tre-

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Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 77. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 77. Wobei die poetologische Reflexivität auch die darüber hinaus gehende Deutung eröffnet, die semiotischen Praktiken der Protagonisten als Allegorie auf die Zeichenspekulation in der Gründerzeit, im »age of fake«, aufzufassen. Diesen Schritt geht Erika Swales: The Poetics of Scepticism. Gottfried Keller and »Die Leute von Seldwyla«, Oxford, Providence 1994, S. 140–146. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 80. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 86. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 83.

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ten darin neben eine mit vielen parallelen Hauptsätzen und etwas Adelsromantik gespickte Verführungsgeschichte. Unter gelegentlich grobem Missbrauch von Konjunktionen verläuft sich die Binnenerzählung in Antithesen der dilettantischsten Art: »Auch waren die Erbsen und die Bohnen gut geraten, und der Flachs und Hanf waren nicht gut geraten, dagegen wieder die Oelfrüchte und der Talg oder Unschlitt […]«.348 So wird das Dichten der Figuren von der extradiegetischen Erzählinstanz in satirischer Absicht vorgeführt. Der auktoriale Erzähler erster Stufe hält das Wissen um die Inauthentizität dieses narrativen Projektes, über das sich der »künstlich-natürliche Sohn und der geschlechtergründende Erzvater« zu legitimieren suchen349, stets präsent. Es ist das Wissen um den Widerspruch zwischen dem geschaffenen Zeichensystem und dem diegetischen Handlungsraum, der sich in ebendiesem Oxymoron – ›künstlich-natürlich‹ – ausdrückt. Signifi kanterweise ist das Zeichensystem selbst von der Impotenz einer der Figuren getragen (des alten Litumlei). Während das Künstliche, so wie es hier vorgeführt wird, lediglich das Bestehende umcodieren kann, entsteht stofflich Neues – ein leiblicher Sohn etwa – im Raum des (diegetisch) Natürlichen. Im Bestreben, die beiden verschränkten Ebenen gegen das Interesse der Figuren wieder auseinander zu dividieren, führt die Erzählung nun entsprechend eine Potenz ein, die die Figuren in ihrer semiotischen Arbeit nicht einkalkuliert haben. Kabys zeugt ein Kind mit der Frau von Litumlei, das dieser kurzerhand als Frucht seines eigenen Leibes anerkennt und als rechtmäßigen Erben einsetzt. Der betrogene Betrüger Kabys wird alsbald aus dem Hause verwiesen und kehrt als Nagelschmied nach Seldwyla zurück, wo er »das Glück einfacher und unverdrossener Arbeit spät kennen lernte«.350 In drei Schritten inszeniert Kellers Novelle also ein semiotisches Problem und thematisiert darin gleichzeitig das realistische Textverständnis: 1) Die Namensänderung markiert zunächst eine Auflösung gegebener Zeichenkontexte, die auf der Ebene des Plots mit der zunehmenden Mobilität der Figur einhergeht. Semiotisch wie praktisch überschreitet der karriereorientierte Held die Grenzen Seldwylas. 2) In der Augsburg-Episode wird das Namensproblem in einen umfassenderen semiotischen Zusammenhang überführt. Auf die Dekontextualisierung und Mobilisierung des John Kabys folgt hier die Rekontextualisierung und Einbettung in eine willkürliche, poetisch gestiftete Familienordnung. Über ihr angedeutetes, tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis x-ten Grades klären sich die Figuren sinnfälligerweise nicht auf (denn das würde ›realistische‹ Untersuchungsarbeit bedeuten); vielmehr ›phantasieren‹ sie sich eine unmittelbare Beziehung zurecht. Da aber von der Erzählinstanz das Wissen um die vorab bestehenden ›natürli-

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Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 82. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 79. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 96.

chen‹ Kontexte stets präsent gehalten wird, mündet diese poetische Anstrengung der Figuren in ein Paradox: Kabys wird zum ›künstlich-natürlichen Sohn‹. 3) Der finale Schritt der Erzählung gilt folglich der Auflösung dieses problematischen Zwitterzustandes durch die Rückkoppelung an bestehende Kontexte. Kabys kehrt nach Seldwyla zurück und übernimmt eine ›alte‹ Nagelschmiede. Worin die Novelle das Idiom aus ihrem Titel gleichsam didaktisch in eine wortwörtliche Bedeutung auflöst: Kabys schmiedet schlussendlich ganz konkret. Dem Tun, nicht dem Bedeuten gilt der letzte Satz. Inszeniert und zurückgewiesen wird also in dieser Novelle – wie in weiten Teilen des Keller’schen Oeuvres351 – ein autonomer Zeichengebrauch, der den Blick für die bestehenden Kontexte und mithin für die Realität der Diegese aufgegeben hat. Die fi ktionale Konstruktion neuer wirklicher Zusammenhänge scheitert an ihrer Kollision mit den bereits vorhandenen. Der Schmied seines Glückes thematisiert hierin den, mit Claus-Michael Ort352 gesprochen, prekären Doppelstatus des realistischen Zeichens zwischen (freier) Funktionalität und Motiviertheit. Der Zeichenproduzent Kabys, der seine Herkunft durch immer neue Signifi kate frei verkleidet (neue Namen, neue Familienzusammenhänge), bleibt in dieser Aktivität stets metonymisch identifizierbar: als eben derjenige, der sich regelmäßig qua Namensgebungen neue Rollen schafft . Entsprechend führt die Spur der Umbenennungen auf eine Erstbezeichnung im Taufnamen Johannes (im Namen des Täufers!) zurück. Diese Identifi kation des Handlungsträgers wird zur Ausgangsbedingung des semiotischen Identitätsspiels. Ohne die metonymische Situierbarkeit des Phantasten Kabys, d.h. ohne ein mitgeliefertes Wissen um seine Herkunft und sein beständiges Projekt, ist die Phantasieleistung der Ahnenchronik nicht erzählbar (und nicht satirisch relativierbar). Dass die Erzählung darin gleichfalls auf den pseudo-romantischen Willkürakt von Litumlei und Kabys angewiesen ist, ja ohne diesen keinen Interessepunkt besäße, gehört ebenfalls zur doppelten Verfahrenslogik des Poetischen Realismus. Erzählt werden kann nur, wo Zeichen eine zeitlang in Spannung zur metonymischen Basisarbeit treten. Es braucht isolierte bzw. dekontextualisierte Zeichen, damit die Metonymisierung auf stabile Kontexte hin poetisch notwendig erscheint. Bei Ort war diese Metonymisierungsleistung in ihrer genealogischen Erscheinungsform diskutiert worden (das Bild des Meretleins im Grünen Heinrich z.B. wird über seine Entstehungsgeschichte verortet und entproblematisiert). In der Novelle um John Kabys trifft man demgegenüber auf eine Kopräsenz von freier Funktionalität (intradiegetische Erfindung der Ahnenchronik) und Motiviertheit (Handlungszusammenhang,

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Martin Böhler: »Fettaugen über einer Wassersuppe« – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller. Die Diagnose einer Verselbständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe. In: Thomas Koebner/Sigrid Weigel (Hg.), Nachmärz. Der Ursprung der Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation, Opladen 1996, S. 292–305. Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit.

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der von der extradiegetischen Instanz abgesichert vorliegt). Die Auflösung erfolgt hier in der schlussendlichen Integration des Protagonisten in den Arbeitskontext Seldwylas. Ein Ende »im toten Winkel modernen Wirtschaftens«353, wo er gleichsam privat unausgefüllt bleibt.354 Die Kritik an autonomer Zeichenbildung, wie sie diese Novelle vorführt, durchzieht in einzelnen Elementen das gesamte Erzählwerk des Realismus. Das Namensmotiv als Indikator gestörter Kontextverhältnisse ist topisch. Es findet sich nicht nur in der Pseudonymsuche des albernen Kaufmanns und Modeliteraten Viktor Störteler (Kurt vom Walde) in Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe oder bei dem ungetauften schwarzen Geiger in Romeo und Julia auf dem Dorfe. Auch Wilhelm Raabes jüdischer Kosmopolit Moses Freudenstein alias Theophile Stein (in Der Hungerpastor) ändert seinen Namen zum Zwecke der Neudefinition seiner sozialen Rolle. In Sturmflut wiederum kehrt sich vermittels derselben Logik das Verhältnis um. Hier benutzt eine Gruppe von Gründerzeitspekulanten den scheinbar für Solvenz und Anstand bürgenden Namen des Grafen Golm (»Wir brauchen absolut einen hochadligen Namen nach oben und nach unten«355), um einen Aktienschwindel zu initiieren. Stets wird dabei die Entkoppelung von Namenszeichen und überkommenen Kontexten als ebenso moderner wie problematischer Akt geschildert. Bildersturm und Referenzverlust in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich Wo Zeichen ihren Referenzraum verlieren, da steuern realistische Handlungsverläufe auf Krisen zu. Kaum eine Szene macht dies deutlicher als jene im Grünen Heinrich, in der der Protagonist Lee am Tiefpunkt seiner missratenen Künstlerkarriere in der Residenzstadt ein abstraktes Gemälde herstellt. Eine »Kritzelei« wie »ein ungeheures graues Spinnennetz« bringt er relativ ungesteuert auf die Leinwand.356 Ein Bild ohne eigentliche Gegenständlichkeit, ohne Vorbild in der Welt und damit ohne ein, im restlichen Roman stets angestrebtes, mimetisches Verhältnis zur Umgebung. Das Bild schließt seinen sukzessiven Rückzug ins eigene Seelenleben ab. Schon zuvor hatte Lee in der Residenzstadt sein Projekt der realitätsgetreuen Landschaftsmalerei, in Ermangelung von Ausflügen in die Natur, fallen gelassen. An seine Stelle trat eine freie Kombinatorik mit mythischen Versatzstücken357, die der Künstlerkollege Lys 353 354

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Selbmann: Gottfried Keller, S. 85. Kabys ist im Schlussbild auf Junggesellenschaft abonniert und rückt damit in die Nähe der Entsagungsfigur Pankraz. Auf diesen offen gehaltenen Riss im Glückskonzept des Helden verweist Allan Corkhill: Good Fortune Maketh the Man? Notions of ›Glück‹ in the »Seldwyla« Novellas. In: Hans Joachim Hahn/Uwe Seja (Hg.), Gottfried Keller, »Die Leute von Seldwyla«. Kritische Studien – Critical Essays, Oxford, Bern et al. 2007, S. 25–45, hier: S. 43. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 278. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 263. Das Ausweichen des Protagonisten vor der Natur und die Flucht in Bildkompositionen, die nicht auf Anschauung beruhen, stellen ein – stets als problematisch markiertes –

bereits bei der Erstbegegnung mit Lee als Werk eines »Spiritualisten« identifiziert.358 Mit der Auflösung der Gegenständlichkeit aber gehen Protagonist und Roman einen Schritt weiter. Hier trifft man nicht mehr auf die konventionelle Syntax des Bildes, die ansonsten im Roman in ausgiebigen ekphrastischen Passagen wiedergegeben ist. Statt Wäldern, Bergen, Städten usw. entsteht vielmehr ein »unendliches Gewebe von Federstrichen«, das der Erzähler entsprechend nicht mehr referenziell, sondern über mehrere Analogiebildungen kontextualisiert: Einem ›Netz‹, einem »Labyrinth« oder »unsinnigen Mosaik« gleiche die Federzeichnung.359 Dabei sind die Analogien selbst metaphorisch auf das Bewusstsein des Künstlers Lee bezogen, insofern sich in dem Labyrinth »kleinere oder größere Stockungen, gewisse Verknotungen in den Irrgängen meiner zerstreuten gramseligen Seele« niederschlagen.360 Der Diskurs des Erzählers allegorisiert also den Formverlust des bildhaften Gegenstands zum Zeichen der Ich-Krise und kompensiert diese dadurch. Die Narration, die sich auch hier weiterhin in einer konventionellen und intakten Textur der Erzählung niederschlägt, hebt dergestalt künstlerisch auf, was intradiegetisch als maximaler Tiefpunkt des Protagonisten zu gelten hat. Wie sehr dieser künstlerische Ausbruchsmoment Lees, den die Literatur- und Kunstwissenschaft gern als visionäre Antizipation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts deutet361, im Roman als krisenhaft figuriert, zeigt die anschließende gemeinschaftliche Zerstörung dieses Bildes durch Lee und Erikson. Und doch bleibt die Krise eine immanente, rein auf die Handlungsebene bezogene. Die Erzählinstanz zeigt sich von dem Kontext- und Stabilitätsverlust des Protagonisten unbeeinträchtigt.362 Der Zerfall der Darstellungsfunktion als Endstadium einer Verselbstständigung der Zeichen, als Exzess einer freien, fi ktionalen Kombinatorik – dieser Zerfall betrifft je nur das narrativ Vorgeführte, keineswegs die Erzählung selbst. Diese nutzt solche ›metasemiotischen‹ Szenen (Claus-Michael Ort) vielmehr, um sich funda-

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Motiv des gesamten Romans dar. Die vom Roman diskreditierte Kunst Lees rückt in die Nähe der Romantik bzw. nahe an die Kunst der Nazarener. Vgl. Franziska Schößler: »Fleißige Tätigkeit in lebendigem Menschenstoffe.« Die Vision körperlicher Kunst und ihre immanente Poetik in Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich«. In: Sprachkunst, Jg. 28 (1997) Heft 2, S. 181–198, hier: S. 182. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 158. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 263. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 263. Vgl. Günter Hess: Die Bilder des Grünen Heinrich. In: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, München 1995, S. 373–395, hier: S.  385–389; ebenso Hartmut Laufhütte: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman »Der grüne Heinrich«, Bonn 1969, hier: S. 277, Fn. 176; jüngst Kittstein: Gottfried Keller, S. 73. Die Analyse der Landschaftsansichten und der Ekphraseis im Roman erhärtete unlängst noch einmal die These, dass der Roman den Sieg des Erzählers über den Maler inszeniere: Vgl. Ernst Osterkamp: Gottfried Kellers erzählte Landschaften. In: Sabine Schneider/ Barbara Hunfeld (Hg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 237–253.

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mentaler Dichotomien zu vergewissern: des Unterschieds zwischen gegebenen Kontexten und gemachten, zwischen dem Natürlichen und Künstlichen, zwischen Schein und Sein. Von hier aus stellen die Texte Fragen nach der Übertragbarkeit: Welche gemachten Zeichen lassen sich noch kontextualisieren? Wie ist ein Bild beschaffen, das ›das echte Leben‹ darstellt; wann wird es zu abstrakt? Indem die Texte dabei ihre Pointen (wie in Der Schmied seines Glückes gesehen) deutlich zugunsten der Seite des Echten und zuerst Gegebenen hin ausschlagen lassen, bezeugen sie, dass eine realistische Semiotik stets die Pragmatisierbarkeit der Zeichen, die Übertragbarkeit und Einfügung in vorab definierte Zusammenhänge und mithin die Metonymisierung des isoliert Zeichenhaften anpeilt. Realismus ist in diesem Sinne die Kunst, passgenau zu arbeiten. Ebendas hatte Fontane363 herausgestellt, als er die Kunst in letzter Instanz als Verlängerung des Lebens begriff: Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist, als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist.364

Realismus defi niert sich hierin über eine maximale Übertragbarkeit, die sich in der beabsichtigten Überwindung der Grenzen zwischen ›erlebtem und erdichtetem Leben‹ niederschlägt. Welche Konsequenzen diese Denkfigur für die Bearbeitung ökonomischer Stoffe besitzt, wird im dritten Kapitel dieser Arbeit zu verfolgen sein. 2.3.2.2. Zusammenfassung – Sanfte Gesetze und das Textverfahren des Realismus Bevor im Folgenden die Implikationen realistischer Poetik für die Gestalt ökonomischer Texte und mithin der kulturalistische Ansatz der realistischen Ökonomie untersucht werden, seien die vier Kernmomente realistischer Textverfahren noch einmal festgehalten: 1) Der Bau realistischer Diegesen erfolgt über eine metonymische Aneignung von extratextuell gegebenen Zeichenkontexten und erzeugt darin überhaupt so etwas wie einen Wirklichkeitseffekt der Texte. 2) Intratextuell wird das Zeichenmaterial formalpoetisch integriert, etwa über Rekurrenzen, Gegensatzbildungen oder Parallelisierungen. Diese Verfahren reduzieren und ordnen das, was als kontextuelle Komplexität wahrgenommen wird, und sorgen so dafür, dass im Buch eine übersichtliche, verklärte ›Welt‹ entsteht. 3) Diese dargestellte Welt wiederum muss Momente von Bedeutsamkeit in sich enthalten, also einen abstrakteren idealen Zusammenhang im Zuge des Handlungsgeschehens mitartikulieren. Darin liegt die semantische Dimension der Verklä-

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Und nicht nur er; vgl. die Abschnitte 2.2. und 2.3. dieser Arbeit. Fontane: Roman-Reflexe, S. 269.

rung. Als Vergleiche, Allegorien, Symbole oder bloße Konnotationen können die Zweitcodierungen realisiert sein. 4) Realistische Diegesen sind nicht vollständig durch einen Code überformt; sie führen vielmehr eine Pluralität von Codierungen konkurrierend ins Feld. Wobei Bedeutsamkeitsmomente regelmäßig mit ihrer Metonymisierung einhergehen (was in der Lektüre als Rückführung des poetischen Moments in das bloße Handlungsverständnis auffällt). Diese genuin dynamische, nichtmodellhafte Verfassung des realistischen Textes, die seine Offenheit gegenüber dem idealen Bezugssystem ausmacht, wird über die topische Figur der Entsagung markiert. Entsagung ist somit nicht nur intradiegetisch relevant (als Handlungsmoment), sondern auch poetologisch: als Mittel der clôture, die den ›realistischen Weg‹ der permanent verbrauchten Bedeutungsproduktion als prinzipiell unabschließbar ausweist. Insofern sich die beschränkte Reichweite der Bedeutsamkeitscodes über Rekurrenzen auf der Darstellungsebene erschließt (wie mit Geppert erläutert), sind das formale Moment der Verklärung (2), das nichts anderes als die poetische Funktion der Sprache (Roman Jakobson)365 aktualisiert, und das semantische (3) eng aufeinander bezogen. Der Nachvollzug des ›realistischen Weges‹ als Geschichte des ›Verbrauchens von Codes‹ geschieht nicht unabhängig von der formalpoetischen Organisation. Die Unterscheidung ist also eine heuristische. Die Gesamtheit der verklärenden Verfahren steht in einem Spannungsverhältnis zur metonymischen Textarbeit. Gegenüber der bloß alltäglichen Zeitungsprosa definiert sich die Literatur als Ort der Poetisierung, d.h. letztlich über ein Mehr an Äquivalenzstrukturen auf der syntagmatischen Ebene des Kunstwerks (2); gegenüber stärker verdichtenden Literaturen, wie etwa der romantischen, liegt das Realismusmerkmal hingegen im Kontingenzmoment, d.h. in der metonymische Partizipation am ›Wirklichkeitsstoff‹ (1). In dieser Mittelstellung liegt ein prekärer Status. Otto Ludwigs hochgradig verklärte Fabel von Zwischen Himmel und Erde etwa galt in der zeitgenössischen Kritik366, allen voran bei dem vergleichsweise idealistisch gestimmten Literaturtheoretiker Rudolf Gottschall, als zu profan realistisch, wegen des umfangreichen Sachwissens aus dem Schieferdeckergewerbe, das der Text mit behandelt.367 So verlaufen die Debatten um den Realismus-

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Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 83–121, hier: S. 94. In Auszügen fi nden sich Kritiken von Julian Schmidt, Heinrich Treitschke und Karl Gutzkow in der einschlägigen Dokumentensammlung Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, hg. von Max Bucher/ Werner Hahl/Georg Jäger/Reinhard Wittmann, 2 Bde., Stuttgart 1975/1976, hier: Bd. 2, Stuttgart 1975, Nr. 65, 66, 68. Vgl. Rudolf Gottschall: Kritik des Realismus [gekürzte Fassung des Aufsatzes »Novellenliteratur« 1856]. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart 1997, S. 124–126, hier: S. 124f.

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gehalt des Kunstwerks stets über Abwägungen zwischen seinen metonymischen und poetischen Anteilen. Was die Weisen der Zweitcodierung anbelangt (3), so zeigen bereits die unterschiedlich akzentuierten Korpora von Geppert und Ort die vielfältigen Möglichkeiten der Bedeutsamkeitsbezüge an. In den realistischen Bildungs- und Gesellschaftsromanen, die Geppert diskutiert, sind es aktuellere, zeitgenössische Kontexte wie Ehevorstellungen, politische, anthropologische, ästhetische oder philosophische Positionen, die im Handlungsfortgang aufgerufen und durchgespielt werden.368 Ort behandelt demgegenüber mit Kellers Meretlein-Kapitel oder Storms Schimmelreiter bevorzugt religiöse oder am Volksglauben haftende romantische Bedeutungshorizonte, die über verschachtelte Erzählrahmen gewissermaßen als ältere Schichten des kulturellen Archivs aufgerufen werden. In jedem Fall handelt es sich bei den Rahmen für die Zweitcodierung um eine je vorgängige Allgemeinheit, in der das konkrete Plotgeschehen paradigmatisch verortet werden kann. Die semiotische Spannung zwischen metonymischer Bildung der Sequenz und Paradigmatisierung auf zweiter Ebene, die das ›Verbrauchen der Codes‹ ausmacht, ist denn intradiegetisch eine Spannung zwischen einer Kette von Einzelereignissen und vorab gegebenen Möglichkeiten ihrer Klassifi kation. Dass die Parameter dieser Poetologie in Auseinandersetzung mit idealistischen Philosophien ausgebildet wurden und also schon von vornherein nicht auf den literarischen Bereich beschränkt sind, ist bereits angeklungen. Inwiefern sich hierin tatsächlich ein diskursübergreifender Denkzusammenhang formt, der auch für die Nationalökonomie des Realismus bestimmend ist, lässt sich an Adalbert Stifters berühmter Vorrede zu den Bunten Steinen (1852) ersehen. Stifter unterlegt darin den Charakteristika seiner Textgestaltung eine weltanschauliche Dimension, indem er seine »Literatur des Kleinen und Gewöhnlichen« auf ein Verhältnis zwischen Einzelerscheinung und allgemeiner Gesetzmäßigkeit zurückführt, das im Gegensatz mächtig/furchtbar/offensichtlich (das »Auffällige«) vs. sanft/zunächst verborgen (vom »Menschenforscher« zu erblicken) erfasst wird.369 Darin ist die für den Realismus konstitutive Dichotomie von Oberfläche und Tiefe angelegt. Mit Oberfläche sind zunächst Kontingenzen und Ausnahmeerscheinungen in der Natur assoziiert (Erdbeben etc.), mit Tiefe hingegen das Regelmäßige und Moderate. Erst durch den Rekurs auf die Tiefendimension wird eine Auswahl innerhalb der Einzelerscheinungen möglich, wird das ›Kleine‹, ›Unbedeutende‹ oder ›Gewöhnliche‹ darstellungswürdig. In einer anthropologischen Wendung macht Stifter diese Dichotomie dann für die Verhältnisse der »inneren Natur« geltend und stößt hier auf ein Gegensatzpaar,

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Einschlägig hierfür sind die umfangreichen und akribischen Diskussionen zu Kellers Der grüne Heinrich in Geppert: Der realistische Weg, S. 263–480 (Kapitel 5). Vgl. Adalbert Stifter: Vorrede [1852]. In: HGK, Bd.  2,2 (Bunte Steine. Buchfassungen), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982, S. 9–16, hier: S. 13f.

das auch für die zeitgenössischen ökonomischen Reflexionen, wie bereits gesehen370, eine fundamentale Bedeutung besitzt: Die Geschichte der Menschen sei bestimmt durch einen Widerstreit zwischen Eigennutzen (»Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen«) und Altruismus (»das Gesez der Gerechtigkeit das Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe«).371 Im Gesetz finden sich die Einzelerscheinungen austariert und harmonisiert. Und doch bleibt dieses Gelingen stets zeitlich beschränkt. Stifter greift auf die topische Zyklen-Metaphorik zurück, wenn er das Zusammen- und Auseinandertreten des Einzelnen historisiert: Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen. Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach dem Einzelnen aus, sie werfen sich mit kurzem Blike auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie sezen das Bedingte über das Allgemeine.372

Die Idealität im Besonderen kann keine Permanenz beanspruchen. Sie taucht je nur als verschobene auf, als schon verwirklichte oder erst noch zu verwirklichende. Harmonisierte und antiidyllische Wirklichkeit stehen – das ist das realistische Basistheorem – stets offen gegeneinander. Weshalb denn Stifter auch, zum poetologischen Grundgedanken der Vorrede zurückkehrend, standardgemäß mit einer Entsagungsformel schließt: »[S]o sei mir erlaubt zu sagen, daß ich in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes manche Erfahrungen zu sammeln bemüht gewesen bin, und daß ich Einzelnes aus diesen Erfahrungen zu dichtenden Versuchen zusammengestellt habe; aber meine eben entwikelten Ansichten und die Erlebnisse der leztvergangenen Jahre lehrten mich meiner Kraft zu mißtrauen«.373 Diese Pathosformel gibt nichts anderes als den common sense der zeitgenössischen Literatur wieder: Realismus, das ist ein Schreiben aus der Differenz von Einzelnem (Achse der Metonymie) und Allgemeinem (Zweitcodierung). 2.3.3.

Der kulturalistische Ansatz der Ökonomie

2.3.3.1. Der kulturalistische Ansatz bei Wilhelm Roscher In welcher Weise aber werden diese komplexen Textverfahren nun auch in der historistischen Nationalökonomie wirksam, treten sie zu einem realistischen Denk- und Schreibstil zusammen, der für das postrevolutionäre Wissen im 19. Jahrhundert prägend wird? Es war bereits gesagt worden, dass sich das Verhältnis von Repräsentativität und Partikularität im ökonomischen Text eine Stufe abstrakter als in der Literatur

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Vgl. dazu Abschnitt 1.2.2. dieser Arbeit. Stifter: Vorrede, S.  13 [Orthographie hier und im Folgenden wie im Original, Anm. Ch. R.]. Stifter: Vorrede, S. 15. Stifter: Vorrede, S. 16.

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gestaltet. Die Anekdote erscheint hier immer schon als Exemplum einer im Text stets mitrepräsentierten Allgemeinheit. Und diese Allgemeinheit ist keine systemische, sondern eine historische und betrifft als solche eine spezifische Kultur. Man betrachte noch einmal, wie Wilhelm Roscher in seinem Lehrbuch den fundamentalen Begriff des Gutes einführt, um zu sehen, welche Form von Universalität hier erzielt werden soll. »Güter nennen wir alles dasjenige, was zur mittelbaren oder unmittelbaren Befriedigung eines wahren menschlichen Bedürfnisses anerkannt brauchbar ist«, heißt es da374, und die entsprechende Fußnote führt aus, dass damit der Grundbegriff der Volkswirtschaftslehre sogleich als Gegenstand »ethischer, wie psychologischer Untersuchung«375 festgelegt sei. Damit ist zunächst gesagt, dass ökonomische Größen einem subjektiven Werturteil entspringen. Der Mensch legt fest, was ihm als Gut gilt. Doch fasst die Historische Schule der Nationalökonomie diese Subjektivität gänzlich anders auf als etwa die neoklassische subjektive Werttheorie, die Carl Menger formuliert. Denn die Pointe der Menger’schen Werttheorie liegt in einer konsequent individualistisch aufgefassten Urteilsfunktion.376 Im je einzelnen Verhältnis zwischen Bedarf und verfügbaren Mitteln entsteht der ökonomische Wert eines Gutes, d.h. die je spezifische Wahl wird zum Ergebnis eines abstrakten Größenvergleichs. Menger zielt mithin auf ein Haushaltskalkül, das die Materialität in eine reine Funktionalität überführt. Und dieses Kalkül besitzt als solches eine maximale Allgemeinheit. Jeder Mensch vergleicht zwischen Mitteln und Bedarf, und die Gesamtheit einer Wirtschaft ist demnach nicht mehr und nicht weniger als das Aggregat aller einzelnen Haushaltsentscheidungen. Dieser individualistischen, mikroökonomischen Interpretation wirtschaft lichen Handelns vermag sich die Historische Schule nicht anzuschließen. Denn sie denkt inhaltlich. Das je einzelne Urteil, von dem auch sie ausgeht, erscheint ihr stets als vermitteltes, als intersubjektive Größe im Wertehorizont einer jeweiligen Kultur.377 Von Roscher, Knies und Hildebrand bis hin zu den jüngeren Ökonomen der Historischen Schule um Schmoller wird dieser Horizont als ›Sittlichkeit‹ angesprochen, wodurch die Richtung ihren Beinamen einer »ethischen« Nationalökonomie erhielt.378 Ihr Interesse gilt entsprechend nicht funktionalen Kalkülen, sondern den jeweiligen kulturell realisierten Wahlentscheidungen. So liest man in der Güterdiskussion bei Roscher weiter:

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 2. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 3, Fn. 9. Siehe die Abschnitte 2.2.3. und 4.2.1. dieser Arbeit. Fritz K. Rieger hat diese Orientierung auf die Allgemeinheit, auf das Ganze des ›Kulturstaates‹, als besonderes Merkmal des deutschen Mandarinentums herausgearbeitet. Vgl. Fritz K. Rieger: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933 [engl. 1969], übers. von Klaus Larmannn, Stuttgart 1983, S. 113–115 sowie (zu Ökonomie und Sozialpolitik) S. 134–152. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, § 209, S. 1034.

Der Begriff eines Gutes also ist wesentlich relativ. Mit dem Wechsel unserer Bedürfnisse, unserer Einsichten verändern sich auch bald die Gränzen, bald die Höhenverhältnisse des Güterreiches.379

Und die begleitende Fußnote setzt für dieses ›unser‹ einen konkreten Handlungsträger ein: Ein Araber half eine Karawane plündern und erbeutete eine Kiste mit Perlen. Er hielt diese für Reis, gab sie zum Kochen an seine Frau, und als sie gar nicht mürbe werden wollten, warf er sie weg. (Niebuhr Beschreibung von Arabien, 383.)380

Diese kommentarlose Erzählung macht durchaus starke Lektürevoraussetzungen. Leicht könnte man zu einer individualistischen Deutung gelangen: Handelt es sich hier nicht um die eigentümliche Haushaltsführung eines arabischen Hilfsplünderers? Sind Haushalte also doch individuell bestimmt, je nachdem, was ein Einzelner nun eben braucht und was nicht? Und dürfte das dann nicht als repräsentativ für die menschliche Ökonomie überhaupt gelten? Alle Menschen bewerten je nach ihren situativen Gebrauchszusammenhängen, ob etwas für sie ein Gut darstellt oder nicht. Die moderne Grenznutzenökonomie (Menger) würde vermittels einer solchen Abstraktion das Beispiel auf seinen verborgenen Strukturierungszusammenhang hin lesen. Das Exotische löste sich dann im Immer-schon-Vertrauten auf: dem allgemein menschlichen Begehren nach Optimierung der eigenen Haushaltsführung. Tatsächlich finden sich auch in Mengers Texten zahlreiche vergleichbare ethnologische Einsprengsel. Aber das Andersartige und Exotische wird dort seiner traditionellen Semantik entkleidet. Es gilt eben nicht, das Fremde zu bezeichnen, sondern das Nächstliegende: eben das Optimierungsdenken, das jede menschliche Tat auszeichnet. Einer solchen systemischen Abstraktion entzieht sich die Historische Schule der Nationalökonomie konsequent. Bei Roscher bleibt die Semantik des ›Anderen‹ samt allen exotischen Konnotationen erhalten. Die beabsichtigte Generalisierung ist hier keine – in Roschers Worten – ›idealistische‹, sondern eine kulturrelativistische. In der Rahmung zwischen ›unser‹ (im Haupttext) und dem angefügten Quellentitel ›Beschreibung von Arabien‹ wird der Fokus auf ein Kollektivsubjekt gelenkt: den Araber. Es geht um dessen kulturtypische Wertzuschreibungen, um die darin manifeste kulturelle Differenz (zur Erzählsituation um 1850) und mithin um die auch ohne Kommentierung verlässliche Einsicht: andere Länder, andere Sitten – und andere Güter. Genau diese Differenzierung wiederholt sich in der Performanz381 der Anekdote: Eine vermeintliche Beute entpuppt sich als wertlos und hätte doch höchst

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 2. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 1, S. 3f., Fn. 11. Von Performanz ist hier die Rede in Bezug auf die Kommunikationssituation Erzähler – (Modell-)Leser.

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wertvoll sein können. Diese ironische Pointe382 funktioniert nur gegenüber einem Außenstandpunkt, der über einen differenten Güterhaushalt, inklusive einer Wertschätzung von Perlen, verfügt. Bei Roscher konnotiert das Beispiel also ein ›Wir sind anders‹ (die Zeiten ändern sich). Diese Andersheit erweist sich als irreduzibel, wenn forschungsprogrammatisch das Manifeste der Kulturen anvisiert ist, wenn es um die Inventarisierung und Abgrenzung ihrer jeweiligen Güter und Einstellungen geht. Eine gleichförmige produktive Struktur hinter den Einstellungen des Arabers (ein Haushaltskalkül also) wird hier nicht gesucht. Dieser Verzicht auf ein einheitliches transhistorisches Handlungsmodell richtet die anschauliche Arbeit der realistischen Nationalökonomie in eigentümlicher Weise aus. Wenn die Repräsentation fremder Wirtschaftskulturen nicht auf strukturäquivalente Handlungsabläufe abzielt, worin liegt dann ihr Zweck? Roscher gibt das Anliegen seines Lehrbuches, das ›Geschäftsmänner und Studierende‹ in die historische Betrachtungsweise einüben soll, richtungweisend für seine und die folgende Generation deutscher Nationalökonomen an: Wir möchten den Leser daran gewöhnen, daß er bei der geringsten einzelnen Handlung der Volkswirthschaftspflege immer das Ganze, nicht bloß der Volkswirthschaft , sondern des Volkslebens vor Augen hat. Insbesondere sind wir der Meinung, daß nur derjenige recht beurtheilen und sein Urtheil gegen Einwürfe aller Art vertheidigen kann, wo, wann und warum z.B. die aliquoten Reallasten, die Naturaldienste, Zunft rechte, Compagnieprivilegien etc. abgeschafft werden müssen, der vollständig erkannt hat, weßhalb sie zu ihrer Zeit eingeführt werden mußten. Ueberhaupt wollen wir denjenigen, welche sich unserer Führung anvertrauen, nicht etwa eine Masse Verhaltungsregeln einprägen, von deren Vortrefflichkeit wir sie zuvor überredet hätten, sondern unser höchster Wunsch geht dahin, daß sie in Stand gesetzt werden, frei von jeder irdischen Auctorität, aber nach gewissenhafter Abwägung aller Umstände, sich selbst Verhaltungsregeln für die Praxis zu schaffen.383

Zweierlei wollen die historisch-nationalökonomischen Fallstudien also leisten. Zum Einen zielen sie auf eine kulturalistische Interpretation der Volkswirtschaft aus dem ›Volksleben‹ und seinen Institutionen (›Naturaldienste‹, ›Zunftrechte‹ etc.) heraus. Zweitens soll der Leser in den Stand versetzt werden, von den historischen Bedingungen auf gegenwärtig neu zu formulierende ›Verhaltungsregeln‹ zu schließen. Die Geschichte erhält, so gesehen, einen Gleichnischarakter. Wobei es sich um ein genuin offenes, und das heißt im Sinne Gepperts, um ein realistisches Gleichnis handelt. Denn wo die Gemeinsamkeit mit der geschichtlichen Situation nicht schon deduktiv vorausgesetzt ist – wie etwa im abstrakten Handlungsmodell der Neoklassik –, da verlaufen Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Semiosphären, dem Wirtschaftsleben gestern und heute, in induktiven, stets revisionsfähigen Interpre-

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Nicht zu übersehen ist natürlich auch die latente Didaxe, die sich über primitive Formen von Besitzergreifung hinwegsetzt: Gewalt führt zu nichts. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 29, S. 64.

tationen.384 Diese Interpretationsleistung wird dem Leser abverlangt. Topisch sind in den Einleitungen der historischen Fallstudien nach Roscher die Hinweise, dass es sich bei ihnen um Beiträge zu den politischen Belangen der Gegenwart handelt. In den Texten selbst muss man dann sehr genau hinschauen, will man etwa die Regulierung des Tuchergewerbes in Straßburg um 1300 mit der ›sozialen Frage‹ des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Beziehung bringen. Der Gleichnischarakter wird stets mitgedacht, aber im Gang der Untersuchung selten expliziert. Der induktivistische Zug 385, der in dieser offenen Lektüreanweisung mitschwingt, verdankt sich, eine Stufe genereller betrachtet, den Prämissen der realistischen Methodologie, die bis hin zu Gustav Schmoller die ökonomische Arbeit dieser Schule prägen.386 Zwar erläutert Schmoller, dass induktive und deduktive Forschung aufeinander angewiesen sind wie »der rechte und der linke Fuß zum Gehen«; die Gesetzeserklärung (Deduktion) zeigt sich aber nachgeordnet und müsse, heißt es, insbesondere im Bereich der »komplizierten Phänomene«, etwa sozialer Fragen, einstweilen als untaugliches Verfahren zurückgestellt werden.387 Die Gesetzeserkenntnis wird für die noch (zu) junge Wissenschaft der Nationalökonomie aufgeschoben bzw. als nicht zeitnah einzulösendes Forschungsversprechen ausgegeben, um den realistischempiristischen Spezialuntersuchungen das Feld freizuräumen. Das in dieser Hinsicht bewusst entsagungsbereite Forschungsprogramm, das mit ganzem Stolz allein »Vorarbeiten für die allgemeine Theorie« verspricht388, verläuft dann nach dem Schema: Sammlung besonderer Fälle – Ordnung und Klassifi kation – Feststellung von Zusammenhängen – (in ferner Zukunft:) Rückschluss auf Gesetzmäßigkeiten.389 In der Offenheit dieses Schemas, das gegen die systemische und reduktionistische Geschlossenheit abstrakter Forschung gestellt wird, liegt der induktivistische Grund-

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Vgl. Milford: Roschers historische Methode; sowie – zu Schmoller – Helge Peukert: Das Handlungsparadigma in der Nationalökonomie, Marburg 1998, S. 64–76. Vgl. hierzu die Charakteristik der Schmoller’schen Methode als ›empirischer Realismus‹ bei Rüdiger vom Bruch: Gustav Schmoller. Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft . In: Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Björn Hofmeister/Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 230–249, hier: S. 245f. Vgl. zu den Grundzügen der Methodologie Schmollers Aliki Lavranu: Deskription, Kausalität und Teleologie. Zu Gustav Schmollers methodologischen und wissenschaftstheoretischen Positionen im Anschluß an den ›Methodenstreit‹. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft , Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 181–206. Gustav Schmoller: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode [1893]. In: Gustav Schmoller, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 263–364, hier: S. 343 u. S. 344. Gustav Schmoller: Zur Methodologie der Staats- und Sozial-Wissenschaften [1883]. In: Gustav Schmoller, Historisch-ethische Nationalökonomie. Ausgewählte Schriften, hg. von Heino Heinrich Nau, Marburg 1998, S. 159–183; vgl. auch Schmoller: Die Volkswirtschaft , die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, S. 317. Vgl. Peukert: Das Handlungsparadigma in der Nationalökonomie, S. 70.

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zug, der die realistische Disposition charakterisiert und bereits im Zusammenhang der literarischen Textproduktion (mit Geppert) erläutert wurde. Inwiefern liegt nun aber in der institutionenökonomischen Ausrichtung der Nationalökonomie, die Roscher programmatisch vorgibt, ein Anschluss an das realistische Verklärungsdenken? Um diese Frage zu beantworten, müssen die verschiedenen Erscheinungsformen dualistischen Denkens in den Blick genommen werden, die in den nationalökonomischen Texten produktiv werden. Regelmäßig tauchen in den ökonomischen Untersuchungen dieser Schule zwei Achsen auf: 1) Unter dem Begriff des ›Kulturfortschritts‹ wird bevorzugt die Kapitalanhäufung globalgeschichtlich abgehandelt. Die Rede ist dann von ›den Menschen‹ im Sinne von ›Menschheit‹, von ›Wachstum‹, von ›höher‹ und ›niedriger‹, ›mehr‹ und ›weniger‹. »[S]o leuchtet es doch wieder ein«, schreibt Roscher über die Ökonomie des Altertums, »daß die Gesammtmasse der aus der Vergangenheit überlieferten Fonds [an Kapital] regelmäßig im Wachsen begriffen« ist.390 Dieser Zuwachs an Produktionsmitteln (also Kapitalien), den etwa die Freihandelsschule um John Prince-Smith (1809–1874) im Anschluss an die englische Klassik als Alleinzweck der wirtschaftlichen Tätigkeit propagiert, ist rein additiv. Dinge entstehen aus anderen Dingen, werden aufgespart, taugen zur Produktion neuer Dinge. Es sind metonymische Basisrelationen, die hierin festgelegt sind. Eine angemessen offene Klassifi kation finden diese Metonymien typischerweise in Stufenmodellen, deren zeitgenössisch prominentestes Bruno Hildebrand in seinem Aufsatz Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft (1864) erarbeitet hat. 2) Vertikal zu dieser Achse des metonymischen Fortschritts legen die Texte der Historischen Schule ein zweites Paradigma an, das mit dem sehr allgemeinen, zeitgenössischen Begriff der ›Sittlichkeit‹ umrissen ist. In dieser Dimension geht es nicht um das je einzelne, kontingente Tun, sondern um Handlungsregeln, eben Institutionen, die sich spezifische Gesellschaften selbst geben und die über einen längeren Zeitraum hinweg bindend sind. Mit diesen Institutionen wird eine normative Komponente in die historische Beschreibung der Volkswirtschaft eingeführt. ›Gute‹ und ›schlechte‹ Organisationen, ›gerechte‹ und ›ungerechte‹ Formen der Verteilung von Reichtümern werden hierin angesprochen. Zur Konzeptualisierung dieser Relationen stehen, wie bereits unter dem formalpoetischen Aspekt der Verklärung ausgeführt, Zyklen-Metaphoriken zur Verfügung, die Erscheinungen der ›Blütezeiten‹ gegen Krisensymptome abzugrenzen helfen.

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Wilhelm Roscher: Ueber das Verhältniß der Nationalökonomik zum klassischen Alterthume [1849]. In: Wilhelm Roscher, Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, dritte verbesserte und mit acht Abhandlungen vermehrte Aufl., Bd. 1, Leipzig, Heidelberg 1878, S. 1–50, hier: S. 18.

Erst über den Rekurs auf die Sittlichkeit erhält denn ein Sachverhalt seine Bedeutsamkeit, wird der metonymisch zu erfassende Handel mit Gütern kulturell kontextualisiert. Denn ob Güter als ›sittlich‹ oder ›unsittlich‹, ›krankhaft‹ oder ›gesund‹ erscheinen, hängt von ihrer Rolle in einem je spezifischen volkswirtschaft lichen Haushalt ab. Einschlägig führt Roscher über ›Luxusbedürfnisse‹ aus: Von zwei verschiedenen Völkern aber kann recht gut, was bei dem einen sträfliche Vergeudung war, bei dem andern heilsamer Lebensgenuß werden, falls nämlich ihre ökonomischen Kräfte verschieden sind. Bischof Berkley vergleicht das Verfahren der irischen Grundherren, ausländische Prunksachen und Leckerbissen durch Ausfuhr von Lebensmitteln zu bezahlen, mit dem einer Mutter, welche das Brot ihrer Kinder verkauft , um sich Putz und Naschwerk dafür anzuschaffen; dem gleichzeitigen Luxus der englischen Gentry ist er nicht entgegen.391

Das von Bischof Berkley entlehnte Aperçu zehrt von einem grellen Kontrast: Irland ist das Land, in dem man »von Kartoffeln lebt«, die Bevölkerung »folglich auf das geringste Nahrungsmittel schon reduziert ist«392; England stellt demgegenüber die leistungsfähigste Ökonomie der Neuzeit. Thematisiert werden aber nicht allein die Produktivitäten (die ›ökonomischen Kräfte‹). Es geht zudem um Verteilungsfragen: Wenn die Mehrzahl der Bevölkerung, wie in Irland, am Existenzminimum lebt, dann klafft zwischen den luxuriösen ausländischen Gütern und dem Konsum der Massen eine zu große Schere, was die Gütereinfuhr letztlich ›unsittlich‹ erscheinen lässt. ›Gesunder Luxus‹ setzt dagegen einen gestuften Verbrauch voraus, in dem die Naturbedürfnisse für die große Mehrheit der Bevölkerung befriedigt und die höheren Güter in Reichweite sind. Roscher schreibt demgemäß über den ›Luxus blühender Zeiten‹: Hat dieser Luxus in seinem ganzen socialen Charakter etwas Gleichheitliches, so setzt er insbesondere schon voraus, daß keine allzu schroffe Vermögensungleichheit im Volke stattfi ndet. Die gute Vertheilung des Nationalvermögens kann am besten eine gute Abstufung der Nationalbedürfnisse verbürgen.393

Dieses ist eine entscheidende Stelle in der Auffassung der realistischen Schule. Denn die Fokussierung auf Verteilungsfragen führt Roscher und seine Mitstreiter über die reine Wirtschaftstheorie hinaus in den Bereich wirtschaftspolitischer Erwägungen. Dem bloßen Marktallokationsprinzip (der Verteilung der Güter im Zusammenspiel von eigennützigen Produzenten und eigennützigen Verbrauchern) misstraut man programmatisch. Die Skepsis gegen das formelhafte ›Laisser faire‹ gehört, abseits der marktaffinen Freihandelsschule, zum Standardrepertoire nationalökonomischer Texte in Deutschland.394 Der Markt wird allgemein zwar als Motor des Güterzuwachses

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Roscher: Ueber den Luxus, S. 116f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 231, S. 630f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 230, S. 629. Vgl. exemplarisch Bruno Hildebrands Einleitungstext in der ersten Nummer seiner Jahrbücher, die zum maßgeblichen Publikationsorgan der Älteren Historischen Schule der

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akzeptiert, aber keineswegs als Instrument gerechter Verteilung angesehen. So formuliert Roscher in seiner Kritik am Optimismus der Freihandelsschule: Daß unsere Arbeiter sich jetzt materiell besser stehen als zu irgend einer früheren Zeit, mag man Prince-Smith [d.i. einer der Köpfe der Freihandelsschule] zugeben; sie könnten aber gleichwohl unglücklicher sein, falls ihre Bedürfnisse noch mehr gewachsen wären, als deren Befriedigungsmittel.395

Der absolute Zuwachs an Gütern, wie ihn die Freihandelsschule reklamiert, entscheidet noch nicht über Glück und Zufriedenheit einer Gesellschaft. Der Zuwachs muss weithin verfügbar sein, ansonsten divergieren Bedürfnisse und Befriedigungsmittel. Und ein Bedarf, der massenhaft unerfüllt bleibt, ist die Quelle von Ungemach und kritisch für das Gemeinwohl des Staates. Überlegungen wie diese führen Roscher auf ein Verteilungsideal des Nationaleinkommens, das in einer »Harmonie der großen, mittleren und kleinen Einkommen« besteht, wobei »das mittlere dabei vorherrscht«.396 Dieses Harmoniedenken, das Güter ganzheitlich kontextualisiert und in einem guten Mittelmaß austariert findet, bestimmt den gesamten Diskurs Roschers. Das Adverb ›regelmäßig‹ wird zum bevorzugten Motiv der Texte. Die Balance oder Mitte zweier Gegensätze erscheint als erstrebenswerter, wenngleich historisch stets prekärer Idealzustand, dem die nationalökonomische Forschung nachsinnt. Von hier aus erschließt sich denn, was Verklärung in der Volkswirtschaftslehre bedeutet: Es geht darum, durch alle partikularen geschäftlichen Interessenkonflikte hindurch die Harmonisierungspotenziale einer spezifischen Volkswirtschaft in den Blick zu bekommen. Oberhalb der produktionstheoretisch zu beschreibenden Güterherstellung siedelt Roscher einen Bedeutungsraum von Ordnung und Gleichmaß an. Es ist jene Sphäre, die bei Stifter, wie oben gesehen, als »das Gesez der Gerechtigkeit das Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe«, angesprochen und dem Eigennutzenprinzip gegenübergestellt ist.397 Diese Sphäre – darin liegt die Pointe – ist in ihren Begriffen nicht auf den profanen Bereich der Güterproduktion reduzierbar. Die Gerechtigkeit im Zusammenleben beugt sich keinem utilitaristischen Kalkül. Allerdings gilt die Ordnung auch nicht mehr, wie im Idealismus, als je realisierte integrative Totalität. Roscher und die Realisten arbeiten Ordnung und Harmonie des gesellschaftlichen Daseins vielmehr als Bedeutungshorizont für die akribischen Schilderungen des Wirklichen ein, der bevorzugt über Verweise und Vergleiche aufgerufen wird. Von

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Nationalökonomie avancierten, Hildebrand: Die gegenwärtige Aufgabe der Wissenschaft der Nationalökonomie, S. 10. Roscher: Geschichte der National-Oekonomik, § 205, S. 1019. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §  205, S.  570. Vgl. zur Harmonie der Vermögensverteilung auch Gustav Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke [1874–1875]. In: Gustav Schmoller, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 1–211, hier: S. 111f. Stifter: Vorrede, S. 13. Vgl. oben Abschnitt 2.3.2.2. dieser Arbeit.

den diversen religiösen Bezugnahmen in Roschers Lehrbuch war bereits die Rede. Ein »fast zweitausendjähriger Volksbildungs-Verein« sei das Christentum, »dessen Bildung für den ärmsten Proletarier nicht zu hoch, für den tiefsten Denker nicht zu flach ist«398, und dem es folglich obliegt, Selbstinteresse durch Nächstenliebe auszubalancieren.399 Oft richtet Roscher die konkreten Darlegungen durch Sprichwörtliches auf ein dem religiösen äquivalentes Archivwissen aus, das beständig Dauer, Gleichmaß und Natürlichkeit des idealen Lebensverlaufs aufruft (entsprechend findet sich das Stichwort »Sprüchwörter« sogar im Register seiner Grundlagen).400 In diesem Archivwissen, das letztlich bis auf antike Traditionen zurückreicht401, liegt die Ebene der Zweitcodierung, die die bloßen wirtschaftspraktischen Erwägungen mit einer tieferen, sittlichen Kenntnis der Kulturen überformen soll. Das auf Ordnung und Harmonisierung ausgerichtete Verklärungsbegehren wird bei Roscher performativ schon in der Behandlung der Forschungsliteratur vorgeführt. Sein Referat ist durchweg konfliktfrei. Forschungsbeiträge anderer Denkschulen werden nicht als widersprechende, sondern lediglich als abweichende Positionen zitiert. Rhetorische Fragen stehen an der Stelle klarer Erwiderungen402, stattdessen finden sich zahlreiche emphatische Zustimmungen (›sehr schön‹, ›gut betont‹, ›die schönste vorbildliche Schilderung‹, ›vortreffliche Anfänge einer allgemeinen Theorie‹ etc.) und, wo immer möglich, der Rückbezug auf die schwerwiegendste, eben die antike Tradition (›schon bei Aristoteles‹). So entsteht ein entdramatisierter Diskurs, der die Wissenschaftslandschaft zum locus amoenus umgestaltet, zur »Insel« im »Gewoge der Tagesmeinungen«.403 Inhaltlich kehrt Roschers Suche nach der ›guten Mitte‹ an den verschiedensten Gegenständen wieder; sie durchzieht die engeren Markterklärungen ebenso wie die davon abgesetzten Konzeptualisierungen der komplexeren Erscheinungen des Gemeinwesens. Einige Beispiele zur Rhetorik der ›guten Mitte‹ seien angeführt: 1) Zum Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage: »Güter von gleichen Reproductionskosten (höchsten nothwendigen Reproductionskosten) haben regelmäßig gleichen Tauschwerth. Jede Abweichung von diesem Niveau setzt alsobald Kräfte in Bewegung, welche das Niveau wiederherzustellen suchen. Gerade wie auch das

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Wilhelm Roscher: Geistliche Gedanken eines National-Oekonomen [1894], neue Ausgabe zum hundertsten Geburtstag des Verfassers hg. von Carl Roscher, Dresden 1917, S. 67. Roscher: Geistliche Gedanken eines National-Oekonomen, S. 2. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, S. 794. Einschlägig hierfür ist der bereits zitierte Aufsatz Ueber das Verhältniß der Nationalökonomik zum klassischen Alterthume. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 2, S. 6, Fn. 6: »Nach C. Menger Grundsätze der Volkswirthschaftslehre (1871) I, 51ff. sollen wirthschaft liche Güter nur diejenigen sein, deren verfügbare Menge höchstens ebenso groß ist, wie der Bedarf. Aber ist nicht auch der größte schiffbare Strom, und zwar schon im dünnstbevölkerten Lande, ein wirthschaft liches Gut?« Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 27, S. 61f.

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Meer nach seinem Niveau strebt, ungeachtet aller Berge und Abgründe, welche der Wind und die Wogen darauf hervorbringen.«404 2) Zur historischen Entwicklung der Preise: »Im Ganzen werden die Preise mit dem Steigen der volkswirthschaftlichen Kultur immer regelmäßiger. Kulturfortschritte haben schon insoferne das Streben, die Preiskämpfer (§. 101) einander zu nähern, als sie die Productionskosten regelmäßig vermindern, die Zahlungsfähigkeit der Käufer steigern.«405 3) Zur Wirtschaftsgeographie: Produktivität und Wirtschaftskultur entstehen weder im »irdischen Paradiese, ›wo das Brot selbst nur als Frucht gepflückt wird‹ (Byron)«, noch in den »kalten Wüsteneien der Polarwelt«, d.h. weder in den Gebieten natürlichen Güterüberflusses noch dort, wo absoluter Ressourcenmangel besteht, sondern in den Gebieten dazwischen, hier allerdings eher in den relativ unfruchtbaren Gegenden, wo man mehr für seinen Bedarf schuften muss (z.B. in Holland).406 Während diese drei Punkte mit dem Eigennutzenmodell der klassischen Ökonomie konsistent und also durchaus systemisch zu erfassen sind, geben die folgenden Beispiele eine Erweiterung zu erkennen, die für die realistische Nationalökonomie typisch ist: 4) Zur Anthropologie: »Die Menschen sind ebenso wenig Teufel, wie Engel. So wie es wenige gibt, die sich bloß durch ideale Beweggründe führen lassen, so doch auch andererseits gottlob nur wenige, die ohne alle höheren Rücksichten bloß dem Egoismus gehorchen.«407 5) Zur Wirtschaftspolitik: »Im Hinblicke auf sie [die Blütezeiten eines Volkes] lassen sich die wohlgemeinten volkswirthschaftlichen Bestrebungen jeder Zeit in zwei große Parteien sondern, eine progressive und eine conservative. […] In der Reifezeit pflegt das Gleichgewicht und die Eintracht dieser Parteien am größten zu sein, weil die richtige Einsicht und der aufopferungsfähige Gemeinsinn hier am weitesten verbreitet sind.«408 Mit diesen letzten Punkten beabsichtigt Roschers Nationalökonomie die klassische Lehre ethisch und kulturalistisch zu überbieten, indem ein Gleichgewicht zwischen egoistischen und gemeinnützigen Dynamiken einer Kultur angepeilt wird. Erst durch das Gewissen ist, wie es heißt, der »Eigennutz im Zaume gehalten; ja, er wird zum irdisch verständigen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt«.409 Diese

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 106, S. 275. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 115, S. 292f. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 36, S. 80f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 27, S. 61. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 14, S. 34f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §  11, S.  24. Vgl. Abschnitt 1.2.2. dieser Arbeit.

Verklärung der Eigennutzendynamik (und mithin der Marktwirtschaft) zeigt sich wiederum in einer kosmologischen Analogie konzeptualisiert: »Wie im Weltgebäude die scheinbar entgegengesetzten Bestrebungen der sog. Centrifugalkraft und Centripetalkraft die Harmonie der Sphären bewirken, so im gesellschaftlichen Leben des Menschen der Eigennutz und das Gewissen den Gemeinsinn.«410 Solche Analogien bemüht der Realismus auch in der Literatur, wenn von der Ordnung im Großen und Ganzen die Rede sein soll. Man denke an den ›Sternseher‹ Heinrich Ulex in Raabes Die Leute aus dem Walde: »›Sieh nach den Sternen‹, sagte der Greis. ›Da droben ist alles Harmonie und Ordnung; nach ewigen Gesetzen wandelt jedes Glied der großen, glänzenden Gemeinschaft; selbst die regellosesten unter ihnen, die Kometen, ziehen ihren vorgeschriebenen Weg. Welch ein Kontrast gegen das Getümmel hier unten!«411 In Gustav Freytags Soll und Haben wird entsprechend das beispielhafte Kontor des Kaufmanns T. O. Schröter beim Eintritt des Helden über den kosmologischen Vergleich fokussiert: »Im Centrum der Bewegung, gleichsam als Sonne, um welche sich die Fässer und Arbeiter und Furhleute herum drehten, stand ein junger Herr aus dem Geschäft«.412 Derart versinnbildlicht sich die Ordnung des komplett von eigennützigen Bestrebungen gereinigten »Staatskörpers«, den das Kaufmannshaus in Freytags Schilderung darstellen soll.413 Vergleiche dieser Art haben im ökonomischen Denken in Deutschland Tradition. Beim romantischen Ökonomen Adam Müller ist es die »Nationalkraft«, die als »Ruhe höherer Ordnung« die diversen Einzelkräfte ebenso trägt wie der kosmische Mittelpunkt die einzelnen Gestirne.414 Müller vermag dabei in universalistischer Absicht noch den Gleichnischarakter seines Bildes abzustreiten; die Kräfte des Sozialen und die Kräfte der Natur gelten ihm als homolog. Bei Roscher und den Realisten wirkt das Bild dagegen offen rhetorisch. Es ist Ausdruck der realistischen Verklärungsstrategie, weil sein Gleichnischarakter außer Frage steht. Denn nur wo soziale Bewegung und ideales Konzept, wo Realität und Trope als different gedacht werden, kann die Verklärung als Zuordnungsbewegung einsetzen. Roscher borgt in seinen politischen Formulierungen, wie bereits angedeutet, stark beim antiken Harmoniedenken, in dessen Kontext er die ethische Ausrichtung der deutschen Nationalökonomie auch explizit rückt: Ob das Uebermaß des Regiminellen, wohin sich die Alten so leicht verirrt haben, gefährlicher ist, oder das Uebermaß des Individuellen, Atomistischen bei den Neueren? Während man heutzutage die Production der Güter ohne Zweifel gründlicher kennt, hat man damals die beste Vertheilung derselben sorgfältiger studiert. Die hellenische Volkswirthschaftslehre hat niemals den Fehler begangen, über dem Reichthume die

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 11, S. 24. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 159. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 48. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 103. Vgl. Adam Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes. Mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien [1816], hg. von Helene Lieser, Jena 1922, S. 54.

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Menschen zu vergessen, und über der Vermehrung der Menschenzahl den Wohlstand der Einzelnen gering zu achten. Mit einem Worte, es bethätigt [sic!] sich auch auf diesem Felde die bekannte Eigenthümlichkeit der klassischen Alten, daß sie in ihrer Beschränktheit völliger, in ihrer Einfachheit harmonischer sind, als wir; sie wußten sehr viel weniger, aber, was sie wußten, das war ihnen lebendiger geworden.415

Birger P. Priddat hat nachgewiesen, wie fundamental sich die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert in ihrem Bestreben, ökonomische Motive (Gütermaximierung) und politische (gerechte Verteilung) miteinander zu vermitteln, auf antike, insbesondere aristotelische Traditionen bezieht.416 Priddat vernimmt einen ›ethischen Ton der Allokation‹ in den Texten, der eben lediglich ein ›Ton‹ bleibt, weil die Synthese der Themenfelder zu einer homogenen Wirtschaftsethik nicht gelinge. Bis hin zu Schmollers institutionenökonomischen Konzepten bleiben die Ordnungen des Allgemeinen von den Dynamiken des Besonderen geschieden; eine streng ökonomische, z.B. vertragstheoretische Ableitung der Institutionen aus (dem Aggregat von) individuellen Nutzenmaximierungen ist den deutschen Denkern fremd.417 Tatsächlich erfolgt diese dualistische Aufspaltung zwischen klassisch-ökonomischen und ordnungspolitischen Komponenten, zwischen Eigennutzenprinzip und Altruismus, dem realistischen Denkstil gemäß. Denn die Möglichkeit, eine besondere, kulturelle Komplexität in den Blick zu nehmen, muss, wie gesagt, die definitive Zusammenführung dieser Felder im Rahmen einer einzigen ahistorischen Struktur ausschlagen. Ebendas führt zur Priorität der Metonymisierung, wobei diese wiederum nur gerechtfertigt ist, wenn in jeder Fallbeschreibung der Verweis auf eine höhere, nicht systemisch gedachte Allgemeinheit mitgegeben ist. Diese liegt in der Normativität, im Sittlichkeitsgedanken. Auf sie zielt der offene Verweis der Verklärung.

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Roscher: Ueber das Verhältniß der Nationalökonomik zum klassischen Alterthume, S. 7. Der ›ethische Ton‹, der einer Mischung aus wachstumsorientierter Wirtschaftstheorie und gemeinwohlorientierter Wirtschaftpolitik entspringt, geht auf eine Rezeption der aristotelischen Politik zurück und ist praktisch der historischen Transformation in Deutschland geschuldet. Priddat schildert die ethisch-politisch argumentierende Ökonomie als Übergangsphänomen in der Loslösung von der kameralistischen, obrigkeitsreglementären Ökonomie des 18.  Jahrhunderts hin zu einer eigenständigen, vollständig auf der autonomen Marktdynamik aufbauenden Disziplin. Die ›aristotelischen Akkorde‹ werden dabei als Konzessionen gegenüber den herrschenden Staatswissenschaften und dem Beamtenapparat gedeutet. Vgl. Priddat: Der ethische Ton der Allokation, besonders: S. 51 u. S. 59. Birger P. Priddat: Die andere Ökonomie. Eine neue Einschätzung von Gustav Schmollers Versuch einer »ethisch-historischen« Nationalökonomie im 19.  Jahrhundert, Marburg 1995, S. 153–157. Vgl. Peukert: Das Handlungsparadigma in der Nationalökonomie, S. 84. Aufschlussreich hierfür sind auch die Versuche der Historistischen Schule, das Eigennutzenprinzip im Konzept der ›Wirtschaftsmentalitäten‹ zu historisieren. Vgl. dazu Reinhold Reith: Lohn und Leistung aus der Perspektive der Historischen Schule der Nationalökonomie. Zum Problem der Wirtschaftsmentalitäten. In: Friedrich Lenger (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, Bielefeld 1998, S. 78–104.

Das Zusammenspiel der beiden bedeutungstragenden Komponenten, profanwirtschaftliche Metonymisierung und ordnungsorientierte Zweitcodierung, lässt diese Ökonomie, von neuerem Standpunkt aus betrachtet, so unsystematisch und defizitär erscheinen. Marktmechanismen gelten hier eben nur als eine Regelmäßigkeit des Handelns, die stets im heterogenen Zusammenhang mit anderen kulturellen Regeln und unter beständigem Verweisen auf ein Idealisierungsbegehren zu betrachten sind. Ein Beispiel für die Strategien dieser Übercodierung mag das Kapitel Verschwendung und Sparsamkeit des Roscher’schen Lehrbuches geben, worin das volkswirtschaftliche Problem unregelmäßiger Staatsausgaben erörtert wird. Der Einstieg in die Diskussion erfolgt über den Nahbereich privater Einstellungen – und führt gleich auf ein Paradox: Die Verschwendung ist weniger häßlich, als der Geiz, mit gewissen Tugenden weniger unverträglich, aber für die Volkswirthschaft ungleich verderblicher. Die Schätze des Geizigen, selbst wenn sie vergraben sind, können wenigstens nach seinem Tode produktiv genutzt werden; die Verschwendung hingegen zerstört Vermögenstheile.418

Was im Alltäglichen als geringeres Laster gilt, ist volkswirtschaftlich betrachtet ein größeres Übel. Eine Aufk lärung über diesen Widerspruch sucht Roscher nicht, sodass die gewöhnlichen Konnotationen der Verschwendung (›weniger hässlich‹) und ihre volkswirtschaftliche Funktion (›ungleich verderblicher‹) einstweilen als zwei kulturelle Wahrnehmungen des Phänomens stehen bleiben. Es wird der amerikanischen Institutionenökonomie eines Thorstein Veblen (The Theory of the Leisure Class, 1899) vorbehalten bleiben, den Prestigegewinn und damit die ökonomische Rationalität hinter der (privaten) Verschwendung zu untersuchen, die menschliche Kulturen vom frühzivilisatorischen Raub bis zum demonstrativen Müßiggang der modernen ›leisure class‹ durchzieht. Roscher ist an solchen Logiken des Distinktionsgewinns nicht interessiert; ihm geht es um eine Regelmäßigkeit von Einnahmen und Ausgaben, die gutes Wirtschaften auszeichnet. In der Fußnote von einer typisch bodenständigen Faustregel begleitet (»›Den Geizhals und ein fettes Schwein [/] Sieht man im Tod erst nützlich sein.‹ (v. Logau)«419), wendet er sich dem Staatshaushalt zu. Verschwendung ist hier deshalb schädlicher, weil sie für eine kurzzeitig vermehrte Produktion sorgt. Sobald aber der Kapitalfluss des Verschwenders abreißt, zieht dies eine Absatzkrise mitsamt der für diese typischen Konkurse (d.i. die erwähnte ›Zerstörung von Vermögensteilen‹) nach sich. Roscher denkt hier an die »Verschwendung eines Hofes«, die zum »raschen Aufblühen der Residenz« führt.420 Für die Erörterung der negativen Ersparnis (Geiz) gilt dieselbe Logik. Wo Kapital aus »produktiven Konsumtionen« (lies: aus der Weiterverwertung) abgezogen wird, ist der »Act des Ersparens […] ge-

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 218, S. 605. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 218, S. 605, Fn. 1. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 219, S. 606.

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meinschädlich, weil nun ein Bedürfnis der Volkswirthschaft unbefriedigt bleibt«.421 Genannt werden die Ersparnisse im preußischen Militärwesen. Nur im Bereich der »unproduktiven Konsumtionen« (lies: beim Endverbrauch) kann das Sparen schadlos wirken, sofern es nicht bloß »müßige Aufspeicherung« von Geld oder Produkten ist422, sondern zur Bildung eines stehenden Kapitals dient (das sind alle Kapitalien, die zur wiederholten Verwendung taugen, z.B. Maschinen oder Häuser).423 Roschers Erklärungen greifen hier auf die klassischen ökonomischen Thesen zum Marktmechanismus zurück und entsprechend ist sein Ideal der »Wirtschaftlichkeit«, als Mitte zwischen den Extrempolen der Verschwendung und einer falsch aufgefassten Sparsamkeit, als aufk lärerisch rationales Kalkül apostrophiert: »Tochter der Klugheit, die Schwester der Mäßigkeit, die Mutter der Freiheit«.424 Anschließend folgt die typische Erweiterung im Sinne der historisch-realistischen Schule, indem verschiedene Kulturen auf ihre Wirtschaftlichkeitsauffassung hin angeschaut werden: Wie es verschwenderische und sparsame Individuen gibt, so auch Völker. Den Schweizern z.B. muß eine große nationale Sparsamkeit zugeschrieben werden. Es ist dort in vielen wohlhabenden Familien Grundsatz, ihre erwachsenen Töchter statt des Taschengeldes auf den Ertrag ihrer Weißstickerei anzuweisen; nach Kaffeegesellschaften im Beisein der Gäste Krumen zusammenzukehren, von welchen hernach Suppe gekocht werden soll etc.425

Solche Informationen über nationale Mentalitäten und ihre entsprechenden Wirtschaftsstile stehen bei Roscher gern lose nebeneinander. Auf die Schweizer folgen die Holländer (»›So will es den Holländern nicht in den Kopf, daß der regelmäßige Belauf der Ausgaben dem Einkommen gleich sein sollte […]‹«426), dann die ›flotten‹ Engländer. Die Bandbreite dessen, was als ›Kultur‹ der ökonomischen Theorie gegenübergestellt ist, wird gewissermaßen ostentativ zur Schau getragen. Die Aussage ›So viel ist da, diese Mannigfaltigkeit gibt es‹ steht virtuell über allen kulturhistorischen Passagen. In dieser Weise rahmt eine relativistische Pluralität die klassisch ökonomischen Erläuterungen. In Roschers im engeren Sinne historischen Untersuchungen (versammelt in den Ansichten der Volkswirtschaft) wird dieses plurale, asyndetische Prinzip zur universellen Schau ausgebaut, die nurmehr durch das – bereits unter dem Punkt zur formalpo-

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 220, S. 607. Wer im großen Stile Bedarfsgüter zurückhält (z.B. Nahrung), erhöht die Nachfrage und dadurch die Preise, die bei Freisetzung der Güter dann wiederum rapide fallen. Beide Bewegungen gelten als krisenhaft gegenüber dem Gleichmaß von Angebot und Nachfrage. Denn eine solche Kapitalbildung sorgt in der Produktion für Beschäftigung und stellt schließlich der Volkswirtschaft ein dauerhaftes Gut zur Verfügung. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 218, S. 605. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 222, S. 611. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 222, S. 611. Roscher zitiert hier Sir William Temple (1628–1699), einen englischen Diplomaten, der Dienstherr von Jonathan Swift war.

etischen Verklärung diskutierte – Zyklen-Modell ›Aufstieg – Blüte – Verfall‹ zusammengehalten wird. So im prominenten Aufsatz Ueber den Luxus. Zur Reinlichkeit als Ausdruck ›blühender Zeiten‹, in denen Genüsse, die ansonsten einer kleinen Clique vorbehalten sind, massenhaft verfügbar werden, liest man dort: Wie früher schon in Holland so ist er [der Luxus der Reinlichkeit] gegenwärtig in England aufs Höchste entwickelt […]. Jedenfalls kommt es hierbei noch mehr auf die Entwicklungsstufe, als auf den Volkscharakter an. Erasmus behauptet, England wäre zu seiner Zeit ein äußerst schmutziges Land gewesen; während damals die Italiener vor den Nordländern sehr durch Reinlichkeit ausgezeichnet waren. Wirklich datirt die Londoner Seifensiederei erst von 1520; vorher mußte alle Seife vom Continente bezogen werden. Andererseits zeichnet sich dieselbe angelsächsische Nationalität im westlichen Nordamerika noch gegenwärtig keineswegs durch besondere Reinlichkeit aus […].427

Sechs regionale Sprünge (Holland, England, Italien, die Nordländer, der Kontinent, das westliche Nordamerika) und vier Zeitsprünge (Holland kurz vor der Gegenwart, die Gegenwart, die Zeit von Erasmus und 1520) sind hier schon nachzuvollziehen; dazu kommt noch eine kulturtheoretische Erwägung, dass das Reinlichkeitsbedürfnis eher mit der Entwicklungsstufe einer Kultur zu tun habe als mit dem Volkscharakter (die ›schmuddeligen Nordamerikaner‹ sind eben lediglich etwas unreifer, nicht aber im ›Wesen‹ unhygienischer). Doch es geht weiter: In den Göttinger Statuten von 1342 mußte besonders verboten werden, nicht im Rathskeller, wo man beisammen saß und trank, seine gröbste Nothdurft zu befriedigen. So erzählt Hans von Schweinichen, daß sich unter den schlesischen Adel 1571 ein »Verein der Unfläther« gebildet, mit dem Gelübde, »sich nicht zu waschen, nicht zu beten und, wo sie hinkämen, unfläthig zu sein«. Dagegen die Allgemeinheit der Waterclosets in unserer Zeit, vornehmlich in England! – Auch im Alterthume war z.B. die Unreinlichkeit der Spartaner an Körper und Kleidung für die höher kultivirten Athener sehr auffallend.428

Mittlerweile ist man vom Mittelalter über die Gegenwart bis zum Altertum, von Deutschland wieder über England bis zu den Spartanern und Athenern gelangt. Und wer die Fußnoten mitliest, wird zudem über die Sitten diverser Exotenvölker unterrichtet, etwa der Tungusten (hier »ziehen Väter und Mütter ihren Kindern mit dem Munde den Rotz aus der Nase und schlucken ihn hinunter«) oder der Korüken (hier »spült sich der Liebhaber mit einem Schälchen Urin von seiner Geliebten den Mund aus«).429 Und das alles auf nicht einmal drei Seiten! Im Wechsel von einem Satz zum nächsten hat man meist schon einige Jahrhunderte und etliche Kilometer Luft linie überwunden, vermöge schroffer Antithesen (›dagegen‹, ›während‹, ›andererseits‹) und Analogien (›auch‹).

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Roscher: Ueber den Luxus, S. 141. Roscher: Ueber den Luxus, S. 142f. Roscher: Ueber den Luxus, S. 142, Fn. 14.

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Roscher, dessen programmatische Vorgaben für die realistische Nationalökonomie in Deutschland so einschlägig wurden, löst also selbst die eingeforderte konkrete Beschreibung von Wirtschaftszuständen nicht ein. Anstelle von metonymischen Folgebeziehungen regiert das Asyndeton. Durch Reihung von Äquivalenten oder schroffen Gegenüberstellungen wird textlich zusammengebracht, was raum-zeitlich nicht zusammengehört. Lokalhistorische Besonderheiten werden in transkulturelle Gleichartigkeiten (Similaritäten) überführt, was im Ergebnis ein polyhistorisches Tableau in menschheitsgeschichtlicher Dimension ergibt. Dieses Tableau verwirklicht denn zwar den Verklärungsauftrag, indem hier historische Kontingenzen in einem sittlich strukturierten Rahmen verortet werden, ohne dass sie darin systemisch funktional würden. Mit Realismus aber hat dieses Vorgehen in Ermangelung der Kontiguitäten nur noch wenig zu tun. Nicht Roschers praktische Arbeit, sondern deren grundlegende Programmatik ist daher für die realistischen Forscher, die in seine Fußstapfen traten, wichtig geworden. Folgende seiner Parameter gelten für die realistischen Nationalökonomen in Deutschland: 1) Grundaufgabe einer praktischen Wirtschaftswissenschaft ist es, Volkswirtschaften historisch und kulturell konkret zu beschreiben. (Priorität der Metonymie) 2) Dabei tritt an die Stelle eines Reduktionismus, der alle volkswirtschaftlich relevanten Handlungen auf Eigennutzenkalküle zurückführt, ein Dualismus: Eigennutzen (die Dynamik auf freien Märkten) steht neben Gewissen/Sittlichkeit (der institutionellen Regulierung egoistischer Bestrebungen). (Dualismus) 3) Der Fokus der Geschichtsanalyse gilt den ›Blütezeiten‹, in denen das harmonische, gemeinwohlorientierte Zusammenwirken aller Volkswirtschaftsteilnehmer sichtbar ist. (Verklärung) 4) Die Erzählungen der Wirtschaftsgeschichte sollen Vergleichspunkte zur (je noch zu verwirklichenden) institutionellen Struktur der gegenwärtigen Wirtschaft zulassen. (Gleichnischarakter) 5) Die Gesetzmäßigkeit komplexer, historischer Entwicklungen ist (einstweilen) für den Forscher nur unvollständig auf Begriffe zu bringen. (induktivistische Offenheitsprämisse) 2.3.3.2. Der Weg zur Spezialuntersuchung – Gustav Schmollers Institutionenökonomie Das Programm einer historisch-realistischen Nationalökonomie, formuliert seit den 1840er Jahren, wurde von seinen Gründungsvätern nicht eingelöst. Bruno Hildebrands dogmengeschichtliche Studien in Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848) beschränkten sich auf die Kritik ahistorischer Theoriebildung. Den angekündigten zweiten Teil zur positiven Formulierung einer zukünftigen Nationalökonomie blieb Hildebrand indes schuldig. Karl Knies deutete in seiner zögerlich rezipierten Grundlagenschrift Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunk196

te (1853, 2. Aufl. 1883) die Historisierung ökonomischer Positionen und fundamentaler Kategorien wie ›Privateigentum‹ oder ›Verteilung‹ an.430 Doch konzentrierte er seine Forschungen anschließend auf theoretische, in der Tradition der englischen Klassik stehende Fragen zu Gesetzmäßigkeiten des Geld- und Kreditwesens.431 Ähnlich wie Roscher hatte auch Knies die historische Untersuchung auf den ›nationalen Menschen‹, d.h. auf den wie eine biologische Entität aufgefassten, organischen Zusammenhang des Volkslebens (nach Wirtschaft, Recht und Sitte), ausgerichtet. Das trug ihm – wie Roscher – die Kritik Max Webers ein.432 Tatsächlich setzt denn auch die zweite Generation deutscher realistischer Nationalökonomen ab den 1870er Jahren um Gustav Schmoller, Lujo Brentano, Karl Bücher, Wilhelm Stieda oder Georg Friedrich Knapp, aus deren Einflusssphäre schließlich Autoren wie Max Weber433, Arthur Spiethoff und Werner Sombart hervorgehen434, ihre Begriffe eine Ebene tiefer an. Nicht mehr das Volksleben im Ganzen oder gar Vergleiche zwischen verschiedenen Epochen und Völkern stehen hier zur Untersuchung. Das Interesse gilt jetzt vielmehr der Entwicklung und Leistungsfähigkeit einzelner Institutionen innerhalb eines spezifischen volkswirtschaftlichen Raumes.435 Diese Fragerichtung der jüngeren Generation fasst ihr prominentester Vertreter Gustav Schmoller in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1904) zusammen: Der Unterschied der jüngeren historischen Schule von ihm [Roscher] ist der, daß sie weniger rasch generalisieren will, daß sie ein viel stärkeres Bedürfnis empfi ndet, von der polyhistorischen Datensammlung zur Spezialuntersuchung der einzelnen Epochen, Völker und Wirtschaftszustände überzugehen. Sie verlangt zunächst wirtschaftsgeschichtliche Monographien, Verknüpfung jeder modernen Spezialuntersuchung mit ihren Wurzeln; sie will lieber zunächst den Werdegang der einzelnen Wirtschaftsinstitutionen als den der ganzen Volkswirtschaft und der universellen Weltwirtschaft erklären. Sie knüpft an die

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Vgl. Peukert: Das Handlungsparadigma in der Nationalökonomie, S. 57–62; vgl. Birger P. Priddat: »Das zur äußeren Erscheinung gelangende Wirtschaftsleben.« Knies’ politische Ökonomie als komparative Kulturtheorie. In: Birger P. Priddat, Produktive Kraft, sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 343–356. Vgl. Gustav Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Erster Teil [1900], 5. Aufl., München, Leipzig 1923, S. 119. Vgl. Weber: Roscher und Knies. Einen kursorischen Überblick über Webers nationalökonomische Arbeiten und seine Verbindungen zur Historischen Schule bietet Eisermann: Max Weber und die Nationalökonomie, S.  19–102. Überblicksartig fi nden sich die Zusammenhänge dargestellt und mit Hinweisen auf den Forschungsstand versehen bei Bruhns: Max Weber. Ökonomische Theorie und Wirtschaftsgeschichte. Schumpeter fasst diese Autoren als ›Jüngste Historische Schule‹ zusammen. Vgl. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Anlayse, Bd. 2, S. 996–1000. Zur stärkeren Partikularisierung dieses weiterhin ›ganzheitlich‹ kulturell und historisch ausgerichteten Programms bei Schmoller vgl. Lavranu: Deskription, Kausalität und Teleologie.

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strenge Methode rechtsgeschichtlicher Forschung an, sucht aber ebenso durch Reisen und eigenes Befragen das Bücherwissen zu ergänzen, die philosophische und psychologische Forschung heranzuziehen.436

Mit der realistischen Emphase der Augenscheinnahme, die sich hierin niederschlägt, wird eine möglichst unmittelbare Hinwendung zu den Sachen selbst angestrebt (›Reisen‹ und ›Befragen‹ statt alleinigem Bücherwissen437). Die Arbeit über volkswirtschaft liche Fragen »soll eine erlebte sein«.438 Einzelne Wirtschaft szustände und ihre Organisationsformen rücken nunmehr ins Blickfeld der Wissenschaft . Englische Arbeitergilden und Gewerkvereine (Brentano), deutsche Kleingewerbe im 19. Jahrhundert (Schmoller), antike Arbeitskämpfe (Bücher) oder mittelalterliche Zunft verfassungen (Schmoller, Stieda) sind nur die populärsten Gegenstände einer Flut kleinteiliger ›Spezialuntersuchungen‹, die sich dieser Neuorientierung der realistischen Nationalökonomie verdanken. Und erst hier fi nden sich denn überhaupt metonymisch aufgebaute, der realistischen Darstellungsweise verpfl ichtete Texte: Und so möchte ich Sie bitten mir einen Moment in eine Epoche der Geschichte zu folgen, die jenseits alles Parteihaders des Tages liegt, auf einen Boden und auf einen Punkt, auf den der Elsässer und der Preusse, der Strassburger und der Schwabe, der Katholik und der Protestant mit gleicher Theilnahme, mit gleichem Hochgefühl blicken mag.439

So beginnt Gustav Schmoller 1874 seine Rede über Strassburgs Blüte und die volkswirthschaftliche Revolution im XIII. Jahrhundert, anlässlich der Übernahme des Rektorats an der Straßburger Universität. Der Beitrag zur Wirtschaftsgeschichtsschreibung der Stadt kann sich rhetorisch als Rundgang ausweisen – ›ich bitte Sie mir zu folgen‹ –, eben weil er einen lokal und zeitlich begrenzten und also metonymisch abzusteckenden Kulturraum anvisiert. Entsprechend zahlreich werden hier Demonstrativpronomen und ostentative Wendungen bemüht, durchziehen Topoi des Schauens den Text. Und das, obwohl die Überlieferung an Denkmälern und Textzeugen nicht eben reich ist: Viel blasser [als das überlieferte Bild von Straßburg aus dem 16. Jahrhundert] ist das Bild, das wir uns von dem Strassburg des 12. und 13. Jahrhunderts machen können; – wie im Nebel nur steigen die Gestalten vor uns auf; – aber welch großartige Gestalten sind es und

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Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 120. Schmollers Grundriß basiert nach eigenen Aussagen auf dem Stoff seiner ab 1868 abgehaltenen Vorlesungen. Man vergleiche zum gespannten Verhältnis von Buch- und Weltwissen die Einleitung zur Chronik der Sperlingsgasse, an deren Anfang die schweinsledernen Folianten ebenso wie der Wandsbeker Bote weggelegt werden, damit die Gasse und ihre Geschichte vor das Auge des Erzählers treten können. Siehe Abschnitt 1.2.1. dieser Arbeit. Gustav Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19.  Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870, S. IX. Gustav Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte und die volkswirthschaft liche Revolution im XIII.  Jahrhundert. In: Der Rectoratswechsel an der Universität Strassburg am 31. Oktober 1874, Strassburg 1874, S. 19–53, hier: S. 19.

was haben sie geschaffen! diese Stadt, dieses Münster, diese ganze unvergleichliche Werdeund Blütezeit der Staufer, der deutschen Poesie, der deutschen Städtegründung.440

Mit einem Pathos des Handgreiflichen verbindet die Bestandsaufnahme wie selbstverständlich Konkreta und Abstrakta – ›dieses Münster, diese Blütezeit der Staufer‹ –, zielt sie auf die Mannigfaltigkeit einer historisch gegebenen Situation: Unterschiedlichste kulturelle Manifestationen von Poesie (Gottfried von Straßburg) bis zu Architektur (Erwin von Steinbach) und Wissenschaft (Albertus Magnus) werden gestreift, um dann im Verweis auf den königlichen Regenten, den Straßburger Grafen von Habsburg, das zentrale Anliegen des Vortrags anzureißen: Es gilt, die »äusserliche Ruhe für Handel und Verkehr« und deren ordnungspolitische Bedingungen zu erläutern.441 Denn eben im friedlichen Verkehr, im ungestörten Wirtschaften und Schaffen, erweist sich eine Zeit als blühend. Ohne an dieser Stelle bereits den weiteren inhaltlichen Untersuchungen vorzugreifen442, sollen kurz die Grundlinien dieser Neuorientierung der historistischen Wirtschaftswissenschaft hervorgehoben werden. Anders als bei Roscher setzen Schmollers historiographische Arbeiten emphatisch konkret (dieses Münster!) an einem relativ partikularen Wirtschafts- und Kulturraum (Straßburg im 13. Jahrhundert) an, dessen Entstehungsgeschichte und Existenzbedingungen erörtert werden. Dabei ist auch hier der Verklärungsauftrag maßgebend.443 Mit einem ›Hochgefühl‹, wie es im ersten Zitat heißt, könne man auf die infrage stehende Epoche in der Straßburger Stadtgeschichte blicken. Und zwar mit einem ›Hochgefühl‹, in dem sich die konkurrierenden politischen Kräfte in der Redegegenwart (um 1874) vereint sehen sollen. Schmollers harmonistische Hinwendung zu einer Geschichte ›jenseits alles Parteihaders des Tages‹ ist dabei – wenige Jahre nach der Eingliederung Straßburgs ins Deutsche Reich (1871), an einer Universität, die gerade eine massive Umstrukturierung zur deutschen Eliteuniversität durchmacht – alles andere als eskapistisch. Vielmehr dient auch hier die Geschichte zum Gleichnis auf wirtschaftspolitische und politische Fragen der Gegenwart, und folgerichtig sind implizit und explizit zahlreiche Bezüge auf die Redesituation eingelassen. Bei Roscher war der Begriff der ›Blüte‹ für große Schollen menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen, für den Aufstieg und Niedergangszyklus ganzer Völker, reserviert. Schmoller, der in kleineren Einheiten denkt, nimmt auch hierin eine Spezifizierung vor. Ein Gemeinwesen wie jenes Straßburgs befindet sich in einem permanenten, evolutionären Prozess, in dem sich Blüte- und Krisenzeiten stetig abwechseln. Dem Hoch des 13. Jahrhunderts, der Epoche der Städtegründungen mit dem Übergang von

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Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 20. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 21. Dazu mehr in Abschnitt 5.1. dieser Arbeit. Vgl. zum Andauern der ›idealistischen‹ Grundorientierung bei Schmoller auch Buss: Von Schmollers wissenschaft lichem Denken, S. 19–54.

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der Natural- zur Geldwirtschaft, folgt eine lange Periode sozialer Unruhen, bis im 16. Jahrhundert mit der Renaissance ein neuerlicher Aufschwung einsetzt.444 Nach den grossen historischen Epochen wilder Gärung, geringer Gesetzgebung, wir möchten sagen anarchischer Vorwärtsbewegung mit freierem Spiel der Kräfte kommen nothwendig Zeiten ruhiger Organisation, fester staatlicher Ordnung, friedlicher Ausgestaltung, möglichst weit gehender gesetzgeberischer Thätigkeit; und wenn die ersteren Fermente des Fortschritts erzeugen; die letzteren bringen sie zur Blüthe und zur Reife.445

In einem Wechselspiel aus freier Kraftentwicklung (Vorwärtsbewegung) und Ordnung ebendieser Kräfte verläuft der historische Prozess. Dabei ist das Optimum der Entwicklung im Bereich der Ordnungspolitik angesiedelt, insofern diese auf das regelmäßige, harmonische Kräftespiel innerhalb eines Wirtschafts- und Kulturraumes hinwirkt und so den angestrebten ›friedlichen Verkehr‹ aller ermöglicht. In dieser Frage nach den Ordnungsformen nimmt Schmoller die von Roscher lediglich angerissene institutionenökonomische Betrachtungsweise auf und spezifiziert sie in einer Weise, die ihn nicht nur zur maßgeblichen Stimme einer ersten institutionalistischen Theorie in Deutschland machte446, sondern die jüngst auch zu einer zarten Schmoller-Renaissance im Diskussionskontext der neueren Institutionenökonomie führte.447

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Vgl. Gustav Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im XV. Jahrhundert. Rede gehalten zur Feier des Stift ungsfestes der Universität Strassburg am 1. Mai 1875. Mit einem Anhang: Enthaltend die Reformation der Stadtordnung von 1405 und die Ordnung der Fünfzehner von 1433, Strassburg, London 1875. Näheres zu dieser Schrift in Abschnitt 5.1.2. dieser Arbeit. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 470. Einen bündigen Überblick über die Grundthesen der Institutionentheorie Schmollers bietet Peukert: Das Handlungsparadigma in der Nationalökonomie, S. 76–86. Die neuere Institutionenökonomie ist seit den 1980er Jahren wirkungsmächtig formuliert worden von Douglass C. North. Ihre Beziehung zur Historischen Schule und zur Institutionenökonomie Schmollers untersuchte unlängst Martin Küssner: Gustav Schmollers Institutionenlehre im Lichte der Northschen Theorie des institutionellen Wandels. Ansätze zu einer allgemeineren Theorie des Institutionenwandels, Diss. mach., Köln 1995. Einen konzisen Einblick bietet Birger P. Priddat: Historische Methode und moderne Ökonomie. Über das Methodische in der Historischen Schule und das Historische in der Neuen Institutionenökonomie. In: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M., New York 2004, S. 99–116; siehe zu den Traditionslinien zwischen Historischer Schule und amerikanischem Institutionalismus auch Buss: Von Schmollers wissenschaftlichem Denken, S.  189–202. Schmollers Werk hat, nachdem es von der Forschung über weite Strecken des 20. Jahrhunderts übergangen oder als veraltet abgetan wurde, seit den 1980er Jahren eine Renaissance erfahren. Vgl. als wichtigste neuere Sammelbände und Monographien Balabkins: Not by Theory alone; Pierangelo Schiera/Friedrich Tenbruck (Hg.): Gustav Schmoller in seiner Zeit. Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien, Berlin, Bologna 1988; Horst Claus Recktenwald (Hg.): Vademecum zu einem Klassiker der historischen Methode in der ökonomischen Wissenschaft (Beiband zur Faksimileausgabe von Gustav von Schmollers »Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre«), Düsseldorf 1989; Jürgen G. Backhaus:

Was sind die Grundbausteine dieser Institutionentheorie von Gustav Schmoller? Anders als die abstrakten Theorien der klassischen und neoklassischen Ökonomie setzt Schmoller seine Wirtschaftsbetrachtung nicht bei einem ›reinen Modell‹ des Marktes an, auf dem nutzenoptimierende Teilnehmer agieren, die vollständig über das abzuwickelnde Tauschgeschäft informiert sind.448 Vielmehr zeigt sich die je individuelle Bedürfnisorientierung in einem allgemeinen Horizont vermittelt, der wie bei Roscher als ›Sittlichkeit‹ angesprochen ist. »Die Quantitäten des Angebots auf dem Markte«, schreibt Schmoller, »wirken niemals direkt auf den Käufer, sondern nur durch das Medium gewisser psychologischer Prozesse und gewisser Sitten.«449 Schmoller unterscheidet im Bereich der Sittlichkeit, d.h. des normativ, als gut oder schlecht bewerteten Handelns, drei Faktoren: a) die Sitte als informelles, auf Gewohnheiten und Regelmäßigkeiten basierendes Handeln; b) das Recht als formale, schriftlich codierte Handlungsregeln; und c) die Moral als Begründungssystem oberhalb der je konkret formulierten Regeln und Normen. Während die Sitte im Bereich der Ehre, der öffentlichen Meinung oder »im Klatsch der Nachbarn« ihren Ausdruck findet, zeigt sich das Recht auf die Staatsgewalt, die Moral auf das Gewissen bezogen.450 Im Zusammenspiel der drei Faktoren bilden sich historisch die Institutionen und Organe einer Gesellschaft aus, wobei die Organe je konkrete Realisationen der institutionell vorgegebenen Handlungsmuster darstellen. So ist etwa die Ehe eine Institution, die Familie ihr Organ. Die Institutionen selbst sind der Kitt einer Gesellschaft; sie sind die bewährten Handlungsweisen, die zwischen den Generationen weitergereicht werden: Wir verstehen unter einer politischen, rechtlichen, wirtschaft lichen Institution eine partielle, bestimmten Zwecken dienende, zu einer selbständigen Entwicklung gelangte Ordnung des Gemeinschaftslebens, welche das feste Gefäß für das Handeln von Generationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtausenden abgibt […].451

Diese Auffassung ist ein gutes Stück entfernt von den Prämissen der neueren Institutionenökonomie. Nach Douglass North besteht die Leistungsfähigkeit der Institutionen darin, über Handlungsgebote und -verbote die Entscheidungsunsicherheiten von Individuen zu minimieren.452 Menschen handeln nach Gepflogenheiten, weil ihnen

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Schmoller und die Probleme von heute, Berlin 1993; Priddat: Die andere Ökonomie; Nils Goldschmidt (Hg.): Symposium »Schmoller’s Legacy for the 21st Century«. In: Schmollers Jahrbuch. Journal of Applied Social Science Studies. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Jg. 126 (2006), S. 139–250. Vgl. ausführlicher zu den Parametern dieses neoklassischen Modells des Tauschs ohne institutionelle Dimension Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung [engl. 1990], übers. von Monika Streissler, Tübingen 1992, S. 13–30. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 49. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 57. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 61. Vgl. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, S. 4–6. Vgl. dazu auch Küssner: Gustav Schmollers Institutionenlehre, S. 6.

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dadurch die je eigene Wahl erleichtert wird. In dieser Fokussierung bleibt die moderne Institutionenökonomie dem methodologischen Individualismus verpflichtet. Auch sie denkt – wie im Modell des Homo oeconomicus vorgesehen – von den je einzelnen Präferenzen und Restriktionen her und überbietet dann das neoklassische Modell durch eine umfangreiche Erweiterung des Nachdenkens über gesellschaftliche Restriktionen. Im Wesentlichen werden dadurch Kosten der Informationsbeschaff ung und überhaupt Kosten der Ermöglichung von Tauschhandlungen, die so genannten Transaktionskosten, ins Kalkül einbezogen.453 Schmollers Institutionenökonomie avant la lettre ist genau dieses individualistische, nutzenmaximierende Denken fremd.454 Institutionen erschöpfen sich in seiner Sicht nicht in den Zwecken, die sie für ihre Mitglieder erfüllen bzw. sie lassen sich nicht auf ihre konkrete Kostenersparnis herunterrechnen. Vielmehr zeigen sie sich stets auf die Gesamtheit des wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenwirkens bezogen.455 Sie produzieren einen stabilen Rahmen, der die einzelnen Interessen (Schmoller spricht von Bedürfnissen und Trieben456) im Sinne des Ganzen aufeinander abstimmt: Jede Generation ruht auf dem geistig-sittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieses Besitzes, wie die Erziehung jeder jungen Generation und ihre Einschulung in die Sitten und Gepflogenheiten der Gesellschaft bilden eine der wichtigsten Funktionen der sittlichen Kräfte. Auch die ganze Volkswirtschaft ist nicht denkbar ohne diesen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die Kinder und jungen Leute werden im Interesse ihrer Zukunft und der Gesellschaft durch Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen Triebe in gesellschaftliche umzuwandeln; sie müssen das ihnen zunächst Unangenehme mit Mühe erlernen, sich ihm durch Wiederholung anpassen; sie müssen gehorchen und arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung sich gewöhnen, sie müssen Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben; sie können es, weil die Jugend bildsamer ist als das Alter, weil jede Handlung Spuren in Geist und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr ins selbe Geleise erleichtern. Ohne diesen Prozeß gäbe es keinen Fortschritt, auch keinen wirtschaft lichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten Gang sittlich harmonisierter, zu gesellschaft lichem Zusammenwirken brauchbarer Kräfte.457

Institutionen treten in Schmollers Sichtweise dem Einzelnen nicht als Äußerliches gegenüber, als Restriktionen, die die individuellen Präferenzen einschränken, son-

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Eine erstklassige Einführung in diese Zusammenhänge bietet Stefan Voigt: Institutionenökonomik [2002], 2. Aufl., Paderborn 2009. Zum Vergleich zwischen der eher deskriptiven Institutionenökonomie Schmollers und der analytischen Institutionenökononomie, die von allokativen Wirkungen der institutionellen Regelungen ausgeht, vgl. auch Buss: Von Schmollers wissenschaftlichem Denken, S. 196–214. Vgl. Priddat: Die andere Ökonomie, S. 151–154. Bedürfnisse haben einen spezifischen Gegenstandsbezug (man will etwa essen), Triebe geben einen unkonkreten Handlungsantrieb (z.B. Nahrungstrieb). Vgl. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 20–31. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 61.

dern für ihn sind die einzelnen Präferenzen selbst bereits durch die informellen und formalen sittlichen Regeln einer Gesellschaft mitgeprägt. Das individuelle Bewusstsein und seine Weltorientierung stehen so immer schon im Zusammenhang allgemeiner Anschauungen, die eine Kultur teilt458; sie zeigen sich verankert in, wie es heißt, kollektiven »Bewusstseinskreisen«.459 Grundlage dieser Koordinationsthese ist dabei eine entwicklungspsychologische Reflexion: Der Einzelne lernt, sein aus Beobachtung gewonnenes Urteil über seine Mitmenschen auf sich selbst anzuwenden, und bildet so eine »unparteiische« Beobachterinstanz auch gegenüber dem eigenen Fühlen und Handeln aus, die den Namen des Gewissens erhält.460 Individualentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung stehen so in engster Beziehung miteinander. Beide werden in einem Zusammenspiel aus natürlichen und sittlichen Kräften vorwärts bewegt: Klima, materielle Ressourcen, Bevölkerungseigenschaften und Technikstand wirken aufseiten der natürlichen Kräfte. Sitte, Recht, Moral bringen aufseiten der Sittlichkeit »ethisierte Triebe« im Einzelnen sowie die durchschnittlichen Handlungen und Institutionen und mithin die »Möglichkeit gesellschaftlich-harmonischen Zusammenwirkens« hervor.461 Kongruenzverluste zwischen beiden Reihen schlagen sich in dem oben bezeichneten Auf und Ab der geschichtlichen Bewegung nieder. »Aus der Wechselwirkung der verschiedenen Elemente entspringt Reibung und Fortschritt«, so Schmoller.462 Die Begegnung mit fremden Sitten oder die Einführung neuer Produktionstechniken verändern dann die Bedürfnisstruktur, sodass sich der alte institutionelle Rahmen als nicht mehr tragfähig für die gesellschaftliche Kooperation erweist. »Die Anpassungsfähigkeit [an den realen Menschen] geht aber durch die Starrheit von Recht und Sitte mit der Zeit verloren«, heißt es463, und ebendieser Verlust von institutioneller Bindungskraft bewirkt jene »Zeiten anarchischer Vorwärtsbewegung«464, in denen modernere Institutionen erst noch zu bilden sind. Anders als materialistische Geschichtstheorien sieht Schmoller diesen historischen Wandlungsprozess nicht monokausal gegründet, z.B. in der Entwicklung der Produktivkräfte. Mit »den technischen Tatsachen« seien die Sitten nicht schon gegeben. Ebenso wenig folge aus der Produktivkraftentwicklung, »daß sie [die Sitten] nur eine bestimmte Gestalt annehmen können«.465

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Die Bewusstseinsbildung, die Institutionen vornehmen, indem sie Orientierungs- und Präferenzmuster – so genannte ›shared mental models‹ – anlegen, hat in der neueren Institutionenökonomie nach North verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. Hier liegt im Übrigen auch die Schnittstelle für ökonomische und kultursemiotische Zusammenarbeit. Vgl. Birger P. Priddat: Moderne geschichtliche Methode. D. C. North. In: Jürgen G. Backhaus (Hg.), Historische Schulen, Münster 2005, S. 122–144, hier: S. 132f. Vgl. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 15–20. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 42f. Vgl. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 60f. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 53. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 53. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 470. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 53.

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Das Zusammenspiel aus Wertekosmos und natürlicher Kraftentwicklung ist bei Schmoller stets als komplexe Interdependenz zweier verschiedenartiger Bereiche (ideell/psychisch vs. materiell/physisch)466 gedacht, deren Verhältnis ein Basis-und Überbau-Schema zu sehr verknappen würde. Eben weil diese beiden Bereiche aber als verschiedenartig und inkommensurabel aufgefasst werden, entsteht überhaupt jener Freiraum zur sittlichen Durchformung der Wirtschaft, der unter dem Begriff der ›sozialen Reform‹ zu einem der Zentralanliegen in Schmollers Wirtschaftstheorie wird.467 Anders als sein Vorläufer Roscher legt Schmoller (und überhaupt die Jüngere Schule der realistischen Nationalökonomie) nicht nur einen stärkeren Akzent auf den Fortschrittsgedanken; er schätzt auch das gestalterische Potenzial der Wirtschaftspolitik vergleichsweise höher ein. Bei Roscher wird Geschichte in letzter Instanz nicht gemacht; sie passiert. Kaum findet man bei Roscher konkrete Handlungsträger, deren Beitrag zum geschichtlichen Prozess man ablesen könnte.468 Passive Satzkonstruktionen dominieren seinen Diskurs, sodass es aussieht, als würde eine umfassende gesetzmäßige Bewegung von Aufstieg über Blüte zum Verfall von den betroffenen Gemeinwesen inaktiv gelitten. Nicht so bei Schmoller. Hier stehen die Steuerungselemente, steht die Herstellbarkeit institutioneller Organisation im Vordergrund: Die großen Kulturvölker, die großen Zeitalter und die großen Männer sind nicht die, welche sich behaglich des Überkommenen freuen, essen, trinken und mehr produzieren, sondern es sind die, welche sich mit größerer Kraft als andere in den Dienst der großen sittlichen Ideen der Menschheit stellen, es sind die, welchen es gelingt, die sittlichen Ideen auszubreiten, sie tiefer als bisher einzuführen in das Getriebe der egoistischen Daseinskämpfe, es sind auf volkswirtschaft lichem Boden die, welche gerechtere Institutionen zu erkämpfen und durchzuführen verstehen.469

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Zu diesem Dualismus vgl. Schmoller: Die Volkswirtschaft , die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, S. 328f. Die wirtschafspolitische Ausrichtung auf die ›soziale Frage‹, d.h. die Frage nach sozialer Stabilität und den Wohlfahrtsbedingungen des vierten Standes, die sich mit der öffentlichkeitswirksamen, gegen die Laisser-faire-Politik der Freihandelsschule gerichteten Arbeit im Verein für Socialpolitik verbindet, hat Schmoller und seinen Mitstreitern den Spottnamen ›Kathedersozialisten‹ eingebracht. Vgl. zum Gegensatz zwischen Kathedersozialisten und Manchesterliberalen (bzw. Freihandelsschule) sowie zu den Gründungsbedingungen des Vereins für Socialpolitik Gorges: Sozialforschung in Deutschland 1872–1914, S. 38–55. Roschers latente Skepsis gegenüber wirtschaftspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten ist als liberale Grundtendenz rezipiert worden. Siehe aus ökonomischer Perspektive Streissler: Nationalökonomik als Naturlehre; aus literarökonomischer Sicht Brock: Kunst der Ökonomie, S. 50. Dabei sollte aber in Erinnerung bleiben, dass Roschers wirtschaftspolitische Zurückhaltung wenig mit dem marktoptimistischen Aktivitätspathos der ›echten‹ Liberalen, die sich in Deutschland als Freihandelsschule Gehör verschaffen, zu tun hat. Eher verkörpert er den defensiven, biedermeierlichen Gelehrten, der den Markt über administrative Kontrollorgane beobachten will und durch staatliche Erziehungsmaßnahmen seine Selbsthilfefähigkeit auszubauen trachtet. Die Freiheit der Wirtschaftenden bleibt in dieser Sichtweise stets auf eine beamtenstaatliche Vermittlung bezogen. Schmoller: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft , S. 261.

Fortschritt ist in Schmollers Sinne denn auch nicht allein auf die Technikentwicklung oder, allgemeiner, auf die Kapitalhäufung beschränkt, sondern zeigt sich stets begleitet vom Zuwachs der »Gesamtheit der Regulative von Moral, Sitte und Recht«.470 Dabei kann das schriftliche Recht in dem Maße zurücktreten, wie bestimmte Normen im sittlichen Bewusstsein der Mitglieder einer Gesellschaft internalisiert werden. Die »Veredelung der Gefühle« in den Sitten als Garant und Indikator des Fortschritts471 bleibt dabei stets auf den faktischen Bestand der kulturellen sittlichen Tradition bezogen.472 Einen autoritären Eingriff in die bestehenden kulturellen Verhältnisse, eine fundamentale Umwälzung, wie sie der sozialistischen Theorie vorschwebt, hält Schmoller weder für angezeigt473, noch für praktisch durchführbar.474 Der »ganze Fortschritt der Geschichte besteht darin, an die Stelle der Revolution die Reform zu setzen«, also die schrittweise Veränderung institutioneller Regulierung.475 Und nur vermöge dieser Stabilitätsgarantie lässt sich über punktuelle rechtliche Unterstützung bzw. Abschwächung überlieferter oder sich neu ausbildender Sitten die dringliche soziale Aufgabe der Gegenwart lösen: die »Wiederherstellung eines freundlichen Verhältnisses der Klassen« zu fördern.476 Die wirtschaftspolitische Emphase in diesen Ausführungen bleibt dabei an jeder Stelle realistisch gedämpft. Leitideen wie die »Forderung des Hinarbeitens auf eine gewisse Einheit der Gesittung und Gesinnung im Volk«477 werden bevorzugt ex negativo angesprochen. »Die Einheit der Gesittung ist aber nur möglich, wenn die Vermögensverteilung nicht zu ungleich ist, wenn die Klassengegensätze nicht zu große sind, wenn die Bildungsanstalten, wenn die technische und menschliche Erziehung der verschiedenen Klassen nicht zu weit voneinander entfernt sind«, heißt es in Fortführung des harmonistischen Gesellschaftsdenkens à la Roscher.478 Gleichwohl lagern solche ordnungspolitischen Zielvorstellungen allenfalls als Horizont hinter den institutionalistischen Detailansichten (und sind eben nicht wie in der sozialistischen Theorie konkrete Handlungsmaximen):

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Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 59. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 43. Vgl. Priddat: Die andere Ökonomie, S. 155f. Trotz aller Nähe zur sozialistischen Gesellschaftskritik in der ›sozialen Frage‹ hält Schmoller die ›sittlichen Kräfte‹ und das Gesellschaftsgefüge der Gegenwart für intakt. Vgl. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 165. Schmollers Hauptargument zielt gegen den sozialistischen Gedanken, man könne auf konkrete Verhältnisse direkt einwirken. Dieser Organisationsoptimismus der Sozialisten verkenne den Charakter des formalen Rechts und das Informationsproblem einer staatlichen Kontrolle. Vgl. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 86, S. 89 u. S. 195f. Von der Stellung der Historischen Schule zum Sozialismus handelt ausführlicher Abschnitt 4.3. dieser Arbeit. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 117. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 118. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 19. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 115.

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Mit historischer Phantasie kann ich mir also wohl ein Bild machen, wie es in künftigen Jahrhunderten in der Welt aussehen werde, aber ich werde mir stets bewußt bleiben, daß das ein Nebelbild ist; die Sonne, die diesem Bild Farbe, Leben und Wärme gegeben, die kenne ich, die ist mir sicher; – aber die einzelnen Formen dieses Bildes, die werde ich nicht mit marktschreierischer Sicherheit als die einzig rettende soziale Medizin anpreisen. Die Sonne, die ich meine, ist die Welt der Ideale; die Ideen des Rechts, der Humanität, der Billigkeit, das sind die Pfadfinder, die mich nicht verlassen dürfen; mit ihnen muß ich nicht an ein Nebelbild, sondern an die nächstliegenden Aufgaben der Gegenwart herantreten.479

Wie bereits mehrfach angeklungen, stehen im realistischen Denken ideale Begriffe und Figurationen nurmehr als Referenzbereich bereit, nicht als funktionstragende, systemisch eingebundene Faktoren. Kaum mehr überraschend wartet denn Schmollers Aufsatz Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft (1881), von dem man sich unter anderen Umständen (d.h. in anderen Denktraditionen) eine systematische Klärung der Gerechtigkeitsdoktrin erhofft hätte, weniger mit philosophisch Tragfähigem denn mit langwierigen Ansammlungen von Gemeinplätzen und landläufigen Urteilen auf, nach dem Muster: »Der Unternehmergewinn, sagt man, ist gerechter Weise höher als der Zinsfuß, weil sich in ihm eine größere Möglichkeit des Verlustes mit einer Belohnung für Arbeit verknüpft, die beim Zins fehlt.«480 Als Obersatz dieser Aufzählungen kommt dann das realistische Komplexitätstheorem ins Spiel: »Das Urteil über die Gleichheit und Ungleichheit ist deshalb stets ein sehr kompliziertes.«481 Das Alltagsurteil, teilweise auch das den tages- und wirtschaftspolitischen Debatten entnommene Urteil, tritt bei Schmoller an die Stelle der Faustregeln und Sprichwörter, wie sie den Diskurs noch bei Roscher bestimmten. Dort war es durchaus nicht ungewöhnlich, dass etwa eine Schrift Ueber Kornhandel und Theuerungspolitik (1852) mit einem Sammelsurium an Bauernregeln abgerundet wurde.482 Wie gesehen, denkt Roscher, in der Frühphase der Industrialisierung in Deutschland und noch mit deutlicher Anlehnung an kameralistische Traditionen des 18.  Jahrhunderts, stärker in Naturgesetzmäßigkeiten. Entsprechend ist die aktive Formung der wirtschaftlichen Entwicklung jenseits des tradierten Wissens über Agrikultur argumentativ zurückgesetzt. Für Schmoller hat sich dieser Rekurs auf natürliche Zyklen weitestgehend erübrigt. Dennoch spielen die Gemeinplätze des alltäglichen Redens über die Wirtschaft und das Gerechtigkeitsempfinden bei ihm eine vergleichbare Rolle. Denn gerade sie sind Ausdruck der regelmäßigen Erfahrungen einer Kultur. Sie geben ihre durchschnittlichen, stabilen Überzeugungen wieder, an denen sich eine Institutionentheorie der Wirtschaft orientiert. Ausdrücklich stellt Schmoller denn die Wirtschaftswissenschaft seiner Gegenwart in die Tradition und Nachfolge jener kameralistischen Regelsammlungen.483

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Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 119. Schmoller: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft , S. 222. Schmoller: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft , S. 227. Vgl. Roscher: Ueber Kornhandel und Theuerungspolitik, S. 158–160. Vgl. Schmoller: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, S. 281–284.

Regelkunde, Untersuchung spezifischer Sitten und Gefühle, Konzentration auf die Ausbildung, den Bestand und die Vernetzung von konkreten Institutionen – das ist die Stoßrichtung einer Wissenschaft, die sich keinem systematischen Gedanken unterstellt. Eben weil Schmoller, anders als die Theoretiker des 20. Jahrhunderts, Institutionen nicht in abstrakten Nutzenkalkülen denkt, untersucht er qualitativ die faktischen Sitten und Einstellungen in spezifischen Kulturräumen. Der ideelle Ertrag einer solchen Arbeit, sowohl was ihren abstrakten Erkenntnisgewinn anbelangt als auch ihre pragmatische Relevanz, wird dabei gewissermaßen ausgelagert und an spätere Entwicklungen der Wissenschaft und Wirtschaftspolitik delegiert: Geistige und literarische Kämpfe müssen immer erst das Terrain ebnen, die alte Mutter Erde zur Empfängnis eines neuen Kindes empfänglich machen, ehe die Zeit der praktischen Gestaltung kommt. So ist es auch heute mit unseren sozialen Kämpfen. Es handelt sich für meine Gesinnungsgenossen und mich nicht in erster Linie darum, sofort praktische Resultate zu erzielen, wir leben – als Bürger eines kommenden Zeitalters; wir lassen uns verlachen und verhöhnen von den Alltagsphilistern, weil wir sicher wissen, daß in 20 – 30 Jahren ein Geschlecht leben wird, das unsere Theorien von allen Dächern predigt […].484

Die Erhöhung (›Predigten auf Dächern‹) findet immer künftig statt. Das aktuelle Tageswerk hingegen liegt in der Ebene, in der mühseligen, kleinteiligen Aufdeckung der historischen oder aktuellen Sitten und Gebräuche. Dies ist das Grundversprechen realistisch entsagungsvoller Tätigkeit: Eine nichtreduktionistisch, nichtsystemische Arbeit an der Komplexität läuft unter dem wachsamen Auge kommender Generationen, unter der ›Sonne‹ stets nachträglicher Totalität und Idealität ab. 2.3.3.3. Die realistische Diskursivität und die ästhetischen Interessen der Ökonomen In diesen Punkten liegen einstweilen die Grundcharakteristika des Denkstils der realistischen Ökonomie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor: Wirtschaftliche Phänomene werden stets kontextualisiert, d.h. als kulturell eingebunden thematisiert. Ebendarauf zielen die in höherem Maße metonymisch organisierten Spezialuntersuchungen der Jüngeren Schule der historischen Nationalökonomie. Unter dem Gebot der Komplexitätswahrung angesichts des stets ›komplizierten‹, ›wirklichen Volkslebens‹ werden abstrakte, transhistorische Untersuchungsprämissen und also systemische Beschreibungsansätze zurückgewiesen. Das wirtschaft liche Eigeninteresse, das Nutzenkalkül, die Dynamik der Arbeit oder der Markt – solche Grundkategorien ökonomischer Analyse kommen hier in ihrer historischen Genese und ›sittlichen‹ Rahmung in den Blick. Auf latent überzeitliche, etwa von Aristoteles geborgte Idealbegriffe wie jene der ›Gerechtigkeit‹ oder der ›harmonischen Organisation‹ einer Volkswirtschaft werfen die Untersuchungen zwar Schlaglichter, ja eine jede Untersuchung gibt sich in gewisser Weise als Gleichnis auf ein Ordnungsbegehren zu verstehen. Letztlich verbleibt das Idealbild aber als ein zweiter Bedeutungsrahmen von der

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Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 120.

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Beschreibung der konkreten Wirtschaftsräume und ihrer institutionellen Struktur geschieden. Der ökonomische Denkstil dieser Schule ist, wie hier in Grundlinien nachgezeichnet, von spezifischen Formen der Textarbeit getragen, deren Geltung über das Feld ökonomischen Wissens hinausreicht. Die Übereinstimmung mit Verfahrensweisen, wie sie aus Programmatik und Praxis des literarischen Realismus bekannt sind, zeigt das inhaltlich ohnehin umfangreich kulturinteressierte ökonomische Denken auch auf der kompositorischen Seite tief im kulturellen und eben auch literarischen Wissen der Zeit verankert. Im langen Schatten der idealistischen Weltentwürfe profi liert sich sowohl in der Ökonomie als auch in der Literatur eine stärker metonymisierende, auf die wachsende Mannigfaltigkeit des ›Wirklichkeitsstoffs‹ angelegte Textarbeit, die gleichwohl weiterhin Fühlung zu den dauerhaften, idealen Bezugsrahmen halten will. So greift Wilhelm Roscher zur Klassifi kation seines explodierenden historischen Materials auf Darstellungsformen wie das dreigliedrige Dramenmodell zurück, das von Hegel über Gervinus bis in die Gegenwart eines Gustav Freytag hinein den Diskurs über die Fächergrenzen hinweg bestimmt. Sein Blütezeit-Modell kehrt in ähnlicher Form in der Literaturgeschichtsschreibung Wilhelm Scherers wieder, wenn dieser die triadische Abfolge zwischen »frauenhaften und männischen Zeiten« zur Grundlage seiner Epochengliederung macht.485 Während letztere »grobianische Zeiten« für »Particularismus« stünden, zeige sich der »Ruhm frauenhafter Zeiten« durch »ihre Gerechtigkeit, ihre Duldsamkeit, ihre Anerkennung des Gegners«.486 In den Perioden hausregimenteller, weiblicher Ordnung liegen die Blütephasen deutscher Kultur und Dichtkunst, die Scherer in Dreihundertjahrschritten zwischen 1050 und 1350 (mit dem Höhepunkt um 1200) und dann wieder, nach der Talsole von 1350 bis 1650, mit dem Aufstieg der Klassik ab 1650 (mit dem Höhepunkt um 1800) ansetzt.487 Dabei nutzt Scherer bereits ein offeneres Modell, wie es sein Volkswirtschafts-Kollege Schmoller in seinen historischen Studien verwendet. Das Lebensalterschema wird gegen ein telosfreies Schema des Widerspiels von Ordnung und Entgrenzung, stabilem Allgemeinwohl und Dynamik der Partikularintessen getauscht. Hier wie dort bleibt es ein auf ›natürliche‹ Zyklen und Verlaufsmuster bezogenes Ordnungsangebot. In der Literatur selbst wird die Auseinandersetzung mit solchen Ordnungsangeboten in den kommenden Kapiteln noch ausgiebig zu verfolgen sein. Poetologisch ist die Integration nach Prinzipien, die man der Dramentheorie entnimmt, weiterhin

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Wilhelm Scherer: Aus dem deutschen Alterthum. Dichtung und Wahrheit [Rezension zu: Gustav Freytag: Die Ahnen. I. Ingo und Ingraban, Leipzig 1872]. In: Wilhelm Scherer, Kleine Schriften, Bd.  2 (Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Essays zur Litteratur, Kunst und Politik), hg. von Erich Schmidt, Berlin 1893, S. 3 –22, hier: S. 14. Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert, Strassburg, London 1875, S. 2. Scherer: Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert, S. 3. Vgl. auch Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, S. 186–189.

angedacht. Das wird insbesondere bei den Theoretikern wie Spielhagen und Freytag deutlich. Gleichwohl schrumpft in der literarischen Praxis die avisierte verklärende Totalität des Epischen in dem Maße, in dem die Metonymisierung in den Vordergrund tritt. Übrig bleiben dann punktuelle Verweise auf den Bedeutungsrahmen des Geschehens. So kehrt bei Raabe die Zyklen-Metaphorik nurmehr im Modus der punktuellen Anspielung wieder, wenn er in Die Akten des Vogelsangs das Leben seines Protagonisten Velten Andres wiederholt am Volkswissen um die »neunte Woge« überprüft: Diese »neunte Woge ist ja wohl im Auf und Nieder des Meeres die Woge der Götter und des Glücks, und wenn das auf den Wassern mit Hülfe des Winters wirklich der Fall ist, weshalb sollte da nicht auch im Auf und Nieder des Menschenlebens solch eine neunte Woge den mutigen Schwimmer zur Höhe heben?«488 Was hier als Schema angeboten wird, kann die bewegte, kritische Existenz des Velten Andres, die sein Schulfreund Karl Krumhardt biographisch aufarbeitet, keineswegs mehr erfassen.489 Das Streben nach Übercodierung der bloß metonymisch generierten Darstellung vereint die realistische Textarbeit über die Grenzverläufe zwischen Ökonomie und Literatur hinweg. Die Gemeinsamkeiten entstammen weniger direkten, personalen Austauschprozessen. Vielmehr sind sie Effekt der textuellen Speicherung und Verbreitung in den modernen Massenmedien. Erst die Objektivierung ermöglicht, dass diese Paradigmen eine Stabilität oberhalb der konkreten persönlichen Kommunikation erlangen.490 Eben deshalb empfiehlt es sich, das Ensemble von Paradigmen, das eine realistische Disposition in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ausmacht, weniger als ›Denkstil‹ (der im Sinne Flecks immer auf einen institutionellen Rahmen verweist) denn mit einem stärker textualistischen Begriff als realistische Diskursivität491 anzusprechen. Diese realistische Diskursivität umfasst die Gesamtheit der aufgeführten Darstellungsmittel, die aus der Verabschiedung des idealistischen Totalitätsdenkens heraus einer Erkenntnisarbeit dienen, die auf komplexe, metonymisch repräsentierbare, gleichwohl verklärungsfähige Sachverhalte abzielt und die sich darin von modellorientierten, systemischen Wirklichkeitszugängen abhebt. Innerhalb dieser Strukturgemeinsamkeiten bestehen gleichwohl, wie bereits betont, Unterschiede zwischen den Diskursen und ihren je spezifischen Gegenständen. Während die Ökonomie in Kollektivsubjekten denkt (Interessengruppen, Völkern

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Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs [1896]. In: BA, Bd. 19, Freiburg i. Br., Braunschweig 1957, S. 211–408, hier: S. 247. Entsprechend hintergründig ironisch wird der Topos ›neunte Woge des Glückes‹ auf den Millionen-Dollar-Erfolg von Charles Trotzendorff angewandt, der für Velten Andres, den Helden der Erzählung, tatsächlich zum Unglücksmoment wird. Vgl. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 269. Zur Unterscheidung von Textualität und Kommunikation als Mittel der Kulturanalyse vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion. Ich vermeide den Begriff der ›diskursiven Formation‹, insofern er in der Diskursanalyse Foucaults für die Einheit der diskursiven Aussagen reserviert ist.

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etc.), geht es der literarischen Darstellung zunächst um Individuen. Während Erstere vergleichsweise geringe narrative Anteile, dafür umfangreich theoretische Sätze und Zustandsbeschreibungen bemüht, verhält es sich in der Literatur selbstredend gerade umgekehrt. Nicht in der Gänze der Darstellung, nicht in sämtlichen Paradigmen gibt es Übereinstimmungen, sondern in einigen, gleichwohl zentralen. In diesen heben sich die Diskurse als ›realistische‹ als spezifische Form der vertextenden Hinsichtnahme auf Wirklichkeit gegenüber anders gearteten, eben systemischen Denk- und Schreibweisen ab, die in Kapitel 4. dieser Arbeit eingehender diskutiert werden. Gustav Schmoller liest Friedrich Schiller Gleichwohl gibt es auch konkretere Punkte der Annäherung zwischen den beiden Diskursen. Wenn eine weite kulturalistische Orientierung ein Kennzeichen der realistischen Disposition ist, dann darf es nicht verwundern, dass realistische Ökonomen auch eine explizite Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen suchen. Schon 1863, in der Frühphase seines Schaffens, legt Gustav Schmoller in einem Aufsatz über Friedrich Schiller eine Kritik der idealistischen Ästhetik vor, die gleichzeitig der eigenen theoretischen Standortbestimmung dient. In eingehender Lektüre der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und unter Heranziehung des Gedichtes Die Künstler attackiert Schmoller Schillers spätaufk lärerischen »Kultus der schönen Individualität«, der sich einer Aufspaltung von natürlicher und vernünftiger Existenz des Menschen verdanke.492 Auf der Seite des Natürlichen befinde sich das sinnliche Triebleben in seinen realen, zeitlichen Bedingungen. Das Vernünftige hingegen, das die Einheit der Person garantiere, stelle sich als frei und unveränderlich dar. In diesem Spannungsfeld entfalte sich bei Schiller der Spieltrieb, das Vermittlungsmoment einer ausbalancierten »mittleren Stimmung« zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, das als solches das Reich des ästhetischen Scheins (die Schönheit) erzeugen soll.493 Was Schmoller an diesen Ausführungen kritisiert, ist dreierlei. Zunächst beobachtet er in Schillers Theorie eine Identifi kation ethischer und ästhetischer Dispositionen. Schmoller hingegen dividiert diese auseinander: »Das Wesen der Schönheit liegt nicht in der Kongruenz der sinnlichen und vernünftigen Natur im Menschen, darin liegt seine sittliche Natur; die Schönheit ist die Vollendung in der äußeren Erscheinung, und sofern allerdings alles Menschliche nur in der Erscheinung existent wird, kann die Schönheit alles Menschliche begleiten und umgeben.«494 Diese Differenzierung nach inneren (sittlichen) und äußeren (ästhetischen) Erscheinungen führt

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Gustav Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt [1863]. In: Gustav Schmoller, Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, Leipzig 1888, S. 1–27, hier: S. 6. Vgl. Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt, S. 17. Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt, S. 15.

auf den zweiten Kritikpunkt: Schmoller bestreitet das Primat des Ästhetischen in der ethischen und kulturellen Ausbildung des Menschen: »Die Kunst ist allerdings nur ein Mittel der Kultur, aber nicht das einzige, wie es in den ›Künstlern‹ und teilweise auch in den Briefen erscheint. Die Religion, die politischen Institutionen, die Sitten, die Wissenschaft sind ebenso wichtige Kulturelemente.«495 Gemäß dem breit angelegten kulturalistischen Programm des Ökonomen wird Kunst anderen sittlich wirksamen Institutionen nebengeordnet. Drittens aber wird die Kulturanalyse auf realistische Doktrinen verpflichtet. Schmoller beobachtet in Schillers Ästhetik eine Akzentverschiebung hin zur Formseite. Der schöne Schein müsse für diesen, um vollendet ästhetisch zu sein, von allem »Anspruch auf Realität« befreit werden.496 Eine solche nunmehr einseitig formale, unstoffliche Ausrichtung korrespondiert nach Schmoller mit der Isolation der idealistischen Dichter in den Weimarer Elitezirkeln (deren Sozialmodell Schmoller denn auch als Telos des kulturgeschichtlichen Teils der Briefe nachweist). Sie gilt ihm letztlich als Auswirkung der erbärmlichen historischen Zustände um 1800. Schmoller begegnet dieser Isolation, indem er die Elemente der Gestaltgebung (die Ideen) konsequent historisch auffasst. Was eine Epoche als Form entwickelt, gelte nachfolgenden Generationen nurmehr als Stoff. Die einfache Arbeit auf dem Feld, selbst schon Ergebnis eines Formungsprozesses (gegenüber dem Sammeln oder der Jagd), wird wiederum zum formbaren Stoff für höhere Stufen der Organisation (etwa der Sklavenarbeit). In diesem Sinne ist das Verhältnis von Stoff und Form historisch konkret zu bestimmen, bleibt das Ideale stets in der Wirklichkeit abzulesen. Schmollers Kritik der idealistischen Ästhetik bereitet damit das Feld der realistischen Institutionenforschung vor und erdet im Zuge dessen die Kunst als eine Institution neben anderen. Sie ist als Mittel kultureller Selbstformung stets nur aus einem spezifischen Kontext heraus erklärbar. Karl Bücher und der Anteil des Rhythmus bei der Entstehung der Arbeit Von hier aus können ästhetische Prozesse auch für die im engeren Sinne ökonomische Analyse relevant werden. Niemand unter den prominenteren Autoren der realistischen Ökonomie ist in dieser Forschungsrichtung so weit gegangen wie Karl Bücher. Aus seiner nationalökonomischen Beschäftigung mit historischen Formen der Arbeitervereinigungen heraus legte Bücher im Jahr 1897 in der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften eine Abhandlung mit dem Titel Arbeit und Rhythmus vor. Die 130 Seiten, auf die Büchers Vortrag in der Druckfassung angewachsen ist, enthalten kaum systematische Darlegungen zum Arbeitsbegriff oder zur Historie der Arbeitsorganisation, stattdessen insgesamt 60 Notenbeispiele und umfangreich abgedruckte Texte von Arbeitsliedern, angereichert mit zahlreichen Fundstellen zur Liedkultur in unterschiedlichen Geschichtsperioden: von der Antike Homers bis zu

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Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt, S. 10. Schmoller: Friedrich von Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt, S. 21.

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Annette von Droste-Hülshoff, Lew Tolstoi oder Émile Zola, vom Wäschestampfen in der Odyssee bis zum Lied der Wäscherinnen in L’assommoir. Was treibt den Ökonomen zu einer solchen, eher philologischen Beschäftigung mit der Musik- und Literaturgeschichte des Arbeitsliedes? Bücher beabsichtigt, den Beitrag ästhetischer Mittel an der Genese der Arbeit in ihrer wirtschaftlich tragfähigen Form zu erhellen und damit gleichermaßen das neuzeitliche Arbeitskonzept, das der Ökonomie seit Adam Smith als Ausgangspunkt dient, in seiner gesamtkulturellen Bedingtheit zu schildern. Ebendiese Pointe kehrt auch Gustav Schmoller hervor, wenn er Büchers Schrift in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre zitiert und lobt, Bücher habe die ›erziehende‹ Wirkung von Musik, Gesang und Rhythmus nachgewiesen und »damit die alte Wahrheit gestützt, daß die Ausbildung der ästhetischen und der ethischen Gefühle und Eigenschaften aufs engste zusammenhängt«.497 Arbeit als Motor der Wirtschaft kann nur dort entstehen, wo sie sittlich gestaltet ist, d.h. in eine regelmäßige Handlungsform übergeht.498 Büchers These leitet sich aus ethnologischen Befunden her. Die wirtschaftliche Tätigkeit primitiver Völker erscheine zuallererst als spontan, ausdauerschwach und rein auf den unmittelbaren Verzehr von Produkten gerichtet. Was auf dieser untersten Entwicklungsstufe fehle, sei Arbeitsdisziplin. Um diese auszubilden, bedarf es eines verstetigenden Vorgangs, durch den das spontane Tun in gleichmäßige, automatisierte Abläufe – die Arbeit im engeren Sinne – überführt werden kann. Dieser Vorgang wurzelt im Rhythmus. Die rhythmische Gestaltung der Arbeit bedeutet eine Energieersparnis. Weil jede nachhaltige Tätigkeit erfordert, dass sie sich vom initialen Willensakt und überhaupt von der Geistesanstrengung löst und in die bloß physische Routine übergeht, greifen die Frühformen der Arbeit auf Bewegungen in kurzen Intervallen zurück (Schmieden, Sensen etc.). Das Gleichmaß des Rhythmus steuert dabei die Intensität der Arbeit, erleichtert und verstärkt sie und ermöglicht in der weiteren Folge das Zusammentreten mehrerer Menschen zur gemeinsamen Arbeitstätigkeit. So wird das rhythmische Arbeiten zum Kennzeichen einer sich ausbildenden Wirtschaftsanstrengung, zeigt der »laute gleichgemessene Schall der Tagesarbeit das bezeichnende Merkmal friedlichen sesshaften Zusammenlebens der Menschen«.499

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Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 38. ›Sitte‹ ist Schmollers Bezeichnung für Handlungsregelmäßigkeit. Das muss noch einmal betont werden gegen die Interpretation von Thanasis Giouras, der Büchers Arbeitskonzept gegen die vermeintlich stärker moralisierende Interpretation von Schmoller abheben will. Giouras verkennt in seiner Bücher-Interpretation im Übrigen auch die Herabstufung des Spielkonzepts. Vgl. Thanasis Giouras: Kritik und Geschichte. Zum Verhältnis von ökonomischem Historismus und historischem Materialismus, Frankfurt a.M. et al. 2003, hier: S. 85–91. Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus. In: Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd.  16, Leipzig 1897, S. 28.

Wo aber die Arbeit keinen Schall abwirft oder wo sie in ihren Abläufen komplexer wird, da tritt der künstliche Ton-Rhythmus an die Stelle des bloßen Arbeitsklangs. Auf dieser Stufe führt Bücher seine breite Auswahl an Liedbeispielen an, die die formende Kraft des Arbeitsgesangs nachweisen sollen. Seine Auflistung ist vergleichsweise einfach positivistisch gestrickt. Bücher unterscheidet nach Einzel- und Gemeinschaftsarbeiten, Arbeiten im Wechsel- und im Gleichtakt. Innerhalb dieser Kategorien werden die Lieder einzelnen Arbeitsbereichen zugeteilt und dabei nach Inhalt und Takt mit dem jeweiligen Arbeitsvorgang in Beziehung gebracht: Flachsrefflieder fi nden sich noch zahlreich in Westfalen und im Rheinland. Sie werden zum Abstreifen der grünen Samenknoten des Flachses gesungen, einer ziemlich mühsamen Arbeit, welche mittels eiserner, in die Balken der Scheunenwände eingelassener Kämme geschieht, durch welche die Flachsstengel handvollweise hindurchgezogen werden. In der Regel versammeln sich dabei die Burschen und Mädchen des Dorfes zur freiwilligen Hilfeleistung, und die Lieder, welche sie zu dem taktmässigen Surren des Kammes singen, tragen den Charakter ausgelassener Neckerei. Aber sie schließen sich, manchmal mit ausgesprochener Nachahmung des Kammschwirrens, unmittelbar dem Rhythmus des Reffens an, wie in folgendem Beispiel aus der Gegend von Dortmund. Nr. 5. Boven an de Kökendör Rem sen jo jo! Do kümmt der leckere Schlükes dör, Do seih eck noh. Mitten unner de Luken, Rem sen jo jo! Do sitt de fule Puke! Unner on de Pülle, Do krast se em Mülle, Rem sen jo jo! Du Lecker, du Lecker, huho!500

Büchers Interpretation findet ihren Anhaltspunkt in der anschaulichen Handlungssituation: Wie der Arbeitsvorgang abläuft, so gestaltet sich auch das Lied. Wenn Jungen und Mädchen beteiligt sind, läuft der Inhalt auf ›Neckereien‹ hinaus, und die Mechanik der Kammbewegung gibt dem Lied seinen Takt vor. Während die Inhalte dabei mit zunehmender kultureller Entwicklung variieren können und dann freiere textliche Improvisationen auftreten, bleibt der Takt verbindlich auf die Arbeitsabläufe bezogen. Die Alltagsästhetik erklärt sich so aus dem lebendigen Prozess. »Alle echten Arbeitsgesänge«, sagt Bücher, »sind in ihrem Rhythmus durch die Arbeit bestimmt, können aber durch das Tempo, in dem sie gesungen werden, auf den Gang der Arbeit zurückwirken.«501

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Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 40f. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 53.

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Künstlerischer Ausdruck, so baut Bücher seine Argumentation mit Blick auf die Ästhetik aus, ist zuallererst sowohl Effekt als auch Mittel eines zweckorientierten Produktionsprozesses. Ein eigenes Kapitel ist Überlegungen zum Ursprung von Poesie und Musik gewidmet. In expliziter Kritik an spieltheoretischen Grundlegungen wie etwa bei Wilhelm Scherer, der das künstlerische Ausgangsmoment im erotischen Vergnügen ausgemacht hatte502, lokalisiert Bücher die Anfänge der Poesie im alltäglichen, mühevollen Schaffen: »[E]s ist die energische rhythmische Körperbewegung, die zur Entstehung der Poesie geführt hat, insbesondere diejenige Bewegung, welche wir Arbeit nennen.«503 Vom rhythmischen Schlagen und Treten bei einfachen Arbeiten (Arbeitsrhythmus) über die liedhafte Verstärkung der Arbeit (Tonrhythmus, Arbeitsgesang) hin zu freieren künstlerischen Formen (Aufspaltung der musikalischen Poesie in Dramatik, Epik und Lyrik) vollziehe sich die ästhetische Entwicklung. Die Lücken in Büchers Argumentation mag man an dieser Stelle übergehen. Wieso manche Naturvölker, obgleich sie rhythmische Tänze kennen, doch keine dauerhafte, gerichtete Arbeit ausbilden, bleibt ungeklärt. Die Ausscheidung der Homo-ludens-Elemente zugunsten einer streng zweckorientierten Homo-faber-Anthropologie schmälert die kulturgeschichtliche Tragweite der Erörterungen. Bemerkenswert ist dieser Text in der Art und Weise seines Problemzugriffs, der sich dem realistischen Denken im Schnittfeld von Ökonomie und Literaturbetrachtung verdankt und der, wie gleich zu zeigen sein wird, durchaus nicht die einzig mögliche Betrachtungsweise dieses Zusammenhangs zwischen Kunst, rhythmischem Ausdruck und ökonomischer Motivation ist. Bücher denkt vom Anschaulichen her, von konkreten Handlungsbereichen. Ebendas macht seinen Ansatz realistisch. Kulturelle Verhältnisse wie kompliziertere arbeitsteilige Prozesse oder vielschichtigere Arbeitslieder werden in ein Kontinuum mit je einfacheren Handlungs- und Ausdrucksformen gebracht. Diese genetische Betrachtung von Kultur mündet in die Naturalisierung der Verhältnisse. In letzter Instanz wurzelt der Rhythmus, nach Bücher, in der Motorik des Organismus: »Der Rhythmus entspringt dem organischen Wesen des Menschen.«504 Mit dieser Naturalisierung verbindet sich ein Pathos der Muskelkraft, der ›manual labour‹, wie es für die produktionswertorientierten, klassischen Ökonomiken mit ihrem Akzent auf den Kategorien ›Arbeit‹ bzw. ›Arbeitsteilung‹ charakteristisch ist.505 Die homogene Herleitung komplexerer kultureller Erscheinungen aus einfacheren und schließlich natürlichen Verhältnissen begegnet in den Texten des litera-

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Scherer: Poetik, S. 67. Bücher, der sich ausdrücklich nicht in den Fachdiskurs einmischen will, kritisiert Scherer gleichwohl in einer Fußnote. Vgl. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 96. Vgl. zu Scherer Abschnitt 1.1.2. dieser Arbeit. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 80. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 101. Hier steht Büchers Text in Nachbarschaft zu klassischen Texten wie Friedrich Engels’ Aufsatz Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen.

rischen Realismus wieder als dauerhaftes Problem der Handlungsorientierung zwischen kulturellen und natürlichen Koordinaten. Jenseits des Realismus – Eske Bockelmann und die Entstehung des Rhythmus aus dem Medium Inwieweit in dieser Konzeptualisierung der Verhältnisse von Rhythmus und Arbeit, von Literatur und Ökonomie ein spezifischer Denkansatz vorliegt, zeigt der Vergleich zu einer neueren Studie aus dem Jahr 2004. In seiner Schrift Im Takt des Geldes führt der klassische Philologe Eske Bockelmann vor, wie der Rhythmus aus dem Zusammenhang ökonomischer Überlegungen heraus auch anders anzusehen ist, ja nach den medientheoretischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts überhaupt in einem gänzlich neuen Blickwinkel erscheint. Im Takt des Geldes relativiert eine Prämisse, die für Karl Bücher noch völlig unhinterfragt galt: die Ansicht, dass der TaktRhythmus eine Naturgegebenheit ist. Nach Bockelmann entsteht der Takt-Rhythmus, der sich dem modernen Ohr in der Abfolge betonter und unbetonter Schläge als immer schon vertraut und natürlich darbietet, erst an der Schwelle vom 16. zum 17.  Jahrhundert, und zwar im Zuge der Ausbildung der neuzeitlichen, weltweiten Marktökonomie. Der Takt-Rhythmus selbst ist ein Kulturprodukt auf Basis des Geldes. Wie das? Im besagten Zeitraum wird das Geld in seiner Rolle als Zahlungsmittel autonom gegenüber seinen materiellen Trägern (z.B. Gold, Silber, Kupfer). Kredite treten vermehrt auf, Papiergeld und Wechsel nehmen zu. Der Geldwert verdankt sich von nun an nicht mehr, wie bei Münzen, dem stofflichen Gehalt, sondern den nominalen Eigenschaften. Als juristisch sanktioniertes, an sich jedoch inhaltsloses Medium tritt das Geld allen möglichen Inhalten, den Waren, gegenüber und wird darin rein funktional. Erst dadurch, so Bockelmann, entsteht jene binäre Codierung (bestimmt/unbestimmt bzw. Geld/Ware), die zur Grundlage neuzeitlichen, abstrakten Denkens gerät. Und diesem binären Denken verdankt sich schließlich auch die Unterscheidung von betonten und unbetonten Taktschlägen, das neuzeitliche Rhythmusempfinden.506 Der moderne, durch die Systemphilosophien des 20. Jahrhunderts gestählte Philologe denkt in diesen Darlegungen konsequenter ökonomisch als der realistische Wirtschaftswissenschaftler, wenn er die historischen Formen von Metrik und Rhythmusgefühl aus der Praxis des Geldverkehrs ableitet. Charakteristischer aber ist: Er rückt die Funktionalität des Mediums in den Mittelpunkt. Statt eines irgend gearteten natürlichen humanen Zustands interessieren ihn die Handlungs- und Denkmöglichkeiten, die sich im Gebrauch von Werkzeugen, wie das Geld eines ist, auftun. Nicht ein vertraut anmutender Handlungsraum, wie etwa die Sphäre der Produktion bei Bücher, stellt hier den Ausgangspunkt ökonomischer und kultureller Reflexion

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Vgl. Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes, S. 182f. Die wesentlichen geldtheoretischen Ausführungen fi nden sich dort S. 213–232.

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dar, sondern die Vernetzung der Handlungsräume im Medieneinsatz. Das Anschauliche verschwindet zugunsten der strukturalen Abstraktion, die Annahme einer kontinuierlichen oder stufenweisen kulturellen Entwicklung weicht der Erzählung von der epochalen Differenz (im Abheben auf Kausalitäten und Detailansichten des Wandels der Geldtheorie und -praxis unterscheidet sich Bockelmanns große Erzählung allerdings von den klassischen Bruch-Narrativen, wie sie aus der Diskursanalyse bekannt sind). Im nächsten Abschnitt wird zu untersuchen sein, inwieweit Medialitätsaspekte in realistischen Texten verhandelt werden. Die Frage richtet sich dabei wieder vermehrt an die Literatur und ihr poetisches Selbstverständnis. Mit dem Fokus auf Gottfried Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe und Gustav Freytags Soll und Haben soll exemplarisch die Engführung von künstlerischer und ökonomischer Praxis im realistischen Erzähltext beleuchtet werden. In der Reflexion auf Schrift bzw. Sprache in Verbindung mit den Medien des modernen Wirtschaftsverkehrs wie Papiergeld, Kredite, Aktien etc. formt sich hier eine Poetik der Ware, die als spezifisch realistisches Diskursprojekt gelten darf. Die Literatur etabliert sich als Speicher und Garant einer Würde des Dinglichen gegen die Abstraktionen der aufkommenden hochgradig vermittelten Geldwirtschaft.

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3.

3.1.

Schöne Waren, schlechtes Geld – Warenwirtschaft in der realistischen Literatur

Der Realismus des Geldes – Gottfried Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe

Die Zergliederung von Zeichenzusammenhängen in primäre (›natürliche‹ bzw. vorgängige) und sekundäre (›künstliche‹) mitsamt den daran anschließenden Fragen nach der Übersetzung zwischen den unterschiedlichen Kontexten machen ein Kernthema realistischer Selbstbeschreibung aus. So hatte es sich in den Untersuchungen zur Poetologie realistischer Prosa dargestellt.1 Diese Thematisierung aber bleibt nicht auf den Bereich der Literatur beschränkt. Gerade in den Passagen höchster Reflexivität zeigen sich Anschlussstellen für außerliterarische Diskursbetrachtungen. So ist denn in verschiedenen poetologischen Texten oder Textpassagen des Realismus mit den literarischen Erwägungen korrespondierend auch vom Geldverkehr die Rede. Und das mit einer gewissen semiotischen Zwangsläufigkeit. Jochen Hörisch hat den verbindenden Aspekt zwischen sprachlichen und monetären Kontexten im Begriff der ›Deckung‹ herausgestellt: Gedeckt heißen Urteile, Aussagen, Behauptungen oder (Zahlungs-)Versprechen, die, um ganz generell zu formulieren, in einen anderen Bereich konvertiert, die in einem anderen Medium eingelöst werden, die auch in weiteren raumzeitlichen Kontexten als denen ihrer unmittelbaren Entstehung Gültigkeit bewahren können […].2

Es ist diese Frage nach der Konvertierbarkeit, die Frage, inwieweit Geld- und Sprachzeichen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen übertragbar, eben ›gedeckt‹ sind, in der sich poetologische und ökonomische Überlegungen treffen. Nicht von ungefähr wird die unentwegt auf Vermögensbildung angelegte Zeichenkunst des John Kabys in Der Schmied seines Glückes explizit wirtschaftlich konnotiert, fallen »zu schmieden und zu spekulieren« im Problemkreis der Erzählung in eins.3 Seldwyla, so pointiert Erika Swales, unterscheidet sich nur durch einen Konsonanten von einem »Geldwyla«, von einem Weiler des Geldes.4 Schon in der Einleitung zum ersten Novellenband bezeichnet Keller das fi ktive Schweizer Städtchen als Ort »eines

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Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 15. Keller: Der Schmied seines Glückes, S. 86. Vgl. Abschnitt 2.3.2.1. dieser Arbeit. Swales: The Poetics of Scepticism, S. 59.

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trefflichen Schuldenverkehres«, als »Paradies des Credites«.5 Und folgerichtig ermöglicht das parabelhafte Setting gemeinsam mit einer semiotischen Selbstreflexion immer wieder auch die Thematisierung moderner Arten des Geld- und Kreditverkehrs in den verschiedenen Novellen.6 Unter die Texte, die den ökonomischen und literarischen Zeichengebrauch dezidiert aufeinander beziehen und die neuerdings in der literarökonomischen Forschung entsprechend eine regelrechte Prominenz erlangt haben, gehört Kellers Novelle Die mißbrauchten Liebesbriefe (1874) aus dem zweiten Band der Leute von Seldwyla. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Kunstsatire.7 In dem Kaufmann und Hobbyliteraten Viggi Störteler karikiert der Text eine literarische Ambition, die sich primär aus den Vorgaben des zeitgenössischen Leihbibliotheks- und Zeitschriftenwesens (die Gartenlaube wird namentlich genannt) ableitet. Es ist eine Welt der »Preisnovellen« in »Sonntagsblättchen«8, eine Welt voll »Honorar, Verleger, Clique, Coterie«9, mit einem Wort: der neuzeitliche Literaturmarkt, in den Viggi unter dem Künstlernamen Kurt vom Walde eintritt. Schon die erste Episode der Novelle denunziert diese Welt in geradezu ätzender und für den Realismus charakteristischer Weise. Auf einer Geschäftsreise trifft Viggi eines Abends mit einigen gleichgesinnten Schriftstellern zusammen. Auch diese publizieren unter Pseudonymen wie Oskar Nordstern, Guido von Strahlheim oder Kunibert vom Meere und zeigen sich beschlagen in Angelegenheiten des Verlagswesens. Modernität und »Kenntnis in den täglich auftauchenden Erscheinungen leichterer Art und aller der Personen und Persönchen, welche sich auf den tausend grauen Blättern stündlich unter wunderbaren Namen herumtummeln«, gelten in dieser Runde viel, mehrere Flaschen eines »unechten wohlfeilen und sauren Weines« ebenso.10 Diskussionen einiger älterer Anwesender über Cervantes, Rabelais, Sterne, Jean Paul, Goethe und Tieck werden hingegen ignoriert. Schließlich verabschieden sich die Möchtegern-Salon- und Modeliteraten, indem sie

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Gottfried Keller: [Einleitung zu:] Die Leute von Seldwyla. Erster Band [1856]. In: HKKA, Bd. 4, Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 7–12, hier: S. 8. Vgl. die Bestandsaufnahme von Jörg Kreienbrock: Das Kreditparadies Seldwyla. Zur Beziehung von Ökonomie und Literatur in Gottfried Kellers »Die Leute von Seldwyla«. In: Hans Joachim Hahn/Uwe Seja (Hg.), Gottfried Keller, »Die Leute von Seldwyla«. Kritische Studien – Critical Essays, Oxford, Bern et al. 2007, S. 117–134. Vgl. zu den Implikationen im Hinblick auf die Kunstmarktsituation Tschopp: Kunst und Volk, S.  130–146; Michael Kaiser: Literatursoziologische Studien zu Gottfried Kellers Dichtung, Bonn 1965, S. 77–113. In dieser Richtung expemplarischer behandelt Gerhart Kaiser Viggis Fall als Beispiel für »das existentielle Dilemma des modernen Poeten, im Dichten auf seine Erfahrung verwiesen zu sein, aber durch das Dichten sich von seinen Erfahrungen zu trennen und sie zu entäußern«. Kaiser: Gottfried Keller, S. 368. Gottfried Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe [1873]. In: HKKA, Bd. 5 (Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band), Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 97–180, hier: S. 98. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 100. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 100.

einander in gehobener Stimmung die »förmliche und feierliche Stiftung einer ›neuen Sturm und Drangperiode‹« geloben.11 Das Epigonenproblem, das hier en passant angerissen ist, ist ein poetologischer Kernbestandteil realistischer Programmatik.12 Indem die Trivialliteraten um Viggi Störteler die Frage übergehen, wie man nach Abschluss der Klassik eines Cervantes oder Goethe literarisch am sich zunehmend diversifizierenden Gegenwartsstoff weiterarbeiten kann, werden sie durch die satirische Erzählinstanz gewissermaßen als das ›Andere‹ der realistischen Hochliteratur stigmatisiert: Falscher Literat ist, wer die klassischen Vorgaben verkennt. In erstaunlich offenen, normativen Einschüben über »diese Herren, welche ein gutes Buch Jahrzehnte lang ungelesen ließen«13, überzeichnet, ironisiert und deklassiert Kellers Erzählkonstruktion ihre Figuren. Vorderhand wird damit die Reflexion auf den Warencharakter der zeitgenössischen Kunstproduktion marginalisiert. Über Honorare und Autorennetzwerke reden nur diejenigen, die von Goethe und der übrigen Hochliteratur keine Ahnung haben. Doch bleibt Kellers Text bei dieser Unterscheidung zwischen marktförmiger Gebrauchskunst, wie sie die lächerlichen Anderen vorlegen, und eigentlichem Erzählen nicht stehen. Bereits im anschließenden Auftritt des Kellners Georg Nase als Kommentator dieser Wirtshausszene deutet der Text nicht nur eine Selbstbezüglichkeit an (merke: Georg/Gottfried, Kell(n)er!). Er legt hier auch die für die Erzählung zentrale poetologische Frage nach dem Verhältnis von Kontextbezug und abstrakter, autonomer Literarizität, von Stoff und Form an. Und diese Frage wird weiterhin in ihren ökonomischen Dimensionen bewusst gehalten. Georg präsentiert sich in seiner Lebensgeschichte als gescheiterter Literat: Ebenfalls angereizt durch den Zeitschriftendiskurs, wie er in Kaffeehäusern vertreten wird, reüssierte er anderthalb Jahre lang als Schriftsteller. Er plagiierte Zeitschriftennotizen und fremde Originalwerke – ein wiederkehrendes Keller-Motiv14 – und richtete sein Schreiben so ganz auf einen wirklichkeitsfernen Umgang mit innerliterarischer Textualität aus. »Ich hatte eben keinen Stoff als so zu sagen das Schreiben selbst«.15 Schließlich begrub Georg seine literarischen Ambitionen, als sich der literarische Markt als wenig lukrativ, oder zumindest weniger lukrativ als der Kellnerberuf (!), erwies. Wer allein aus dem vorhandenen Schrifttum schöpft und damit gewissermaßen immanent Zeichen aus Zeichen bildet, ohne darin externe Kontexte zu reflektieren, der arbeitet in letzter Instanz ökonomisch ineffizient, so die Pointe dieser eingescho-

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 101. Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 100. Man denke an den Briefwechsel im Grünen Heinrich, in dem ein namenlos bleibender Jugendfreund stillschweigend Rousseau, Werther, Sterne oder Hippel abschreibt, um seinen Schrift wechsel mit Heinrich Lee aufzuwerten. Vgl. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 289–292. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 104.

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benen Erzählung. Und ebendiese wird in der Folge auch am künstlerischen Schaffen des Protagonisten Viggi Störteler durchgespielt. Heimgekehrt vertieft sich Viggi in seine literarische Vervollkommnung, verklärt seine Ehefrau Gritli zur Muse, betreibt Studien in freier Natur und initiiert schließlich, aus Anlass einer weiteren Geschäftsreise, den titelgebenden Liebesbriefwechsel mit Gritli. Schon sein erster Brief aus der Fremde ist poetologisch aufschlussreich. Er amplifiziert einen einzigen Gedanken: Trennung ist schmerzhaft. Vom konkreten Trennungsszenario der Eheleute ist keine Rede, stattdessen präsentiert der emphatische Autor eine Reihe überdimensionierter Terme und ahndungsvoller Interpunktionen, die der klassischen Liebestragödiendiktion entstammen: Wenn sich zwei Sterne küssen, so gehen zwei Welten unter! Vier rosige Lippen erstarren, zwischen deren Kuß ein Gifttropfen fällt! Aber dieses Erstarren und jener Untergang sind Seligkeit und ihr Augenblick wiegt Ewigkeiten auf! Wohl hab’ ich’s bedacht und hab’ es bedacht und fi nde meines Denkens kein Ende: – Warum ist Trennung? – ? – […].16

Die Spiegelung der Liebenden in Dimensionen der Gestirne, der Kuss ›rosiger‹ Lippen, zwischen die ein ›Gifttropfen‹ fällt, – in diesen Anspielungen bemüht Viggi seine offenkundige Textvorlage Romeo und Julia zum Ausdruck höchster Liebeswehen. Ein jeder Ausdruck ist darin nicht auf metaphorische Konkretisierung (›Du bist mein Stern‹), sondern auf Distanzierung und Überhöhung angelegt: »Die Glut meines Liebeswillens ist stärker als Trennung, und wäre diese die Urverneinung selbst – – so lange dies Herz schlägt, ist das Universum noch nicht um die Urbejahung gekommen!!«17 Vom Stern zum Universum, vom Untergang zur Urverneinung – in diesen Ausweitungen entwickelt sich hier eine hyperbolische Darbietung, die im Feld größtmöglicher (kosmologischer) Allgemeinheit ihre Literarizität zu gewinnen hofft . Dagegen nimmt sich die Nachschrift, die diesem Brief beigegeben ist, vergleichsweise profan aus: »Der junge Müller an der Burggasse, welchen ich angetroffen, hat mich um 40 Francs angepumpt in Gegenwart von andern Reisenden und ganz en passant, so daß ich es in der Eile nicht abschlagen konnte.«18 Die Anekdote, die sich in diesem Beginn abzeichnet, umfasst ein missglücktes Kreditgeschäft und veranschaulicht die mangelhafte Zahlungsmoral in Seldwyla.19 In Haupttext und Nachschrift stehen sich somit zwei radikal unterschiedliche Textverfahren gegenüber: Während Viggis Liebesbrief auf Dekontextualisierung und Amplifi kation und damit im Gan-

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 114. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 114. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 114. Tatsächlich hat Keller die bereits im Vorwort zum ersten Band der Leute von Seldwyla angerissene Kritik am Schuldenverkehr vor Ort im Vorwort zum zweiten Band zugespitzt und die »überall verbreitete Spekulationsbethätigung in bekannten und unbekannten Werten« als neumodisches Charakteristikum des Lebens in seinem Modellstädtchen Seldwyla herausgestellt. Vgl. Keller: Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band (HKKA, Bd. 5), S. 7–10, hier: S. 8.

zen auf eine protomodernistisch anmutende, emphatische Prosa der ›Textur‹ setzt20, bietet das Postskriptum eine konventionell strukturierte Erzählung aus dem Nahbereich, mit Eigennamen, szenographischen Details, Emplotment und clôture. Kellers Entscheidung, diese Postskripta unverdrossen zu berichten, die manierierten Liebesbriefe hingegen aus der weiteren Darstellung auszuscheiden, gerät da zum poetologischen Bekenntnis. Anspruch auf Eingang in den literarischen Diskurs kann in letzter Instanz nur die alltagsnahe Anekdote erheben. Denn Realismus setzt auf starke Kontexte. Texturierte Passagen, und seien sie auch intradiegetisch motiviert, bleiben demgegenüber eine Ausnahmeerscheinung. Entsprechend wird die eigentliche novellistische Handlung um die ›missbrauchten‹ Liebesbriefe, für deren Beantwortung Gritli heimlich ihren Nachbarn Wilhelm als (gleichfalls) poetisch entflammbaren Schreiber einspannt, indirekt abgehandelt. Keine weiteren Kostproben gibt es von diesen ausgetauschten Liebestexten. Mitgeteilt werden lediglich der Kommunikationsrahmen, Gritlis Vermittlungskniffe und gelegentlich eine Reaktion auf das von Wilhelm Geschriebene: Durch dies »fühlte sie sich tief bewegt und es fielen ihr sogar einige Thränen auf das Papier«.21 Von hier aus, von diesen ersten Anzeichen eines als ›echt‹ rezipierten Gefühlsausdrucks her, wird die glückliche Liebesgeschichte motiviert, die Keller nach Aufdeckung des Briefschwindels und anschließender Scheidung des Ehepaars Störteler im zweiten Teil der Novelle für Gritli und Wilhelm reserviert. Das Interesse nun, das die neuere literarökonomische Forschung dieser Novelle entgegengebracht hat, geht gleichfalls von der eigentümlichen Aufspaltung zwischen Haupttext und Nachschrift in diesem Briefverkehr aus, wertet sie aber stärker medientheoretisch in ihrer Parallelität denn poetologisch als Antithese aus. Durch die Koordination von emphatischer Liebestextur und kreditökonomischer Anekdote in den Postskripta leiste Kellers Text eine Engführung von literarischer und kaufmännischer Produktivität, die letztlich etwas von der Ökonomisierung des Denkens als genuinem Signum temporis der Moderne preisgebe. Jochen Hörisch liest Die mißbrauchten Liebesbriefe in diesem Sinne als »poetische Illustration« der These zur universalen Mobilisierung und Monetarisierung aller Lebensbereiche, wie sie etwa Georg Simmel 1900 in seiner Philosophie des Geldes vorgelegt hat.22 Im Zeichen des an sich eigenschaftslosen Geldes werden substanziell unterschiedliche Kontexte (Partnerschaften, Berufsfelder, Lebensräume etc.) miteinander verschaltet. »Beziehungswahn des Geldes«, nennt Hörisch diese Verknüpfungsleistung etwas metaphorisch.23 Bei

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Vgl. Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 12–20. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 121. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 102. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 102. Anders als im pathologischen »Beziehungswahn« beim Psychologen Ernst Kretschmer, den Hörisch hier als Gewährsmann zitiert, stellt das Geld tatsächliche und nicht nur eingebildete Beziehungen zwischen dem Selbst und irgendwelchen entfernten Begebenheiten her, sprich: Börsenbewegungen in New York haben in einer globalisierten Ökonomie ›wirklich‹ etwas mit uns zu tun. In diesem Sinne ist Hörischs Inanspruchnahme des Begriffs metaphorisch.

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Keller sieht er diese ›wahnhafte‹ Konstellation im Schnittfeld »erotischer, ästhetischer und monetärer Informationsflüsse«24 veranschaulicht, wenn sich zwei Männer vermittels ihrer stillen ›Sekretärin‹ (Gritli) einem, von außen betrachtet, homoerotischen Liebesbriefwechsel hingeben. Diesem Wahnmoment entsprächen das schnelle Wachstum und die ›fehlende Deckung‹ der Liebesbriefe, und es werde verstärkt durch jene Postskripta, die ein ebenfalls ungedecktes Schuldgeschäft dokumentierten. Aufgenommen und mit Blick auf das Handlungsmodell der Ökonomen ausgearbeitet wird diese Modernisierungsthese von Fritz Breithaupt. Breithaupt diskutiert Kellers Novelle im Horizont eines Subjektivitätswandels, der sich im 19. Jahrhundert vollziehe: Das romantische Ich (das die Selbstwerdung zum Zielpunkt eines Bildungsweges erklärt) stellt sich um auf ein Ich des ökonomischen Selbstinteresses (in dem das Selbst als Motor einer jeden Tätigkeit vorausgesetzt ist). Diese neue ökonomische Subjektivität ist dadurch charakterisiert, dass sie ihre Umwelt in ›Währungen‹ codiert, d.h. alle Handlungen in Analogie zu monetären Transaktionen berechenbar macht. Der Homo oeconomicus, so Breithaupt, ist ein »Währungsfinder und -erfinder«, der sein Gewinn- und Verlustkalkül auf alles, namentlich auch auf immaterielle, innere Eigenschaften und Vorgänge, ausdehnt, sodass ihm etwa Libido, Ehre, Genie, Ruhm oder moralischer Anstand als Währungen des Selbst erscheinen können.25 Als die Literatur dieses Homo oeconomicus gilt nun gerade der Realismus der nachrevolutionären Epoche. Insofern man, nach Breithaupt, den »Realismus insgesamt als Pluralität nicht von Weltsichten, sondern von Währungen charakterisieren könnte«26, wird denn auch Kellers Text auf die darin verhandelten ›Währungen‹ hin untersucht. Drei solcher Währungen werden, angebunden an den ›Währungsträger Brief‹, ausgemacht: das Geld, der literarische Ruhm und die Liebe. Was Ruhm und Liebe dabei zu Währungen macht, ist neben ihrer medialen Beziehung auf den portointensiven Briefverkehr die Möglichkeit von Gewinn und Verlust. Etwas brüchig wird diese Argumentation, wenn auch die Liebesepisode nach Abschluss des Briefverkehrs weiterhin in der Währungslogik gefasst werden soll: Wilhelm zieht sich aufs Land zurück, ›verknappt‹ seinen Auftritt und generiert dadurch einen höheren (Selbst-)Wert, der ihn auch für Gritli wieder reizvoll macht. Spätestens hier verliert sich die Lektüre in eine Metaphorisierung, die weniger vom Text gedeckt ist, als durch den radikal aktualisierenden Interpreten projizierend eingebracht wird. Dazu gleich mehr.

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Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 103. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S.  117. Der betreffende Abschnitt in Breithaupts Studie geht auf einen früheren Aufsatz von ihm zurück, weshalb Breithaupt hier unter die Vorreiter der stetig wachsenden literarökonomischen Forschung gerechnet wird. Vgl. Fritz Breithaupt: Homo Oeconomicus (Junges Deutschland, Psychologie, Keller und Freytag). In: Jürgen Fohrmann/Helmut J. Schneider (Hg.), 1848 und das Versprechen der Moderne, Würzburg 2003, S. 85–112. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 117.

Die Interpretationen, die Hörisch und Breithaupt hier vorlegen, sind charakteristisch für das Pionierstadium der literarökonomischen Forschung. Ihnen kommt das Verdienst zu, Texte, die wie Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe in der Forschung lange ein eher randständiges Dasein fristeten27, durch den Anschluss an aktuelle monetaristische Überlegungen aufzuwerten. Aber in diesem Bemühen um Aktualität entgeht ihnen ein wenig das Feintuning dieser Literatur. Auffällig wird das in der Behandlung der Figur Gritli. Für Breithaupt repräsentiert sie das eigentlich moderne Selbst im Text, den Homo oeconomicus, insofern sie in ihrer Manipulation des Briefwechsels »die Währungen als Währungen« erkennt.28 Dabei dürfte die bloße Fähigkeit zur Manipulation des Schrift verkehrs kaum ein hinreichender Beleg für diese These sein, denn sie unterscheidet sich strukturell in nichts von jeglichen Fälschungen, wie sie seit alters her die Schriftkommunikation begleiten und entsprechend literarisch topisiert sind (man denke z.B. an die Briefintrige gegen Malvolio in Shakespeares Was ihr wollt). Sollte die Figurenperspektive tatsächlich die infrage stehenden Konzepte als Währung auffassen, dann bedürfte es hierfür einer expliziten Verbindung zwischen dem jeweiligen Genus proprium (etwa ›Liebe‹ oder ›Ruhm‹) und einem monetären Prädikat. Man erwartet also eine Figurenrede, die mit entsprechenden Vergleichen oder Metaphern gesättigt ist, doch findet man eine solche bei Keller nicht. Auch Hörisch muss die Logik des Geldes der vermittelnden Figur Gritli zuschreiben, will er den Briefwechsel als Produkt eines monetären ›Beziehungswahns‹ auffassen. Und folgerichtig führt er aus: »Auf den so vielfach gespaltenen und mißbrauchten Liebesbrief reagiert Gritli nach kurzem Schreck ihrerseits mit einer mißbräuchlichen Spaltung – und durchaus der Ökonomie ihrer Kräfte entsprechend. Sie fühlt sich unfähig, Liebe, ästhetische Musenerziehung und Ökonomie zur einheitlichen Deckung zu bringen. […] Gut schweizerisch rechnet sie vielmehr mit ihren Kräften.« Die Keller-Stelle, die Hörisch hier paraphrasiert, lautet wie folgt: Mit diesem Brief in der Hand saß sie nun da und las und wußte nichts darauf zu antworten. Wenn sie sich auch über die Grausamkeit oder Nützlichkeit einige hausbackene Gedanken zurecht gezimmert, so fehlte ihr für die neue Anregung, die sie hinzufügen sollte, jeder Einfall […].

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Und zwar im Einklang mit einer Einschätzung Kellers, der, wie man lange annahm, die Erzählung selbst als »eine von den unbedeutenderen« einstufte. Vgl. Gottfried Keller: [Brief an Eduard und Heinrich Vieweg, Nr. 645]. In: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe. In vier Bänden, hg. von Carl Helbling. Bd. 3.2, Bern 1953, S. 143–144, hier: S. 144. Der Bezug dieser Briefstelle auf Die mißbrauchten Liebesbriefe und damit auch die Chronologie der Textentstehung des zweiten Bandes der Leute von Seldwyla sind unlängst problematisiert worden. Vgl. Walter Morgenthaler: Wann sind Gottfried Kellers »Leute von Seldwyla« entstanden? Zu einigen Datierungsfragen der »zweiten vermehrten Auflage«. In: Text. Kritische Beiträge, Heft 6 (Kommentar 1), Frankfurt a.M. 2000, S. 99– 110, hier: S. 104–106. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 132.

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Sie ging mit dem Briefe auch in den Garten und ging auf und nieder, in immer größerer Angst befangen; da sah sie den Handlungsdiener ihres Mannes und geriet auf den Einfall, ihn ins Vertrauen zu ziehen, ihm ihre Not zu klagen und ihn zur Mithülfe zu veranlassen. Allein sie gab diesen Gedanken sofort auf, um den Respekt gegen ihren Mann nicht zu untergraben. Da fiel ihr Blick auf das Gärtchen eines Nachbarhauses, welches von ihrem Garten nur durch eine grüne Hecke getrennt war, und plötzlich verfiel ihre Frauenlist auf den wunderlichsten Ausweg, welchen sie auch, ohne sich lange zu besinnen und wie von einem höheren Licht erleuchtet, alsobald betrat.29

Die Gritli, wie sie hier vorgeführt wird, ist alles andere als eine nach gut schweizerischer Sitte ›rechnende‹ Frau, die mit rationalem Kalkül ihre Kraftressourcen bemisst. Von Einfall zu Einfall schlingert sie, was der Szene im Ganzen eher das Bild einer spontanen Unbedachtheit unterlegt. Gedanken werden nicht in Geld bewertet, sondern ›zurechtgezimmert‹ (der Rekurs auf die handwerkliche Produktionssphäre, die diese Metapher abwirft, wird noch von Interesse sein!). Entsprechend ist das ›höhere Licht‹, das Gritli ›erleuchtet‹, auch nicht die Sonne des Homo oeconomicus, sondern schlicht der novellistische Einfall, der sich an dieser Stelle implizit als spontan, ungewöhnlich und also interessant feiert. Die literarökonomischen Interpretationen leisten, so betrachtet, also eher selbst die Metaphorisierung, als dass sie auf starke Vorgaben von Seiten des Keller-Textes bauen könnten. Ersichtlich wird dies, wenn man dagegenhält, wie das von Hörisch und Breithaupt beanspruchte Kalkül tatsächlich literarisch handlungskonstitutiv zu fassen wäre. In dem zeitgenössischen Lustspiel Le Duc Job (1859) des Franzosen Léon Laya (1810–1872), das unter dem Titel Die Spekulanten (1859) von Emil Neumann sowie als Nur Spekulanten von Adolf von Winterfeld (1860) ins Deutsche übertragen wurde, trifft man auf eine moderne ökonomische Frauenfigur, die den gestellten Anforderungen um ein Vielfaches näher kommt. Der erste Teil von Nur Spekulanten stellt zunächst den etwas ruchlosen Aktiengewinnler Heinrich Duon vor, der das Erbe seines Onkels vor der Öffentlichkeit verheimlicht hat, um sich an der Börse als Selfmademan zu profi lieren30, und nun im Begriff ist, in die Bankiersfamilie Brasse einzuheiraten. Doch schon bald tritt sein Studienfreund, der integre Offi zier und Herzog Jean von Prie, auf, der sich seinerseits in die Bankierstochter Marie verliebt und tatsächlich ihr Herz und ihre Hand gewinnen wird. Die Verwicklungen auf dem Weg zum Happy End entspringen nun weniger der Dreieckskonstellation (Duon tritt recht zügig von seinen Heiratsansprüchen zurück). Sie liegen im Pekuniären. Denn Jean ist vergleichsweise mittellos. Und so sehen wir Maries Liebe zu ihm auf recht eigentümliche Weise wachsen. Während Jean schläft und Marie zunehmend ihre Zuneigung für ihn entdeckt, fängt sie an, ihr in Aussicht stehendes Haushaltsbudget zu kalkulieren:

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 115. Dieses Motiv begegnet auch in der Figur des Moses Freudenstein/Theophile Stein in Raabes Der Hungerpastor. Vgl. Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor [1864]. In: BA, Bd. 6, Freiburg 1953, S. 271f.

Marie. […] Die Hauptsache ist doch, daß man leben kann, sagt Papa, und er hat nicht Unrecht. – Ich mag rechnen und rechnen, aber unter 31,000 Francs jährlich will es nun einmal nicht gehen … und wir würden nur 19,000 haben! Ah! Da ist ein Stückchen Papier! … Laß sehen! … Während er schläft … das ist komisch. – […] Marie (rechnend). Equipage, Miethe, Bedienter … Kammerfrau … Köchin … Kleidung des Herrn … das weiß ich nicht genau, ich habe zweitausendfünfhundert Francs angesetzt … das reicht wohl kaum … Toilette für Madame viertausend … Die Roben sind so entsetzlich theuer. Und Stiefel, Hüte, Handschuhe … ich müßte dabei noch Schulden machen, ohne Zweifel! … Doch … versuchen wir ein wenig zu streichen … setzen wir … Toilette für Madame dreitausend Francs … und bei der Equipage … anstatt zweier Pferde … (seufzend) setzen wir … nur eins! – Wie stellt es sich denn nun? (Addierend.) Null, Null, Fünf, Zehn, Dreizehn, Siebzehn, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig, Fünfundzwanzig. Ah, mein Gott! – Es ist noch zu viel!31

Hier hat das ökonomische Kalkül wirklich die literarische Textur erreicht. Ausführlich breitet die Figurenrede den infrage stehenden Haushalt aus, zeigt ihn gegliedert und stellt Bewertungen vor, wenn niederrangige Güter aus dem Bedarf ausgeschieden werden (ein Pferd). ›Es ist noch zu viel‹, schließt Marie, und selbstverständlich darf die Rechnung an dieser Stelle, mitten im Drama, noch nicht aufgehen. Der entscheidende Schritt aber ist getan. Marie rechnet ihre Luxusbedürfnisse klein und wertet damit sukzessive die anvisierte Partnerschaft mit Jean auf. Später wird das höhere Schicksal der Komödie sie für diese Entsagungsbereitschaft belohnen, Jean mit einem Millionenerbe ausstatten und beide standesgemäß in die Ehe führen. Das Fundament dieser Partnerschaft aber ist hier ganz eigenständig aus der ökonomischen Rationalität Maries heraus gegründet. Als die Männer, Jean und sein Onkel, der Marquis von Prie, ihre Kalkulationen finden, schätzt der Marquis dessen Aussagekraft präzise ein: »Ihr Herz überlegt … sie rechnet …«.32 Wenn also Liebe als ökonomisierbares Konzept auftritt, dann wohl hier, wo ihr Entstehen mit einem Kalkül zusammenfällt, wo sich ein poetischer Text ausgiebig der ökonomischen Buchhaltung widmet. Bei Keller fehlt demgegenüber nicht nur die Durchdringung der Textur mit kalkulatorischen Größen, es fehlt überhaupt das entscheidende Moment der Ökonomisierung: die Gliederung des infrage stehenden Gegenstandes durch Quantifizierung. Gritli legt eben keine Rechnungen vor, die ihre Schaffenskraft, ihre Zuneigung oder was auch immer repräsentiert, sondern sie erfasst ihre Umwelt in absoluten Unterschieden: Bei den Briefen Wilhelms weint sie erregt, bei denen Viggis nicht. Entsprechend wird auch die Liebesgeschichte mit Wilhelm nicht als ein langsames ›Investieren‹ in die Partnerschaft interpretiert, sondern als Erfüllung eines anlässlich des Scheidungsprozesses und der damit verbundenen öffentlichen Bloßstellung Wilhelms’ insgeheim getroffenen Versprechens: »[I]ch dachte in meinem Herzen, daß dafür meine Person, wie sie ist, Ihnen für immer angehören solle, wenn die Zeit

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Adolf von Winterfeld: Nur Spekulanten. Lustspiel in 4 Akten nach »Le Duc Job« des Léon Laya, Berlin 1860, S. 31f. Winterfeld: Nur Spekulanten, S. 37.

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dafür gekommen sei! Und da bin ich nun!«33 Ein Entweder-Oder, ein qualitativ abgestimmtes Ganz-oder-gar-nicht regiert also die Novelle. Und das Sinnbild dafür liefert eine Anekdote, die Gritli bereits in einem Postskriptum ihres Briefwechsels Viggi zur literarischen Verwertung vorschlägt und in der die ökonomischen Implikationen signifi kant sind: Der arme Schorenhans, so schreibt sie, habe bei einem Ausflug zu seinem Zinsherren alles so eingerichtet, dass er zum Mittag dort einträfe, damit er bei seiner Ratenrückzahlung wenigstens noch eine Mahlzeit abgreifen könne. Als die Gastgeber wider Erwarten keine Einladung zu Tisch aussprechen, sondern ihn vielmehr beim Essen zusehen lassen, flicht der Schorenhans eine unscheinbare Nachricht ins Gespräch, »daß merkwürdigerweise diese Woche eine Sau dreizehn Ferkel geworfen hat«.34 Da beweist die Zinsfrau Auffassungsgabe: »Oh du lieber Gott! Was machen sie doch aus deiner Weltordnung! Ein Mutterschwein hat ja nur zwölf Zitzchen, wo soll denn das dreizehnte Säulein saugen!«35 Und der Schorenhans kann seine Pointe platzieren: »Es hat’s eben wie ich, es muß zusehen!«36 Zur Belohnung für seine espritvolle Einlage gibt es für ihn reichlich Essen. Die Sau mit zwölf Zitzchen und dreizehn Ferkeln könnte durchaus als eine Allegorie der Knappheit gelten, eine Allegorie, die auf die genuine Ausgangsbedingung neuzeitlicher Wirtschaftsbetrachtung im Anschluss an Adam Smith aufmerksam macht. Doch wird die hier vermeldete Knappheit gerade nicht ökonomisch ausgewertet. Wie man die knappe Ressource ›Muttermilch‹ bewirtschaften muss, damit sie auch für dreizehn Ferkel reicht, spielt keine Rolle. Das Bild geht vollends auf in einer relativ schlichten Arm-versus-reich-Lesart: Der eine hat etwas, der andere muss zusehen. Wo etwas fehlt, da haben andere zu viel. Das ist in der Tat vormodern gedacht. Von Wachstumsökonomie keine Spur. Als ›Illustration‹ der Homo-oeconomicus-Logik geht Kellers Novelle also nicht auf. Ihr Beitrag zu ökonomischen Fragestellungen liegt anderswo. Wenn man den Kaufmann Viggi Störteler bei Aufdeckung des Briefschwindels schimpfen hört, Gritlis »Armut zehrt wie ein Vampyr am fremden Reichtum«37, dann ist das zwar noch kein besonders elaborierter Ausdruck einer »Ökonomie der Liebesästhetik« (Hörisch)38, doch liegt hier immerhin eine dem Wirtschaftsfach entstammende Begrifflichkeit vor. Vom Vampirismus des Geldes oder allgemeiner des Kapitals ist bekanntlich regelmäßig die Rede bei Karl Marx. »Das Kapital«, so Marx, »ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.«39 Will man das Wort ›Armut‹ in

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 178. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 123. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 123. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 123. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 129. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 108. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band [1867]. In: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 247. Hierzu ausführlich Abschnitt 4.3. dieser Arbeit.

Viggis Rede abstrakt als Potenz- oder Eigenschaftslosigkeit auffassen, so sagt Viggi hier also sinngemäß: Wie das an sich impotente Kapital so zapft Gritli die lebendige, reiche Schaffenskraft der schreibenden Männer an. Damit ist allerdings weniger über Gritli ausgesagt als über den Sprecher selbst. Er ist es, der in ökonomischen Kategorien denkt. Und was die Zeugungsunfähigkeit anbelangt, so muss man hinzufügen: Viggis Partnerschaften bleiben, anders als Gritlis Ehe mit Wilhelm, kinderlos. Tatsächlich sind über Viggi, den Kaufmann, in dieser Novelle die konventionellen Eigenschaften des Kapitals abgerufen. Er ist mobil, stiftet Zusammenhänge über größere Distanzen hinweg und zeigt sich im Kreditgeschäft, wie es in den Postskripta dargelegt ist, nicht nur für die kaufmännische Ware-Geld-Beziehung, sondern auch für die finanzwirtschaftliche Geld-Geld-Beziehung offen. Das Problem Viggis aber, das Problem, das die Novelle zentral entwirft, ist, dass ihm im Kapitaleinsatz zunehmend die zugrunde liegende Warendimension verloren geht. Schon die Pointe des Kredithandels in den Postskripta läuft auf ebendiesen Punkt hinaus: Aus der Ferne misslingt es Viggi, einen Gegenwert für sein Darlehen an den Müller an der Burggasse in Form von einer »Partie Oelsamen« einzufahren.40 Der Geldforderung bleibt ihre Realisierung versagt. Eingehender aber diskutiert die Novelle das Problem des Kapitals implizit, vermittelt über ihre poetologischen Überlegungen. So, wie sich das dichterische Schaffen in den Briefen mit den kapitalwirtschaftlichen Bestrebungen koordiniert zeigt, so stellt die Novelle eine Beziehung zwischen einem abstrakten Zeichengebrauch und den Problematiken des Geldverkehrs her. Ebendies hatte Hörisch zu Recht als ›Problem der Deckung‹ ausgemacht. Viggis Fall führt es vor. Noch bevor Viggi seinen ersten, stark texturierten Liebesbrief verfasst, begibt er sich zu poetischen Studien ins Seldwyler Umland. Deren Ertrag ist in vier Notizbucheinträgen wie folgt niedergelegt: »Ein Buchenstamm. Hellgrau mit noch helleren Flecken und Querstreifen. […] Vielleicht in Räuberscenen anzuwenden.«41

Zweitens: »Interessantes Detail. Kleiner Stab in Erde gesteckt. Leiche von silbergrauer Schlange darum gewunden, gebrochen im Starrkrampf des Todes. […] Ist Merkur tot und hat seinen Stab mit toten Schlangen hier stecken lassen? Letztere Anspielung mehr für Handelsnovelle tauglich. […]«42

Drittens: »Motiv für Dorfgeschichte: Wagenfurche halb mit Wasser gefüllt, in welchem kleine Wassertierchen schwimmen. Hohlweg. Erde feucht, dunkelbraun. […] Großer Stein im Wege, zum Teil mit frischen Beschädigungen, wie von Wagenrädern. Hieran ließe sich Exposition knüpfen von umgeworfenen Wagen, Streit und Gewaltthat. […]«43

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 114. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 108. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 108f. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 109.

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Schließlich trifft Viggi auf eine Bäuerin: »Derbe Gestalt, barfuß, bis über die Knöchel voll Straßenstaub; blaugestreifter Kittel, schwarzes Mieder, Rest von Nationaltracht, Kopf in rotes Tuch gehüllt, weiß gewürfelt –« allein urplötzlich rannte die Dirne davon und warf die Beine auf, als ob ihr der böse Feind im Nacken säße. Viktor, ihr begierig nachsehend, schrieb eifrig: »Köstlich! Dämonischpopuläre Gestalt, elementarisches Wesen.«44

Die Einträge sind deutlich schematisiert: Jeweils kippt eine detailrealistische Nahaufnahme (der Landschaft bzw. der Bäuerin) in eine typologische literarische Zuschreibung. Viggi beobachtet die Umgebung stets mit Blick auf einen Verwertungszusammenhang. Abgezielt wird auf gängige Genres wie die Handelsnovelle oder die Dorfgeschichte mit Räuber-und-Gendarm-Anklängen45, auf Gattungsnormen (›Exposition‹) oder auf verallgemeinerbare Figurentypen (was immer auch eine ›dämonisch-populäre‹ Gestalt ist). Viggi orientiert sich hier, wie man mit Wilhelm Scherer sagen kann, streng am literarischen Kapital. Zur Erinnerung: Bei Scherer wird die dichterische Arbeit in Analogie zum nationalökonomischen Arbeitsbegriff konzeptualisiert und entsprechend auch in Beziehung zum Kapitalbegriff gebracht.46 Als Kapital des Literaten sind dabei jegliche literarische Produktionen aufzufassen, die dem aktuellen Schaffen intertextuelle Standards abgeben, vermittels derer der Stoff organisiert und verarbeitet wird: also Gattungskonventionen, Motive, kurz: alle thematischen und formalen Traditionen.47 Viggi kennt diese literarischen Vorgaben, weiß, welches Kapital auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt nachgefragt ist und also auch für ihn stilbildend werden muss. Aber ihm misslingt die Vermittlung zwischen Kapital und Stoff (und damit auch die Bildung neuen Kapitals), wie sie dem Poetischen Realismus vorschwebt. Denn Viggis Literarisierungstendenz gerät in Widerspruch zur beobachteten Umwelt. Die Gewalttat, mit der er seine Dorfgeschichte aufpeppen will, ist eben nicht aus dem dörflichen Kontext, in dem er sich befindet, abgelesen, sondern bleibt genreliterarische Projektion. Sinnbildlich flieht das Bauernmädchen, als Viggi zu schreiben anfängt. Viggis Poesie des abstrakten Zeichens lebt von der Tilgung der Umwelt. Ebendarin unterscheidet sich sein Projekt vom poetisch realistischen Verfahren. War dort die Funktionalität des Zeichens stets nur unter der Bedingung der Motiviertheit (und Re-Motivierbarkeit) über einen metonymisch herzuleitenden, außerlitera-

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 109. In diesem Eintrag wird am deutlichsten auf eine Literatur angespielt, wie der schreibende Ökonom Adolf Widmann sie etwa in Die katholische Mühle vorlegt. Dass Widmann neben dem Berliner Salonliteratentum um Fanny Lewald und dem Kreis um das »Teutsche Jahrbuch der Junggermanischen Gesellschaft« hier Zielpunkt der Kritik ist, hat die KellerForschung bereits herausgestellt. Vgl. Peter Villwock et al. (Hg.): Die Leute von Seldwyla. Apparat zu Band 4 und 5 der HKKA (HKKA, Bd.  21), Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2000, S. 35f. Hierzu Abschnitt 1.1.2. dieser Arbeit. Vgl. Scherer: Poetik, S. 101.

rischen Kontext garantiert, so streicht Viggi in seinem »paradoxen Verhältnis zum kreatürlichen Kosmos« (Tschopp)48 gerade diesen Kontextbezug. Sein Schreiben wird autonom, insofern es sich allein am literarischen Standard orientiert. In dieser Orientierung atomisiert es die konkreten Kontexte. Von ihnen bleiben dann, wie die Notizbuchaufzeichnungen erkennen lassen, nurmehr isolierte Zeichen auf zweiter Stufe übrig: anstelle eines ›echten‹ Bauernmädchens mit handfestem Auftritt ein abstrakt ›elementarisches‹ Wesen; anstelle (alltäglicher) Handlungsabläufe ein Dekor akribischer Beschreibungsreihen, das durch stereotype Ereigniskerne (Gewalttat) transsituativ zugeschnitten wird. Es passt in diese Problemzeichnung, dass die Alltagsanekdote vom Schorenhans, die sowohl metonymisch konkretisiert als auch, wie gesehen, mit allegorischem Potenzial ausgestattet erscheint und also gut poetisch realistisch gearbeitet ist, in Viggis kapitalorientiertem Literaturkonzept keinen Platz hat. Während Keller, über seine Protagonistin Gritli vermittelt, reichliche zwei Seiten seiner Novelle für den Schorenhans reserviert, entdeckt Viggi darin nurmehr einen »albernen Witze«, der bloß die »Brieftaxe« verdoppelt habe.49 Dass mit Gritli hier gerade jene Figur den poetischen Gegenentwurf Kellers trägt, die am stärksten die Bedürfnisse im häuslichen und lokalen Nahbereich überschaut und eben nicht das literarische oder kaufmännische Kapital, ist mehr als ein Wink der Erzählung. Es ist der Angelpunkt der Kritik, die Keller der Isolation des literarischen wie ökonomischen Kapitals entgegenbringt. Mit Viggi scheitert in diesem Sinne nicht nur eine texturierte, abstrakt zeichenhafte Literatur. Es wird damit im selben Zug auch das Problem eines sich entfremdenden Kapitaleinsatzes aufgeworfen. Wo die Zeichen keinen Gegenwert erhalten, wo das literarische wie das ökonomische Kapital sich nicht in metonymisch konkret erfassbare Umwelten übersetzen lassen bzw. homogen aus diesen gebildet werden, da werden Handlungsabläufe krisenhaft. Viggis finaler Ruin, der aus den horrenden Portokosten für seine Publikationen resultiert, liefert die Allegorie auf dieses diskrepante Verhältnis. Im Kultus um die Postwertzeichen geht das konkrete Haushaltsbudget verloren (die Isolation und den Zerfall des Haushalts symbolisiert die lächerlich dämonische Gestalt der zweiten Ehefrau Kätter Ambach), im Kultus um das literarische Kapital dessen Umweltbezug. Schlussendlich werden Viggis Liebesbriefe – Krönung des Paradoxen – »unter vielem Gezänke vermehrt«.50 Gegen diese Abstraktion und Entkoppelung des Kapitals bietet Kellers Novelle das Happy End um Wilhelm und Gritli auf. Nahezu alle Koordinaten des ersten Teils erscheinen darin umgewertet: Von der Stadt rückt die Handlung aufs Land, an die Stelle medial vermittelter, distanzierter Brief-Kommunikation tritt die Face-to-faceKommunikation und die kaufmännische Waren- und Kreditwirtschaft wird durch eine Subsistenzwirtschaft ersetzt. Wilhelm und Gritli gründen auf einem Weingut

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Tschopp: Kunst und Volk, S. 141. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 124. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 180.

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schließlich eine wohlbehaltene Großfamilie; und eine extreme Raff ung, die gleich noch eine Folgegeneration von Kindern und Schwiegerkindern in die Geschichte eingemeindet, stattet dieses glückliche Finale mit einem Nachhaltigkeitsversprechen aus. Es mag keine moderne Option sein, die Keller hier gegen die Irrungen und Wirrungen um den Kleinkapitalisten Viggi Störteler stellt. Eine poetisch realistische ist sie sehr wohl. Beobachtbarkeit, Sachkenntnis und Nahbereichskompetenz – Motive, die in Literatur und Ökonomie des Realismus noch häufiger begegnen werden – erscheinen als Lösungsmittel des Konfliktes, den die abstrakte Zeichen- und Kapitalzirkulation im ersten Teil ausgelöst hat. Im Kern geht es dabei um die nun schon öfter angesprochene Kontextualisierung des isoliert Zeichenhaften, die hier als Grundvermögen gelungener realistischer Existenz behandelt wird.51 Bevor Gritli und Wilhelm zueinander finden, muss der inzwischen als auratischer Einsiedler geschätzte, doch zurückgezogen auf dem Weingut lebende Wilhelm eine Liebesprobe bestehen. Den Treuetest führt Aennchen durch, eine Freundin Gritlis, die auf ein »Lustspiel für eigene Rechnung« aus ist.52 In Bauerntracht erscheint sie, um Wilhelm zu verführen. Doch dieser vermag, inzwischen ländlich geschult, die fabrizierten Zeichen zu erkennen, d.h. er erkennt den Bruch des Frames ›Bäuerin‹: »Die Haare waren merkwürdigerweise städtisch geflochten und mit einem Tuche bedeckt«53, Aennchen zeigt sich im Rechnen geübt, und obendrein bemerkt Wilhelms kundiger Blick, »welch’ weiße Hand die Bauersfrau besaß«. 54 Diese situative Zeichenkompetenz steht gewissermaßen diametral der Szene vom Anfang gegenüber, in der Viggi das Landmädchen und den mit ihr gegebenen Kontext auf eine situationsentbundene Literarizität hin überspringt. Wilhelms Lektüreleistung wird dabei direkt handlungsrelevant: Aennchen zieht unverrichteter Dinge von dannen, das Feld wird frei für Gritlis Auftritt und die Verlobung. Es ist der Sieg der Experten des Alltags über die abstrakten Zeichenkünstler vom Schlage Viggis. Weshalb die Erzählung mit ihrer Retrophantasie eines geglückten, nichtkapitalistischen Lebens gleichwohl keinen Schlusspunkt zu setzen vermag, hat sich schon in der poetologischen Diskussion gezeigt. Die reine Sachbezogenheit, ein Schreiben unter dem ausschließlichen Motiviertheitspostulat, das idealiter einen jeden Textbaustein auf ein ›Es steht so geschrieben, weil die Welt so ist‹ zurückzuführen vermöchte, würde einen Abschied vom Literarischen bedeuten. Profane, durchweg motivierte Ereigniserzählungen liefert der Zeitungsjournalismus. Für den literarischen Text braucht es demgegenüber das Miteinander von metonymisierenden Verfahren und freier Funktionalität. So endet Kellers Feier des ›Echten‹, als Feier des Ausstiegs

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Erika Swales, die als eine der ersten Interpretinnen auf den engen Zusammenhang der beiden Teile der Novelle, Satire und Liebesgeschichte, hingewiesen hat, sieht hier die Problematisierung einer »semiotics of authenticity« durchgeführt. Vgl. Swales: The Poetics of Scepticism, S. 147–154, hier: S. 154. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 170. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 171. Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 172.

aus der Literatur (das Schreiben haben Wilhelm und Gritli aufgegeben), kaum überraschend in einem Paradox. Von ihrer »kleinen Kolonie von Gutbestehenden« weiß der Text kaum mehr als ein paar Zeilen zu berichten. Die Schlussworte gelten dann dem scheinbar marginalisierten Literatenduo Störteler/Ambach, das zwar noch einmal verächtlich gemacht wird: »Viktor Störteler aber und seine Kätter waren samt jenen Liebesbriefen, welche sie aus Hunger und Not doch wieder hergestellt, auf sich bezogen und unter vielem Gezänke vermehrt hatten, längst vergessen und verschollen.«55 Jedoch hat die Erzählung diese Schlussvolte bereits hinlänglich performativ widerlegt: ›Vergessen und verschollen‹ mögen die Liebesbriefe und das mit ihnen verbundene Projekt einer autonomen Zeichenkunst für die fi ktive Welt Seldwylas sein. In Kellers Erzählung aber haben sie sich bis in den Titel hinein als strukturkonstitutiv erwiesen. Ohne die Abstraktion vom Situativen, ohne die Herauslösung der Zeichen aus ihren Ursprungskontexten, ohne die Bestrebungen eines Viggi Störteler also, wird auch der Realismus nicht literarisch funktional.

3.2.

Die Poetik der Ware und der Schrecken der Finanzökonomie

Die Textualität des Poetischen Realismus hängt fundamental von einem Ineinander von metonymischen und metaphorischen Verfahren ab, in dem eine Konstruktion der Diegese auf Basis der Kontiguität mit der Übercodierung handlungsfunktionaler Elemente einhergeht. Expressis verbis aber heben die Texte, in ihren poetologischen Diskussionen, stets das metonymische Prinzip als primär bedeutsames hervor. Die Gefahr einer metaphorisch ausgerichteten, ›romantischen‹ Phantasie erscheint ihnen größer als die Problematik einer profan welthaltigen Prosa, die sich im Alltagsstoff verliert. Von dieser Priorität aus erhält auch die ökonomische Thematik in der Literatur des Realismus einen besonderen Zuschnitt. Man trifft auf eine Ökonomie der Sachbeziehungen, die sich gegen jegliche finanzökonomische Modernisierungen vehement sperrt. Die satirische Kritik am Kapitalumgang eines Viggi Störteler, wie Keller sie in den Mißbrauchten Liebesbriefen entwickelt, reiht sich hier nahtlos ein in den Kanon finanzskeptischer Erwägungen in der Literatur des Poetischen Realismus. Exemplarisch dargelegt sind die Prämissen dieses Denkens in Gustav Freytags Soll und Haben. Im Hause des jüdischen Finanzspekulanten Hirsch Ehrenthal trifft der Protagonist Anton Wohlfart auf den Sohn des Hausherrn, den kränklichen Gelehrten Bernhard. Und dieser verstrickt ihn in eine Poetikdiskussion, die vom Erzähler schon im Ansatz tendenziös eingerichtet ist. Denn die Leseprobe aus dem Persischen, mit der Bernhard sein Dichtungsideal kundtut, begegnet lediglich in berichteter, geraffter Form: Es war eins von den zahllosen Gedichten, in denen ein weiser Trinker seine Geliebte mit allerlei hübschen Dingen vergleicht, mit Th ieren, Pflanzen, der Sonne und andern Welt-

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Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, S. 180.

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körpern, und daneben einem zelotischen Pfaffen Nasenstüber giebt. Dem ehrlichen Anton imponirte die verschlungene Form und der zugespitzte Ausdruck sehr, aber es war ihm doch komisch, als der Vorleser ausrief: »Nicht wahr, das ist schön?«56

Das komische Gefühl, das Anton hier im Auftrag seines Erzählers befällt, verdankt sich einer literarischen Grundsatzentscheidung gegen das Similiaritätsprinzip, auf dem das vorgetragene persische Gedicht anscheinend beruht. Eine Poesie des Vergleichs, die verschiedene semantische Felder offen miteinander äquivalent setzt (Tiere, Pflanzen, Weltkörper – man denke bei Letzterem auch an den texturierten Liebesbrief Viggis), taugt ebenso wenig für das poetische Gefühl des Helden wie für das seines Erzählers, weshalb dieser Dichtung die direkte Darstellung verwehrt wird. In seiner Erwiderung auf Bernhard wartet Anton denn auch nicht mit einem ähnlichen literarischen Erzeugnis auf, sondern mit einer geerdeten Poetik der Warenwirtschaft, in der sich gleichsam sein Credo als Kaufmann gegen das des ökonomieresistenten Literaturliebhabers artikuliert: »[I]ch weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem Welttheil in den andern spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, und Alles, was uns umgiebt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Thätigkeit vor die Augen; dadurch wird Alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mithelfe und, sowenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Thätigkeit sein. Wenn ich einen Sack Kaffee auf die Waage setze, so knüpfe ich einen unsichtbaren Faden zwischen der Colonistentochter in Brasilien, welche die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum Frühstück trinkt, wenn ich einen Zimmtstengel in die Hand nehme, so sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet und einpackt, und auf der andern Seite ein altes Mütterlein aus unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«57

Gegen die Poesie des Vergleichs wird hier zunächst die Prosa des Geschäftslebens gesetzt, die jegliche Gegebenheit metonymisch aufzulösen bestrebt ist. ›Alles, was wir am Leibe tragen‹, wird zurückgeführt auf die Kausalitäten eines kolonialen Warenverkehrs. Statt der Dichtung fremder Länder wird die auswärtige Güterproduktion in den Blickpunkt gerückt. Doch einen Abschied von poetischen Verfahren bedeutet dies nicht.58 Die Poesie verschiebt sich nur ins Feld der Konnotate. Denn während Anton seinen eigenen Stellenwert als Kaufmann im Gefüge von Produktion, Distribution und Konsumtion erläutert (›ich knüpfe Fäden‹), wird die wirtschaftliche Szenerie hinter-

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 334. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 335f. Der Zusammenhang zwischen der Verklärung des Warenverkehrs und der Programmatik des poetischen Realismus wurde unlängst noch einmal explizit herausgestellt von Christine Achinger: »Prosa der Verhältnisse« und Poesie der Ware. Versöhnte Moderne und Realismus in »Soll und Haben«. In: Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre »Soll und Haben«. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 67–86.

gründig harmonisiert und verklärt. Die Allverwobenheit irdischer Abläufe zeigt sich bei näherer Betrachtung in einfache Komplementärverhältnisse auflösbar: Drüben, in Brasilien, produziert die ›Kolonistentochter‹, hüben genießt ihr männliches Pendant, der ›junge Bauernbursche‹, die Kaffeefrüchte ihrer Arbeit. Die Poesie der Veranschaulichung ist auf Passgenauigkeit abgestimmt. Gewissermaßen vermählt durch den Warentransfer erscheinen die beiden jungen Wirtschaftspartner. Die ›kauernden Malaien‹ und das ›alte Mütterlein‹ sind demgegenüber aus Gründen der Ähnlichkeit zusammengebracht: Ein jeder läuft gebückt – der eine zum Wohle fremden Altersruhestands, der andere krumm vom Alter selbst. So sind dem auf globale Kontiguitäten abhebenden Narrativ Antons auf der Ebene der Zweitcodierung poetische Äquivalenzen unterlegt, mit denen eine realidealistische Wirtschaftsvorstellung implementiert wird. Vier Punkte zeichnen diese Vorstellung aus: 1) Personalität und Sachbezug; 2) Bedürfnisstabilität; 3) Neutralität der Vermittlung; 4) Medienskepsis. Wie im Folgenden nachzuvollziehen sein wird, wirken diese vier Aspekte nicht nur handlungskonstitutiv für Freytags Soll und Haben, sondern bilden gleichsam topische Momente einer realistischen Wirtschaftspoetik im inner- wie im außerliterarischen Kontext. 3.2.1.

Personalität und Sachbezug

Die auktoriale Draufsicht, die es Anton ermöglicht, die Kaffeeplantagen in Brasilien und den einheimischen Binnenmarkt in einer Aussage zusammenzuschließen, geht zumindest idealiter mit einer personalen Kenntnis der Wirtschaftsräume und ihrer konkreten Semantik einher. Wer, wie Anton Wohlfart, Fäden zwischen einander entfernten Produzenten und Konsumenten zu knüpfen beansprucht, muss die an sich getrennten Tätigkeitsfelder nicht nur imaginativ, sondern selbsttätig erfahren. Während der Konsumentenkontakt dem Kaufmannslehrling vergleichsweise direkt gegeben ist, wird die Vermittlungsleistung nach der Produzentenseite hin durch die Bildungsreise angelegt. Die hierin erzielte Metonymisierungskompetenz (durch die Dinge in der Warenauslage als Arbeits- und Bedarfsprodukte kontextualisiert werden) entspricht einer sukzessiven Auflösung des ›Abenteuers der Ware‹. Diese Abenteuerdimension als Startpunkt der ökonomischen Schulung findet sich bereits in Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel angelegt, das Soll und Haben in vielem als Vorläufer dient. 3.2.1.1. Stabilität im Kontor – Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel Ein dem Autor nachempfundener Ich-Erzähler berichtet in diesem gut 400-seitigen Erfolgsroman aus dem Jahr 1850 über seinen Werdegang vom Waisenknaben und Lausbuben zum soliden Kaufmann.59 Von einem kleinen Spezereiladen gelangt er,

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Der autobiographische Roman entsteht, nach Auskunft des Erzählers, »in meinen Freistunden, wenn Wiegkammer und Comptoir geschlossen sind«. Hackländer: Handel und Wandel, S. 468.

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nach kurzem Intermezzo auf dem Lande, in ein gut situiertes Modegeschäft mit angeschlossener Seidenfabrik, übersteht dort einige persönliche Rückschläge ebenso wie die Intrige eines pseudopietistischen Buchhalters und schließt endlich als Erbe und Vorstand des Geschäfts seinen Bildungsweg ab. An der ersten, mit Episoden aus den Flegeljahren gespickten Station seiner Ausbildung regiert noch ganz die ungebundene Jugendphantasie, in der Waren mit der überbordenden Sehnsucht nach fremden Ländern assoziiert sind. Der Protagonist erklärt gegenüber seinem Freund und Mentor Dr. Burbus, »daß ich immer beim Anblick von Kaffee und Zucker an die fernen Meere gedacht, und von wunderbaren Ländern geträumt, mit denen ich durch den Spezereihandel in, wenn auch indirekte Verbindung trete«.60 Die Waren treten auf dieser Entwicklungsstufe nicht in ihrer wirtschaftlichen Dimension als ›Produkte‹ in Erscheinung, sondern vielmehr als arbiträre Reflektoren für eine von ihnen unabhängige Einbildungskraft: Auf »schöne Geschichten« von »den Wilden und Hottentotten«, wie sie in der Abenteuerliteratur vorkommen, nicht auf merkantile Zusammenhänge zielt der Protagonist bei seiner Entscheidung, den Kaufmannsberuf zu ergreifen, ab.61 Eine neue Qualität erhält sein Nachdenken erst beim Eintritt in das Handlungsgeschäft »Stieglitz und Compagnie«, den Ort seiner eigentlichen Ausbildung.62 Schon bei einem der ersten Gespräche mit dem Prinzipal, im Warenmagazin des Hauses, kommen die hier gehandelten fremdländischen Artikel als (metonymische) Repräsentanten ihres Herstellungskontextes in den Blick. »[W]eit drinnen in der Türkei, bei der schönen Stadt Smyrna, fertigen die Leute in den Dörfern dieses bunte Gewebe, und da dasselbe aus einem Stück besteht, so sind oft zwanzig bis dreißig Menschen damit beschäftigt; in der Mitte fangen sie an und arbeiten immer weiter auseinander mit Nadel und Faden, bis der Teppich so groß ist, wie sie ihn haben wollen«, wird der Lehrling über die auswärtige Produktionsweise aufgeklärt.63 Das Warending, zuvor lediglich Anlass zu einer freien Phantasieleistung, verwandelt sich zum Speicher eines Herstellungswissens. Zumindest wird diese Perspektivierung hier vorbereitet. Denn tatsächlich ist der Prinzipal ein vergleichsweise problematischer Lehrer, der die Sehnsucht nach Exotik und Abenteuer weniger durch seinen Sachunterricht aufzulösen vermag als performativ durch die Tatsache, dass er selbst ein beklagenswertes Negativbeispiel eines Weltreisenden darstellt. Der Prinzipal repräsentiert hier den Typus des desolaten Heimkehrers (das Unternehmen führt seine Gattin, die Prinzipalin Stieglitz). Auf seinen Reisen, heißt es, »muss er etwas locker gelebt haben«64; kriegerische Erlebnisse und eine Kopfverletzung hat er von seinen Jahren in der Fremde mitgebracht. Zwar sorgte die Rückkehr in »das stille Geschäft«

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Hackländer: Handel und Wandel, S. 64. Hackländer: Handel und Wandel, S. 11. Hackländer: Handel und Wandel, S. 265. Hackländer: Handel und Wandel, S. 279. Hackländer: Handel und Wandel, S. 294.

für eine gewisse Genesung65, doch bleibt Stieglitz’ Existenz nach seinen Erfahrungen in der Fremde prekär. Er stirbt recht bald, vom Wahnsinn angefressen. In der Figur des Prinzipals Stieglitz vermittelt sich somit eine Standardeinsicht poetisch realistischer Texte: Wer ohne konkretes Ziel und für mehr als eine eng begrenzte Zeitdauer das Inland verlässt, wer abenteuerlich ohne Geschäftsauftrag oder ähnliche Bindungsformen driftet, der lebt riskant. Der desolate Heimkehrer ist in diesem Sinne eine topische Figur, über die sich das realistische Nahbereichsdenken, das die stabile Sittlichkeit des heimischen Kulturraums zur höchsten Priorität erhebt, artikuliert.66 Wenn Hackländers Roman an den Schlusspunkt seiner Bildungsgeschichte eine einjährige, also klar begrenzte Auslandsreise zu den Seidenfabriken Südfrankreichs stellt, von der selbst gleichwohl nicht mehr berichtet wird, als dass der Held und Erzähler unbeschadet zurückgekehrt ist, dann muss das Entscheidende schon vor diesem Reiseantritt passiert sein. Tatsächlich geschieht die Prägung zum Kaufmann und Geschäftsführer bereits im Hause Stieglitz und Co. selbst. Das patriarchalisch (wenngleich durch eine Prinzipalin) geführte Geschäft repräsentiert in seinem kleingewerblichen Profi l das bevorzugte Sujet realistischer Wirtschaftsbetrachtung.67 Gustav Schmoller etwa hat auf Grundlage der wirtschaftspolitischen Überzeugung, »das Verschwinden des Mittelstandes untergräbt unsere politische wie unsere soziale Zukunft«68, eine der umfangreichsten Studien über die Situation von Handwerk und

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Hackländer: Handel und Wandel, S. 294. Als desolate Heimkehrer dürfen etwa gelten: August/Agonista in Raabes Zum wilden Mann, Paul Ferrari in Raabes Deutscher Adel, Alexander Rodburg in Raabes Prinzessin Fisch, Velten Andres in Raabes Akten des Vogelsangs, Heinz Kirch in Storms Hans und Heinz Kirch, Louis Wohlwend in Kellers Martin Salander. Der prekäre Status grenzüberschreitender, internationaler Bewegung spielt auch eine wesentliche Rolle in der Zwiehan-Novelle in Kellers Der grüne Heinrich, in Stifters Das Heidedorf oder in Stifters Abdias. Zur Rolle des Heimkehrers als Gast und zur weiteren Verarbeitung der Relation Fremdheit–Eigenheit vgl. Renate Bürner-Kotzam: Vertraute Gäste. Befremdende Begegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus, Heidelberg 2001. Den Gegenentwurf zu den bindungslosen, prekären Auslandserfahrungen gestaltet zum Beispiel Werner von Siemens in seinen Lebenserinnerungen aus. Der an Abenteuern reiche Text (von Schlittenfahrten nach St. Petersburg über Kämpfe mit Arabern an der Cheopspyramide bis zu einem spektakulären Schiffbruch im Roten Meer ist alles drin) behält stets die konkreten technischen Projekte, die auf den Reisen zu verwirklichen sind (Experimente, Aufbau von Infrastruktur), sowie die beständige Konkurrenzsituation mit den Engländern im Auge und zeigt damit die Auslandserfahrung als Verlängerung deutscher Ingenieurstätigkeit. Ein seltenes Beispiel einer positiven, weit ausgeführten Auslandserfahrung findet sich in Raabes Erziehungsroman Die Leute aus dem Walde, wo der Protagonist Robert Wolf unter fürsorglicher Anleitung des Hauptmanns Konrad von Faber zeitweise als Goldgräber in Kalifornien aktiv ist, um nach seiner Rückkehr nach Deutschland zum Eigner und Verwalter eines Gutes zu avancieren. Vgl. dazu Friedrich Lenger (Hg.): Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, Bielefeld 1998. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 677.

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Gewerbe im 19.  Jahrhundert vorgelegt. Die Lösung für die durch die zunehmende industrielle Konkurrenz in die Krise geratenen Kleingewerbe sieht Schmoller dabei in der staatlich geförderten technischen wie sittlichen Bildung: »Für das gewerbliche Leben, von dessen Reform wir hier sprechen, ist auch der Besitz nie so wichtig, wie die persönlichen Eigenschaften. Gelingt die geistige und technische Hebung des Handwerkerstandes, wie des Arbeiterstandes, so ist damit das wichtigste erreicht.«69 Der Akzent auf den persönlichen Eigenschaften (Schmoller gibt sogar eine Charakterologie der Handwerker, die ihre wirtschaftliche Situation motiviert70) trägt auch für die Wirtschaftsauffassung in der Literatur des Realismus entscheidende Bedeutung. Im mittelständischen Wirtschaftsbetrieb, wie er in Handel und Wandel zentral dargestellt wird, liegen Produktions- und Konsumtionssphäre so überschaubar eng beieinander, dass der Prozess der Güterdistribution hier in toto begriffen werden kann. Stieglitz & Co erstellen exklusive Maßkleidung und repräsentieren damit eine Produktion, die optimal auf die Bedürfnisse ihrer Kundschaft abgestimmt ist. Zwischen Warenherstellung und Vertrieb einerseits und den Konsumenteninteressen andererseits entstehen weder Reibungen noch Intransparenz. Wer hier einkauft, wird nach je individuellen Maßstäben beraten und bedient (einlässlich gibt der Text die Kundengespräche und Karteikarteneinträge wieder, in denen die Person des Käufers nach Aussehen und Vorlieben erfasst wird71). Überproduktionen und Fehleinschätzungen des Konsumentenverhaltens, Themen, die am Beginn der industriellen Massenproduktion virulent werden, bleiben also ausgeschieden. Die Produktionssphäre wiederum begegnet ›auf der Wiegkammer‹ des Geschäfts, deren Abläufe der gereifte Erzähler in einem technischen Exkurs eingangs des gleichnamigen Kapitels sachbetont darlegt.72 Da technisches Wissen aber, mit Schmoller, nur eine Seite der wirtschaftlichen Ausbildung darstellt, darf man hier auch einen sittlichen Diskurs erwarten. Und dieser folgt umgehend, vermittels einer Schilderung des problematischen Verhältnisses zwischen Verleger und Arbeitern der Branche, die vieles von dem vorwegnimmt, was Gerhart Hauptmann in Die Weber ein halbes Jahrhundert später zum selben Abhängigkeitsverhältnis ausführen wird. Allerdings spricht der Erzähler in dieser Episode nicht von seiner eigenen Ausbildungsstätte. Vielmehr wird das Problemsujet an einem benachbarten Kontor abgehandelt, das der Prinzipal Pfeffer mit ungezügelter Erwerbssucht betreibt. Pfeffer drückt die Einkaufspreise, ohne dass dafür äußere Gründe (etwa die Konkurrenz am Markt) erkennbar würden. So wirft die Randerzählung ein relativ kontextfreies Bild unternehmerischer Gier ab, die – so die Pointe – letztlich justiziabel wird. Einem Fär-

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Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 689. So würden cholerische Naturen zu Innovationen und Self-made-Mentalität neigen und der Gewerbefreiheit zusprechen, während die Phlegmatiker konservativ am Zunftdenken festhalten, die Sanguiniker sich aber für sozialdemokratische Gedanken öff nen. Vgl. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 666–670. Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 287–289. Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 359–375.

ber gelingt es, dem gerissenen Prinzipal, der seine Arbeiter, wo immer möglich, übervorteilt, eine falsche Abrechnung nachzuweisen. Um die Schuld von sich abzuwenden und einen Gang vor das Fabrikgericht zu verhindern, kündigt Pfeffer stellvertretend einem Lehrling (der später im Hause Stieglitz seine uneingeschränkte Integrität unter Beweis stellen kann). Nach kurzer Widerrede beabsichtigt er, den Färber auszuzahlen. Doch die ganze Passage ist weniger ökonomisch denn sittlich codiert. Und so schlachtet der klagende Färber im Gegenzug die falsche Abrechnung des Hauses Pfeffer keineswegs monetär aus, sondern zielt auf einen moralischen Triumph. Da das Haus in frühkapitalistischer Manier seine Arbeiter prinzipiell nach dem Motto »ein Drittel in barem und zwei Drittel in Waren«73 aus dem angeschlossenen Spezereigeschäft bezahlt (eine im 19. Jahrhundert verbreitete Methode, Arbeiter teilweise unfrei zu halten74), beruft sich der Färber noch einmal auf das Geschäftsprinzip und erwirkt so, dass die Schwester des Prinzipals ihn im Krämerladen zum Abschied voller Scham bedienen muss (»Es war die herbste Stunde ihres Lebens«75). Der immaterielle Wert der Würde schlägt in dieser Pointe den möglichen Geldgewinn. Dreierlei kann man dieser Nebenepisode entnehmen: Die Preisverhandlung ist hier weniger der Endzweck der Darstellung als vielmehr Mittel einer Schilderung charakterlicher Dispositionen. Von einem emanzipierten monetären Code, der sich von sittlichen Erwägungen unabhängig gemacht hätte, kann hier keine Rede sein. Die Möglichkeit des sittlichen Ausgleichs verdankt sich, zweitens, einer externen institutionellen Rahmung. Ohne den Hintergrund der Fabrikgerichte wäre das tit for tat, das dem Färber gegen den Prinzipal Pfeffer gelingt, nicht möglich. Schließlich aber, und das betrifft die Strategie der Erzählung selbst, ist die sittliche Bildung anscheinend nicht direkt darstellbar. Es braucht Störfälle und Unregelmäßigkeiten, um sittliche Dimensionen gewissermaßen ex negativo in den Blick zu bekommen. Eben deshalb weicht die Erzählung hier auf ein benachbartes Kontor aus, um im Umkehrschluss die intakte ökonomische und sittliche Basis in der eigenen Ausbildungsstätte lediglich behaupten zu können. »Auf unserer Wiegkammer kamen nun dergleichen Szenen nicht vor«76, bescheidet sich der Erzähler, wenn er seine Darstellung wieder auf die Haupthandlung lenkt. Doch auch hier verlängert sich das Darstellungsprinzip, sittliche Bildung aus dem Negativbeispiel heraus zu profi lieren. Denn im Zentrum der Handlung steht nun eine relativ durchsichtige Intrige des vorgeblich pietistischen Buchhalters Specht. Unbeobachtet von seiner vertrauensvollen Prinzipalin wirtschaftet Specht kräftig in die

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Hackländer: Handel und Wandel, S. 374. Dieses so genannte Truck-System, auf das Hackländer hier anspielt, wird auch von Wilhelm Roscher kritisiert. Vgl. Wilhelm Roscher: Ueber die volkswirthschaft liche Bedeutung der Maschinenindustrie [1855]. In: Wilhelm Roscher, Ansichten der Volkswirthschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, dritte verbesserte und mit acht Abhandlungen vermehrte Aufl., Bd. 2, Leipzig, Heidelberg, S. 171–294, hier: S. 225–227. Hackländer: Handel und Wandel, S. 374. Hackländer: Handel und Wandel, S. 376.

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eigene Tasche, indem er als Prokurist die häuslichen Zahlungsanweisungen zu seinen Gunsten manipuliert77 und in einem Nebengeschäft »den dringenden Geldverlegenheiten der Weber durch kleine Vorschüsse abhalf, wofür die Leute schwere Zinsen erlegen mußten«.78 Gleichzeitig tritt Specht als religiöser Eiferer auf, der der protestantischen Gesinnung seiner Prinzipalin vordergründig zuspricht, während er hinter ihrem Rücken die Haushälterin verführt79 und orgiastische Sektenabende80 abhält. Die Divergenz zwischen Profitstreben und religiösem Diskurs, die hierin illustriert wird, erscheint außerhalb des realistischen Diskurses, aus einer stärker systemischen Betrachtungsweise heraus, als Charakteristikum modernen ökonomischen Verhaltens. »Die Moral der Nationalökonomie ist der Erwerb«, stellt Karl Marx schon 1844 in seinen Pariser Manuskripten fest.81 Wirtschaftsrationalität werde demnach allein vom Dogma egozentrischer Nützlichkeitserwägungen regiert (»Du musst alles, was dein ist, feil, d.h. nützlich machen«), die im Extremfalle mit moralischen Normen konfligieren (»handle ich nicht nationalökonomisch, wenn ich meinen Freund an die Marokkaner verkaufe«?).82 Aus Marx’scher Sicht ist die Abspaltung des sittlichen vom ökonomischen Verhalten bis hin zur Verlogenheit83 notwendiger Bestandteil einer bürgerlichen Kultur, die in der selbstbezüglichen Profitmaximierung ihren ersten und letzten Handlungsgrund besitzt. Für die realistische Wirtschaftsauffassung aber bedeutet eine solche Abspaltung eine Anomalie. Specht repräsentiert eine (beide Konzepte pervertierende) Differenz von Erwerbssinn und sittlicher, religiöser Ausrichtung, die in der patriarchalischen, von Fürsorge-Motiven getragenen Leitung des Kontors, in der Person der Prinzipalin, noch problemlos konvergieren. Um die Anomalie zu markieren, muss der Roman den Intriganten in seinem eigennützigen Programm scheitern lassen. Specht versagt in dem Moment, in dem er seine Hände nach der neuen Haushälterin und Favoritin der Prinzipalin Emma, die als uneingeschränkt positive Frau für eine Hochzeit mit dem Helden des Romans reserviert ist, ausstreckt. Als es Specht misslingt, seinem Konkurrenten um Emmas Gunst (dem Helden) einen Betrugsfall anzuhängen, fliegen seine Machenschaften auf. Eine entscheidende Rolle in der Aufk lärung kommt dabei dem Arzt Dr. Burbus zu; das Urteil über Specht (den Hausverweis) spricht die Prinzipalin aus, im Beisein

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Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 318. Hackländer: Handel und Wandel, S. 376. Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 383 u. S. 453f. Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 321–332. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In: MEW, Ergänzungsband 1,1 (Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844), Berlin 1968, S. 465–588, hier: S. 551. Beide Zitate Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 550. Einschlägig sind hier natürlich die Invektiven von Marx und Engels gegen die Heuchlerei des bürgerlichen Ehe- und Ehrversprechens. Siehe Marx/Engels: Das Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 459–493, hier: S. 478f.

des Kommerzienrats Schilderer, des Präses der Handelskammer und des Schiedsgerichts.84 Gerade weil die fromme und ökonomisch solide Prinzipalin unter Spechts Einfluss in die Krise geraten ist85, braucht es hier die Außenstabilisation. Nimmt man das Schlussszenario allegorisch, so setzt das Buch teilweise auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft (Schilderer ist sowohl »Chef des ersten Bankhauses des ganzen Landes« als eben auch Vertreter der Kontrollorgane86), teilweise aber auch, und zwar gerade in den sachlichen Dimensionen, auf eine der eigentlichen Wirtschaft fern stehende Beobachtung durch das marktwirtschaftlich nicht involvierte Bürgertum, das hier der Arzt repräsentiert. Dem Arzt obliegt es, die kriminellen Verwicklungen zu rekonstruieren. Im Anschluss an seine kriminalistisch metonymische Aufk lärungsarbeit steht dann ein eigentümliches Happy End: Zunächst bestätigt sich die moralische Kapazität des Helden wiederum ex negativo, indem er vom Betrugsverdacht endgültig freigesprochen ist. Dass der Bösewicht gegen ihn intrigierte, gerät zum Anlass der Wertschätzung. Der Spieler wird gewissermaßen über die Entlarvung und Verurteilung seines Gegenspielers valorisiert. Hinzu tritt die Liebe der Tugendfigur Emma, die in ihrem Eheversprechen so etwas wie einen positiven Indikator für die personale Integrität des Helden abgibt. Abschließend wird das entstehende Verhältnis wirtschaftlich gestützt, durch eine Erbregelung der Prinzipalin: Stieglitz verkauft das Ladengeschäft, um den Fabrikzweig zu stärken, und überträgt dem Helden die Geschäftsführung. Wenn er die Fabrik »durch Fleiß und Umsicht zu einer gewissen Höhe« bringt, erbt er zudem einen Großteil des Stieglitz’schen Vermögens.87 Die wirtschaftlichen Anreize sind also gesetzt. Die Fundamente ihres Gelingens aber liegen im Zusammenspiel aus Moralität und Sachkenntnis. Seine Sachkenntnis im Fabrikwesen wird der Held auf seiner Reise zu den südfranzösischen Seidenfabriken vertiefen. Wie aber steht es um seine moralischen Kapazitäten? Der Roman inszeniert in den Episoden um den Prinzipal die Befreiung des Selbst von abenteuerlustiger freier Phantasie, in der zentralen Intrige um Specht die Abwehr von aggressivem Selbstinteresse. So entsteht die Profi lierung des Helden weniger über eine positive Bildungsgeschichte als über die Kontrastierung zum problematischen Umfeld. Als Spielball fremder Interessen (Spechts) erscheint der Held bis zuletzt kaum wie ein prädestinierter Lenker eines Wirtschaftsunternehmens. ›Leichtsinnigkeit‹ wird ihm in der Schlussszene wiederholt vorgeworfen (er hatte sich u.a. angreifbar gemacht, weil er einen 500 Taler großen Geldbetrag auf der Kasse liegen ließ). Leichtsinn bedeutet fehlende Rationalität und Selbststeuerung. Dieses Rationalitätsdefizit aber wiegt hier anscheinend geringer als die Redlichkeit des Helden. Nicht als Macher, sondern als relativ eigenschaftslos treuer Diener der Firma erfährt er seine Belohnung.

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Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 454–461. Vgl. Hackländer: Handel und Wandel, S. 381f. Hackländer: Handel und Wandel, S. 454. Hackländer: Handel und Wandel, S. 464.

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In Antithese zum egoistischen Komplott des Buchhalters bestätigt der Held eine Selbstzweckfreiheit und moralische Neutralität, die ihn für die Eingemeindung in die Firma an führender Position befähigt. Nicht eine Gründerfigur, ein aufstrebender Homo oeconomicus, wird hier gefeiert, sondern der brave Angestellte, der als Bewahrer der Traditionen und Institutionen auftritt. 3.2.1.2. Gustav Freytags Soll und Haben und die Kraft der Entsagung In vielem wird dieses ökonomische Bild, das auf Stabilität, Sachbezug und Nähe zur Produktion sowie auf das Primat charakterlicher Treue und Bindungsfähigkeit abhebt, in Gustav Freytags Soll und Haben fortgeschrieben. Und doch nimmt Freytag gegenüber Hackländer eine Reihe von Veränderungen vor, die dem Helden und ökonomischen Vorzeigesubjekt eine wesentlich aktivere Rolle zuschreiben. »Besitz und Wohlstand haben keinen Werth, nicht für den Einzelnen und nicht für den Staat, ohne die gesunde Kraft, welche das todte Metall in Leben schaffender Bewegung erhält«, wird Anton Wohlfart anlässlich seiner finalen Inauguration als Teilhaber des Handelshauses T. O. Schröter erklärt.88 Will sagen: Geldkapital (totes Metall) braucht tätige Arbeitskraft, damit das ›lebendige‹ Zusammenspiel von Produktion und Konsumtion, das der Handel vermittelt, funktioniert. Ebendiese Kraft darf Anton Wohlfart im Laufe des Freytag’schen Bildungsromans sechs Bücher und fast 1000 Seiten lang unter Beweis stellen. Denn die von Hackländer stammende Zielvorgabe, dass ein ökonomischer Ausbildungsgang mit der Eingemeindung in eine bestehende Institution abschließe, geht hier mit einer deutlicher positiven Figurenzeichnung und einer auf aktiven Zugewinn von Kompetenzen angelegten Plotgestaltung einher. Der Ausgangspunkt dieser positiven Ausgestaltung des Helden liegt in der völligen Neutralisierung des Kontors Schröter, seiner Ausbildungsstätte. Geführt wird das Kontor von Traugott Schröter, der in entsagungsvoller Solidität mit seiner Schwester Sabine lebt.89 Während das Geschäft bei Hackländer noch Schauplatz von Intrige und Manipulation ist, gerät es bei Freytag zum stabilen, entproblematisierten Zentrum der Romantopographie. In einer für das realistische Wirtschaft sdenken typischen kosmisch-harmonistischen Symbolik90 wird die erste Annäherung an das Kontor geschildert als Durchschreiten eines nur scheinbaren Chaos hin zur zugrunde liegenden Ordnung. An wimmelnden Arbeitern vorbei, der Gefahr, von einem Ölfass erschlagen zu werden, gerade so entkommend, gewahrt der angehende Lehrling den ersten Schreiber und Repräsentanten des Geschäfts: Im Centrum der Bewegung, gleichsam als Sonne, um welche sich die Fässer und Arbeiter und Fuhrleute herum drehten, stand ein junger Herr aus dem Geschäft , ein Herr mit

88 89 90

240

Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 333. Vgl. zur Konstellation der Entsagung im Realismus die Abschnitte 1.2.2. und 2.3.2. sowie 5.2.1. und 5.2.4. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 2.3.3.1. dieser Arbeit.

entschlossener Miene und kurzen Worten, welcher als Zeichen seiner Herrschaft einen großen schwarzen Pinsel in der Hand hielt, mit dem er bald riesige Hieroglyphen auf die Ballen malte, bald den Aufladern ihre Bewegungen vorschrieb.91

So, wie der Erzähler seinen Helden hier durch das komplizierte Gewimmel der Arbeiter auf ein Gravitationszentrum zuführt, so ist überhaupt der Entwicklungsgang des Helden angelegt. Ausbildung bedeutet Annäherung an ein Zentrum, jenes »kleine Zimmer hinter dem letzten Comtoir, […] das Allerheiligste des Geschäfts«, das Anton erstmals bei seiner Übernahme aus dem Lehrlingsstand in den Kontoristenberuf betritt.92 Das patriarchale Geschäft wirft das Bild »eines großen Staatskörpers« ab, in dem die Angestellten wie dienstbare »Minister« und Beamte im Auftrag ihres Quasimonarchen Schröter die Maschine in Betrieb halten.93 Diesem Zentralismus also entspricht die Eingangssequenz am ersten Tag: Die Schrift , die hier die einzelnen Warenbewegungen koordiniert, vertritt metonymisch jene oberste Hieroglyphe, die am Ende des Romans dem Helden vorgestellt wird: das Geheimbuch der Firma T. O. Schröter. Die Ausbildung, die zwischen der Unlesbarkeit der Warenzeichnung am ersten Tag und dem Empfang des Geheimbuchs (und damit der vom Roman behaupteten vollständigen Lesbarkeit der Abläufe in der Kolonialwarenhandlung) am Ende liegt, verläuft in zwei Schritten: Auf die Einübung in den herrschenden Code im Kontor folgt die sukzessive Profi lierung des Helden als Ausgangspunkt einer neuen Kapitalverzeichnung: Der Nachweis über seine »rüstige Jugendkraft und einen geprüften Sinn« qualifiziert ihn als Mitgeschäftsführer und gibt somit im Finale Anlass, ein »neues Soll und Haben« im just eröffneten, gemeinsamen »Geheimbuch von T. O. Schröter und Compagnie« zu gründen.94 Vom Erlernen der innerbetrieblichen Schrift in den ersten beiden Büchern des Romans hin zum Erwerb einer Umweltkompetenz in den folgenden vier Büchern, von der Lesekompetenz hin zur Schriftgründung verläuft also die Bildung des Anton Wohlfart.95

91 92 93

94 95

Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 48. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 197f. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 103–107. Zur Ordnungsstruktur und Bedeutsamkeit des Kontors hat bereits Rémy Charbon sehr richtig betont: Nicht »Lohnarbeit um des Erwerbs willen, sondern Hingabe an ein grösseres Ganzes, an einen säkularisierten Ordo, defi niert die Stellung aller, selbst des Prinzipals, zum Geschäft«; das Kontor sei selbst »Abbild der staatlichen Gemeinschaft«. Rémy Charbon: Der Homo oeconomicus in der Literatur von 1830 bis zur Reichsgründung. In: Werner Wunderlich (Hg.), Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern, Stuttgart 1989, S. 135–152, hier: S. 140. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 332–334. Die Umweltkompetenz des Vorzeigeökonomen Wohlfart ist, wie im Folgenden zu schildern sein wird, weiter angelegt als auf die rein kalkulatorische Arbeit. Eine Subsumtion des Romanprogramms unter eine christlich verankerte Logik der Buchhaltung, wie von Jochen Weiß vorgeschlagen, greift m.E. zu kurz. Vgl. Jochen Weiß: Die protestantische Ethik und der Geist der Buchführung. Bürgerliche Lebensbilanz in »Soll

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Schon am Beginn seines Ausbildungsweges darf sich Anton als Teil des besagten ›großen Staatskörpers‹ empfinden, wobei dieser in den anschließenden konkreten Episoden eher das Bild einer Ersatzfamilie abwirft. Traugott und Sabine Schröter wachen über ihren Zögling Wohlfart und begutachten regelmäßig seinen teils unebenen Bildungsgang, in dem die Freundschaft mit dem Aristokratensohn Fink für eine Reihe außergeschäftlicher Verwicklungen sorgt. Die kollegiale Herrenrunde wiederum, die geschlossen im Kontor wohnt, gibt sich verletzt und mürrisch, wenn der Neuling Wohlfart sich nach Geschäftsschluss im Kreise der Aristokraten vergnügt.96 Auf einem Jubiläumsausflug anlässlich der Firmenerbschaft Traugott Schröters wird dann die allgemeine Harmonie wiederhergestellt.97 Über Rituale wie dieses Firmenpicknick oder die Initiation des Berufsanfängers Wohlfart stabilisiert sich die auf Enge und Zusammenhalt angelegte Kaufmannsgemeinschaft98, die »Betriebsfamilie«99. Zur Lesbarkeit des personalen Verkehrs, von der die innere Stabilität des Geschäfts ebenso wie der Austausch nach draußen abhängt (man bemerke etwa, wie der Warenankauf zwischen Fink und Schmeie Tinkeles konsequent auf die anscheinend ritualisierten Verhaltensweisen der Geschäftspartner hin ausgewertet wird100), tritt dann die Produkt- und Warenkenntnis hinzu: »[S]ein Schicksal war entschieden, er hatte jetzt eine Heimath, er gehörte in das Geschäft«, wird schon beim Antritt der Lehre frohlockt101, und umgehend erhält Anton vom Prokuristen Jordan ersten Elementarunterricht: Deshalb [aus Freude] schlug er [Anton] im Vorbeigehen herzhaft auf einen großen Ballen, wie man auf die Schulter eines guten Bekannten schlägt, wobei der grüne Herr [Jordan] sich umwandte und mit wohlwollender Herablassung zu ihm sagte: »Baumwolle;« und, drei Schritt weiter klopfte Anton Einlaß fordernd an ein riesiges Faß, welches wohlhäbig in einer Ecke stand, wie ein dicker Pächter in seinem hellen Sommerrock; worauf sich wieder der grüne Herr umwandte und ebenso wohlwollend sagte: »Corinthen.«102

Das primitive Sprachspiel, das rein ostentativ die Warenbezeichnungen einem Träger zuordnet, löst die kenntnislose Ähnlichkeitswahrnehmung, die sich in den Personenvergleichen niederschlägt, auf und bereitet vor, was später im Besuch des Warenlagers breiter ausgeführt wird. Hier wird der gesamte Warenspeicher auf koloniale Herstellungs- und Transportvorstellungen hin abgeklopft: Fast alle Länder der Erde, alle Racen des Menschengeschlechts hatten gearbeitet und eingesammelt, um Nützliches und Werthvolles vor den Augen unseres Helden zusammen-

96 97 98 99 100 101 102

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und Haben«. In: Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre »Soll und Haben«. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 87–101. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 264–268. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 363–387. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 187–196. Vgl. Büchler-Hauschild: Erzählte Arbeit, S. 166–169. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 72–75. Mehr dazu in Abschnitt 3.2.3. dieser Arbeit. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 50. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 50 [Interpunktion wie im Original, Anm. Ch. R.]

zuthürmen. Der schwimmende Palast der ostindischen Compagnie, die fl iegende amerikanischen Brigg, die alterthümliche Arche der Niederländer hatten die Erde umkreist, starkrippige Wallfischfänger hatten ihre Nasen an den Eisbergen des Süd- und Nordpols gerieben, schwarze Dampfschiffe, bunte chinesische Dschonken, leichte malaische Kähne mit einem Bambus als Mast, alle hatten ihre Flügel gerührt und mit Sturm und Wellen gekämpft, um dies Gewölbe zu füllen. Diese Bastmatten hatte eine Hindufrau geflochten, jene Kiste war von einem fleißigen Chinesen mit roth und schwarzen Hieroglyphen bemalt worden […].103

Wie bei Hackländer so wird auch hier die im Lager greifbare Ware metonymisch als Medium eines Welthandelswissens situiert,104 das auf eine harmonische Güterdistribution setzt: die einen arbeiten und die anderen vertreiben, damit Dritte konsumieren können. Es ist diese Vorstellung, die ihm zur »Quelle einer eigenthümlichen Poesie« wird,105 die er als metonymisch-realistische Warenpoesie an oben diskutierter Stelle der tendenziell metaphorischen Literaturphantasie des Juden Bernhard Ehrenthal entgegenhält. Die Produktions- und Vertriebskontexte erarbeitet sich Anton dabei über eigenständige Völkerstudien (und Cooper-Lektüren106). So heißt es: Seine »Freude an der fremden Welt, in welche er so gefahrlos eingekehrt war [i.e. die als Warenwelt vermittelte Fremde], verließ ihn seit dem Tage nicht mehr. Wenn er sich Mühe gab, die Eigenthümlichkeiten der vielen Waaren zu verstehen, so versuchte er auch durch Lectüre deutliche Bilder von der Landschaft zu bekommen, aus welcher sie herkamen, und von den Menschen, die sie gesammelt hatten.«107 In diesen Anspielungen auf die Kulturstudien Antons stattet der Roman seinen Helden mit einer für den Warenhandel nötigen Produktionssensitivität aus. Mehr als an Absatzfragen zeigt sich der angehende Kaufmann hier also am metonymischen Wissen um die Herkunft und Qualität der gelagerten Sachwerte orientiert. Es geht Freytag – wie bereits im Motto seines Romans apostrophiert – um die Fühlung zur Arbeitssphäre und die dort hervorgebrachten Gebrauchswerte, weniger um eine Befragung der Tauschwertbildung im Zusammenspiel mit der Konsumentenseite. Ebendas poetisiert den Handel hier einseitig zur Sphäre eines quasi neutralen Vertriebs von Bedarfserzeugnissen wie Kaffee oder Zucker. Tatsächlich wird die Nachfrageseite vom Roman als stabil und unproblematisch, gewissermaßen a priori vorausgesetzt. Da im Sujet des Großhändlers der direkte Endkundenkontakt ausbleibt, ersetzt Freytag den Konsumentenhorizont durch ein motivisch angespieltes, auratisches Warenerlebnis aus des Helden frühester Kind-

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 81f. Eben weil es auch um die metonymische Situierung geht, werden die Bestände im Schröter’schen Warenlager m.E. nicht auf den »musealen Ausstellungswert im Kontext der Warenausstellungen« reduziert, wie Julia Bertschik interpretiert. Vgl. Julia Bertschik: Poesie der Warenwelten. Erzählte Ökonomie bei Stifter, Freytag und Raabe. In: JbRG, 2011, S. 39–54, hier: S. 46. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 81. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 199. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 83.

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heit: Das Weihnachtspaket voller Raffinade und ›Brasilkaffee‹, das T. O. Schröter dem Kalkulator Wohlfart und seiner Familie aus Dank für dessen indirekte Hilfe in einem Kreditstreit regelmäßig zusendet, wird als Abbild des Warenlagers im Kleinen nicht nur Garant großer Behaglichkeit im Hause Wohlfarts, sondern gleichsam Anlass der Berufswahl Antons.108 »Kaffeebeherrscher« nennt Fink den Kaufmann Schröter109, Sabine Schröter entsinnt sich im Finale liebevoll der Sendungen »Zucker und Kaffee«, die sie zu Antons Jugendzeiten eigenhändig für die Wohlfarts packte.110 So knüpft der Roman motivisch an das fundamentale Konsumtionserlebnis seines Helden an und garantiert so von vornherein die Fühlung zur Sphäre der Bedürfnisbefriedigung, die den komplexen Handelsprozess überhaupt motiviert. Dass Kaffee und Zucker im 19. Jahrhundert bereits als Massenartikel gelten dürfen111, untermauert darüber hinaus das Bestreben, den individuellen ›realistischen Weg‹ des Helden mit einer weitestmöglichen Repräsentanz auszustatten. Wenn die besagten Lebensmittel im Zuge der ›Demokratisierung der Genüsse‹ (Roscher) längst allgemein gängig sind, dann kann der Roman problemlos auf die immaterielle Signifi kanz der Päckchen abheben, die allein auf der Geschichte um die Redlichkeit des Vaters Wohlfart und der Dankbarkeit von Schröter gründet. Der stabile, unhinterfragte Konsumhorizont ermöglicht letztlich die sittlich-narrative Ausrichtung. Im Bezugsfeld von apriorisch angesetztem subjektiven Warenerlebnis und a posteriori erarbeitetem Kontext von Warenproduktion und -handel vollendet Anton seinen innerbetrieblichen Ausbildungsgang zum Kaufmann. Als sein adliger Freund Fink das Kontor verlässt, rückt Wohlfart, dem warenorientierten Focus gemäß, an die exponierte Stelle im »auswärtigen Geschäft unter dem Prinzipal selbst«, eine Stelle, auf der man ebenso befähigt sein muss, »mit Herrn Tinkeles umzugehen«, wie »Zackelwolle aus Ungarn zu beurtheilen«.112 Die folgenden zwei Drittel des Romans sind für die Erprobung des Helden in außerbetrieblichen Kontexten reserviert, in einer fremden, unregelmäßigen Welt, fern der behaglichen ›Heimat‹ des Kontors. »Das Schreckenswort ›Revolution in Polen‹« bildet den Auftakt einer weitläufigen Romanhandlung113, in der Freytag literarisch realisiert, was sich Hackländer noch versagte: die Integration von Auslands- und Abenteuererfahrung in die ökonomische Bildungsgeschichte und damit eine nunmehr auf Aktivität und Tatkraft angelegte Zeichnung der Unternehmergestalt. Erst in der Differenzerfahrung profi liert sich Anton zum künftigen Geschäfts-

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Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 5–8. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 80. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 329. Der betreffende Satz »Schon um die Weihnachtskiste, welche in Ihr Haus kam, wußte ich, und mein war der Zucker und Kaffee, den der kleine Anton trank« fehlt in den Ausgaben der Gesammelten Werke von 1887 und 1920. Vgl. Werner Sombart: Luxus und Kapitalismus [1912], 2.  Aufl., München, Leipzig 1922, hier: S. 145. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 453. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 4.

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inhaber, gewinnt er ein reflektiertes Verhältnis gegenüber der bis dahin lediglich unmittelbar akzeptierten Ordnung des Hauses Schröter. Als »Mann«, der, in eigener Einschätzung, nach »Grundsätzen« zu handeln vermag, nicht »wie ein Knabe aus Instinct und Gewohnheit«, tritt er am Ende seines Auslandsjahres seinem Ausbilder und angehenden Kompagnon Schröter gegenüber.114 Die Erarbeitung dieses grundsätzlicheren Zugangs zum Geschäft beginnt dabei schon in einer ersten längeren Episode, in der Anton gemeinsam mit Schröter eine Warenladung im Wert von 20.000 Talern aus einem aufständischen polnischen Gebiet befreit, während sich die eigentliche Differenzerfahrung anschließend losgelöst vom Kontor vollzieht, in seiner Verwaltertätigkeit auf dem Gut der Rothsattels bei Rosmin. Auf das gemeinsame Erlebnis im aufständischen Polen blicken Anton und die Schröters im Finale des Buches zurück als zentralen Moment in der Verwandlung des Angestellten Wohlfart zum potenziellen Teilhaber und Gemahl der Schwester Schröters.115 Es muss also etwas Spezielles vorgefallen sein in den Revolutionstagen, da die Wirtschafsbeziehungen ausgesetzt waren und dem Kontor Schröter der Verlust größerer Kapitalien drohte. Zum einen sind diese Ereignisse in Polen mit einem Höchstmaß an personaler Verbindlichkeit aufgeladen. Anton begibt sich für Schröter in Gefahr, rettet ihm im Aufeinandertreffen mit Rebellen und Gaunern das Leben und leistet so einen weit über Hackländers Problemzeichnung hinausgehenden Treuebeweis zu seinem Vorgesetzten, der die Übergabe der Institution motiviert. Aber das ist nur ein Aspekt dieser Episode. Die Pointe des hier verhandelten Projekts liegt tiefer. In der Zeit, da die gemütlichen wirtschaft lichen Bande zerreißen, wird Anton durch Schröter gewissermaßen auf das Apriori dieser ökonomischen Ordnung gestoßen. Denn die Reise gilt weniger den bedrohten Warenwerten als dem zugrunde liegenden Eigentumsprinzip, das den Warenverkehr überhaupt ermöglicht. Und dieses Prinzip erweist sich, anders als die Warenwerte selbst (20.000 Taler), als nicht kalkulierbar. Bevor sich Schröter und Anton auf ihre gefährliche Reise machen, debattieren die Angestellten des Kontors die Gewinn- und Verlusterwartungen, die sich mit dem polnischen Aufstand verbinden: Herr Specht bemerkte hoffnungsreich, bei jeder Insurrection würden ungeheure Colonialwaaren verbraucht, und die Firma werde ein glänzendes Geschäft mit allen Flüssigkeiten nach der Grenze machen. Wenn die Insurrection nur ein Vierteljahr anhalte, sei der mögliche Verlust wieder gedeckt; denn trinken thäten sie Alle, Freunde und Feinde.116

Aus der partikularen ökonomischen Perspektive des Geschäfts heraus erscheint die Reise also als überflüssiges Risiko. Der Kapitalverlust an Waren ließe sich durch die zu erwartende Hausse bei Alkoholika problemlos ausgleichen. Um unmittelbare betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte geht es bei Schröters Reise mithin nicht.

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 224. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 330–332. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 11.

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Vielmehr stehen hier Geschäftsprinzipien auf dem Spiel, die das Funktionieren kapitalistischer Ökonomie im Ganzen betreffen: das Eigentumspostulat und daraus abgeleitet die Unternehmerposition. »[I]ch kann Ihr Anerbieten nicht annehmen, die Reise könnte Schwierigkeiten haben, und da der Vortheil mein ist, wird es auch billig sein, daß ich die Mühe übernehme«, bekundet Schröter gegenüber Anton, als dieser vorschlägt, ihn in die aufständischen Gebiete zu begleiten.117 Der ›Vorteil‹ des Unternehmers legitimiert sich in letzter Instanz nur durch ›Mühe‹, die er in sein Geschäft investiert, wobei diese Mühe im Kern Risikobewältigung meint. Implizit führt Schröter seinen Zögling Anton an dieser Stelle auf die ideellen Grundlagen des Unternehmerlohns. Als Grundlagen des Unternehmerlohns gelten den Ökonomen allgemein die Produktion »auf eigene Gefahr« und die daraus resultierende »Sorge und Verantwortlichkeit« für den Zusammenhang des Unternehmens.118 Die dem Unternehmertum eigenen Gewinne hängen dabei, nach Wilhelm Roscher, der sich in seiner Lehrbuchdarstellung auf die 1855 entworfene Lehre vom Unternehmergewinn von Hans von Mangoldt stützt, von dreierlei ab: A. von der Seltenheit der zu seinem Geschäfte erforderlichen persönlichen Eigenschaften, die wir in technische und ethische eintheilen können. […] B. Von der Gefahr des Unternehmens, wobei im schlimmsten Falle nicht bloß Vermögen, sondern auch Ehre verloren gehen kann. C. Was die Unannehmlichkeit des Unternehmergeschäfts betrifft , so muß insbesondere die Abneigung der Kapitalisten im Allgemeinen betrachtet werden, sich mit der Sorge und Mühe des Selbstumtriebs ihrer Kapitale zu behelligen.119

Gegenüber dem bloßen Kapitalinvestor zeichnet sich der Eigentümer-Unternehmer also durch eine größere Nähe zum Geschäft und seinen Sorgen aus. Und diese Nähe verlangt nach Roscher primär ein Bündel von »ethischen (staatsmännlichen) Eigenschaften«, also: »die Fähigkeit, den Kapitalisten Vertrauen, den Arbeitern Hingebung einzuflößen; das administrative Talent, ein großes aus Menschen bestehendes Ganzes planmäßig zu ordnen und mit Festigkeit ohne Pedanterie, Sparsamkeit ohne Geiz im Gange zu halten; nicht selten Ausdauer, ja Geistesgegenwart.«120 Um ebendiese ethischen Kapazitäten, die als solche auf den Gründungsakt einer Unternehmung verweisen, geht es auch Gustav Freytag in seiner ersten Polen-Episode in Soll und Haben. Die Gefahr des auswärtigen Handels, die hier sukzessive zur Lebensgefahr hyperbolisiert wird, bringt überhaupt zum Vorschein, was im gediegenen Firmennamen und im alltäglichen Verkehr lediglich indirekt verfügbar ist: die Ordnung schaffende ›Kraft‹ des Unternehmers. Nicht von ungefähr bindet sich Antons harmonistische Vorstellung von der ›Poesie des Geschäfts‹ angesichts der äußeren Bedrohung nun unmittelbar an die Person Schröters: »Nie hatte ihn Anton so ver-

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 13. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 195, S. 541f. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 196, S. 545. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 196, S. 545.

ehrt als heut, er sah ihm aus wie verklärt. Mit einer wilden Freude sagte sich Anton: ›Das ist die Poesie des Geschäftes, solche springende Tatkraft empfinden nur wir, wenn wir gegen den Strom arbeiten.‹«121 In der Krise manifestiert sich also, aus dem Blickwinkel des Helden und des Romans, die Präsenz des Unternehmers. Und das poetologische Signalwort markiert, dass es sich hier um die wesentlichen, ›verklärungswürdigen‹ sittlichen Eigenschaften des Betriebs handelt. Der anschließende Gang nach Polen arbeitet dann alle wesentlichen Merkmale des Roscher’schen Tugendkatalogs ab: Die eigenen Arbeiter werden beruhigt122, auswärtige Schuldner mit ›Festigkeit‹ an die Verbindlichkeit ihrer Kredite erinnert123, und überhaupt wird aller Aufwand betrieben, persönlich mit den verschiedensten Akteuren in Kontakt zu treten (vom deutschen Militär über die revolutionäre Behörde bis zu den Geschäftspartnern), um die ausgesetzten Wirtschaftsbeziehungen neu zu knüpfen. Das Ringen um die 14 Güterwagen wird dabei zum Symbol einer Erneuerung des Eigentumsanspruchs, der das Unternehmertum wie das ökonomische Handeln überhaupt trägt. »[E]s hängt für mich mehr an dem Besitz dieser Frachwagen [sic!], als ein geschäftlicher Vortheil«, bekennt Schröter seine Verpflichtung gegenüber dem Handelsprinzip als solchem vor dem deutschen Grenzposten, Rittmeister Eugen von Rothsattel.124 Nicht das besondere Kalkül des Kaufmanns also, sondern die Postulate der Ökonomie schlechthin müssen in den – vom Standpunkt des Ökonomen aus betrachtet – anarchischen Zuständen jenseits des deutschen Hoheitsgebiets behauptet werden.125 Vor diesem Hintergrund wird die Signifi kanz der Polen-Reise für die schlussendliche Unternehmerwerdung Anton Wohlfarts deutlich. Zunächst im Fahrwasser des Prinzipals, dann bald als Bevollmächtigter in Verhandlungen mit Schuldnern und schließlich als Retter des Lebens und Eigentums des Prinzipals rückt Anton sukzessive in die Rolle eines Geschäftsführers. Später wird Sabine durch die Heirat und Beifügung ihres Kapitals diese Kompetenz Antons auszeichnen und ihn zum vollgültigen Eigentümer-Unternehmer machen. In der Mikrostruktur der Ereignisse zeigen sich dabei sehr wohl unterschiedliche Herangehensweisen. Schröter behauptet sich als Institutionalist, der seine Eigentumsforderung stets nur mit behördlichem Ein-

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 11. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 8. Schröter zu Anton: »›Wir theilen uns die nöthigsten Besuche; sagen Sie unsern Kunden, daß wir durchaus nicht beabsichtigen, sie zu drücken, daß sie bei Wiederherstellung einiger Ordnung auf die größte Nachsicht und Schonung rechnen können, ja unter Umständen auf Erweiterung ihres Credits, jetzt aber und vor allem verlangen wir Sicherheiten.« Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 56. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 30. Für die Ausblendung der revolutionären Bestrebungen von 1848 zugunsten der PolenEpisoden als Störfall eines ›eigentlich‹ gleichmäßigen Geschäftsgangs wurde Freytag bereits von Karl Gutzkow scharf kritisiert. Vgl. Karl Gutzkow: Ein neuer Roman [über Gustav Freytags »Soll und Haben«]. In: Unterhaltungen am häuslichen Herd, hg. von Karl Gutzkow, Bd. 3 (1855) Nr. 35 u. 36, S. 558–560 u. S. 572–576, hier: S. 575.

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verständnis weiterverfolgt. In seinem Beharren auf dem Ordnungsstandpunkt meint er, auf Waffen verzichten zu können. So lange die Straßenkämpfe nicht aufbranden, erweist sich dieser Weg als operabel. Erst im Konflikt mit dem Wirt, der Schröter mit einem Säbel attackiert, braucht es Antons gewissermaßen naturrechtliche, freie Kraft und Drohung mit seiner mitgebrachten Pistole, um die Unternehmung beider zu vollenden. Dass diese Pointe nicht unproblematisch ist, macht Schröter in seinem Resümee deutlich: »[I]ch habe in diesen Tagen mit Freuden erkannt, wie sehr ich mich auf Sie verlassen kann. Was Sie noch nebenbei gethan haben zur Rettung meiner Stirnhaut, das bleibt Ihnen unvergessen, solange ich lebe.«126 Verlässlicher Dienst innerhalb einer vorgegebenen Ordnung (auch wenn diese erst in komplizierten Verhandlungen mit der Revolutionsregierung und anderen Rechtsträgern eruiert werden muss) ist hier nach wie vor die Qualifi kationsnorm. Spontaneität und Lebensretterinstinkt erscheinen dagegen als Nebeneffekt des Abenteuers (bemerke: ›nebenbei getan‹). Nicht dem jugendlichen Kämpfer, sondern dem treuen Angestellten gilt die Belohnung zum Abschluss der Episode: »Ich wünsche Sie an meiner Stelle hierzulassen.«127 Diese Bevollmächtigung zum Agenten des Kontors antizipiert bereits die Substitution Schröters in der Geschäftsleitung, mit der der Roman schließt. Schröters Institutionalismus verbindet sich ideologisch mit einer Zivilisationsthese, die eine bürgerliche Wirtschaft als höchsten Stand kultureller Entwicklung ansetzt: »Sie haben keinen Bürgerstand« heißt es über die Slawen, und Schröter schließt daraus: »Das heißt sie haben keine Cultur«.128 Diese nationalistische Einfärbung des Ordnungsgedankens wird in der zweiten Auslandsepisode Antons wieder aufgenommen, wenn der Roman nunmehr in ein umfangreiches nationalliberales Kultivierungsprogramm mündet. In der Sanierung des maroden polnischen Guts der Rothsattels wird der Versuch vorgeführt, eine deutsche Ordnung in dem als ›glatt‹, instabil und unterentwickelt konzeptualisierten Territorium Polens zu implementieren, worin sich zugleich eine kolonialistische Raumsemantik artikuliert, die weit über den intratextuellen Geltungsrahmen hinaus bis ins Dritte Reich hinein wirksam bleibt.129 Durch das Lob für den verbürgerlichten Adligen und Amerikaheimkehrer Fink als Ahnherren für »ein Geschlecht von Colonisten und Eroberern« sanktioniert der Erzähler diese imperialistische Topographie und Ordnungsvorstellung mit Nachdruck.130 Im Zusammenhang der ökonomischen Bildungsgeschichte des Helden stellt das Jahr in Polen einen problematischen Kontrapunkt zum Vorangegangenen dar. Bis dato wurden jegliche Ordnungsdefizite (Verwicklungen bei Tanzstunden im Kreise der

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 71. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 71. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 17. Vgl. Niels Werber: Geopolitiken der Literatur. Raumnahmen und Mobilisierung in Gustav Freytags »Soll und Haben«. In: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005, S. 456–478. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 326.

Adligen, Abenteuer im polnischen Aufstand) durch die enge Bindung an Schröter und sein Kontor kompensiert, lief die Bewährung des Helden letztlich auf das angemessene Funktionieren im prästabilierten Gefüge der patriarchalen Wirtschaft hinaus. Sein Jahr als Verwalter des Rothsattel’schen Anwesens in Polen zeigt ihn numehr auf sich allein gestellt, in lediglich indirektem, brieflichem Kontakt zum Hause Schröter. Das Prekäre dieser Auslandserfahrung benennt Schröter in einer Aussprache gegenüber Anton nach dessen Heimkehr: »Ein ungeregeltes Begehren hat Sie in Verhältnisse gelockt, welche nach Allem, was ich davon weiß, ungesund sein müssen für Jeden, der darin lebt.«131 Der Charakter ist, in dieser Sichtweise, vom institutionellen Rahmen bestimmt, innerhalb dessen der Einzelne aktiv ist. Und dieser Rahmen erweist sich im Falle der adligen Pleitiers Rothsattel als äußerst problematisch. Abgeschnitten von ihren traditionellen Gütern und Einkommensquellen (Güterverpachtung), ist die Familie des Barons zum Zeitpunkt des Umzugs nach Polen bereits hoch verschuldet, hat das Familienoberhaupt durch eine Doppeltverwertung seiner Hypotheken gegen den aristokratischen Ehrencodex verstoßen. Ungeachtet dieser wirtschaftlichen und ›sittlichen‹ Defizite pflegen die Rothsattels weiterhin einen konsumistischen Habitus. Zwei ausführliche Kapitel lang tritt Anton als verhandlungsstarker Organisator des Rothsattel’schen Anwesens und Ökonom im klassischen Sinne eines landwirtschaftlichen Güterbewirtschafters auf. Dann erscheinen die Rothsattels in Rosmin und durchkreuzen unmittelbar den eingeschlagenen Sparkurs: Der Kauf zweier überteuerter Rotschimmel wird dabei nicht nur zum Störfall des hauswirtschaft lichen Engagements Antons, sondern dient dem Roman im Ganzen als Symbol der ungedeckten Verhältnisse, die hier unter den Adligen walten. Der Kauf der Tiere soll für die Kontinuität der Familientradition bürgen, zu einem Zeitpunkt, da die Rothsattels ihr Familiengut bereits verpfändet und verlassen haben. Ein Teil des Kaufpreises wird gegeben als »Versprechen, nach der nächsten Ernte zweihundert Scheffel Hafer zu einem übermäßig niedrigen Preise zu liefern«.132 Während die Ökonomen Anton und sein Gehilfe Karl Sturm noch schuften, um die Felder überhaupt zu bestellen, werden die zukünftigen Erträge bereits versetzt. Die Luxuspferde verlieren damit in doppelter Weise ihre metonymische Anbindung. Sie sind erworben mit kreditierten Mitteln, die noch nicht erwirtschaftet sind, um eine Tradition zu repräsentieren, die als solche bereits nicht mehr besteht. Zwischen aufgeschobenen und aufgehobenen Sachbezügen entleeren sich die auf Repräsentationskraft angelegten Zeichen. Extradiegetisch betrachtet, werden die Pferde gerade dadurch zu Verfallsymbolen par excellence, Sinnbilder eines referenzlosen demonstrativen Konsums.133

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 222. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 325. Die Logik des demonstrativen Konsums hängt von einer doppelten Signifi kation ab: Er bezeugt ebenso die Unproduktivität des Konsumenten wie seine Macht, jederzeit neue Mittel beschaffen zu können, die der eigentliche Inhalt des Reichtums ist. Vgl. Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 54f.

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Die Wahrheit der Schröter’schen Erkenntnis, dass solche Verhältnisse für den Bürgerssohn ›ungesund‹ sind, erfährt Anton Wohlfart schon frühzeitig. Der Lebensentwurf der Rothsattels wird als schlichte Antithese zum Kontoristendasein aufgefasst und zurückgewiesen. Mehrere explizite Vergleiche sichern die kognitive Relevanz der Polen-Erfahrung, durch die sich Wohlfart zum ›Mann der Grundsätze‹ heranbildet.134 Fundamentaler aber erscheint eine Veränderung seiner volitionalen Einstellung. Ein ›ungeregeltes Begehren‹ habe Anton in sein Abenteuer bei den Rothsattels hineinmanövriert, heißt es bei Schröter, und ebendieses Begehren wird in dieser zweiten Polen-Episode problematisiert und schließlich geläutert. Der Roman knüpft in diesem Punkt an sein zentrales, bereits im Anfangskapitel apostrophiertes Motiv an: die Regulierung der Träume.135 Auf die Projektionsfigur der Baronesse Leonore von Rothsattel konzentrieren sich all jene romantischen Neigungen und Selbstinteressen, die Anton Wohlfart über die Grenzen des Kontoralltags hinausführen. Das ›Traumhafte‹, Irreale der Konstellation, die Anton von der ersten Begegnung im Schlosspark und den Tanzstundenepisoden an wiederholt eingeht, ist durch die Bereichstrennung zwischen adliger und kaufmännischer Sphäre garantiert. Alle Versuche, diesen Hiatus in der Polen-Unternehmung oder durch die Darlehen für Leonores Bruder Eugen zu überwinden und somit eine kontige Verbindung zwischen beiden Sphären herzustellen, misslingen dem Helden. Sein Begehren nach Teilhabe an der Adelswelt bleibt objektiv unerfüllt. Ebendeshalb verlangt es subjektiv nach Neutralisierung, muss der Held seinen Wünschen entsagen. Die zentrale und kritische Selbsterkenntnis, dass ein verstiegenes Eigeninteresse, dass »eitler Sinn ihn in das Leben der Familie [Rothsattel] eingekauft hatte«, ist bereits eine Frucht seiner Entsagung.136 Erschien ihm die Entscheidung, als Verwalter für die Rothsattels anzutreten, anfangs von Mitleidsmotiven getragen137, so inkriminiert er sie nunmehr als eigennützigen und eben begehrlichen Akt. Tatsächlich hat sich Anton zu diesem Zeitpunkt längst von seinen Begehrlichkeiten gelöst. Hatte er anfangs seine schüchterne Neigung für Leonore noch durch verräterisch »unschuldige« Freundschaftsschwüre bekundet138, so verändert sich diese Beziehung spätestens mit Finks Ankunft auf dem Gut. Anton tritt zugunsten des adligen Freundes zurück und darf sich Leonore gegenüber schon bald einen ›Bruder‹ nennen.139 Der Topik der Entsagung gemäß folgt dieser Einwilligung in einen scheinbar defizitären Zustand die Verklärung. Als Anton nach einem Streit mit dem sowohl physisch wie intellektuell erblindeten Baron seine Kündigung einreicht (wohl wissend, dass sein

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Einschlägig hierfür ist das dritte Kapitel im vierten Buch. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 308–337. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 8. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 182. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 251f. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 366. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 107.

ökonomisch versierter Freund Fink die Bankrotteure sanieren wird), offeriert ihm die Baronin Genugtuung: »Was mein Mann gegen Sie versehen, kann ich nicht gut machen, aber ich wünsche Ihnen eine Gelegenheit zu geben, sich an dem Freiherrn in der Weise zu rächen, welche Ihrer würdig ist. Der Freiherr hat Ihre Ehre angegriffen; die Rache, welche ich, seine Frau, Ihnen dafür biete, ist die, daß Sie ihm seine eigene Ehre zu retten suchen.«140

Dieses paradoxe Angebot erlaubt dem Helden den Ausstieg aus der eigennutzorientierten Ökonomie und den Einstieg in die Verklärung. Denn was hier vorgeschlagen wird, erweist sich von keinem Standpunkt aus als kalkulierbar. Anton wird über das gebrochene Ehrenwort des Barons und den Diebstahl seiner Hypothekenverschreibungen aus dem Hause Ehrenthals informiert und im selben Zug beauftragt, diese wiederzubeschaffen. Dies soll seinerseits als ›Rache‹ oder Genugtuung gelten. In einer archaischen Ökonomie der Gabe, die in dieser Idee aufscheint, erweist sich ein solcher Revanchegedanke durchaus als funktional. Denn eine Gabe, wie sie Anton nahe gelegt ist, impliziert eine Verpflichtung des Beschenkten, sie gleich- oder höherwertig zu erwidern. »Die Gabe«, schreibt Marcel Mauss, »ist also etwas, das gegeben werden muß, das empfangen werden muß und das anzunehmen dennoch zugleich gefährlich ist.«141 Im Gabentausch wird demnach eine ebenso feste wie brisante Gemeinschaftlichkeit gestiftet, wobei die Gefahr daher rührt, dass die Gabe als Emanation der persönlichen Kraft ihres Gebers fungiert und von dorther Macht und Autorität auf den Beschenkten ausübt.142 Durch die Hintertür könnte nach dieser Logik also doch noch eine mehr als nur kontraktförmige Verbindung Antons zum Haus Rothsattel geknüpft werden. Doch schon die Stellvertreterposition der Baronin (›ich, seine Frau‹) unterbricht das angestrebte Verpflichtungsverhältnis. Überdies ist der Ausgangspunkt dieses Tauschgeschäfts gerade der Ehrverlust und die fehlende individuelle Kapazität des Barons. Wo keine Ehre ist, sondern gewissermaßen ex nihilo erst hergestellt werden soll, da kann auch keine magische Verpflichtung wandern. Vom Standpunkt der Gabe-Ökonomie betrachtet, geht das Angebot der Baronin nicht auf. Eine Betrachtung nach Eigennutzenerwägungen und mithin nach einem Wirtschaftlichkeitskalkül nach Maßgabe des Homo oeconomicus greift hier ebenfalls zu kurz (denn um eine konkrete Bezahlung oder eine anderweitig aufrechenbare Gegenleistung geht es diesen Partnern hier schon gar nicht!). Der Roman verdunkelt die Logik dieses Geschäfts zusätzlich, indem er die Szene mit einem der wenigen rätselhaften Erzählerkommentare schließt: »Adlig war ihr Sinn, nicht klein ihr Urtheil über Andere, und vornehm war die Art, wie sie Antons Diensteifer belohnte. Sehr vornehm! Er hatte in ihren Augen

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 186. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [franz. 1950], übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1990, S. 147. Mauss: Die Gabe, S. 35.

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immer eine weiße Perücke und silberne Knieschnallen getragen.«143 Ob Ironie (man bemerke das ausgerufene ›sehr vornehm!‹) oder veritable Zustimmung zu einem aristokratischen Anerkennungsakt, ob Anspielung auf eine vermeintliche Gleichstellung Antons als Adelsmann oder doch impliziter Kommentar auf seine tatsächliche Herabstufung zum Bediensteten (wer trägt Perücke und Knieschnallen?) – die Ambivalenz der Passage schließt überaus passend an die eigentümlich fragwürdige Offerte der Baronin an. Anton hingegen gerät der paradoxe Handel zur Probe seiner Entsagungsfähigkeit. Eben weil die Gegenleistung gewissermaßen per se durchgestrichen ist, und zwar sowohl in einer magischen Perspektive (Gabe) wie in einer ethischen (Anerkennung) oder einer monetär ökonomischen (Bezahlung), kann er komplett uneigennützig verfahren und sich einzig der ›Sache selbst‹ (der Beschaff ung der Papiere Rothsattels) widmen. Anton löst den Kriminalfall um Itzig und Hippus und verinnerlicht damit jene zentrale Gerechtigkeits- und Sachkompetenz, die bei Hackländer noch außerhalb des Helden verortet war. Auf der Handlungsebene folgt ihm daraus kein ›return on investment‹, bleibt der ungerade Gabentausch konsequenterweise ohne Erwiderung. Der Baron verstummt, seine Gattin verstirbt, als die Schuldscheine verbrannt sind. Ein »versiegelter Brief« an Sabine Schröter geistert als ultimative Leerstelle durch den Romanschluss, als unlesbares Zeichen der metonymischen Auflösung der Bande zwischen den Beteiligten (wer teilt hier überhaupt was mit? Fink oder die Baronin? und sprechen sie von Anton? von Anerkennung?). Tatsächlich muss die Kompensation der Anstrengung des Helden auf metonymischer Ebene ausbleiben, damit seine Entsagung vollständig greift. Der Lohn dafür wird dem Helden dann eine Ebene weiter oben, von der poetischen Ordnung der Erzählung gespendet: Er wird zum Motor der Verklärung. Denn in der Komposition des Romans korrespondiert Antons altruistische Tat direkt mit der finalen Stabilisierung der erzählten Ordnung: Die Schurken Hippus und Itzig, durch die Nachforschungen des Helden gegeneinander aufgehetzt, kommen qualvoll um; Fink kann Leonore heiraten, da sie dank Antons Engagement wieder über eine Mitgift und daraus resultierend über ein stabiles Selbstwertgefühl verfügt; die Baronin stirbt versöhnt in den Armen des (leidlich) rehabilitierten Barons, dessen Tod ebenfalls bevorsteht. In einem kleinen Nebenstrang führt Anton noch Vater und Sohn Sturm zusammen. Alle, denen durch die Intrigen und Verwicklungen etwas genommen wurde, erhalten etwas zurück. Und weil der entsagende Held auf eine Gegenleistung verzichtet, schließt sich der Kreis der Verpflichtungen und Tauschhandlungen wie der Roman selbst. Wenn also, wie im Finale bekundet, eine ›Kraft‹ den Kaufmann Anton Wohlfart auszeichnet und ihn zum Begründer eines neuen ›Soll und Haben‹ befähigt, dann ist es die Kraft der Entsagung, und diese wirkt doppelt: Sie führt einerseits den Helden im Happy End in jene intradiegetische Ordnung zurück, für die Entsagungsbereitschaft die Conditio sine qua non ist. In der Verheiratung mit Sabine Schröter findet

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 189.

dabei keineswegs eine Vergeltung der konkreten Leistungen des Helden statt, in dem Sinne, dass sich sein Altruismus durch die Hintertür doch noch bezahlt machte.144 Vielmehr wird hier eine generelle, oberhalb des Kalküls stehende persönliche Kapazität belohnt, die, wie gesehen, Sach- und Menschenkenntnis sowie Treue zum Kontor umfasst (was alles spätestens mit dem Polenaufstand bezeugt ist) und sich nun in der radikalen Entsagungsfähigkeit vollendet. Statt einer klugen Investition in ein Humankapital wird eine transökonomische Ordnungs- und Sorgementalität gefeiert und Sabine Schröter figuriert entsprechend als Schutzengel, der den Helden seit den ersten Kaffee- und Zuckerpäckchensendungen an die Eltern durch die Romanhandlung begleitete.145 Das Entsagungsmotiv ist demnach nicht (etwa im Sinne der Weber’schen Kapitalismusthese avant la lettre) als unternehmerische Askese aufzufassen, sondern als diegetisches Korrelat eines makrostrukturellen Harmonieanspruchs, der gerade nicht auf maximierende Kapitalersparnis und kapitalistische Dynamik setzt.146 Dem Hintergrund eines so verstandenen Entsagungsdenkens wird im Kapitel 5 dieser Arbeit nachzugehen sein. Zweitens aber funktioniert die Entsagung des Helden poetologisch, wenn sie direkt mit der Schließung des Romanganzen korrespondiert. Die Zusammenordnung derer, die nach der Komplementärlogik des Buches füreinander bestimmt sind (Adliger und Adlige, Vater und Sohn)147, gelingt hier eben nur im selbstlosen Ausstieg aus den intradiegetischen Tauschgeschäften. Darin wirkt die Beendigung des alten Geheimbuchs und die Übergabe des neuen ›Soll und Haben‹ an den Protagonisten selbstreferenziell: Der Bogen zwischen Eröffnung und Schließung spannt sich im Realismus nur, wenn die Kraft der Helden stimmt – die Kraft der Entsagung.

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In diesem Punkt ist Fritz Breithaupt zu widersprechen, der in seiner These, Selbstlosigkeit würde in diesem Roman zu einem ökonomisierten Wert, die hier dargelegte Logik der Entsagung überliest. Denn als eine nicht zweckgerichtete generelle Entsagungsfähigkeit entzieht sie sich der konkreten Aufrechnung. Vgl. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 144–149. Die Nähe dieses Romanschlusses zur Turmgesellschaft des Wilhelm Meister zeigt die Kontinuität des vormodernen Ordnungsdenkens, wie es Joseph Vogl für die Zeit vor 1800 nachgewiesen hat. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 35–38. Rémy Charbon erkennt in Antons Einführung ins Arcanum der Firma eine »unfreiwillige Persiflage« auf Wilhelm Meisters Eintritt in den Turm mit den Schriftrollen. Vgl. Charbon: Der Homo oeconomicus, S. 139. Spätestens hier ist das pauschale Urteil über die »Vorrangstellung des Ökonomischen« in Soll und Haben zu differenzieren, das die Freytag-Forschung seit den kritischen Studien der 1970er Jahre begleitet. Vgl. etwa Hartmut Steinecke: Gustav Freytag: Soll und Haben (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers. In: Horst Denkler (Hg.), Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 138–152, hier: S. 141. Der Roman pflegt ein Pathos der Arbeit und abstrakt haushälterischen Wirtschaftens im Horizont des Ordnungsgedankens bei gleichzeitiger Skepsis gegen moderne Marktaktivität und Wachstumsökonomie. Dazu mehr in Abschnitt 3.2.3. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 2.3.1. dieser Arbeit.

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3.2.2.

Die Stabilität der Bedürfnisse und die Tücken des Konsums

Die Poetik der Ware zeigt sich also zunächst von einer Unmittelbarkeitsvorstellung getragen. Sachkenntnis und Nähe zu den Tauschpartnern zeichnen den vorbildlichen Ökonom aus, wie ihn die Kaufmannsliteratur des frühen Realismus vorführt. Dabei erscheint die Sachkenntnis bevorzugt als Entzauberung similiarer, romantisierender Warenvorstellungen durch metonymisierende Operationen. Die Personalität des Verkehrs wiederum wird auf institutionelle Handlungsrahmen zurückgeführt, die die Protagonisten durch entsagungsvolle Bedürfnisregulierung internalisieren. So werden die Sitten des Geschäfts zur Sitte des Einzelnen. Im Ganzen beweist die realistische Poetik der Ware ein ausgeprägtes Stabilitätsdenken. Innovationen kommen eher am Rande vor; Veränderungen zeigen sich nur dort funktional, wo sie sich in bestehende Kontexte einfügen. Sinnfälligerweise obliegt in Soll und Haben die einzige nennenswerte Neuerung nicht dem Helden Anton Wohlfart, sondern seinem adligen Freund Fink. Als er das marode Gut der Rothsattels bei Rosmin in Augenschein nimmt, entwickelt Fink einen Plan zur Produktivitätssteigerung: Durch Kultivierung einer abgelegenen Bodenfläche von 500 Morgen ließe sich ein jährlicher Gewinn von 2.500 Talern erwirtschaften. Bedingung dafür wäre die Umleitung eines Baches. Und diese Umleitung wird sofort auf ihre Vereinbarkeit mit den natürlichen Gegebenheiten hin angeschaut: »In alter Zeit lief der Bach anderswo«, weiß Fink und projektiert: »Wenn man den Bach wieder in sein altes Bett zurückführt und ihn zwingt, im Bogen zu laufen statt in der Sehne, so kann man mit dem Wasser, das jetzt zu Eurer Schande unnütz in die Welt fließt, die ganze Fläche von fünfhundert Morgen berieseln und den dürren Sand in grünes Wiesenland verwandeln.«148 Die ökonomische Maßnahme, wo sie vorbildlich wirkt, sucht den Einklang mit den natürlichen Verhältnissen. Den Bach dorthin zurückzubringen, wo er sich einstmals befand, das ist der traditionalistische Tenor in Finks hauswirtschaftlicher Idee. Statt kruder Kultivierungsemphase und Erneuerungspathos wird hier die harmonische Anpassung an den Lauf des Bestehenden propagiert.149 Das moderat innovatorische Bestandsdenken, das hier den Bereich der Produktion bestimmt, durchzieht analog auch die ohnehin ungleich geringer geschätzte und entsprechend kaum porträtierte Konsumtionssphäre. Gustav Freytag genügt, wie gesehen, ein einziges Genusserlebnis, nämlich das Eintreffen der Schröter’schen Weihnachtspakete im elterlichen Heim, um Verbrauchszusammenhänge aus der normalwirtschaft lichen Perspektive des Helden als unproblematisch ausklammern zu können. Dass die Kaffeebohne, die die Kolonistentochter in Brasilien pflückt, auf ein reales Bedürfnis beim jungen deutschen Bauernburschen trifft – um die Poesie der

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 48f. Im schroffen Gegensatz dazu steht etwa die Landgewinnungsszene in Faust II als prominente Allegorie eines offenen ökonomischen Strebens, das seine Grenze weder in den vorhandenen Gegebenheiten noch in den hervorgebrachten Gegenständen fi ndet. Vgl. die Diskussion bei Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 331f.

Ware, wie sie Anton Wohlfart vorlegt, noch einmal aufzugreifen –, ist für die Zwecke des Romans und seine Konzeptualisierung der kaufmännischen Distribution vorausgesetzt. Friedrich Wilhelm Hackländer wiederum hatte in seinem Porträt eines Maßfertigungsgeschäfts ohne weiteres eine vorindustrielle Homogenität von Produktion und Konsumtion zur exemplarischen Wirtschaftsverfassung erhoben. Das Antriebsprinzip moderner Wachstumsökonomie, die »Aufweckung latenter Bedürfnisse, eine für jeden Kulturfortschritt so höchst bedeutende Thatsache«, wie Wilhelm Roscher sagt150, wird von den realistischen Literaten anscheinend geflissentlich umgangen. Anstatt neuer Bedürfnisse setzen sie die guten alten an (Kaffee, Zucker, feine Kleidung) und kümmern sich, wenn überhaupt, eher um Fragen der Quantitätssteigerung, wie im Falle Finks, als um die qualitative Erweiterung des Güterhaushalts. Gleichwohl erweist sich diese reservierte Einstellung gegenüber der Dynamik der Bedürfnisse als eine spezifische Form des Anschlusses an das ökonomische Denken der Zeit: Die Literatur akzentuiert das institutionalistische, ordnungspolitische Moment, das die realistische Nationalökonomie in der Ausbreitung des Marktkalküls stets mitartikuliert.151 Wie bereits gesehen, gelten die Bedürfnisse den Ökonomen als gesamtgesellschaftlich indiziert. »Unter sonst gleichen Umständen wird der Consumtivitätsgrad jedes Gebrauchs wesentlich durch den Volkscharakter bedingt«, schreibt Roscher, weshalb etwa »die Sauberkeit und Ordnungsliebe der Holländer gar sehr dazu bei[trage], ihre Bauwerke und Gerätschaften länger im Stande zu halten.«152 Solche Beispiele entstammen einem Denken, das anstelle individueller Bedarfskalküle eine überindividuelle, nationalkulturelle Bestimmung der Gebrauchswerte anstrebt. Die Aufdeckung dieser kulturellen Gebrauchswerte erfolgt über historistische, statistische Untersuchungen. Für die Zwecke der Kostenkalkulation wird die Gebrauchsdimension hingegen als nicht kalkulierbarer, stabiler Hintergrund in produktionswerttheoretischen Analysen des Tauschs angesetzt (ein Vorgehen, das sich erst mit der Grenznutzentheorie ändert).153 Dass Güter brauchbar sein müssen, ist in der Aufwandskalkulation also vorausgesetzt, in welchem Maße sie es sind, fällt nicht in Rechnung. So wird der Zusammenhang von Produktion und Konsumtion vorzugsweise in funktionaler Allgemeinheit angesprochen statt als spezifisches, berechenbares Wechselwirkungsverhältnis. Bei Roscher trägt demgemäß eine (von Amasa Walker entlehnte) Organismus-Metapher die Darlegungen zum Bedingungsverhältnis von Produktion und Konsumtion: »Sie [die Konsumtion] ist das Gegenbild der Production (§ 30): ›die Krone des Baumes, von welchem die Production die Wurzel, Umlauf und Vertheilung der Güter den Stamm bilden.‹«154 Diesem Bild einer organischen Har-

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 195, S. 541. Vgl. Abschnitt 2.3.3. dieser Arbeit Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 207, S. 580. Vgl. die Abschnitte 2.1., 2.2.3. sowie 4.2.1. dieser Arbeit. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 206, S. 579.

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monie der wirtschaftlichen Zirkulation folgend liegt das Ideal der Wirtschaft lichkeit in einer »gleichmäßigen Entwicklung von Production und Consumtion«155, in einer permanenten Anpassung der Bedürfnisentfaltung an die Möglichkeiten der Bedürfnisdeckung. In dieses immer wieder auf Stabilität und zirkulatorische Kompensation abhebende Wirtschaftsdenken hinein wird dann die Wachstumsidee platziert. Wie im »Organismus des thierischen Körpers« die Prozesse von Ernährung und Ausscheidung, so zeigen sich die komplementären wirtschaftlichen Prozesse Herstellung und Verbrauch aufeinander bezogen, wobei die Konsumtion in Analogie zur Ausscheidung »etwas [!] weniger« betragen solle als die Produktion/Nahrungszufuhr, damit der volkswirtschaftliche ›Körper‹ wachse.156 Entsprechend der fundamentalen Parallelität von Kulturfortschritts- und Sittlichkeitssemantik im realistischen Diskurs wird auch in der Konsumtionstheorie die Idee des Güterwachstums durchweg mit der Vorstellung einer organischen Regelmäßigkeit korreliert. Neue Bedürfnisse werden, wie oben formuliert, als ›latent‹ aufgefasst, gelten also als immer schon verdeckt vorhanden. Die Wachstumsidee wird so auf Deckungsverhältnisse hin interpretiert und bleibt dadurch einem Ordnungsdenken verpflichtet, das einen stabilen moderaten Zuwachs an notwendigen (stets bereits latent erwünschten) Gütern in Aussicht stellt. Privilegiert erscheint der Ordnungsgedanke, wenn die Differenz zwischen Bedürfnisentfaltung und Befriedigungsmitteln bevorzugt über krisenhafte Fälle, die ›Anomalien‹ der volkswirtschaftlichen Physiologie, abgehandelt wird. In Diskussionen zu Absatzstockungen, Verschwendung oder übermäßiger Sparsamkeit (Geiz), aber auch in der kanonischen Abhandlung zum Luxus widmet sich Roscher diesen Problemfällen des Konsums. Das vom Gleichmaß abweichende wirtschaftliche Handeln stellt damit den Kontrast her, in dem sich das auf organische Harmonie abhebende Modell ausbalancierter Produktion und Konsumtion gewissermaßen ex negativo konstituiert und reflektiert. Die realistische Literatur greift also speziell den ökonomischen Ordnungsgedanken auf und akzentuiert diesen bis hin zur Preisgabe der Wachstumsideologie. So erklärt sich, weshalb die Konsumtionssphäre entweder kaum oder aber als problematisch in den Blick der Literatur gerät. Die normalwirtschaftliche, stetige Bedürfnisentfaltung muss sich gewissermaßen subkutan und insignifi kant vollziehen. Andere Formen des Verbrauchs dienen allenfalls als grelle Gegenbilder zur harmonischen Wirtschaftlichkeit. So erscheint sowohl der Typus des Geizkragens à la Hirsch Ehrenthal oder Samuel Feuerstein (in Raabes Der Hungerpastor) oder aber der Verschwender vom Schlage eines Barons von Rothsattel regelmäßig als schriller Abweichler von einem Weg wirtschaftlichen Mittelmaßes, der durch die Protagonisten der Bücher stillschweigend und darin vorbildhaft beschritten wird.157 In diesen

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 215, S. 598. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 215, S. 598. Die hier zugrunde liegende Tendenz einer generellen Dämonisierung großer selbstzweckhafter Kapitalvermögen ist selbstredend älter. Sie verdankt sich zirkulatorischen Vor-

Szenarien des Luxus oder der Warenhortung tritt Konsum bzw. Konsumverhinderung lange Zeit als Bestandteil von Unsittengemälden auf.158 Diese sittenbildliche Semantik des ›Anderen‹, die der elitären Warenkultur anhaftet, löst sich erst im Spätrealismus bei Theodor Fontane auf, wo die Nennung von hochwertigen Artikeln eine relativ neutrale Funktion in der schichtenspezifischen Milieuschilderung gewinnt.159 Ein Schaufensterbummel mit Adalbert Stifter Eine Reflexion auf die Tücken des alltäglichen Konsums kommt bei poetisch realistischen Autoren allenfalls ausnahmsweise vor. In einem bemerkenswerten Artikel Waarenauslagen und Ankündigungen für seine Feuilletonsammlung Wien und die Wiener gibt Adalbert Stifter 1844 einen Einblick in das Sujet. Von Schaufensterreklamen und Zeitungswerbung handelt der Text und er ist schon allein deshalb beachtlich, weil sich der Schreiber darin wiederholt auch selbst als Adressat seiner Konsumüberlegungen begreift: Der Kunde, c’est moi. Stifters Feuilleton ist von der These getragen, »daß diese Auslagen und Ankündigungen nicht nur den Zweck haben, daß der kaufe, der will, sondern vielmehr und eigentlich den, daß der kaufe, der nicht will«.160 Während die Kaufmannsliteratur dieser Jahre eher von einer Homogenität zwischen Bedürfnis und Warenangebot ausgeht und den Wirtschaftszusammenhang entsprechend als organische Einheit im nationalökonomischen Sinne entwirft, weist

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stellungen, die Geld lediglich als Tauschmittel im Produktions- und Konsumtionsfluss ansehen und die, wie hier ersichtlich, bis in den Realismus des 19. Jahrhunderts hinein starke Resonanz fi nden. Wie Georg Simmel nachgewiesen hat, repräsentieren Verschwendung und Geiz in diesem Kontext zwei Seiten ein und derselben Logik, die das Geld vom Tauschmittel zum Zweck an sich aufwertet (vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 317–324). Im Rückgriff auf Simmel hat Walter Benn Michaels die Ökonomie des Geizkragens (›miser‹) und des Verschwenders (›spendthrift‹) im amerikanischen Realismus des 19. Jahrhunderts detailliert nachgezeichnet und kontextualisiert. Vgl. Michaels: The Gold Standard, besonders: S. 139–160. Vgl. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 278 –297 [Zweites Buch, Kap. 15]. Vgl. Bernd W. Seiler: Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart 1983, S. 291. Damit ist nicht gesagt, dass Fontane z.B. in Frau Jenny Treibel der materialistischen Sphäre des Hauses Treibel unkritisch gegenübersteht, wenn er sie etwa mit der Poesie des Herzens, die dem bildungsbürgerlichen Kreis um den Lehrer Schmitt zugeschlagen ist, konterkariert. Luxuserwägungen werden hier lediglich nicht mehr jenseits der Protagonisten als Bereich des Fremden und Gefährlichen angesiedelt. Ein Andauern der Luxusproblematik über den Poetischen Realismus hinaus zeigt Heinrich Manns satirisches Frühwerk Im Schlaraffenland (1900), das den luxuriösen Handlungsraum des Rentiers Türkheimer und der ihn umgebenden Boheme zwar universalisiert, sie allerdings in ein solches Zerrbild bringt, dass dadurch, der satirischen Logik gemäß, das Nichtdargestellte (etwa die Sphäre der Güterproduktion) aufgewertet erscheint. Siehe auch Abschnitt 4.2.4. dieser Arbeit. Adalbert Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen [1844]. In: HKG, Bd. 9,1 (Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben, hg. von Johann Lachinger), Stuttgart 2005, S. 261–269, hier: S. 261.

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Stifters Mikroansicht den kaufmännischen Bereich als manipulativ aus: Zwischen den Anbieter und den Kunden, ja gewissermaßen direkt in den Willen des Kunden hinein, tritt die Reklame, um fehlendes Kaufinteresse in Nachfrage zu verwandeln. Bedürfnisse sind hier also nicht immer schon naturgegeben latent da, sondern müssen zuallererst und, wie zu zeigen sein wird, durch den Einsatz ästhetischer Mittel implementiert werden. Dass diese Umpolung der Schaufensterflaneure und Zeitungsleser zu Käufern keineswegs unproblematisch gesehen wird, deutet schon eine erste Metaphorisierung an: Der erste Geschäftsmann, der einen Artikel durch Ankündigung und erlaubte Herausstreichung geschickt an den Mann brachte, war die Schlange im Paradiese, und Eva ist das Vorbild und die Patronin aller nichtkaufenwollenden Käuferinnen geworden.161

Die Induktion eines fremden Bedürfnisses qua Werbung steht, mit etwas Augenzwinkern angemahnt, in direkter Nachfolge des Sündenfalls. Und von dort ausgehend reißt Stifter zunächst die Geschichte der Manipulation des Kaufverhaltens vom antiken Marktschreier bis zur Anzeigenreklame der Gegenwart ab und orchestriert das durchgehende Paradoxon, dass der Nichtkäufer kaufe, durch weitere Paradoxa: Mit dem Buchdruck entstünde eine neue Werbedimension, »da die schreienden Marktschreier und Anzeiger nach und nach abnahmen, dafür aber die stummen in Schwung geriethen, nämlich die Zeitungen, die auf gutem Löschpapier Alles in die Welt tragen, was geschieht, und auch das, was nicht geschieht«.162 Die Stummen sprechen; was nicht geschieht, wird berichtet; wer nicht kaufen will, kauft. In einer Häufung paradoxer Fügungen bezeugt Stifter ein Unbehagen an der Werbekultur, das nachfolgend durch konsumpraktische Vorschläge bearbeitet wird. Das Gros des Textes gilt dabei den Schaufensterreklamen, insofern in ihnen die Waren »gelassen selber reden« und darin gleichsam ihre zeichenhaften Repräsentationen in den Zeitungsanzeigen stützen oder widerlegen.163 Von einer zumindest angedeuteten Kritik der modernen, massenmedialen Produktion des Imaginären der Ware stellt Stifter also in gut realistischer Manier auf den Nahbereich um, in dem das Ding an sich als Zeugnis und Gradmesser seiner Repräsentation fungiert. An der konkreten Zurschaustellung der Kaufobjekte, die in Anlehnung an die Paradiesmetapher durchweg als verführerisch, funkelnd und farbenfroh charakterisiert wird, entwickelt Stifter dann seine Vorschläge zur Selbstkontrolle des Konsumenten. Weniger Aufschneiderei sei in den Warenauslagen zu finden (eben weil ja hier die Sachen selbst sprechen), und doch muss ich als ein aufrichtiger Schriftsteller eingestehen, daß auch hier allerdings eine Art Aufschneiderei möglich ist, die aber eben so gut im Schönheits- und Harmoniensinne ihren Grund haben mag, als in etwas anderm und jedenfalls dem Verkäufer nicht zur Last

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Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 261. Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 262. Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 263.

fallen kann, da der Käufer die Sache ja sieht, und es sich selber zuschreiben muß, wenn er so unvernünftig ist, von außerwesentlichen Nebendingen, die die Pracht der Erscheinung darstellen helfen, nicht abstrahieren zu können.164

Eine Abstraktion müsse der geübte Käufer also leisten, und man ahnt bereits, dass Abstraktion hier keineswegs das meint, was die Theorie der Ware darunter fasst. Denn um die landläufige Tauschwertabstraktion165, die jedem Gütervergleich vorausgeht, und mithin um eine Geld-Ware-Kalkulation, die sich im Kaufpreis ausdrückt, geht es Stifter nicht. Was der Käufer im Blick behalten soll, ist nicht sein Budget, sondern der Gebrauchswert der feilgebotenen Dinge. Und diese Gebrauchsdimension müsse, wie Stifter insbesondere seine weiblichen Leserinnen belehrt, in einem Vergleich zwischen dem Darstellungskontext im Schaufensterladen und dem heimischen Sachvorrat angepeilt werden: [I]n der Anordnung der darin [im Schaufenster] befi ndlichen Waaren thut sich ein wahrhaft verführerischer Geschmack kund; ich sage verführerisch, denn sie verstehen die Sachen so nebeneinander zu stellen und zu legen, daß es wie zufällig und malerisch leicht aussieht, daß aber doch das eine dem andern zur Folie dient und es hebt […]; – daher gebe ich meinen schönen Leserinnen den Rath: sobald ihnen ein Kleiderstoff in einer Auslage ganz besonders gefällt, und sie ihn zu kaufen gesonnen sind, sollen sie immer früher überdenken, ob sie zu Hause einen Anzug oder andere Nebenstücke von der Farbe der jenen Stoff umgebenden Artikel haben oder nicht.166

Stifters Abstraktion zielt also nicht auf die Ware als zirkulationsfähiges, durch Preise messbares Gut, sondern auf das Ding als solches, das sich besser oder schlechter in einen gegebenen Gebrauchskontext einfügt. Bestimmt werden muss folglich die Qualität des isolierten Gegenstands gegenüber der suggestiven Warenpräsentation, die jedem Einzelstück aus der ästhetischen Harmonie des Ensembles heraus Geltung verschafft . Das ist wiederum nur möglich, indem die Eigenschaften des Kaufobjekts imaginativ mit dem heimischen Bestand abgestimmt werden. Die Eingangsfrage nach der prekären Bedürfnissteigerung, die durch die Reklame erzielt wird, ist so zu einer Kundenunterweisung übergegangen, die auf die Leistungsfähigkeit metonymischer Sensibilität baut. Die geübte Käuferin erkennt die ästhetische Ordnung des Schaufensters, in der die Dinge vermöge einer spezifischen Ähnlichkeit (z.B. Kleider aufgrund zusammenstimmender Farben), also durch eine poetische Funktion, miteinander in Beziehung gesetzt sind. Und sie durchstößt diese Ordnung, indem sie in Betracht zieht, was im häuslichen Bestand an Kompatiblen vorhanden ist. Die primär poetische, similiare Kombination (im Geschäft) wird mit-

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Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 263. Der Begriff der ›Abstraktion‹ ist prominent betont worden in der (mit den Prämissen der klassischen Ökonomie operierenden) Warendefi nition von Karl Marx. Vgl. Marx: Das Kapital. Erster Band, S.  56–61. Siehe dazu auch Heinzelman: Economics of the Imagination, S. 138–141 u. S. 173–188. Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 265f.

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hin überführt in eine metonymische Überlegung, in der erwogen werden muss, ob und wie das zu erwerbende Ding sich zu dem fügt, was daheim bereits vorhanden ist. Als Sinnbild eines Misslingens dieser Metonymisierung figuriert Stifters Vater, der einstmals »von einer Gebirgsreise einen ganzen Bündel Steigeisen« mitbrachte, die sich daheim schnell als völlig unbrauchbar erwiesen.167 Rückführung und Einfügung in gegebene Kontexte, Harmonisierung des Neuen mit einem vorhandenen Bestand sind also auch hier die Strategien, um eine ebenso poetische wie realistische Erfassung der Ware zu gewährleisten.168 Die Frage etwa nach der Farbkombination im heimischen Kleiderschrank ist in der realpoetischen Sichtweise nicht abloslösbar von der Frage, was der heimische Kleiderschrank überhaupt aufweist und welche Kontiguitäten er ermöglicht (Rock zu Bluse, Hemd zu Hose). Eine dunkle Hose zu einer dunklen Hose braucht man so wenig wie ein Bündel Steigeisen in Südböhmen. Adalbert Stifters frühe Reklamediskussion leitet damit im Ganzen von der Eigendynamik der Distributionssphäre auf das Käuferindividuum und seine stets material gedachten Nutzenbestimmungen über. Preisüberlegungen und quantifizierbares Kalkül stehen hier ebenso wenig zur Disposition wie Konkurrenzfragen. Und die Ausgangsüberlegung, dass durch Werbung derjenige zum Käufer umgepolt werde, der nicht kaufen wolle, erscheint schließlich nurmehr als Herausforderung an die sachlich ausgerichtete Einstellung des einzelnen Kunden. Gottfried Keller über Revalenta arabica Weitaus skeptischer als Stifter hat sich Gottfried Keller im Grünen Heinrich über die Auswirkungen neuzeitlicher Reklamearbeit auf das alltägliche Wirtschaftsverhalten geäußert. In beiden Fassungen seines Hauptwerkes greift Keller, zum Zwecke einer Kunstmarktreflexion, den zeitgenössisch populären Krisenfall der so genannten Revalenta arabica auf.169 Die Revalenta arabica ist ein patentiertes Nahrungs- und angebliches Heilmittel aus Ackerbohnen-, Wicken- und Linsenmehl, das der Londoner Fabrikant Barry Du Barry um 1850 herum auf den deutschen Markt bringt und mit Anzeigenkampagnen in diversen deutschen Zeitungen und Familienblättern offensiv bewirbt. Mehr als 65 Krankheiten, so heißt es, heile die Revalenta arabica,

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Stifter: Waarenauslagen und Ankündigungen, S. 264. Diesen fundamentalen Aspekt der Metonymisierung übergeht Julia Bertschik, wenn sie Stifters Poetik der Ware im Kontext des aufkommenden Austellungswertes von Dingen im Konsumkapitalismus thematisiert. Siehe Bertschik: Poesie der Warenwelten, S. 41–43. Noch 1879, nachdem der Hype längst vorüber ist, fi nden die Revalenta arabica als Metapher Nachhall in Friedrich Theodor Fischers Auch Einer: »Das katholische System ist Reklame, Revalenta arabica, Königstrank, Mailänder Haarbalsam. Kommt zu mir, ich habe eine Apotheke, euch selig zu machen ohne eigene Mühe!« Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer [1879], mit einem Nachwort von Otto Borst, Frankfurt a.M. 1987, S. 464.

angefangen bei ›Schwindsucht‹ und ›Erröten‹ bis zu ›Lebensüberdruss‹ und der ›Unfähigkeit zum Studieren‹. Im Namen gibt sich die Mixtur als Nachfolger eines früheren, französischen Präparats zu erkennen: Wartons ›Ervalenta‹ (abgeleitet vom lateinischen Namen für Linse ›ervum lens‹). Der Zusatz ›arabica‹ entstammt Du Barrys Gründungsmythos: Als Zehnjähriger sei er in Arabien von Einheimischen mit ebendiesem Mittel, das er als Revalenta arabica vertreibt, von ›Lungenschwindsucht‹ geheilt worden. 50.000 ›freiwillig eingesandte‹ Zeugnisse, abgedruckt in Du Barrys Werbebroschüren, beglaubigen zudem die Wirksamkeit der Revalenta arabica. Die Zeitungsreklame erscheint allerdings nur in Blättern, die sich dazu verpflichten, keine Gegenanzeigen aufzunehmen. Schätzungsweise 20.000 Taler gibt die Firma Du Barry für ihre Kampagne jährlich aus.170 Gegen diese Vermarktungspraktiken richtet sich denn auch die zeitgenössische Kritik. An drei Aspekten wird dabei der ›unsittliche‹ Charakter dieses Produkts festgemacht: an der ›marktschreierischen‹ Werbung, an dem – gemessen an den Inhaltsstoffen – um ein Vielfaches überteuerten Preis und an der fraglichen Heilwirkung. Als Konsequenz einer umfangreichen Gegendarstellung fordert der Apotheker und Du-Barry-Kritiker Albert Frickhinger von den Behörden ein Verbot des Präparats wie überhaupt aller ›Geheimmittel‹, und zwar nicht, weil diese nachweisbar medizinisch schädlich wären, sondern weil durch sie gerade die unteren Bevölkerungsschichten ökonomisch geprellt würden. Ein derartiger Lösungsvorschlag entspricht dem allgegenwärtigen Sittlichkeitsdenken. Darauf, dass der Markt ein überteuertes oder unnützes Produkt früher oder später von allein aussondert, soll hier nicht vertraut werden. Gewünscht ist die staatliche Intervention, durch die Güterqualitäten von außen objektiv erfasst und sanktioniert werden. Mit anderen Worten: In Frickhingers Revalenta-Kritik artikuliert sich die Praxis der kulturell verankerten (und eben behördlich zu stützenden) Gebrauchswertbestimmung.171 Ein solcher Lösungsansatz steht der Diskussion der Revalenta arabica im Grünen Heinrich fern. Keller thematisiert das Modefabrikat als zeittypisches Krisensymptom, um darin eine Niederlage, die sein Protagonist Heinrich Lee am Münchener Kunstmarkt erleidet, wirtschaftskritisch zu flankieren und zu verallgemeinern. Nachdem ein befreundeter Maler Lee um das Motiv seines Gemäldes betrogen und eine eigene Version davon erfolgreich verkauft hat, schaltet der Erzähler, im Gewand einer direkten inneren Rede des Helden (in der ersten Fassung als Erzählerrede), seinen Exkurs

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Vgl. Albert Frickhinger: Die Revalenta arabica des Du Barry, ein grossartiger Betrug, Noerdlingen 1854. Mit gleichem Tenor erscheinen kritische Beiträge über die Revalenta arabica u.a. in den Zeitschriften Natur und Natur und Kunst. Die von Keller gelesene Feuerspritze veröffentlicht mehrere spöttische Artikel und empfiehlt in satirischer Absicht der populären Schriftstellerin Charlotte Birch-Pfeiffer eine literarische Verarbeitung des Stoffes: »Revalenta arabica oder: Treue Liebe wanket nicht«. Vgl. Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller »Der grüne Heinrich« (erste Fassung. 1854/55), München 1993, S. 199f.

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zur Revalenta arabica unter der Frage: »Was ist Erwerb und was ist Arbeit«.172 Getragen werden die vergröberten Ausführungen zur Produktions- und Vermarktungsweise des Fabrikats auch hier von einem fundamentalen Paradox: Ein Spekulant gerät auf die Idee der Revalenta arabica (so nennt er es wenigstens) und bebaut dieselbe mit aller Umsicht und Ausdauer; sie gewinnt eine ungeheure Ausdehnung und gelingt glänzend; tausend Menschen werden in Bewegung gesetzt und Hunderttausende, vielleicht Millionen gewonnen, obgleich jedermann sagt: Es ist ein Schwindel! Und doch nennt man sonst Schwindel und Betrug, was ohne Arbeit und Mühe Gewinn schaffen soll.173

Jeder sagt, es sei ein Schwindel, und doch scheinen viele zu kaufen. Eine Analyse dieses Paradoxons interessiert Kellers Erzähler nicht. Er buchstabiert stattdessen aus, wie sich durch das spekulative Produkt eine ›wirkliche‹ Arbeit, sowohl in der Herstellung als auch in der Vermarktung, ergeben habe und wie daraus wiederum handfeste Reichtümer entstünden, die mit einem soliden bürgerlichen Außenauftritt repräsentiert würden. In allem zeigen sich diese Überlegungen allein am Begriff der Arbeit und dem damit verbundenen Arbeitsethos orientiert174: Tatsächliche Produktion sorgt für tatsächliches Vermögen, selbst wenn ihre Motive dem reinsten Hokuspokus entspringen. Für die Konsumtionssphäre bleibt dieser Exkurs zur »rätselhaften Vermischung von Arbeit und Täuschung« blind.175 Dabei hätte gerade die Revalenta-arabica-Kampagne Aufschluss darüber geboten, wie Lohn bringende Arbeit in einer modernen, medial vermittelten Wirtschaft zunehmend zur Arbeit am Kunden wird und wie, um Käuferinteressen zu stimulieren, das Imaginäre der Ware konstruiert wird.176 Die Inanspruchnahme der Zeitungen und der Einsatz von Visualität (muntere Kolonialarbeiter zieren die Anzeigen) bereiten hier den Boden für eine umfangreiche Fiktionalisierung, die das schlichte

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 39. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 39f. Rohe: Roman aus Diskursen, S.197f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 41f. Diese Verkleidung der Nutzendimension übersieht Hans Meier, wenn er nahe legt, der bloße Absatz von Gütern bzw. »Umlauf wird zum Kriterium eigentlicher Arbeit« (Hans Meier: Gottfried Kellers »Grüner Heinrich«. Betrachtungen zum Roman des poetischen Realismus, Zürich, München 1977, S.  81f.). Der Begriff ›eigentlich‹ ist hier irreführend. Denn der Exkurs zielt gerade auf einen Widerspruch zwischen der Betriebsamkeit am Markt und dem ›wahrhaftigen‹, ›eigentlichen‹ Lebenskern solcher Arbeit (wie er an Schiller entwickelt wird; siehe unten). Karolina Brock baut auf Meiers Überlegung eine Lesart auf, die den Revalenta-Exkurs dezidiert marktfreundlich auffasst und in die Nähe des Sittlichkeitsdiskurses der realistischen Ökonomie rückt, dabei jedoch die kritischen Untertöne des Exkurses ebenso abdämpft wie anschließend die Antithese zu Schillers Produktivität. Vgl. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 196–199. Bekanntlich legt Karl Marx in seiner Theorie des Warenfetischismus einen ersten umfangreicheren Entwurf zur Rolle des Imaginären in der Konsumtion vor. Dazu ausführlicher Abschnitt 4.3.1. dieser Arbeit.

Bohnenmehl zum wundersamen Heilmittel aufpeppt. Angeknüpft wird dabei an die volkstümliche Tradition der Geheimmittel, die sich mit dem kolonialen Nimbus des Abenteuerlichen und Exotischen auflädt. Die Garantie zentraleuropäischer Solidität entspringt dann den durchweg prestigeträchtigen Kundenzeugnissen (gern werden Ärzte, Offi ziere und Adlige zitiert). Gestützt wird dieser medienwirksame Auftritt, wie erwähnt, durch Knebelverträge, die Gegenanzeigen von der jeweiligen Repräsentation ausschließen. So bietet Revalenta arabica Anschauungsunterricht in Sachen modernster Reklametechnik. Dass diese Dimension, durch einen fi ktionalen Entwurf ein Warenbedürfnis zu induzieren, bei Keller ausgeblendet ist, entspringt dem zeitgenössischen Trend, Konsumtionslogik literarisch gering zu schätzen, erweist sich aber auch über die Schwelle zum 20. Jahrhundert hinaus als gängige Praxis realistischer Literatur.177 Die aufkommende Markenkultur wird von Seiten der Romanciers kaum begleitet, und ein Grund dafür dürfte gerade in der augenscheinlichen Konkurrenz dieser beiden kulturellen Praktiken liegen. Die Reklamekultur adaptiert und entwickelt ihrerseits fi ktionale Verfahrensweisen, um Dinge als Wunschobjekte an den Mann oder die Frau zu bringen. Wer daher literarisch die Primärwirklichkeit anvisieren will, ob verklärt (Poetischer Realismus), schonungslos ungefi ltert (Naturalismus) oder kalt (Neue Sachlichkeit), meidet jenen Bereich, der selbst schon eine Semiose zweiter Ordnung betreibt.178 Kellers Überlegungen umgehen die Konsumtionssphäre in explizit produktionsästhetischer Absicht. Ihre Frage gilt der Stellung des Künstlers auf dem neuzeitlichen Kunstmarkt, und diese wird stufenweise aus dem Revalenta-Diskurs heraus präpariert. Zunächst bleibt der Skopus des unhinterfragt geltenden Eingangssatzes, ›jeder weiß, dass Revalenta arabica ein Schwindel ist‹, ungeklärt, sodass das eingangs gestellte Paradoxon weiter umkreist und angereichert werden kann: Eine »rätselhafte Vermischung von Arbeit und Täuschung, innerer Hohlheit und äußerem Erfolg, Unsinn und weisem Betrug« diagnostiziert der Erzähler und erhebt in diesen Eigenschaften die Revalenta arabica zum signum temporis: »So wird aber Revalenta arabica gemacht in noch vielen Dingen«, heißt es kategorisch.179 Kellers Inanspruchnahme des Fallbeispiels zielt also auf maximale Verallgemeinerung und Metaphorisierung. Nicht beabsichtigt ist eine einfache realistische Lösungsstrategie, wie sie der Apotheker Frickhinger vorgelegt hatte. Dort wurde das problematische Marktphänomen durch konsequente Metonymisierung entzaubert, d.h. biochemisch, industriell und ökonomisch kontextualisiert, und letztlich der staatlichen Polizeiaufsicht überantwortet. Dies entsprach dem Begehren, ein durch Expertise objektiviertes sittliches Urteil (nicht jeder, sondern Kenner sagen: ›es ist Schwindel‹) mit der Eigendynamik des Marktes (viele Verblendete kaufen) zu synthetisieren.

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Seiler: Die leidigen Tatsachen, S. 291f. Vgl. Moritz Baßler: Zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten. In: Thomas Wegmann (Hg.), Markt. Literarisch, Bern et al. 2005, S. 171–181. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 41f.

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Aber eine solche einfache Metonymisierung ist das Verfahren der Alltagsprosa, des Zeitungs- und Fachwissenschaftsdiskurses. Die Literatur des Realismus demgegenüber metonymisiert nur, wo ihr die allgemeine, sinnfällige Trope bereits feststeht. Wo das nicht der Fall ist, muss die künstlerische Bildlichkeit überhaupt erst erarbeitet werden. In ebendieser entgegengesetzten Richtung entwickelt sich der Exkurs bei Keller, wenn er auf der Unvereinbarkeit von sittlicher und marktwirtschaftlicher Logik beharrt und damit die Revalenta arabica als Symbol für die paradoxe Verfassung der kapitalistischen Arbeitswirklichkeit überhaupt einrichtet.180 Diese Verdichtung des besonderen Sachverhalts aus der frühen Markenwelt zu einem ebenso abstrakten wie historisch aufgeladenen Zeichen besitzt nun auch einen Mehrwert sowohl für die intradiegetische Reflexion auf den Protagonisten Lee (dem dieser Exkurs ja, wenigstens in der zweiten Fassung, auch narrativ zugerechnet wird) als auch für die poetologische Reflexion des Romans im Ganzen. Was die Reflexion auf die Figur anbelangt, so erscheint Lees ohnehin zunehmend prekär gewordenes Bildungsprojekt im Zeichen der Revalenta arabica als historische Aporie. Eine künstlerische Tätigkeit, die sowohl ›eigentlichen‹ ästhetischen Ansprüchen genügt als auch lohnenswert ist, lässt sich vor dem Hintergrund hochspekulativer Ökonomien, wie sie die Revalenta arabica darstellt, nicht mehr realisieren. Am Markt treten Leistung und Lohn, Bildsamkeit und Bezahlung aus Sicht des Romans auseinander. Dieser marktkritische Tenor des Exkurses hat Keller von (marxistisch informierter) literaturwissenschaftlicher Seite sowohl Lob eingebracht, weil er hier die Aufspaltung des liberalen, meritokratischen Berufsethos vorführe, als auch Tadel, weil er das Problem subjektiviere und seinen Helden dem Marktverhalten gewissermaßen fatalistisch gegenüberstehen lässt, ohne die Entfremdungsbedingungen aus dem Zusammenhang privatwirtschaftlicher Eigentumsverteilung heraus zu analysieren.181 In diesem Argument stehen die Revalenta-Episode und der hierin entwickelte Marktskeptizismus in engstem Zusammenhang mit der Plotlinie, die das (individuelle oder historisch notwendige) Scheitern einer künstlerischen Ambition vorführt. Aber diese Passage dient nicht allein einem vorzeitigen Resümee für Heinrich Lees im Ansatz stecken gebliebene Malerkarriere. Unter der Hand wird auch die, in diesem Roman ja stets nur implizit verhandelte, Position des Schreibenden reflektiert. ›So wird aber Revalenta arabica gemacht in noch vielen Dingen‹ – mit dieser Metapher verabschiedet sich der Text in den Bereich schriftstellerischen Schaffens. Friedrich Schiller wird als Antithese zur Scharlatanerie des Marktes aufgerufen, denn er

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Mit kritischerem Zungenschlag diagonostiziert Gerhard Kaiser, »Heinrich – und Keller« würden in dieser Episode das »Undurchschaut-Undurchschaubare im Kern des florierenden Kapitalismus« reproduzieren. Kaiser: Gottfried Keller, S. 221. Vgl. Muschg: Gottfried Keller, S.  104f.; Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, S. 111f.; Selbmann: Gottfried Keller, S. 143. Die Tendenz zur Individualisierung und Psychologisierung der Marktproblematik ist neuerdings noch einmal im Lichte der Ökonomie des ›Selbstinteresses‹ beleuchtet worden von Breithaupt: Der reine und der unreine Markt.

gibt ein »Beispiel wirkungsreicher Arbeit, die zugleich ein wahres und vernünftiges Leben ist«.182 Allein subjektiven Erwägungen verpflichtet, habe dieser Dichter folgerichtig ein Werk von dauerhaftem, nationalem Gehalt hergestellt. Die profitable Schiller-Vermarktung, die nach dessen Tod einsetzt, erscheint demgegenüber lediglich als »rohe Schale eines süßen Kernes«.183 Dabei ist auch Schillers Wirken von der besagten Leistungsdifferenz gekennzeichnet, denn »nach seinem Tode erst, kann man sagen, begann sein ehrliches, klares und wahres Arbeitsleben seine Wirkung und seine Erwerbsfähigkeit zu äußern«.184 Schon der Klassiker steht also, anders als von der realidealistischen Programmatik so oft beschworen, nicht in verklärter Einheit des Berufs da, sondern als Vorläufer jener Aufspaltung von Produktivität und Markterfolg, die auch Kellers Protagonisten umtreibt.185 In dieser Wendung gerät der Markt vollends zum undurchsichtigen Kontingenzsektor: Ob fauler Bluff (Revalenta arabica) oder redlicher Dienst am Ideal (Schiller) – alles kann monetär wirksam werden. Doch verrät die Antithese noch mehr. Gerade die Erfolglosigkeit Schillers zu Lebzeiten wird zum Ausweis seiner ›eigentlichen‹ und wahrhaften Arbeit. Ihr gegenüber erscheint die Markttätigkeit, in welche Richtung ihr Pendel auch immer schlägt, als akzidentiell. Im Namen Schillers wird so die stets ›eigentliche‹ Literatur vom Markt und seinen Publikumsansprüchen abgesondert (eine, wie bei Robert Prutz diskutiert186, konventionelle, aber nicht unstrittige Trennung). Um diese Eigentlichkeitsgrenze zu wahren, ist hier aber ein spezifischer Lebensentwurf für die Produktionssphäre vorausgesetzt. Schillers Leben, so heißt es, wurde nichts anderes als die Erfüllung seines innersten Wesens, die folgerechte kristallinische Arbeit des Idealen, das in ihm und seiner Zeit lag. Und dieses einfach fleißige Dasein verschaffte ihm endlich alles, was seinem persönlichen Wesen genügte. Denn da er mit Respekt zu melden ein gelehrter Stubensitzer war, so lag es eben nicht in ihm, ein reicher und glänzender Weltmann zu sein.187

Als Stubenhocker abseits des Weltenglanzes wird Schiller hier zum Inbegriff des entsagenden Dichters stilisiert. Und ebendiese Entsagung garantiert allein eine ›wahrhafte‹ Produktivität, die sich stoisch von den Zufälligkeiten der Marktbewegung un-

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 42. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 43. Diese Pointe des Schiller-Beispiels übergeht Brock, wenn sie argumentiert, der Erfolg des Schiller’schen Werkes werde hier als höhere, weil sittliche Form ökonomischer Produktivität vorgeführt. Vgl. Brock: Kunst der Ökonomie, S.  199. Tatsächlich wird Schillers Sittlichkeit, wie geschildert, in einer marktfernen, idealistischen Einrichtung seines ›Lebens‹ situiert, während die anschließende nationale Markttätigkeit als äußerlich, eben als ›rohe Schale‹, herabgesetzt ist. In diesem Sinne scheint mir die Passage in ihren erwähnten Paradoxien eher die Divergenz von ›wahrhaftiger‹ Kunst und ökonomischer Betriebsamkeit zu akzentuieren. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 42. Vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 213. Vgl. Abschnitt 1.1.1. dieser Arbeit. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 42.

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abhängig weiß. Wo der Bezug auf äußere Publikumsbedürfnisse wegfällt, wird die persönliche Tätigkeit allein als ›Arbeit des Idealen‹ bestimmt. Das entsagungsreiche ›wahre‹ Schaffen erblüht in dem Maße, in dem die individuellen Verwertungsinteressen schrumpfen. Zur Stützung dieser Pointe ruft Kellers Erzähler, seinen Exkurs beendend, noch Spinoza auf, »der optische Gläser schleift« und darin ein Leben ähnlich demjenigen Schillers bezeugt: »[V]on gleicher Ehrlichkeit und Friedensfülle, das ist, wenn einer täglich ein bescheidenes dunkles Werk verrichtet«.188 Im Dunklen optische Gläser zu schleifen – in dieser Paradoxie schafft sich der Roman die Allegorie seines eigenen poetischen Programms. Während im Grünen Heinrich auf der Oberfläche sichtbar das Scheitern eines bildenden Künstlers verhandelt wird, gelingt im Verborgenen, nämlich im narrativen Vollzug, tatsächlich die Künstlerwerdung des Schriftstellers. Und sie gelingt in der Neufassung des Romans, wie bereits oben erläutert, eben um den Preis der Entsagung: Lee kündigt ebenso seine Laufbahn als Maler wie das Ideal einer dauerhaften Partnerschaft auf (im letzten Zusammentreffen mit Judith). Und er verabschiedet sich vom Marktgeschehen, indem er als Beamter in den Staatsdienst tritt. Diese dreifache Entsagung immunisiert gegen die äußeren Kontingenzen. Und sie markiert gleichzeitig den konstitutiven Ausgangspunkt jenes Erzählens, das die Jugendgeschichte Heinrich Lees mit der Geschichte seines weiteren Werdegangs in der Residenzstadt zum Grünen Heinrich zusammenfügt. Dieser geschriebene Text, wo er überhaupt explizit angesprochen wird, hat keinen erklärten Adressaten, wiewohl er unter Personen in Heinrichs Nahbereich kursiert: Dortchen Schönfund und Judith lesen die Jugendgeschichte. Publikationserwartungen verbinden sich mit diesem Schreiben nicht. Die Kompilation der Einzeltexte genügt vielmehr einem Selbstzweck, »noch einmal die alten, grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln«.189 So lautet die Schlusssentenz. Der Erzähler des Grünen Heinrich steht damit letzten Endes dort, wo er Schiller und Spinoza beispielhaft erblickt hatte: in einer stillen, unbeleuchteten Ecke abseits des Marktes, mit einem ›eigentlichen‹ Werk – aus sich heraus und für sich selbst geschaffen –, dessen höchster Gütenachweis darin liegt, dass es sich von allen äußeren Zwecksetzungen frei gemacht hat. Sinnfälligerweise bemüht Keller in seinem gründerzeitkritischen Spätwerk Martin Salander noch einmal seine Schiller-Allegorie, um sich dem Schrecken hochkapitalistischer Finanzökonomie zu widmen. Martin Salander, durch eine missbrauchte Bürgschaft früh um sein Kapital gebracht, erinnert sich eingangs an seinen unseligen Schuldner Louis Wohlwend und die Ereignisse, die zu dem Bankrott führten. Einzelheiten über Wohlwends Spekulation sind nicht zu erfahren, wohl aber wird

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd.  4 (HKKA, Bd.  3), S.  43. Die Aufwertung dieser Entsagung Spinozas erfolgt erst in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich. Die Erstausgabe behandelt sie als Ausnahmeerscheinung und »Spaltung des Wesens eines Menschen«. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. 1854/1855. Dritter und vierter Band. In: HKKA, Bd. 12, Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2005, hier: Bd. 4, S. 274. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 281.

der Abend szenisch ausgemalt, der zum Abschluss der Bürgschaft führte: Wohlwend produzierte sich in einem Gesangsverein mit Schillers Ballade Die Bürgschaft und er »trug es mit einer gewissen Erregung und Ueberzeugung, mit halb zitternder Stimme vor, aber mit durchgehend so verflucht falscher Betonung, daß die Wirkung mehr verdrießlich als lächerlich war«.190 Das ästhetische Defizit des Vortrags verbürgt hier schon die Schurkenrolle. So wie Schiller im Grünen Heinrich zum Inbegriff verklärungswürdiger Marktfremdheit wird, so signalisiert sein performativer Missbrauch durch den Spekulanten Wohlwend die Wirren des Ökonomischen. Je unreiner der Schiller, desto präsenter der unreine Markt. Hätte Martin Salander dieses Keller’sche Koordinatensystem gekannt, er wäre dem Balladenverderber und Bankrotteur Wohlwend nicht auf den Leim gegangen. 3.2.3.

Neutralität der Vermittlung und die Tücken der Konkurrenz – Preiskampf bei Gustav Freytag

Kellers Marktskepsis, die sich ebenso im subsistenzwirtschaftlichen Finale der Mißbrauchten Liebesbriefe niederschlägt wie in seiner Poetologie der Entsagung im Grünen Heinrich, fügt sich in den generellen Trend der Bedürfnisdämpfung in literarisch realistischen Texten. Das Wachstum der Güternachfrage, insbesondere was neue Qualitäten anbelangt, wird ausgeblendet. Stabile Konsumtionserwartungen, wie bei Freytag mit dem alljährlich eintreffenden Weihnachtspäckchen angezeigt, grundieren die literarische Schilderung regelmäßiger Güterdistribution. Das verleiht der realistischen Warenpoetik einen statischen Charakter. Letztlich ist auch die Weltmarktphantasie in Soll und Haben eine ins Globale projizierte Kompensationsvorstellung, die zwischen dem Bohnenpflücken in Brasilien und der morgendlichen Tasse Kaffee in Schlesien ein genaues Deckungsverhältnis ansetzt. Produkte werden gehandelt, weil sie bereits erwartet werden. Dass die Produktion in Zeiten der Massenindustrien den individuellen Bedürfnissen vorausläuft, wird in dieser literarischen Anschauung verkannt. Das literarische Begehren nach stabilen und transparenten Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten wirft dementsprechend eine reduzierte Ansicht des Marktgeschehens ab. Im Grünen Heinrich gilt es dem Protagonisten bereits früh als Eklat, den Darsteller des Tells im Fastnachtsspiel beim anschließenden Tischgespräch als einen gestrengen Ökonomen zu erleben, der im ureigensten Geschäftsinteresse den Neubau einer Dorfstraße fernab seines Wirtshauses zu verhindern versucht. Mit dem verbalen Konkurrenzkampf zwischen Wirt und Holzhändler zerfällt das Bild vom »unparteiischen Wesen des Staates«, für das die Hauptfigur der Tell-Festivitäten in »bedeutungsvollem Gewande« bürgen soll.191 Und auch der

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Gottfried Keller: Martin Salander. In: HKKA, Bd. 8, Basel, Frankfurt a.M., Zürich 2004, S. 20. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 382.

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besänftigende Rat des hinzutretenden Statthalters an Heinrich, er möge in dieser Szene den liberalen Widerstreit der Eigeninteressen als vitalen Grund für echte Nächstenliebe und also für das Wachstum des Gemeinwesens würdigen, mildert Heinrichs Geringschätzung für die ›engherzigen‹ Rivalen nicht.192 Vielmehr fällt seine Anerkennung zunehmend dem Statthalter selbst zu, der hier implizit bereits den entsagenden Weg des Protagonisten über den Romanschluss hinaus, sprich ins Beamtentum, vorzeichnet: »Ich empfand eine große Teilnahme für den Statthalter und ehrte ihn, ohne mir darüber Rechenschaft geben zu können; denn ich mißbilligte höchlich seine Scheu vor der Armut, und erst später wurde es mir klar, daß er das Schwerste gelöst habe: eine gezwungene Stellung ganz so auszufüllen, als ob er dazu allein gemacht wäre, ohne mürrisch oder gar gemein zu werden.«193 Zwischen dieser Missbilligung der ›Scheu vor der Armut‹ und der späteren Achtung für den eigentümlich schalen Heroismus der Entsagung (›das Schwerste gelöst zu haben‹) liegen Heinrichs eigene Niederlage am Kunstmarkt und seine daraus resultierende Verarmung und Verschuldung. Die Szene antizipiert in der Figur des Statthalters also jenen Ausstieg aus dem Marktgeschehen, den der Protagonist letztlich vollziehen wird und von dem aus er das Tischgespräch und die unparteiische Stellung des Beamten darin retrospektiv wertschätzen kann.194 Mit seiner Marktskepsis steht Keller allerdings nicht allein in der Riege realistischer Literaten. Ein tiefes Unbehagen gegenüber basalen marktwirtschaftlichen Annahmen kennzeichnet auch die wesentlich wirtschaftsaffiner auftretende Darstellung in Soll und Haben. Gerade in seinen Nebenfiguren entwickelt der Roman eine Ordnungsvorstellung, die sich oberhalb des Leistungsprinzips freier Konkurrenz ansiedelt. »Ich begehe ein Unrecht gegen Sie«, bekennt der Kontorist Baumann, als er an Antons statt und lediglich auf Drängen des Prinzipals hin die Stelle des Prokuristen Jordan antritt.195 Und alle folgenden Auftritte Baumanns bekunden dann seine beständige Hoffnung, diesen Platz bald wieder für Anton freiräumen zu können. Schlussendlich darf er sich denn auch dem zurückkehrenden Helden empfehlen und

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Uwe Seja hat in mikroökonomischer Perspektive die Liberalismusdiskussion in dieser Szene (auch kontextuell über Schriften Roschers und Hildebrands fundiert) nachgezeichnet, aber den ordnungspolitischen Implikationen und der Haltung des Protagonisten des Romans dabei weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist Seja unumwunden zuzustimmen, dass hier zentrale liberale Werte wie »negotiation and exchange« getestet werden, und zwar mit klarem Akzent gegen die »policy of laisser-faire commercialism«. Aber die wirtschaftsoptimistische Deutung, »Keller’s liberal realism presents a viable and thoughtprovoking alternative to the widespread catastrophic account of the rise of industry and capitalism«, wäre gerade vor dem Hintergrund des ordnungspolitisch zunehmend skeptischen Spätwerkes und überhaupt der politischen Selbstreflexionen des ökonomischen und literarischen Realismus zu relativieren. Vgl. Seja: »Seldwyla« – A Microeconomic Inquiry, S. 115f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 389. Vgl. ausführlicher zu dieser Beamten-Szene Abschnitt 5.2.4. dieser Arbeit. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 243.

schnurstracks als Missionar und Kolonist nach Afrika aufbrechen.196 In der stillen Ordnung des Kontors sind innerbetriebliche Konkurrenz und Karriereorientierung nicht vorgesehen. Aber auch nach außen hin ist alles auf größtmögliche Reibungslosigkeit angelegt. Als sich der Disponent Pix aufmacht, gemeinsam mit seinem etwas lakaienhaften Kompagnon Specht ein Geschäft zu übernehmen, in das er just eingeheiratet hat, verlegt er sich ganz ausdrücklich auf ein ›Detailgeschäft‹, das mit den Interessen des Kontors Schröter nicht konfligiert: Ich kenne das ganze Provinzialgeschäft besser, wie der Prinzipal, und alle kleinen Kunden kennen mich besser, als den Prinzipal. Ich hätte diesem Geschäft geschadet, obgleich meine Mittel kleiner sind; ich hätte leicht gute Geschäfte machen können, aber dies Haus hätte den Schaden gehabt. So muß ich etwas Anderes ergreifen.197

Wo, gewissermaßen in einer rhetorischen Übersprungshandlung, gleich doppelt ein ›Schaden‹ für das Haus Schröters befürchtet wird, da darf jede wirtschaft liche Logik getrost auf der Strecke bleiben. Ganz gleich, ob für Pix aus Kenntnis seiner bisherigen Tätigkeit heraus ›leicht gute Geschäfte‹ zu machen wären, und ganz gleich, ob der Handel mit Hasenfellen und Schweinsborsten für ihn ein geringeres Ansehen verspricht als der Kolonialwarenvertrieb – die Konkurrenz als genuines Marktprinzip muss ausgesetzt werden, wenn der Kaufmannsroman auf die Schließung und Bestätigung der tradierten Ordnung zusteuern soll. In der Auflösung des Plots ist alles auf Harmonisierung und Stabilisierung der Verhältnisse angelegt. Ebendeshalb wird Soll und Haben auch nicht zum Gründerroman. Als der getreue Arbeitersohn Karl Sturm seinem Freund Anton anträgt, das gesparte Kapital seines Vaters zu einer gemeinsamen Geschäftseröffnung zu verwenden, schlägt Anton dieses Angebot mit dem Verweis auf das Risiko, das ein solcher Einstieg in eine eigenständige Unternehmertätigkeit bedeuten würde, aus.198 Letztlich sind das Dasein des Angestellten und die Einordnung in eine immer schon vorausgesetzte Organisation der Verhältnisse erstrebenswerter als der selbstbewusste Einstieg in den Markt und eine daraus resultierende Veränderung der Marktverhältnisse. Diesem Ordnungsdenken entsprechend zeigen sich auch die tatsächlichen Marktbeschreibungen im Roman vom wirtschaftlichen Maximierungsdenken bereinigt. Vor den Aufstand in Rosmin schaltet der Erzähler eine ausgiebige, dezidiert traditionalistische Ansicht des dortigen Wochenmarktes.199 Lange Aufzählungen mannigfaltiger Waren paaren sich mit einem generellen Lob des behaglichen unmittelbaren Tauschverkehrs zu einem provinziellen Genrebild aus dem Geiste mittelalterlichen Stadttreibens. Mit fokalen Annäherungen geizt der Erzähler. Kurz streift er ein »Bäuerlein«, das zum Zwecke des Werkzeugeinkaufs »wohl fünf Minuten«

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 276. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 279. Die aus heutiger Sicht irreführenden Kommata im ersten Satz sind in späteren Ausgaben getilgt. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 200. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 388–394.

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das »gestählte Blatt der Säge hin und her« biegt.200 Nicht der Geldbeutel entscheidet in dieser Darstellung über den Einkauf, sondern die Produktqualität. Die Warenprobe ersetzt die Preisreflexion. Geld kommt erst zur Sprache, als sich der Erzähler bemüht, die Szene repräsentativ einzurichten: »Der Genuß des Kaufens wird hier viel stärker empfunden, als da, wo Tausende mit einem Wort weggegeben werden«.201 Das geldwirtschaft lich Große und Moderne (›Tausende mit einem Wort‹) sucht dabei qua Vergleich (Stichwort: ›viel stärker‹) einen Rückbezug auf das Handgreifl iche des alten Marktlebens. Denn das direkte, anschauliche Tauscherlebnis versteht sich als der Kernbereich wirtschaft licher Aktion, auf den sich alle komplexeren, vermittelten Operationen, etwa Kredit- oder Termingeschäfte, zurückbeziehen lassen müssen. Eben das war die Lektion, die Traugott Schröter seinem Zögling Anton im polnischen Aufstand beibrachte, indem er durch direkte, personale Intervention den einfachen Warenverkehr restituierte. Nicht etwa der monetäre Mehrwert, sondern die handfeste Maxime, dass die Ware an den Mann gebracht werden muss, bestimmt hier das wirtschaft liche Ethos. Märkte erscheinen dabei als neutrales Instrument der Güterverteilung. Ihre Solidität erweisen sie in dem Maße, in dem sie unsichtbar bleiben. Das Ideal des unsichtbaren Marktes ist in Soll und Haben bereits in einer frühen Szene beim Wareneinkauf auf dem Kontor ausgearbeitet, die jene Tätigkeit darstellt, die Anton am Ende seines innerbetrieblichen Ausbildungsweges an Finks Stelle aufnehmen wird.202 Zunächst trifft man hier auf alle Ingredienzien, die auch den Rosminer Wochenmarkt so behaglich machen: die Güterfülle, das Eintreffen der Händler und Agenten aus fremden Provinzen, den gemütlichen Austausch von Neuigkeiten und Geschichten ›aus der weiten Welt‹. Dann aber widmet sich der Roman eingehender einem einzelnen Warengeschäft, das der Einkäufer Fink mit dem jüdischen Händler Tinkeles abwickelt. Grundlage der Szene bildet hier – ebenso wie in Hackländers WiegkammerEpisode – das vergleichsweise primitive Modell des ›isolierten Tauschs‹. Im isolierten Tausch stehen sich zwei Geschäft spartner ohne Einfluss Dritter, also ohne den Faktor ›Konkurrenz‹, in ihren Kauf- bzw. Verkaufserwägungen gegenüber. Ausschlaggebend für den Geschäft sabschluss ist dabei allein die unmittelbare Gütereinschätzung, die Käufer und Verkäufer gemäß ihrer jeweiligen Sachlage vornehmen. Halten beide die angebotene Ware für (subjektiv) wertvoller als die abgegebene – im Regelfall, weil man bereits über hohe Quantitäten der jeweils abzugebenden Ware verfügt –, kommt es zum Tausch. Ausgehandelt wird dabei ein Preis, der sich idealerweise in der Mitte zwischen den beiden Grenzwerten der unmittelbaren Güterwertschätzung bewegt, also zwischen dem Minimalertrag, für

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 394f. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 392. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 69–75.

den der Verkäufer sein Produkt abgibt, und dem Maximalwert, für den der Interessent noch einzukaufen bereit ist.203 In Freytags Preiskampf-Szene zwischen dem Kontoristen Fink und dem jüdischen Händler Schmeie Tinkeles wird diese Logik zunächst auf ihre äußere Erscheinungsform reduziert. »41 2/3« je Zentner ist die erste Preisforderung von Tinkeles für seine 120 Zentner Wolle. »39« bietet Fink. Nach einigem Hin und Her einigt man sich auf »39 1/2«.204 Fragen nach dem Kalkül der beiden Parteien spielen dabei keine Rolle. Welche Absatzchancen das Kontor Schröter mit der Wolle hat, welcher Einkaufspreis den Erwägungen Tinkeles’ zugrunde liegt – das alles bleibt aus dieser reduzierten Ansicht eines isolierten Tauschgeschäfts ausgeschieden. Stattdessen wird der Handel mit dem Juden slapstickgerecht eingerichtet. Bei »seiner Seele Seeligkeit« schwört Tinkeles theatralisch, er könne unter keinen Umständen einen Preis unter 41 akzeptieren.205 Wiederholt verlässt er das Kontor und kehrt auf der Stelle zurück. Und als der Handel endlich abgeschlossen ist – deutlich unter seinen anfänglichen Forderungen –, erweist sich Tinkeles umgehend als »liebenswürdiger Freund der Handlung«.206 Nicht der Einblick in eine wirtschaftliche Rationalität wird in dieser Darstellung also bezweckt, sondern die Karikatur eines jovialen Feilschers, der sich in letzter Instanz bestens gelaunt dem Preisgebot des Kontors unterwirft . Fink, der demgegenüber stabil und souverän am Schreibtisch hocken bleibt, signalisiert mit seinem nur einmalig korrigierten Preisgebot dreierlei: die Angemessenheit und Gerechtigkeit des ursprünglichen Angebots von 39 Mark je Zentner Wolle, die Macht des Kontors, dieses Gebot durchzusetzen, und die Gnade, einem offenkundig unterlegenen Geschäftspartner durch die Zulage von einer halben Mark je Zentner eine Genugtuung zu verschaffen. Alle drei Aspekte sind dem nationalökonomischen Denken nicht fremd. Gerade von realistischen Ökonomen wird der Faktor ›Macht‹ im Marktgeschehen immer wieder in die Überlegungen einbezogen, wenn es um die Mechanik der Preisbildung geht. Kapitalstarke Akteure, heißt es übereinstimmend bei Schmoller und Roscher, könnten durch eine beliebige Verzögerung des Tauschs den Preis zuungunsten schwächerer Marktteilnehmer beeinflussen.207 Ebendiese objektive Ungleichheit der Marktchancen führt die Ökonomen in ihrem Ausgleichsdenken zu sittlichen Erwägungen, wobei der stärker liberal gestimmte Roscher auf

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Zur Systematik des isolierten Tauschs vgl. Menger: Grundsätze, S. 175–179. Teile dieses Erklärungsansatzes werden auch in Schmollers Lehrbuch aufgenommen, allerdings nicht zur abstrakten Systematik verallgemeinert, sondern als ein Faktor den kulturellen, sittlichen Komponenten der Preisbildung nebengeordnet. Vgl. Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Zweiter Teil [1904], 5. Aufl., München, Leipzig 1923, S. 112f. u. S. 119–121. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 73–75. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 73. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 75. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §101, S. 261 u. § 115, S. 293; Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 120f.

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die Kultivierung der Akteure selbst baut (im Horizont der sich allgemein verfeinernden ›Volkssitte‹ bei blühenden Völkern), Schmoller hingegen den ungleichen Preiskampf durch gesetzgeberische Interventionen gemildert sehen will.208 Freytag schlägt sich mit seiner Darstellung der liberalen Interpretation zu. Er zeigt einen freien, durch die Teilnehmer selbst regulierten Tauschhandel, wobei die sittliche Ermöglichung des Handels im Sinne des realistisch-ökonomischen Diskurses akzentuiert wird. Die stabile Preisvorstellung, die Fink in seinem Wollankauf von Anbeginn präsentiert und durch die Drohung, das Geschäft nicht zu tätigen (d.h. Tinkeles rauswerfen zu lassen), nachdrücklich unterstreicht, trifft anscheinend den ›angemessenen Preis‹, weshalb sich Tinkeles schließlich bestens gelaunt mit dem Gebot abfinden kann. Das Spektakel des Feilschens, das Tinkeles veranstaltet, erscheint demgegenüber als überflüssige und zähe Prozedur. Und das nicht von ungefähr: Denn Regelmäßigkeit und Stabilität der Preise gelten einem realistischen Volkswirt als Indikator nationalökonomischer Reife. »Offenbar«, schreibt Wilhelm Roscher, »trifft man mit fi xen Preisen die wahre, angemessene Preishöhe viel sicherer, als in der Hitze des Feilschens, welches überdies viel kostbare Zeit vergeudet«.209 In der kultivierten Marktwirtschaft verbinde sich »sittliche Bildung« mit »recht verstandenem Interesse« zur »nationalen Ehrlichkeit« im Preisverkehr, die eben im Verschwinden von Preisverhandlungen zugunsten regelmäßiger Preisstrukturen abzulesen sei.210 Im Sinne dieser Kultivierungsthese wird bei Freytag die Preisverhandlung mit Tinkeles mehr oder weniger als Störfall präsentiert. Während im Hintergrund der Szene eine Reihe deutscher Handelsagenten (Braun, Baumann, Stephan) ihre Waren ohne viel Aufhebens abgeben und statt Preisfragen lieber Anekdoten und Lageberichte aus den auswärtigen Handelsstädten auftischen, erscheint Tinkeles in seinem Beharren auf unmittelbarer Preisbildung als unkultivierter Abweichler. Alle anderen verfügen bereits über die realistisch behagliche Routine einer regelmäßigen, versachlichten Geschäftsabwicklung. Wertreflexionen kommen für sie nur im Ausnahmefall und allein durch objektive Umstände motiviert vor: »›Dieser Sturm war ein seltenes Unglück, der Kaffee muss steigen‹«, bemerkt Braun am Rande.211 Ansonsten schweigt man nobel über die eigentliche Transaktion, weil sie im Kontor längst institutionell stabilisiert ist. Im Dienste dieser Pointe spielt denn Fink auch seine Macht gegenüber Tinkeles nicht monetär aus, indem er etwa den Preis erheblich drückt, sondern zielt vielmehr auf ›sittliche‹ Disziplinierung. Mehrfach und streng wird der Jude auf die Verhaltensnormen im Kontor aufmerksam gemacht, gebietet ihm Fink, seinen »Lärm« zu unterlassen und »anständig« zu fordern.212 Um dieser

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Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S.  121: »Die Machtungleichheit […] nötigt Gesellschaft und Staat immer wieder zu Marktordnungen und Konkurrenzregulierungen und zu anderen Eingriffen.« Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 115, S. 293. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 115, S. 293. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 74. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 73.

Disziplinierung ein humanes Antlitz zu geben, kommt Fink seinem Gegenüber um eine halbe Mark pro Zentner entgegen, womit qua Analogie an die Eröffnung der Szene angeschlossen wird, in der eine alte Frau eine wohltätige Geldzuwendung vom Kontoristen Specht empfängt. Armenpflege adelt das mächtige Haus und beseitigt die Dissonanzen, die durch die Geldfragen entstehen: »Man hörte klägliche Töne, welche mit dem Gepiep eines kranken Huhns Ähnlichkeit hatten; der Kaufmann griff schnell in die Tasche, und das Piepen verwandelte sich in behagliches Glucksen.«213 Ums Geld kümmern sich hier letztlich allein die kläglichen Lärmmacher; beim guten Durchschnitt der Kaufleute regiert die Behaglichkeit des Warentauschs im Zeichen fester, objektivierter Preise. Ist diese Behaglichkeit selbst ein Ausdruck einer ›Versachlichung‹ des Tauschaktes, wie er nach Werner Sombart den modernen Kapitalismus charakterisiert? ›Versachlichung‹ setzt eine feste institutionelle Organisation voraus, durch die von der spezifischen Qualität des individuellen Handelns abstrahiert werden kann. Statt der »persönlichen Verständigung zwischen Käufer und Verkäufer« regiert demnach im modernen Wirtschaftsleben »ein sich nach bestimmten festen Normen abspielender automatischer Vorgang«.214 Mit dieser Institutionalisierung korreliert die bei Roscher historisch beobachtete Stabilisierung der Preise. Markiert also, vor diesem Hintergrund gelesen, Freytags Szene die Verabschiedung individueller, aktiver Handlungsentscheidungen zugunsten objektivierter Handlungsnormen? Wird hier das anachronistische Feilschen, wie es Tinkeles ausübt, abgewählt zugunsten der modernen, versachlichten Transaktionen, die sich in der Hintergrundkulisse manifestieren, in der Parade der saturierten deutschen Handlungsreisenden? Nein. Dem Roman kommt es gerade auf die Geltung der Personen in der Transaktion an. Nicht von ungefähr kehrt der Jude Tinkeles motivisch wieder, um die ›Sittlichkeit‹ (Anton, Schröter) und ›Unsittlichkeit‹ (Tinkeles) ökonomischer Handlungen kontrastiv zu markieren (man denke hier an die Beteiligung von Tinkeles an der räuberischen Aneignung der Schröter’schen Waren im Polen-Aufstand). Eine ›Versachlichung‹ gilt dem Roman nur insofern als funktional, insofern sie individuell gedeckt ist und bei Bedarf in die ›persönliche Verständigung‹ zwischen Partnern aufgelöst werden kann. In diesem Sinne wird etwa das Wort »Credit« zwischen Traugott Schröter und Anton gebraucht: als Vertrauensvorschuss, den man durch Leistung und Taten zurückzahlt.215 Ein unpersönliches Schuldverhältnis ist hierin nicht angedacht.

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 71. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 62. Vgl. zur »Rationalisierung der Preisbildung« auch Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart [1902], Bd.  2,1 (Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert), 2. Aufl., München, Leipzig 1917, S. 197–201. Den ersten »Credit« verschafft die briefliche Fürsprache von Antons Vater gegenüber Schröter, noch ehe der Kredit (die Glaubwürdigkeit) Antons als Kaufmann in den Tanz-

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Eine Stufe abstrakter angeschaut zeigt sich die Marktbetrachtung bei Freytag gerade nicht auf das gerichtet, was die moderne Wirtschaft konstituiert: auf den Gebrauch objektivierender Medien. Geld, Kredit- und Wertpapiere, diese Mittel des kapitalistischen Güterverkehrs fallen in diesem Roman unter Generalverdacht. »Ihr wißt, ich mache keine Geldgeschäfte«, gibt Anton Wohlfart nach dem Polen-Eklat dem Händler Tinkeles dogmatisch zu verstehen.216 Später, im Zuge seiner kriminalistischen Nachforschungen zum Verbleib der Rothsattel’schen Hypotheken, attackiert er den mittlerweile mehrfach Diskreditierten weiter: Ich will nichts Unrechtes von Euch, nichts, was ein ehrlicher Mann einem andern verweigern dürfte; ich könnte vielleicht Eure gerichtliche Vernehmung durchsetzen und ohne Kosten zu sicheren Geständnissen kommen; ich weiß aber von früher, welchen Widerwillen Ihr gegen das Gericht habt, und deshalb biete ich Euch das Geld. Verstündet Ihr eine andere Sprache, so würdet Ihr mir sagen, was Ihr wißt, wenn ich Euch erzähle, daß eine Familie unglücklich geworden ist dadurch, daß Ihr mir früher nicht Alles gesagt habt. Diese Sprache aber würde bei Euch nichts nützen. 217

Wenn die Sprache auf das kommen soll, was ›ein ehrlicher Mann einem anderen‹ kaum verweigern dürfte, dann regieren Moralbegriffe, zeigt sich das Handeln durch Mitgefühl und Beschämung (›dass eine Familie unglücklich geworden ist‹) motiviert. Nur im Zwielicht ›jüdischer Unehrenhaftigkeit‹ kommt es demgegenüber zu einem an sich verächtlichen Ankauf von Informationen, wie ihn Anton hier beabsichtigt. Entweder-Oder lautet die Formel des Romans. Entweder Moralität oder Zahlen. Entweder ehrbar deutsch oder unsolide jüdisch. ›Die Sprache des Geldes‹ ist hier immer die Sprache der Anderen. 3.2.4. Medienskepsis Das Geschäft war ein Waarengeschäft , wie sie jetzt immer seltener werden, jetzt, wo Eisenbahnen und Telegraphen See und Inland verbinden, wo jeder Kaufmann aus den Seestädten durch seine Agenten die Waaren tief im Lande verkaufen läßt, fast bevor sie im Hafen angelegt sind, so selten, daß unsere Nachkommen diese Art des Handels kaum weniger fremdartig fi nden werden, wie wir den Marktverkehr zu Timbuktu oder in einem Kaffernkral.218

In dieser notorischen Passage, mit der das Schröter’sche Kontor selbst als anachronistisches Wirtschaftsunternehmen ausgegeben wird, verlegt sich Soll und Haben von Anbeginn an auf eine medienskeptische Perspektive. Telegraphen, Leitmedium des

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stundenepisoden durch ein Gerücht Finks auf dem Spiel steht. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 196 u. S. 264–285. Auch die Polen-Episode dient, wie gesehen, der Wiederherstellung von ›versachlichten‹ Termingeschäftsbeziehungen durch personale Intervention. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 100. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 235. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 69.

modernen Börsenverkehrs219, sind dieser Welt noch fremd.220 Es regiert, wie in den vorherigen Abschnitten betrachtet, die Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit des persönlichen Verkehrs, die todesmutige Risikobereitschaft des Unternehmers in schlechten Zeiten oder die »bunte Procession von allerlei Volk« im Dienste des weltumspannenden Warenverkehrs in guten Zeiten.221 Diese Personalisierung ist einerseits den literarischen Anforderungen eines Emplotments geschuldet, das auf dem aktiven Handeln der Helden und ihrer Gegenspieler beruht.222 Die narrative Szene verdankt sich darin dem Bestreben der Figuren, direkten, unvermittelten Einfluss auf ihre Umwelt zu nehmen. Entsprechend ersetzt, wie in der Polen-Episode durch Traugott Schröter und Anton vorgeführt, die tätige Bewährung am Objekt den (vermeintlichen) Automatismus des Termingeschäfts.223 Nicht ein ›versachlichter‹ Warenhandel, sondern die kühne Tat in brenzliger Situation wirkt hier literarisch. Andererseits aber, und darin zeigt sich dieses individualistische Erzählprogramm denn extraliterarisch verankert, greift die Tendenz zur Personalisierung wirtschaftlicher Abläufe über die epische Theorie und Praxis hinaus bis in das ökonomische Denken der Zeit. »Ausgangspunkt, wie Zielpunkt unserer Wissenschaft ist der Mensch«, lässt Wilhelm Roscher sein volkswirtschaftliches Lehrbuch beginnen, um dann die wirtschaftlichen Mittel der Güterbeschaff ung und (ergo) Bedürfnisbefriedigung näher zu analysieren.224 In dieser um Plastizität bemühten Wirtschaftsbeschreibung225 geht es um handelnde Subjekte, gleich, ob sie individuell oder kollektiv aufgefasst sind. Von spezifischen Vermittlungsformen dieses Handlungszusammenhangs im Medium des Geldes sehen die Ökonomen der Historischen Schule der Nationalökonomie zunächst ab. Noch bevor Gustav Schmoller in seinem Lehrbuch eines der klassischen ökonomischen Themen wie ›Güterdefinition‹, ›Werttheorie‹ oder ›Angebot-Nachfrage-Mechanismus‹ überhaupt streift , widmet er sich den »psychophysischen Mitteln der Verständigung: Sprache und Schrift«.226 Denn Sprache und Schrift garantieren qualitatives Denken. Sie erscheinen »als die Bindemittel der Gesellschaft«227 und sind daher die bevorzugten Medien des auf Konkretisierung angelegten Vorgehens der historistischen Ökonomen. Nur in der Versprachlichung entstehen realistische Erzählungen und Deskriptionen, die das Wirtschaftsleben als

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Vgl. Stäheli: Spektakuläre Spekulation, S. 305–320. An dieser Stelle irrt Nils Werber, wenn er interpretiert, dass die Romanhandlung in einer Welt angesiedelt ist, die durch moderne Medien geschrumpft ist. Vgl. Werber: Geopolitiken der Literatur, S. 464. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 70. Zu diesen personalen Prämissen des Emplotments im Realismus vgl. Abschnitt 2.3.1. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 3.2.1.2. dieser Arbeit. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §1, S. 1. Vgl. dazu die Ausführungen zur metonymischen Konstruktion des nationalökonomischen Textes in Abschnitt 2.1. dieser Arbeit. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 10–15. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 15.

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das ›mannigfaltige‹, irreduzible Zusammenspiel aus rein sachlicher Güterbewirtschaftung, politischen, rechtlichen Institutionen und Bildungskomponenten schildern. D.h. als sprachlich vermitteltes und vermittelbares Handeln erscheint das wirtschaftliche Tun in jener Komplexität, die ihm der Realismus ablesen will. Gegenüber den privilegierten Medien Sprache und Schrift erhält das Medium Geld als Mittel der Abstraktion und Quantifizierbarkeit in dieser Wirtschaftsauffassung einen vergleichsweise geringen Stellenwert. Es verkörpert einen Faktor innerhalb des ganzen, stets ebenso sittlich-kulturell wie technisch-materiell bestimmten Wirtschaftszusammenhangs. Und nur aus dieser institutionellen Struktur heraus erscheint die Rolle des Geldes signifi kant. Nicht als fundamentales Werkzeug zur Kodierung wirtschaftlicher Interaktion, sondern als Hilfsmittel kommt das Geld hierbei in den Blick. 3.2.4.1. Zwischen Funktion und Substanz – Das Geld im ökonomischen Diskurs Um den Stellenwert des antimonetären Denkens im Realismus in den Blick nehmen zu können, muss man sich noch einmal vor Augen führen, wie der monetaristische, funktionalistische Gegenentwurf aussieht. Joseph Vogl hat erste Ansätze eines funktionalen Gelddenkens in der Literatur und Ökonomie der Romantik ausgemacht und folglich die Geburtsstunde einer modernen, monetär ausgerichteten Wirtschaftsauffassung auf den Epochenwechsel um 1800 datiert. Kernpunkt des hier vollzogenen Strukturwandels ist der ›Verlust der Deckung‹. Während Geld zuvor als Ware aufgefasst wurde, deren intrinsischer Wert aus der in ihr inkorporierten Substanz (etwa dem Edelmetallgehalt) entstammt, wird es nunmehr als konventionelles, an sich eigenschaftsloses Zeichen begriffen, das rein pragmatisch dazu dient, Tauschakte miteinander zu koppeln. Nicht mehr die Referenz des Zeichens (eben die ›Deckung‹), sondern seine Performanz steht in dieser Geldtheorie im Vordergrund.228 Diese diskursive Umwertung ist selbst als Indiz zu verstehen für die Abkoppelung der Ökonomie von der politischen Sphäre und ihre Schließung zu einem autopoietischen kommunikativen System. An diesem Punkt trifft sich Vogls Diskursanalyse mit der Wirtschaftsbeschreibung von Niklas Luhmann. Nach Luhmann strukturiert sich die moderne Wirtschaft bekanntlich im Medium des Geldes. Alles Handeln, das als wirtschaftlich gelten will, erfolgt nach dem Code, »für Leistungen zu zahlen«.229 ›Zahlen oder Nichtzahlen‹ lautete demnach das wirtschaftliche Elementarereignis. Der monetäre Code codiert die Knappheit des Eigentums, d.h. das ›Haben oder Nichthaben‹ von Gütern und Dienstleistungen. Diese Knappheit ist in Luhmanns Sinne keine objektive, der Welt entstammende Eigenschaft von Dingen, sondern ebenso Motiv wie Konsequenz eines sozialen Zugriffs, in dem andere Teilnehmer von einem Gut ausgeschlossen werden.230 Hier liegt

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Vgl. Abschnitt 1.3.1. dieser Arbeit. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 47. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 179.

eine Paradoxie. Im Bestreben, zureichende Mengen von Gütern zu sichern, wird die systemkonstitutive Knappheit, d.h. die Verfügungsbeschränkung, überhaupt erst generiert. Durch die Einführung des symbolisch generalisierenden Kommunikationsmediums Geld in der modernen Wirtschaft wird diese Knappheit des Eigentums auf einer zweiten Ebene codiert und dadurch ›entparadoxiert‹. Der Eigentumstausch stellt sich dadurch als Doppelvorgang dar: »Jede Übertragung erfordert eine Gegenübertragung in Geld, und nur beides zusammen kann die alte Ordnung substituieren.«231 Erst diese monetäre Zweitcodierung dynamisiert den Tauschvorgang, indem sie jedes Eigentum nicht nur als Gut (Ding), sondern auch als Geld und damit als mobilisierbare Größe erscheinen lässt. Die Grundlage dafür ist, dass das Medium selbst knapp gehalten wird und mithin jede Zahlung die Mehrung oder Minderung der je eigenen Zahlungsfähigkeit nach sich zieht. In der Konsequenz hat es eine »vollmonetarisierte« Wirtschaft mit zwei Knappheiten zu tun: »mit der weltbedingten Knappheit der Güter und Leistungen und mit der artifiziellen Knappheit des Geldes«, und die Funktion der Wirtschaft wird entsprechend »durch die Konditionierung der Beziehungen zwischen diesen beiden Knappheiten, vor allem also durch Preise« gewährleistet.232 Beide Operationen, die monetäre Codierung und die Transaktion von Gütern, sind funktional voneinander verschieden. Darin liegt der Clou von Luhmanns geldtheoretischen Überlegungen. Die Einführung des Geldmediums ermöglicht eine Reduktion von Komplexität.233 Während Sachgüter auf mannigfaltige Weise verwendet werden können, schränkt sich der Gebrauch des Geldes auf den eigenschaftslosen Akt, zu zahlen (oder eben nicht zu zahlen), ein. Damit entfallen auch alle etwaigen Rücksichten eines nicht rein monetär gefassten Tauschs, etwa auf die persönlichen oder gesellschaftlichen Einstellungen und Rollen der Partner. »Insofern wirkt die Geldform sozial destabilisierend, sie kappt kommunikativ mögliche Bindungen, und genau das ist Bedingung der Ausdifferenzierung eines besonderen Funktionssystems für Wirtschaft.«234 Mit anderen Worten: Der Informationsverlust, der sich in der Ausklammerung externer, nicht ökonomisierbarer Relevanzen vollzieht, ist Teil der Spezifikation der Geldwirtschaft, die ihre Ausbreitung als besonderes Kommunikationssystem ermöglicht. Diese Informationsreduktion verdankt sich, nach Luhmann, ihrerseits der Quantifizierbarkeit des Geldes. Wie die phonetische Schrift »jede denkbare sprachliche Äußerung lautlos wiedergeben kann«, so trete auch das Geld allen möglichen Qualitäten und »Güterkonstellationen« gegenüber.235 Und diese Funktion könne es

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Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 196. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 64. Insofern ›Sinn‹ bei Luhmann als Strategie der Reduktion von Komplexität gefasst ist, zeigt sich hierin die sinnkonstitutive Leistung des Mediums Geld für das wirtschaft liche Kommunikationssystem. Vgl. dazu die Verortung der Luhmann’schen Wirtschaft stheorie in seiner Kommunikationstheorie bei Lauer: Literarischer Monetarismus, S. 167–211. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 18. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 199.

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nur unabhängig von den materiellen Bedingungen seines Trägerstoffs erfüllen (die Mengenverhältnisse des Edelmetalls im Münzgeld ermöglichen keine trennscharfe Unterscheidung). Geld hebt sich also, so lässt sich paraphrasieren, als beliebig quantifizierbare, nominale Größe gegen jegliche reale Sache und Dingqualität ab. Georg Simmels Chartal-Theorie des Geldes und ihre Rezeption durch Gustav Schmoller Um 1900, am Ende des hier zur Untersuchung stehenden Zeitraums, hat Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes eine vergleichbare funktionalistische Theorie des Geldes vorgelegt. Simmel geht es in seiner Studie um die Veränderungen des sozialen Lebens, die durch die moderne Geldwirtschaft bedingt sind. Im Mittelpunkt seiner psychologischen Überlegungen des ersten, analytischen Teils seines Werkes steht der Wertrelativismus. Geld wird in den modernen Tauschgesellschaften zum begehrtesten Gut, insofern es als universal einsetzbares Werkzeug fungiert. Es erlaubt, jeden beliebigen Handlungskontext zu transzendieren, denn sein inneres Maß ist nicht mehr das der Angepasstheit an spezifische Sachverhalte. »Da es nichts ist, als das an sich gleichgültige Mittel zu konkreten und grenzenlos mannigfaltigen Zwecken, so ist allerdings seine Quantität die einzige, vernünftigerweise uns wichtige Bestimmtheit seiner; ihm gegenüber steht die Frage nicht nach dem Was und Wie, sondern nach dem Wieviel.«236 In der Orientierung auf das Geld stellt sich die Psyche vom qualitativen auf ein quantitativ-funktionales Denken um. Entsprechend erscheint der quantifizierende Materialismus als die moderne Erkenntnistendenz schlechthin.237 Im zweiten, synthetischen Teil seines Werkes überprüft Simmel in stärker soziologischer Absicht, wie sich der Geldverkehr auf die modernen Lebensformen auswirkt. Die zunehmende Unabhängigkeit von Einzelheiten, der Zugewinn an persönlicher Freiheit korreliert hier mit einer steigenden Abhängigkeit vom Ganzen der arbeitsteiligen Gesellschaft. Individuell schlägt sich diese Tendenz in der Ablösung des Charakters durch die moderne Intellektualität nieder. Statt dauerhafter sachlicher Einstellungen (Charakter) dominiert nunmehr ein der Geldwirtschaft äquivalentes formales Denken, das einen jeden Sachverhalt in gefühlskalte, logische Relationen zu überführen vermag.238 Gesamtgesellschaftlich diagnostiziert Simmel demgegenüber eine Schere zwischen Einzelnem und Ganzem: Während die objektive Kultur sich in ungekanntem Maß steigert, bleibt die subjektive Kultur hinter den wachsenden Möglichkeiten zurück.239 Technologien und Wissenschaften vergrößern sich, aber der Einzelne vermag an den objektiven Bildungserrungenschaften immer weniger zu partizipieren. Die Internalisierung der objektiven Kultur erfolgt demnach auf der

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Simmel: Philosophie des Geldes, S. 340. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 366. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 594f. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 620f.

Ebene des Stils. Im Stil legen das Individuum bzw. die gemeinschaftlichen Stilträger, die In-Group, ihren jeweiligen kulturellen Ausschnitt von wissenswerten und wünschenswerten Gütern fest.240 Objektive Kultur wird in der Moderne demnach nur noch in der stilvollen Distinktion verfügbar. Simmels soziologische Betrachtung des modernen Wirtschaftslebens ist von Gustav Schmoller mit Wohlwollen begrüßt und durchaus als Frucht der eigenen realistischen Wirtschaftsauffassung empfunden worden. Die anschaulichen Personen-Typologien, die sich um das Geld bilden (vom blasierten Ästheten bis zum geizigen Sparer), die Schilderungen von Großstadtexistenz und Transzendenzverlust, besonders aber die extensiven kulturgeschichtlichen Herleitungen – das alles musste Anklang finden bei dem realistischen Ökonomen. Gegenüber der pessimistischen Bestandsaufnahme Simmels, dass der Geldgebrauch die sozialen Bindungen sukzessive atomisiere, zeigt sich Schmoller hingegen reserviert. Vor dem Hintergrund seiner Institutionentheorie, die dem sozialen Miteinander an jedem Punkt der Geschichte neue ›sittliche‹ Gestaltungsmöglichkeiten zubilligt, ist diese Ablehnung verständlich. Mit einem sozialen Imperativ wendet sich Schmoller gegen die Schreckensszenarien moderner Geldwirtschaft, wie er sie aus Simmel herausliest: Es muß der sittliche Volksinstinkt die Gebiete fi nden und kennzeichnen, die jenseits allen Geldwerts liegen; die persönliche Würde und Unkäuflichkeit wird sich dann wieder in breiten gesellschaftlichen Verhältnissen behaupten, gegen die Korruption kämpfen. Die Menschheit wird sich nach und nach klar werden, daß überall neben der Geldbeziehung persönliche, höher stehende, über sie hinausreichende Beziehungen existieren und sich erhalten müssen, die dem Leben den wahren Wert und auch dem wirtschaft lichen Getriebe erst die rechte Ordnung geben.241

De facto ist hier gerade die Pointe der Simmel’schen Theorie zurückgenommen. Die Universalisierung der Rationalität des Geldes und die damit einhergehende Intellektualisierung und Relativierung aller Lebensbereiche werden von Schmoller übergangen. Bei ihm hat die Geldbeziehung lediglich eine partielle Geltung, neben den weiter qualitativ bestimmten personalen Verhältnissen. Die Ableitung subjektiver Eigenschaften aus dem Medium wird bei ihm in letzter Konsequenz nicht gedacht. Folgerichtig kann Schmoller auch mit dem im engeren Sinne geldtheoretischen Kern der Simmel’schen Theorie wenig anfangen. Simmels Clou lag in der funktionalistischen Konzeptualisierung des Geldes.242 »Das Geld«, schreibt Simmel, »ist seinem Wesen nach nicht ein wertvoller Gegenstand, dessen Teile untereinander oder zum Ganzen zufällig dieselbe Proportion hätten wie andere Werte untereinander; sondern es erschöpft seinen Sinn darin, das Wertverhältnis ebendieser andern Objekte zueinander auszudrücken, was ihm mit Hülfe jener Fähigkeit des ausgebildeten Geistes gelingt: die Relationen der Dinge auch da gleichzusetzen, wo die Dinge

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Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 627f. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 105. Ausführlich nachgezeichnet bei Lauer: Literarischer Monetarismus, S. 147–166.

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selbst keine Gleichheit und Ähnlichkeit besitzen.«243 Geld ist in dieser Sichtweise ein Symbol, das seine Funktion als Wertmesser und Tauschmittel erst in der Interaktion erlangt. Geld wird zu Geld, indem es kauft. Und der Eigenwert der metallischen oder sonstigen Trägersubstanz des Geldzeichens spielt für diese Kauff unktion keine Rolle. Denn dass ein edles Metall als Geld fungiert, schließt alle übrigen Gebrauchsformen (als Schmuckstück, Werkzeug etc.) gerade aus. »Wenn man behauptet, der Wert des Geldes bestehe in dem Wert seiner Substanz, so heißt das, er liegt in denjenigen Seiten oder Kräften dieser Substanz, nach denen oder mit denen sie gerade nicht Geld ist.«244 Geld steht als Geld demnach dem gesamten Warenkosmos gegenüber. Es funktioniert, indem es zirkuliert. Und für diese Zirkulationsfähigkeit bürgt einzig seine Knappheit. Avant la lettre formuliert Simmel den Kerngedanken der funktionalen Geldtheorie Luhmanns: »Die Tausch- wie Messfunktion jedes Geldes ist offenbar an eine bestimmte Begrenzung seiner Quantität, an seine ›Seltenheit‹, wie man zu sagen pflegt, gebunden.«245 Genau diesen Funktionalismus geht Schmoller nicht mit. In seiner Besprechung des Simmel’schen Werkes bekundet er ein tief greifendes Unverständnis gerade an dem Punkt, an dem sich Simmel am weitesten auf das Terrain der Nationalökonomie vorwagt: Simmel will beweisen, daß das Geld wesentlich nur im Anfang der Kultur Substanzwert gehabt habe und haben mußte, daß aber die höhere wirtschaft liche Entwicklung dahin neige, den Substanzwert abzustreifen und das Geld mehr und mehr zu einem bloßen Symbol des Wertes zu machen, daß es den ›reinen Begriff des Geldes‹ nur erreiche, wo es zum bloßen, jeden Eigenwertes baren Ausdruck des gegenseitig gemessenen Wertes der Dinge geworden sei. […] Ich vermag diesen Ausführungen nicht zu folgen, die Resultate mir nicht anzueignen. Oder vielmehr: Ich gebe zu, daß eine Entwicklungstendenz derart vorhanden ist, aber ich kann die Nomenklatur mir nicht aneignen, unter die Simmel die Erscheinungen der Geld- und Münzgeschichte sowie die Kreditentwicklung unterbringt. Ich möchte, was Simmel Symbolgeld nennt, als Krediterscheinungen bezeichnen, und im einzelnen scheint Simmel zu schroff sich auszudrücken.246

Schmollers Unvermögen, Geld als reines Zeichen, als, in den Worten Georg Friedrich Knapps, ›chartales Zahlungsmittel‹ aufzufassen, gründet in einer metallistischen Grundüberzeugung. Für die metallistische Geldtheorie hängt die Funktionalität des Geldes notwendig davon ab, dass es durch eine Ware (Gold, Silber) gedeckt ist. Nur weil die Substanz, auf der das Zahlungsmittel aufruht, auch außerhalb der zirkulatorischen Verwendung eine Brauchbarkeit besitzt, kann es die Tauschaktionen vermitteln. Entsprechend verweist Schmoller, wenn er die Funktionalität des Geldes begründet, auf den Münzfuß: »Ein Zwanzigmarkstück hat seinen Wert durch

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Simmel: Philosophie des Geldes, S. 164. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 174. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 185. Schmoller: Simmels Philosophie des Geldes, S. 801f.

die 7,1685 Gramm fein Gold in ihm«.247 Geld wird hier aus einem Bedürfnis nach Edelmetall abgeleitet, das auch unabhängig vom Tausch besteht. Eine solche metallistische Überzeugung darf als dominante Auffassung des 19.  Jahrhunderts gelten248, zumal in Deutschland, wo die praktischen Fragen der Münzvereinigung zwischen den Bundesstaaten und die Einführung des Goldstandards die Währungspolitik der Zeit bestimmten.249 Der Metallismus lässt sich keiner wirtschaftspolitischen Schule exklusiv zuordnen; er findet sich ebenso in stärker staatsinterventionistisch gestimmten Auffassungen (wie etwa bei Schmoller und der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie) wie in liberalistischen Theorien (bis hin zu Carl Menger250). Für letztere wird gerade die scheinbar unabhängig von staatlichen Eingriffen sich vollziehende Herausbildung der allgemein handelbaren Ware Geld zum Angelpunkt der Theorie. In der währungspolitischen Praxis schützen Edelmetallstandards zudem vor willkürlichem Regierungshandeln, das zu Papiergeldinflationen führt, so ein liberalistisches Standardargument.251 Der Stellenwert des Kredits in der realistischen Nationalökonomie Chartal-Theorien, wie sie Simmel vorlegt oder auch, seinerzeit ungleich prominenter, Georg Friedrich Knapp in seiner Staatlichen Theorie des Geldes, leiten nach 1900 den Abschied von der metallistischen Geldtheorie ein. Die »Seele des Geldwesens liegt nicht im Stoffe der Platten, sondern in der Rechtsordnung, welche den Gebrauch regelt«252, wendet Knapp gegen den Metallismus ein und definiert das Geld entsprechend als ein ›chartales Zahlungsmittel‹, das gleich einer Briefmarke unabhängig von der Trägersubstanz funktioniert.253 Das Zahlungsmittel begründet sich in dieser Auffassung allein in dem nominalen Akt, der dem Gebrauch eines x-beliebigen Zeichenträgers rechtliche Sanktionen und damit eben die Geldfunktion garantiert. Der Anteil der Gesetzgebung an der Installierung und Verbreitung des Geldes wird von den Ökonomen der Historischen Schule sehr wohl gesehen. Doch erscheint

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Schmoller: Simmels Philosophie des Geldes, S. 802. Vgl. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd.  2, S.  1319. Eine Stufe allgemeiner betrachtet, sind dem 19. Jahrhundert streng monetäre Analysen, die sich auf die Leistungsfähigkeit des symbolisch generalisierenden Kommunikationsmediums ›Geld‹ stützen und mithin alle anderen ökonomischen Grundbegriffe wie ›Arbeit‹, ›Kapital‹, ›Tausch‹ als abgeleitet begreifen, überhaupt fremd. Vgl. Luhmann: Wirtschaft der Gesellschaft , S. 54f. Vgl. Wolfram Weimer: Geschichte des Geldes. Eine Chronik mit Texten und Bildern, Frankfurt a.M., Leipzig 1992, S. 16–19 u. S. 176–185. Vgl. Carl Menger: Geld [1892/1909]. In: Carl Menger, Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Friedrich August Hayek, Tübingen 1970, S. 1–116, hier: S. 41. Vgl. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 1, S. 507. Georg Friedrich Knapp: Staatliche Theorie des Geldes [1905], 4. Aufl., München, Leipzig 1923, S. 2. Vgl. Knapp: Staatliche Theorie des Geldes, S. 26–31.

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diese Autorisierung als ein sekundär hinzutretendes Moment, das die jeweils zirkulationsfähigste Ware am Markt als allgemeines Tauschgut auszeichnet. Gemäß der Warentheorie des Geldes erscheint denn ein offenkundig chartales Zahlungsmittel wie das Papiergeld lediglich als ›Surrogat‹, mit dem sich das Versprechen verbindet, es zu gegebener Zeit »mit wirklichem Gelde« einzulösen.254 Nicht der autoritative Akt, sondern die Deckung durch allgemein anerkannt marktfähige Güter garantiert den Symbolen in dieser Sichtweise ihre Funktionalität als Geld.255 Mit notorischer Einlässlichkeit überblicken die historischen Nationalökonomen in ihren Lehrbuchausführungen zum Geld entsprechend die Arten und Entwicklungen des Warengeldes: vom Tierfell oder Viehgeld bis zum Edelmetall.256 Obligatorisch werden dabei die Eigenschaften hervorgehoben, die Metalle zur allgemeinen, gängigsten Ware prädestinieren: Teilbarkeit, Transportabilität, Dauerhaftigkeit, Prägefähigkeit und Seltenheit bei gleichzeitig hoher ästhetischer Qualität (Roscher257) garantieren einen eigentümlichen »Edelmetallwert« (Knies258), in dem sich die Tauschfunktion des Geldes essenziell verankert findet. Die neuere Geldentwicklung wird als Münzgeschichte eingefangen, die angetrieben ist durch eine Dialektik von volkswirtschaftlicher Warenbildung, in der sich das Edelmetall als allgemeines Tauschgut profi liert, und staatlicher Institutionalisierung, in der qua Münzprägung die jeweiligen Stoffmengen staatlich fi xiert und anerkannt werden.259 Funktionalität ohne sachlichen Bezug, Autorisierung ohne einen Gegenwert, der der ursprünglichen Anerkennung unter den Marktteilnehmern entspringt, sind in diesem Begriff des Geldes nicht vorgesehen. Die historische Erzählung stellt dabei ein Kontinuum der Geld- und Warenwelt her, in dem das neuzeitliche gedeckte Geldzeichen als Verlängerung des naturalen Tauschmittels erscheint. Von einer streng disjunktiven Auffassung, die das Geld, als monetären Zweitcode, der Menge der Sachgüter gegenüberstellt, ist hier noch keine Spur. Die historischen Nationalökonomen sind in dieser Weise ganz einem qualitativen, realistischen Denken verhaftet. Ihre Rede handelt stets von den Dingen, von Kulturen und Bedürfnissen, die sich im Warenhandel konkret manifestieren. Auch in den abstrakteren Verkehrsformen setzt sich dieses qualitative Denken fort. In

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 123, S. 324. Verschiedene Argumentationslinien innerhalb des Bezugsrahmens zwischen Warencharakter und Zirkulationsfunktion des Geldes untersucht mit Blick auf den amerikanischen Diskurs der Zeit detailliert Michaels: The Gold Standard, besonders: S. 137–180. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §§ 118–120, S. 307–318; vgl. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 67–70; vgl. Karl Knies: Das Geld. Darlegung der Grundlehren von dem Gelde, insbesondere der wirtschaft lichen und rechtsgiltigen Functionen des Geldes, mit einer Erörterung über das Kapital und die Übertragung der Nutzungen [1873], (Geld und Credit, Erste Abteilung), 2. Aufl., Berlin 1885, S. 7–18. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 120, S. 314. Knies: Das Geld, S. 261. Vgl. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 70–91, besonders: S. 78f.

einem viel beachteten Aufsatz Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft hat sich Bruno Hildebrand 1864 einschlägig zum kulturellen Stellenwert der modernen Kreditwirtschaft geäußert. Hildebrand, neben Roscher prominentester Vertreter der Älteren Historischen Schule, bemüht sich wie seine Mitstreiter um einen wirtschaftsgeschichtlichen Abriss, den er über die Entwicklung der Tauschmittel konzipiert. Die drei im Titel der Studie abgegrenzten Wirtschaft sstufen gehen auf unterschiedliche Verteilungsformen zurück, über die sich der Güterumsatz historisch realisiert: »Entweder setzt man Güter gegen Güter um, oder man bedient sich des Tauschmittels der edlen Metalle, des Geldes, oder endlich man setzt Güter gegen das Versprechen um, in Zukunft denselben oder einen gleichen Werth zurückzuerstatten, d.h. gegen Credit.«260 Der Abgrenzung folgt eine geläufige Charakteristik der drei Wirtschaftsstufen. Der ›behäbigen‹ Naturalwirtschaft, in der der Mensch als ›Sklave der Natur‹ unmittelbar konsumiert und im Ganzen von seinen je gegebenen, kontingenten Umweltbedingungen abhängig bleibt, wird die ›kosmopolitische‹ Geldwirtschaft gegenübergestellt. In dem weit reichenden Gebrauch der edlen Metalle, der diese Wirtschafsstufe kennzeichnet261, ist zuallererst eine Aufspeicherung der Kapitalerträge und ein ausgedehnter Handel über Lokalgrenzen hinweg möglich. Die Besitzer beweglichen Vermögens treten neben die Klasse der Grundherren, die freien Arbeiter neben die abhängig Beschäftigten. Arbeit teilt sich auf, die verarbeitende Technik löst sich von der Landwirtschaft ab. Begleitet wird diese Entwicklung von einem Mentalitätswandel: Neben der mechanischen Arbeit des Menschen beginnen auch seine sittlichen und geistigen Eigenschaften, sein Fleiss und seine Intelligenz zu produciren. An die Stelle der Schlaffheit tritt die Thatkraft; an die Stelle des starren Festhaltens am Alten und Gewohnten tritt Beweglichkeit und Strebsamkeit. An die Stelle der Einförmigkeit und Gleichmässigkeit tritt eine grosse Mannigfaltigkeit aller menschlichen Productivkräfte und eine Abstufung der Gesellschaft nach dem Talent.262

Indem Hildebrand den historischen Wandel in Subjektkategorien fasst, leitet er auf die Schattenseiten der Geldwirtschaft hin, aus denen heraus sich ein neues ethisches Desiderat bildet. Denn die Geldwirtschaft befreit nicht nur aus alten Bindungen, sie atomisiert regelrecht die sozialen Zusammenhänge, sie isoliert den Einzelnen, »reisst ihn von dem Interesse des Anderen los und wirft ihn in den Strudel der allgemeinen Concurrenz«.263 Auf diese atomistische Tendenz antwortet nun die modernste

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Bruno Hildebrand: Naturalwirthschaft , Geldwirthschaft und Creditwirthschaft. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Jg. 2 (1864), S. 1–24, hier: S. 4. Ein nähere Betrachtung der Geldwirtschaft anhand des Übergangs von der Barren- und Ringzirkulation zur Münzprägung legt Hildebrand vor in Bruno Hildebrand: Die Entwicklungsstufen der Geldwirtschaft [1876]. In: Bruno Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft und andere Schriften, hg. von Hans Gehrig, Jena 1922, S. 358– 373. Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 16. Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 18.

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Wirtschaftsstufe: die Kreditwirtschaft. »Credit ist das Vertrauen in die Erfüllung eines gegebenen Versprechens, und zugleich die Summe von Eigenschaften, welche dieses Vertrauen begründen«, definiert Hildebrand und sieht folglich in dem Kredit das vorzügliche Mittel, dauerhafte Verbindungen zu stiften.264 Während sich beim Metallgeldverkehr Interaktionen schon im Moment der Zahlung wieder auflösten, erzeuge der Kredit »eine Reihe von Associationen, die einerseits in dem gegenseitigen Vertrauen wurzeln, andererseits wieder ein gegenseitiges Interesse an einander hervorrufen«.265 Gedacht ist hierbei insbesondere an die Termingeschäfte, mit denen Produzenten untereinander bargeldlos Leistungen abwickeln, noch bevor ihre Endprodukte in Geldwert umgesetzt werden können. Was dabei den Kredit zum Indikator höchster kultureller Entwicklung macht, ist seine Begründung in den »sittlichen Eigenschaften der Menschen«.266 Hildebrand privilegiert den ›Personalkredit‹, der, mit Roscher gesprochen, aufgrund der »Meinung über die Person des Schuldners« vergeben wird, gegenüber dem Realkredit, der durch Sachmittel (Hypotheken, Pfand) gedeckt ist.267 Denn der Personalkredit überwinde die überkommenen, geldwirtschaftlichen Besitzverhältnisse. Auch der ›redliche und befähigte‹ Arbeiter werde durch ihn in den Stand versetzt, Investitionen vorzunehmen. So verbinden sich im Kredit ethische und wirtschaftliche Kapazität: »Der moralische Werth des Menschen erhält die Kraft des Capitals.«268 Umgekehrt heißt das aber auch: Am Kredit bewährt sich die Person moralisch. Für Roscher, der Hildebrands Stufenmodell zwar ablehnt, die Wertschätzung des Kredits als Signum temporis aufblühender Kulturen allerdings mitgeht, fallen entsprechend neben den positiven Potenzialen die Risiken des Kredits ins Gewicht: »Dem gesunden Credite stehen die Krankheiten der Panik und Schwindelei ähnlich gegenüber, wie der wahren Religiosität die Krankheiten des Unglaubens und Aberglaubens.«269 Die Bewährungssituation, die der Kredit somit aufstellt, wird für die Literatur des Realismus zu einem bedeutsamen Motiv. Das Kreditdenken Adam Müllers und seine Aufnahme bei Bruno Hildebrand und Wilhelm Roscher Hildebrands Aufwertung des Kredits zum Bindemittel des modernen wirtschaftlichen Lebens steht selbst in einer Tradition. Um 1800 entstanden, wie Joseph Vogl nachgewiesen hat, unter dem Eindruck deckungsloser Papiergeldemissionen durch die Bank von England, erste Ansätze zu modernen Kredit- und Geldkonzeptionen. Als anregend auch für die Historische Schule erweist sich hier die Geldtheorie des

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Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 19. Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 19. Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 22. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 94, S. 241. Hildebrand: Naturalwirthschaft, Geldwirthschaft und Creditwirthschaft, S. 22. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 94, S. 242.

romantischen Nationalökonomen Adam Müller. Müller greift der Chartal-Theorie eines Georg Friedrich Knapp vor, wenn er unterstreicht: »[D]as, was die Metalle durch den Stempel, wie durch eine Art von Creditiv erst zum Gelde erhebt, und was endlich bey weiterer Entwicklung des bürgerlichen Lebens durch das Staatspapier ausgedrückt wird – ist das Principale«.270 Das Geld rückt ins Zentrum der staatswirtschaftlichen Überlegungen, und zwar ausdrücklich nur insofern es vom Kredit getragen ist.271 Das Metall, das Sächliche par excellence, wie es Müller anspricht, kann nicht ohne das in der Prägung sich manifestierende ›Wort‹, das die Personalität der Wirtschaftszusammenhänge verbürgt, zum Geld werden. In gleicher Weise stehen sich Münzgeld und reines Kreditgeld (Papiergeld) gegenüber. Die Einheit der jeweiligen Pole, Sache und Person272, wird durch den Kredit ideal gefasst. »Jede wahre und lebendige Wechselwirkung zwischen Person und Sache, erzeugt in ihrer Mitte den Credit, und besteht nur durch die Vermittlung des Credits«.273 Kredit meint dabei, in religiöser Verankerung274, den allumfassenden Glauben der Wirtschaftsteilnehmer an die Gegenseitigkeit ihres Handelns, an die Verbindung von Produktion und Konsumtion in einem gemeinschaftlichen, nationalen Lebenszusammenhang. Einerseits entwickelt Müller hier eine bemerkenswert dezentrale, antiessentialistische Wirtschaftsauffassung, insofern der Kredit von ihm als reine Funktion aufgefasst wird, die nicht mehr auf die Steuerung durch besondere politische Träger zurückgeführt wird.275 »Hier [am Mittelpunkt des Staatenvereins] gibt es weiter keine Repräsentation; hier muß der Glaube an den Mittelpunct, an die unendliche Vermittlung (mediation) oder an den Mittler, selbst zum Mittelpuncte werden. Hier muß Gott selbst seiner Menschheit unmittelbar zu Hülfe kommen, denn die irdischen Hülfsmittel der Repräsentation reichen hier nicht mehr aus.«276 Die moderne arbeitsteilige Wirtschaft erscheint entsprechend allein durch die zirkulatorische, gläubige Vermittlung aller Handlungen: Nicht in der Theilung der Arbeit, nicht in den edeln Metallen liegt das Wunder der großen und dauerhaften Wirkungen, welche die Industrie hervor bringt; nicht in der bloßen Allianz der ökonomischen Kräfte, sondern darin, worin alle Wunder der Erde: im Glauben an einander, im Glauben an den Glauben.277

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Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 140. Vgl. zur nominalistischen Geldtheorie Müllers im Kontext der romantischen Semiotik Gray: Money Matters, S. 48–78. Müller denkt solche Gegensätze stets als verbunden. Für die Einheit der Gegensätze bemüht er das Symbol der ›Kugel‹. Der Kredit stellt in diesem Sinne den Mittelpunkt der beiden Pole des Geldes dar. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 163. Vgl. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 15. Diesen Gedanken macht Vogl in seiner Müller-Interpretation stark. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 279–282. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 84. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 155.

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Andererseits beschränkt sich die Reichweite und Geltung des Kredits auf die in engen, nationalen Grenzen gedachte ›Person‹ des Staates.278 Der Kredit ist »Nationalcredit« und insofern das Bindemittel einer jeweiligen bürgerlichen Gesellschaft.279 Ein Großteil der Argumentation Müllers gilt der Kritik an Adam Smiths’ privatwirtschaftlicher Auffassung, die den Staat lediglich als Garanten der Eigentumsrechte ins Spiel bringt. Ein individualistisches Vertragsdenken, dem staatliche Institutionen lediglich zum Mittel je besonderer Bedürfnisbefriedigung werden, lehnt Müller ab. In seiner Sichtweise treten die einzelnen und als einzelne je unvollkommenen Wirtschaftsakteure notwendig in einem engen dauerhaften Verbund zusammen, um sich, gleich Mann und Frau, gemeinschaftlich zu vervollkommnen. Der Staat bildet hier die höchste Einheit einer Reihe stets personal und organologisch aufgefasster Institutionen wie Ehe, feudale Hauswirtschaft oder neuere betrieblicher Korporation, die das tätige Zusammensein des Menschen realisieren. Aus dieser nationalstaatlichen Perspektive heraus kritisiert Müller den Metallismus der Smith’schen Geldtheorie eben für den »cosmopolitischen Charakter«, der den Edelmetallen, wenn sie von der staatlichen Sanktion entblößt sind, anhaftet.280 Das Kreditdenken, das Müller diesem Metallismus entgegenstellt, setzt auf Eindämmung und Restauration der unter Druck des Welthandels geratenen staatlichen Zusammenhänge. Monetär gibt sich seine Theorie dabei nicht zu verstehen. Inflationen bzw. »Häufungen des Blutes« der Geldwirtschaft, heißt es, könnten nicht rein auf Basis von Zahlen behoben werden, durch Änderung der Geldmengen.281 Vielmehr braucht eine jede wirtschaftliche Betrachtung ein qualitatives, den Personen und ihren Interaktionszusammenhängen geltendes Interesse: »So lange man ausschließend das arithmetische Verhältniß der Waaren und Geldzeichen ins Auge faßt, und die Persönlichkeit derer, die sich zwischen diesen Verhältnissen mit Leichtigkeit bewegen sollen, derer, um derentwillen diese Verhältnisse überhaupt angeordnet werden sollen, […] vernachlässigt, so lange ist an keine Hülfe zu denken.«282 Es ist die Einstellung zum Staat, die Orientierung der einzelnen Personen auf die politische ›Überperson‹, die überprüft werden muss. Dem Staatswissenschaftler Müller geht es hier um die Abwehr privatwirtschaftlicher Theorien à la Smith, die gerade »der Versächlichung aller Dinge, aller Verhältnisse« Vorschub leisten.283

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Vgl. zum Folgenden Eric Achermann, der die Müller’sche Geldtheorie im Zusammenhang mit der Staatsauffassung und der wissenschaftstheoretischen Lehre vom Gegensatz erläutert. Achermann: Worte und Werte, besonders: S.  257–281. Vgl. zu den nationalpolitischen Akzenten auch Gray: Money Matters, S. 99–108; Breithaupt: Der IchEffekt des Geldes, S. 108–112. Vgl. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 70. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 86. Vgl. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 252. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 267. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 268.

Wenn Müller, vor diesem politischen Hintergrund seiner Geldtheorie, von Kredit redet, so ist damit eine persönliche, sozial verbindliche Vertrauenskraft gemeint, deren konkrete Repräsentationen vielfältiger Art sein können. Der Hausvater der vormodernen Hauswirtschaft verkörpert hier ebenso das Prinzip eines gemeinschaftlichen, auf Glauben basierenden Zusammenwirkens wie die moderne Banknote. Zwischen dem feudalen Lehnswesen und dem geldwirtschaft lichen Marktverkehr macht Müller keinen Unterschied, wenn die Arbeitsverteilung nur spirituell durch den Kredit garantiert ist. Tatsächlich erscheint der bargeldlose Verkehr mittelalterlicher Hofwirtschaft immer wieder als historisch vorbildliche Emanation des idealen Kredits. Müller fasst diese Manifestationen der Idealität als »Transsubstantiation« auf; sodass etwa in der geprägten Münze der »Leib des Staats« sich offenbare.284 »Die Transsubstantiation«, so Achermann, »verbindet Gott und Menschen, Seele und Leib, Staat und Haus«; der Topos verdanke sich hier dem »Einfluss des konservativen Anliegens, die Willkür der Zeichen und damit die Machbarkeit von Gesellschaft und Geschichte zu bestreiten.«285 Als ein solcher konservativer Erneuerer feudaler Werte geht Müller auch in die Doktringeschichte des 19. Jahrhunderts ein. Die realistischen Nationalökonomen rezipieren Müllers hybrides, ebenso von modernen (zirkulatorischen) wie anachronistischen (feudalen) Tendenzen durchzogenes Werk interessiert, doch selektiv. In die Papiergeldemphase schwenkt man nicht mit ein286, Müllers Lob des Feudalismus erscheint geradezu verdrießlich287, seine Kritik an Adam Smith hält man der Sache nach für gerechtfertigt, doch überzogen. Würdigung erfährt Müllers politische Ausrichtung der Ökonomie. Seine Theorie habe »den Vorzug«, schreibt Bruno Hildebrand, »mit Energie die Notwendigkeit eines politischen und sittlichen Gemeingeistes und die Macht der geistigen Kultur in der Wirtschaft der Völker geltend« gemacht zu haben.288 Wie gesehen verfolgt Hildebrand in seinen Ausführungen zur Kreditwirtschaft ähnliche Absichten, wenn er den Kredit zum ›sittlichen‹ Bindemittel des Staates erhebt, ohne sich dabei ausdrücklich auf Adam Müller als Vorläufer dieser Ideen zu berufen. Aus realistischer Sicht hat sich allerdings auch ein wesentlicher Bestandteil des Müller’schen Modells erledigt. Das idealistische Vereinigungsdenken, das die ›sittliche‹ Durchdringung des Sächlichen als ›Transsubstantiation‹ aufzufassen bereit ist und dem folglich alle Gegensätze je als Entfaltung einer ursprünglichen Gemeinsamkeit erscheinen (wie in der Kugel symbolisiert) – dieses Einheitsdenken wird im Realismus verabschiedet. Wenn bei den Realisten kosmologische oder anderweitig harmonistische Topoi auftauchen – am stärksten zeigt sich hier Wilhelm Roscher von der romantischen To-

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Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, S. 197. Achermann: Worte und Werte, S. 275. Vgl. Roscher: Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland, S.  763–778, hier: S. 769f. Vgl. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, §§ 6–12, S. 27–45, hier: § 12, S. 45. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 12, S. 41.

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pik beeinflusst289 –, dann lediglich im Horizont der Verklärung. D.h. zwischen der idealen Reihe des ›Sittlichen‹ und dem profanen Güterverkehr besteht nunmehr ein Dualismus, in dem beide Bereiche durch Referenzen, nicht aber durch symbolische Deckungsverhältnisse in Beziehung gesetzt werden. Was die Geschichtsauffassung anbelangt, wird aus diesem Dualismus heraus, spätestens mit Gustav Schmoller und der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie, das aktive, interventionistische Handeln des Staates propagiert. Zwischen der Gesetzgebung und dem reinen Marktverkehr, zwischen Personalität und Dingwelt verläuft dann ein permanenter Widerstreit politischer und wirtschaftlicher Kräfte, der den Fortgang der Geschichte bestimmt. Für den folgenden Blick auf die realistische Literatur bleibt einstweilen das grobe geldtheoretische Raster festzuhalten. Münzgeld, das nach metallistischer Ansicht ›eigentliche‹ Geld, steht im engen Zusammenhang mit der Marktdynamik und birgt die Gefahr, kosmopolitisch und sozial zersetzend zu wirken. Demgegenüber erwartet man sich von Kreditverhältnissen eine stärkere Bindungsfähigkeit, weil sie auf die Persönlichkeit der Handlungsteilnehmer zurückstrahlen. Risiken der Spekulationstätigkeit werden dabei als Anomalien sehr wohl herausgestellt. Gerade an diesem Punkt, in der personalen Einrichtung des Kredits, kommt die Literatur zu skeptischeren Einschätzungen. Im Ganzen steht der Realismus der Medienbetrachtung reserviert gegenüber. Die Transaktionsmittel mögen im überregionalen Bedarfsgüterverkehr notwendig sein; eine Eigenlogik oder überhaupt einen Sonderstatus schreibt man ihnen nicht zu. 3.2.4.2. Blinde Spekulanten – Geld und Kredit in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich Geld verbrennt sächliche Werte und persönliche Bindungen, so lernt man es früh in Kellers Der grüne Heinrich. Noch nicht den Kinderschuhen entwachsen, schließt der Protagonist Heinrich Lee Bekanntschaft mit der wohlhabenden Trödelladenbesitzerin Frau Margret. Margrets Geschäft , das sie mit ihrem untertänigen Mann führt, ist ein Krämerladen altertümlichster Prägung. Gerätschaften werden hier verliehen, Geschenke und Naturalgaben gesammelt. Abrechnungen verfasst die kaum schreibfähige und mathematisch ungebildete Frau in undurchschaubaren Privatkalkulationen auf Basis römischer Ziffern. Margrets Laden und ihre Wohnstube sind in jahrelanger Tätigkeit zum Kuriositätenkabinett angewachsen, in dem ein jedes Ding beseelt und durch volkstümliche Geschichten aufgeladen erscheint. Die Aura dieses Kabinetts inspiriert auch eine Tischrunde, in der sich strebsame Günstlinge, Juden, Atheisten und der Held Heinrich Lee allabendlich um Frau Margret scharen, um querbeet heidnische, abergläubische und naturphilosophische Anschauungen auszutauschen. Dem magischen Charakter dieses Hauses entspricht auch der Umgang mit

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Vgl. Abschnitt 2.3.3.1. dieser Arbeit.

Geld. Überschüsse aus dem Geschäftsbetrieb werden sogleich in »Gold« getauscht und dauerhaft in einer »Schatztruhe« verstaut.290 Als gehorteter Schatz steht das Geld dann, seiner zirkulatorischen Funktion entkleidet, in einer Reihe mit dem mythischen Interieur des Hauses. Margrets Wirtschaft ist der Inbegriff einer vormodernen Haushaltsführung, getragen vom »urwirtschaftliche[n] Vertrauen in das Inkalkulable« als »Basis und Bedingung ihres Glückes«.291 Als Trödlerin und Sammlerin steht Margret in der Nähe von alternden oder altertümlichen Helden wie Wendeline Curse (in Raabes Im alten Eisen) oder Magister Buchius (in Raabes Odfeld); als Horterin eines Münzvermögens gesellt sie sich zu Figuren wie Samuel Feuerstein (in Raabes Der Hungerpastor), die den literarischen Realismus regelmäßig bevölkern.292 Geld, das sie dem Umlauf entzieht, verwandelt sich im Hortungswesen der Frau Margret zum Speicher, weniger von realisierbarem Tauschwert, als von Lebensgeschichten und personalen Verhältnissen. Durch Gaben bindet Margret junge Emporkömmlinge an ihren Tisch. Auch Lee vermag es später noch genau anzugeben, wenn er Taler der Frau Margret in Wettkämpfen mit seinen Jugendkameraden ausgibt.293 Erst dort, wo die Taler zum Investitionsmittel in die eigene Ausbildung werden sollen und Lee in den Dienst des Malers Römer eintritt, fällt der Name der Gönnerin sinnfälligerweise weg.294 Im Umsatz löscht sich die personale Indizierung der Goldtaler aus. Zurück bleibt das eigenschaftslos kurante Geld. Und darin liegt auch die Pointe der Margret-Episode: Sie schildert, wie eine anachronistische Hortgeld- und Mythenwirtschaft zerfällt und sich der kontextfreie, zirkulatorische Geldverbrauch durchsetzt.295 Die Einheit des Hauses und seines Vermögensschatzes wird bereits zerstört, als ein Tischgast den Gatten der Frau Margret gegen die Hausherrin aufhetzt. Der an sich devote und in wirtschaftlichen Fragen unbedarfte Ehemann erstreitet eine Aufspaltung des gemeinschaft lichen Gutes. Erstmals kommen die Besitztümer des Hauses dabei in ihrer bürgerlich-rechtlichen Eigenschaft als Vermögen in den Blick, kann sich der fordernde Ehemann auf die Sanktionskraft der Gesetze berufen.296 Nach vollzogener Güterteilung fallen die Ehepartner in ihren wirtschaftlichen Trott zurück, aber das Band des Vertrauens ist

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 61. Muschg: Gottfried Keller, S. 98. Vgl. Michaels: The Gold Standard, S. 139–160; vgl. Vernon: Money and Fiction, S. 35–37. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 121. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 25. Diese Pointe übersieht etwa Martin Swales, wenn er die umfangreichen Deskiptionen, in denen das Bild des Trödlerhaushalts entsteht, als Redundanzen und »Überflüssigkeit« im Sinne des Barthes’schen Realitätseffekts auffasst. Tatsächlich wird das Mehr an Dinglichkeit im Hause Margrets paradigmatisch gegen die spätere monetäre Reduktion vorgebracht. Vgl. Martin Swales: Das realistische Reflexionsniveau: Bemerkungen zu Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich«. In: Hans Wysling (Hg.), Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, München, Zürich 1990, S. 9–22, hier: S. 18f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 76.

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entzwei. Während der Gatte seine Anteile in einem Koffer verscharrt und am Boden festnagelt, vermehrt Margret die ihren bald auf eine Summe, die das Ausgangsvermögen noch übersteigt. Doch nach der Horterlogik ist damit nichts gelöst. Denn nicht die Quantität des Besitzes, sondern die Qualität spielt darin die entscheidende Rolle. Nicht nach irgendwelchen, sondern nach genau diesen Münzen, die ihr Ehemann ihr entzogen hat, nach den Münzen mit Geschichte, verlangt es Margret. Und so schwelt der Konflikt der beiden bis an ihr Lebensende. Bei Margrets Tod gibt es den Versuch, die Einheit des Vermögens neuerlich zu gewährleisten. Zur Enttäuschung der erwartungsvollen Angehörigen fällt ihr Besitz einem einzigen Mann zu, einem ihrer Favoriten. Doch dieser verpflichtet sich nicht der altertümlichen Besitzstandswahrung. Während die übrigen Angehörigen getreu der Logik des Hauses Kleinigkeiten einsacken, um »ein wertes Angedenken an die Verstorbene aufzubewahren«297, versetzt der Haupterbe, kaum dass die Trauerfeier vorüber ist, die sachliche Habe: Dann ging er zu einem Goldschmied und verkaufte demselben die Schaumünzen, Kelche und Ketten, und zog endlich mit rüstigen Schritten aus dem Thore, ohne sich umzusehen, mit seiner dicken Geldkatze und seinem Stabe. Er schien froh zu sein, eine verdrießliche und langwierige Angelegenheit erledigt zu haben.298

Der Auszug des Erben wirkt sinnbildlich für die Mobilisierung der Verhältnisse. Sobald der stationäre Schatz in zirkulationsfähiges Geld umgewandelt ist, erledigt sich die ›langwierige Angelegenheit‹ mit der spintisierenden Hausgesellschaft. Das Geld befreit den Eigner zum Gang in die Welt. Heinrich wird diesen Auszug seinerseits wiederholen, wenn er zu Ausbildungszwecken in die deutsche Residenzstadt aufbricht. Vor dem Vormundschaftsgericht erstreitet Heinrich dafür die Liquidierung einer Festanlage seiner Familie, die seit »Martini 1539« mehreren Generationen von Kapitalanlegern jährlich fünf Prozent Zinsen eingebracht hat.299 In der Sichtweise des Gerichts besitzt dieses Papier eine spezifische, schatzgemäße Qualität (das Datum verbürgt seine Besonderheit), die zudem einen symbolischen Überschuss aufweist: Die Einheit der Generationen – »von Geschlecht zu Geschlecht«300 – werde darin manifest; der Wert der Festanlage belaufe sich entsprechend auf die Summe der Jahrhunderte. Doch der Oheim, der Lee hier beratend zur Seite steht, löst diese symbolische Betrachtungsweise umgehend auf: [M]ein Neffe besitzt das Brieflein ja erst seit etwa zehn Jahren, und vor nicht vierzig Jahren noch gehörte es dem Kloster, dessen Abt es zur Zeit der Revolution verkaufte. Man kann überhaupt nicht auf solche Weise rechnen; es ist ebenso unrichtig, wie wenn man immer sagt, diese drei Greise sind zusammen 270 Jahre oder jene zwei Eheleutchen 160 Jahre alt! Nein, jene Greise sind alle drei zusammen nur neunzig Jahre alt, Mann und Frau achtzig,

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 81. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 82. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 102. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 102.

da es genau dieselben Jahre sind, die sie verlebt haben. So verthut der junge Künstler hier nicht die Zinsen von drei Jahrhunderten, wenn er das Brieflein verkauft , sondern nur den einfachen Betrag desselben!301

In der Profanierung des ›alten Pergamentleins‹ zum rein quantitativen Wertpapier stellt sich Geschichte nicht mehr als ewig einhellige Tradierung eines Erbes dar, sondern als konfliktreicher, kontingenter Prozess von Einzelakten. Ein Abt zu Revolutionszeiten muss da ebenso um Liquidität besorgt sein wie ein angehender Künstler. Die Zeitsprünge, die sich der Oheim an dieser Stelle erlaubt, sind dabei bezeichnend für die Funktionsweise des Geldes, das man durch die Argumentation freisetzen will. Der metonymische Zusammenhang der Weitergabe von Hand zu Hand wird durch einen abstrakt vergleichenden Blick ersetzt, der beliebige Kontexte auf ihre Ähnlichkeit hin anschaut. Im Geld, als bloßer Rechenbetrag aufgefasst, atomisiert sich der Verbund der Geschlechter. Es bleibt dem Auftritt des Schlangenfressers im Hintergrund der Szene vorbehalten, diese modernisierende Verfahrensweise zu problematisieren und allegorisch den finanziellen Kollaps des Romanhelden in München zu antizipieren. Denn letztlich gilt hier wie bei Margret: Wo der Besitz erst einmal monetär mobilisiert ist, da wird er auch flüchtig. Es ist nicht von ungefähr ein goldenes Pferd, das Heinrich in den Traumkapiteln vor seiner Abreise aus München durch die Traumgefi lde umherträgt. Die Mobilisierung des Helden und seine ökonomisch ruinöse Entwicklungsgeschichte stehen tatsächlich im Zeichen des Edelmetallgebrauchs. Der Traumritt auf dem goldenen Pferd verarbeitet nicht nur Heinrichs Schuld(en)eingeständnis angesichts seiner mittellosen Heimkehr, durch die sich seine abgebrochene Künstlerlaufbahn als gravierende Fehlinvestitionen erweist. Heinrichs Schlafphantasie wächst sich gleichsam zur Allegorie auf die Macht des Geldes schlechthin aus. Einschlägig hat Jochen Hörisch die Traumkapitel in seine ökonomischen Lektüren des Romans eingebunden und ihnen gewissermaßen einen monetaristischen Gedanken avant la lettre zugebilligt. Indem Heinrich im Dialog mit seinem Pferd das ›gemünzte Geld‹ als Identitätsstifter der Nation anspricht, verkünde er ›divinatorisch‹ eine Einsicht in den Äquivalenztausch, die in der Geldkonzeption Karl Marx’ ausgearbeitet wurde und bis hin zur monetaristischen Subjektphilosophie Alfred Sohn-Rethels die materialistische Kulturtheorie prägen sollte. Im monetär vermittelten Tausch, so der Gedanke, wird eine Realabstraktion geleistet, die es erlaubt, verschiedene Waren als äquivalent zu setzen. Darin liegt zugleich eine Denkabstraktion begründet, insofern Kategorien wie ›Äquivalenz‹ und ›Identität‹ den Tauschenden durch ihr Geschäft zuallererst eingeprägt werden. Ebendiese erkenntniskritische These artikuliere sich bei Keller. »Einzig Poesie vermag offenbar in Zeiten, da der vom Geldfetisch und von der Tauschabstraktion ausgehende Identitätszwang sich universalisiert und so die Indivi-

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 3 (HKKA, Bd. 2), S. 102.

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duen ausblendet, das stummgeborene und sphinxartige Rätsel des Äquivalenttauschs auszusprechen, ja zu lösen.«302 Das ist kühn interpretiert, aber es beleuchtet doch nur eine Seite des hier aufgeworfenen Problems. Schon die Makrostruktur der beiden Traumkapitel gibt eine Fährte vor, die sich nicht allein auf den Status des Geldes beschränkt. Es beginnt mit einem märchenhaften Schwelgen im Überfluss, der die Ökonomie Margrets anzitiert: Ein Landmann mit weißen Ochsen wirft goldene Körner in die Luft und schickt so einen sterntalerartigen Regen – »goldene Schaumünzen«, wie Heinrich erfreut feststellt303 – über den Heimkehrer hernieder. Und dieser Goldregen verwandelt sich sogleich in den Goldfuchs, der Heinrich im Weiteren herumtragen wird. Versinnbildlicht ist in dieser Szene zunächst das Versprechen der Heimat, gabenreich wie Margret mit ihren ›Schaumünzen‹ und Lees Mutter mit ihren Finanzspritzen den verlorenen Sohn wieder aufzunehmen und aufzupäppeln.304 Für den Verlauf des Traumes darf man in Erinnerung behalten, dass sich der Landmann, nachdem er Heinrich mit Gold ausgestattet hat, in Wilhelm Tell verwandelt (mit dem Antlitz des Wirtes aus der Tellspiel-Episode). Die Verkörperung der repräsentativen Persona des Staates (Tell als Bundesgründer) folgt der Abschöpfung der (metallischen) Bodenschätze nach. Das Ökonomische geht dem Politischen hier voraus. Ein zweimaliges Erwachen Heinrichs gliedert den weiteren Traumritt. Nachdem das Dorf des Oheims mit Judith und Anna passiert wird, widmet sich ein zweiter Teil einem Volksauflauf in der prunkvoll strahlenden Heimatstadt. Im Schlussabschnitt trifft Heinrich auf Mutter, Vater und seinen Jugendrivalen Meierlein. Die von Hörisch diskutierte Brücken-Szene, die die Einheit der Nation allegorisch darstellt, liegt im zweiten Traumabschnitt: »Was sich doch alles verändert und vorwärts schreitet, wenn man nur einige Jahre weg ist!« dachte ich, als ich gemächlich und neugierig in die weite Brückenhalle ritt. Während das Gebäude von außen nur in weißem, rötlichem und schwarzem Marmor glänzte, waren die Wände des Innern mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze Geschichte und alle Thätigkeiten des Landes darstellten. Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann, der soeben gegangen, an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen, das auf der Brücke verkehrte, Eines zu sein; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und winkten unter den Lebendigen mit, während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden. Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern, Pfaffen und Laien, Herren und Bauern, Ehrenleuten und Lumpenhunden; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand, schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur Ein Ding zu sein.305

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Hörisch: Gott, Geld und Glück, S. 121. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 103. Zur Rolle der mütterlichen Gabenökonomie vgl. Muschg: Gottfried Keller, S. 98f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 113f. [Großschreibung als Mittel der Hervorhebung im Original, Anm. Ch. R.].

Die Verwandlung der bildlichen Porträts in lebendige Personen und umgekehrt lässt hier unschwer einen Verweis auf die realistische Poetologie erkennen. Es ist der Austausch zwischen tropischem (Bild) und metonymischem Moment (Leben), der die Erzählung der Nation ermöglicht.306 Und dieser Austauschprozess wird nun durch die Identitätsdiskussion ökonomisch eingehängt. Ob die Brücke, die Vergangenheit und Zukunft wie ›ein Ding‹ zusammenschaltet, oder vielmehr die Menschen darauf als Nation anzusprechen wären, fragt Heinrich seinen goldenen Gaul. Aufgeworfen wird damit ein Dualismus zwischen den Kapitalien eines Landes (Institutionen307 bzw. Infrastruktur) und seinen Bewohnern. »Beide zusammen sind die Identität«, lehrt der Goldfuchs308 und lässt nachfolgend das Rätsel dieses Zusammenhangs durch seinen Reiter selbst lösen. Als sich die beiden der Brücke nähern, drängt das Volk heran und betastet Heinrichs Mantelsack, der mit Goldmünzen gefüllt ist: »Das sind ja absonderliche Manieren!« sagte ich endlich; »ich glaubte, es kenne mich kein Mensch hier!« »Es gilt auch nicht dir«, meinte der Goldfuchs, »sondern deinem Quersack, deiner dicken Goldwurst, die mir das Kreuz drückt!« »So? also das ist die Lösung und das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage, das gemünzte Gold? Denn du bist ja aus gleichem Stoffe, ohne daß dich ein einziger betastet!«309

Die Vermittlung der lebendigen und materiellen Kräfte, der unablässige Austausch zwischen humanen Ressourcen und Kapitalien, wird durch das Medium des ›gemünzten Goldes‹ realisiert. Diesen Punkt macht Hörisch stark. Die Kritik aber, die der Roman zumindest in der zweiten Fassung (auf die sich auch Hörisch bezieht) hieran anschließt, übergeht er. Sie richtet sich gegen die atomisierende Kraft, die im Geldgebrauch schlummert und die im weiteren Verlauf des Traumes die Brückengesellschaft (die Nation) auflösen wird. Für eine weiter gehende Deutung ist es nötig, die einzelnen Schritte der Traumerzählung noch einmal en détail nachzuvollziehen: Die ›Münzung‹ des Geldes wird hier zunächst ganz unabhängig von staatlicher Autorisierung gedacht. Von Wappen und Prägungen ist keine Rede. Vielmehr rekurriert die Szene im Begriff der Münzung, ganz in der Tradition eines sich über den Metallismus herleitenden Liberalismus, auf die Quantifizierung einer Edelmetallmenge, die auch anderweitig als Gebrauchsware Verwendung finden könnte. Von den ›goldenen Dächern‹ war schon beim ersten Augenschein der Heimatstadt die Rede. Der Inhalt von Heinrichs

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Allegorisiert wird hier also das Postulat, dass das lebendige Dasein poetisch werden muss unter der Bedingung, dass die dadurch entstehende künstlerische Figur (das Bild) sich wie das Lebendige selbst zu verhalten habe (Fontane). Dieses Postulat ist akribisch in der historischen Erzählung realisiert; vgl. dazu ausführlich Ort: Zeichen und Zeit, S. 9–19 u. S. 149–162 u. S. 215–230. Vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 237. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 114. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 116.

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Mantelsack wird entsprechend in eine synekdochische Beziehung zu dem Stoff, den sein goldenes Pferd inkorporiert, gestellt. Was durch die Münzung garantiert ist, ist die Handhabbarkeit und ergo Zirkulationsfähigkeit des aufgeteilten Edelmetalls, die durch den Transport im Mantelsack bezeugt ist. ›Geld‹ sind mobilisierbare Quanta eines Materials, das auch anderweitig als Ware dienen könnte, so will es der Metallismus; und die liberalistische Schlussfolgerung auf dieser Basis lautet: Was als Ware funktioniert, bestimmt der Markt, nicht der Gesetzgeber. Geld ist in diesem Sinne ein ›von unten‹ gewachsenes, kein ›von oben‹ gesetztes Tauschmittel. Als Tauschmittel aber löscht das gemünzte Geld nichtzirkulatorische Verwendungsweisen des Edelmetalls aus, so lehrt es das grelle Paradoxon, das die Szene bestimmt: Vom goldenen Pferd will keiner der Herannahenden etwas wissen, wohl aber von dem an sich verborgenen Inhalt des Mantelsacks. Das ultimativ Formlose, ja Unsichtbare, drängt die dingliche Form in Gestalt des Pferdes in den Hintergrund. Im Run auf die Münzen gerät der Warencharakter des Edelmetalls aus dem Blick. Und genau dieser Verlust des Warencharakters rückt, bei näherer Betrachtung, nachfolgend ins Zentrum und macht das Krisenmoment des Traumes aus. In einigen nebulösen Bemerkungen wendet sich das Pferd gegen den Liberalismus Smith’scher Prägung310 und wirft dem Volk die Verwechslung der »Privatsachen mit den öffentlichen Dingen« vor.311 Dann folgt die Probe aufs Exempel für die bürgerliche Liberalisierung aus dem Geiste des Münzwesens. Ich »rate dir, dein Kapital hier noch ein wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren«, feuert das Pferd seinen Reiter an, und Heinrich wirft sofort bereitwillig »einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in der Luft zappelnden Händen aufgefangen« werden.312 Was darauf in der zweiten Fassung des Romans folgt,313 ist alles andere als eine Stiftung von Identität qua Kapitalzirkulation. Zwar vermehrt sich das Geld zügig, läuft von Hand zu Hand und kehrt reichlich gehäuft zu Heinrich zurück. Doch gleichzeitig löschen sich die Identitäten der Leute aus: 310

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Der etwas unvermittelte Gedanke, dass ›Gemünztes‹ hauptsächlich dazu diene, Soldaten zu ernähren, liest sich im ökonomischen Kontext des Kapitels als Rekurs auf Adam Smiths berühmte Reduktion, die dem Staat im liberalen Wirtschaftssystem primär die Aufgabe der Landesverteidigung zuspricht (deren Erörterung bei ihm noch vor den öffentlichen Gütern der Justiz, Bildung und ausgesuchten Infrastrukturmaßnahmen erfolgt). Vgl. Smith: Wohlstand der Nationen, S. 587–600. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 117. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 117. In der ersten Fassung von 1854/1855 fehlt das folgende Krisen-Szenario, weshalb etwa Karolina Brock die dortige träumerische Allegorie der Zirkulation als weitaus marktoptimistischeres, »äußerst harmonisches Bild der bürgerlichen Gesellschaft« auffasst und es entsprechend näher am Wirtschafts- und Sittlichkeitsdenken der realistischen Ökonomie situiert (Brock: Kunst der Ökonomie, S. 239). Siehe zum Vergleich der beiden Passagen auch Stotz: Das Motiv des Geldes, S.  98–100. Kellers Wirtschafts- und Verwaltungsskepsis verstärkt sich bis zur Neufassung von 1879/1880 und kulminiert, wie noch zu zeigen sein wird, im Spätwerk Martin Salander. Diese Tendenz ist in der Forschung ausgiebig besprochen worden, vgl. etwa zuletzt Kittstein: Gottfried Keller, S. 88.

Alte und Junge, Weiber und Männer purzelten übereinander, das Gold zu raffen. Diebe, die von Wächtern transportiert wurden, stürzten sich samt diesen in den Haufen; Bäckerlehrlinge warfen ihr Brot in das Wasser und füllten ihre Körbe mit Gold; […] selbst aus einem an die Wand gemalten Gerichte liefen die toten Richter vom Tische, ließen den Angeklagten stehen und stiegen herunter, um hinter mir her zu streichen, und schließlich kam der gemalte Verbrecher auch noch gesprungen, um nach Gold zu schreien.314

Die sanfte Zirkulation zwischen Bild und Leben, die gleichförmige Beschäftigung der Leute mit ihrem Tagwerk, das alles löst sich im Tumult ums gemünzte Gold auf. Sinnbildlich vernichtet der Bäckerjunge seine Ware im allgemeinen Goldrausch; die Attribute werden abgestreift; es regiert der indifferente Goldrausch. Weder im persönlichen noch im gesellschaftlichen Zusammenhang der Brücke lassen sich die Identitäten wahren. Es vollzieht sich die allgemeine Auflösung der sozialen Bande. Der liberale Kosmopolitismus des Geldes, seine Fähigkeit gegebene Ordnungen zu überschreiten, mündet hier in die Anarchie. »Ist denn niemand da, den Landverderber aus der Luft herabzuholen?«, ertönt ein Ruf.315 Und tatsächlich wird das Regiment des Geldes, das Heinrich in zunehmender Hybris führt, durch eine politische Intervention beendet. Wilhelm Tell, der mythische Garant der staatlichen Identität, der Heinrich bereits eingangs des Traums mit seinem Geldgeschenk erschienen war, schießt den Störer des Geld- und Landfriedens vom Himmel. Wo die Ökonomie aus dem Ruder läuft, da muss die Politik im öffentlichen Interesse tätig werden; sie tut es durch Ausmerzung des Spekulanten. Dass dabei unter der Persona des Tell wiederum der Wirt aus den Tellfest-Episoden steckt, der sich dort bereits als egoistischer Privatwirtschaftler entlarvt hatte, ist Teil des Keller’schen Pessimismus. Der mythische Akt zum öffentlichen Wohl kann keinen archimedischen Punkt außerhalb der Eigennutzenwirtschaft für sich beanspruchen (das war die Pointe des Tell-Kapitels). In diesem Sinne ist die politische Sphäre ebenso riskant wie die potenziell selbstzerstörerische liberale Geldwirtschaft. Konträr zu den wesentlich optimistischeren realistischen Nationalökonomen denkt Kellers Roman so das Prekäre des Geldwesens und des ordnungspolitischen Handelns. Der nationalökonomische Kommentar, den der Traum in der hier vorgestellten Lesart darbietet, wird mit dieser bedrückenden Bestandsaufnahme einstweilen abgeschlossen. Im dritten Traumabschnitt kehrt der Held in die Privatsphäre zurück. Seines Pferdes verlustig und aller Reichtümer entkleidet trifft Heinrich am elterlichen Haus auf seine Mutter und seinen Jugendrivalen Meierlein; der Traum schließt mit dem Bild des Vaters, der fernab gebückt vorüber streift. Stumm bleiben die Eltern; nur Meierlein, der hier offensichtlich aus dem Familienarrangement heraus fällt, darf eine Forderung an Heinrich richten: »Er wolle mich jetzt endlich auspfänden, rief er mit giftigen Worten, daß er zu seiner verschriebenen Sache komme; seine Rechnung

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 117f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 118.

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sei pünktlich in Ordnung.«316 In der Rolle des Gläubigers personifiziert Meierlein genau jenes Prinzip, das eine idyllische Heimkehr des verlorenen Sohnes verhindert. Die handfeste Verschuldung Heinrichs gegenüber seiner Mutter durch die ausbleibende Amortisierung ihres Ausbildungsinvestments verträgt sich nicht mit einer harmonischen Abrundung des Lebensweges. Vordergründig resümiert der Traum die individuellen Schuldverstrickungen und somit den singulären ›realistischen Weg‹ seines Helden. Doch liegt auch hier eine gesamtwirtschaftliche Pointe verborgen, die auf das monetäre Problem des zweiten Traumabschnitts reagiert. Auf die Drohungen des geldwirtschaftlichen Exzesses folgt nunmehr die Gegenprobe: Die Frage richtet sich dabei auf Verbindlichkeiten, die den spontanen Geldumlauf zu transzendieren vermögen. Es ist die Frage nach der Geltung des Kredits. Die Meierlein-Episode und der Absturz des Kreditjongleurs Wie hatte sich die Forderung Meierleins, die Heinrich bis in die späteren Kapitel seines Lebensromans hinein verfolgt, ursprünglich hergestellt? Rittergeschichten waren es, die Heinrich zu Schulzeiten auf das Glatteis des Geld- und Kreditwesens brachten. Angeregt durch seine Lektüren profi liert sich Lee gegenüber einem Schulfreund, indem er imaginär dem Minnedienst fröhnt und von einem »gehobenen unermeßlichen Schatze« prahlt.317 Doch bald wird er aufgefordert, für seine phantastischen Behauptungen Beweise zu liefern. Das Motiv ist aus den bisherigen Ausführungen zu Kellers Dichtungen hinlänglich bekannt. Der Eigendynamik des Erzählens, das sich aus bereits Erzähltem heraus generiert und so eine freie, fi ktionale Funktionalität der Zeichen über ihre Referenzfunktion stellt318, wird mit einer Deckungsforderung begegnet. Goldstücke müssen präsentiert werden, um die Existenz des Schatzes und also die Glaubwürdigkeit der Geschichten zu belegen. Durch Rückgriff auf sein (von der Mutter verwaltetes) Sparkästchen gelingt Heinrich der Nachweis. Allein das Kästchen wird zur Büchse der Pandora. Als Heinrich in der Bürgerschule unter den Bessersituierten um Prestige ringen muss, greift er vermehrt nach seinen Geldersparnissen, um mit der verschwenderischen Geste des Aristokraten eine Vielzahl von Nutznießern an sich zu binden. Hier nun interveniert Meierlein. Indem er ein System von Tauschgeschäften und Wettkämpfen mit Heinrich etabliert, gelingt es ihm, den spontanen Geldverzehr zu stoppen und den Abfluss des Münzvorrats in die eigene Tasche umzulenken. Die Intervention ist von einer zweifachen Konkretisierung getragen: Gegenüber der labilen Kameradschaft mit den namenlos bleibenden Nutznießern, die mit jedem Zahlungsakt gewissermaßen neu hergestellt werden muss, kristallisiert sich mit Meier-

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 121. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 120. Vgl. dazu in dieser Arbeit die Abschnitte zu Der Schmied seines Glückes (2.3.2.1.) und Die mißbrauchten Liebesbriefe (3.1.).

lein eine feste Bindung heraus. Die spielerischen Wettkämpfe überführen zudem die Fiktionen in manifeste Handlungszusammenhänge. Heinrich muss hier nicht mehr prahlen, er kann Taten sprechen lassen. Die Konkretisierung dieser Interaktion geht mit einer zunehmenden Abstraktion der angewandten ökonomischen Mittel einher. Meierlein setzt sich zunächst als Treuhänder ein und legt mit dem von Heinrich hergebrachten »Gelde eine kleine Kasse« an, aus der dem Freund in der Folge »mäßige Vorschüsse« gewährt werden.319 Die ›vorgestreckten‹ Beträge verzeichnet Meierlein in einem »Büchelchen«, dessen »Seiten mit Soll und Haben ansehnlich überschrieben waren«.320 Spätestens hier verwandelt sich das Tauschverhältnis der Knaben aus seiner bis dato gültigen Form – Geld gegen Waren (»eine Menge kindischer Gegenstände«) bzw. »Dienstleistung«321 – in ein Kreditverhältnis, das auf die augenblickliche Präsenz der Geldmünzen verzichten kann. Meierleins Buchführung erlaubt ihm die Verzeichnung kleiner Münzsorten als Schulden (Soll), deren Realisierung bis auf weiteres aufgeschoben bleibt. Getragen ist diese Kreditierung von einer beiderseitigen Blindheit. So wenig wie Heinrich einen Blick in sein Geldkästchen wagt, wenn er sich daraus bedient322, so wenig fragt Meierlein in seiner Verbuchung nach der Deckung, die Heinrich für seine Schulden aufzubringen vermag. So wird das Spiel- und Kreditsystem der Knaben autonom, indem es auf die Rückkoppelung ans Münzgeldwesen einstweilen verzichtet. Tatsächlich steigert dieses kontextfreie Operieren mit reinem Zeichengeld den Umsatz. Weil durch das Buchgeld mehr Transaktionen möglich werden, ohne dass Heinrich dafür erst sein heimisches Kästchen angehen muss, wachsen die Verbindlichkeiten ebenso schnell wie Heinrichs ästhetisches Vergnügen an Meierleins Buchführung – bis am Ende des Sommers eine »runde Zahl von mehreren Gulden nebst einigen Kreuzern und Pfennigen« von ihm eingefordert wird.323 Auch hier folgt also auf die Autonomisierung der Zeichen die realistische Deckungsforderung. Der Roman bemüht dezidiert die Begrifflichkeit ökonomischer Krisentheorien, wenn er den Punkt, an dem das Verbuchungswesen die Rückkoppelung anstrebt, anvisiert: Er [Meierlein] mochte ahnen, daß eine Krisis für mich nahe bevorstehe; daher war er besorgt, noch vor dem Ausbruche derselben sein so lang und sorglich gepflegtes Schäfchen ins Trockene zu bringen.324

Tatsächlich bricht die ›Krisis‹ aus, Heinrich vermag seine Schulden nicht zu begleichen und wird später von seiner Mutter geschützt, als der hartnäckige Gläubiger zu Hause vorstellig wird. Meierlein bleibt auf seinen Forderungen sitzen, und in der

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 145. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 145. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 145. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 142. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 146. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 147.

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Konsequenz wird er zum Rivalen, der Heinrich im Schulhofgetümmel bis aufs Blut bekämpft. In der Figur des Meierleins hat man einen Repräsentanten der väterlichen Ökonomie erblickt, der einen Normierungszwang auf den Helden ausübt, sich von der mütterlichen Gabenökonomie zu lösen.325 Die empathetisch aufgeladenen Schenkungen einer Frau Margret oder einer Mutter Lee sollen durch ein männliches KostenNutzen-Kalkül, die Rationalität des Homo oeconomicus, ersetzt werden. Doch indem sich Heinrich mit mütterlichem Beistand seinem Debet entzieht, misslingt ihm auch die Internalisierung dieser Rationalitätsanforderung. Die spätere Erscheinung Meierleins im Heimkehrtraum wird dann zum psychologischen Indikator der verfehlten männlich-ökonomischen Individuation. So sehr es stimmt, dass Kellers Roman immer wieder dazu tendiert, Probleme persönlich zu wenden und auf den Entwicklungsgang seines Helden zurückzublenden326, so wenig geht doch das hier geschilderte Problem in einer rein individualistischen Deutung auf. Und auch das interpretatorische Koordinatensystem von zügelloser, ›verweiblichter‹ Phantasie auf Seiten des Helden und männlich gestrenger Norm auf Seiten Meierleins verzerrt den Sachverhalt. Denn Meierlein selbst stellt alles andere als eine solide Instanz dar und der Romanverlauf legt seinen Fall schon bald nach den ›Verschuldungsepisoden‹ schonungslos offen. Gerade achtzehnjährig

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Meierleins Forderung gilt als Pars pro Toto für die allgemeine Verschuldung des Helden in seiner missglückten Bildungsgeschichte. Vgl. Muschg: Gottfried Keller, S. 97. In Kaisers psychoanalytisch zugespitzter Interpretation stört Meierlein ebenfalls die tendenziell regressiv anale, inzestuöse Geldbeziehung Heinrichs zu seiner Mutter. Vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 229f. Eine Stufe abstrakter deutet Gert Sautermeier die Meierlein-Episoden als Scheitern der (väterlich vorgegebenen) Synthese des ›Schönen mit dem Nützlichen‹ und weist damit in eine Richtung, die auch die nachfolgende Lesart im Zeichen der Kreditproblematik nimmt. Vgl. Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, S. 90–92. Karolina Brock greift diese Dichotomie auf, ohne sich der Kreditproblematik und dem darin gründenden krisenhaften Moment der Episode zu widmen. In ihrer Lesart wird hier der Wunsch nach der Synthese von »Phantasie und Ökonomie« artikuliert, so wie es im Sittlichkeitsdiskurs der Nationalökonomie vorgezeichnet ist (Brock: Kunst der Ökonomie, S.  157). Wo dieser optimistische Ausblick im Romantext selbst positiv gegeben ist, beibt dabei offen – der ›Zweikampf‹ der Rivalen, auf den Brock verweist (Brock: Kunst der Ökonomie, S. 157f. u. S. 158, Fn. 161), ist immerhin ein Kampf und kein ›Hand in Hand‹. Siehe dazu auch die Ausdeutung dieses ›brachialen Zweikampfs‹ als mythisch-archaischer Ausdruck des Sinnverlusts bei Peter von Matt: Gottfried Keller und der brachiale Zweikampf. In: Hans Wysling (Hg.), Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, München, Zürich 1990, S. 109–131. Keller selbst hatte bekanntlich die Erstfassung seines Buches im Sinne eines Antibildungsromans gedeutet: »Die Moral meines Buches ist: daß derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen.« Gottfried Keller: [Brief an Vieweg, Nr. 561]. In: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe. In vier Bänden, hg. von Carl Helbling, Bern 1950–1954, hier: Bd. 3,2, Bern 1953, S. 14–18, hier: S. 15.

stürzt der vermeintliche Vorzeigeökonom im Bestreben, Kosten bei der Sanierung des väterlichen Hauses zu sparen, vom Turmdach und liegt »zerschmettert und tot auf dem Pflaster«.327 In diesem Sturz kommt, poetologisch betrachtet, viel zusammen: Zum einen handelt es sich bei dem Unglücksort um ein »altes, wunderliches Gebäude«, »welches früher eine städtische Ritterwohnung gewesen« war.328 Meierleins Leben endet also in einem Setting, das mit den Rittergeschichten korrespondiert, mit denen Heinrichs Geldproblem seinen Anfang nahm. Auch Meierlein erscheint hier in gewissem Grade als verstiegener Phantast. Ausdrücklich wird sein Aktionismus, der sich mit der typisch gründerzeitlichen Übernahme adligen Besitzes durch das aufstrebende Bürgertum verbindet, als »Spekulation« gebrandmarkt.329 Es sind ungeläutert materialistische Spekulationen, für die Meierlein steht. Folgerichtig stürzt er beim Versuch, die Wetterfahne vom Dach zu entfernen – ein deutlicher Nachklang von jenem »goldenen Wetterhahne«, auf den der kindliche Heinrich seine diff use, romantische Gottesanschauung projizierte.330 Im Griff nach dem Transzendenzsymbol geraten Meierlein die situativen Gegebenheiten seiner luftigen Unternehmungen aus dem Blick. Fehlende Bodenhaftung wird dem postromantischen Eroberer zum Verhängnis. Von hier aus betrachtet, ist es gerade die Unfähigkeit Meierleins, die monetären Verhältnisse Heinrichs in seine Buchgeldspekulation mit einzubeziehen, die seine Ökonomie prekär macht. Ihr misslingt die Rückbindung des Buchwesens an externe Realisationsmöglichkeiten, d.h. die Übersetzung zwischen spekulativen Geldsurrogaten und zirkulationsfähigem Geld. Meierlein verkörpert in diesem Punkt jenes Problem der Deckung, das Roscher in seiner Krisentheorie diskutiert.331 Er vermehrt das Buchgeld, ohne sich im Sinne eines Realkredits auf die monetären Gegenwerte zu besinnen. Genauso wenig kümmert er sich im Sinne eines Personalkredits um die (offenkundig von vornherein fragwürdige) Solvenz des ›Geschäftspartners‹ Heinrich. Seine Spekulation wird in der Entkoppelung vom externen Handlungskontext und der Frage, mit welchen Gütern Heinrich in den Spielen bürgt, ebenso phantastisch autonom wie die Rittererzählungen und der noble Habitus seines Widersachers. Meierleins Sturz vom Turm korrespondiert denn auch mit Heinrichs tiefem Fall als »neuer Ikarus« am Ende seines geträumten Goldrauschs.332 Es sind Brüder im Geiste: Der eine wird zum Spekulanten, indem er der Eigendynamik seiner Kreditwirtschaft verfällt, der andere wirft im Traum mit Münzen um sich und verdirbt damit die bodenständige Warenwirtschaft. Hier wie dort straft der Romanverlauf den Medienmissbrauch ab: einmal schicksalhaft (Dachabsturz), einmal durch eine politische

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 160. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 159. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 159. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 34. Vgl. Abschnitt 2.2.2. dieser Arbeit. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 118f.

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Intervention (Tell). In der Doppelung aber gerät die Spekulation als solche zum überpersönlichen Problem. Gerade indem Keller die ökonomische Szene zwischen Meierlein und Heinrich nicht trennscharf nach richtigem oder falschem Verhalten entwirft, gelingt ihm, was in Texten des Poetischen Realismus selten ist: eine mehr als bloß moralische Schilderung der infrage stehenden Interaktion.333 Meierlein und Heinrich verfallen beide den Möglichkeiten ihrer kreditorientierten Spielanordnung. Ihre einerseits geschäftsmännische, andererseits ästhetische Lust gilt der Maximierung von Transaktionen und der damit verknüpften Vermehrung des autonomen Zeichengeldes. Die Szene gerät so zur Allegorie auf das Spekulationswesen der kapitalistischen Geld- und Kreditwirtschaft, das in letzter Instanz alle Beteiligten erfasst. Nicht von ungefähr sind bereits Heinrichs nutznießerische Schulkameraden in dezidierter Verallgemeinerung als »brave Geschäftsleute« angesprochen, wird wiederholt auf Meierleins unternehmerischen Auftritt verwiesen.334 Die Skepsis, die Kellers Roman auch in dieser Wirtschaftsreflexion entwickelt, richtet sich so weniger auf den individuell missglückten Entwicklungsgang seines Helden als auf die Macht der zeitgenössischen ökonomischen Mittel. Das Buchgeld und der Kredit, wie sie Meierlein einführt, sind dabei keinen Deut weniger prekär als das kosmopolitische, sozial zersetzende Münzgeld. Sie lösen die Zeichen vom monetären Handlungskontext ab, so wie das Geld seinerseits die Ware aus dem Gebrauchszusammenhang reißt. Auf beiden Ebenen diagnostiziert der Roman eine problematische Autonomisierung, die er jeweils mit Krisenszenarien beantwortet. Die Dekontextualisierung wird durch den ›Einbruch des Realen‹ beantwortet: Wo es an Geld zur Schulddeckung fehlt, gibt es Faustschläge. Dass der Roman die mediale Eigendynamik immer auch personal rahmt und die Episoden entsprechend moralisch einfärbt – Meierlein erscheint kühl und gerissen, Heinrich als Luftikus –, gehört zu den herkömmlichen Verfahrensweisen des Realismus. Vermittlungsprozesse sind im realistischen Text für gewöhnlich Anlass zur Bewährung. Die Aufmerksamkeit gilt den Figuren und ihren jeweiligen Umgangsweisen mit den Medien, den spekulativen und soliden. Ohne dieses dialektische Wechselspiel, ohne die Positionierung einer mehr oder minder frei gedachten Sittlichkeit gegenüber dem medial geformten Handlungsraum ist der kanonische realistische Weg nicht zu beschreiten. Bei Keller fällt die hoffnungsfrohe Deutung demgegenüber weitestgehend aus. Ökonomische Solidität können selbst die sich geschäftsmäßig gerierenden Widersacher des Helden nicht aufweisen.335 Das gibt der Medienreflexion

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Das heißt nicht, dass nicht ein beträchtlicher Teil der Keller-Forschung den Auftritt Meierleins in moralischen Begriffen fasst und in Meierlein etwa einen »ersten Vertreter des herzlosen Kapitalismus« erkennt (vgl. Stotz: Das Motiv des Geldes, S. 85). Zur Kritik dieser Vergröberungen vgl. Brock: Kunst der Ökonomie, S. 152f. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 1 (HKKA, Bd. 1), S. 143. In den Wirtschaftszenarien des Romans dominieren auch anderswo das Krisenmoment bzw. die »Abweichungen des idealen Austarierens von Angebot und Nachfrage« (Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 173). Da im Übrigen zentrale Passagen wie die hier

Kellers einen fatalistischen Anstrich. Von den entfremdenden Tendenzen des monetären oder bargeldlos vermittelten Wirtschaftsverkehrs ist bei Keller viel zu erfahren; von ordnungspolitischen, ›sittlichen‹ Regulierungsmöglichkeiten so gut wie nichts. 3.2.4.3. Durchblicken – Die finanzwirtschaftliche Intrige in Gustav Freytags Soll und Haben und Friedrich Spielhagens Sturmflut Das Gegenprogramm zu Keller legt Gustav Freytag in Soll und Haben vor und es darf als Mainstream-Entwurf der Geld- und Kreditproblematik im Realismus gelten. Berüchtigt ist das duale System des Romans, das den soliden deutschen Kolonialwarenhandel der gefährlich mobilen, jüdischen Finanzwirtschaft336 gegenüberstellt und dann die Handlungsträger wie Reißbrettfiguren auf der Skala dazwischen platziert. »Ihr wißt, ich mache keine Geldgeschäfte«, lässt Anton Wohlfart den gaunernden jüdischen Händler Tinkeles wissen und schafft sich und dem Leser damit ein stabiles Navigationssystem.337 Wo Geld aus Geld entstehen soll, da wird ein ehrbarer Held kaum angetroffen. Dieser Vorbehalt gegen die seit Aristoteles geächtete Chrematistik geht zusammen mit dem Pathos der Dingnähe, das den Roman durchzieht.338 Ein Geld- und Wechselwesen ist hier nur insofern gerechtfertigt, als es sich der Warendistribution unterordnet. Selbst Termingeschäfte, wie in Schröters Polen-Expedition thematisiert, sind als routinemäßige, potenziell stets in den unmittelbaren Tauschakt auflösbare Verkehrsmittel gedacht, nicht als Gegenstand spekulativer Finanzaktionen. Das Wort ›Kredit‹ wird zwischen Schröter und Wohlfart als Synonym für persönliche Integrität verwandt. Es steht für eine an sich nicht kalkulierbare Vertrauenswürdigkeit. Entweder man hat Kredit oder man hat ihn verspielt. Seine Geltung wird im besten Falle per Handschlag besiegelt. Diese Unmittelbarkeitsemphase trifft sich mit der zeitgenössischen ökonomischen Aufwertung des Personalkredits zum sozialen Bindeglied. Und sie hat weit

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diskutierte Meierlein-Episode zwischen der ersten und zweiten Fassung des Romans in ihren Grundzügen unverändert sind, scheint mir Breithaupts These, die Zweitfassung des Grünen Heinrich ordne sich in ein gänzlich neues Paradigma jenseits der moralisch konnotierten Ökonomie des klassischen Selbst-Interesses ein, nämlich in die durch eine expansive Ökonomie bestimmte Welt der »Sphären«, wobei sie dann »als Reaktion auf Mengers Theorie der Volkswirtschaft zu lesen« sei, deutlich überinterpretiert. Vgl. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 172. Zum antisemitischen Kontext der fi nanzwirtschaft lichen Ressentiments siehe Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009, insbesondere: S. 39–102. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 100. Siehe Abschnitt 3.2.1.2. dieser Arbeit. Vgl. zum Problemkreis der Spekulation in Soll und Haben und Sturmflut auch Dirk Hempel: Spieler, Spekulanten, Bankrotteure. Bürgerlichkeit und Ökonomie in der Literatur des Realismus. In: Dirk Hempel/Christine Künzel (Hg.), »Denn wovon lebt der Mensch«. Literatur und Wirtschaft, Frankfurt a.M. et al. 2009, S. 97–115.

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reichende Konsequenzen für den Roman. Denn auch die jüdische Gegenseite unterliegt dem Programm der Nähe, das alle mittelbaren Verhältnisse auf transparente, klar situierte Einzelhandlungen zurückzuführen beansprucht. Die ›Versachlichung‹ von Interaktion fehlt, und damit ist auch die makroökonomische Einsicht, dass sich institutionell verschaltete Handlungen nicht notwendig mit einem subjektiven Spielraum decken339, ausgeschlossen. Jeder ist in vollem Umfang verantwortlich, in jedem Moment. Geld-, Hypotheken- und Wechselgeschäfte kommen da nicht in ihrer medialen Eigenlogik in den Blick, sondern bleiben Anhängsel für die primär moralische Einkleidung der Figuren. Das führt letztlich in die Tautologie: Kreditgeschäfte und Kapitalbewegungen sind schlecht, weil sie von den Schlechtgesinnten unternommen werden. Schon beim ersten Auftritt des Juden Ehrenthal, der die Beleihung und letztlich den Ruin des Gutes Rothsattel einleiten wird, ist der Erzähler bemüht, die Figur umgehend ins rechte, sittliche Licht zu rücken: »Es war Schade, daß der Freiherr nicht das Gesicht des Geschäftsmannes sah«, heißt es, als dieser gierig nach dem Anwesen schielt.340 Der Baron seinerseits veranschaulicht die Konsequenzen einer Führungsschwäche, die das redliche Credo »Ich mache keine Geldgeschäfte« aufzugeben bereit ist.341 Der moralische Zuschnitt lässt dem Roman denn auch nur eine Möglichkeit, um das Handlungsgerüst in Bewegung zu setzen: die Intrige. Bereits das erste Kreditgeschäft ist hier als Schurkerei angelegt. Rothsattel hat auf Anraten Ehrenthals Teile seines Gutes verpfändet. 45.000 Taler in Pfandbriefen warten nunmehr in einer Schatulle auf ihre Investition. Und Ehrenthal zeigt einen profitablen Weg auf. 10.000 Taler borgt sich der »Geldmann« per Wechsel von Rothsattel, um eine Ladung Holz aufzukaufen, die er mit 4.000 Talern Gewinn abzusetzen verspricht.342 Der Gewinn wird geteilt. Dass an dieser ungewöhnlich großen Rendite bei garantiert ausgeschlossenem Risiko etwas faul sein muss, fällt selbst dem Baron auf. Doch fragt er nicht allzu weit nach. Tatsächlich hilft Ehrenthal mit seinem Ankauf einem Pleitier, der Holzproduzenten (es sind Adlige wie Rothsattel) eine ungleich größere Ankaufsumme schuldet, sich in die Fremde abzusetzen. Das lukrative Geschäft ist am Beginn der Verwertungskette ein handfester Betrug. Die Opfer werden den Baron später davon in Kenntnis setzen343, und Rothsattel hat dann die Gelegenheit, durch einen Kopfschuss, an dem er erblindet, seine Reue zu bezeugen. Eine solche Reue kennt Ehrenthal selbstredend nicht. Die Erblindung des Barons darf symbolisch aufgefasst werden. Gerade seine Unfähigkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, lässt ihn in die Hände der Intriganten

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Vgl. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie [1886]. In: MEW, Bd. 21, Berlin 1962, S. 291–307, hier: S. 296–298. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 40. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 38. Diese Stelle zwischen Rothsattel und Ehrenthal steht in direkter Opposition zu Antons Umgang mit Tinkeles. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 100. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 95. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 194f.

geraten, die ihren bloßen Informationsvorsprung ausnutzen. Sinnfälligerweise versäumt er, die Angaben Ehrenthals über den Holzhändler und den Ort des Geschäfts nachzurecherchieren. Die Führungskrise des Barons, die seinen Besitzstand ruiniert, resultiert aus seiner Passivität. Er schaltet Agenten dort dazwischen, wo solide Ökonomen wie Schröter und Wohlfart selbst mobil werden und Waren anpacken. Hypotheken auf den eigenen Grund und Boden, als Investitionskredit gedacht, geraten ihm regelmäßig zum Konsumkredit. Statt sich dem Aufbau seiner Rübenfabrik zu widmen, kauft er seiner Gemahlin »Schmuck von Türkisen«.344 Das alles umreißt eine unökonomische Disposition, durch die der Roman das eigentliche Skandalon motiviert sieht: die Überführung des eigenen Anwesens in eine neue Wirtschaftsform mittels fremder Kapitalien. »Wehe aber dem Landwirt, dem der Grund unter seinen Füßen fremden Gewalten verfällt!«345 Wehe dem, der etwas anderes ist als Eigentümer-Unternehmer! Anleihen und Aktionärsbeteiligungen zugunsten des industriellen Aufbaus – wahrlich keine außergewöhnlichen Mittel des gründerzeitlichen Booms – sind diesem Roman von Grund auf verdächtig. Sie sind verdächtig, nicht aus einer immanenten Logik heraus, sondern weil sie von verdächtigen Spekulanten bewegt werden. Darin liegt die besagte Tautologie. Ehrenthals Rolle in dem Betrugsfall hält der Roman noch bewusst offen: »Vielleicht wußte Ehrenthal das«, heißt es in untypischer externer Fokalisierung über das Geschäft mit dem kriminellen Holzhändler.346 Soll heißen: Vielleicht wusste Ehrenthal, dass das Geschäft dem Spekulanten hilft, sich seinen Gläubigern zu entziehen. Auf der Skala des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhaltens besetzt er die vorletzte Stelle: Er agiert wider die guten Sitten, nicht wider das Gesetz. In diesem Sinne klärt Anton den zwar schwächlichen, aber integeren und um die moralische Verfassung seines Vaters besorgten Studiosus Bernhard behutsam auf: Ich kenne keine einzelne Handlung Ihres Vaters, welche nach kaufmännischen Begriffen unehrenhaft ist. Ich weiß nur, daß er zu der großen Klasse von Erwerbenden gezählt wird, welche bei ihren Geschäften nicht sehr danach fragen, ob ihr eigener Vorteil durch den Verluste Anderer erkauft wird. […] Er wird vielleicht Manches thun, was ein Kaufmann von sicherem Selbstgefühl vermeidet, aber er wird sicher auch gegen Vieles Widerwillen empfi nden, was gewissenlose Speculanten um ihn herum wagen.347

Ehrenthals windige Geschäfte mögen nicht eben von einem ›sicheren Selbstgefühl‹ geprägt sein, allein für eine umfassende soziale Ächtung erregen sie zu wenig Anstoß. Diese Einschätzung Antons wird später durch die Erzählerstimme korrigiert, wenn sie mit ihrer ganzen auktorialen Wucht das unheilvolle Schicksal der EhrenthalTochter Rosalie begrüßt:

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 98. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 117. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 96. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 174f.

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Du wirst keine Verlobung, kein Hochzeitsfest feiern mit deinem vielversprechenden Bräutigam; du wirst in den nächsten Tagen mit gesenktem Haupt über die Straße eilen, und wo du vorübergehst, werden die Leute einander anstoßen und flüstern: »Das ist seine Braut.« […] [D]u hast ein glänzendes Aussehen, und dein Vater hat viel Geld zusammengescharrt; du fi ndest mehr als Einen, der bereit ist, der Nachfolger von Itzig zu werden. Dein Loos ist, Einem heimzufallen, der dein Capital heiratet und deine Glieder mit vergnügtem Lachen in Kauf nimmt, und du wirst ihn vom ersten Tage deiner Ehe an verachten, und wirst ihn ertragen, wie man einen Schaden trägt, den der Arzt nicht wegschaffen kann.348

Schimpf und Schande, die hier reichlich vermessen über der Nebenfigur Rosalie ausgekippt werden, stellen wohl eine Übertragung dar. Man muss sie als Chiasmus auf des Vaters Geschäft beziehen: So wie der Ruchlose für Geld nahezu alles macht, so macht dieses infizierte Geld alle Beteiligten ruchlos. Krankheit gebiert Krankheit in einem Kapitalverkehr, der sich nicht moralisch aussteuert. Das Geld aber, welches der alte Ehrental durch Wucher und Schlauheit mit tausend Sorgen für seine Kinder zusammengebracht hat, das wird wieder rollen aus einer Hand in die andere, es wird dienen den Guten und Bösen, und wird dahinfließen in den mächtigen Strom der Capitalien, dessen Bewegung das Menschenleben erhält und verschönert, das Volk und den Staat groß macht und den Einzelnen stark oder elend, je nach seinem Thun.349

Gut oder böse ist man, noch ehe der Taler rollt. Dieses moralische Apriori, das keine Rückkoppelungsfragen zulässt und im Kern finanzwirtschaftlich unterbelichtet bleibt, bestimmt das Credo dieses Buches. Um seine Pointe herauszukehren, reicht allerdings die lediglich leichte sittliche Einfärbung des Falles Ehrenthals nicht aus. So braucht es Veitel Itzig, um die ganze Abgründigkeit spekulativer Existenz offenzulegen. Auch Itzig probiert lange Zeit, sich juristisch unanfechtbar zu halten, indem er den Gesetzesraum bis in die letzten Schlupfwinkel ausleuchtet. Anleitung holt er sich dafür von dem heruntergekommenen Advokaten Hippus. Dieser Rechtsverdreher ist hier die eigentlich sinistere Figur. Aus gutem Grund: In einem Roman, der in seinen Arrangements auf ein maximales Ordnungsbegehren setzt, stellt der Rabulist, der die Gesetze aushöhlt, zwangsläufig die höchste Gefährdung dar. Hippus kanalisiert den bis dato lediglich eigennützigen Eifer des Veitel Itzig und lenkt ihn in kriminelle Bahnen. Der Vertragsschluss zwischen beiden lässt entsprechend deutlich das Teufelspaktmotiv anklingen.350 Hippus unterweist Itzig in der Kunst der getürkten Schuldverschreibungen, führt ihn in die »tiefsten Geheimnisse des Wechselrechts und der Hypothekenordnung« ein und bereitet so den Weg für Itzigs finanziellen Aufstieg.351 Als jedoch das zentrale Projekt, die Übernahme des verpfändeten Familiensitzes der Rothsattels, zu kippen droht,

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Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 306f. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 307. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S.153–156. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 157.

überschreitet Itzig die Demarkationslinie zwischen Unsitte und Verbrechen. Er inszeniert einen Diebstahl der Rothsattel-Hypotheken im Hause Ehrenthals. Noch während Bernhard Ehrenthal, so ökonomisch irrational wie poetisch entrückt, die Rückgabe der Pfandbriefe an die alten Grundbesitzer erzwingt, entwendet Hippus, inzwischen zu Itzigs Handlanger verkommen, diese hinterrücks. Der weitere Ablauf ist bekannt. Anton Wohlfart kommt der Intrige kriminalistisch auf die Spur, setzt durch seine Nachforschungen die Schuldigen unter Druck und zwingt sie ins Verderben. Die angestrebte Hochzeit mit Rosalie Ehrenthal, die es Itzig ermöglichen sollte, die Hypothekenbriefe zurückzubefördern und so endlich nutzbar zu machen, fällt aus. Itzig bringt stattdessen seinen desolaten Kompagnon und Mitwisser Hippus um und macht sich danach selbst, von den Erinnyen geplagt, im Fluss ein Ende. Es ist die grelle Katastrophe eines Schurkenstückes352, das seine Logik aus einem eher globalen Unbehagen am Finanzsystem bezieht. Statt auf einen wirtschaftlichen Ruin, der aus den spekulativen Verstrickungen heraus zu entwickeln wäre, baut der Roman auf den melodramatischen Sündenfall. D.h. er färbt von außen moralisch ein, was ihm aus den inneren Zusammenhängen heraus nicht darstellbar wird. Fehlspekulationen, übersteigerte Erwartungen, Konkurrenzeffekte, Marktbewegungen, Informationsverluste – solche eher profanen Komponenten eines wirtschaftlichen und dann in der Konsequenz möglicherweise auch moralischen Kollapses kommen hier nicht in den Blick. Denn das Finanzsystem im Ganzen ist suspekt und bleibt daher notwendig unanalysiert. In dem vermeintlichen ökonomischen Vorzeigeroman des Realismus werden die Ereignisse letztlich nicht ökonomisch vorangetrieben, sondern sittlich, aus einem ungebrochenen Handlungs- und Verantwortungsdenken heraus. Die Dunkelmänner der Finanz – Friedrich Spielhagens Sturmflut Mit dieser Vorgehensweise steht Soll und Haben allerdings nicht allein da. Friedrich Spielhagens Sturmflut (1876), der zweite große Publikumserfolg des Realismus, der mit ökonomischem Sujet punktet, verfährt ganz ähnlich.353 Dabei wären die in

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Von einer Tragödie möchte man hier, anders als es Fontane tat, kaum sprechen angesichts der wenig rühmlichen und ergo nicht pathosfähigen Zeichnung des Veitel Itzig. Vgl. Fontane: Gustav Freytag. »Soll und Haben«. Die Unterschiede zwischen der tendenziell großbürgerlichen, nationalliberalen Haltung Freytags und der demokratischen, sozialliberalen Einstellung Spielhagens ebenso wie ihre persönlichen Differenzen sind in der Forschung regelmäßig zur Sprache gekommen. Vgl. Worthmann: Probleme des Zeitromans, S. 100–103; Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 91f.; Sammons: Friedrich Spielhagen, S. 85 u. S. 306f. Für Leo Löwenthal markieren die beiden Schrift steller zwei Phasen des Liberalismus nach 1848: die Phase des materialistischen Wirtschaftsoptimismus in einem »Kapitalismus mit mäßigen Mitteln« bis 1870 (Freytag) und die Phase der gründerzeitlichen Beschleunigung des Hochkapitalismus (nach 1870), in der politische Akzente und Steuerungsbegehren wieder vermehrt in den Vordergrund rücken (Spielhagen). Vgl. Löwenthal: Erzählkunst

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den höchsten Gesellschaftskreisen angesiedelten Verwicklungen an sich schon problematisch genug: Da wirkt ein Konsortium von Eisenbahnspekulanten auf den Bau eines Kriegshafens auf der fi ktiven Ostseeinsel Warnow hin, um eine neue Bahnlinie Sundin-Wissow eröffnen zu können. Diese Gründung soll ihrerseits die in die Krise geratene Berlin-Sundiner Eisenbahngesellschaft stützen. Problematischerweise hat ein Verwaltungsgutachten die geplante Bahnstrecke bereits als unrentabel eingestuft , und im Verteidigungsministerium ist man von der ›Unzweckmäßigkeit‹ des projektierten Hafens überzeugt. Die Gutachter in beiden Fragen tauchen schon in der ersten Szene des Buches auf: der Präsident von Sanden und der General von Werben. Zu ihnen stößt bald ein Held mit Vorbildcharakter, Kauffahrerkapitän Reinhold Schmidt.354 Er wird später eine orts- und sachkundige Expertise anfertigen, die der gründerkritischen Partei starke Argumente gegen die Konzessionierung des Hafens liefert. Diesen Verfechtern der guten Sache treten die Akrobaten der Hochfinanz gegenüber, denen die tatsächliche Lage vor Ort relativ egal ist, solange sich mit der Unternehmung nur die Preise steigern und Gewinne einfahren lassen. Unter diesen Spekulanten ragt heraus: Graf von Golm, ein tief verschuldeter Insulaner, der nach einer Möglichkeit sucht, seine Grundstückswerte auf Warnow durch die Eisenbahnanbindung zu erhöhen. Taktisch und ökonomisch ist Golm eher ungeschickt, kann aber gerade deshalb von seinen Mitstreitern als adliger »Leithammel« vorgespannt werden, durch den sich die Aktiengesellschaft breitenwirksames Renommee erhofft .355 Ähnlich Golm gerät auch der Adelssohn Ottomar von Werben weniger als Stratege denn als Waghals und Pleitier in den Strudel der Spekulation. Wie den meisten beteiligten Adligen (u.a. Strummin) geht es ihm um einen vermeintlich leichten Ausweg aus seinen angehäuften Schulden. Eigenständiger und aktiver agiert da der bürgerliche »General-Entrepreneur« der Berlin-Sundiner Eisenbahngesellschaft, Philipp Schmidt.356 Philipp ist der Cousin des Protagonisten Reinhold und der Sohn des

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und Gesellschaft , S.  120–124 u. S.  137–139. Entsprechend beobachtet Dirk Hempel in Sturmflut den Versuch, ein neues Ideal von Bürgerlichkeit angesichts wachsender Verfallserscheinungen der moralisch codierten Ökonomie zu propagieren. Vgl. Hempel: Spieler, Spekulanten, Bankrotteure, S. 110f. Im Folgenden geht es demgegenüber eine Stufe fundamentaler um die durchgehenden Ordnungsakzente (dazu auch Abschnitt 5.2.3. dieser Arbeit) und die Gemeinsamkeiten in der Artikulation fi nanzökonomischer Kritik, die letztlich auf die Gemeinsamkeit realistischer Wirklichkeitskonzeption verweist. Aufgrund seiner stabilen Anlage ist er zu Recht als ›nomineller Held‹ angesprochen worden. Vgl. Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 97. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 278. Die kritische Literatursoziologie des 1970er Jahre hat auf Philipp Schmidt (ein literarischer Widergänger aufstrebender Aktienunternehmer der Gründerzeit wie Dr. Barthel Heinrich Strousberg) ihr Hauptaugenmerk gelegt und in ihm die epochale Wandlung des ›citoyens‹ zum ›bourgois‹ nachvollzogen. Vgl. Bernd Neumann: Friedrich Spielhagen: Sturmflut (1877). Die »Gründerjahre« als die »Signatur des Jahrhunderts«. In: Horst Denkler (Hg.), Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 260–273, hier: S. 266–270.

Fabrikanten Ernst Schmidt. Dass sein Lebenswandel zwar ökonomisch gewandter, doch im Gesamten kaum weniger solide als der adlige ist, wird im Konflikt mit seinem Vater manifest. Seine ersten Aktienbeteiligungen tätigte Philipp mit geliehenem Kapital, das dieser ihm zum Bau von billigen Arbeiterwohnungen überlassen hatte.357 Der Betrug am Vater steht am Anfang seines märchenhaften Gründerreichtums und weiterer Betrug an Kleinaktionären, die man mit luftigen Bauprojekten ködert, soll diesen Reichtum zementieren. Der Plot ist also durchaus detailfreudig gearbeitet, lehnt sich stabil an konkrete Geschehnisse während der Gründerkrise von 1873 an358 und bleibt dabei stets orientiert an den groben Koordinaten, die der ökonomische Krisendiskurs der Zeit vorgibt. Krisen entstehen, wo lokale Bedürfnisse qualitativ oder quantitativ falsch eingeschätzt werden und der Markt entsprechende Investitionsbemühungen überbewertet. Man denke an die ›Schlittschuhe in Brasilien‹, die Roscher in seiner Lehre von den Absatzkrisen erwähnt.359 Intransparenz ist der Ursprung aller Spekulation und die realistische Wirtschaftspolitik setzt dagegen auf die Informationsmaximierung durch den Ausbau der statistischen Analyse. Das Gutachterteam um General von Werben, Präsident von Sanden und Reinhold Schmidt bringt eine solche Sachkunde ein, die monetäre Verwicklungen verhindern soll, indem sie ›reale Bedürfnisse‹ und die ihnen angemessenen Produkte untersucht. Die Fragen lauten dann, ob die Insel eine Chaussee oder einen Eisenbahnweg braucht, einen Kriegshafen im Norden, im Osten oder überhaupt keinen. Da aber hierdurch die kritische Intransparenz des über Aktien vermittelten Produktionszusammenhangs vermindert wird, verändert sich die Rolle der Spekulanten. Nicht mehr als Opfer komplexer Märkte erscheinen sie, sondern als Betrüger, die wider besseres Wissen handeln. Sie werden zu echten Gegenspielern, die die Voten der Gutachter übergehen, ja in den Ministerien gegen sie polemisieren, um ihre riskanten Unternehmungen letztlich auf Kosten der Kleinanleger durchzudrücken. Die moralische Zuspitzung sucht auch Sturmflut in einem furiosen dramatischen Spektakel. Als der Sturm zunächst in den Straßen Berlins, dann an der Küste aufbraust und die Eisenbahn-Spekulationsblase zerplatzt360, werden die Akteure zur Kenntlichkeit entstellt: Dass Graf Golm mit Clara von Wallbach, die er unrühmlich verführt hat, symbolträchtig in den Ostseefluten umkommt, gerät noch zur Nebenepisode. Das eigentlich despektierliche und schließlich kriminelle Verhalten obliegt hier den Söhnen der Protagonisten: Philipp Schmidt stiehlt vier Millionen Taler aus den Einlagen seiner Gesellschaft, will sich nach Chile absetzen, erschießt sich dann

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 2, S. 37. Zu konkreten Hinweisen auf die Krise, die im Anschluss an die französischen Reparationszahlungen nach 1871 eintrat, siehe Sammons: Friedrich Spielhagen, S. 182–186. Vgl. Abschnitt 2.2.2. dieser Arbeit. Zur Verankerung dieses Plots in der zeitgenössischen Kollektivsymbolik vgl. Drews/ Gerhard: Wissen, Kollektivsymbolik und Literatur am Beispiel von Friedrich Spielhagens »Sturmflut«, besonders: S. 713f.

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jedoch auf einem Schiff in Bremerhaven, kurz bevor ihn die Polizei festsetzen kann. Ottomar von Werben wiederum wird der Fälschung von Wechseln überführt und stirbt später im Bemühen um Rehabilitation durch die Hand des Schurken Antonio. Erschüttert konstatiert General von Werben die moralische wie ökonomische Auflösung der Ständeordnung: Der »bürgerliche Banquerotteur und der adlige Fälscher – sie standen auf einer Stufe«.361 Die komplexe Spekulationsverwicklung gerinnt zum moralischen Schaubild, das familiär verankert ist.362 Entlang der Vater-Sohn-Achse entwickelt der Roman seine Kritik des neureichen Finanzkapitalismus und verbindet sie mit einer demokratischen Pointe. Adliges Beamtentum und bürgerliche Produktion dürfen zusammenfinden, wo Kredite versiegen und Wertpapiere null und nichtig werden. Über dem sittlichen Bankrott der Nachkommen versöhnen sich die seit 1848 rivalisierenden Patrone von Werben und Schmidt. Als Zeugnis ihrer neu geschaffenen Verbindung ehelicht Else von Werben Schmidts integren Neffen Reinhold, dem für seine Verdienste um die öffentliche Sicherheit ein Posten im Ministerium angetragen wird. Sachkenntnis, militärischer Tatendrang und Liebe jenseits des Ständedenkens obsiegen hier. Es ist eine Verklärung der Verbürgerlichung aus dem Geiste des Romeo-und-Julia-Motivs, aber sie geht auf Kosten der ökonomischen Vielschichtigkeit. Denn für den Triumph des Herzens lässt der Roman seine so sorgsam angelegten Aktienverwicklungen fahren.363 Der Schlüssel dazu liegt in einem Testament, das den Finanzplot mit dem Familienstück koordiniert. Dieses Testament stammt aus der Feder des Barons Warnow, des Gatten der Baronin Valerie Warnow, die ihrerseits die Schwester des Generals von Werben ist. Es ist Produkt einer heroischen Entsagung: Verzagt über eine außereheliche Liaison seiner Frau mit dem Italiener Gregorio Giraldi – einer Liaison, »die unzweifelhaft zur Categorie der dangereuses gehörte« – will Baron Warnow im Jahre 1845 sein Vermögen seinem Schwager von Werben übertragen.364 Doch dieser lehnt ganz selbstlos ab und regt stattdessen eine testamentarische Klausel an, die das angeschlagene Besitz- und Standesverhältnis neu zu ordnen helfen soll. Zu gleichen Teilen fällt das Erbe an die Baronin und die Kinder von Werbens, so lange sich ein jeder standesgemäß verheiratet. Der Baronin wird eine Ehe mit dem bürgerlichen Giraldi verwehrt und gleichzeitig ein reuiger Ausweg in eine zweite ehrbare Heirat aufgezeigt. Auch auf die Kinder des Generals, Else und

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 228. Die Methode, ›Übersicht‹ in der Diegese durch eine enge Verwandtschafts- und Bekanntschaftsstruktur zwischen den Figuren herzustellen, ist schon früh Angriffspunkt der Kritik geworden. Vgl. exemplarisch Hellmann: Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst, S. 95f. Zur Problematik der schematischen personalen Einrichtung des zeitgeschichtlichen Stoff s in Sturmflut vgl. Worthmann: Probleme des Zeitromans, S.  109–113. Dazu auch Victor Klemperer: Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln, Weimar 1913, S. 116– 126. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 269.

Ottomar, soll die Testamentsverfügung disziplinierend wirken, auf dass sich Gleich zu Gleich geselle. Für Pikanterie sorgt dann, dass auch diese potenziellen Erben sich für Bürgerliche begeistern, die jeweils dem Hause Schmidt entstammen: Ottomar bändelt mit der Hobbykünstlerin Ferdinande an, und Else schenkt ihr Herz, wie erwähnt, dem Schiffskapitän Reinhold. Wer standesgemäß heiratet, erbt kolossal; wer sich anderweitig liiert, muss mit dem Pflichtteil bzw. ganz ohne Erbschaft auskommen – diese testamentarische Spielregel füllt der Roman also durch einen relativ simplen Antagonismus von Neigung und Geldinteresse auf. Wo beide Belange ineinander greifen, sich Geld- und Herzensangelegenheiten vermischen, wie im Fall Ottomars, da entsteht Platz für die Intrige. Die Entproblematisierung wird demgegenüber durch eine wiederum entsagungsbereite Abkehr vom Besitzstandsdenken geleistet. Reinhold und Else versprechen sich einander in bester Zuversicht, dass ihre Ehe ohne die Warnow’sche Finanzspritze auskommt.365 Dieser Triumph des Herzens verbindet sich mit dem Vertrauen in den eigenen staatstreuen und militärisch pflichtbewussten Tatendrang und wird im Finale entsprechend durch eine Verbeamtung belohnt, wenn Reinhold, der tüchtige Streiter im Sturm, in den Ministerialdienst tritt. Die monetäre Vergütung nach den Vorschriften des Testaments bleibt aus gutem Grund aus. Denn das monetäre Kalkül, das sich im Interferenzbereich zwischen Neigung und materiellen Interessen ansiedelt, lagert ganz auf Seiten des Gegenspielers Gregorio Giraldi, des dämonischen Verwalters und Bettgenossen der Baronin Warnow. Mit nationalistischen und antikatholischen Klischees behaftet366, füllt dieser päpstliche Diplomat aus Italien die Rolle des ›Anderen‹ aus, die im Realismus so oft jüdischen Handlungsträgern aufgebürdet wird. Mit diabolischer Allmacht hält Giraldi das Familien- und Finanzgespinst des Romans in seinen Händen. Er treibt die Kapitalisierung der Warnow’schen Güter voran, forciert die Wechselfälschungen Ottomars und intrigiert überhaupt eifrig gegen von Werbens Kinder, um sich und seiner ihm lange Zeit hörigen Baronin das gesamte Erbe zu sichern. Leitmotivisch hebt der Roman auf den kühlen Blick, die Auffassungsgabe und die bedrohliche Omnipräsenz Giraldis ab. Überall operieren seine Mittelsmänner, schickt er die Aktienspekulanten wie Schachfiguren über das gründerzeitliche Spielbrett. Giraldi ist der Mann, »der Alles durchschaute, Alles wußte, als stünde er mit dem bösen Teufel im Bunde«367, der Mann, der »Leib und Seele zu verderben, dem Abgrund selbst entstiegen scheint«.368 Diesen finsteren Konnotationen angemessen gönnt sich der Roman mit der Figur

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Vgl. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 43f. Vgl. Italo Michele Battafarano/Hildegard Eilert: Italiener als Spitzbuben in Eugenie Marlitts »Die zwölf Apostel«, Friedrich Spielhagens »Sturmflut« und Julius Stindes »Buchholzens in Italien«. In: Manfred Durzak/Beate Laudenberg (Hg.), Literatur im interkulturellen Dialog. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Christoph Graf v. Nayhauss, Bern et al. 2000, S. 269–313, hier: S. 282–296. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 2, S. 344. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 70.

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einen Schluss aus dem Geiste der gothic novel. Als der Sturm einbricht, steht Giraldi in der Ahnengalerie des Schlosses vor dem Gemälde des letzten Hausherrn von Warnow, den er zu beerben trachtete. Wie zur Warnung stürzt ihm das Bild entgegen.369 Auch Giraldi wird die Übernahme des alten adligen Besitzes qua Finanztücke nicht gelingen, gleich all den anderen gescheiterten Intriganten gegen Grund und Boden: Veitel Itzig, Hirsch Ehrenthal, Meierlein. Als der finstere Strippenzieher erkennen muss, dass sich Valerie – unter dem Einfluss ihrer zur karitativen Heldin verklärten Nichte Else – von ihm abwendet, flieht er mit den Warnow’schen Bankeinlagen. Doch stirbt er in den Fluten, im Zweikampf mit seinem ausgestoßenen Sohn Antonio, dem Mörder Ottomars. Und das gewissermaßen infizierte Geld – »es ist ein schauerlicher Gedanke: eine solche Erbschaft!« 370 – geht mit den Missetätern unter. Kleinteiliges Kalkül ist dieses Romans Sache letztlich nicht. Wo er zunächst ein buntes Figurentableau anlegt, differenzierte Mischverhältnisse und Abwägungen zwischen materiellen und emotionalen Belangen zulässt, da wischt er sie mit zunehmender Plotdauer im Handstreich fort. In der Überhöhung des Kreditjongleurs Giraldi zum diabolischen Zentrum der Verwicklungen gibt er seine Allegorie der Finanzwirtschaft. Sie ist von Grund auf unsolide, baut auf Informationsvorsprung gegenüber Mitteilnehmern, nicht aber auf sachliche Angemessenheit gegenüber dem Investitionsraum. Instrumentalisierung und Übertölpelung der anderen zum eigenen Vorteil bestimmt das Handlungsprogramm. Vom Grad des Überblicks über die Verhältnisse, durch den der jeweilige Aktionsrahmen festgelegt ist, hängt dann der moralische Index ab. Das ist verantwortungsethisch gedacht und sorgt dafür, dass ein verblendeter Akteur wie Herr von Strummin lediglich sittlich diskreditiert ist, wenn er in der Erwartung großer Aktiengewinne die Verlobung seiner Tochter Mieting mit dem Künstler Justus abbläst, um dann später im Bankrott doch einzuwilligen, als sich das bescheidene, aber solide Vermögen des ›Steinklopfers‹ rettend ausnimmt. Alle Figuren mit größerem Aktionsrahmen innerhalb dieses per se infektiösen Raums der Finanzen wechseln, wie gesagt, bald ins kriminelle Fach, an dessen Spitze Giraldi als Inkarnation des bösen Prinzips, als Versucher und Verderber, wirkt. Dass diese Negativrollen sich weniger ihrem immanenten metonymischen Handlungsprogramm als der poetischen Notwendigkeit zur Verklärung verdanken, wird in den Komplementärfiguren deutlich. Da gibt es den leidenden und von seinen Instinkten fehlgeleiteten Kleinaktionär, den altersschwachen Buchhalter Kreisel. Auch er ist ein Verblendeter, will sich zunächst dem Sozialismus anschließen – was der Romanprotagonist Reinhold scharf abkanzelt –, verlegt sich dann aber auf das ›Börsenspiel‹, um seiner Tochter eine Rente zu verschaffen. Als jemand, der in einem Strom mitschwimmt, der anderswo, nämlich bei den ›echten Spekulanten‹, seine Quelle hat, fällt relativ wenig Schimpf auf ihn. Er stirbt denn auch nicht gewaltsam, sondern eben

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 277. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 372.

an Altersschwäche. In seiner Tochter aber, der blinden und gütigen Cilli371, findet der Roman das allegorische Gegenangebot zu Giraldi372: Entsagungsbereit (Justus und Reinhold werden von ihr jeweils in ihre neuen Partnerschaften hineingeleitet) und eben seherisch blind gibt sie die heilige Jungfrau, die im Umfeld der Fabrikantenfamilie Schmidt für sittliche Orientierung sorgt. Ferdinande modelliert nach ihr eine Pieta und betet davor.373 Wenn Reinhold mit ihr redet, dann ist es ihm, »als ob der Himmlischen Einer zu mir spräche!«374 So versichert sich der Roman seines dualen Koordinatensystems: gut und böse, jungfräulich uneigennützig und ehebrecherisch eigennützig, heilig und dämonisch, geldfrei und finanzkapitalistisch, häuslich und parasitär am fremden adligen Bestand nagend. Die Grundskepsis, die Sturmflut gegen die Finanzwelt hegt und mit dieser poetischen Einfärbung unterstreicht, führt hier – anders als in Soll und Haben – dazu, dass aus den Handlungen der einzelnen Akteure für den im Titel angezeigten Aktienplot relativ wenig folgt. Reinhold verfasst eine Expertise gegen den Hafenbau, doch vermag diese nicht zu verhindern, dass anonym bleibende Ministerialbeamte die Konzession für den Bau doch geben. Das Gutachten dient dem Nachweis personaler Kompetenz und zeitigt auch lokalen Erfolg, wenn der Held im Finale mit einem Karriereschritt belohnt wird. Doch für die Aktienverstrickung spielt es keine Rolle. Die eingangs sorgsam ausgelegte Krisentheorie, dass sich die Gründerspekulationen an den tatsächlichen Gegebenheiten der Bauwirtschaft vorbeientwickeln, kommt narrativ nicht zum Tragen. Sie dient vielmehr als Hintergrundthese, die sich metonymisch im Roman nicht einholen lässt. Das Platzen der Spekulationsblase vollzieht sich denn als stets antizipierter, nicht aber motivierter Deus-ex-Machina-Einbruch in das Geschehen, wobei der zeitgenössische Kontext des Gründerkrachs von 1873, auf den u.a. mit dem Verweis auf eine Rede des Reichstagsabgeordneten Eduard Lasker vom 12.  Mai auch explizit angespielt wird, hier stützend wirkt.375 Der Roman etabliert,

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Als Ausdruck einer trivialisierten Romantik ist die Figur in der Spielhagen-Forschung ausgiebig problematisiert worden. Vgl. Worthmann: Probleme des Zeitromans, S. 111. Zur ›suggestiven‹, idealistischen Überhöhung der beiden Figuren, die einer Entmetonymisierung gleichkommt, vgl. auch Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 206–112. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, S. 191. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 2, S. 295. Spielhagen hatte erwogen, den mit ihm befreundeten Lasker – ein Vorzeigepolitiker mit »seltener Selbstverleugnung und Entsagung« (wie sein Biograph Hans Hennig den Historiker Wilhelm Oncken zitiert) – zum Helden des Romans zu machen. Doch erschien ihm Lasker als vehementer Aufk lärer des Gründerschwindels »zu aktiv« im Geschehen, zu sehr disponiert, allein das Interesse zu absorbieren, als dass er einen idealtypischen Helden für einen panoramatischen Zeitroman hätte abgeben können. Vgl. Hans Henning: Friedrich Spielhagen, Leipzig 1910, S. 196. Siehe dazu auch die Selbstaussagen des Autors Friedrich Spielhagen: Wie ich zu dem Helden von »Sturmflut« kam. In: Friedrich Spielhagen, Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 208–224, hier: S. 220. Vgl. zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen auch Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 102f.

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anders gesagt, mit dem Aktienschwindel einen in toto problematischen Raum finanzwirtschaftlicher Aktivität, der auch nur in toto überwunden bzw. abgelehnt werden kann. So hatte es der Präsident von Sanden, dieser stabile und treue Ministerialbeamte, der zum Mentor Reinholds wird, kurz vor dem Umbruch der Situation dargelegt: Nehmen Sie diese Eisenbahn-Affaire! – sie ist Schein, wohin Sie auch blicken: Schein sind die Gründe, die für sie plaidirt werden – gute Chausseen, anständige Communalwege sind Alles, was wir für die bescheidenen Bedürfnisse unsrer Insel brauchen, die der Prospect prahlerisch »die Kornkammer Deutschland’s« nennt; – Schein ist die Caution, auf deren Grund die Conzession nur ertheilt werden darf – ich weiß, daß sie nicht einmal die paar hundertausend Thaler aufbringen können. Schein – schamloser Schein sind die Zeichnungen, die vorschriftsmäßig von »guten und gediegenen Häusern« geleistet werden sollen: die einzige größere solide Zeichnung ist von unserm Fürsten Prora, durch dessen Gebiet beinahe der dritte Theil der Bahn geht – die andern zehn Millionen des Grafen Golm und Consorten – auch nicht ein Thaler ist eingezahlt und wird jemals eingezahlt werden. So geht das fort, so muß das fortgehen: man kann von einem Dornstrauch keine Feigen pflücken […]. Nun Ihre Sturmflut, – ich hoffe zu Gott, sie wird nicht kommen; – aber, wenn sie käme, wie Sie prophezeit haben – ich würde sie für ein Gleichnis dessen nehmen, was über uns hereindroht, ja! für ein Zeichen des Himmels, ob wir vielleicht, aus unserm frevelhaften Taumel, aus unserm Schaum- und Traumleben erwachend, emporschreckend, uns den gleißenden Schein aus den Augen reiben, um – wie unser Fichte sagt, zu sehen – »das, was ist«.376

Mit dem Standardprädikat des Scheinhaften verpflichtet der Roman, wie so viele realistische Texte, seine Diegese auf eine Kippfigur. Die Gründerpracht mit ihren üppigen Festen wird kurz nach dem Referat des Präsidenten untergehen. Der Sturm bricht los und stellt die Akteure auf die Sittlichkeitsprobe. Die gleichnishafte Verschaltung des Ostseehochwassers mit dem Börsenkrach, die der Präsident als Sprachrohr des Autors Spielhagen erläutert377, leistet auch hier einer fatalistischen Beobachtung des Finanzwesens Vorschub, verbindet sich jedoch mit einem moralischen Optimismus. Wer sich hinausbegeben hat auf das offene Meer des Kredithandels, wer sich in der bodenlosen Scheinwelt bewegte, kommt um. Diejenigen aber, die wie der gute Realist Reinhold ›das, was ist‹, kennen, bewähren sich in der Notlage. Rettungsaktionen in tobender See liefern dann im übertragenen Sinne den Echtheitsnachweis des Charakters. Dass sich Reinhold schon frühzeitig als biederer Sparer auswies und von

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 2, S. 389–391. Die Offensichtlichkeit, mit der hier der zentrale poetische Gedanke des Romans preisgegeben wird, stieß, wie bereits angemerkt, schon den Gebrüdern Hart in ihrer Rezension auf. Vgl. Hart/Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart, S. 33. Positiver bewertet Victor Klemperer, der ansonsten für die trivialisierenden Momente der Spielhagen’schen Zeitromane äußerst sensibel ist, die kompositorische Anlage dieser zentralen Sturmflut-Metaphorik, weil er sie durch Stoff und Zeitgeschichte gedeckt sieht. Vgl. Klemperer: Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln, S. 116–126. Zur Selbstkritik Spielhagens an dieser Form von Symbolik im Roman vgl. Sammons: Friedrich Spielhagen, S. 65f.

den Aktienofferten seines Cousins Philipp nichts wissen wollte378, ist, angesichts des finanzskeptischen Klimas dieses wie so vieler realistischer Romane, kaum eine Erwähnung wert. 3.2.4.4. Eine Bankierskrise und die Diabolik des Kredits – Wilhelm Raabes Die Leute aus dem Walde und Zum wilden Mann Wo im literarischen Realismus Kredite auftauchen, da kommen zumeist auch Probleme gratis mit. Anders als in der nationalökonomischen Theorie wird das Kreditwesen keineswegs optimistisch geschildert, als Erneuerung eines Glaubens an die Verbindlichkeit gegenseitigen Handelns. Der Handel mit Darlehen wird im Roman vielmehr als prekär vorgeführt, er distanziert die Akteure, produziert zwielichtige Vermittlerfiguren und bietet im Ganzen das Einfallstor für Intrigen und betrügerische Spekulationen. Ob Louis Wohlwend in Kellers Alterswerk Martin Salander dem Helden Bürgschaften und Bankeinlagen zunichte macht, ob Carsten Carstens’ Sohn Heinrich in Storms Novelle Carsten Curator durch Spekulationen und Hypothekenschleudereien die Kapitalien seines Vaters aufbraucht – die Medien moderner Geldwirtschaft fallen in den Texten regelmäßig unter Generalverdacht. Wilhelm Raabe gibt seinen einschlägigen Kommentar zur Finanzökonomie 1862 in seinem frühen Erziehungsroman Die Leute aus dem Walde ab, indem er einen Bankier namens Wienand zur Zielscheibe einer tragischen Nebenhandlung macht. Als »sehr eitler Mann«379, der zudem »von Herzen egoistisch wie irgend jemand« ist380, ist Wienand von vornherein auf eine unvorteilhafte und untergeordnete Rolle disponiert. Allerdings ist der Witwer zugleich ein liebevoller Vater für Helene Wienand, die Angebetete und endlich auch Verlobte des Helden Robert Wolf. Und in dieser Eigenschaft fällt auch seinem Werdegang einige Aufmerksamkeit zu. Dass dabei weniger der berufliche denn der private Anteil ins Gewicht fällt, kündigt der Erzähler schon beim ersten Blick in Wienands Domizil an: Im untern Teil des Hauses befanden sich die Geschäftszimmer des Bankiers, die Räume der Dienerschaft und so weiter, im ersten Stock die Gesellschaftszimmer und das Reich Helenes. Wir haben es nur mit dem ersten Stock zu tun.381

Wie im Realismus üblich sollen die Geschäftsvorgänge ausgespart bleiben, selbst wenn der Erzähler noch in der ersten Innenansicht des Wienand’schen Hauses andeutet, dass ihm die Welt der Börsenberichte keineswegs fremd ist. In entsprechender Rollenprosa gibt er den Ablauf eines Banketts wieder (»Wir finden, daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war und daß das Geschäft der Unterhaltung

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Vgl. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 254. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 171. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 87. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 63.

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sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte.« etc.).382 Abgerundet wird der rhetorische Ausflug in einer monetären Metaphorik: »Christliches Bankiertum mit jüdischer Legierung und jüdisches Bankiertum mit feudaler Betitelung war in der Wienandschen Gesellschaft, wie sich das von selbst verstand, am stärksten vertreten.«383 Das Ressentiment, das in dieser Beschreibung begraben liegt, wird später beiläufig geborgen, wenn es heißt, dass auf das Stadthaus des Gegenspielers von Robert Wolf, des dekadenten Adligen Leon von Poppen, »mehr als ein schwarzhaariger, krummnasiger Geschäftsmann die scharfen semitischen Augen gerichtet« habe.384 Es ist eine Drohkulisse aus antijüdischen Finanzklischees385, die man aus Soll und Haben kennt und die in Raabes Folgeroman Der Hungerpastor weiter ausgearbeitet wird.386 Nach seiner rhetorischen Fingerübung beim Bankett bleibt sich der Erzähler treu und erübrigt sich jedwede Ansichten des Börsen- und Bankiersalltags. Wienands Arbeits- und Lebensstationen werden daher eher über die Figuren seiner Umgebung, mit denen er wechselnde Allianzen eingeht, einsehbar. In der Phase des ruhigen und erfolgreichen Geschäftsgangs lebt er mit seiner heranwachsenden Tochter und ihrer Pflegemutter Juliane von Poppen (der Tante des Gegenspielers Leon, die mit dem unseriösen Zweig ihrer Familie seit einem Rechtstreit mit ihrem Bruder eher losen Kontakt hält387). Juliane von Poppen, die »ältliche närrische Jungfer«388, bildet gemeinsam mit dem Polizeischreiber Friedrich Fiebiger und dem Astronomen Heinrich Ulex ein Triumvirat von »Entsagenden«389 (nicht unähnlich der Goethe’schen Turmgesellschaft aus Wilhelm Meister), das zunächst über die Ausbildung und später das glückliche Zusammenkommen ihrer Schützlinge Helene und Robert Wolf wacht. Es ist eine exemplarische Konstellation: Die Balance zwischen den Entsagungsfähigen auf der einen Seite und dem geschäftstüchtigen, vom Selbstinteresse motivierten Ökonomen auf der anderen garantiert, wie schon häufiger beobachtet, einen relativ unproblematischen und darin letztlich undramatischen Zustand, der sich eher für

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Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 63. Zu dieser rhetorischen Volte vgl. auch Abschnitt 1.2.3. dieser Arbeit. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 66. Dieses Rollenspiel des Erzählers und die Tendenz zur Verknappung der szenischen Darstellung sind jüngst in einem Romanvergleich als Entpolitisierung des sozialkritischen Emigrationsplots, den Raabe mit Sealsfield teilt, kritisiert worden. Vgl. Alexander Ritter: Narrative Evasion of Socio-political Crisis. Raabe’s »Die Leute aus dem Walde« and Sealsfield’s »Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken«. In: Dirk Göttsche/Florian Krobb (Hg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspecitves, London 2009, S. 100–113, hier: 105f. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 177. Zum zeitgenössischen Kontext dieser Klischees siehe Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, insbesondere: S. 39–102. Siehe Abschnitt 4.1. dieser Arbeit. Vgl. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 85. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 86. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 150.

das Finale einer Geschichte eignet. »Die Welt, in welcher Helene Wienand geboren und aufgewachsen war, zu schildern ist kein Vergnügen. Es gibt darin selten große Verbrechen, aber fast ebenso selten große Tugenden«, so benennt der Erzähler den Mangel an Reizmomenten in dieser Wohlordnung.390 Folgerichtig hält er eine Bewährungssituation für die Figuren bereit, und diese fällt schnell zu ungunsten des Ökonomen aus.391 Ein Feuer, das sinnfälligerweise in einer benachbarten Fabrik ausbricht (also im realwirtschaftlichen Sektor), zerstört das Wohnhaus der Wienands und große Teile ihres Vermögens. Und unter den Figuren trennt sich die Spreu vom Weizen. Der Hausherr verfällt dem Wahnsinn, während Helene und Juliane von Poppen das Schicksal tapfer ertragen. Ja, Helene kann durch die anschließende Sorge um ihren Vater überhaupt erst eine karitative Gesinnung unter Beweis stellen und sich damit – der realistischen Motivik gemäß (man denke an Else von Werben in Sturmflut oder Sabine Schröter in Soll und Haben) – als potenzielle Ehefrau des Helden profi lieren. Der Wahnsinn Wienands hingegen beweist lediglich den prekären Lebensentwurf eines Materialisten: Mit lächelnder Miene wäre, wie schon gesagt, der Bankier jedem vorherberechneten Unglücksfall entgegengetreten; das Unvorhergesehene traf ihn mit vollster Wucht, ohne daß er einen Schild zur Abwehr bereiten und vorhalten konnte. Tief sollte diese kluge, klare Stirn in den Staub gedrückt werden.392

Was hier letztlich vom Erzähler ›in den Staub gedrückt‹ wird, ist die Geisteshaltung des ökonomischen Kalküls. In dem Moment, da der Bankier in der Risikoverwaltung scheitert und einem nicht ›vorherberechneten Unglücksfall‹ unterliegt, löst sich der Wirklichkeitssinn auf. Obgleich Wienands Vermögen weiterhin »viel mehr, als die meisten Menschen jemals besessen haben und besitzen werden«, umfasst393, setzt seine Haushaltung aus. Von Gewinnen ist einstweilen keine Rede mehr; Verlustängste peinigen den Bankier und er begegnet ihnen mit Geiz und rücksichtsloser Ausgabenkürzung, die fast zum Hungertod führt. Es braucht noch gute zweihundert Seiten, bis der Roman den armen Wienand in seiner verfehlten Lebensmaxime des Kalküls dorthin führt, wo auch der Protagonist Robert Wolf schon die höheren Weihen seiner Ausbildung genoss: in die Giebelkammer des Astronomen und Idealisten Heinrich Ulex. Dessen Lehre hat der Weltenbummler und Genosse der Entsagenden Hauptmann Konrad von Faber (Roberts Mentor in Amerika) bei seinem zentralen Resümee der Entwicklungsgeschichte auf den Punkt gebracht:

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Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 169. Vgl. zum weiteren Spektrum der Handlungsoptionen im Roman, die in unterschiedlicher Weise den Darwin’schen ›Kampf ums Dasein‹ bearbeiten, Katharina Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin. Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen, Göttingen 2005, S. 231–235. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 200. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 199f.

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Der Idealist, der über den Gassen in der Höhe sitzt, kann aber nur den alten Wahlspruch der Stoiker wiederholen: Sustine et abstine, dulde und entsage. Trotz aller Lehrer, trotz aller Schulen steht der Mensch zuletzt doch immer allein seinem Schicksal gegenüber, und er allein hat mit seiner Persönlichkeit Antwort zu geben.394

Man darf sich diese Worte in Erinnerung rufen, wenn man gegen Ende den gebrochenen Bankier Wienand zu Ulex flüchten sieht: »[D]a sitzt er und hält die Hand des Weisen – o tragisch, tragisch, tragisch!«395 Ein solch weltfremder Rückzug ins Ideale bleibt dem Helden Robert im Übrigen erspart. Sein Weg verläuft getreu dem Motto »Sieh nach den Sternen! /Gib acht auf die Gassen!«, also in der goldenen Mitte zwischen den Himmelslehren von Ulex und der praktischen Vernunft seines Ziehvaters, Polizeischreiber Fiebiger, im besten Sinne poetisch-realistisch. Und weil er unterwegs auch regelmäßig seine Entsagungsfähigkeit bezeugt – durch zeitweilige Entfernung von Helene (in seiner Universitätszeit, in der Amerika-Episode), durch eine geläuterte, geschwisterliche Sorge um seine Jugendliebe Eva Dornbusch und nicht zuletzt durch den problemlosen Abschied von seiner überaus erfolgreichen Goldsuche in Kalifornien –, darf man diesen Helden als einigermaßen gestählt ansehen gegen alle Kontingenzen. Den Lockungen des ökonomischen oder libidinösen Profits sitzt Robert Wolf jedenfalls nicht auf. In einer allegorisch aufzufassenden Szene während der Goldsuche in Amerika wird diese Pointe des Bildungswegs untermauert: Robert Wolf wühlte das Gold mit einer Art wilder Ironie aus der Erde. Einmal fiel ihm ein Stück von bedeutendem Gewicht in die Hand; er wog es in der Hand, und vor seinem Geiste empor stieg das Bild des Bankiers Wienand während der Zeit seiner Geisteszerrüttung; – schaudernd ließ er das gleißende Metall fallen und setzte den Fuß darauf, als wolle er es wieder in den Boden treten. Aber Konrad von Faber legte es zu dem übrigen und meinte: »Eure Gedanken sind anerkennswert, aber doch töricht. Wenn etwas jenem Spieß der griechischen Sage, der verwundete und zugleich die Wunde heilte, gleicht, so ist es das Gold. Wer weiß, welches Gewicht dieses Stückchen blankes Metall in der Waagschale Eures Glücks bedeutet? Wir leben in einer sehr realen Welt, mein Sohn, und obgleich wir keine Flügel haben, so wäre es doch durchaus ungerechtfertigt, wenn wir aus Ärger darüber auf dem Kopfe gehen wollten. Grabt nur zu, solange das Wetter gut ist, im Namen unseres alten Freundes vom Polizeibüro Nummer dreizehn, im Namen Fiebigers, grabt zu; über die Verwendung dessen, was Ihr fi ndet, mögt Ihr nachher daheim den weisen Mann vom Giebel des Nikolaiklosters um Rat fragen.«396

Als sei er infektiös, so stößt Robert seinen ersten größeren Goldfund ›schaudernd‹ von sich. Und erst die Aufk lärung seines Mentors von Faber motiviert ihn zur Weiterarbeit. Denn der Hauptmann führt die realistisch angemessene Betrachtungsweise ein: Gold und selbst die Bankwechsel, in die es Robert bald danach für seine Heimrei-

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Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 377. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 398. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 366f.

se nach Deutschland umtauscht, sind genau dann ungefährlich, wenn man ihre konkreten Verwendungsmöglichkeiten im Blick behält. Die praktischen Ziele, nicht die Potenzialität der Medien bestimmen den realistischen Lebenslauf. Die Seriosität der angestrebten Unternehmungen bekräftigen dann die altvorderen Ratgeber Fiebiger und Ulex. Konsequenterweise dient der Reichtum, den sich der ausgebildete Mediziner Wolf in Amerika eigenhändig mit der Spitzhacke erbuddelt, denn auch nicht für Kapitalbeteiligungen oder für anderweitig auf Gewinn hin orientierte Investitionen. Vielmehr erwirbt er das heruntergekommene Gut Poppenhof im Ort seiner Kindheit zum Wiederaufbau und schickt sich an, dort Armenarzt zu werden. Die Sachnähe der realen Bewirtschaftung und das persönliche Engagement für die Mitmenschen siegen über die Liquiditätspräferenz, der sich Bankier Wienand zeitlebens unterstellt hat. Noch bevor ihm das ›tragische‹ Schlussbild bei Ulex vergönnt ist, hilft Wienand in diesem Sinne ausgiebig mit, die finanzwirtschaftliche Option zu diskreditieren. Schon seine närrische Leidenszeit samt Sparsamkeitswahn ist durch den klaglosen Tod des rechtschaffenen Handwerkers (!) Tellering, der sich in der Rettungsaktion beim Brand schwer verletzt hatte, konterkariert. Anschließend führt den Bankier eine vorübergehende Genesung zurück ins Big Business der Gründerzeit: An Eisenbahnbauten und Fabriken beteiligt er sich, so vernimmt man.397 Da der Roman über die Geschäfte, wie gesagt, keine nähere Auskunft gibt, muss man sich Aufschluss über diese Phase der scheinbaren Wiederherstellung von Wienand, die tatsächlich im endgültigen finanziellen Ruin mündet, über seinen Kompagnon holen: Der Bankier gerät unter den Einfluss des adligen Gecken Leon von Poppen. »O der Herr Baron! Namen und Ehre! Ehre und Geld, viel Geld – o der Herr Baron – viel Ehre, viel Ehre«.398 Schon diese Begrüßung seitens Wienands ruft alle gängigen Motive der realistischen Finanzkritik auf, denn Name, Ehre und Vermögen Leons sind tatsächlich längst beschädigt. Hoch verschuldet hat er sich Helene Wienand auserkoren, um seine Finanzen zu sanieren. Symbolisch landet er zeitweilig Treffer; seine Verbindung mit den Wienands verschafft ihm Eintritt ins Ministerium. Ansonsten besitzt er – gewissermaßen als Abbild seiner charakterlichen Eigenschaften – eine kränkliche Disposition (»Kopfweh, Nervenzucken, Rheumatismus«399), reüssiert als Schürzenjäger und fällt schließlich folgerichtig einem Duell mit einem betrogenen Ehemann zum Opfer. Die Charakteristik dieses Kompagnons genügt dem Roman, um die Gemeinschaftsprojekte Wienands und von Poppens von vornherein auf Scheitern anzulegen. »Das Fieber des Ehrgeizes, die Gier des Erwerbs trieben den Mann mit rasender Hast vorwärts«, heißt es über die zweite Schaffensphase des Bankiers.400 Und wenn der Erzähler über die Augen Wienands anfügt, »halb gierig suchende Blicke schossen

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Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 327. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 327. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 262. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 327.

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sie[;] [e]s war der glasige Schimmer, den ihnen die Krankheit gegeben hatte, nur zum Teil gewichen«401, dann wird die Gründereuphorie, in die sich der Finanzmagnat mit Hilfe Leon von Poppens begibt, deutlich als Verlängerung seines krankhaften Wahns ausgewiesen.402 Wo die persönliche Disposition schon hinreichend viel über den möglichen Wirkungskreis aussagt, kann der Erzählstrang auch relativ unvermittelt abreißen. Nach einigen Erfolgsmeldungen trifft die Nachricht vom »Bankerott und Konkurs des Bankierhauses Wienand« ein.403 Mit dem Duelltod des Barons von Poppen ist die Illusionsmaschine, die die neuen Unternehmungen getragen hat, abgestellt. Raabes Roman kann sich bei dieser vergleichsweise lakonischen Beendigung des Booms auf den literarisch-realistischen Gemeinplatz verlassen. Wo Transaktionen nicht der Sache, sondern eben der ›Gier des Erwerbs‹ gelten, wo nicht die Welt der Güter, sondern die der Zahlen und Zahlungsmedien im Vordergrund steht, da droht im realistischen Erzähltext stets Ungemach. Die unheimliche Rückkehr des Geldgebers in Zum wilden Mann Den Inbegriff dieses Verständnisses und gleichsam eine Allegorie auf das Kreditdenken des literarischen Realismus hat Wilhelm Raabe in seiner Gründerzeiterzählung Zum wilden Mann (1874) vorgelegt. Da findet sich eine traute Runde in stürmischer Nacht zusammen: Das alte Geschwisterpaar Philipp und Dorothea Kristeller hat Pastor Schönlank und Förster Ulebeule eingeladen, um gemeinsam das dreißigjährige Jubiläum der Kristeller’schen Apotheke zu begehen. Und ein Lehnstuhl ist unbesetzt, der »Ehrensessel«, frei gehalten seit 31 Jahren.404 Dieser Stuhl gemahnt an eine rätselhafte Episode aus Kristellers Lehrzeit, das »Mysterium in meinem Leben«405, wodurch der Grundstein für ein eigenes Apothekengeschäft gelegt wurde. Eine Schenkung ist ihm seinerzeit zuteil geworden von einem geheimnisvollen, seelisch zerrütteten Jüngling August, den Philipp auf Spaziergängen in die Natur zum Freund gewonnen hatte. Zwei Wochen nach dem letzten Zusammentreffen der beiden am mythischen »Blutstuhl«, einer labyrinthischen Steinformation im Harzer Umland, schickte »der Narr vom Blutstuhl« einen Brief mit reicher Gabe: Ein Mann, der den Willen hat, sein Leben von vorn anzufangen, entledigt sich hier seiner schwersten und verdrießlichsten Last und schickt dem Freunde das einliegende Geld. […] Gründet ein Haus, das feststeht und glückliche, fröhliche Kinder in seinen Mauern aufwachsen sieht.406

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Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 328. Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S. 227. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 394. Wilhelm Raabe: Zum wilden Mann [1874]. In: BA, Bd. 11, Freiburg, Braunschweig 1956, S. 159–256, hier: S. 185. Raabe: Zum wilden Mann, S. 181. Raabe: Zum wilden Mann, S. 196.

Beiliegend sind »die nüchternsten Staatspapiere und Landesschuldverschreibungen von verschiedener Herren Ländern«.407 Doch das Glück, ein ›fest stehendes, kinderreiches Haus‹ mit diesen Pfandbriefen zu gründen, ist dem Protagonisten nicht beschieden. Kaum ein Jahr später, am Tag der geplanten Hochzeit, stirbt seine Jugendliebe Johanne, und Kristeller zieht mit seiner Schwester vereinsamt und duldsam in seine Apotheke ein. »›Und wir haben unsere Tage in der Stille doch gut verlebt‹, sagte der Apotheker Zum wilden Mann wehmütig lächelnd. ›Wir sind in Frieden grau geworden […].‹« 408 Raabes Erzählung lässt ihre Protagonisten also dort beginnen, wo andere realistische Texte gern enden. Das Versprechen einer Jugendliebe und alles Hehre und Idealische hat sich nicht erfüllt, man hat gelernt, sich zu bescheiden, und verlebt entsagungsvoll, bevorzugt mit der Schwester, einen beschaulichen Kleinbürgeralltag. Genau dieser stets anvisierte Status quo wird bei Raabe im Zeichen des freigehaltenen Lehnstuhls auf seine Tragfähigkeit hin befragt. Denn der Lehnstuhl ist hier nicht nur Katalysator eines hermeneutischen Rätsels um das Wie und Woher der Apothekengründung, das in ausgiebigen Analepsen in der ersten Hälfte der Erzählung eingeholt wird. Er verbürgt auch symbolisch jene Bedeutsamkeit, die der schlussendlichen Entsagung konventionell mitgegeben ist: die Verklärung. Exemplarisch ist das Potenzial eines solchen Stuhls etwa in Storms Carsten Curator (1878) angezeigt. Dort heißt es, nachdem der finanzielle Ruin komplett, das Haus gepfändet, der Vater gelähmt und der verderbliche Sohn umgekommen ist: »Stirbt auch der Leib, doch wird die Seele leben!« Und weiter: »Heil Dem, dessen Leben in seines Kindes Hand gesichert ist; aber auch Dem noch, welchem von Allem, was er einst besessen, nur eine barmherzige Hand geblieben ist, um seinem armen Haupte die letzten Kissen aufzuschütteln.«409 In realistischen Romanen und Novellen mögen viele Partnerschaften oder Besitztümer zu Schaden kommen, so lange die fundamentalen Werte des Miteinanders, die Nächstenliebe und die ›Barmherzigkeit‹, intakt sind, hat die Seele nichts zu befürchten. Da waltet die Verklärung eines jeden noch so desolat anmutenden Zustands.410 Ebendiesem Verklärungsanspruch hat Raabe im ›Ehrensessel‹ einen Platzhalter geschaffen. Erinnert wird durch ihn nicht nur an die Gabe, die Kristeller seinen Eintritt ins bürgerliche Apothekerdasein ermöglichte. Es ist überhaupt eine bis zur Selbstaufopferung bereite Freundschaft, deren sich der Protagonist mit seinem ›Lehnstuhl‹ vergewissern will. »Ich sagte ihm, daß ich mein Blut und meine Seele dran geben würde, ihm zu helfen«, gedenkt Kristeller seiner ominösen Jugendbe-

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Raabe: Zum wilden Mann, S. 197. Raabe: Zum wilden Mann, S. 198. Theodor Storm: Carsten Curator [1878]. In: SSW, Bd. 2 (Novellen 1881–1888, hg. von Karl Ernst Laage), Frankfurt a.M. 1998, S. 456–522, hier: S. 521f. Für Ingo Meyer ist dieser Schluss ein Paradebeispiel für »die verlogene, aber mit didaktisch-moralisierendem Aplomb auftretende biedermeierliche Sentimentalität«, die er am deutschen Realismus diagnostiziert. Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 412.

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kanntschaft.411 Und obgleich ihre Beziehung seinerzeit seltsam asymmetrisch verlief, Philipp viel, August so gut wie gar nichts von sich preisgab, dauert dieses Freundschaftspathos bis ins Alter fort. Das Geld, das August mit seinem Brief eigentlich als Schenkung übertrug, wird entsprechend reziprok aufgefasst. »Wir wollen es verwalten wie ein Darlehn, Philipp; wir wollen dem Geber täglich seinen Stuhl an unsern Tisch setzen, wir wollen stets den besten Platz für ihn frei halten; wir wollen ihn von einem Tage zum andern erwarten«, legt Johanna, Kristellers Angetraute, fest.412 Diese Verwandlung der Schenkung in einen Kredit verpflichtet sich dem nationalökonomischen Optimismus. Denn hier wird, im Symbol des ›Ehrensessels‹, genau jener personale Mehrwert avisiert, der den Kredit zum sozialen Bindemittel befähigen soll. In der Rückzahlung erweist sich die Redlichkeit des selbsternannten Schuldners. Problematisch wird nun, dass dieses Darlehen in seiner Funktion als Investitionskredit nur bedingt aufgeht. Die Gegend ist für ein Apothekengeschäft eher unrentabel; einzig Kristellers Magenbitter nach eigener Rezeptur verschafft den Inhabern ein leidliches Auskommen. Auch dieses Bild fügt sich in das tendenziell subsistenzwirtschaft liche, auf einen ausbalancierten Lebensunterhalt angelegte Ideal realistischer Literatur. Wachstumsbestrebungen, wie sie etwa der Waschmittelfabrikant Adam Asche in Raabes Pfi sters Mühle (1884) vermittelt, sind da die Ausnahme. Es genügt den Helden gemeinhin, wenn sie bloß über die Runden kommen. In Zum wilden Mann aber wird genau das zum Problem. Schon bald, nachdem August, inzwischen in Brasilien zum Kolonialoffizier Dom Agostin Agonista avanciert, am Jubiläumsabend zu seinem Jugendfreund zurückkehrt, fallen die wachstumsökonomischen Versäumnisse schwer ins Gewicht. Mit jovialer Konzilianz unterhält Agonista in den Wochen, da er bei Kristeller beherbergt ist, die ortsansässigen Honoratioren und unterbreitet seinem Gastgeber währenddessen aussichtsreiche Unternehmensvorschläge. Eine Fleischextraktfi rma à la Liebig oder »Fray Bentos«413 will er mit ihm in Brasilien gründen. Oder den »Kristeller«, den vorzüglichen Magenbitter, im großen Stile vermarkten.414 Dorothea aber erfasst die unterschwellige Botschaft: »Philipp, er braucht Geld! Er braucht sein Geld, und er ist gekommen, es zu holen!«415 Und diese Rückzahlung, so ahnt die buchhalterisch tätige Schwester, erfordert Zuwachsraten: »[I]ch habe die Bücher geführt und weiß, wie wir stehen. O, es reicht noch; aber es reicht auch nur gerade hin – und, Philipp, ich bin überzeugt, er holt nicht nur das Kapital, sondern er kann auch die Zinsen gebrauchen, die Zinsen seit dreißig Jahren!«416

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Raabe: Zum wilden Mann, S. 184. Raabe: Zum wilden Mann, S. 197f. Raabe: Zum wilden Mann, S. 235. Zum extraliterarischen Kontext dieser Idee im aufkommenden Reklamewesen siehe Bertschik: Poesie der Warenwelten, S. 48–53. Raabe: Zum wilden Mann, S. 244. Raabe: Zum wilden Mann, S. 245.

Tatsächlich wird sich der retournierte Betrag auf 12.000 Taler belaufen, 2.500 mehr, als die ursprünglich erhaltenen Schatzbriefe eintrugen. Bei einer solchen kurzfristig aufzubringenden Rendite nimmt es nicht Wunder, dass die Kristellers, trotz unmittelbar eingeleiteter Spekulationen und der Veräußerung des eigenen Grundbesitzes417, finanziell in die Knie gehen. Am letzten Weihnachtsfest, da das Haus bereits schwer mit Hypotheken belastet ist, sitzt Philipp in seinem ›Ehrensessel‹, erbaut sich am Freundschaftsdienst, den er mit seiner Rückzahlung geleistet sehen will, und wiegelt alle Wehklage ab: »Es wäre nicht zu rechtfertigen gegen den Freund – meinen Freund – meinen Freund vom Blutstuhle! Ach, fasse nur Mut, liebe Dorette, und mache mir vor allen Dingen keine solchen verzweiflungsvollen Mienen, du sollst sehen, wir behalten den Kopf doch noch oben und führen auch unter den jetzigen Verhältnissen ein gutes und stilles Leben weiter«.418

Anders als in Storms Carsten Curator ist diese analoge Verklärungsszene bereits deutlich personal akzentuiert. Kristeller hat sich aus der Gemeinschaft des Ortes zurückgezogen und feiert seinen eigenen sittlichen Triumph »abgemattet-sorgenvoll« im »trüben Scheine« der Kerze.419 Das nachdrückliche Kopfschütteln seiner Schwester über den »so sehr spät« eingetroffenen Schicksalschlag wird in erlebter Rede von Philipp abgewiegelt: »Das war echt weiblich und also nichts dagegen zu machen.«420 So verabschiedet sich der Text von seinem Helden und dessen Verklärungsbegehren. Und die zugrunde liegende Sittlichkeitsauffassung schrumpft zur marginalisierten, fi xen Idee Kristellers. Nur in seiner Binnenperspektive geht das typische Auseinandertreten der beiden Wertreihen des realistischen Textes noch auf: In den profanen Geldtransaktionen verzeichnet Philipp einen umfassenden Bankrott; seine Redlichkeit aber, die sich im selbstlosen Freundschaftsdienst ausdrückt, bleibt für ihn als absoluter Wert intakt. Anders als das monetäre Darlehen ist sie weder zerglieder- noch verhandelbar. So wie der Ehrensessel entweder besetzt oder freigehalten ist, so entschieden erfüllt man auch seine Verpflichtungen. Stundungen oder Abschlagszahlungen kommen in dieser sittlichen Dimension des Kredits nicht vor. Als absoluter Wert kann sich dieses persönliche Verhältnis denn auch nicht in irgendwelchen synthetischen Urteilen ausdrücken. Die Frage, welche Prädikate dieser Freundschaft zukommen, wird hinfällig, wenn die Figur in die dumpfe Wiederholung des immer gleichen, leeren Adressatenbezugs einbiegt: ›Mein Freund – meinen Freund – meinen Freund vom Blutstuhle.‹ Dass diese finale Sittlichkeitslogik nicht mehr auktorial sanktioniert wird, macht die skeptische Wendung der Raabe’schen Erzählung aus. Allgemeinverbindlichkeit

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Raabe: Zum wilden Mann, S. 249. Raabe: Zum wilden Mann, S. 254. Raabe: Zum wilden Mann, S. 253. Raabe: Zum wilden Mann, S. 256.

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lässt sich aus der Selbstverklärung Kristellers nicht gewinnen.421 Folgerichtig wird das Symbol seiner sittlichen Erhöhung am Ende zur bloßen Auktionsware reduziert, wenn der ›Ehrensessel‹ in den Privatbesitz des Pastors übergeht (eine Restauration des symbolischen Potenzials ist damit nicht verbunden, schließlich hatte auch der Pastor in seiner Funktion als spiritueller Schutzschild gegen Agonista versagt). Allerdings wird Kristeller in seinem Ruin auch nicht der Ironie preisgegeben. Denn seine Anstrengung, inmitten des materiellen Niedergangs eine sittliche Behauptung aufrechtzuerhalten, beliefert die Erzählung mit dem unabdingbaren Bezug auf den poetisch-realistischen Vorstellungsrahmen. Auch wenn Kristellers entsagungsbereite Moralität nicht mehr als Allgemeingut zu behandeln ist, so gewährt sie doch eine Art Patina, durch die die Erzählung an die zunehmend prekär werdende sittliche Totalitätsbehauptung erinnert, mit der der Poetische Realismus die profane Lebenswirklichkeit zu vertiefen beabsichtigt. Das unterschwellige Pathos, das in Kristellers abschließender Deklassierung mitschwingt, wird gerade in der Inszenierung seines Gegenübers deutlich. Agonista ist durchaus in der Lage, Kristellers Freundschaftscode mitzuspielen422; zu seinem eigenen aber macht er ihn nicht. Wenn Agonista noch am Jubiläumsabend einen guten Teil seines Schenkungsbriefes im wahrsten Sinne des Wortes in der Pfeife raucht423, dann verzichtet er damit – ganz im Sinne des vertraulichen Einverständnisses – auf die materielle Beglaubigung seiner Darlehensansprüche. Doch streicht er diese sittliche Beziehung bald rigoros durch, wenn er sich als Mann des Profits und Inkarnation des gründerzeitlichen Entrepreneurs erweist.424 Für Agonista zählt letztlich der Mehrwert, der sich in Zahlen ausdrückt. Die vermeintliche Freundschaft kommt da nur als Garant des Schuldverhältnisses vor, als Rahmung, die die berechenbare Transaktion stützt. Auf der Basis dieses rein monetären Codes stellt sich der Fall Kristellers als Investitionsversäumnis dar. Eine Zinsrate knapp unter einem Prozent auf dreißig Jahre ist wahrlich kein Wucher, die Gründung einer wenig einträglichen Apotheke demgegenüber ein klarer Fall von Missmanagement. Aber auf diesen Code verlegt sich die Erzählung nicht. Der vermeintliche Kredit war ja ursprünglich als Schenkung angelegt worden und schon dadurch zeigt sich der sittliche Wert dem rechnerischen überlegen.

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Siehe hierzu auch Moritz Baßler, der Zum wilden Mann und die darin zurückgewiesene Verklärung als Beispiel für das stärker reflexive Verfahren des Spätrealismus diskutiert, Moritz Baßler: Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das Problem der Repräsentation von Wissen. In: Michael Neumann/Kerstin Stüssel (Hg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kibstabt 2011, S. 429–442. Zur Inszenierung der Gastfreundschaft in dieser Novelle siehe Bürner-Kotzam: Vertraute Gäste, S. 116–128. Vgl. Raabe: Zum wilden Mann, S. 209. Vgl. Wilfried Türmer: Entfremdetes Behagen. Wilhelm Raabes Erzählung »Zum wilden Mann« als Konkretion gründerzeitlichen Bewusstseins. In: JbRG, 1976, S. 151–161.

Was Agonista zusteht, ist einzig durch die Gnade Kristellers gedeckt. Daraus zieht die Schlussszene ihr Pathos, wenn die Divergenz von herzlichem Vertrauen und handfestem Geldinteresse schmerzlich ausgespielt wird. ›Stirbt auch der Leib, doch wird die Seele leben!‹ Eben weil der Realismus über den materiell desinteressierten, stets sittlich orientierten Handlungsträger fokalisiert, bezieht er noch aus dessen Niedergang einen tragischen Funken. Das Augenmerk gilt den sittlichen Regungen im Widerstand gegen die ökonomischen Erfordernisse. Eine nurmehr profane Umstellung auf wirtschaftliche Vernunft (wie sie Kristellers Schwester wiederholt anmahnt) ist letztlich keine tragfähige Option realistischer Erzählungen. Erzählenswert ist der bis zur intellektuellen Erblindung ausgereizte Verklärungsversuch eines redlichen Helden nur unter der Prämisse der fehlenden Alternative. Der Realismus erzählt voll Skepsis und Resignation, weil eine pragmatische, individuell nutzenorientierte, marktwirtschaftliche Sittlichkeit als Gegenangebot per se ausscheidet. Raabe hat dieses Verhältnis bekanntlich stark zugespitzt. In Zum wilden Mann ist, wie in der Forschung hinlänglich diskutiert, die gründerzeitliche Konstellation allegorisch aufgeladen zum Gleichnis auf eine schlechthin metaphysische Bedrohung bürgerlicher Ordnung. Der Auftritt Agonistas bedeutet da den »Einbruch des Bösen in eine Welt der Ordnung, des Friedens und der Güte«.425 Zahlreich sind die diabolischen Konnotationen, die dem Freund und Widersacher der Kristellers im Laufe der Erzählung beigegeben werden426; eine Teufelspaktmotivik metaphorisiert ebenso das Bündnis am Blutstuhl wie das Heilungsszenario auf dem Piratenschiff »Diablo blanco«.427 Aus diesem Geflecht von sorgsam über den Text verteilten mythischen Zusatzelementen428 kommt auch dem Geldgeschenk eine zweite Bedeutung zu. Gegründet auf dem Erbe der Henkersfamilie Mördling erscheinen die 9.500 Taler, die

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Vgl. Wolfgang Schlegels Nachwort zur Reclam-Ausgabe des Textes, das den Standpunkt der älteren Textinterpretationen gut einfängt, Wolfgang Schlegel: Nachwort. In: Wilhelm Raabe, Zum wilden Mann, Stuttgart 1959, S. 107–110, hier: S. 108. Vgl. Oppermann: Mythische Elemente in Raabes Dichtung. In: JbRG, 1968, S.  49–82, hier: S. 71–74. Raabe: Zum wilden Mann, S. 204f. Vgl. dazu Volker Hoffmann: »Zum wilden Mann«. Die anthropologische und poetologische Reduktion des Teufelspaktthemas in der Literatur des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung. In: JbDSG, Jg. 30 (1986), S. 472–492. Vgl. Michael Schmidt: Nichts als Vettern? Anspielungsstrukturen in Wilhelm Raabes Erzählung »Zum wilden Mann«. In: JbRG, 1992, S. 109–138, hier: S. 112f. Eher weniger überzeugend wirkt der Versuch Heinrich Deterings in Theodizee und Erzählverfahren (1990), diesen Konnotaten eine systematische mythologische Stimmigkeit abzugewinnen. Die Deutung, dass der melancholische Jüngling August Mördling am Blutstuhl mit dem Teufel ringe, ehe er in Südamerika mit ihm seinen Pakt abschließt, übersieht, dass diverse Elemente der Teufelsmetaphorik bereits vorher eingeführt werden, u.a. über die Figur der Johanne (erinnert sei an die Gretchen-Anklänge und das Motiv des infizierten Geldes). Die divergierenden Bewertungen der vermeintlichen ›biographischen Phasen‹ dürften sich dadurch erklären, dass die ausschlaggebenden Informationen in je unterschiedlichen intradiegetischen Erzählungen Kristellers und Agonistas verteilt werden.

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August brieflich an Kristeller übergibt, vom unseligen Beruf infiziert. »O meine Johanne – meine liebe arme Johanne!«, klagt Kristeller, als er von der Herkunft des Vermögens erfährt.429 Und ironischerweise obliegt es gerade Agonista, dem zum Diabolo hypostasierten Weltenbummler, diese magische Anschauung des Geldes profan realistisch einzuholen: Nein, nein, Philipp, bei allen Mächten, nein! es ist nicht so! Das ist nicht der Geschäftsgang zwischen Himmel und Erde! Du würdest sie doch verloren haben – o, um meine Hinterlassenschaft hat sie dir das Schicksal nicht sterben lassen! Was hatte ihr Dasein und Geschick mit dem zu schaffen, was alles an den Talern hing, die ich damals auf der Flucht von mir warf und dir an den Hals, weil du mir zufällig zunächst standest?430

Wie bereits mehrfach bemerkt, oszilliert der realistische Text, um poetisch zu werden, an solchen Stellen zwischen profanen und übersinnlichen Deutungsmustern. Ob Johanne durch einen unglücklichen Zufall umkommt (profane Lesart) oder durch ein dämonisches Tauschgeschäft (mythologische Lesart), wird bewusst offen gehalten. Während dabei die profane Reihe, die biographisch lesbare Geschichte der beiden Protagonisten, konsistent durchgearbeitet und dadurch privilegiert ist, genügen für die mythischen Bezüge wie hier einzelne Anspielungen. Dass diese Aufladungen aber, sofern von geldwirtschaftlichen Belangen die Rede ist, aus dem Bereich der schwarzen Magie stammen, fügt sich in das Bild, das der literarische Realismus für die modernen kapitalistischen Wirtschaftsmittel überhaupt entwirft. Auch August/ Agonista – bezeichnenderweise hat auch dieser Spekulant einen Namenswechsel vollzogen431 – verkörpert die bedrohliche Mobilität des zunehmend virtuell werdenden Geldverkehrs. Seine 9.500 Taler kommen selbst in Pfandbriefen, ›Landesschuldverschreibungen von verschiedener Herren Ländern‹; seine finale Auszahlung löst wiederum Eigentum in Hypotheken auf. Die Zeit dazwischen dient einer Besitz- und Grundstückspflege, die so recht kein Geld abwirft. Gerade das macht die Existenz Kristellers gegenüber einer wachstumsorientierten Logik so prekär wie pathosfähig. Es ist die biedere Bedürfnislosigkeit, die hier probiert standzuhalten gegen eine weltläufige Macht des Kapitals. Es ist der Appell an eine sittliche Kraft, die sich von kontingenten Umständen unabhängig macht, die nicht auf Kalkül, sondern auf Ethos und Haltung (auf Charakter, mit Simmel gesprochen432) baut. Wenn die Erzählung diesen Appell mit ihrem Helden letztlich in Zweifel zieht, so tut sie dies nicht ohne klare Positionierung gegen all das, was Agonista als »Kanaille«433 und »Bestie im Menschen«434 verkörpert.

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Raabe: Zum wilden Mann, S. 217. Raabe: Zum wilden Mann, S. 217. Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2.1. dieser Arbeit. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 594f. Wilhelm Fehse: Wilhelm Raabe. Sein Leben und seine Werke, Braunschweig 1937, S. 399. Wilhelm Raabe: »In alles gedultig«. Briefe Wilhelm Raabes [1842–1910], im Auftrage der Familie Raabe hg. von Wilhelm Fehse, Berlin 1940, S. 307.

Raabes Zum wilden Mann fügt sich an dieser Stelle in die gängige literarische Skepsis gegen die moderne Geldwirtschaft – personifiziert in Figuren vom Schlage Itzigs, Ehrenthals, Giraldis oder Meierleins – ein. Ja, die Erzählung spitzt das Motiv zu, wenn die Einkürzung des konkreten Handlungsprogramms bei gleichbleibend hoher allegorischer Verdichtung Agonista als das Böse schlechthin vorführt. Dass damit, ähnlich wie bei Keller, ein gewisser Fatalismus eingekauft wird, entspricht der Größe des Bildentwurfs. Wo die Bedrohung dämonisch wirkt, da hilft auch keine detektivische Arbeit, wie sie etwa Anton Wohlfart noch zu leisten vermochte. Da resigniert die Erzählung über einem Helden, der sein standhaftes Aushalten und Entsagen an Weihnachten im bald verpfändeten Heim als passiven Glücksmoment erlebt.435 Zweifel am Sittlichkeitsprogramm dürfen so aufkommen; Gegenentwürfe aber sind Fehlanzeige.

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Søren R. Fauth hat jüngst die Willensverneinung in dieser Erzählung mit der Schopenhauer’schen ›Nichts-Soteriologie‹ in Zusammenhang gebracht. In dieser konkreten Kontextualisierung wird der Stellenwert, den die ›Entsagung‹ über Raabes Oeuvre hinaus für die gesamte realistische Diskursivität besitzt, übersehen. Vgl. Søren R. Fauth: Metaphysischer Realismus und Willensverneinung in Wilhelm Raabes Erzählungen »Zum wilden Mann«, »Unruhige Gäste«, »Die Akten des Vogelsangs« und »Wunnigel«. In: Andreas Blödorn/Søren R. Fauth (Hg.), Metaphysik und Moderne. Von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann. Festschrift für Børge Kristiansen, Wuppertal 2006, S.  89–143, hier: S. 113f.

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4.

Der realistische Weg und seine Ränder – Systemische und antisystemische Poetiken

Der ›realistische Weg‹ ist, wie erläutert1, ein offener Weg der Bedeutungserzeugung. In der Reihung metonymischer Sachverhalte wird eine singuläre Geschichte entworfen, die jedweden homogenen semantischen Überbau unterläuft. Das Textverfahren ist, um mit Hans Vilmar Geppert zu sprechen, darauf angelegt, ›Codes zu verbrauchen‹. Und dieses ›Verbrauchen‹ kommt gelegentlich auch direkt zur Sprache. So darf man jene Äußerung, die die Titelfigur Iwanow in Anton Tschechows erstem abendfüllendem Drama dem Arzt Lwow entgegenhält, allegorisch für die Problemstellung realistischer Diskursivität schlechthin nehmen: Ihrer Ansicht nach gibt es ja nichts Einfacheres, als mich zu verstehen! Nicht wahr? Ich habe Anja geheiratet, um eine große Mitgift zu erhalten … Die Mitgift wurde mir vorenthalten, es war ein Fehlschlag, und jetzt versuche ich sie ums Leben zu bringen, um eine andere zu heiraten und deren Mitgift zu erlangen … Ist es so? Wie einfach und unkompliziert … Der Mensch ist ja eine so einfache und leicht zu handhabende Maschine … Nein, Doktor, in jedem von uns sind allzu viele Räder, Schrauben und Klappen, als daß wir gleich nach dem ersten Eindruck oder nach zwei, drei äußerlichen Anzeichen übereinander urteilen könnten. Ich verstehe Sie nicht, Sie verstehen mich nicht, und wir verstehen uns selber auch nicht. Man kann ein vortreffl icher Arzt sein und doch gleichzeitig die Menschen überhaupt nicht kennen.2

Was hier psychologisch gefasst ist, lässt sich ohne weiteres auf die literarischen Verfahren übertragen: Nicht nur der Mensch ist eine komplizierte Maschine. Auch die Textmaschine des Realismus begreift sich als irreduzible Komplexität. Sie präsentiert einen in letzter Instanz singulären fi ktionalen Fall, der sich dem abschließenden Verstehen – der Subsumtion unter einen kulturellen Code – verweigert. In diesem Sinne steht der Realismus, wie Geppert dargelegt hat, gleichermaßen entfernt vom Goethe’schen Symboldenken wie von der System-Semiose naturalistischer Literatur.3 Weder mit Goethes spekulativer Naturidee geht er mit, noch verpflichtet er sich naturwissenschaft lich-materialistischen Gesetzmäßigkeiten, um ein literari-

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Siehe Abschnitt 2.3.2. Anton Tschechow: Iwanow. Drama in vier Akten. In: Anton Tschechow, Dramen, übers. von Johannes von Guenther, mit einem Essay ›Zum Verständnis des Werkes‹ und einer Bibliographie von Svetlana Geier, Hamburg 1960, S. 35–95, hier: S. 76f. Siehe hierzu Geppert: Der realistische Weg, Kapitel 3.5 (»Symbol« und »Allegorie« im literarischen Realismus), S. 204–221, und Kapitel 3.3.1 (Die Singularität realistischen Erzählens), S. 124–135.

sches Geschehen vollständig zu motivieren. Die Anspielungsstruktur des Realismus, die Zweitcodierungen immer nur punktuell ins Spiel bringt, ist in diesem Sinne das Gegenmodell sowohl zum idealistischen wie zum materialistischen Monismus. Der Realismus kennt nur ein Verweisen auf Sinn, nicht dessen vollständige, wenn auch modellhafte Darstellung, nur eine Geschichte, nicht ein Gesetz, und sei es ein spekulatives, das in die Erscheinung tritt, keine letztliche, freilich postulierte Subjekt-Objekt-Identität, nur eine Methode, die von einem zum anderen führen »könnte«, keinen »symbolischen«, aber eben nur symbolischen Sinnraum, sondern einen von Realien getragenen und begrenzten Weg.4

In diesem vierten Kapitel soll die Profi lierung des realistischen Weges aus der Abwehr systemischer Schreibweisen heraus untersucht werden. Es geht um die Umgangsweise mit modellhaften Einheiten, die in Teilen des ökonomischen Diskurses bereitgestellt werden. Der Blick fällt mithin auf die Ränder der realistischen Diskursivität. Paradigmatische Strömungen wie die österreichische Grenznutzenschule und die kommunistische Theorie von Marx und Engels bilden hier die Kontrastfolie. Inwieweit abstrakte Gesetzmäßigkeiten in diesen Schulen textuell geformt sind und wie solche Gesetzmäßigkeiten sowohl im literarischen wie im ökonomischen Realismus spannungsreich verarbeitet werden, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte. Den Anfang soll eine kleine Fallstudie zum literarökonomischen Konzept des ›Hungers‹ in verschiedenen Literaturen bilden.

4.1.

Das System des Hungers – Wilhelm Raabes Der Hungerpastor und die Problematik systemischer Denkweisen im Realismus

Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er für die Welt im ganzen Schiwa und Wischnu, Zerstörer und Erhalter in einer Person ist, kann ich freilich nicht auseinandersetzen, denn das ist die Sache der Geschichte; aber schildern kann ich, wie er im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird bis an der Welt Ende.5

Programmatisch eröffnet Wilhelm Raabe seinen großen Zeitroman Der Hungerpastor (1864), der zu einem der wenigen Publikumserfolge des Autors aus Eschershausen wurde: Nicht von der ›Welt im Ganzen‹ wolle er erzählen, sondern davon, wie der Hunger ›im Einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt‹. Nicht als universalgeschichtliche Antriebsstruktur also, sondern als individuelles Movens soll der Hunger in dieser Geschichte auftauchen. Die narrative Verpflichtung auf den Einzelfall tritt mit einer Abwehrbewegung gegen das Allgemeine und Prinzipielle auf, das mit dem Motiv des Hungers ebenfalls zu verhandeln wäre. Philosophische Bezugsgrößen, die in dieser Gegenüberstellung angespielt werden, wie die Metaphysiken Jacob Böhmes

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Geppert: Der realistische Weg, S. 215. Raabe: Der Hungerpastor, S. 5.

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und Arthur Schopenhauers, sind in der Raabe-Forschung bereits zur Sprache gekommen.6 Aber der Horizont des Allgemeinen erschöpft sich nicht in der philosophischen Spekulation. Eine Stufe konkreter gefasst rückt Weltgeschichte in Raabes Roman auch als Wirtschaftsgeschichte in den Blick, so in der finalen Weihnachtspredigt des Pastors Josias Tillenius.7 Ein Referenzpunkt für diese Dimension des Buches wird mittendrin explizit benannt. Als der verwaiste Schustersohn Hans Unwirrsch nach erfolgreichem Theologiestudium und anschließendem Intermezzo als Hauslehrer zur zentralen Etappe seines Lebenswegs nach Berlin aufbricht, um seine neue Stelle beim Geheimen Rath Götz anzutreten, bietet sich ihm folgendes Bild der Großstadt dar: Für Hans Unwirrsch aber gab es in diesem Augenblick keine Zeit. Er stand und gaffte über den Platz, der vor ihm sich ausbreitete, er starrte auf die lichterhellten vier Straßen, die auf diesem Platz ausmündeten und deren Anfang in unendlichster Ferne zu liegen schien. Ungeheuer viele Menschen! Neustadt war doch auch ein ziemlich bevölkerter Ort, aber dies ging noch über Neustadt hinaus; das ging über alles hinaus, was der Herr von Malthus jemals geschrieben hatte.8

Thomas Robert Malthus ist also der prominente Stichwortgeber, der sich dem Erzähler beim Thema ›Hunger‹ zwangsläufig aufdrängt, wenn sein Held in der Stadt so ›ungeheuer viele Menschen‹ erblickt. Denn der englische Nationalökonom und Statistiker hat mit seinem Bevölkerungsgesetz und den begleitenden Illustrationen von Hunger, Verelendung und Überbevölkerung eine der einflussreichsten sozialökonomischen Stellungnahmen für die Industrialisierungsepoche geliefert. Bei Hungerszenarien darf der Name Malthus im 19. Jahrhundert nicht fehlen. Seinen Beitrag zum ›Schiwa und Wischnu‹ im Großen und Ganzen, sprich zur Dynamik des (Über-)Lebenskampfes der Kulturen, hat Malthus erstmals 1798 in seinem Essay on the Principle of Population (Versuch über das Bevölkerungsgesetz) vorgelegt und in den folgenden Jahren in mehreren Auflagen mit immer zahlreicheren kulturhistorischen Beispielen veranschaulicht. Der biologistische Grundgedanke dieses Essays setzt ein stetiges Wachstumspotenzial als Grundlage des Bevölkerungsproblems an: Bei naturgegebenem Fortpflanzungsdrang vermehre sich eine Population im »geometrischen Verhältniss«, so »dass ohne Hemmung die Bevölkerung sich alle 25 Jahre verdoppelt«.9 Die Unterhaltsmittel könnten demgegenüber lediglich in ›arithmetischem‹ Verhältnis zunehmen. Bei ungehemmter Entwicklung träten die

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Vgl. Gerhart Mayer: Die geistige Entwicklung Wilhelm Raabes. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zur Philosophie, Göttingen 1960, S. 17–20 u. S. 34; Rudi Schweikert: »Vom Hunger will ich handeln«. Überlegungen zur ›Hunger‹Metapher und zum Licht-Dunkel-Gegensatz in Wilhelm Raabes »Der Hungerpastor«. In: JbRG, 1978, S. 78–106. Vgl. Raabe: Der Hungerpastor, S. 458f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 203. Thomas Robert Malthus: Versuch über das Bevölkerungsgesetz. Oder eine Betrachtung über seine Folgen für das menschliche Glück in der Vergangenheit und Gegenwart mit einer Untersuchung unserer Aussichten auf künftige Beseitigung oder Milderung der

beiden Reihen also insofern auseinander, als dass sich »die menschliche Gattung wie die Ziffern 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256« vermehren »die Nahrungsmittel dagegen wie 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9« anstiegen.10 Die Bevölkerungsentwicklung läuft demnach in einer gravierenden gesetzmäßigen Diskrepanz zwischen dem Bedarf und dem Vorrat an Unterhaltsmitteln ab. Zur Nivellierung dieser gesetzmäßigen Spanne und mithin zur Anpassung der Population an den Unterhaltsmittelbestand braucht es nun verschiedene Hemmnisse, präventive und repressiv ›positive‹. Die vorbeugenden sind wesentlich ›sittlicher‹ Natur und betreffen Zwangsmaßnahmen zur Eindämmung der Zeugungsfreude. Als positives Hemmnis wird das Eintreten von Elend gefasst, durch das sich die Bevölkerung in drastischer Weise (Krankheiten, Hungersnöte, Gewalt und Kriminalität) minimiert. Das Gros von Malthus’ Essays dient der Veranschaulichung solcher unterschiedlichen Formen von Hemmnissen, die sich in verschiedenen Kulturen nachweisen lassen, und präsentiert darüber hinaus Anweisungen zur aktiven Einschränkung der Bevölkerungszunahme. Den systematischen Kern dieser Theorie hat Joseph Vogl herauspräpariert: Malthus beschreibt in seinem Bevölkerungsgesetz einen Regelkreislauf, der von einem permanenten Ungleichgewicht angetrieben ist. Die Vergrößerung einer gegebenen Population führt zwangsläufig zum Mangel an Unterhaltsmitteln und in der Konsequenz zur Verkleinerung ebendieser Population. Die Population wächst dann umgekehrt wieder an, sobald die Unterhaltsmittel in ausreichendem Maße vorhanden sind. Malthus hat diesen Kreislauf an einschlägiger Stelle in seinen Ausführungen über den Marktmechanismus erläutert. Das Bevölkerungswachstum tariert sich über den Preisverfall der Arbeitskraft, der aus ihrem Überangebot resultiert, und dem damit korrelierten Preisanstieg der Unterhaltsmittel aus (umgekehrt erhöht die Verknappung des Arbeitskräfteangebots bei gleichzeitig niedrigem Lebensmittelpreis die Nachfrage und den Preis der Arbeit und damit die Nachwuchsrate). Diese Steuerungsbewegung ist selbst am Preisniveau eines gegebenen Marktes ablesbar und verläuft, so Vogl, autoregulativ. »Das System wird durch seine eigene Unruhe beruhigt, durch seine eigenen Krisen optimiert, es wird durch das Elend, das es selbst produziert, in produktiver Bewegung gehalten.«11 Dieser Autonomiegedanke ist allerdings bei Malthus in dicke Schichten bevölkerungspolitischer Erwägungen eingehüllt, die sich, wie erwähnt, kulturhistorisch herleiten. Seine Aufmerksamkeit gilt viel eher den sittlichen Restriktionen des natürlichen Wachstumsbegehrens als den rein monetär darstellbaren, sich selbst aussteuernden Marktbewegungen.12 In dieser politischen Schwerpunktsetzung wird

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aus ihm entspringenden Uebel [engl. 1798], nach der 7. Ausgabe des englischen Originals übers. von F. Stöpel, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 6. Malthus: Versuch über das Bevölkerungsgesetz, S. 10. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 255. Vgl. zur Produktivitätsskepsis bei Malthus auch Heinzelman: Economics of the Imagination, S. 93f.

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Malthus denn auch in Deutschland rezipiert. Schon Wilhelm Roscher, der Malthus’ Bevölkerungstheorie als Bestandteil der klassischen englischen Doktrinen in seinem Lehrbuch reproduziert (mit geringen Abänderungen in der Zahlenprognose13), setzt seinen Akzent auf die kulturellen und statistischen Anteile des Werkes. Die Kulturgeschichte der wachstumshemmenden Maßregeln wird nachvollzogen, in das bekannte Stufenschema (rohe Zeiten, Blüte, Niedergang) eingeordnet und mit eigenen Beispielen angereichert. Anschließend mündet die deskriptive Betrachtung in die Bevölkerungspolitik. Maßnahmen zur Volksvermehrung (Heiratsgebote, Berufung von Einwanderern, Auswanderungsverbote, Gesundheitspolizei, Wachstum und bessere Verteilung der Unterhaltsmittel) und zu ihrer Eindämmung (Heiraterschwernis, Förderung der Auswanderung, insbesondere zu Kolonisationszwecken) werden, wie üblich unter Hinzuziehung historischer Beispiele, ausgebreitet.14 Von einer etwaigen Theorie der Selbstregulierung des Arbeitskräftemarktes ist hier wenig zu sehen. Die Ökonomie wird vielmehr in ihrer politischen Verpflichtung begriffen. Diese Tendenz setzt sich noch in Gustav Schmollers großem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre fort, mit dem die Historische Schule um 1900 ihren Schlusspunkt findet. Auch Schmoller rekapituliert breit die politischen Maßregeln zur Drosselung der Populationszunahme, hebt die Hemmungen (mit Malthus) und die (bevorzugt kolonialistische) Emigration als Steuerungsmittel hervor. Einen neuen Schwerpunkt bildet demgegenüber die Frage nach der ›Verdichtung‹ der Bevölkerung vermöge des technischen und sittlichen Fortschritts. Denn diese erlaube ein moderates Bevölkerungswachstum auf einem gegebenen Territorium. »Gelungene Verdichtung der Bevölkerung ist das Resultat vollendetster Staatskunst und höchster Kultur, und zwar nicht bloß technischer, sondern ebenso moralischer und geistiger, und nicht bloß einer hohen Kultur der führenden Spitzen, sondern ganzer Völker.«15 Auch Schmollers Erörterungen des Bevölkerungsproblems gehen direkt in politische Unterweisungen über. Neben der Sorge für »einen reichlichen Bevölkerungsabfluß womöglich nach eigenen Kolonien« und dem Ausbau der Handelspolitik empfiehlt Schmoller nach innen u.a. die sittliche (am Mittelstand orientierte) Erziehung und finanzielle Besserstellung der unteren Klassen (zur Verhinderung proletarischer, verfrühter Ehen) und überhaupt das »Hinarbeiten auf eine gleichmäßigere Einkommensverteilung«.16 Von der Marktallokation als Mittel zur Regulierung des Bevölkerungsproblems ist hierbei keine Rede. Diese klare Politisierung geht über Malthus hinaus, ja sie räumt eine Unschärfe aus, die sich bei dem englischen Theoretiker sehr zum Verdruss seiner Rezipienten eingeschlichen hatte. Im Bestreben, ökonomische Verhältnisse auf naturförmige Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, doch gleichwohl gesellschaftliche Lösungsstra-

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Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 242, S. 673. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, §§ 253–262 a, S. 726–771. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 189. Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 189f.

tegien mit zu thematisieren, schiebt Malthus regelmäßig normativ und deskriptiv anmutende Aussagen ineinander. Notorisch werden etwa seine Darlegungen zum zeitgenössischen Armenproblem: Ein Mensch, der in einer bereits occupierten Welt geboren wird, hat, wenn seine Familie ihn nicht ernähren, noch die Gesellschaft seine Arbeit gebrauchen kann, nicht das mindeste Recht, einen irgendwelchen Theil der Nahrungsmittel zu fordern, und ist wirklich überflüssig auf der Erde. An dem großen Gastmahle der Natur ist für ihn kein Couvert aufgelegt. Die Natur gebietet ihm, sich wieder zu entfernen, und säumt nicht, dieß Gebot selbst in Ausführung zu bringen.17

Der Antihumanismus, der in solchen Zuspitzungen steckt und als Effekt der Verschränkung von mechanistischem und volativem Diskurs erscheint, wird von den deutschen Ökonomen als lässliche Jugendsünde abgetan.18 Schwerer wiegt der sich hier kundtuende theoretische Reduktionismus, der die Bandbreite kulturellen Handelns gegenüber etwaigen Naturgegebenheiten zu gering einstuft. So kritisiert Schmoller: Malthus hat dann den Kampf der Individuen um den Nahrungsspielraum für die Erklärung der Bevölkerungserscheinungen benutzt und aus Erscheinungen, in denen sein deutscher Vorgänger Süßmilch eine göttliche Ordnung sah, Faustkämpfe gemacht, die mit Recht den Armen, dessen Arbeit die Gesellschaft nicht bedürfe, wieder durch Hunger und Krankheit entferne.19

Der Kampfgedanke wird hier zum Inbegriff einer (systemischen) Anschauung, die Naturerscheinungen auf einfachstmögliche Antriebskräfte und Wechselwirkungen zurückführt. Und diese Anschauung, der, laut Schmoller, auch Darwin und die Sozialisten anhängen, wird vom Kulturalismus des historischen Ökonomen als einseitig und pessimistisch zurückgewiesen: Die einzelnen und die sozialen Gruppen standen so stets zugleich zueinander in einem Verhältnis der Attraktion und der Repulsion, des Friedens und des Streites. Überall herrschen zwischen denselben Personen und Gruppen heute feindliche, morgen freundliche Beziehungen; man liebt sich heute, wirkt zusammen, fördert sich, und morgen haßt und beneidet, bekämpft und vernichtet man sich.20

Erst die Balance zwischen friedlichen und kämpferischen, institutionellen und atomistischen, altruistischen und egoistischen Dynamiken macht den Gesamtkomplex geschichtlicher Bewegung aus und wird dementsprechend zum Aufgabenfeld einer historisch konkreten Gesellschaft sbeschreibung. Und für diese Beschreibung gelten die jeweiligen Stränge als irreduzibel, d.h. nicht systemisch aufeinander

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Zitiert nach Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 243, S. 679, Fn. 15. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 243, S. 679, Fn. 15. Schmoller: Grundriß. Erster Teil, S. 67. Schmoller: Grundriß. Erster Teil, S. 66.

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rückführbar. Inwieweit Schmoller dieses Desiderat einer historischen Wirtschaftsund Gesellschaftstheorie selbst eingelöst hat, wird in Abschnitt 5.1. dieser Arbeit untersucht. Die ›clearer vision‹ des Realisten – Charles Dickens’ Oliver Twist Der literarische Realismus verfährt mit dem systemischen Angebot von Malthus auf seine Weise, weniger analytisch als deskriptiv und sittlich orientiert. Paradigmatisch hatte bereits Charles Dickens angezeigt, in welcher Weise sich das Erzählen den Herausforderungen moderner ökonomischer Theorie stellen konnte. In seinem Frühwerk Oliver Twist (1838) lässt Dickens seinen Erzähler in Anspielung auf Malthus’ Vorrede zur ersten Auflage seines Essay on the Principle of Population21 verlauten: Such is the influence which the condition of our own thoughts exercises, even over the appearance of external objects. Men who look on nature, and their fellow-men, and cry that all is dark and gloomy, are in the right; but the sombre colours are reflections from their own jaundiced eyes and hearts. The real hues are delicate, and need a clearer vision.22

Der klarere Blick (›a clearer vision‹) für die feinen Tönungen des Lebens (die ›delicate hues‹), der hier erzählprogrammatisch angepriesen wird, meint einerseits den Präsentationsmodus: Wie Olivers morgendlich erquickliche Fensterschau im Hause seiner Beschützerin Mrs. Maylie zu erkennen gibt, liegen der Dinge Hässlichkeit wie Schönheit im Auge des Betrachters. Eben: ›Such is the influence which the condition of our own thoughts exercises, even over the appearance of external objects.‹ Als Konsequenz aus dieser Überzeugung ist der Dickens-Text bestrebt, den ruhigen, harmonisch schönen Hort der Bürgerlichkeit (Mrs. Maylie, Mr. Brownlow) dem befremdlichen Unterschichten-Szenario (um Fagin) entgegenzuhalten und damit die bürgerliche Sphäre dem Helden gleichsam als innerweltliches Erlösungsversprechen in Aussicht zu stellen. Dabei werden die, wie man in Deutschland zu sagen pflegt, ›unverklärten‹, roh-stofflichen Details aus dem zeitgenössischen Londoner Gaunermilieu entweder schlichtweg dem Bereich des infernalisch Bösen zugeschlagen (Sikes) oder durch eine ironische, karikierende Darbietungsweise relativiert.23

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Die Wendung bei Malthus lautet: »The view which he has given of human life has a melancholy hue; but he feels conscious that he has drawn these dark tints, from a conviction that they are really in the picture, and not from a jaundiced eye, or an inherent spleen of disposition.« Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population, the first edition (1798) with introduction and bibliography (The Works of Thomas Robert Malthus, hg. von E. A. Wrigley/David Souden, Bd. 1), London 1986, S. ii. Vgl. zum Zitatcharakter der Dickens-Stelle David Paroissien: The Companion to Oliver Twist, Edinburgh 1992, S. 216; Robert Newsom: Charles Dickens revisited, New York 2000, S. 76. Charles Dickens: Oliver Twist [1838], hg. von Kathleen Tillotson, Oxford 1966, S. 226. Vgl. Christian Enzensberger: Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur, Bd. 2 (Beispiele: William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig; Charles Dickens: Oliver Twist), München, Wien 1977, S. 91–158, besonders: S. 125–145.

Andererseits verspricht Dickens’ Erzähler mit seinem Programm der ›clearer vision‹ reichhaltige Phänomenbeschreibungen24 unterhalb der systemischen Vorgaben des ökonomischen Diskurses. Einschlägig sind hier die Schilderungen aus den Arbeitshäusern, in denen der Protagonist einen Großteil seiner Kindheit zubringt. In Anspielung auf die sozialpolitischen Diskurse der Zeit wartet das zweite Kapitel des Oliver Twist mit einer ironischen Lehrstunde in ›Experimentalphilosophie‹ auf. Experimentalphilosophie wird dabei zur Metapher für eine krude, an der Theorie des Eigennutzens ausgerichtete Menschenführung, wie sie der utilitaristischen Philosophie Jeremy Benthams oder eben dem Pessimismus Thomas Malthus’ entspringt. Als erste Versuchsleiterin in diesem Sinne lässt der Roman Mrs. Mann auftreten, die grobe, selbstsüchtige, durch und durch bigotte Leiterin des Zweigarmenhauses der Gemeinde. Von 7 1/2 Penny pro Woche für die Kinderpflege unterschlägt sie mehr als die Hälfte, was der Erzähler im Verweis auf einen fi ktiven Vorläufer ironisch kommentiert: Everybody knows the story of another experimental philosopher, who had a great theory about a horse being able to live without eating, and who demonstrated it so well, that he got his own horse down to a straw a day, and would most unquestionably have rendered him a very spirited and rampacious animal on nothing at all, if he had not died, just four-andtwenty hours before he was to have had his first comfortable bait of air.25

Kostenerfassung und Kostensenkung sind also der Gegenstand dieses ›Experiments‹. Wie das Pferd des namenlosen Forschers, so werden die Kinder von Mrs. Mann einzig als Mittel eines radikalen und rücksichtslosen Sparkurses zum Zweck der eigenen Gewinnmaximierung erfasst. Auch hier leitet sich der Ereignisverlauf aus der subjektiven Disposition ab. Der gehässige, grobe Charakter der Mrs. Mann erklärt die Situation hinreichend. Fragen nach der Legitimation der Institution ›Armenhaus‹ und ihrer gesellschaftspolitischen Funktion, wie sie etwa in Malthus’ Bevölkerungsessays mitgegeben werden, bleiben ausgespart. Der Text verlegt sich auf die Inkriminierung der fi ktiven Funktionäre. Ein Chirurg und ein Kirchspieldiener decken Mrs. Manns Korruption, teils aus Unfähigkeit, teils wissentlich. Wenn der häufige Kindstod im Zweigarbeitshaus ruchbar wird, stellt das Gemeindegericht lediglich laxe Nachforschungen an. So steht das Kinderheim als Ergebnis und Wirkungsraum eines ungebremst waltenden, skrupellosen Eigennutzens gleichsam isoliert und in sich abgeschlossen da. Es ist ein irdisches Verließ, das lediglich passionsartig durchschritten werden kann (von Oliver). Man duldet darin eine abstrakte Grausamkeit, eine ungebremste Gier, die durch die scherenschnittartig diabolische Mrs. Mann personifiziert wird. Die Aufspaltung in Opfer (Kinder) und Täter (Heimleiterin) umgeht dabei den Universalismus des Eigennutzenprinzips, wie es von Bentham/Malthus unterstellt

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Die Detailfülle Dickens’scher Deskriptionen als Merkmal seines seinerzeit neuartigen Realismus ist in der Forschung hinlänglich gewürdigt worden. Dickens: Oliver Twist, S. 4.

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wird. Von einem egoistischen Kalkül ist hier augenscheinlich allein eine Figur angetrieben, und diese macht es durch ihre asoziale Radikalisierung gleichsam verächtlich. Das Arbeitshaus, in das Oliver mit seinem neunten Lebensjahr eintritt, stellt dabei die praktische Verlängerung der zeitgenössischen Sozialdoktrinen dar. Dickens attackiert die Abwärtsspirale des utilitaristischen Effizienzdenkens in relativ unverkleideter Anspielung auf die Armengesetze von 183426, wenn er die Reform der Arbeitshäuser als Verelendungsmaßnahme karikiert: So, they [the board] established the rule, that all poor people should have the alternative (for they would compel nobody, not they,) of being starved by a gradual process in the house, or by a quick one out of it.27

Verschiedene Zwangsmaßnahmen (›humane regulations‹) zur Drangsalierung der Subventionsempfänger werden ironisch aufsummiert. Dann folgt die narrative Antwort in verschiedenen Affektszenen, die das Suppenküchenelend der Arbeitshäuser vorstellen und in Olivers Bitte um einen Nachschlag bei den Essensportionen kulminieren. Die ›clearer vision‹ des Realisten setzt auf plastische Präsentation von menschlichen Phänomenen, die für die (aus dem Blickwinkel des Romans) misanthropische Sozialtheorie lediglich als Systemstellen, als zu verwaltende numerische Größe in einem Rationalitätskalkül, vorkommen. Diese realistisch-phänomenale Wendung macht starke Voraussetzungen. Um den Systemcharakter zu negieren, erhält der Protagonist eine gleichsam transzendente Sittlichkeit: »It cannot be expected that this system of farming would produce any very extraordinary or luxuriant crop […]. But nature or inheritance had implanted a good sturdy spirit in Oliver’s breast«, lautet die für den Roman apriorische Vergewisserung über seinen Helden.28 Sie ist nicht nur als Aussage über die robuste physische Disposition des Helden aufzufassen. In ihr ist auch jener konstitutive Hiatus zwischen moralischer Integrität und materiellen Lebensumständen angelegt, der es erlaubt, die Zeit im Kinderund Arbeitshaus als zwar missliche, aber doch nicht weiter folgenschwere Episode in Oliver Twists Biographie zu verbuchen. Ein Feedback zwischen Sittlichkeit und Milieu findet hier nicht statt. Bezeichnenderweise erfolgt Olivers Bitte um die Mehrportion Essen auch nicht aus eigenem Verlangen heraus, sondern als Konsequenz eines nicht weiter beschriebenen Ratsbeschlusses unter den Kindern.29 Die Systemstelle, von der in diesem Unterschichtenmilieu alles abhängt – der Hunger als Symbol des egoistischen Antriebsprinzips –, darf den Helden nicht vollständig erfassen. Nur so ist das von Dickens in seinem Vorwort zur dritten Auflage von 1841 bekundete Bestreben des Romans garantiert, »to shew, in little Oliver, the principle of Good surviving through every adverse circumstance, and triumphing at last«.30

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Vgl. Paroissien: The Companion to Oliver Twist, S. 48–59. Dickens: Oliver Twist, S. 10. Dickens: Oliver Twist, S. 5. Vgl. Dickens: Oliver Twist, S. 11. Dickens: Oliver Twist, S. LXII.

Wie in der Dickens-Forschung hinlänglich diskutiert, schlägt sich dieses Ringen um ein unversehrbar gutes sittliches Prinzip auch in der weiteren Behandlung der Hunger-Problematik nieder. Die bürgerliche Sphäre definiert sich über Mäßigung und Enthaltsamkeit. Die Inauguration des Helden ins behütete Bürgerhaus am Romanende fällt mit einem aufgeschobenen Dinner zusammen. In Abgrenzung dazu wird das Egoismusmotiv dann im kriminellen Milieu beim Juden Fagin lokalisiert, wo Schurken wie Sikes signifi kanterweise zur Diät komplett unfähig sind. Durch diese polare Aufspaltung entproblematisiert der Roman seinen Helden. Er lagert ein Begehren, das diesem von väterlicher Seite zumindest potenziell mitgegeben ist (und sich bei seinem Halbbruder Monks tatsächlich pathologisch und kriminell ausschlägt), auf Neben- und Kontrastfiguren aus.31 Oliver Twist kann dadurch zwar charakterlich blass, doch sittlich immun durch das Geschehen hindurch seinem Happy End entgegensteuern. Auf der Suche nach dem guten Hunger – Wilhelm Raabes Der Hungerpastor Wilhelm Raabe geht in seinem später von ihm zum »abgestandenen Jugendquark«32 bzw. zu seinen »Kinderbüchern«33 gerechneten Erfolgsroman Der Hungerpastor einen ähnlichen Weg. In streng antinomischer Konstruktion erzählt er den Entwicklungsgang zweier gesellschaftlicher Außenseiter: hüben der Protagonist aus verarmtem Schusterhause Hans Unwirrsch, drüben der Sohn des jüdischen Krämers Moses Freudenstein. Der eine profi liert sich in den verschiedenen Stationen seines Werdegangs (Uni, drei Hauslehreranstellungen) als etwas naiver Durchschnittskopf mit stark altruistischer Einstellung und findet schlussendlich sein Heil als Dorfseelsorger (›Hungerpastor‹) am Ende der Welt, im Ostseekaff Grunzenow, gemeinsam mit der engelsgleichen, entsagungsbereiten Offizierstochter Franziska Götz. Der andere, ausgestattet mit dem Erbe seines Vaters, reüssiert in Paris und Berlin als messerscharfer Analytiker, Kritiker und Kulturphilosoph, macht mehrere Frauen unglücklich und endet letztlich als Geheimer Rat, »bürgerlich tot im furchtbarsten Sinne des Wortes«.34 Was Hans an diff us idealischem Streben auf die Waagschale legt, das bringt Moses Freudenstein auf der anderen Seite an zynischem Karrierismus und streng machtpragmatischer Gesinnung ein. Moses geriert sich schon in der Jugend als Machiavelli-Leser und zelebriert die Ungebundenheit einer weltläufigen ›jüdischen‹ Existenzsweise: Ich habe das Recht, nur da ein Deutscher zu sein, wo es mir beliebt, und das Recht, diese Ehre in jedem mir beliebigen Augenblick aufzugeben. Wir Juden sind doch die wahren

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Vgl. Gail Turley Houston: Consuming Fictions. Gender, Class, and Hunger in Dickens’s Novels, Carbondale, Edwardsville 1994, S. 30–36. Raabe: »In alles gedultig«. Briefe, S. 366. Fehse: Wilhelm Raabe, S. 216. Raabe: Der Hungerpastor, S. 461.

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Kosmopoliten, die Weltbürger von Gottes Gnaden oder, wenn du willst, von Gottes Ungnaden. […] Wir sind Passagiere auf eurem Schiff, das nach dem Ideal des besten Staats steuert; aber wenn die Barke scheitert, so ertrinkt nur ihr; – wir haben unsere Schwimmgürtel und schaukeln lustig und wohlbehalten unter den Trümmern.35

Die kosmopolitische Freiheit, die Moses Freudenstein später mit seinem Übertritt zum Katholizismus und der Umbenennung in Theophile Stein selbst leben und bezeugen wird36, versteht sich als Freiheit einer Individualität, die sich von institutionellen Schranken unabhängig weiß: Wir [Juden] können auch für irgendeine schöne, hohe Sache, zum Beispiel Schicksal, Ehre und Glück der deutschen Nation in die Arena hinabsteigen und Elend und Tod dafür auf uns nehmen. Unser Vorteil besteht grade auch darin, daß wir mit einem freieren geistigeren animus in solches Elend, in solchen Tod gehen. Ihr kämpft und leidet pro domo; wir opfern uns für einen reinen Gedanken […].37

Von solchen ›reinen Gedanken‹ zeigt sich Moses alias Theophile dann aber weniger beseelt oder vielmehr: Im Laufe des Romans gönnt der Text dem Parvenü Freudenstein stetig geringere diskursive Anteile. Wenn sich Theophile im Hause Götz profi liert, genügt dem Erzähler die indirekte Wiedergabe, angereichert durch ironische auktoriale Einlassungen: »Er erzählte sehr gut, der Doktor Theophile Stein, und seine sonore Bruststimme war ganz dazu geeignet, alle Nuancen ins Tragische aufs zarteste hervorzuheben«.38 Performanzkritik erübrigt die Inhaltsproduktion.39 Entscheidend ist die äußere Rolle: Steins ›Hunger nach dem Ideal‹ gibt sich letztlich als Streben nach öffentlicher Stellung und Macht zu erkennen: »Ich wünsche Vortragender Rat im Kabinett Seiner Majestät des Königs zu werden!«.40 Dass der Roman Theophile zum Zeitpunkt dieser Äußerung längst zur verdächtigen Schattenexistenz verkleinert hat, verdeutlicht er in etwas aufdringlich symbolischer Weise, als Hans Unwirrsch letztmalig seinen Heimatort Neustadt besucht: [D]er alte Torbogen, unter dem einst der Oheim Grünebaum stand und ihm und dem Moses Freudenstein nachsah, als sie zur Universität zogen, warf seinen Schatten auf ihn. Er dachte an Moses Freudenstein, so lange der Schatten über ihm lag, dann trat er in die sonnenhelle Gasse, und die Glocke auf dem Valentinsturm schlug drei Uhr; der Klang duldete es nicht, daß er augenblicklich noch länger an jenen Mann dachte, der sich jetzt Theophile Stein nannte.41

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 128f. Zur Signifi kanz des Namenswechsels vgl. Kapitel 2.3.2.1. dieser Arbeit. Raabe: Der Hungerpastor, S. 130. Raabe: Der Hungerpastor, S. 262. Der Auftritt steht im Paradigma der Theatralität, über das (jüdische) kosmopolitische Akteure des Kapitals in Texten der Zeit regelmäßig diskreditiert werden. Vgl. dazu auch die Untersuchungen zur realistischen Literatur und ihrem Kontext um 1900 von Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, inbesondere: S. 68–83. Raabe: Der Hungerpastor, S. 269. Raabe: Der Hungerpastor, S. 346.

Ein bedeutsames Verharren dort, wo kein Sonnenlicht hinfällt, ein ahndungsvoller, stummer Gedanke leisten eine klare Rollenzuschreibung, ohne dass diese umfangreich narrativ eingeholt werden müsste. Für die Schattenexistenz des Theophile Stein genügen verächtliche Andeutungen. Der Roman konzentriert sich dabei auf Steins selbstevident wirkenden Verfehlungen mit dem weiblichen Personal – von der Verderbnis des Franzosenmädchens Henriettes Trublet bis zur zerstörerischen Liaison mit der höheren Beamtentochter Kleophea Götz. Mehr als ein grobes Zerrbild eines skrupellosen Emporkömmlings, bei dem Selbstständigkeit und rücksichtslose Selbstsucht in eins fallen, ist dabei nicht bezweckt. Der stereotype Antisemitismus, der in dieser Konstruktion mittransportiert wird, ist in der Forschung ausgiebig zur Sprache gekommen.42 Ähnlich wie Soll und Haben tritt der Der Hungerpastor nicht als intentionale, betont antisemitische Stellungnahme auf43; vielmehr vereinnahmt der Roman das kulturelle Klischee des kosmopolitischen, intellektuellen Judentums als Mittel zum Zweck: die Bedrohungen einer behaglichen bürgerlichen Existenz finster auszumalen. Die Komplementärfigurierung zielt entsprechend auf deutliche Gegensätze von Ordnung und Transgression, ambitionsloser Nächstenliebe44 und egoistischem Kalkül. Die Lokalkulturen im »Nest mit allen seinen Erinnerungen«45 werden gegen das entfremdete Metropolenleben, wie es in Berlin in der Familie Götz zur Anschauung gelangt, vorgebracht. Obgleich die ökonomischen Implikationen dieser polaren Konstruktion weniger einlässlich ausgestaltet sind als bei Freytag, zeigt sich auch Moses Freudensteins Part in bekannter Weise von einem absolut gesetzten Gelddenken getragen. Moses’ Negativentwicklung nimmt ihren Anfang am Examenstag, als ihm der Vater sein Vermögen als künftiges Erbe präsentiert: Es war eine böse Minute, in welcher Samuel Freudenstein seinem Sohne verkündete, daß er ein reicher Mann sei und daß der Sohn es dereinst sein werde. Von diesem Augenblick liefen tausend dunkle Fäden in die Zukunft hinaus; was dunkel in Moses’ Seele war, wurde

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Vgl. Jückstock-Kießling: Ich Erzählen, S. 147–170. Versuche zur Rehabilitierung der Autoren Freytag und Raabe gegen den Antisemitismusvorwurf sind Legion. Vgl. Michael Schneider: Geschichte als Gestalt. Gustav Freytags Roman »Soll und Haben«, Stuttgart 1980, S. 112–141; Horst Denkler: Das »wirckliche Juda« und der »Renegat«. Moses Freudenstein als Kronzeuge für Wilhelm Raabes Verhältnis zu Juden und zum Judentum. In: Horst Denkler, Neues über Wilhelm Raabe. Zehn Annäherungsversuche an einen verkannten Schriftsteller, Tübingen 1988, S.  66–80. Einen guten Überblick über die Kontroverse im Anschluss an Denklers Aufsatz bietet Jörg Thunecke: »Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten«. Erwiderung auf Wilhelm Raabes »Hungerpastor« in Wilhelm Jensens »Die Juden von Cölln«. In: Sigrid Thielking (Hg.), Raabe-Rapporte. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Zugänge zum Werk Wilhelm Raabes, Wiesbaden 2002, S. 57–80. Sinnfällig ist hier Hans Unwirrschs Eintreten für die streikenden Proletarier, das allein auf Mildtätigkeit abhebt und dabei jeglicher politischer Parteinahme entbehrt. Vgl. Raabe: Der Hungerpastor, S. 176f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 133.

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von diesem Augenblick an noch dunkler, heller wurde nichts; der Egoismus richtete sich dräuend empor und streckte hungrige Polypenarme aus, um damit die Welt zu umfassen.46

Der Anblick des väterlichen Goldschatzes – »Gold? Gold über Gold? Was ist das? Was soll das? Mein Gott, woher«47 – lässt bei Moses jenen skrupellosen ›Egoismus‹ hervortreten, der seine Romanrolle im weiteren Verlauf defi niert und die ›dunklen Fäden in die Zukunft‹ spinnt. Motivisch folgerichtig erwirbt Moses mit der ersten Anschauung des Goldes den ›bösen Blick‹, jenes Vermögen, das, nach abergläubischen Begriffen, aus Neid und Habsucht, also aus radikalisiertem Besitzdenken, erwächst48: Seine »Blicke wanderten von dem Gesichte des Vaters zu dem leeren Tisch, der vorhin so reich belastet war«, heißt es49, bevor Moses – in einer als Vatermord inszenierten Szene – den Herztod seines Erzeugers verursacht. Später wird sich Moses alias Theophile Stein gegenüber seinem alten Jugendfreund Hans Unwirrsch, während dessen Hirnhautfieber, durch ebendiesen ›bösen Blick‹ in seiner »Herzlosigkeit« verraten.50 Die in Umrissen erkennbare negative Entwicklungsgeschichte zeigt sich dabei weniger in manifesten falschen Wahlentscheidungen gegründet als vielmehr vorgeformt in der Disposition dieses Antihelden, die der Roman gewissermaßen a priori voraussetzt und dann schubweise stärker konturiert. Entsprechend fatalistisch reflektiert der Held Hans Unwirrsch an zentraler Stelle den Werdegang seines Gegenübers als Konsequenz eines Geburtsfehlers (Freudensteins Mutter war signifi kanter Weise im Kindsbett gestorben): »Böse Geister standen um die Wiege des armen Moses, nur gute um die meinige.«51 Diese schlichte und für Graustufen blinde Antithese verhindert denn auch, dass der Roman auf eine gegenseitige Beeinflussung beider Parteien im Sinne etwa des Faust-und-Mephistopheles-Schemas setzt.52 Für Hans Unwirrsch wirkt sich seine scheinbare Verbundenheit mit Theophile Stein zwar anfänglich rufschädigend in den Augen seiner zukünftigen Frau Franziska Götz aus. Doch bleiben die Auswirkungen dieser Jugendfreundschaft tatsächlich äußerlich. Der zentrale Entwicklungsgang des durchweg bieder und positiv agierenden Helden verläuft eigenständig und wird durch seinen Gegenpart Freudenstein lediglich akzidentiell be-

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 109f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 108. Vgl. zum ›bösen Blick‹ Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. XII (Werke aus den Jahren 1917–1920), hg. von Anna Freud et al., Frankfurt a.M. 1999, S. 227–268, hier: S. 252f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 111. Raabe: Der Hungerpastor, S. 281f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 315. Eine solche Dialektik wurde in der älteren Forschung verschiedentlich unterstellt: Vgl. etwa Rudolf Mohr: »Der Hungerpastor« – ein Pfarrerroman? In: JbRG, 1977, S. 48–85, hier: S. 56.

gleitet und kontrastiert.53 Etwaige moralische Dilemmata hat Unwirrsch in diesem Roman nicht zu befürchten. Und doch ist der Roman weniger auf der Handlungsebene als vermöge seines poetischen Rasters bestrebt, seinem Protagonisten ein gewisses Maß an Problematik mitzugeben. Eben davon kündet die bereits zitierte Reflexion in einem Brief an die Base Schlotterbeck, in der Hans seinen Lebensweg gegen denjenigen Moses’ abmisst. Dort heißt es ausführlicher: Der Hunger, der uns beide, den Moses Freudenstein wie den Hans Unwirrsch, ausgetrieben hat in die Welt, hat den Moses zu dem gemacht, was er ist. Und eine bittere Lehre ist es mir. Nach dem Wissen sind wir ausgezogen und nach dem Glück; in dunkeln, armen Hütten sind wir geboren und aufgewachsen, und der Glanz, welcher durch die Spalten und Ritzen der niedern Dächer fiel, hat uns gelockt. […] Er [Moses] ist seinen Weg mit offenen, klaren, scharfen Augen gegangen; ich bin wie träumend vorwärts geschritten. Sein Hunger ist überall befriedigt worden, was er wünschte, hat er immer erlangt; auch in dieser Stunde noch hat er, was er will. Das war nicht gut, und das ist jetzt schrecklich! Mein Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist ein wundersames Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt. Der arme Moses hat sich nie gesehnt; er hat nur gerechnet und seine Exempel sind immer richtig aufgegangen; das Herz blutet mir darum.54

Im Begriff des Hungers sollen hier zwei prototypische Existenzweisen voneinander abgrenzbar werden: eine kalkulierende, auf konkrete Bedürfnisbefriedigung angelegte, sprich materialistisch-ökonomische Lebensführung (Moses) und eine offene, beständig unerfüllte, weil letztlich nach idealen Werten ausgerichtete (Hans). Das erste Konzept drängt auf leicht fassliche (und deshalb auch grob schematisiert wiederzugebende) Werte: Gold, politische Ämter, Frauen. Schwieriger verhält es sich mit der idealischen Tendenz. Denn hier reflektiert sich das Antriebsmoment, der Hunger, gerade nicht in handgreiflichen Werten. Vielmehr bleibt immer wieder unerreichbar und ungeklärt, ›was ich wollte‹. Entsprechend widersprüchlich verläuft die Passage (hat nun der gleiche Hunger die beiden Jungen aus ihrem Heimatort hinausgetrieben oder waren es doch je verschiedene Motive?). Der ›gute‹ Hunger bekundet sich jedenfalls, indem er ungestillt, unfassbar und in gewissem Maße unbeschreibbar bleibt. Von dieser genuinen Offenheit aus betrachtet, steht Moses dann für die einzige, negative Gewissheit, auf die Hans Unwirrsch vertrauen kann: So will ich es nicht haben! Die ökonomischen Implikationen, die in diesem Bekenntnis zur Negativität mitschwingen, spielt der Roman für seinen Protagonisten bereits frühzeitig durch. In

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So auch Ulrich Kittstein: Vom Zwang poetischer Ordnungen. Die Rolle der jüdischen Figuren in Gustav Freytags »Soll und Haben« und Wilhelm Raabes »Der Hungerpastor«. In: Ulrich Kittstein/Stefanie Kugler (Hg.), Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 61–92, hier: S. 87. Raabe: Der Hungerpastor, S. 314f.

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einem Kindheitserlebnis, das erklärtermaßen »von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung des Knaben« ist55, erleidet Hans Unwirrsch eine Tauschniederlage auf dem städtischen Weihnachtsmarkt. Nachdem der Junge mit dem Ankleiden von Puppen und der Herstellung von Rosinenmännern für das Weihnachtsgeschäft das »Prinzip der Arbeit« erfahren hat56, will er auch das Prinzip der Konsumtion testen: Für den Erlös eines selbstverfertigten Rosinenmannes kaufte er – einen andern von einem Handelshause, welches sich am entgegengesetzten Ende des Marktes etabliert hatte. Ein Zug, der von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung des Knaben war. Hans Unwirrsch, welcher die schwarzen Kerle für andere verfertigte, wollte wissen, was für ein Spaß darin liege, solch einen Gesellen selbst zu kaufen. Er ging dem Vergnügen auf den Grund und natürlich zog er keine Freude aus diesem allzufrühen Analysieren. Als die Pfennige von dem Verkäufer eingestrichen waren und der Käufer das Geschöpf in der Hand hielt, kam die Reue in vollem Maße über ihn. Heulend stand er in Mitte der Gasse, die verhutzelten Zwetschen von dem Drahte nagend, und zuletzt schleuderte er den Einkauf weit von sich und lief, die bittersten Tränen hinunterschluckend, so schnell als möglich davon.57

Der scheinbare Nullsummentausch von Geld und Waren stößt den Jungen nicht auf Einsichten in den Charakter arbeitsteiliger Produktion. Vom versäumten Entgelt für seine Arbeitsanstrengung ist keine Rede; die Frage nach der Konsumtion verdeckt hier die Logik des Tauschs (in dem es ja darum geht, zu erhalten, was man nicht schon hat bzw. selbst beschaffen kann). So wird hier vornehmlich ein unartikuliert bleibendes Ressentiment gegen den Markt geschürt: Was massenhaft und für den Tauscherlös produziert wird, verliert an sich seinen Gebrauchswert. Der Markt löscht den Genuss aus. Folgerichtig schlägt Hans Unwirrsch denn auch nicht den Kaufmannsweg seines Vorbildes Anton Wohlfart ein58, sondern widmet sich eben dem unkalkulierbaren, idealen Hunger. Von lustloser Sättigung und Gütern wie ›verhutzelten‹ Zwetschgen muss man also im weiteren Romanverlauf nicht handeln. Aus dieser Abwehrbewegung gegen einen manifesten, kalkulierbaren und damit potenziell systemisch zu fassenden Hunger gewinnt der Roman seinen entscheidenden Verfahrensansatz: Im Zeichen der permanent zu erzeugenden bzw. zu beschwörenden Offenheit des Ideals wird eine Festlegung des Hunger-Begriffs verweigert. Dutzende Metaphorisierungen (Hunger nach dem Paradies, nach Leben, Wissen, Liebe, Ruhe, Gleichmaß aller Dinge etc.) durchziehen den Roman und dienen der Diff usion seines Titelbegriffs. »Die Unklarheit«, so hat es die Forschung bereits eingehend nachgewiesen, ist eine »substantielle Eigenheit der Hunger-Metapher« in diesem Roman.59 In den vagen Umrissen erscheint der idealische Hunger dann als

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 28. Raabe: Der Hungerpastor, S. 26. Raabe: Der Hungerpastor, S. 28. Nathali Jückstock-Kießling erkennt im Hungerpastor auch anhand dieser Passage eine Parodie auf Soll und Haben. Vgl. Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 159. Schweikert: »Vom Hunger will ich handeln«, S. 102.

eine inhaltlich unbestimmte, transzendente Sehnsucht, die mithelfen soll, kontingente, widrige Gegebenheiten (Märkte, Hauslehrerdasein, Großstadtexistenz etc.) zu überwinden. Er artikuliert einen Differenzmaßstab (so will ich es nicht haben!) und garantiert gleichzeitig durch die fehlende inhaltliche Festlegung die Offenheit auch der metonymischen Reihe. Die Lebensstationen folgen einander, ohne dass ein einheitliches immanentes Prinzip in ihnen kenntlich würde. Entsprechend wird der Hiatus zwischen idealer Dimension und ›wirklichen‹ Lebensbedingungen beständig und nicht ohne Larmoyanz akzentuiert. Gleich eingangs, beim Tod von Hans’ anämischer Jugendliebe Sophie (hier dominiert der romantisch-transzendente Modus: Hunger nach dem Paradies), lässt der Roman Sophies Katze symbolträchtig an ihrer Treue sterben: Sie frisst nicht mehr und vergeht.60 Die Selbstentleibung der Kreatur bezeugt früh die Unvereinbarkeit von profanem Dasein und nichtlebbarem Ideal. Später, am Sterbebett der Mutter, wird noch einmal nach der Verbindung von ›Hunger nach dem Idealen‹ und ›Hunger nach dem Wirklichen‹ verlangt, im Sinne des poetisch realistischen Programms: Aus dem Zauberbann schmeichlerischer, entnervender Phantasien und stumpfen, dumpfen Grübelns trat er jetzt zuerst in das wahre Leben; er verlor den Hunger nach dem Idealen, dem Überirdischen, nicht, aber dazu gesellte sich nunmehr der Hunger nach dem Wirklichen, und die Verschmelzung von beiden, die in so feierlichen Stunden stattfand, mußte einen guten Guß geben.61

Tatsächlich aber gelingt auch hier die Synthese nicht, wird selbst das zentrale Vorhaben des Helden, die Essenz seiner Lebenseinsichten in einem ›Buch vom Hunger‹ zu verarbeiten, als Ritterroman und also romantisierend antirealistisch angelegt. Folgerichtig, zumindest aus realistischer Sicht, scheitert Hans Unwirrsch mit seinem Schreibprojekt: Der Mann, der von der Welt soviel mehr erfahren hatte, als einst der Schüler davon wußte, konnte in solcher Weise nicht mehr reden und schreiben. Die mit Fleisch und Blut begabten Gestalten, die wirklichen, lebendigen Verhältnisse, kurz, die Dinge, wie sie waren, hatten eine völlige Umwälzung im Gemüt hervorgebracht.62

Dieses Scheitern verhindert gleichwohl nicht, dass der Erzähler in anscheinend ›angestecker Rede‹63 den letzten Besuch seines Helden in Berlin mit Ritter- und Märchenromantik aufpeppt (Hans beabsichtigt, »das verzauberte Kind [Franziska] aus dem Drachenloch herauszuholen«64). In dieser Weise negiert der Roman fortwährend die Versuche, Lebenswirklichkeit und ideale Konstruktion zur Deckung zu bringen. Übrig bleibt ihm dann die topische Differenzfigur des Poetischen Realis-

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 56. Raabe: Der Hungerpastor, S. 156. Raabe: Der Hungerpastor, S. 336f. Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, 7. Aufl., Göttingen 2001, S. 248–250. Raabe: Der Hungerpastor, S. 395.

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mus: die Entsagung. Der Held wendet sich ab von der ›großen Welt‹ der Hauptstadt, hin zum »engsten Ringe« des Grunzenower Pfarrhauses65, mit seinem braven, gern qua Diminutivform enterotisierten Fränzchen an seiner Seite (die schillernde Kleophea wird folgerichtig am Romanschluss begraben). Die Entsagung, der bewusste Rückzug in die Partikularexistenz, erfährt dabei eine Verklärung zum Happy End, ähnlich wie in Die mißbrauchten Liebesbriefe.66 Mit kurzen Randnotizen – »Eine glückliche Hand hatte das Fränzchen, es gedieh alles unter ihr – die Hungerpfarre, das Schloß, das Dorf«67 – wird ein Idyll behauptet, ohne dass dieses darstellerisch eingelöst werden müsste. Der Abschied von jedweden Ambitionen zugunsten eines »ruhigen, überlegten, still anhaltenden Streben[s]«68 verbindet sich mit einem Raunen des Verlusts und einer besorgten Wehrhaltung gegen die (moderne) Welt. Bei Erwähnung des Nachwuchses der Unwirrschs heißt es: »Es gehen böse Geister um draußen in der Finsternis, Geister, die keinen Platz in dem Lichtkreis der glänzenden Kugel finden, und Vater und Mutter denken an die Zeit, wo auch ihr Kind hinaustreten muß in den Streit mit den Dämonen.«69 In diesem selbst gewählten Asyl in der Abgeschiedenheit, wohin Tageszeitungen erst gelangen, »wenn die Welt um acht oder vierzehn Tage älter und klüger geworden ist«70, lässt sich die anachronistische Gewissheit aussprechen, dass die Welt dem Doktor Theophile Stein (und Seinesgleichen) nicht gehört.71 Und erst hier vermag der Held, seine Lebensaufzeichnungen ganz privat für seinen Sohn zu verfassen und (in deutlicher Korrespondenz mit dem auktorialen Erzähler) abzuschließen.72 Nur im randständigen und szenisch nicht mehr auszumalenden Wirklichkeitsraum glückt dieser Realismus. Wo die ideale Durchdringung des Moderneprojekts scheitert, wird der entsagende Rückzug ins Abseits verklärungsfähig. In der Brüchigkeit dieses Verlaufs mitsamt seinem zerklüfteten Überbau schlägt sich nun das von Hans Vilmar Geppert beobachtete antisystemische Moment des Realismus nieder. Indem der Text den zentralen Topos des Hungers, in diversen, mal metonymischen, mal metaphorischen Gebrauchsweisen über und über wiederholt und letztlich zerstreut, verhindert er die Subsumtion der Handlung unter ein dominantes Paradigma (ein legi-Zeichen, wie Geppert mit Peirce sagt). Die Antriebsmotive des Helden werden auf ihre Wandelbarkeit hin angeschaut: Mal ist es der Hunger nach Wissen, mal das Fernweh, mal die Sehnsucht nach Nestwärme, die ihn durch die Stationen seines Lebenswegs führen. Die metonymische Abfolge der Sachverhalte stellt sich so unter immer neue Konzepte (des Hungers/Lebenstriebs/Daseins-

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 442. Vgl. dazu Abschnitt 3.1. dieser Arbeit. Raabe: Der Hungerpastor, S. 462. Raabe: Der Hungerpastor, S. 443. Raabe: Der Hungerpastor, S. 463. Raabe: Der Hungerpastor, S. 387. Raabe: Der Hungerpastor, S. 439. Raabe: Der Hungerpastor, S. 463.

kampfs73), die je nur für eine begrenzte Erzähldauer als erkenntnisstiftend anzusehen sind. Für diesen genuin realistischen Weg des Romans hält ein einschlägiges Dingsymbol her: die Glaskugel des Vaters, die der Held bis zum Schluss mit sich führt und in seinen verschiedenen Wohnungen anbringt, bei deren Schein sein Vater Schuhe und Gedichte gemacht hatte, in deren Schein seine Mutter saß und ihre Wiegenlieder sang, in deren Schein die Base Schlotterbeck auf ihrem niedrigen Schemel kauerte und ihre Märchen erzählte. Vieles hatte er als Kind, vieles als Jüngling in dem zerbrechlichen Dinge gesehen; nun saß er als Mann dabei und sann nach über das, was sich verändert hatte, und das, was geblieben war.74

Die Glaskugel, gewissermaßen ein Zeichen des stets wandelbaren Überbaus, spiegelt kontextbezogen das jeweilige Umfeld und wird als Erinnerungsmedium zum Katalysator der Vergleichung zwischen den verschiedenen biographischen Abschnitten. Es ist ein konstantes, zeichenhaftes Moment (ein genuines sin-Zeichen und Symbol in Potentia im Sinne Gepperts), das die dynamische Subjektivität der Figur und ihren ›realistischen Weg‹ einzufangen verspricht, ohne sie unter einen totalisierenden Begriff zu stellen. Diese Offenheit bildet den Gegenentwurf zum Lebensprogramm eines Moses Freudenstein, das sich ganz dem profanen, manifesten Hunger verpfl ichtet. Die strategische Trennung und Gewichtung dieser beiden Bezugsrahmen des Hungers (profan und ideal) ist für den Realismus konstitutiv. Insofern er auf eine letztgültige systemische Integration von Einzelereignissen verzichtet, muss hier gerade der Hunger nach konkreten, rationalisierbaren und vor allem monetär kalkulierbaren Werten (Moses) zurückgedrängt werden. Denn dieser Hunger versteht sich monokausal und ökonomisch verankert. Er erschiene als Reduktion gegenüber der Vielfalt kultureller Motive, von der realistische Narrative stets ausgehen. Das (naturwissenschaftliche) Gesetz, das Handeln allein unter die Berechnung von Präferenzen und Kosten stellt, wird im Realismus nie zum dominanten Paradigma. Das systemische Gegenangebot – Émile Zolas Germinal Literarisch sind systemische Konzepte am ehesten von der Literatur des Naturalismus aufgenommen worden. Man denke etwa an Émile Zolas Germinal (1885), das in seiner Handlungslogik tatsächlich von einer marktmechanistischen Krisentheorie getragen ist. Ihre Gesetzmäßigkeit erläutert der Aktivist Souvarine: ›Wenn die Löhne zu tief sinken, dann verrecken die Arbeiter und die Nachfrage nach neuen Männern läßt sie wieder in die Höhe gehen. Wenn sie zu hoch gestiegen sind,

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Entsprechend erscheint auch die eingehend nachgewiesene Darwin-Rezeption im Roman antisystemisch relativiert. Vgl. Brundiek: Raabes Antworten auf Darwin, S.  218–226 u. S. 235–243. Raabe: Der Hungerpastor, S. 357.

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werden sie durch das stärkere Angebot wieder herabgedrückt … Das ist das Gleichgewicht der leeren Bäuche, die ewige Verdammnis im Bagno des Hungers.‹75

Bekanntlich hat Zola in seiner Theorie des Experimentalromans, die im Hintergrund seines großen Empire-Zyklus um die Rougon-Macquart steht, die Literatur auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten verpflichtet. Das ganze Verfahren des Experimentalromans, so Zola, »besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur entnimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifi kation der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung.«76 In der Konsequenz entstehen hier Handlungsverläufe, die auf zweifache Weise determiniert erscheinen: Ein Held, dessen Charakterprofi l auf vererbungstheoretischen Grundlagen erstellt ist, agiert in einem Handlungsumfeld, das sich durch milieutheoretische Gesetzmäßigkeiten definiert. In Germinal verfolgt man dementsprechend den jungen, zu Trunksucht, Ehrgeiz und Brutalität neigenden Aktivisten Etienne Lantier bei seinem Eindringen ins Grubenarbeitermilieu, das vom besagten ›Gleichgewicht der leeren Bäuche‹, sprich von Lohndumping und Unterhaltsmangel, geprägt ist. Während eines zunehmend aussichtslosen und schließlich eskalierenden Streiks behauptet sich Etienne als politischer Agitator, verstrickt sich aber gleichzeitig in eine unerfüllt bleibende Liebe zum Grubenmädchen Catherine und rivalisiert mit Catherines Partner und (sexuellem) Ausbeuter Chaval. Im Finale unter Tage bringt er Chaval um: Es war denn wahr: er hatte getötet. Die verworrene Erinnerung an alle seine Kämpfe stieg in ihm auf; der unnütze Widerstand gegen das in seinen Muskeln schlummernde Gift , gegen den von seinem ganzen Geschlecht langsam angesammelten Alkohol.77

Die Verrohungen der Umwelt gewinnen Resonanz in der Disposition des Hauptfigur, gemäß dem Zola’schen Programm: »Wir sind mit einem Wort experimentierende Sittenbildner, indem wir experimentell zeigen, wie sich eine Leidenschaft in einem sozialen Milieu verhält.«78 Dieses Milieu wiederum wird von der anonymen Macht des Kapitals reguliert und ist nach Maßgaben der zeitgenössischen Krisentheorie eingerichtet (Zolas Hauptquelle bildet Yves Guyot: La Science économique, 1881).79 Die massive Konzentration fi xen Kapitals leitet hiernach die Abwärtsspirale der Lohnentwicklung und den nachfolgenden wilden Arbeitskampf ein, in dem die Bergarbeiter zu hungernden Paupern degenerieren. Während der Personalunternehmer Deneulin durch den

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Émile Zola: Germinal [franz. 1885], übers. von Armin Schwarz, Frankfurt a.M. 1983, S. 159. Émile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie [franz. 1879], Leipzig 1904, S. 15. Zola: Germinal, S. 543. Zola: Der Experimentalroman, S. 31. Vgl. Richard H. Zakarian: Zola’s »Germinal«. A Critical Study of its Primary Sources, Genève 1972, S. 119–128.

Streik Bankrott geht und seine Konzession an die Aktiengesellschaft von Montsou abtreten muss (weitere Kapitalkonzentration), geraten die assoziationslos streikenden Arbeiter sittlich wie materiell auf das niedrigstmögliche Niveau: »Es waren Tiere, ohne Zweifel; aber man hatte sie in ihrer Tierheit allein gelassen und sie hungerten«.80 Hunger tritt hier nicht in einer schillernden Metaphorik (wie bei Raabe), sondern als tragendes metonymisches Konzept eines nach gesetzmäßigen ökonomischen Anschauungen eingerichteten Handlungsgerüstes auf. Zu entdecken ist dabei weniger eine Klassenkampfkonstellation als der tierische Überlebenskampf des Darwin’schen Menschen im Angesicht kapitalistischer Ressourcenverknappung. Die Handlungskonzeption zielt auf eine als objektiv aufzufassende Dynamik, die den biologistischen Anschauungen Zolas verpflichtet bleibt.81 Der Drang nach Leben, der sich im gewaltsamen Ausbruch der verelendeten Aufständischen bekundet, steht dabei in einem metonymischen Kontinuum mit ihrer durchgehenden Vitalität, ablesbar an den permanenten Kopulationsszenen. Sozialistische Anschauungen, die den Figurendiskurs der Aktivisten (Etienne, Souvarine) prägen, erscheinen für diese Handlungskonzeption insoweit anschlussfähig, als sie den gewaltförmigen Widerspruch von Arbeit und Kapital mitzugestalten helfen. Darwinismus, Sozialismus ebenso wie die Theorie der Malthus-Schule lassen sich, wie oben bei Gustav Schmoller gesehen82, als Konkurrenz- bzw. Kampftheorien zusammenordnen, und ebendieses Tertium Comparationis macht sich der Roman zunutze. Einige leitmotivische Metaphern sind entsprechend dem kritischen Diskurs der Linken entnommen, so der Vergleich der Grube mit dem »Aussehen eines gierigen Raubtieres«83, oder, damit korrespondierend, die Vampirismus-Metaphoriken à la Marx84, wenn etwa Etienne das Kapital apostrophiert als »unpersönlichen, den Arbeitern unbekannten Gott, der irgendwo im geheimnisvollen Dunkel seines Tabernakels hockt, von wo er den Hungerleidern, die ihn nährten, das Blut ausgesogen hat«.85 Auch der Fetischismusvorwurf gegen das Geldkapital86 kommt im Handlungskreis um die Aktionärsfamilie Grégoire und ihren »Kultus« der Aktie zum Tragen.87

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Zola: Germinal, S. 353. Vgl. zur paradigmatischen Struktur des Rougon-Macquart-Zyklus und seiner zeitgenössischen Verankerung in einer von Darwinismus und deterministischer Sozialtheorie getragenen ›Episteme‹ Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus, München 1978. Vgl. dazu noch einmal Schmoller: Grundriß, Erster Teil, S. 66f. Zola: Germinal, S. 12. Vgl. Marx: Das Kapital. Erster Band, Bd. 1, S. 247. Siehe dazu ausführlich Abschnitt 4.3. dieser Arbeit. Zola: Germinal, S. 314. Vgl. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 85–98. Zola: Germinal, S. 89f.

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Gleichwohl zeigt sich der Roman engagierten Interventionen gegenüber skeptisch. Der sozialistische Figurendiskurs bleibt dementsprechend eklektizistisch88 und wird zudem als theoretische, aus Büchern angelesene, unpraktikable Setzung desavouiert.89 So gerinnt denn auch das Revolutionsversprechen, das sich in den Augen der Agitatoren mit dem Streik verbindet und am Schluss durch Etienne noch einmal aufgerufen wird, zur emphatischen Geste, die von der deterministischen Grundanlage des Romans kaum gestützt wird. Hans Vilmar Geppert hat erläutert, wie sich bereits die Romantitel des Naturalismus dem systemischen Grundgedanken dieser Erzählprosa verpflichten und also unmittelbar strukturierend für die Syntagmen wirken.90 Germinal, der Name des Frühlingsmonats im republikanischen Kalender, der Keimmonat, gibt hier zunächst dem Protagonisten seine revolutionäre Anschauung im Angesicht des Streiks vor: »Eine Armee wuchs aus den Tiefen der Grube hervor, eine Ernte von Bürgern, deren Saat keimte und einst, an einem sonnenhellen Tage die Erde sprengen wird.«91 Diese Hoffnung auf eine aufkeimende Erhebung findet dann aber auch diegetisch in der besagten Fruchtbarkeit der Arbeiterschaft ihren Widerhall. An zentraler Stelle, bei Niederschlagung des Aufstandes, setzen die Menstruationsblutungen der Catherine ein92, auf dass der Sieg des Lebens- über das Todesprinzip, ein dominantes Motiv des Rougon-Macquart-Zyklus93, sein Symbol gewinne. In Antithese dazu ist die finstere Umwelt der Zeche Voreux durch Verödung und Unfruchtbarkeit gekennzeichnet. Mit der Produktivität der Arbeiterschaft korreliert die unerbittliche Konsumtion von Lebenskraft durch das Grubenwerk, das darin gleichsam selbst eine nunmehr metaphorische Lebendigkeit gewinnt: »Und der Voreux-Schacht, in seinem Loche hockend wie ein bösartiges Tier, duckte sich noch mehr und atmete tiefer und länger, gleichsam bedrückt durch seine mühsame Verdauung von Menschenfleisch«.94 Auf Seiten der Angestellten des Großkapitals verzeichnet der Roman ein Vitalitätsdefizit. Impotenz, sexuelle Unzufriedenheit und Inzestneigung prägen das Zusammenleben des Direktorenehepaars Hennebeau. »Ach, als Tier leben zu können, nichts zu besitzen, mit der häßlichsten und schmutzigsten

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Vgl. zur Inanspruchnahme diverser sozialistischer Positionen in der Romankonzeption Zakarian: Zola’s »Germinal«, S. 136. Vgl. zur Problematisierung des sozialistischen Figurendiskurses des Etienne Elke Kaiser: Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den Rougon-Macquart, Tübingen 1990, S. 210–216. Wenn Kaiser darin gleichwohl eine partielle Dekonstruktion der paradigmatischen Ordnung des Romans (Kapital vs. Arbeit) durch die syntagmatische Ebene (Geschichte der Figur) nachweisen will, so verkennt sie m.E. die deterministische Einrichtung der Figurenebene durch die Vererbungslehre. Vgl. Geppert: Der realistische Weg, S. 133–135. Zola: Germinal, S. 314. Vgl. dazu auch das Finale: S. 567. Zola: Germinal, S. 472. Vgl. Gumbrecht: Zola im historischen Kontext, S. 61. Zola: Germinal, S. 20.

Schlepperin durch die Getreidefelder zu streifen und sich Befriedigung zu holen…«, seufzt Hennebeau, während die rebellierenden Arbeitermassen vorüberziehen.95 So gewinnt der Roman in Thesen und Antithesen nicht nur eine gewissenhafte Handlungskonzeption, gemäß den Schemata von ›Hunger vs. Fülle‹, ›Fruchtbarkeit vs. Impotenz‹ (beide Oppositionen sind metonymisch aus dem Begriff des Keimes bzw. Saatgutes ableitbar), sondern eben auch ein dichtes Netz von Vitalismus-Metaphern und -Symbolen, die ihn poetisch streng organisieren.96 In einer ebensolchen Ausfaltung artikuliert sich der Systemgedanke, die Dominanz eines einzigen paradigmatischen Bezugsrahmens: Produktion und Konsumtion im ›Bagno des Hungers‹. Der Ausweg Grunzenow in Der Hungerpastor Einem solchen hochgradig integrativen Verfahren verweigert sich der ›realistische Weg‹ (Geppert). Im Realismus mag ein Topos wie ›Hunger‹ zwar ebenfalls zum Leitmotiv eines Textes werden, die Verpflichtung auf einen systemischen Rahmen findet damit gleichwohl nicht statt. In Raabes Der Hungerpastor reicht das im Titel apostrophierte Konzept, wie gesehen, lediglich zur punktuellen und im Ganzen diff usen metaphorischen Aufladung einer spezifischen Lebensgeschichte eines Protagonisten. Wie der Hunger »im einzelnen« wirkt, kann nicht auf Basis einer vorab gegebenen Allgemeinheit (der ›Welt im Ganzen‹) entfaltet werden.97 In diesem Sinne zeichnet sich der ›realistische Weg‹ durch ein kumulatives Verfahren der Reihung von Sachverhalten aus. Die Allgemeinheit muss dann, gewissermaßen in mittlerer Distanz, durch Vergleich der Lebensstationen geleistet werden. Eben deshalb zeigen sich Held und Antiheld hier auch nicht in einem metonymisierbaren Ringen miteinander vereint (anders als die Parteien im Arbeitskampf bei Zola). Vielmehr dient der Auftritt des Moses Freudenstein eben als Vergleichsgröße und zeittypische Kontrastfolie für den als individuell behaupteten Entwurf des Hans Unwirrsch. In dieser Vergleichsabsicht wird denn auch der etikettierende Beiname des Protagonisten Hans Unwirrsch durchgeführt. »›Ach, da ist er ja – der Hungerpastor!‹, rief der Doktor [Theophile Stein], und gab somit zum erstenmal unserm Hans offiziell den Titel, welchen wir diesem Buche vorgesetzt haben.«98 Die Aneignung der spöttischen Figurenrede durch den Erzählerdiskurs zielt auf eine ironische Umwertung: Wer redlich idealisch hungert, der trägt hier den Titel des ›Hungerpastors‹ mit Recht und Würde gegen alle Parvenüs und modernen Elegants. Gleichzeitig verknüpft sich eine induktive Geste damit, die den sinnfälligen Beinamen als spontanen Akt seitens der Diegese ausgibt und dann im Dienste der poetischen Funktion weiter

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Zola: Germinal, S. 382. Vgl. dazu Vittoria Borsò-Borgarello: Metapher. Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX.  Jahrhunderts, Tübingen 1985, besonders: S. 163–165. Raabe: Der Hungerpastor, S. 5. Raabe: Der Hungerpastor, S. 254.

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verwertet. Einmal herausgehoben, kann das Zeichen zum Gradmesser im metonymischen Verlauf werden. Gegen Ende stößt Hans in seinem finalen Zufluchtsort Grunzenow auf den Pfarrer Josias Tillenius, der bei wohlhabenderen Kollegen ebenfalls als ›Hungerpastor‹ bekannt ist: Ein beschaulicherer Philosoph und Pastor hatte noch niemals am Meer in seiner Studierstube gesessen und im Kampfe mit einer so merkwürdigen Bibliothek Weisheit gelernt aus dem einförmigen Rauschen der Wellen. Abseits von dieser Bibliothek baute er im Laufe seines langen Lebens und seiner langen Amtsführung ganz allmählich, fast ohne es zu ahnen, seine eigene Theologie, sein eigenes System der Welt- und Gottesanschauung auf, und in demselben hatten Dinge Platz, die den Kandidaten Unwirrsch oft mit Rührung, oft mit Staunen und sehr oft auch mit Verwunderung aufblicken ließen. Wie in einen Spiegel sah Hans Unwirrsch in das Leben dieses Greises, den seine Kollegen weiter hinten im fetten, fruchtbaren Lande den ›Hungerpastor‹ nannten und ihm somit denselben Namen im Ernst gaben, welchen der Doktor Theophile Stein einst im Salon der Geheimen Rätin Götz seinem Jugendfreund im Scherz beigelegt hatte.99

Hier verdichtet sich der realistische Weg dieses Romans. Abseits der Mainstream-Bücherweisheit (von der etwa die Helden Zolas und ihr Autor getragen sind) baut sich der greise, vorbildhafte Pastor Josias Tillenius ein idiosynkratisches System, in dem vielerlei Dinge Platz haben, Dinge, die zum Staunen wie zur Verwunderung Anlass geben. Der auf Akkumulation angelegte Begriff ›Platz haben‹ deutet an, dass es sich hier weniger um ein mechanistisches, strenges System handelt. Nicht Funktionsstellen, sondern eben ›Dinge‹ mit ihrem sentimentalen Wert (›Rührung‹) kommen hier in den Blick. Und diese Dinge werden zu metonymisch situierbaren Marksteinen des je individuellen ›Lebens‹. Gleichzeitig realisiert der Roman hier über die Metonymisierung hinaus einen Vergleich zwischen Tillenius und Hans, für den der Spottname ›Hungerpastor‹ herhält. Mit ihm gelingt der explizite Querverweis auf den je abgeleisteten Lebensweg, der Versuch der Äquivalenzbildung. In poetischen Strategien wie diesem Vergleichsmoment wird das Kontinuum der Metonymie gegliedert, ohne dass ein einheitlicher paradigmatischer Rahmen hergestellt würde. Wo die ehrbaren Hungerleider zusammenfinden, verwässert sich ihr Gegenbild. Die Stimme des zufriedenen Kosmopoliten Theophile Stein weicht dem anonymen Chorus der Pfarramtskollegen (also gleichsam den Antikosmopoliten). An einem stabilen einheitlichen Schema ist der realistische Roman nicht interessiert. Auch die Spiegelung des Helden in seinem Vorgänger im Pfarramt bleibt folgerichtig eine partielle. Kaum dass der greise Tillenius von seinem Leben zu reden anfängt, fallen die Unterschiede auf. Eine Feldpredigerstelle (im Krieg von 1790) hat Hans Unwirrsch dann doch nicht vorzuweisen. Die Äquivalenz, die der Roman hier in der Pfarramtstradition herzustellen beabsichtigt, ist eine Äquivalenz in Potentia: »[W]enn Ihr, Herr Kollege, einmal so alt wie ich geworden seid: wer weiß, ob dann die Ähnlichkeit nicht noch viel größer ist?«100 Ähnlichkeiten, das ist die Lehre des 99 100

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Raabe: Der Hungerpastor, S. 384f. Raabe: Der Hungerpastor, S. 386.

realistischen Verfahrens, können nur im metonymischen Prozess, in der je neu zu wirkenden Lebensgeschichte, manifest werden. So will es der realistische Weg: Erst ankommen, dann Ausschau halten; erst leben, dann vergleichen – erst Metonymien, dann Metaphern.

4.2.

Realismus vs. Grenznutzentheorie – Die Tücken der Robinsonade

Komplexitätsgewinn lautet eines der Versprechen realistischer Diskursivität. Das Bekenntnis zur Metonymie, die Öffnung des poetischen Raumes hin zum prosaischen, ›realistischen‹ Weg verspricht ein Mehr an kontingenter, ›alltäglicher‹ Ereignisverarbeitung.101 Sachverhalte werden im Zeichen eines spontanen, selbstbestimmten, intentionalen Handelns individualisierter Figuren (der grüne Heinrich) verknüpft. Weder versteht sich dieses Handeln als abschließend wissenschaftlich gesetzmäßig gegründet (wie im Naturalismus) noch wird es durch einen spekulativen Naturbegriff zusammengehalten (wie in der Goethe’schen Symboltheorie) noch zeigt es sich in einer poetischen Metaphorizität aufgehoben (wie in der Romantik). Die Geschichten des Realismus werden in dem Maße singulär, in dem sie tiefenstrukturelle Äquivalenzraster unterwandern. Es wird den abschließenden Kapiteln dieser Arbeit (Abschnitt 5.) vorbehalten sein, das Subjekt dieser Geschichten eingehender zu kennzeichnen und damit auch die positive Bestimmung der realistischen Literatur voranzutreiben. Vorab soll ein Blick auf zwei Gegenentwürfe zum realistischen Weg im Diskurs der Ökonomie helfen, die Spezifi k realistischer Wirklichkeitskonstitution weiter herauszuarbeiten: Der erste Vergleich gilt der modernen, für die neoklassische Wirtschaftstheorie prägenden Grenznutzenschule (Abschnitt 4.2.). An diesen schließt sich eine Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie von Marx und Engels an (Abschnitt 4.3.). Weiterhin gilt dabei das Augenmerk insbesondere den Literaturen und den literarischen Verfahren, mit denen auch diese konkurrierenden Denkschulen jeweils korrespondieren und mit denen sie Darstellungsmittel austauschen. Was an der realistischen Literatur zu beobachten ist, gilt ebenso für diese Gegenströmungen. Auch sie besitzen eine eigene Poetik, eine eigene Darstellungskunst, die das zu profi lierende Wissen anschaulich kommuniziert und für den Diskurs verfügbar macht. Dieser Poetik der Konkurrenzdiskurse sowie ihrer jeweiligen Rezeption durch die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie widmen sich die beiden folgenden Kapitel.

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Watt: Rise of the Novel, S. 32.

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4.2.1. Robinson und seine Launen – Vom Anteil der Robinsonade bei der Theoriewerdung des Grenznutzens 1871 legt der Publizist und angehende Lehrstuhlinhaber an der Universität Wien Carl Menger in den Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre seine für die weitere Wirtschaftsgeschichte fundamentale Theorie des Grenznutzens vor. Gut ein Jahr später rezensiert Gustav Schmoller, seinerzeit Ordinarius in Straßburg, das Werk des Neulings: Im abstracten eingehenden Ueberdenken einfacher Vorgänge beruht seine [Mengers] Stärke, mathematische Formen und Formeln liebt er; der Grundgedanke, der ihn beherrscht, ist der, in folgerichtiger Nothwendigkeit die elementaren Erscheinungen der Volkswirthschaft auf das einfache wirthschaft liche Motiv, die Neigung zur Verbesserung seiner wirthschaft lichen Lage, zurückzuführen. Er kommt so zu einer Betrachtungsweise, die viel mehr an Ricardo erinnert als an die heute in der deutschen Wissenschaft herrschenden Richtungen. Klarheit in der abstracten Theorie ist sein Ziel; sehr eingehende, ja ermüdend breite Besprechung von Beispielen, die meist mehr an die Robinsonade als an heutige wirthschaft liche Zustände anknüpfen, ist das Mittel, mit dem er operiert. Die Resultate sind unzweifelhaft Producte eines nicht geringen Scharfsinns, aber sie sind mehr doch nur neue Formulierungen der abstracten Schulfragen als Lösungen realer Probleme.102

Der Tenor dieser Zurückweisung ist bereits hinlänglich bekannt. Eine abstrakte Methode, die auf universell anwendbare Axiome und mathematisierbare ökonomische Erkenntnis abzielt, gehe an den ›realen‹ wirtschaftlichen Problemen vorbei, kritisiert Schmoller. Im Sinne des eigenen Programms empfiehlt er dem aufstrebenden Forscher die Hinwendung zu »Detailuntersuchungen«, durch die man überhaupt erst die »Legitimation« erlange, mit Lehrbüchern an das Fachpublikum heranzutreten.103 Diese primär methodologische Kritik – auf zentrale inhaltlich Gedanken wie das Grenznutzentheorem geht Schmoller überhaupt nicht ein – wird begleitet von einer Volte, die auch poetologisch relevant ist: An Robinsonaden fühlt sich der Rezensent erinnert104 angesichts der ausufernden Beispiele in Mengers Grundlagenschrift. Damit ist zunächst zweierlei gesagt: Auch bei Menger, in einem durch und durch systemischen (abstrakten) Theorieansatz, wird erzählt. Mathematische Formeln kommen, wenngleich für Schmoller bereits zu zahlreich vorhanden, tatsächlich eher

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Gustav Schmoller: Rez.: Menger, Dr. Carl, »Grundsätze der Volkswirthschaftslehre«. In: Literarisches Centralblatt, No. 5 (1873), 1. Februar, S. 142–143. Schmoller: Rez.: Menger, S. 143. Im Zuge des hieran anschließenden Methodenstreits mit Menger führt Schmoller seine Kritik an der Robinsonaden-Ökonomie fort. Gegen Mengers Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und Politischen Ökonomie insbesondere (1883) heißt es: Es komme darauf an, die gesamte Volkswirtschaft inklusive ihrer rechtlichen Verfassung in den Blick zu nehmen und nicht nur »schemenhafte Phantome, geträumte Robinsonaden, die so vielfach volkswirthschaft liche Untersuchungen und Wahrheiten ersetzen sollen«. Schmoller: Zur Methodologie der Staats- und Sozial-Wissenschaften, S. 166.

sparsam vor. Man befindet sich in der Entwurfsphase eines neuen Theoriedesigns.105 Voraussetzungen werden geschaffen für später folgende Formalisierungen. Noch aber ist alles narrativ aufbereitet; Tabellen und Kalkulationen bilden die Ausnahme, sind den sprachlichen Einheiten unterstützend beigefügt. Menger zu lesen bedeutet, eine Geschichte nachzuvollziehen – die Geschichte eines repräsentativen wirtschaftlichen Handelns. Und diese Geschichte ist, zweitens, nicht auf metonymische Ausdifferenzierung angelegt. Andere Orte, unterschiedliche Sitten, Leute mit Eigenheiten – solche ›Mannigfaltigkeiten‹ des Wirklichen, wie sie der realistische Weg abschreitet, fallen bei Menger aus. Analogien regieren den Text, wirken auf die Einübung konstanter, als allgemein menschlich aufzufassender Schemata hin. Man folgt den immer gleichen Abläufen in immer gleichen Settings – eben Geschichten von Robinson. Schon der klassischen Ökonomie konnte man mit Karl Marx bescheinigen, dass sie »bekanntlich Robinsonaden liebt«.106 In Mengers Grundlegung der neoklassischen Theorie wird die Robinsonade nunmehr zum inflationären Textbaustein. Isoliert wirtschaftende Subjekte auf ›felsigen Meerinseln‹ treten auf, um die Rationierung eines Wasserhaushalts vorzuführen. Urwaldbewohner trotzen den Widrigkeiten ihrer Umwelt und bezeugen darin die Logik der Güterbewertung.107 Und auch dort, wo ausdrücklich ›kompliziertere‹ soziale Tatsachen anvisiert sind, trifft man auf Fiktionen aus dem Vorstellungsraum des Robinson-Mythos. Beispielsweise auf eine Schiffskatastrophe: Setzen wir nun, um zu complicirteren (sozialen) Verhältnissen zu übergehen [sic!], den Fall, dass auf einem Segelschiffe, das noch 20 Tagreisen vom Lande entfernt wäre, durch irgend einen Unfall die Vorräthe an Nahrungsmitteln bis auf einen kleinen Rest verloren gehen würden, so zwar, dass für jeden der Mitreisenden nur eine solche Quantität irgend eines Nahrungsmittels, z.B. von Zwieback, erhalten bliebe, die eben zur Fortfristung des Lebens während dieser 20 Tage erforderlich wäre.108

Mit der ihm eigenen Akribie misst Menger den Bedeutungsrahmen dieser Fiktion aus: Wo die Quantität des verfügbaren Zwiebacks einem jeden Reisenden genau zum Überleben genügt, erhält das Nahrungsmittel einen absoluten, inkommensurablen Wert, die »volle Bedeutung der Erhaltung seines Lebens«.109 Ein Tausch findet folglich nicht statt, da vom Lebensnotwendigen nichts abzugeben ist:

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Da in diesem Kapitel vornehmlich die neoklassischen Textstrategien betrachtet werden, sei noch einmal auf die Analysen Kurt Heinzelmans hingewiesen, der die vorangegangenen, grundlegenden Abstraktions- und Fiktionalisierungsschritte der klassischen Ökonomie untersucht hat. Vgl. insbesondere das Kapitel zu den »Unreal Words« bei Heinzelman: Economics of the Imagination, S. 70–110. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 90. Ein ähnlicher Verweis fi ndet sich bereits in Karl Marx: Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie] [1857/1858]. In: MEW, Bd.  13, Berlin 1961. S. 615–642, hier: S. 615. Vgl. Abschnitt 2.2.3. dieser Arbeit. Menger: Grundsätze, S. 104. Menger: Grundsätze, S. 106.

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Wollte z.B. ein reicher Mann, der sich auf dem Schiffe befände, um die Pein des Hungers zu mildern, welcher von so schmaler Kost unzertrennlich wäre, für ein Pfund Zwieback die gleiche Gewichtsmenge Gold hingeben, so würde er keinen der Mitreisenden bereit fi nden, auf ein solches Anerbieten einzugehen.110

Menger ruft hiermit implizit das klassische Wertparadoxon auf, demnach der hohe Tauschwert von Gold oder Diamanten im Widerspruch zu ihrem geringen Gebrauchswert steht, wohingegen unabdingbare Lebensmittel wie Wasser oder Brot vergleichsweise billig zu haben sind.111 Der Auflösung dieses Widerspruchs dient denn auch Mengers Parabel. In zwei Abwandlungen seines Beispiels fokussiert Menger auf den Zusammenhang von Quantität und Qualität im Werturteil. In dem Maße, in dem die Güterquantität erhöht wird, sinkt der Wert des Zwiebacks, wird er gleichsam als Ressource zum Tausch frei. Diese Relativierung des Wertes setze sich fort, wenn man der Schiffsgesellschaft eine beliebig große Menge an Zwieback beigibt. Die Bedeutung, die ein einzelnes Quantum des Nahrungsmittels in diesem Falle annimmt, tendiert dann gegen null. Die jeweilige Wertzuschreibung, so die Pointe, ist also nicht von den objektiven Eigenschaften des Gutes abhängig, sondern vielmehr von der relativen Verfügungsmenge: Die Bedürfnisse der Schiffsbewohner sind in allen drei Fällen dieselben geblieben, denn ihre Persönlichkeit und somit auch ihr Bedarf haben sich nicht geändert. Was sich aber geändert hat, war die diesem Bedarfe in jedem einzelnen Falle gegenüberstehende Quantität des obigen Nahrungsmittels, indem dem gleichen Bedarf der Schiffsbewohner nach Nahrungsmitteln in dem ersten Falle nur je zehn Pfund, im zweiten eine grössere, im dritten aber eine noch grössere gegenüberstand und somit von Fall zu Fall die Bedeutung

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Menger: Grundsätze, S. 104. – Zwieback und Gold sind im Übrigen auch Bestandteil der Schiffsladung, die Defoes Robinson nach dem Schiffbruch auf dem verlassenen Wrack fi ndet (vgl. Daniel Defoe: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe [1719]. In: Daniel Defoe, The Novels of Daniel Defoe, Bd. 1, hg. von W. R. Owen, London 2008, S. 53–285, hier: S. 92 u. S. 99). Gleiches gilt für die Adaption von Johann Karl Wezel (vgl. Johann Karl Wezel: Robinson Krusoe [1779/1780], hg. von Anneliese Klingenberg, 2. Aufl., Berlin 1990, S. 40). Einschlägig ist dieser Widerspruch bei Ricardo im Eingang seines Hauptwerkes On the Principles of Political Economy and Taxation formuliert worden: »Water and air are abundantly useful; they are indeed indispensable to existence, yet, under ordinary circumstances, nothing can be obtained in exchange for them. Gold, on the contrary, though of little use compared with air or water, will exchange for a great quantity of other goods.« David Richardo: On the Principles of Political Economy and Taxation [1817, 3.  Aufl. 1821], hg. von Piero Sraffa (The Works and Correspondence of David Ricardo, Bd. 1), Cambridge 1951, hier: S. 11. Deutsch: »Wasser und Luft sind außerordentlich nützlich; sie sind sogar für unsere Existenz unentbehrlich, und doch erhält man unter normalen Umständen nichts im Austausch für sie. Hingegen kann man für Gold, obwohl es im Vergleich mit Luft oder Wasser nur geringen Nutzen besitzt, eine große Menge anderer Waren eintauschen.« David Ricardo: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung [engl. 1817], übers. nach der 3. Aufl. von 1821 und mit einer Einleitung versehen von Gerhard Bondi, Berlin 1959, hier: S. 9.

jener Bedürfnissbefriedigungen sich verminderte, welche von concreten Theilquantitäten jenes Nahrungsmittels abhängig waren.112

Mit Kleinsterzählungen wie diesen schärft Menger den Grundgedanken seiner Grenznutzentheorie ein: Nicht das Ding an sich besitzt einen ökonomischen Wert, sondern dieser entsteht vielmehr dynamisch aus dem Verhältnis zwischen einem Bedarf und dem verfügbaren Quantum an Bedarfsdeckungsmitteln. Wert erscheint als subjektive und relative Größe, messbar in den Relationen eines je individuellen Haushalts. Mengers Erzählungen treten dabei als Exempel auf, die den abstrakten Lehrsatz veranschaulichen. Um eine konkrete Repräsentation kulturellen Handelns, von dem aus man dann induktiv auf Allgemeinsätze schließen möge, wie im realistischen Diskurs beabsichtigt, geht es hier nicht. Damit einher läuft die Standardisierung der Menger’schen Erzählungen in Anlehnung an die Vorgaben der Robinsonade. Stets findet das exemplarisch vorgeführte Handeln in isolierten, exotischen oder vormodernen Räumen statt (Insel, Urwald, Schiff ). Der Fokus gilt elementaren Bedürfnissen wie der Ernährung oder der Bewirtschaftung des Hauses. Die Miniaturgeschichten zeigen sich durch Krisen bewegt. Dürren und Hungersnöte prägen die Fiktionen; Wasser schwindet, Zwieback wird knapp. Mengers Lehre vom relativen Güterwert umgibt sich so implizit mit dem Pathos des Kampfes gegen die Naturgewalten, das der Robinsonade traditionell anhaftet. Der hier neu zu entwerfende Homo oeconomicus vermag seine Bedürfnisse auch dann noch zu berechnen, wenn ihm alle Stricke reißen und allein das Notdürftigste noch erhalten bleibt. So wird es performativ vorgeführt. Rationalisierung unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, das heißt ökonomisch denken. Die Topik der Robinsonade, die Menger hier zur Profi lierung eines (wie sich herausstellen wird) neuen theoretischen Paradigmas bemüht, deutet auf die Produktivität literarischer Schemata bei der Wissenskonstitution hin. Der stufenweise Aufstieg zur Abstraktion, der schon bei Menger in formalisierte Grenznutzentabellen und bei seinen Nachfolgern in Angebots- und Nachfrage-Graphen mündet, mag nicht gelingen ohne die vorgängige narrative Ausgestaltung des Untersuchungsfeldes. Denn für eine Analyse des Wertens und Handelns ökonomischer Agenten braucht es anschauliche Bilder von der Gestalt ebendieses Handelns. Der Homo oeconomicus ist nichts ohne das Robinson-Bild. Anders als die Realisten, die die Plastizität ihrer Wirtschaftsbegriffe aus der tatsächlichen oder über historische Archive vermittelten Anschauung beziehen, kann Menger auf schematisierte Formen zurückgreifen, die sich wesentlich der literarischen Kommunikation verdanken. Dabei ist der Entwurf des ökonomischen Subjektes ›Robinson‹ selbst Produkt einer Austauschbewegung. In der Reichweite ökonomischer Fragestellungen begründet sich die Gattungsgeschichte der Robinsonade in Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) aus einem engen

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Menger: Grundsätze, S. 106.

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Miteinander merkantilistischer, religiöser und literarisch fi ktionaler Erwägungen heraus.113 Drei literarisch wirkungsmächtige Dimensionen sind bereits mit dem Defoe’schen Robinson Crusoe gegeben: die Abenteuer- und Reisegeschichte, die von den (Pseudo-)Robinsonaden nach Defoe inflationär ausgespielt wird.114 Zweitens die puritanische Läuterungsgeschichte und das Problem der »original sin«115, als die Robinson selbst seine Reiselust und mithin die Entfernung von den väterlichen Lebensvorgaben (»the middle Station had the fewest Disasters«116) begreifen lernt. An dieses Problemfeld knüpft seit Rousseaus Robinson-Rezeption im Emile auch die pädagogische Ausarbeitung der Fiktion an, die im deutschen Sprachraum durch die bis ins späte 19. Jahrhundert maßgebliche Robinsonade Robinson der Jüngere (1779) von Joachim Heinrich Campe vorgenommen wird. In dritter Linie zeigt sich Robinson dann als die besagte Modellerzählung von einem pragmatischen, nutzenorientierten, allen Widrigkeiten einer kargen Umwelt trotzenden Handeln, die in der Ökonomie begrüßt wird. Mit dem Leben des Werktätigen auf der einsamen Insel entsteht der neuzeitliche »Robinson-Mythos«, der Mythos vom »Sieg menschlicher Leistung und des Unternehmergeistes« (Watt).117 Die ökonomische Dimension hängt eng mit der äußerlichen, materiellen Entwicklung des Helden auf seiner Insel zusammen. Im Bestreben, zunächst das bloße Überleben, später aber auch einen gewissen zivilisatorischen Komfort zu erlangen, wird Robinson zum Güterproduzenten. Es ist der Zauber ungeteilter Produktivkraft, den der Mythos seit Defoe mitteilt (mit Blick auf eine frühindustrielle Rezipientenschicht, für die die Totalität von Arbeit und Hauswirtschaft immer weniger erfahrbar war118). Bereits in der ersten größeren Szene nach dem Schiffbruch, bei

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Siehe unter den neueren kontextorientierten Arbeiten vor allem James Thompson: Eighteenth Century Political Economy and the Novel, Durham, London 1996, besonders: S.  87–93; Sandra Sherman: Finance and Fictionality in the Early Eighteenth Century. Accounting for Defoe, Cambridge 1996, besonders: S. 70–80. Als Standardwerk der ökonomisch orientierten Defoe-Forschung gilt weiterhin Maximillian E. Novak: Economics and the Fiction of Daniel Defoe, Berkeley, Los Angeles 1962. Bemerkenswert unter den früheren Aufsätzen zum Thema ist Gustav Hübener: Der Kaufmann Robinson. In: Englische Studien, Jg. 54 (1920), S.  367–398. Das ›Robinson-Paradigma‹ als Beispiel für den homologen Zusammenhang zwischen Romanform und kameralistischer Buchführung im 18. Jahrhundert diskutiert Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 187–190. Vgl. Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 44–54. Defoe: Robinson Crusoe, S. 200. ›Original sin‹ ist ein prominenter Topos der religionswissenschaft lich orientierten Defoe-Interpretationen geworden. Defoe: Robinson Crusoe, S. 58. Vgl. Ian Watt: »Robinson Crusoe« als ein Mythos. In: Robert N. Wilson (Hg.), Das Paradox der kreativen Rolle. Soziologische und sozialpsychologische Aspekte von Kunst und Künstler, Stuttgart 1975, S. 43–67. Vgl. Ian Watt: Myths of Modern Individualism. Faust, Don Quixote, Don Juan, Robinson Crusoe, Cambridge 1996, S. 152f.

Inbesitznahme der Restbestände des Wracks, wird Defoes Held als erfindungsreicher Handwerker profi liert. Akribisch berichtet der Ich-Erzähler die technischen Details für die Anfertigung eines tragfähigen Floßes. Beim zweiten Gang zum Wrack vermag Robinson schon mit Leichtigkeit ein zweites Floß herzustellen. Das Know-how siegt. Es ist gleichwohl ein Know-how, das auf den absoluten Nutzwert der Gegenstände gerichtet ist. Nützlich ist hier, was dem Überleben auf der Insel dienen kann – und das ist gewissermaßen alles. Vergleichsweise unterschiedslos zählt denn der Text den Proviant auf, den Robinson in insgesamt zwölf Fahrten vom Wrack abtransportiert (»I furnish myself with many things«119). Lediglich die Goldmünzen, die er am Schluss findet, werden gesondert eingeschätzt: »O drug! Said I aloud, what art thou good for, Thou art not worth to me, no, not the taking off of the Ground, one of those Knives is worth all this Heap, I have no Manner of use for thee; e’en remain where thou art, and go to the Bottom as a Creature whose Life is not worth saving.«120 Damit ist denn eine Mindestopposition angelegt zwischen nützlichen Dingen und einstweilen wertlosem Geld, die den Eintritt des vormaligen Kaufmanns Robinson in die Sphäre des reinen Gebrauchswerts besiegelt.121 Eine immanente Strukturierung der brauchbaren Güter nach einem ökonomischen Kalkül, das Nutzen und Kosten abwägt, fällt hier allerdings aus. Die Dinge kommen gewissermaßen noch als vollständige, absolut brauchbare oder unbrauchbare Werkzeuge bzw. Verzehrmittel in den Blick, nicht in ihrem Grenznutzen. Ersichtlich wird der unproblematische Status der Bestandssicherung am Wrack in einem Kommentar, den der auktoriale Erzähler in Johann Karl Wezels Bearbeitung (Robinson Krusoe, 1778/80) zur gleichen Szene abgibt: Robinson hatte in der Tat eine große Unbesonnenheit begangen: da ihm die Unsicherheit der Fahrt zum voraus bekannt war, warum vertraute er seinem elenden Fahrzeuge den beträchtlichsten Teil des gefundenen Vorrats an? warum teilte er ihn nicht lieber und versuchte itzo bloß die Hälfte hinüberzubringen, damit er, wenn diese ja verlorenging, die übrige bei einer andern Gelegenheit nachholen konnte? – Entweder kann man gewöhnlicherweise in einem solchen Vorfalle an so eine ökonomische Klugheit nicht denken, sondern verfährt mit einer Art von habsüchtiger Übereilung, oder blieb wirklich noch genug im Schiffe zurück, um den Verlust zu ersetzen?122

Die ökonomische Klugheit, so wird hier angedeutet, beschränkt sich nicht allein auf ein praktisches Vermögen, taugliche Güter herzustellen. Sie besteht vielmehr in einer kalkulatorischen Kompetenz, die bereit ist, manche Dinge aufzugeben, um andere zu erhalten – und so überhaupt den Nutzwert der Dinge zu bemessen. Ein Robinson, der

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Vgl. Defoe: Robinson Crusoe, S. 92–100. Defoe: Robinson Crusoe, S. 99. Vgl. Novak: Economics and the Fiction of Daniel Defoe, S.  55–62. Novak unterschlägt allerdings, dass es sich bei Defoes an Locke orientiertem Lob des Gebrauchswerts nicht um ein Grenznutzenkonzept handelt, das den Wert der Güter relational im Kalkül von Aufwand und Bedarfsdeckung verortet. Wezel: Robinson Krusoe, S. 41f.

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›unbesonnen‹, ohne weitere Reflexion alles einstreicht, was ihm irgendwie brauchbar erscheint, lässt hier noch einen gewissen Mangel an modernem ökonomischen Sinn erkennen. Ein Kommentar wie dieser von Wezel verdeutlicht die Leistungsfähigkeit des Robinson-Mythos. Die maximal übersichtliche Diegese, in der ein isolierter Held durch permanente Bearbeitung spärlicher natürlicher Ressourcen zu einem stetig anwachsenden Güterhaushalt gelangt, erfüllt gewissermaßen die Minimalanforderung an eine ökonomische Strukturierung: Arbeit führt zur Bedarfsgüterbeschaff ung durch Stoff- und Kapitaleinsatz (Natur und Werkzeug). In dieser Trias kann dann eine jede Komponente durch interpretatorische Zugriffe binnendifferenziert werden. So diskutiert Karl Marx in einem berühmten Kommentar im Kapital die Wertschöpfung des Robinson: Bescheiden, wie er von Haus aus ist, hat er doch verschiedenartige Bedürfnisse zu befriedigen und muß daher nützliche Arbeiten verschiedener Art verrichten, Werkzeuge machen, Möbel fabrizieren, Lama zähmen, fischen, jagen usw. Vom Beten u. dgl. sprechen wir hier nicht, da unser Robinson daran sein Vergnügen fi ndet und derartige Tätigkeit als Erholung betrachtet. Trotz der Verschiedenheit seiner produktiven Funktionen weiß er, daß sie nur verschiedne Betätigungsformen desselben Robinson, als nur verschiedne Weisen menschlicher Arbeit sind. Die Not selbst zwingt ihn, seine Zeit genau zwischen seinen verschiednen Funktionen zu verteilen. Ob die eine mehr, die andre weniger Raum in seiner Gesamttätigkeit einnimmt, hängt ab von der größeren oder geringeren Schwierigkeit, die zur Erzielung des bezweckten Nutzeffekts zu überwinden ist. Die Erfahrung lehrt ihn das, und unser Robinson, der Uhr, Hauptbuch, Tinte und Feder aus dem Schiffbruch gerettet, beginnt als guter Engländer bald Buch über sich selbst zu führen. Sein Inventarium enthält ein Verzeichnis der Gebrauchsgegenstände, die er besitzt, die verschiedenen Verrichtungen, die zu ihrer Produktion erheischt sind, endlich der Arbeitszeit, die ihm bestimmte Quanta dieser verschiednen Produkte im Durchschnitt kosten.123

Mit wenigen Handgriffen wird der Inselkosmos Robinsons aufgerufen (Werkzeuge, Möbel, Lama, Beten, Tagebuch), um ihn in eine spezifische Deutung zu überführen – in die klassische Arbeitswerttheorie. Marx homogenisiert die Tätigkeiten Robinsons und unterwirft sie einem einzigen Begriff: Die Mannigfaltigkeit des Eremitenlebens stellt sich nunmehr als ›verschiedene Weisen‹ ein und derselben ›menschlichen Arbeit‹ dar. Dabei verdankt sich diese Vereinheitlichung zur gestaltlos gleichförmigen ›Arbeit‹ ebenso ihrer Messbarkeit wie ihrer Archivierung im Tagebuch. Auf Defoes eigene Konzeptualisierung kann sich diese ökonomische Wende nur bedingt berufen. Nicht nur, dass die Zwiesprache mit Gott bei Marx der bloßen Freizeitgestaltung zugeschlagen wird (womit implizit auch die bei Marx gängige Herabstufung immaterieller, intellektueller Aktivität gegenüber der ›manual labour‹ fundamentiert wird). Auch die strenge Budgetierung des Zeitkontos, wie sie Marx für seinen Arbeitsbegriff ansetzt, lässt Defoes Robinson vermissen:124 »But what need

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Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 90f. Vgl. hierzu auch Novak: Economics and the Fiction of Daniel Defoe, S. 61f.

I ha’ been concern’d at the Tediousness of any thing I had to do, seeing I had time enough to do it in«.125 Zeit, die im Überfluss vorhanden ist, ist keine ökonomische Zeit. Nicht von ungefähr ist denn auch die ›Uhr‹, die Marx unter das Inventar seines Robinson rechnet, eine Zutat des Ökonomen gegenüber der ursprünglichen Fiktion (die den eher grob gestrickten Kalender einführt). Zeitlose Mühe aber, die keine Alternativen kennt, dient nicht für ein Kalkül. Und ein Tun, das sich demnach gleichsam unaufrechenbar in alles verströmen kann, reicht eher zum Vorentwurf für eine universelle Arbeitsethik denn zu einem streng wirtschaftlichen Arbeitsbegriff. Dennoch hat Defoe, gewissermaßen unterhalb der selbstreflexiven Ebene des Erzählens, mit dem Aufschreibesystem des Tagebuchs den Weg vorgezeichnet, den ökonomische Lektüren des Robinson nachfolgend beschritten. Von dem fi ktionalen Gliederungsangebot inspiriert126, systematisieren die Ökonomen genauer jenes Tun, das bei Defoe noch vordergründig als Abenteuer des Handwerks, als Feier der Mühsal und der Freude an der Dingschöpfung auffällt. Die Zahl wird ihnen dann zum Medium der formalen Erfassung der Güterproduktion. Eben hier setzt auch Carl Mengers Robinson-Interpretation an. Auf den ersten Blick operiert sie mit einer systematischen Methodik, die der Marx’schen nicht unähnlich ist, doch fällt sie gänzlich andere theoretische Aussagen. Denn Menger sucht den archimedischen Punkt seiner Theorie nicht mehr in einer äußerlichen, objektiven Bestimmungsgröße (›Arbeit‹), sondern zielt ganz darauf ab, jegliche Güter in ihrer dynamischen Beziehung zueinander zu erfassen. Erster und letzter ökonomischer Bezugspunkt ist dabei die subjektive Wertzuschreibung des einzelnen Wirtschaftenden. Sie erfolgt kognitiv (Erkennen der kausalen Zusammenhänge zwischen Gütern) und evaluativ (Erkennen der Relevanz für den eigenen Bedarfshaushalt). Schon die erste größere Systematik, die Menger in seinen Grundsätzen anbietet, dient dieser immanenten Strukturierung von Güterbeziehungen.127 Es handelt sich hierbei förmlich um eine ökonomische Travestie der berühmten Passagen über die Brotherstellung aus dem Robinson. Güter erster, zweiter, dritter Ordnung etc. führt Menger anhand des Brotbeispiels ein. Wo bei Defoe noch die reine Sachkunde dominiert (vom Gerstenkorn über den fertigen Teig bis zum Backen), da differenziert Menger den Prozess aus und abstrahiert: in End- und Zwischenprodukte, die unterschiedlich direkt bzw. indirekt auf das infrage stehende Bedürfnis bezogen sein können (der Ordnungsgrad misst die Entfernung vom Konsum).128 Die numerische Struktur kann dann nach-

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Defoe: Robinson Crusoe, S. 105. Diesen Ansatzpunkt, an dem der systematische Arbeitsbegriff aus der puritanischen Berufungsethik heraus führt, charakterisiert eingehender Margret Milchert-Wylezich: Zur Arbeitsethik des Puritanismus in den Schriften Daniel Defoes. In: Harro Segeberg (Hg), Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes »Arbeit« in der deutschen Literatur (1770–1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, Tübingen 1991, S. 21–29. Vgl. Abschnitt 2.2.3. dieser Arbeit. Vgl. Menger: Grundsätze, S. 8f.

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folgend den anschaulichen Ding- und Darstellungszusammenhang ersetzen. Von der materialen Kompetenz wechselt man hinüber zur formalen. In gleicher Weise bedient sich auch das zentrale Grenznutzentheorem der Robinsonade. Es nimmt das deskriptive Fleisch der Fiktion (Schiffbruch, Zwieback, Wassermangel etc.) und konserviert es in Kippnarrativen, die auf diskrete Gliederungen abzielen: vorher/nachher, weniger/mehr. So werden kontinuierliche Arbeitsvorgänge in wertfähige Güterstrukturen überführt. Tabellen, in denen den Bedürfnissen numerisch Relevanzgrade zugeordnet sind, verlängern dann die auf Trennschärfe angelegten Erzählungen ins Mathematisierbare. Von der allgemeinen Brauchbarkeit der Dinge muss darin nicht mehr die Rede sein. Die Lehre vom Grenznutzen kommt ohne eine Metaphysik des ›eigentlichen‹ Wertes aus. Sie lässt das Bedürfnis vollends eingehen in das je dynamische Zusammenspiel der Güter. Entscheidend wird von nun an nicht, was wichtig ist, sondern was man besitzt – und in welchem Maße. Wahlfreiheit fällt mit Knappheitserwägungen zusammen. Und der Wert der Dinge löst sich in die erste und letzte Frage, was man zu geben und zu nehmen bereit ist, auf. Dass wir es hierbei – nunmehr auf den zweiten Blick betrachtet – mit einer auch poetologisch relevanten Wende gegenüber jener Interpretation, wie sie Marx vorlegt, zu tun haben, verdeutlicht eine Kritik des deutschen Nationalökonomen Heinrich Dietzel, die dieser im Zuge einer werttheoretischen Debatte in den 1890er Jahren gegen Eugen Böhm-Bawerk formuliert.129 Böhm-Bawerk, zeitweilig österreichischer Finanzminister, tritt in der Debatte als Erbe und Weggefährte Carl Mengers und Friedrich von Wiesers für die ›neue‹ Grenznutzenschule auf. Dietzel ergreift Partei für die ›alte‹, klassische Arbeitswerttheorie (also für Ricardo, an den auch Marx anknüpft) – und liefert damit noch dem späten Wilhelm Roscher Argumente zur Ablehnung der Grenznutzentheorie.130 Insofern die Debatte von den österreichischen Neuerungen angeregt ist, bemühen Böhm-Bawerk und Dietzel ausgiebig den »Probierbengel«131 Robinson und diskutieren die Logik isolierter Wirtschaften und die Leiden oder »Launen«132 des Insulaners. Dietzel zielt dabei auf eine kategorische Unterscheidung zwischen nichtreproduzierbaren und reproduzierbaren Gütern: Für erstere Klasse, zu der etwa Kunstwerke gehören, möge die Grenznutzentheorie zwar

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Den Anstoß zur Debatte gibt Heinrich Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Theorie vom Grenznutzen. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N. F. 20 (1890) Heft 6, S. 561–606. Die Ausführungen werden auf eine kürzere Nachfrage BöhmBawerks hin präzisiert in Heinrich Dietzel: Zur klassischen Wert- und Preistheorie. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F. 1. Band (1891) Heft 5, S. 685–707). Böhm-Bawerks ausführliche Erwiderung erfolgt 1892. Vgl. Eugen Böhm-Bawerk: Wert, Kosten und Grenznutzen. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. F. 3. Band (1892) Heft 3, S. 321–367. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 5, S. 12 u. S. 14, Fn. 10. Vgl. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S.  597. Vgl. Böhm-Bawerk: Wert, Kosten und Grenznutzen, S. 324. Vgl. Böhm-Bawerk: Wert, Kosten und Grenznutzen, S. 345–352 (Abschnitt: Einiges über Robinson und über Launen).

wahre, jedoch nicht neue werttheoretische Einsichten bieten. Für die bei weitem größere, volkswirtschaftlich dominante Klasse der reproduzierbaren Güter aber stelle die unsichere ›Schätzung‹ von ›Wertgefühlen‹ einen klaren Rückschritt gegenüber dem herkömmlichen Verfahren, messbare Arbeitskosten (Zeit) zur Grundlage des Wertes zu machen, dar.133 Der Fehler der Grenznutzenschule bestehe darin, dass sie immer bereits von einem fertigen Vorrat ausgehe und nicht, wie es die Arbeitswertökonomie tut, von der Produktion des Vorrats (und also der darin verausgabten Arbeitskraft). Dietzel orientiert seine Beispiel-Robinsonaden folgerichtig wieder enger an den fi ktionalen Vorgaben: Als er im Schiffbruch an die Küste geschleudert ward, nur das nackte Leben rettend, begann er natürlich damit, seinen Hunger, seinen Durst, diese tyrannischen Bedarfe, zu decken; ohne zu markten »koste, was es wolle«, verausgabte er Arbeitsquanta für einen Trunk Wassers, einige Früchte. Er hätte diese Arbeitsquanta auch verwenden können, eine Hütte zu zimmern, seinen Mantel wieder zu gewinnen, welchen die Woge an eine schwer zugängliche Klippe spülte – zuerst braucht er Speise und Trank.134

Über die neuerliche Fokussierung auf den tätigen Helden, nicht den genießenden, rekapituliert Dietzel die Lehre von den Arbeitsquanta. Wie lange Robinson zur Herstellung bzw. Wiederherstellung eines Gutes benötigt, entscheidet dann darüber, welchen Wert das betreffende Gut für ihn hat: eine Hütte (10 Stunden) wird demnach ebenso wichtig wie ein Netz (10 Stunden) und wichtiger als ein Bogen (8 Stunden).135 Robinson, als Erzählung von der Wiedergewinnung eines zivilisatorischen Zustands, fügt sich hier relativ nahtlos in die im Arbeitswert verankerte Reproduktionskostentheorie. Poetologisch betrachtet steht das Gut bei Dietzel und anderen Arbeitswerttheoretikern (wie Marx) in einer primär metonymischen Relation. Um seinen Wert zu bestimmen, braucht es die Geschichte der Dingwerdung, die sich in Arbeitsstunden messbar ausdrückt. Ohne einen Rekurs auf den Herstellungszusammenhang werden Güterschätzungen in dieser Sichtweise nicht operabel. In der narrativen Arbeit gilt es also, die Mühen und die Zeit festzuhalten, die notwendig waren, um eine Hütte, ein Netz oder einen Bogen anzufertigen. Genau diese metonymische Relation streichen die Österreicher durch und tilgen damit das kontextuelle Wissen um die Herkunft der Güter. Nicht was war, sondern was ist, wird für den Wertschätzenden bedeutsam. Und das, was ist, ist stets das individuelle Bedürfnis, das sich mehr oder weniger stark nach einem Gut sehnt. »Die ›Launen‹«, pointiert Böhm-Bawerk, »lassen sich also aus unseren Wertschätzungen nicht eliminieren; auch aus den ›exakten‹ Kostenwertschätzungen nicht.«136 Wer Kosten kalkuliert, kalkuliert stets mit, wie viel ihm eine jeweils nächste Arbeits-

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Vgl. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S. 585–590. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S. 584. Vgl. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S. 586. Böhm-Bawerk: Wert, Kosten und Grenznutzen, S. 350.

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stunde wert ist. Einen fi xen, gespeicherten Wert besitzt diese einzelne Arbeitsstunde nicht. Denn auch sie unterliegt dem subjektiven Urteil, das Aufwand und Bedarf je neu in Beziehung zu setzen hat. Wert hat demnach, in der Sichtweise der Österreicher, kein Gedächtnis. Sein Reich ist das Präsens, die Gegenwart des Verlangens nach Gütern, dem sich alles andere unterordnet. Der Wechsel von der Produktwerdung zum (immer schon) fertigen Vorrat, der Wechsel in den Konsumismus, fällt dabei mit einer Metaphorisierung zusammen. Die Zahlen, die Grenznutzentheoretiker wie Menger oder Böhm-Bawerk an die ›Wertgefühle‹ anlegen, entstammen, wie Dietzel bemerkt, keiner realen, objektiven Größe, also der ›exakten‹ Arbeitszeit.137 Sondern sie schreiben sich ein in einen diffusen, ›dunklen‹ Bereich subjektiver Empfindungen. Die Gliederung des individuellen Güterhaushalts verdankt sich, anders gesagt, der metaphorischen Übertragung der Zahl auf innere, psychologische Vorgänge. Ablesbar sind diese Zahlen dann nicht mehr auf der Uhr, sondern allein an den Wahlentscheidungen der Wirtschaftenden. Die Frage, welches Gut Robinson in einer Zwangslage als erstes aufzugeben bereit ist, bestimmt seinen Relevanzgrad. Und dieser Grad deckt sich in der neoklassischen Sichtweise eben nicht mit dem jeweiligen Arbeitsaufwand. Eine Hütte anzufertigen mag langwierig sein, und doch wird sie in der Not geringer geschätzt als das leichter wiederzubeschaffende Lebensmittel. Von hier aus kann sich die Grenznutzentheorie letztlich vom Beschaff ungsnarrativ verabschieden. Robinsons Mühen schwingen nurmehr als Dekor der exemplarischen Erzählungen mit, als Teil der älteren Robinson-Folklore. Die Kosten werden den Launen, d.h. den subjektiven Wertschätzungen, unterstellt. Und diesen ›Launen‹ eines von konkreten Produktionszusammenhängen und bereits absolvierten Arbeiten abstrahierenden Robinson gilt von nun an die Aufmerksamkeit. 4.2.2. Mehr als Robinson – Die realistische Ökonomie im Kontext der deutschen Robinsonaden Der Streit zwischen Eugen Böhm-Bawerk und Heinrich Dietzel um die Grundlegung der Werttheorie ist auch ein Streit über die Reichweite der Robinsonade. Dietzel teilt mit den Österreichern den interpretatorischen Startpunkt, wenn er Inselerzählung auf Inselerzählung häuft. Und doch zielt seine Scheidung des Bereichs der nichtreproduzierbaren Güter von den reproduzierbaren in letzter Instanz auf die Eindämmung des Robinson-Paradigmas und der damit verbundenen Mikroanalysen.138 Schon in einer frühen Rezension zu Friedrich von Wiesers Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirtschaftlichen Wertes lässt Dietzel Zweifel aufkommen, dass komplizierte soziale Phänomene wie der Tausch aus einer Theorie isoliert wirtschaftender Subjekte

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Vgl. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S. 589. Vgl. dazu die Kritik von Böhm-Bawerk: Wert, Kosten und Grenznutzen, S. 323f.

heraus erklärt werden können.139 In der Debatte mit Böhm-Bawerk kritisiert er umgekehrt die Ausdehnung der Preistheorie (des Angebot-Nachfrage-Mechanismus) auf die Werttheorie.140 Unter beiden Blickwinkeln geht es um die Aufrechterhaltung der klassischen Differenz zwischen Wert (Gebrauchswert) und Preis (Tauschwert) und damit um die Garantie einer letzten aus sich heraus wertvollen Größe (der Arbeitskraft), die alle anderen Güter, gewissermaßen als Urmutter, befruchtet. Eine solche Relativierung des Robinson, eine Zuordnung zur mehr oder weniger marginalen Sparte mikroanalytischer Einübung, wie sie Dietzel hier bezweckt, entspricht auch der Umgangsweise, die die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie mit dem Paradigma pflegt. Roscher lässt den Inselhelden ganze drei Mal in seinem Lehrbuch auftreten und jeweils in bemerkenswert untergeordneter Weise: 1) Gegen die merkantilistische Auffassung, nach der sich wirtschaftliche Produktivität im Zugewinn edler Metalle für den Nationalreichtum niederschlägt, formuliert Roscher: Seine Anhänger [die Merkantilisten, Anm. Ch. R.] müssten die Arbeiten eines Robinson völlig unproduktiv nennen; ebenso fast alle Arbeiten roher Völker.141

2) Auch für den Begriff der Arbeitsteilung hält Robinson als Vergleichsgröße her: So hat mit der Ausbildung der menschlichen Gesellschaft überall auch die Arbeitstheilung zugenommen. Während Robinson alle seine Bedürfnisse unmittelbar durch eigene Arbeit befriedigen mußte, fi nden wir schon bei den rohesten Indianerfamilien, daß der Mann außer dem Kriegswesen noch das Jagen und Fischen, die Verfertigung der Waffen und Canots, sowie auf Märschen den Transport der letzteren besorgt; die Weiber hingegen müssen das Wild etc. zubereiten, Holz holen, Felle gerben, Kleider nähen, die Wigwams bauen und erhalten, die Kinder warten und auf Märschen das meiste Gepäck tragen.142

3) Arbeitsteilige Wirtschaften mit ihrem undurchsichtigen Zusammenhang von ›Verdienst und Lohn‹ sind nach Roscher ein guter Nährboden für sozialistische und kommunistische Theorien. Abermals illustriert hier ein Robinson das Problem: Denken wir uns eine Robinsoninsel! Wenn da der Eine nach vielmonatlicher Arbeit einen Baum vermittelst eines Th ierzahnes gefällt und zum Canot ausgehöhlt hat, so wird es dem Andern, der inzwischen vielleicht auf seiner Bärenhaut schlief, allerdings nicht wohl einfallen, das Recht jenes auf die Frucht seiner Mühe hinwegzuleugnen. Wie nun aber auf den höchsten Kulturstufen, wo der Bankier, scheinbar in einem Augenblicke, scheinbar mit einem Federstriche, tausendmal mehr gewinnt, als der Tagelöhner im Schweiße des

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Heinrich Dietzel: Wieser, F. v.: Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirtschaftlichen Wertes [Rezension]. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N. F. 21 (1885) Heft 5, S. 161–162. Vgl. Dietzel: Die klassische Werttheorie und die Lehre vom Grenznutzen, S. 571. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 48, S. 118. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 56, S. 134.

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Angesichts während einer Woche? Wo man bei Zinsgläubigern nur allzu leicht vergisst, auf welche oft mühsame Art sie selbst oder ihre Vorgänger das Kapital erschaffen haben?143

Alle drei Passagen funktionalisieren Robinson für mehr als eine rein ökonomische Produktivitäts- oder Wertschöpfungstheorie. Während der dritte Punkt das Wirtschaftsszenario um einen ethischen Begriff von gerechtem Verdienst anreichert, findet in den ersten beiden Textstellen eine historische Perspektivierung statt: Robinson steht unmittelbar neben der Wirtschaft ›roher‹ Völker und damit in zivilisationsgeschichtlicher Dimension. Der Insulaner markiert die Anfänge einer entstehenden (Wirtschafts-)Kultur. Eine solche Perspektivierung entspricht durchaus einem konventionellen Strang der Robinson-Rezeption. So legt Hermann Hettner in seinem Vortrag Robinson und die Robinsonaden 1854 eine bis ins 20. Jahrhundert hinein einflussreiche Lektüre des Defoe’schen Werkes vor: »Wir sehen, wie der Mensch mit innerer Notwendigkeit Stufe um Stufe aus dem ersten rohen Naturzustande zu Bildung und Civilisation kommt. Kurz, es entrollt sich ein Bild vor uns, so groß und gewaltig, daß wir hier noch einmal die allmälige und naturwüchsige Entwicklung des Menschengeschlechts klar überschauen.«144 Diese Stufentheorie des Robinson hat Tradition. Bereits Johann Karl Wezel lässt seinen Robinson Krusoe 1779 im Dienste einer Zivilisationsparabel schuften: »Robinson, in seinen rechten Gesichtspunkt gestellt, in welchem ich ihn auch bearbeitet habe, ist eine Geschichte der Menschen im Kleinen, ein Miniaturgemälde von den verschiedenen Ständen, die die Menschheit nach und nach durchwandert ist«, verkündet der Autor im Vorwort zum ersten Band.145 Entsprechend durchschreitet sein Protagonist die gattungsgeschichtlichen Entwicklungsstufen vom Jäger und Sammler über den Hirten und Domestizierer bis hin zum Gründer eines Gemeinwesens. Im zweiten Teil, nach Robinsons Rückkehr auf die Insel, werden dann einschlägig die Wirtschaftsstufen und politische Herrschaftsformen nachvollzogen, von der Subsistenzwirtschaft über den Naturaltausch bis zum Geldhandel bzw. von der Urgemeinschaft über die Sklavenhalter- zur Feudalgesellschaft.146 Als Antriebskräfte der Entwicklung gelten in Wezels Erzählung Zufälle, Not und äußere Gefahr (u.a. durch beständige räuberische Eingriffe von arbeitsunwilligen Engländern) sowie Arbeitsamkeit und Erfindungsreichtum, mit der die Verteidiger der Ordnung (die Spanier)

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 78, S. 184. Hermann Hettner: Robinson und die Robinsonaden. Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Verein zu Berlin, Berlin 1854, S. 30. Wezel: Robinson Krusoe, S. 9f. Der distanzierte, kommentarfreudige auktoriale Erzähler nimmt diese Einordnung später explizit auf; siehe Wezel: Robinson Krusoe, S. 85. Schon die ausführliche intradiegetische Erzählung des Spaniers, in der er über das Kolonieleben nach Robinsons Abreise informiert, zielt unumwunden auf eine Wirtschaftsund Gesellschaftsgeschichte (Wezel: Robinson Krusoe, S.  151–194). Im abschließenden Teil »Geschichte der Kolonie« reichert sich der Text dann auch mit Fußnoten an, um die Parallelen zur Historie herzustellen (S. 223–264).

ihr Gemeinwesen beisammenhalten und ihm stetig neue Formen der Macht- und Eigentumsverteilung entwerfen. Bei Wezel verbindet sich diese Fortschrittserzählung mit einer pessimistischen Note.147 Robinsons Ordnungspolitik, die dieser nach der Rückkehr auf die Insel neuerlich auf sich nimmt, scheitert. Nach seinem Tod gründet sein Sohn ein feudales Lehnswesen, das ebenfalls in Zwietracht zerfällt. Das allseitige Beharren auf Eigennutz und Bedürfnisbefriedigung mündet in den Vernichtungskrieg; die Kolonie Robinsonia geht in Chaos und Anarchie unter. »Sic transit gloria mundi«, lautet das Resümee.148 Wezels Dystopie wird in der deutschen Literatur von einer rezeptionsgeschichtlich ungleich wirkungsvolleren und optimistischer eingestellten Robinsonade überstrahlt: Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779). Und in ihrem Beharren auf Ordnungspotenziale rückt diese Adaption näher in den gedanklichen Zusammenhang der Frage nach den ethischen Dimensionen der Wirtschaftsleistung, die Roscher im dritten obigen Textabschnitt aufwirft . Campes »schulmeisterliche Bearbeitung« (Hettner)149, die bis 1851 bereits 43 Auflagen erfährt, stellt zunächst ganz auf das Lob der Arbeit ab, ja sie spitzt das Schaffensszenario noch zu, insofern Robinson sein Inselabenteuer hier ganz ohne Startkapitalien aus dem Schiff swrack antreten muss. Mit seiner Hände Arbeit und den kargen Hilfsmitteln, die ihm die Insel zur Verfügung stellt, baut sich der Held seine Kultur auf. Auf größere persönliche Entwicklungsbögen wird dabei verzichtet. Robinson erlebt sich recht schnell als Büßer und fi ndet entsprechend Erfüllung in Beten und Schuften, tagaus, tagein. »Arbeitsamkeit und Mäßigkeit« steht als Credo über seiner Höhle.150 Der Text dient dabei vordergründig der Einübung einer abstrakten Arbeitshaltung.151 Nicht was entsteht, sondern allein der Umstand, dass man tätig ist, wird zum zentralen Anliegen der Didaxe. Über den Nachvollzug unablässiger Tätigkeit soll, wie Campe schon im Vorwort bekannt gibt, die Phantasie des Lese-

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Vgl. zum Folgenden auch Jörg Schönert: Wezels und Campes Bearbeitung des »Robinson Crusoe«. Zur literarischen Durchsetzung des bürgerlichen Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. In: Jörg Schönert, Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis, Tübingen 2007, S. 97–112. Wezel: Robinson Krusoe, S. 264. Hettner: Robinson und die Robinsonaden, S. 29. Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere. Zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder [1779], nach dem Erstdruck hg. von Alwin Binder und Heinrich Richartz, Stuttgart 2000, S. 220. Vgl. Hans-Christoph Koller: Erziehung zur Arbeit als Disziplinierung der Phantasie. J. H. Campes »Robinson der Jüngere« im Kontext der philanthropischen Pädagogik. In: Harro Segeberg (Hg.), Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes »Arbeit« in der deutschen Literatur (1770–1930). Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16. bis 18. März 1988, Tübingen 1991, S. 40– 76.

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publikums (der Kinder) diszipliniert und das »leidige Empfindsamkeitsfieber« eingedämmt werden.152 Zum Zwecke dieser Didaxe wird Robinsons Geschichte von einem Hausvater erzählt, ebenso unterhaltend wie belehrend, für eine reiche Kinderschar, an insgesamt 30 Vortragsabenden. Diese Vorschaltung einer intradiegetischen Erzählinstanz ist auch für die ökonomischen Implikationen wichtig. Denn durch sie erlangt der Mythos vom praktischen Selbstversorger eine ordnungspolitische Dimension. Während in der Figur des Robinson vornehmlich die Werte einer individualistischen und, mit Max Weber gelesen, protokapitalistischen protestantischen Ethik vorgeführt und zur Nachahmung empfohlen werden, prüft die Rahmenerzählung immer auch die sozialen Konsequenzen dieses Handelns. Neben den performativen Nachvollzug der Robinson’schen Grundkompetenzen Askese und Arbeit, den der Hausvater seinen Kindern wiederholt abverlangt, tritt das sittliche Urteil. Man betrachte die Ausschlachtung eines fremden Schiffswracks (die Episode ist denen Defoes und Wezels vergleichbar, liegt hier allerdings später, nachdem sich Robinson auf der Insel eingerichtet und mit Freitag einen Weggefährten gewonnen hat). Noch ehe in ausgiebigen Katalogen der Zugewinn an neuen Werkzeugen für die Helden gefeiert wird, schaltet die Rahmenerzählung einen Exkurs zur Eigentumsfrage: »Gotlieb: Ja, durft’ er denn aber etwas von den Sachen nehmen, die nicht sein waren?«153 Woraufhin der Vater nicht nur die Zweckmäßigkeit dieses Handelns erörtert (»Denn nahm er [Robinson] die Sachen nicht heraus, so wurden sie nach und nach ein Raub der Wellen«), sondern auch gleich noch lehrreiche Informationen zum Strandrecht in »gesitteten Ländern« einflicht, inklusive einer Rechtfertigung für Steuerabgaben.154 Auf diese Weise wird in Robinson der Jüngere der Tatendrang des einzelnen Praktikers (Robinson) beständig im sozialen Kontext thematisiert. Die Oberstimme des Hausvaters, des Garanten des alten patriarchalen Hauswirtschaftszusammenhangs, bettet den modernen Produktivitätsmythos ordnungspolitisch ein. Es ist dies eine beinah exemplarische Konstellation für die Modernisierungsphase der Ökonomie in Deutschland. So wenig man hier im Fiktionalen auf den isolierten Tatendrang der Wirtschaftssubjekte allein vertrauen mag, so wenig lassen sich die Ökonomen auf das Allokationsprinzip des Marktes und das Laisser-faire der britischen Aufk lärungslehren ein. Das Scheitern des Projektes Robinsonia im Exzess der Eigennutzenökonomie bei Wezel und das hausväterliche Sozialgerüst, mit dem Campe seinen Robinson umgibt, stellen selbst nur zwei Seiten derselben ordnungspolitischen Medaille dar. Sie bekunden eine Skepsis gegen die Angebote der ökonomischen Liberalisierung. In ebendiesem Kontext ist Wilhelm Roschers Herabstufung des Robinson zu sehen. Er dient ihm zur Veranschaulichung primitiver Wirtschaftszusammenhänge, als

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Campe: Robinson der Jüngere, S. 6. Campe: Robinson der Jüngere, S. 266. Beide Zitate Campe: Robinson der Jüngere, S. 266.

Illustration für historisch überwundene Positionen. Und er dient – hierin Campes Robinson nicht unähnlich – zum Gleichnis sittlicher Erwägungen. So zeigt es das dritte der obigen Textbeispiele. Wenn Roscher dort einen Vergleich zwischen Robinson und dem modernen Bankier zieht, dann nicht, um (wie bei Menger üblich) die ökonomische Handlungslogik zu thematisieren, sondern um eine ethische Frage der Kommunisten aufzunehmen: den Zusammenhang von »Verdienst und Lohn«.155 Der Begriff der ›Rechtmäßigkeit‹ des Mehrwertes tritt vor die Logik der Mehrwerterzeugung. Es zählt die gesellschaftspolitische Pointe: Wer sich ›müht‹, verdient auch mehr (selbst wenn sich die je eigene Mühe zugestandenermaßen auch aus der Mühe und den Kapitalien der ›Vorgänger‹ speist). Robinson wird in dem Gleichnis als Repräsentant eines in sich einfachen Tatendrangs aufgerufen. Vom Haushalten, von einer Aufteilung der Wirtschaftskraft, ist darin nicht die Rede. Der eine arbeitet, der andere schläft auf seiner Bärenhaut, der eine erhält Kapitalien, der andere nicht – so simplifiziert Roscher in seinem Beispiel. Die ethische Behauptung fällt zusammen mit einer Verkleinerung des Bedeutungsraumes der Robinsonade. Von Nutzenkalkülen oder überhaupt von spezifisch ökonomischen Eigenschaften der Produktion handelt Roscher nicht. Robinson bleibt, als zum Stereotyp geronnene Allegorie einer abstrakten blinden Arbeitsamkeit, auf eine ordnungspolitische Begleitstimme angewiesen. Erst indem diese Stimme das in sich unauffällige, gleichförmige Schaffen kontextualisiert, sei es im Rahmen einer historischen Perspektivierung oder wie hier einer gesellschaftspolitischen Erörterung zur Eigentumsverteilung, stellt sie Relevanz her. Ohne den Fokus auf die sozialen Implikationen des wirtschaftlichen Tuns wäre Robinson ein halber Kerl. Das Primat der ethischen Orientierung gilt in der deutschen realistischen Nationalökonomie bis hin zu Gustav Schmoller. »Aber stets muß sich ein Gleichgewichtszustand, eine Ordnung, eine Hierarchie der Werte wiederherstellen«, schreibt er in seinem Spätwerk Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1900/1904): »Und das kann nur geschehen von einem Überblick über das Ganze des Lebens, d.h. alle Werte müssen sich jederzeit im sittlichen Werturteil zusammenfassen.«156 Die Einbettung der ökonomischen Werturteile in die sittlichen fällt bei Schmoller mit dem völligen Verschwinden der Robinsonade zusammen. Nicht von ungefähr. Schließlich war, um es noch einmal zu sagen, die Robinsonade ab 1871 durch Menger, Schmollers Widersacher im Methodenstreit, zum zentralen Formelement einer mikroökonomisch profi lierten Wirtschaftswissenschaft geworden. Der Verzicht auf Robinson bedeutet für Schmoller die Gewährleistung reicher, nichtschematisierter Beschreibungen des Wirklichen. Wo ältere Kulturstufen in den Blick kommen sollen, wird direkt kulturhistorisches Wissen angebracht. Soziale Fragen werden ebenso rechtsphilosophisch und politisch wie statistisch angegangen. Exklusiv ökonomische Erörterungen von Eigennutzenkalkülen und Marktmechanismen gibt es demgegen-

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Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 78, S. 184. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 111.

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über kaum. In seinem Grundriß zeigt sich Schmoller zwar als interessierter Leser der neuesten Grenznutzenliteratur157, doch stehen die Erörterungen stets in der besagten kulturalistischen Klammer. »Die Mehrzahl der Menschen halten das für wert, was eine Autorität, ein gesellschaftlicher Kreis bereits so geschätzt hat, was bisher von der öffentlichen Meinung dafür erklärt wurde«, schreibt Schmoller und nimmt damit einen Gedanken vorweg, der erst in neuester Zeit in der Institutionenökonomie eines D. C. North seine Prägung erfuhr. Im Regelfall tendieren die Leute nicht zu strengen Nutzen-und-Kosten-Kalkulationen. Vielmehr delegieren sie ihre individuelle Wahl an Institutionen, an den zur Handlungsregel geronnenen Durchschnitt bewährter Entscheidungen. Das Vertrauen auf diese Durchschnittsentscheidungen mag, genau gerechnet, durchaus ineffizient sein. Dem gemeinen Wirtschaftssubjekt ist das gleich. Sein Denken bleibt, so lange die institutionellen Kosten nicht ins Grenzenlose steigen, bequem und sozial.158 Nichts anderes als diese Institutionenorientierung meint Schmoller, wenn er sagt: »Und so steckt in jedem subjektiven Werte ein Objektives.«159 Während aber North diesen objektiven Bestand ökonomisch zu durchdringen sucht – eben in Kostenkalkulationen –, entzieht sich das kulturelle Urteil bei Schmoller der Ökonomisierbarkeit. Denn das Objektive ist ein »durch Ideale und Normen Geordnetes«.160 Nicht Begriffe von Effizienz oder Bedarfsdeckung stehen an der Spitze seiner Wertehierarchie, sondern der Gedanke der Gerechtigkeit. Und dieser deckt sich ausdrücklich nicht mit dem Allokationsprinzip: Die entgegengesetze optimistische Auffassung [der Liberalen], welche Ausbeutung durch den freien Marktverkehr leugnet, jeden wirtschaft lichen Machtgebrauch auf dem Markte recht fi ndet, welche die Kategorien der Gerechtigkeit und des Unrechts auf gar keine Wert- und Preisbildung anwenden will, übersieht die elementare psychische Tatsache, daß jede Wertbildung so gut wie jede andere gesellschaft liche Tatsache dem Urteil unterliegt, ob sie den sittlichen Idealen entspreche, heilsam fürs Ganze und alle Teile wirke.161

Die ökonomischen Einzelentscheidungen sehen sich damit nicht nur auf das volkswirtschaftliche, sondern überhaupt auf das soziale Ganze verwiesen. Und dessen Begriffe, die Begriffe des sittlichen Zusammenhangs, entziehen sich, so macht Schmoller deutlich, der Berechnung. Das moralisch Schlechte oder Gute steht in seiner Zweiwertigkeit grundverschieden dem Mehr oder Weniger des Ökonomen gegenüber. Dass es selbst einem utilitaristischen Kalkül unterworfen werden könnte, kommt hier nicht infrage.

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Vgl. dazu das Wert-Kapitel in Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 109–126. North diskutiert die Institutionen unter dem Gesichtspunkt der Transaktionskosten. Vgl. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, S. 8–20. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 110. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 110. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 122.

So bewahrt denn die realistische Nationalökonomie – freilich implizit – eine Seite der Robinson-Erzählung, die in der ökonomischen Rezeption seit Defoe und Campe ansonsten verloren ging. Hier wie dort ist der rein pragmatischen Wirtschaftserzählung eine sittliche Dimension beigefügt; hier wie dort pflegt man eine politökonomische Einstellung, die jedwedes wirtschaftliche Tun ethisch durchdrungen sehen will. Joachim Heinrich Campes Robinson erfährt, noch bevor er sich um die eigene Lebensfürsorge schert, den Horror vacui der Inselexistenz: »Das war nun schon ein schreklicher Gedanke für ihn, daß er so ganz allein in einem fremden Lande leben solte«.162 Es ist dieser bedrohliche Verlust des sozialen Zusammenhangs, der im Folgenden in der sittlichen Vergewisserung kompensiert wird. Der Kalender, den sich Robinson entwirft, dient vornehmlich der Festlegung der Sonntage, der Zeit zum Beten.163 Von den ökonomischen Möglichkeiten der Arbeitsstrukturierung ist erst später beim Anlegen der Sonnenuhr die Rede.164 Aber auch dort läuft ein jeder Tag auf die religiöse Selbstüberprüfung hinaus, die nur absolute Werte kennt: Warst du Gott dankbar für die Gaben? Hast du die bösen Begierden unterdrückt? – Ja oder nein, ganz oder gar nicht. In Fragen der sittlichen Orientierung marktet dieser Robinson nicht. Sie erst erhebt ihn über das praktische Kalkül und die Mühen der Arbeit. Es ist dieser duldende, büßende, von sittlich-religiösem Selbstzweifel getragene Robinson, den die liberalistische ökonomische Rezeption vergessen hat. Die realistische Nationalökonomie bewahrt diese Dimension, aber sie ist nicht angetreten, sie im Zeichen des literarischen Robinson zu reklamieren. Wer im 19. Jahrhundert eine ethische Ökonomie auf seine Fahnen schreibt, kommt sehr gut ohne den Inselhelden aus. Sittlichkeit wird dann nicht an fi ktiven Selbsterfahrungen von Isolierten verhandelt, sondern an realen Wirklichkeitsräumen und ihren sozialen Fragen. 4.2.3. Robinson und seine Brüder in der realistischen Erzählliteratur Die realistische Nationalökonomie verzichtet also auf den Robinson-Mythos, insofern er in der Rezeptionsgeschichte zum Stereotyp produktiver Eigennutzenwirtschaft geronnen ist. Für die Untersuchung institutioneller Handlungszusammenhänge liefert das isolierte Individuum mit seinen Präferenzen ohnehin keine Anhaltspunkte. Hier, so der realistische Imperativ, braucht es konkrete Kulturbeschreibungen, Statistiken und Historiographie. Eine ökonomische Experimentallogik, die sich mit dem Tatmenschen Robinson verknüpft, ist dem Realismus fremd. Was für den ökonomischen Diskurs gilt, das lässt sich in gleicher Weise in der belletristischen Prosaliteratur des Realismus beobachten. Zwar wird Robinson hier als Bestandteil der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur gelegentlich anzitiert (vor allem bei Wilhelm Raabe). Auf eigene Insel-Erzählungen aber lassen sich

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Campe: Robinson der Jüngere, S. 49f. Campe: Robinson der Jüngere, S. 67–69. Campe: Robinson der Jüngere, S. 181f.

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die führenden Literaten der Epoche nicht ein. Ihr Interesse gilt, selbst noch im per definitionem subjektzentrierten Bildungsroman, den sozialen Interaktionen. Es geht um die Frage, inwieweit Nachbarschaften und Bürgermilieus tragfähige Handlungsorientierungen bereitstellen, nicht um ein Pathos des Selbsttuns. Man verfolgt entsprechend das Leben in der Sperlingsgasse oder im Vogelsang, nicht etwaige Wahlentscheidungen in Robinsonia. Wenn in dieser Literatur auf Robinson angespielt wird, dann bezeichnenderweise gerade auf diejenigen Bestandteile, die für den ökonomischen Mythos vergleichsweise irrelevant sind. Die Dimension des Abenteuers und mit ihm der Hauch von Überseeromantik sind es, für die der literarische Prototyp hier herhält. Exemplarisch dafür ist Wilhelm Raabes späte Gründerzeiterzählung Prinzessin Fisch (1882), die wohl am umfangreichsten mit Robinson-Motiven aufgeladen ist und sich dabei wie eine Zurückweisung der konventionellen ökonomischen Robinson-Versprechen liest. Nach dem Tod der Mutter wächst der spät geborene Theodor, genannt Rodburg der Jüngste (›Robinson der Jüngere‹ klingt hier an), isoliert und verwahrlost bei seinem grimmigen, eigenbrödlerischen Vater, dem Rechtsanwalt Dr. juris F. Rodburg, auf. Seine älteren Geschwister sind bereits aus dem Haus, leben verheiratet in solider bürgerlicher Stellung. Einzig der zweitälteste Bruder Alexander hat Reißaus in die weite Welt genommen. An ihn, den Theodor nie kennen lernte, heften sich die Phantasien des Nachzüglers. Es sind Fernwehphantasien – gespeist aus »Robinson-CrusoeGeschichten, Eroberung-von-Mexiko-Historien –, welche die Natur eigens für den Zweck erfunden zu haben scheint, den Menschen so früh als möglich aus dem Neste ins Weite zu locken«.165 Als sein Vater bereits im zweiten Kapitel der Erzählung stirbt, vertieft sich Theodor in den Gedanken, auf eine eigene, einsame RobinsonInsel zu fliehen. Doch die kleinstädtische Realität holt den Knaben in Gestalt der guten Nachbarseele, des Buchbindergesellen Bruseberger, wieder ein. Bruseberger, der hier die Rolle des altmodischen, humorvoll tiefsinnigen, typisch Raabe’schen Kauzes übernimmt, wird zum Ersatzvater Theodors. Gemeinsam mit der Witwe Schubach, zu der die Geschwister Theodor in Fürsorge geben, besorgt er die Erziehung des Waisenknaben. Die Einzelgängerphantasie hat sich damit ebenso wie die tatsächliche Isolation des Knaben bereits in der Exposition (bis zum 4. Kapitel des Buches) erledigt. Von nun an begleiten die Stimmen der Pflegefamilie den Heranwachsenden. Mit der Anspielung auf Robinson Crusoe wird demnach lediglich ein zu überwindender Zustand markiert. Robinson besitzt für den Protagonisten den Glanz des Jugendbuchhelden, der für Verwegenheit und Exotik166 bürgt (Raabe erweist sich nicht zuletzt im

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Wilhelm Raabe: Prinzessin Fisch. Eine Erzählung [1882]. In: BA, Bd. 15, Göttingen 1964, S. 191–386, hier: S. 209. Etwas von dieser Exotik wird Theodor später in seiner Schwärmerei für Romana, die mexikanische Frau des Nachbarn Tieffenbacher, wieder erleben dürfen.

Verweis auf die Eroberung von Mexiko als Campe-Leser167). Aber seine eigentliche Handlungslogik, die Logik einer individualistischen Ausbildung im Sittlichen wie Praktischen, bleibt unter Verschluss. Die Jahre der Vereinsamung, die Theodor im väterlichen Garten durchlebt, sind hier nicht darstellenswert. Wenn bei Raabe stattdessen die (pflege-)elterliche Vormundschaft in den Vordergrund rückt, so mag das von weitem noch an Campe erinnern (man denke an die Rahmenhandlung von Robinson der Jüngere). Doch das optimistische Pathos der Verbürgerlichung im Zeichen ökonomischer Betriebsamkeit, das sich mit Campes Robinson verbindet, ist Raabes Text abhanden gekommen. Während der Jugendjahre Theodors verwandelt sich sein beschauliches Thüringer Heimatstädtchen Ilmenthal in einen internationalen Luftkurort – was dem Erzähler regelmäßig Anlass zur Klage gibt: »Ach, der Hauch aus den Wäldern war leider nur zu gesund, die Lage des Städtchens zu zauberhaft verlockend für das spekulative Bedürfnis einheimischer Grundbesitzer, zugereister und einheimischer Kapitalisten und Streber.«168 Modernisierungsbestrebungen werden hier eher kritisch beäugt. Während Robinson (von Defoe bis Campe) seine Zivilisation noch recht wohlgemut ins grüne Idyll hineinbilden durfte, rechnet Raabe am Ende des Jahrhunderts der Industrialisierung ihre Verluste auf.169 Tatsächlich wird im Zusammenhang dieser Gründerkritik die Robinsonade noch einmal implizit aufgenommen. Denn der verloren geglaubte Bruder Alexander kehrt, nach Jahren in Lateinamerika, zurück. Mit ›Mr. Alexander Redburg‹ brechen Robinson’sche Weltläufigkeit und ökonomischer Aktionismus in Ilmenthal ein (und konsequenterweise träumt Theodor nach seines Bruders Eintreffen wieder wie in seinen »Robinson-Sehnsuchtstagen«170). Aber ein geläuterter und für das Gemeinwohl zuträglicher Robinson tritt hier nicht auf. Alexander umgarnt die städtischen Honoratioren, spannt sie in Gründerprojekte ein und setzt sich dann, nach einer anscheinend betrügerischen Insolvenz, mit etwas Diebesgut wieder ins Ausland ab. Als räuberisches Sahnehäubchen nimmt er Romana, die mexikanische Frau des Nachbarn Tieffenbacher, mit fort. Ökonomische Korruption und private Lasterhaftigkeit gehen Hand in Hand (man kennt diese Motivverschränkung aus Die Leute aus dem Walde oder Der Hungerpastor171). »Was kümmert mich die eingeborene Unerheblichkeit rundum?«, äußert Alexander einmal gegenüber seiner Geliebten und legt damit eine eigentümliche Umkehrung der Robinson-Perspektive offen.172 Dem Modernisierer erscheinen die Il-

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Vgl. zu Raabes Campe-Rezeption Johannes Graf: »Der in doppelter Hinsicht verschlagene Reisende«. Joachim Heinrich Campe in Raabes Werk. In: JbRG, 1998, S. 99–114. Raabe: Prinzessin Fisch, S. 194. Eine weiter reichende Industrialisierungskritik legt Raabe in Pfisters Mühle (1884) vor. Vgl. dazu den einschlägigen Aufsatz von Heinrich Detering: Ökologische Krise und ästhetische Innovation im Werk Wilhelm Raabes. In: JbRG, 1992, S. 1–27. Raabe: Prinzessin Fisch, S. 262. Siehe die Abschnitte 3.2.4.4. und 4.1. dieser Arbeit. Raabe: Prinzessin Fisch, S. 338.

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menthaler als Eingeborene, das Städtchen selbst als rückständige Einöde, die es zu kapitalisieren gilt.173 Aber die Kapitalisierung kommt nur als Zerstörung von lokaler Spezifi k (ein Städtchen wird ›international‹) und altehrwürdigem Privatbesitz in den Blick. Häuser werden verkauft, Honoratioren ereilt der Ruin. Angesichts dieses Verlaufs liegen die Sympathien der Erzählung denn nicht bei dem ökonomischen Tatmenschen, sondern bei den friedfertigen und kauzigen ›Eingeborenen‹. In den regelmäßigen Warnungen Brusebergers vor dem Charakter Alexanders schlägt sich das Urteil der Erzählung nieder. Ihrem Helden Theodor obliegt es, sich von den Lockungen des Neumodischen und Fremden, dem geckenhaft aristokratischen Auftritt seines Bruders und der exotischen Erotik Romanas, frei zu machen. In dieser Weise wird die Geschichte von der ›Prinzessin Fisch‹, die »Geschichte von der Erziehung des Menschen durch die Phantasie«174, zu einem Abwehrnarrativ. Bei Campe funktionierte die Erziehung der Phantasie noch in tätiger Nachahmung eines unablässig wirtschaftenden Helden. Aktivität wird zum Wert an sich. Bei Raabe ist Robinson bereits zum Schreckensbild einer sich globalisierenden, skrupellosen Ökonomie geworden. In Alexander Rodburg verknappt sich so der komplexe Robinson-Mythos auf die Komponenten Abenteuer, Fremde und Entfremdung (von Familie und Städtchen). Die ökonomische Dimension kehrt allenfalls in der Form der Anspielung wieder – eben auf eine diff use, potenziell betrügerische neue Immoblienwirtschaft , die Landschaften und ihre Traditionen umkrempelt. Vom konkreten Handeln, von detaillierten Kalkülen und Strategien des Wirtschaftsakteurs erfährt man nichts. Einzig sein repräsentativer Außenauftritt, der Abglanz der großen Welt, wird dem Erzähler an Rodburg berichtenswert. Letztlich rückt dieser Robinson-Wiedergänger damit in die Reihe anderer Ausreißer und Rückkehrer der realistischen Erzählprosa, die allesamt dazu angetan sind, einen Nimbus von kosmopolitischer Heimatlosigkeit sowie ökonomisches Drohpotenzial einzubringen. Louis Wohlwend im Martin Salander von Keller ist ein vergleichbarer Bankrotteur, der seine Scheingeschäfte über Brasilien abwickelt und sich später nach diversen Liquiditätsproblemen in Ungarn verheiratet und wirtschaftlich neu aufstellt (dass sich in Kellers Roman auch die Titelfigur Martin Salander selbst zwei Mal in Brasilien saniert – wovon man allerdings standardgemäß lediglich einen indirekten Bericht erhält –, gehört zu den großen Ausnahmen im Kanon dieser Literatur175). In der Figur des Agonista (Zum wilden Mann) schildert Raabe den Heimkehrer und seinen Einbruch in eine kleinstädtische Mikroökonomie mit mythischen Überhöhungen.176 Einen moralisch geläuterten, wirtschaftlich progressiven Heimkehrer à la Robinson findet man nicht. Im besten Falle bleiben die

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Siehe dazu auch Dirk Göttsche: »Pionier im alten abgebrauchten Europa«. Modernization and Colonialism in Raabe’s »Prinzessin Fisch«. In: Dirk Göttsche/Florian Krobb (Hg.), Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspecitves, London 2009, S. 38–51. Raabe: Prinzessin Fisch, S. 348. Vgl. zu Martin Salander Abschnitt 5.2.4. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 3.2.4.4. dieser Arbeit.

erfolgreich Gewordenen in Übersee hängen wie Charles Trotzendorff in Raabes Die Akten des Vogelsangs. Fast schon parabolisch sinnfällig hat Theodor Storm die Problemlage, die diesen Figurentypus generiert, in Hans und Heinz Kirch (1882) vorgeführt. Da stattet der Schiffsunternehmer Hans Kirch seinen Sohn zwar selbst mit reichlichen Ambitionen aus (anders als etwa Robinsons Vater bei Defoe, der seinen Sohn, wie bereits zitiert, auf Biederkeit verpflichtet: »the middle Station had the fewest Disasters«177). Doch richten sich diese auf einen festen Platz im sozialen Gefüge seines Ostseestädtchens: Einen Sitz im »Magistratskollegium« soll Heinz Kirch als Erbe seines Vaters zu dessen Ruhme erringen.178 Doch Heinz Kirch flieht die diesem Anliegen entsprechende, strenge und mitunter ungerechte Erziehung. Mehrere Jahre verdingt er sich auf Sklavenschiffen (Robinson lässt grüßen!).179 Dann kehrt er heim, wie alle Vertreter dieses Typus, komplett integrationsunfähig. Und mehr noch: Storm geht so weit, auch die Identität des Sohnes infrage zu stellen. Ob der Heimkehrer wirklich Heinz Kirch ist oder doch ein Doppelgänger, darum kreist das Rätsel der Novelle. Es bedeutet eine Zuspitzung der besagten Problemlage. Mit dem Verlust der metonymisch nachzuvollziehenden sozialen Rolle (der Lebensgeschichte am Ort) verliert die Person ihre Bestimmtheit. Sie wird ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter Fremdkörper oder aber auch, je nach Betrachtungsweise, zu einem Körper, der potenziell allem und jedem ähneln kann. Anders ausgedrückt: Der Verlust an metonymischer Einbettung führt zu einem potenziell unheimlichen Gewinn an Similiarität. Allen genannten Figuren, die mehr oder weniger stark Robinson anklingen lassen, ist gemein, dass sie nicht zum fokalen Träger der Erzählung werden. Sie sind und bleiben Fremde, die sich an den sittlichen Vorgaben der Gemeinschaft, in die sie eindringen, reiben. Dass abseits der Heimat keine individuelle Versittlichung stattfinden kann – wie es der Robinson-Mythos nahe legt –, steht in der realistischen Erzählprosa außer Frage. Folgerichtig trifft man nirgends auf Hauptfiguren, die nach Maßgaben des Robinson Crusoe gearbeitet sind und deren praktische Vernunft man dementsprechend nachvollziehen könnte. Ohne sittliche Grundierung, die hier letztlich nur in stabilen Sozialverbänden zu erwerben ist, bleibt eine ökonomische Aktivität auch ästhetisch blass und ist folglich der umfassenden Darstellung nicht wert. 4.2.4. Rudimente des Grenznutzenkalküls bei Theodor Fontane Robinson spielt also als wirtschaftender Handlungsträger in der Erzählliteratur des Realismus keine Rolle. Und damit umgeht sie das grundlegende literarische Muster, aus dem heraus sich die Poetik des ökonomischen Kalküls formiert. Die Logik der

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Defoe: Robinson Crusoe, S. 58. Vgl. Abschnitt 4.2.1. dieser Arbeit. Theodor Storm: Hans und Heinz Kirch [1882]. In: SSW, Bd. 3 (Novellen 1881–1888, hg. von Karl Ernst Laage), Frankfurt a.M. 1998, S. 58–130, hier: S. 61. Vgl. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 103–105.

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Relativierung und Ökonomisierung von Werten, wie sie mit Carl Menger ab 1871 im Zeichen Robinsons in die deutsche Wirtschaftsliteratur drängt, findet im realistischen Text keine hörbare Resonanz. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und diese Ausnahmen sind am ehesten im Werk Theodor Fontanes auszumachen, der nicht von ungefähr den Schlusspunkt dieser literarischen Epoche markiert. Hier deutet sich tatsächlich, wenn auch punktuell, das aufkommende Denken in Grenzbegriffen an. An zentraler Stelle in Effi Briest (1895) reflektiert Baron von Innstetten sein Duell mit Major von Crampas: Schuld, wenn sie überhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten was Prosaisches.180

Alttestamentarisch beginnt dieser Rückblick auf das für den Rivalen Crampas tödliche Duell: ›Schuld verlangt Sühne.‹ Eine Tat wie der Ehebruch, die in sich vollständig qualifiziert ist (eben als Straftat), verlangt Sanktionen. So will es der Adelskodex, das ›Aug um Aug und Zahn um Zahn‹, das keine Verhandlungen kennt. Dann aber besinnt sich Innstetten und wagt gewissermaßen den Schritt in die moderne, ›prosaische‹ Denkart: Es muß eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so war [sic!] ich siebzig. Dann hätte Wüllersdorf gesagt: »Innstetten, seien Sie kein Narr.« […] Treibt man etwas auf die Spitze, so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehneinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten?181

Es ist das Skandalon der Epoche, das Innstetten, der Vertreter von »Amtsnormen« und Prinzipien182, hier am eigenen Leib zu spüren bekommt: Vormals stabile Werte werden relativ. Qualitäten von Handlungen lassen sich nicht mehr unabhängig von einer Bemessung, in diesem Falle in Zeitspannen, denken. Das ›Aug um Aug‹ des archaischen Duells kannte weder ›Ort‹ noch ›Zeit‹. Es kannte nur die absolute Übertretung und ihre Bestrafung. Nunmehr muss man Rechnungen anstellen um einzuschätzen, wie viel Wert Sanktionen überhaupt besitzen und wie schwer vice versa ein Vergehen wiegt.

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Theodor Fontane: Effi Briest [1895]. In: Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. VII, hg. von Edgar Gross, München 1959, S. 169–427, hier: S. 380. Fontane: Effi Briest, S. 380. Innstettens Problem wird gern als Konflikt zwischen standesgemäßer Pflicht und individueller Neigung erörtert (vgl. Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 147–152). An dieser Stelle aber zeigt sich ein immanenter Bruch in seiner Normativität durch die Verschiebung der Wertlogik.

Von einer Ökonomisierung der Werte ist an dieser Stelle bei Fontane keine Rede. Und doch weist Innstettens innere Rede mit ihren Grenzbegriffen in diese Richtung. Für Innstetten gilt es, den betriebenen Aufwand (Duellmord) in Relation zum Anlass (Ehebruch) zu setzen, um einen erhofften Gewinn (Prestige, Ehre) zu fi xieren. Wobei der Output vollständig von der richtigen Kalkulation der Aufwand-AnlassRelation abhängt: Wer zu spät zuschlägt, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. Alles braucht das rechte Maß. Die normativen Eigenschaften individueller Handlungen lösen sich in den Abwägungen der prosaischen Vernunft auf. Das bedeutet aber auch, dass sich jener Bereich der Sittlichkeit, den realistische Positionen als stabile und intakte Sphäre gewissermaßen apodiktisch den dynamischen Wirklichkeitsräumen (z.B. dem Wirken des Marktes) gegenüberstellen, öffnet. Der sittliche Begriff nähert sich an dieser Stelle der ökonomischen Logik der universellen Vergleichbarkeit und Quantifizierbarkeit an und verliert dadurch seine absolute Geltung. Prinzipienfestigkeit, Achtung und Integrität werden Gegenstand einer Haushaltung. Aus der Bastion der Selbstgewissheit drängt es Innstetten hinaus ins offene (weite) Feld kleinteiliger Verhandlungen zum Zwecke der Eigennutzenoptimierung. Fontanes Erzählungen bringen diese Erneuerung des Selbstverständnisses – eine Wendung des Subjektbegriffs nach Maßgaben des Homo oeconomicus – zur Darstellung, ohne sich dessen Logik dabei selbst zu Eigen zu machen. Figuren mögen in den Strom des Wertrelativismus geraten.183 Die Erzählinstanz tut es nicht; sie zielt auf Orientierung oberhalb der diegetischen Irrungen und Wirrungen, formuliert ein Begehren nach einem unverhandelbaren Kern gelebter Erfahrung. Man denke an den Gründerzeitroman Frau Jenny Treibel (1892). Da tut sich die kalkulatorische Vernunft zuhauf kund, etwa durch die Figur des Industrieunternehmers und Kommerzienrats Treibel (gegenüber der Majorin von Ziegenhals): Sie wissen, unsereins rechnet und rechnet und kommt aus der Regula-de-tri gar nicht mehr heraus, aus dem alten Ansatze: »Wenn das und das so viel bringt, wieviel bringt das und das.« Und sehen Sie, Freundin und Gönnerin, nach demselben Ansatz hab ich mir auch den Fortschritt und den Konservatismus berechnet und bin dahinter gekommen, daß mir der Konservatismus, ich will nicht sagen mehr abwirft, das wäre vielleicht falsch, aber besser zu mir paßt, mir [sic!] besser kleidet.184

Politische Prinzipienfestigkeit verschwindet, wo das Denken des Ökonomen waltet. Nicht anders steht es im häuslichen Bereich mit den partnerschaft lichen Werten (Liebe, Ehe). Im Hauptkonflikt um die Assimilationsbestrebungen der Lehrertochter Corinna Schmidt wird der neumodische »Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt beherrscht«185, offensiv gegen die Neigungen des Herzens und en passant auch gegen

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»Der Markt formt die Gesinnung«, heißt es zu Recht über diese Figurenkonzeptionen bei Worthmann: Probleme des Zeitromans, S. 154. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel [1892]. In: Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. VII, hg. von Edgar Gross, München 1959, S. 5–167, hier: S. 29. Fontane: Frau Jenny Treibel, S. 49.

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die kulturbürgerliche Option, eine Ehe mit dem Archäologiestudenten Marcel einzugehen, ausgespielt. Für die Kalkulationen bringt der Roman im Einzelnen zwar weniger Interesse auf als im Falle des Barons von Innstetten. Dafür setzt er den äußeren Wohlstand umso stärker als Bezugsgröße fest, ablesbar auch an den üppigen Wareninventuren, die sich Fontane für die Schilderung des großbürgerlichen Milieus gönnt. Von dieser Welt des Wohlstands aber muss nicht nur Corinna Abschied nehmen, wenn sie von Jenny Treibel als nicht standesgemäße Schwiegertochter letztlich abgewiesen wird. Auch der Roman verabschiedet sich, ja er sucht aktiv einen Ausweg: über das naive Liebeslied, das Lehrer Schmidt in Jugendtagen für Jenny Treibel alias Jenny Bürstenbinder dichtete (Jenny hat seither durch ihre Ehe mit dem Fabrikanten Treibel jenen sozialen Aufstieg vollzogen, den sie Corinna vorenthalten will). »Ach, nur das, nur das ist Leben, /Wo sich Herz zum Herzen find’t.«186 Der Schlussvers, der Schillers Lied von der Glocke aufnimmt, rückt nicht von ungefähr in den Untertitel des Romans. Hier liegt das Desiderat, das der typische realistische Erzähler gegen den prosaischen Zeitstoff zu behaupten sucht. Ein Ideal, ein inneres sittliches Band, wird beschworen, das zum kritischen Maßstab gegen die Dynamiken des Wirklichen gerät. Mehrfach wird das Liedchen, das vom seligen Vertrauen in bedürfnislose Zweisamkeit kündet (»Was soll Gold? Ich liebe Rosen«187) und an die einstmalige Zurückweisung Schmidts durch Jenny erinnert, anzitiert. Wenn Jenny Treibel es auf ihrem Fest aus alter Gewohnheit, doch in offensichtlich inadäquater Rolle zum Vortrag bringt, fällt mit dem Liedchen mindestens die Vortragende, zu einem guten Teil aber auch die gesamte saturierte Großbürgergesellschaft der Lächerlichkeit anheim. Folgerichtig nutzt der Roman das Lied für sein Resümee. Am Abend der Hochzeit von Corinna und Marcel bringt es der Tenor Adola Krola letztmalig zu Gehör, in trunkener schwermütiger Stimmung, nachdem das Gros der Gäste inklusive der Treibels bereits heimgegangen ist. Und plötzlich strahlt es in bis dato unvermuteter Würde: »Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß nicht genau was, aber das ist es eben – es ist ein wirkliches Lied. Alle echte Lyrik hat was Geheimnisvolles«188, konstatiert ein sichtlich gerührter Schmidt und spielt damit gleichsam auf das Arkanum des poetisch realistischen Erzählprojekts an: Es braucht die Poesie der sittlichen Antithese gegen die Lockungen der profanen Wohlfahrt. »Für mich persönlich steht es fest«, fügt Schmidt an, »Natur ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn. Professor auch. Wer es bestreitet, ist ein pecus«.189 Von einer solchen, wie auch immer ›realistischen‹, sprich realisierbaren Alternative gegen den Lebensentwurf des Geldbürgertums verabschiedet sich erst die Literatur der folgenden Jahre. Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900) etwa wendet

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Fontane: Frau Jenny Treibel, S. 166. Fontane: Frau Jenny Treibel, S. 166. Fontane: Frau Jenny Treibel, S. 166. Fontane: Frau Jenny Treibel, S. 167.

die Milieukritik aus Frau Jenny Treibel in eine ätzende und gänzlich unversöhnliche Satire, die noch die Erzählinstanz (vermittelt über das intradiegetische Alter Ego Köpf190) in die Logik des omnipotenten Prestige- und Geldhandels im Kreis der Bankiersfamilie Türckheimer einbezieht. Ein sentimentaler Zug, eine vielleicht auch nur phatische Hinwendung an einen Orientierungspunkt oberhalb der ökonomischen Verwicklungen wie bei Fontane fehlt hier völlig. Darin liegt ein Epochenschritt. Denn die Literatur des Poetischen Realismus hängt von eben jenem Bezugspunkt ab. Ohne das Hinaufschauen zur beständig lächelnden »Sonne Homers«, ohne eine mal optimistische, mal humorvolle, mal resignative Hinwendung ans höhere Ideal, lässt sich hier weder von ökonomischen noch von sonstigen Dingen sprechen.191

4.3.

Karl Marx und Friedrich Engels – Der sozialistische Gegenentwurf

Mit der Marx’schen Robinsonade ist im vorherigen Kapitel bereits die zweite paradigmatische Gegenposition zum realistischen Weg der Historischen Schule der Nationalökonomie angeklungen. Obgleich für die gegenwärtige Ökonomiegeschichte weniger einflussreich als die Impulse der österreichischen Grenznutzenschule, besitzt sie heute noch die ungleich größere ideengeschichtliche Strahlkraft. Als »massives Kompendium des Zornwissens«, ohne »das die Dramen des 20. Jahrhunderts nicht

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Der Literat Köpf bittet am Romanende den Redakteur Zumsee um Veröffentlichung seines Manuskriptes, das offensichtlich den Inhalt des Romans Im Schlaraffenland zum Gegenstand hat. Zumsee weist Köpf zurück, erklärtermaßen mit der Begründung, dass »das Ganze, wenn ich ein Gleichnis gebrauchen darf, aus der Luft gegriffen« ist, insgeheim aber mit dem »Vergnügen, die Menschen zu durchschauen« (S. 406). Denn Köpf begibt sich in seinem Bittgang selbst in das Geflecht aus Klüngel und Seilschaften, das er von außen darzustellen beabsichtigt. So baut sich Manns Roman eine Selbstbezüglichkeit, die dem Kreter Lügner-Paradox gleicht: Er führt unablässig vor, dass alle Bewertungen in diesem Buch, dass jegliche Kunst- und Zeichenproduktionen im Kontext Türckheimers als relativ und uneigentlich zu gelten haben, nimmt sich aber selbst in diese Aussage mit hinein. Auch die Repräsentationsinstanz (Köpf/der Erzähler) kann in diesem Sinne kein Wissen oberhalb des ironisierten intradiegetischen Verkehrs beanspruchen. Vgl. Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten [1900], (Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden, hg. von Peter-Paul Schneider), 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2006, S. 406f. »Und die Sonne Homers, siehe!, sie lächelt auch uns«. Schillers Schlussvers aus Der Spaziergang (1795) ist aufgenommen in Theodor Storm: Psyche [1875]. In: SSW, Bd.  2 (Novellen 1867–1880, hg. von Karl Ernst Laage), Frankfurt a.M. 1998, S.  312–345, hier: S. 345. In einer ironischen Schlusswendung taucht er bei Raabe auf. Vgl. Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. In: BA, Bd.  16, Göttingen 1961, S.  5–178, hier: S.  178. Spielhagen bemüht die Sentenz erwartungsgemäß zum krönenden Abschluss seines Homer-Essays: Friedrich Spielhagen: Homer. In: Friedrich Spielhagen, Vermischte Schriften, Bd. 2, Berlin 1868, S. 1–45, hier: S. 45.

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angemessen beschreibbar sind« (Peter Sloterdijk)192, nimmt sich das Marx’sche Werk bereits in seiner rhetorischen Gestalt singulär in der Wissenschaftslandschaft des 19.  Jahrhunderts aus. Auch in inhaltlichen Fragen der Kapitalismusanalyse wusste das Werk seinen aufk lärerischen, kritischen Nimbus zu wahren.193 Nach wie vor wird ökonomische Theorie des 19.  Jahrhunderts, insbesondere von Nichtökonomen, mit den Namen Marx und Engels assoziiert. Dieser Stellenwert verdankt sich nicht zuletzt der Breite ihres Entwurfs. Wie schon Nikolai Bucharin herausstellte, verbinden sich in der Marx’schen Theorie die beiden hinlänglich charakterisierten konträren ökonomischen Verfahrensweisen des 19. Jahrhunderts: die abstrakte Systematik (die von Smith über Ricardo bis in die neoklassische Moderne reicht) und die historischstatistische Beschreibung (die von der Historischen Schule der Nationalökonomie in die qualitative Sozialforschung des 20. Jahrhunderts hinüberführt).194 Inwiefern diese weite kulturalistische Perspektive ein Konkurrenzprogramm zu den Entwürfen der realistischen Ökonomen bedeutet und wie das Marx-Engels’sche Projekt in der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie rezipiert wurde, soll in diesem Kapitel Gegenstand werden. 4.3.1.

Leben aussaugen – Die Marx’sche Arbeitswerttheorie und der Angelpunkt der historischen Erzählung

Marx argumentiert also ebenso kulturhistorisch breit wie ökonomisch exakt. Und er verzahnt beide Bereiche dabei wesentlich enger als etwa Roscher. Während realistische Ökonomen der Historischen Schule sittliche und technologisch-ökonomische Faktoren, Gesetzgebung und Marktverhalten, letztlich in zwei getrennten Reihen ansprechen, zielt Marx auf eine konsequente ökonomische Fundierung seiner Kulturund Geschichtsschreibung. Man erinnere sich: Angriffspunkt der Marx’schen Kritik ist ein ›vulgärer‹ Begriff von ökonomischem Reichtum, der sich am Umfang der Güterproduktion ausrichtet: Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«, die einzelne Ware als seine Elementarform.195

Die hierin angesprochene Orientierung an Warenmengen gilt als historisch jüngere Tendenz. Sie entspricht Gesellschaften, in denen die ›kapitalistische Produktions-

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Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch [2006], Frankfurt a.M. 2008, S. 106. Vgl. als neuere Publikation mit feuilletonistischer Strahlkraft Terry Eagleton: Warum Marx recht hat [engl. 2011], übers. von Hainer Kober, Berlin 2012. Nikolai Bucharin: Die Politische Ökonomie des Rentners. Die Wert- und Profittheorie der österreichischen Schule [1913/1914], 2. Aufl., Wien, Berlin 1926, ausführlich: S. 13–31 und S. 34–58. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 49.

weise‹ vorherrscht. Erst diese erheben den Warenausstoß zum Gradmesser des Wohlstands der Nationen. Mit dem Stichwort ›erscheinen‹ wird dabei bereits die kritische Stoßrichtung impliziert. Denn wer von der Erscheinung spricht, der hält ihren Grund, ihren eigentlichen, wesentlichen Gehalt, noch für verborgen. Tatsächlich legt Marx mit diesem Einstieg ins Kapital (1867) eine Enthüllungsgeschichte an.196 Es ist die Geschichte des Zustandekommens jener ›ungeheuren‹ Warensammlung des Kapitalismus. Erzählt wird sie im Geiste der Arbeitswerttheorie. Auch bei Marx zeigt sich die Ware in der doppelten Perspektive von Gebrauchs- und Tauschwert. Der Gebrauchswert benennt die qualitativen Eigenschaften eines Dings, die es für seinen Verbraucher nützlich machen. Er stellt eine notwendige Bedingung für den Tauschwert dar. Aber nicht jedes nützliche Ding ist zugleich eine Ware. Zu einer solchen wird es erst im Tauschzusammenhang, in dem es mit anderen Produkten äquivalent gesetzt wird. Der Tauschwert der Ware drückt sich quantitativ aus (wie viel kriege ich für x?), während der Gebrauchswert nach den Sacheigenschaften fragt: Was kann ich damit tun? Der Clou der Marx’schen Warentheorie liegt nun darin, dass er diesen Doppelcharakter der Ware aus dem Doppelcharakter der jeweils zugrunde liegenden Arbeit heraus erklärt. In konkreter menschlicher Tätigkeit (›work‹) werden Gebrauchswerte für die Bedürfnisbefriedigung produziert (sei es, dass sie für den unmittelbaren Konsum oder als Zwischenprodukt zur weiteren Verwendung dienen). Der Tauschwert, oft auch nur kurz ›Wert‹ genannt, entstammt hingegen allgemein abstrakter Arbeit (›labour‹).197 Er erscheint »selbst erst wahrhaft als Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit«.198 Wodurch aber wird Arbeit unterschiedslos? Wie lässt sich von konkreten Fähigkeiten, die zur Herstellung spezifischer Qualitäten notwendig sind, abstrahieren? Die Antwort lautet: durch die quantifizierende Erfassung in einem objektiven Zeitmaß. »Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.«199 Diese abstrakte Arbeitszeit meint nicht mehr den konkreten und selbstredend von Werktätigem zu Werktätigem verschiedenen Zeitaufwand, sondern einen überindividuellen Durchschnittswert: Die Wertgröße ist bestimmt durch »das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit«.200

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Die Erkenntnis, dass es sich beim Kapital um eine Enthüllungsgeschichte handelt, ist bereits abendfüllend geworden in der neodokumentarischen Inszenierung des Theaterkollektivs Rimini Protokoll Das Kapital. Erster Band (Urauff ührung am Düsseldorfer Schauspielhaus am 4. November 2006). Als ›Experte des Alltags‹ betrat dort u.a. der renommierte Marx-Forscher Thomas Kuczynski die Bühne. Um diese Differenz von ›work‹ und ›labour‹ kreist Heinzelmans eingehende Analyse des Imaginativen der arbeitswerttheoretischen Ökonomie bei Marx. Vgl. Heinzelman: Economics of the Imagination, S. 138–141 u. S. 173–188. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 77. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 54. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 54.

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›Gesellschaftlich notwendig‹ – in dieser Präzisierung findet sich der Angelpunkt für die historische Perspektive der Marx’schen Warenanalyse. Denn was ›gesellschaftlich notwendig‹ ist, legt der jeweilige Entwicklungsstand der Produktivkräfte fest. Und dieser hängt von diversen Umständen ab: vom Stand des wissenschaftlichtechnologischen Fortschritts, von der Ressourcenlage, von der durchschnittlichen Qualifi kation der Arbeiter, vom Grad der Arbeitsteilung. Das Aufkommen der für den Tauschwert relevanten qualitätslosen ›Arbeit‹ (›labour‹) ist dabei selbst Ergebnis einer in hohem Maße ausgebildeten Arbeitsteilung. Erst in der Zergliederung wird Arbeit ihrem Produkt so weit ›entfremdet‹, dass sie sich zur reinen Energieleistung entsinnlicht, zur gestaltlosen »Verausgabung menschlicher Arbeitskraft«.201 Die Geschichte der Umformung von Arbeit macht also den inhaltlichen Kern der Marx’schen Enthüllungsstory aus. Aus den geschichtlichen Stufen leiten sich entsprechend die ›Erscheinungen‹ des Wertes ab. So erhält im Stadium fortgeschrittenster Arbeitsteilung auch der Warenwert eine neue Form. Der Vergleich beliebiger konkreter Güter (einfache Wertform) wird abgelöst durch eine neue Einheitlichkeit des Tauschs: die Äquivalentsetzung aller Güter mit einem einzigen Gut (allgemeine Wertform). Dieses allgemeine Gut ist nunmehr der abstrakte Maßstab der Vergleichbarkeit, insofern es selbst in keiner anderen Ware ausgedrückt werden kann. Erst mit dem Geld vollendet sich diese Aussonderung einer Ware aus dem Reich der (Gebrauchs-)Waren. Das Stadium der ›Geldform‹ ist erreicht, in dem sich das eigentliche ›Mysterium‹ des kapitalistischen Warenlagers abspielt, von dem die Marx’sche Enthüllungsgeschichte ihren Ausgangspunkt nimmt. Denn erst in der geldförmig vermittelten, hochgradig arbeitsteiligen kapitalistischen Tauschgesellschaft erhält die einzelne Ware jenen Fetischcharakter, der vom produktiven Ursprung des Warenwertes ablenkt. Erst hier tritt der Anschein vor den Inhalt. Weder die Gebrauchswert bildende Arbeit (›work‹) noch die abstrakte Leistung (›labour‹) fallen dann noch an der Ware auf. Der Warenfetisch erscheint vielmehr als in sich wertvoll, unabhängig von den Bedürfnissen und Aufwendungen seiner Produzenten: Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaft lichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaft liche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaft liche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaft liches Verhältnis von Gegenständen. Durch dieses Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaft liche Dinge.202

Wo die Dinge einen vermeintlich eigenständigen Charakter erhalten, wo sie zu Wunschmaschinen werden, da begibt sich der kapitalistisch überformte Mensch in eine neue Form der Abhängigkeit. Er vergisst seine Rolle als Produzent in einem gesellschaftlichen Ganzen und beginnt den Warenartikel um seiner selbst willen zu

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Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 58. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 86.

begehren und zu fetischisieren. Gebrauchszusammenhänge sind nunmehr sekundär; das Mittel der Bedürfnisbefriedigung wird Zweck an sich. Ganz anders als die subjektive Werttheorie der neoklassischen Ökonomie (Menger), die den Tauschwert konsequent aus dem individuellen Nutzenkalkül und damit auch aus dem Gebrauchswert ableitet, stellt Marx den Gebrauchswert als eine eigene, dem Markt äußerliche Sphäre vor. Erst durch eine spezifische historische Form der Verwandlung (in einem kapitalistischen, arbeitsteiligen Marktgefüge) wird diese ›an sich‹ intakte Sphäre so weit in den Tauschwert aufgelöst, dass die Ware als quasi autarkes Ding, als Fetisch, erscheint.203 Marx hat diese Grenzüberschreitung als partielle Entsinnlichung gefasst: Als kapitalistischer Warenfetisch ist das leibliche Dinge zugleich ›sinnlich‹ und ›übersinnlich‹. Marx gibt ihm damit einen paradoxen, ›gespenstischen‹ Status – und dies geschieht auf Grundlage einer umfangreichen metaphorischen Textstrategie. Um den paradoxen, phantasmatischen Fetischcharakter der Ware (›sinnlich übersinnlich‹) zu veranschaulichen, bewegt Marx ein ganzes Feld von metaphorischen Zuschreibungen, die in immer neuer Weise einschärfen, dass die Ware »ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«, ein Ding mit »mystischem Charakter«204, eine »phantasmagorische Form des Verhältnisses der Menschen«205, eine »Hieroglyphe«206. In Marx’ Metaphorik wird die moderne Warenwelt mit religiösen Kulturpraktiken kurzgeschlossen, und zwar mit – aus Sicht der Aufk lärung – abergläubischen, primitiven Formen von Religiosität außerhalb Europas. Waren erscheinen darin als neuzeitliche Götter oder Götzen, als Kultobjekte einer säkularisierten Metaphysik. Für die Marx’sche Warenkritik, die sich werkgenetisch aus seiner Religionskritik herleitet, sind wir, ungeachtet aller vermeintlichen Rationalisierung, doch ein wenig die Wilden geblieben. ›Wir

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An dieser ontologischen Binarität von Gebrauchs- und Warensphäre, von Dingrealität (physisch) und Phantomcharakter der Ware (symbolisch), hat Jacques Derrida seine Marx-Kritik angesetzt. Offensichtlich in Unkenntnis der subjektiven Werttheorie der Neoklassik dekonstruiert er die Marx’sche Grenzziehung, um die beiden Sphären als paradoxes, labiles, ›gespenstisches‹ Ineinander zu schildern. Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale [1993], übers. von Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 2004, S.  218–222. Dass die spätkapitalistische Ökonomie diese Grenzauflösung bereits selbst vollzogen hat (und zwar praktisch wie theoretisch) wird hierbei übersehen. Antonio Negri hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Derrida in seiner Marx-Re-Lektüre lediglich hermeneutisch dekonstruiert, was längst zum Gegenstand einer neuen Ontologie werden müsste, die den dynamischen Grenzverschiebungen der postmodernen Produktionsgesellschaft Rechnung trägt. Vgl. Antonio Negri: The Specter’s Smile. In: Michael Sprinker (Hg.), Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s Specters of Marx, London, New York 1999, S. 5–17, hier: S. 11f. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 85. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 86. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 88.

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glauben nicht, und dennoch‹, lautet, nach Hartmut Böhme207, die Formel für den Fetischismus. Wir glauben nicht, dass Waren an sich wertvoll und beglückend sind, und dennoch tun wir alles, um sie in Besitz zu nehmen. Die Leistung der Marx’schen Textstrategie besteht darin, dass sie die hier vollzogene Metaphorisierung der Ware zum zeichenhaft überhöhten Fetisch der kapitalistischen Produktionsweise selbst zuschreibt. »Fetisch«, so Böhme, »ist bei Marx die Metapher der Metaphoriken des Kapitals, seine Zeichenform schlechthin.«208 Sie verweist auf die permanente semiotische Verkleidung des realen Arbeitsvorgangs, auf die Divergenz von Erscheinung und Inhalt. Marx markiert diese Schwelle, an der die kapitalistische Transformation von Arbeitskraft in Warenwert stattfindet, durch eine weitere suggestive Strukturmetapher: Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.209

Der Vorstellungsbereich des Vampirismus – ein echtes Populärphänomen und spätestens seit John William Polidoris schauerromantischer Erzählung The Vampyr (1816) auch ein Literaturphänomen des 19. Jahrhunderts – durchzieht die gesamte Marx’sche Ausbeutungstheorie. Verben wie ›einsaugen‹, ›aussaugen‹, ›entleeren‹, ›ausbluten‹ oder ›geronnen‹ umspielen den zentralen Gedanken: In kapitalistischen Eigentumsverhältnissen verwandelt sich lebendige Arbeit in fixe marktfähige Produkte vermittels radikaler Auszehrung. Denn Arbeit, so Marx, ist die einzige Ware, die im Gebrauch Werte über ihren eigenen Warenwert hinaus zu generieren vermag. Ihr eigener Warenwert entspricht ihren Reproduktionskosten (also der Höhe des zum Leben notwendigen Warenkorbs) und wird durch die vergütete Zahl von Arbeitsstunden abgegolten. Während dieser einmalig bezahlten Arbeitszeit aber vermag der Kapitalist die Arbeitskraft ›produktiv zu konsumieren‹, sprich über das vergütete Maß hinaus in Produkte fließen zu lassen. Eben darin liegt der Ausbeutungscharakter der Mehrwertschöpfung. Der Zusammenhang zwischen Privateigentum des Kapitalisten, Arbeitskraft des freien Lohnarbeiters und Mehrprodukt ist systemisch zu begreifen. Wenn Marx sagt, der »Kapitalist ist personifiziertes Kapital«210, dann spricht er den konkreten Handlungsträgern eine unmittelbar wirksame Intentionalität ab. Das Agens der Bewegung sind die Verhältnisse, ist das Kapital selbst: Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen.211

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Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2006, S.  14–16. Vgl. zudem dort das einschlägige Kapitel zur Marx’schen Fetischtheorie: S. 307–330. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 326. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 247. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 247. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 247.

Und um diese an sich anonyme Strukturgröße sinnlich erfassbar zu machen, greift Marx auf das Begriffsfeld des Vampirismus zurück. Das Tertium Comparationis ist augenscheinlich: So wie Marx die Ware gesehen haben möchte – als schönes, verführerisches, ›sinnlich übersinnliches‹ Ding mit ›Mucken‹ – so ist schließlich auch der Vampir: Er wird in dem Maße attraktiv und verführerisch, in dem er Leben auslöscht bzw. in das Zwischenreich des Sinnlich-Übersinnlichen überführt, in dem er sich selbst befindet. Mit dem marktwirtschaftlichen Kapitalwachstum dehnt sich also, bildlich gesehen, das Reich der Untoten aus. Ein solcher Blick in das Gruselkabinett des kapitalistischen Warenhauses wird nun allerdings nur möglich, wenn man vermag, anders geartete ökonomische Verhältnisse dagegenzustellen. An diesem Punkt greift bei Marx die historische Perspektivierung. Ihr obliegt es, die Veränderungen der Produktionsverhältnisse zu verzeichnen, nicht nur, um die aktuellen Produktionsweisen in ihrer gesellschaftlichen Geltung zu relativieren, sondern auch, um einen Seismographen für künftige sozioökonomische Revolutionen aufzustellen. An zentraler Stelle in seinem Fetischismus-Kapitel hat Marx hierfür eine erweiterte Robinson-Erzählung eingelassen. Ihr arbeitswerttheoretischer Ansatz ist bereits im vorherigen Kapitel zur Sprache gekommen. Robinson wird vorgeführt als ursprünglicher Produzent, dem in der Unmittelbarkeit seiner Arbeit die Bedingungen seines Reichtums noch »einfach und durchsichtig« sind.212 Der starke Produktions- und Gebrauchskontext, der im Warenfetischismus verloren geht, ist in Robinsons Subsistenzwirtschaft noch intakt. Dementsprechend kann Robinson ein jedes seiner Güter auf den Arbeitsaufwand beziehen, der zu ihrer Herstellung notwendig ist, und verfügt somit, nach Marx, über »alle wesentlichen Bestimmungen des Wertes«.213 In einem zweiten Schritt erweitert Marx diese Robinsonade über den engeren modellökonomisch exemplarischen Rahmen hinaus ins Historische. Sein Robinson sieht sich nunmehr ins europäische Mittelalter versetzt. Auch hier, in den Abhängigkeitsverhältnissen des Frondienstes, realisiert sich immer noch das transparente Verhältnis des Produzenten zu seinen Gütern, so die These. Die Naturalabgaben sind seine konkret messbare Dienstleistung gegenüber einer konkreten Herrschaft . »Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier gegenübertreten, die gesellschaft lichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaft lichen Verhältnissen der Sachen, der Arbeitsprodukte.«214 Schließlich wagt Marx einen Sprung über die Jetztzeit des Warenfetischismus hinaus und umreißt ein ökonomisches Gerechtigkeitsideal auf der Grundlage seiner Fassung der Robinsonade: die Utopie vom ›Verein freier Männer‹. Dieser Verein

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Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 91. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 91. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 91f.

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produziere arbeitsteilig, aber mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln. Ihre Verteilungsfragen machen sich, wie im Falle Robinsons, rein an der Arbeitszeit fest: Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaft lich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaft lichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution.215

Es ist eine der wenigen Passagen, in denen das primär kapitalismuskritische, negierende Werk seinen kommunistischen Gegenentwurf positiv offen legt. Die suggestive ›Einfachheit‹ und ›Durchsichtigkeit‹ der Robinson’schen Buchführung wird dabei auf kollektive Produktionsabläufe übertragen. Inwieweit solche Kollektivprozesse tatsächlich mit dem Kalkül eines einzelnen Produzenten vergleichbar sind und wie also eine Beobachtungsinstanz beschaffen sein muss, die die jeweiligen Kosten und Leistungen zentral im Blick behalten kann, lässt Marx unhinterfragt. Er benötigt das Idyll der ›freien Männer‹ und ihrer Verteilungsgemeinschaft als Positivfolie gegen die Schreckensszenarien der Marktwirtschaft. Gerade an diesem Punkt wird sich die Skepsis der realistischen Nationalökonomen artikulieren. 4.3.2. Gespensterball und Karneval – Zur Poetik der Marx’schen Geschichtsschreibung Bevor ein Blick auf die Rezeption der Marx’schen Theorie durch die Historische Schule der deutschen Nationalökonomen das Profi l dieser Schule nochmals schärft, sollen kurz die poetologisch relevanten Aspekte und die Stilistik der Marx’schen ökonomischen Geschichtsschreibung festgehalten werden. »Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen«, hat Marx schon früh, in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, formuliert.216 Dieses Diktum darf man poetologisch durchaus ernst nehmen. Marx ist ein Ökonom der schrillen Töne, die Belehrung durch Erschrecken sein Programm. »Ein Gespenst geht um in Europa«, diese berühmten ersten Worte des Manifests der Kommunistischen Partei217 stehen im Zusammenhang einer Schauerrhetorik218, die beständig das Unheimliche im Heimlichen und mithin die Nachtseiten der vertrauten bürgerlichen Verhältnisse

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Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 93. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844]. In: MEW, Bd. 1, Berlin 1957, S. 378–391, hier: S. 381. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 461. Vgl. dazu auch die frühen Hinweise auf Marx’ Stilistik von P. Hansford Johnson: The Literary Achievement of Marx [1947]. In: Bob Jessop/Charlie Malcolm (Hg.), Karl Marx’s Social and Political Thought. Critical Assessments, Bd. 4 (Civil Society, Ideology, Morals and Ethics), London, New York 1990, S. 348–353.

akzentuiert. Die ›Gespenster von Marx‹ treten dabei vielfältig und heterogen auf.219 Einmal künden sie, wie im Manifest, von einer zukünftigen Realität (vom Gespenst des Kommunismus). Ein anderes Mal entstammt das Gespenstische, wie im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, der Vergangenheit, beschreibt das Fortdauern eines Symbols über die Präsenz seines Referenten hinaus (das ›Gespenst der sozialen Republik‹ in der Februarrevolution220). Gespenstisch ist, wie gesehen, insbesondere auch die Erscheinung der Ware als Fetisch. Robert Bellofiore hat unlängst darauf hingewiesen, dass der abstrakte Wert eines Gutes bei Marx so lange als ›gespenstisch‹ (virtuell) anzusehen ist, so lange es nicht gegen die auf einem Markt als Geld definierte Ware ausgetauscht wird (und sich das Gespenst mithin in konkretem Geld verkörpert). Sobald dieses Geld dann in den Produktionsprozess zurückgeführt wird, fungiert es als Kapital bzw. als ›Vampir‹ und verwandelt lebendige Lebensenergie abermals in gespenstisch vertrackte Waren. Gespensterhaftigkeit und Vampirismus werden in diesem Sinne den zwei Seiten des kapitalistischen Abstraktions- und Zirkulationsvorgangs (also Konsumtion und Produktion) zugeschlagen.221 Diese Dynamik beschreibt das Unheimliche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, aus dem heraus ihre historische Überwindung zu denken ist. In Marx’ hoch suggestiver Gespenster- und Vampirismus-Metaphorik geht es darum, eine bestimmte soziale und ökonomische Kraft konstellation ebenso als destruktiv und inhuman wie als Output der eigenen gesellschaftlichen Formation zu qualifizieren – mithin nicht als fremd und andersartig, sondern als ›schauerlich bekannt‹. Diese Grundfigur wiederholt sich in der Schilderung historischer Kräfte, die einen jeweiligen sozioökonomischen Zustand zu durchstoßen vermögen. »Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte aneignet. Sie produziert vor allem ihre eignen Totengräber«, verkündet Marx im Manifest die historische Moral vom Aufstieg des vierten Standes.222 Das Gespenst des Kommunismus, so die Botschaft an das Finanzbürgertum, entstammt dem eigenen Hause und zertrümmert – in Marx’ Bild – beim Aufstehen die Decke:

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Vgl. die Textlektüren in Derrida: Marx’ Gespenster, Kapitel 4 und 5, S.  135–240. Zur Relevanz des Gespenster-Konzepts für die Marx-Diskussion allgemein siehe Bernhard von Walpen: Gespenst [Artikel]. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 5, Hamburg 2001, Spalten 640–648. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]. In: MEW, Bd. 8, Berlin 1973, S. 111–207, hier: S. 194. Vgl. Riccardo Bellofiore: A Ghost Turning into a Vampire. The Concept of Capital and Living Labour. In: Riccardo Bellofiore/Roberto Fineschi (Hg.), Re-reading Marx. New Perspectives after the Critical Edition, Basingstoke et al. 2009, S. 178–194, hier: S. 185f. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 474.

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Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft , kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.223

Mit einer Metaphorik des Ungeheuren und Riesenhaften grundiert er sein »Schlachtengemälde« des Klassenkampfes, besonders im ersten Teil des durchweg stark affektbetonten Manifests.224 Aber das Schreckenspotenzial dieser Topik wird im selben Zug ausbalanciert durch eine permanente Heiterkeit der Sprechinstanz. Insofern jedwedes Ungeheuerliche als hausgemacht aufzufassen ist, steht es bei Marx in einer ironischen Perspektive. Die Ironie der Darbietungssituation besitzt dabei ihren Resonanzboden in der behaupteten Ironie der Geschichte: Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.225

Aber: Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.226

Das ironische Moment227 entfaltet sich historisch im Wechselspiel von Produktivkraftentwicklung (Produktions- und Verkehrsmittel) und gegebenen Produktionsverhältnissen (Eigentumsverhältnissen).228 In der Entfaltung der industriellen Produktivkräfte hat die Bourgeoisie genau jene revolutionäre Dynamik freigesetzt, die ihre eigenen Produktionsverhältnisse zu überwinden droht. Nach Überschreitung des Höhepunktes ihrer Entwicklung wird sie somit, in Anlehnung an Goethe, zum

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Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 473. Franz-Hubert Robling: Kritik im Handgemenge. Karl Marx und die Rhetorik des »Kommunistischen Manifests«. In: Diskussion Deutsch, 18. Jg., Nr. 94 (1987) Heft 2, S. 129–145, hier: S. 144. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 464. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 468. Vgl. hierzu auch den Begriff der »revolutionären Ironie«. Thomas Barfuss: Ironie [Artikel]. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 6/II, Hamburg 2004, Spalten 1517–1531, hier: Spalte 1527. Dieses Schema, das den (vorgeordneten) technologischen Fortschritt mit der rechtlich-kulturellen Ordnung in Spannung darstellt, wird später in der Arbeiterbewegung popularisiert. Vgl. Ferdinand Lassalle: Arbeiterprogramm. Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes [1862], hg. von Wolfgang Michalka, Stuttgart 1973, hier: S. 13–21. Lassalle legt dabei einen stärkeren Akzent auf die sittliche Gestaltungsmöglichkeit des historischen Prozesses und nimmt damit eine Perspektive ein, die in der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie grundsätzlich ausgearbeitet wird.

»Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor«.229 Der ironische Fokus beschränkt sich gleichwohl nicht auf den jeweiligen revolutionären Umschlagpunkt. Da die »Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« als »Geschichte von Klassenkämpfen«230 und Ausbeutungszusammenhängen definiert ist, werden auch die Perioden relativer Harmonie zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen als scheinidyllisch entlarvt. Einschlägig beginnt etwa Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), das bereits von den Zeitgenossen als kanonisches Werk der sozialistischen Schule wahrgenommen wurde, mit einer pastoralen Schilderung ländlicher, vorindustrieller Arbeit, die umgehend durch eine Industrie-Metapher durchstoßen und ironisiert wird: Sie [die häuslichen Weber] fühlten sich behaglich in ihrem stillen Pflanzenleben und wären ohne die industrielle Revolution nie herausgetreten aus dieser allerdings sehr romantisch-gemütlichen, aber doch eines Menschen unwürdigen Existenz. Sie waren eben keine Menschen, sondern bloß arbeitende Maschinen im Dienst der wenigen Aristokraten, die bis dahin die Geschichte geleitet hatte […].231

›Sie waren Maschinen‹ – das Provokante dieses Bildsprungs lässt sich vor dem literarischen Hintergrund bemessen. Vom Biedermeier bis in den Poetischen Realismus hinein fungiert das Idyll (zumindest vordergründig232) als Topos des poetischen Verklärungsmoments, aus dem die Autoren ihren Schreibauftrag ableiten. Schriftstellerei findet dort ihre Berechtigung, wo sie beliebigen natürlichen oder gesellschaft lichen Zuständen ihre innere Harmonie abzulesen vermag. Aber diese Idyllen verdanken sich selbst der Ausblendung des ›rohen‹ Zeitstoffs; sie lassen politische und ökonomische Auseinandersetzungen außen vor. » Kein Klang der aufgeregten Zeit /Drang noch in diese Einsamkeit«, in diesen Schlussworten aus Theodor Storms Gedicht Abseits (1848) formuliert sich die Selbstimmunisierung der Literatur gegen die Umbruchsphänomene des bürgerlichen, industriellen Zeitalters.233 Engels und Marx setzen hier gezielt auf Polemik, wenn sie rhetorisch nachvollziehen, was sie historisch den revolutionären Kräften und so eben auch dem Bürgertum selbst zuschreiben: die ›Zerstörung aller idyllischen Verhältnisse‹. Diese Vorgehensweise verpflichtet sich, eine Stufe abstrakter betrachtet, dem besagten Enthüllungsprogramm. Analog zur ökonomischen Analyse im Kapital geht es in der Geschichtsschreibung um eine Kritik gesellschaftlicher Erscheinungsformen. Wie die Wertform der Güter (der Warenfetische) letztlich auf die darin vergegenständ-

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Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 467. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 462. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen [1845]. In: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 225–506, hier: S. 239. Die implizite Problematisierung des Idylls in der realistischen Prosa ist durch die jüngere Forschung umfangreich untersucht worden. Vgl. etwa Heldt: Isolation und Identität. Theodor Storm: Abseits, S. 12.

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lichte Arbeit rückführbar ist, so erhalten auch Gesellschaften (mitsamt ihren von den Chronisten festgehaltenen geschichtlichen Ereignissen) erst im Rekurs auf ihre jeweilige Produktionsweise eine historische Bedeutung. In der einschlägigen Terminologie ausgedrückt: Geschichtliche Ereignisse werden verständlich, insoweit sie sich im dichotomischen Raster von Überbau (gesellschaft liche Organisationsformen mit ihrem jeweiligen kulturellen Bewusstsein) und Basis (Produktionsmittel und Produktionsweise) situieren lassen. Die ironisch pointierende Entlarvungsgeste verdankt sich dabei dem Primat der Basis gegenüber den Oberflächenbewegungen des Überbaus, dem Primat des Inhalts gegenüber der Form. Schon Kenneth Burke hat darauf hingewiesen, dass in der Dramaturgie der marxistischen Geschichtserzählung das Setting (›scene‹) über den geschichtlichen Akteur (›agent‹) dominiert.234 Gegenüber den historischen Bedingungen der Basis verhält sich das historische Bewusstsein (der Überbau) wesentlich passiv und reflektierend. Ebendiese Nachordnung ist in dem einschlägigen Diktum aus dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859) bezeichnet: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt«.235 Parallel zu dieser Perspektive des wissenschaftlichen Materialismus zeigt sich der Marx’sche Diskurs aber noch von einer zweiten, stärker ›ethischen‹ Komponente geprägt. Sie betrifft den Akt der Revolution als Konstitutionsmoment einer Klasse (und Partei). Während sich die materialistische Grundausrichtung wesentlich dem Zwecke der gesellschaftlichen und ökonomischen Kritik verpflichtet, reichert die vom deutschen Idealismus geerbte Emphase der revolutionären Tat und die darin enthaltene Orientierung auf Bewusstsein und Handlungsfreiheit den marxistischen Diskurs mit einer Oberstimme der Aufmunterung (›exhortation‹) an.236 Hayden White ist diesem Dualismus in seinen tropologischen Untersuchungen der historischen Einbildungskraft weiter nachgegangen. In Marx’ Geschichtsschreibung konkurrieren demnach zwei Konzeptualisierungsweisen von Ereignissen, eine mechanistische und eine organizistische, denen White, mit einer etwas laxen Rhetorik237, die Mastertropen der Metonymie (Mechanismus) und der Synekdoche

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Kenneth Burke: A Grammar of Motives [1945], Berkeley, Los Angeles, London 1969, S. 205f. Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie [1859]. In: MEW, Bd.  13, Berlin 1961, S. 3–160 hier: S. 9. Vgl. Burke: A Grammar of Motives, S. 208f. Die Ideengeschichte fasst diese Binarität so: »In der Geschichtsschreibung von Marx konkurriert ein ökonomisch-deterministisches Element mit einem voluntativ-politischen, ohne daß es zu einer präzisen Erklärung der Verbindung beider käme.« Hennig Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3,3 (Die politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts), Stuttgart, Weimar 2008, S. 164. Vgl. dazu die Kritik am metaphorischen Charakter von Whites Tropologie bei Daniel Fulda: Wissenschaft aus Geschichte. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin, New York 1996, S. 19–28; vgl. auch Meyer: Im »Banne der Wirklichkeit«?, S. 69–77.

(Organizismus) zuschreibt. Mechanistisch fasse Marx die Beziehung von Basis und Überbau auf, d.h. die Ableitung der gesellschaft lichen Erscheinungsformen aus den Produktionsmitteln und Produktionsbedingungen. Hierbei geht es um die deterministisch beschreibbare Wechselwirkung zwischen Ressourcenvorräten, Bevölkerungsschwankungen und technologischen Veränderungen, die die ökonomische Prägung einer Gesellschaft ausmachen.238 Der mechanistischen Perspektive entsprechend fokussiere Marx in der historischen Erzählung immer wieder auf die Modernisierung und Verdrängung der Produktivkräfte (wobei diese kausal motivierte Substitution eben als ›metonymische‹ Beziehung angesprochen wird). Demgegenüber würden die Veränderungen im Überbau und mithin die Verschiebungen der Klassenkonstellation in Entwicklungsbegriffen geschildert: »Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie«239 – in diesen Formulierungen dominiere eine organizistische Sichtweise, die jeweils die dialektische ›Aufhebung‹ einer Klassengesellschaft in der nachfolgenden betone.240 Diese Aufhebungsrelation fasst White als synekdochisch auf. Endstadium des besagten Entwicklungsgangs ist dann die Emanzipation des Proletariats und der Eintritt in die klassenlose Gesellschaft: »Und der Kommunismus ist, im Verständnis von Marx, nichts anderes als eine synekdochisch vollständig integrierte Gesellschaftsformation.«241 Nach White wird diese Teleologie in der Plotstruktur der Komödie gemäß den Stadien des klassischen Dramas entfaltet: Die Formierung des proletarischen Selbstbewusstseins verläuft dann von den ersten noch rein aus Stimmungen stammenden Manifestationen einer unterdrückten, doch zersplitterten Arbeitermenge (›pathos‹) zur Anerkenntnis der eigenen Gruppeninteressen und Konfliktstellung gegen die Bourgeoisie (›agon‹) über die (erneute) Zersplitterung ihrer Koalition angesichts des Konkurrenzkampfes auf dem Arbeitsmarkt (›sparagmos‹) bis hin zur vollständigen Ausbildung eines politischen Selbstbewusstseins des Proletariats (›anagnorisis‹).242 Obgleich White diese klassischen Drameneinheiten eher von außen an die betreffende Stelle des Manifests heranträgt243, ist die Erfassung des dialektischen Geschichtsverlaufs und seiner Klassenkämpfe als ›Drama‹ doch ein fester Bestandteil der MarxRezeption geworden.244 Marx selbst legt in wiederholten Äußerungen zur »Komödie

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Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [engl. 1973], übers. von Peter Kohlhaas, Frankfurt a.M. 2008, S. 396. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 463. Vgl. White: Metahistory, S. 402. White: Metahistory, S. 407. Vgl. White: Metahistory, S. 404f. Vgl. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 470. Siehe etwa Terence Ball: History: Critique and irony. In: The Cambridge Companion to Marx, hg. von Terrell Carver, Cambridge, New York, Melbourne 1991, S. 124–142, hier: S. 134–136.

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und Tragödie in der Geschichte« einen Fokus auf dramatische Plotstrukturen an.245 Die konfligierenden Gruppeninteressen in diesem Drama der Geschichte sind dabei nicht als spontan und individuell motiviert, sondern als ökonomisch notwendig aufzufassen. Denn der dialektische Entwicklungsgang des historischen Bewusstseins bleibt stets auf die materiellen Bedingungen und Interessenlagen bezogen. Erst das Sinken der Reallöhne246 und die Herausdrängung der Arbeiterschaft aus dem industriellen Produktionsprozess, als Konsequenzen aus der stetigen Vermehrung des fi xen Kapitals (vor allem Maschinen/Infrastruktur, Geldmittel) gegenüber dem variablen (der humanen Arbeitskraft)247, ermöglichen überhaupt die Selbstvergewisserung des Proletariats. Ohne den Marktmechanismus gibt es keine Formierung, keine Bewusstwerdung und Emanzipation der vom Kapital ausgebeuteten Klasse.248 Die Verelendung wirkt mithin revolutionär. Mit der Metonymisierung von Ereignissen in der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie geht dieser Fokus nicht zusammen – so viel lässt sich bereits andeutungsweise vorwegnehmen. Indem der Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat auf die ökonomische Eigentums- und Rollenverteilung (Herr/Knecht) und auf die daraus resultierende Marktdynamik zurückgeführt wird, erhält die Er-

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Vgl. etwa die Auszüge in Karl Marx/Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur, 2 Bde., Berlin 1967/1968, hier: Bd. 1, S. 159–166. Eine Steigerung der Nominallöhne sieht Marx mit einem überproportionalen Wachstum des Kapitals verknüpft. Die statistische Verbesserung der Einkommen in seiner Zeit könne dementsprechend, wie in Lohnarbeit und Kapital prägnant dargelegt, nicht hinwegtäuschen über die tatsächliche Verschlechterung der Situation der Arbeiter »im Vergleich zu den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt«. Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital [1849]. In: MEW, Bd. 6, Berlin 1959, S. 412. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 470: »Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer«. Diese Verelendungstheorie fi ndet sich dann im Kapital ausgearbeitet. Vgl. Marx: Das Kapital. Erster Band, insbesondere: S. 451–461 u. S. 640–677. Die Marx’sche Verelendungstheorie setzt dabei an, dass technischer Fortschritt allein arbeitseinsparend wirkt und die Arbeitslöhne, aufgrund der Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschaft , konstant auf ihrem Minimalniveau bleiben. Eine Konkurrenz unter den Arbeitgebern um das (in Konjunkturzeiten) verknappte Arbeitsangebot und eine entsprechende Anhebung des Lohnniveaus schließt Marx aus seiner Argumentation aus. Ebendeshalb zieht er die Reintegration von Arbeitnehmern in die (anwachsenden und zunehmend ausdifferenzierten) Märkte nicht in Betracht. Vgl. dazu die kritische Würdigung von Ingo Pies: Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Der Beitrag von Karl Marx. In: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.), Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen 2005, S. 1–31, hier: S. 25–29.

eigniserzählung bei Marx einen systemischen Zusammenhang. Historische Subjekte fungieren darin als Träger von ›Charaktermasken‹, die sie weniger ihrem individuellen Zutun als ihrer strategischen Position im Gefüge der Produktionsverhältnisse verdanken. Der für den Realismus der Historischen Schule konstitutive Dualismus von Sittlichkeit (Handlungsfreiheit) und ökonomisch-technologischer Notwendigkeit weicht hier einer vereinheitlichenden materialistischen Sichtweise. Dementsprechend deckt sich auch das Dramenschema, das White den Marx’schen Schriften abliest, keineswegs mit dem angesprochenen organizistischen Zyklenmodell Wilhelm Roschers.249 Dieses Modell, das bei Roscher ebenso wie bei Marx ein Erbe der Hegel’schen Dialektik ist, fungiert bei Roscher lediglich als offenes Klassifi kationsraster empirischer Daten. Es behauptet im Allgemeinen einen regelmäßigen ›Lebenszyklus‹ historischer Entitäten (betroffen sind davon stets Metasubjekte wie Völker oder Volkswirtschaften), ohne dass dieser Verlauf aus konkreten gesellschaftlichen Konstellationen abzuleiten wäre. Es sinkt damit schon bei Roscher zum heuristischen Mittel herab und wird nachfolgend von der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie in der Rede von ›Blütezeiten‹ zunehmend als metaphorischer Horizont zur punktuellen Verklärung historischer Erscheinungen bemüht. Dabei erscheint das Dramenschema in seinen Transformationen zum Zyklenmodell und zur harmonistischen Metapher auch als Mittel der Entdramatisierung geschichtlicher Abläufe. Der Fokus rückt weg von den Konflikten und historischen Kämpfen, hin zu optimalen Organisationsformen (›Blüte‹, ›Gesundheit‹) einer Gesellschaft. Demgegenüber setzt Marx auf die Dramatik des Klassenkampfes und bindet sie stets eng an die benennbaren materiellen Umstände der Lebensfristung. Parallel zur ›Komödie‹ des Proletariats verläuft im Manifest die ›Tragödie‹ der Bourgeoisie, die ironischerweise genau denjenigen Produktionsbedingungen zum Opfer fällt, denen sie ihre eigene Entstehung und Entfaltung zu danken hat. Auf die zyklischen Überproduktionskrisen (Marx’ Indikator für den kritischen Zustand des Gesamtsystems) antwortet die Bourgeoisie mit der Vernichtung einer »Masse von Produktivkräften«, also dadurch, dass sie, in Marx’ Worten, »allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert«.250 Diese Handlungsweise ist ausschließlich ökonomisch motiviert. Sie folgt der Logik des Preismechanismus, nach der fallende Preise nur durch die Reduktion von Güterangeboten aufzuhalten sind. Aber in diesem Krisenmanagement verschärfen sich die gesellschaftlichen Widersprüche, formiert sich die von der Macht ausgeschlossene, auf das Existenzminimum eingeschränkte Klasse, um gegen die bestehenden Eigentumsverhältnisse zu rebellieren. So macht der privatwirtschaftliche Markt letztlich Geschichte. Insofern alle bisherige Geschichte als »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« definiert ist, handelt es sich bei der von White diagnostizierten ›Tragödie‹ der Bourgeoisie eher um eine Pseudotragödie. Das geschichtliche Heilsversprechen

249 250

Vgl. die Abschnitte 2.3.1. und 2.3.3.1. dieser Arbeit. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 468.

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unterlegt der Dramatik des Klassenkampfes eine humorvolle Note. Zusammengenommen mit dem Enthüllungspathos, mit dem jegliche gesellschaft liche Erscheinungsformen (Waren, soziale Rollen) auf ihre vermeintlich objektiven Inhalte (Arbeit, Produktionsverhältnisse) zurückgeführt werden, ergibt sie die heitere Polemik, die Marx’ ökonomische und historische Schriften auszeichnet. Mit protoavantgardistischer Geste stellt sich Marx außerhalb der etablierten und eben als bourgeois apostrophierten Wissenschaft slandschaft . Gegen den herrschenden Traditionalismus (man denke an die Kanonikeraufmärsche bei Roscher) setzt er auf Originalität; die erste Fußnote des Kapitals gilt ihm selbst. Das Establishment erntet demgegenüber reichlich Spott, etwa Wilhelm Roscher (mit drei Ausrufezeichen!): Mehr – weniger – nicht genug – insofern – nicht ganz! Welche Begriffsbestimmungen! Und dergleichen eklektische Professoralfaselei tauft Herr Roscher bescheiden »die anatomisch-physiologische Methode« der politischen Ökonomie! Eine Entdeckung ist ihm jedoch geschuldet, nämlich daß Geld »eine angenehme Ware« ist.251

Der burschikose Umgang mit Wissenschaftsautoritäten fügt sich in die umfangreichen Polemiken gegen das ›bürgerliche‹ Selbstverständnis ein. Spätestens mit der historischen Machtergreifung der Bourgeoisie und ihrem Ankämpfen gegen die Ansprüche des vierten Standes wird sie Marx in toto zum Gegenstand satirischer Zeichnung. Der gesamte zweite Teil des Manifests, der in einer emphatischen Ansprachesituation (Wir vs. Ihr) den Forderungskatalog der Kommunisten durchgeht, wird zum großen ›Épater le Bourgeois‹. Ihr werft uns mit einem Wort vor, daß wir euer Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir. […] Man hat eingewendet, mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreißen. Hiernach müßte die bürgerliche Gesellschaft längst an der Trägheit zugrunde gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht.252

Schroffe Antithesen münden in einen Chiasmus, der einen fundamentalen Perspektivwechsel, eine Neueinrichtung von Zuschreibungen realisiert. Auch die Rhetorik arbeitet ›von innen heraus‹, betreibt mit ironischem Grundgestus die Umwertung der Werte. Ihr Angriffsziel ist die herrschende Begrifflichkeit, die den Blick darauf verstelle, dass eine kapitalistische Ökonomie jegliche gesellschaftliche Verhältnisse in die »bare Zahlung« auflöse bzw. in die »eiskalten Wasser egoistischer Berechnung« eintauche.253 Folglich fallen auch alle ›idyllischen Verhältnisse‹ des bürgerlichen Selbstverständnisses der Polemik zum Opfer. Ganz gezielt peilt Marx die Familienfrage als Nukleus der bürgerlichen Gesellschaft an:

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Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 107, Fn. 49. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 477. Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 464f.

Unsere Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offi ziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, fi nden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen.254

Auf solche Provokationen, die Marx eher en passant und unaufgeregt denn allzu hitzig verteilt, wird man in der deutschen Literaturgeschichte noch ein gutes halbes Jahrhundert (etwa bis zu Arthur Schnitzlers Der Reigen) warten müssen. Ihr Fokus aber, in dem das ideologische Selbstbild des bürgerlichen Zeitalters mit den basalen ökonomischen Interessenlagen konfrontiert wird, findet schon in der Literatur des Vormärz einen Niederschlag. 4.3.2.1. Exkurs: Im Fahrwasser von Marx – Die Revolutionserzählung bei Georg Weerth Es lohnt an dieser Stelle, wenigstens einen kurzen Seitenblick auf jene Literatur zu werfen, die sich diesem Enthüllungsdiskurs Marx’scher Provenienz und seiner systemischen Gesellschaftskonzeption unterstellt. Denn in der Behandlung ökonomischer Thematik weist diese Vormärzliteratur – bei aller oberflächlichen Ähnlichkeit mit dem Realismus – eine dezidiert andere Konzeption als dieser auf. Die Verschiedenheit betrifft mehr als die vermeintliche inhaltliche ›Tendenz‹ und den junghegelianischem ›Idealismus‹ der Vormärzliteratur (eine Kritik, die dieser regelmäßig von Seiten der Programmatiker des Poetischen Realismus nach 1850 zuteil wird). Es handelt sich um eine Andersartigkeit in den poetischen Verfahren, die dem besagten systemischen Hintergrund dieser Literatur geschuldet ist. Exemplarisch lässt sich das bei Georg Weerth verfolgen – laut Friedrich Engels der »erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats«255, der mit den beiden Vordenkern des deutschen Sozialismus auch publizistisch, als Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung (1848/49), eng verbunden war.256 Zwischen November 1847 und Juli 1848 veröffentlicht Weerth neun der insgesamt vierzehn bzw. achtzehn (wenn man die Nachlassfragmente hinzurechnet) Kapitel aus seinen Humoristischen Skizzen aus dem deutschen Handelsleben. Es ist ein Text, der in lockerer Szenenfolge, ohne übergreifenden Plotzusammenhang, Ökonomie und Moral eines Handelskontors vor und während der Revolutionsperiode 1848 satirisch vorführt. In verschiedenen Dialogen mit seinen Angestellten lernt man den Paradebourgeois257 Herrn Preiss und seine Geschäftspraktiken kennen. Die

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Marx: Das Manifest der Kommunistischen Partei, S. 479. Friedrich Engels: [Georg Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, 1883]. In: Karl Marx/Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Bd.  2, Berlin 1968, S. 296–299, hier: S. 296f. Vgl. Uwe Zemke: Georg Weerth 1822–1856. Ein Leben zwischen Literatur, Politik und Handel, Düsseldorf 1989, S. 107–137. Weerth nimmt sich für seine Karikatur des Herrn Preiss verschiedene zeitgenössische Vertreter des rheinischen Großkapitals zur Vorlage. Vgl. Wolfgang Büttner: Georg Weerth.

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ersten vier Kapitel zeigen ihn im Zusammentreffen mit seinen Innendienstangestellten, vom Lehrling über den Korrespondenten bis zu Buchhalter Lenz und Kommis Sassafraß. Die zu Weerths Lebzeiten unveröffentlichten Kapitel V bis IX verlängern das Schaulaufen der Funktionsträger des Kontors in den Außendienst und lassen u.a. einen Weinreisenden und einen Finanzmakler auftreten. Typische Geschäftsabläufe beim Kaufmann werden hier vorgeführt. Erst die Schlusssektion (Kapitel X bis XIV) lässt dann so etwas wie eine Fabel erkennen, wenn sie Veränderungen im Kontor während der bürgerlichen Revolution schildert. Schon in der Eingangssequenz wird die Tendenz der Darstellung deutlich, wenn der Erzähler den Blick über die Bücherschränke des Herrn Preiss schweifen lässt: Nur das Geheimbuch fehlt in dieser treffl ichen Bibliothek, denn dieses bewahrt man vor den Augen der Menge, weil die Aktiva und die Passiva des Herrn Preiss darin stehen, welche niemand schauen soll, damit nicht, wie Nante sagt, jemand den Schleier reiße von des Herrn Preiss etwaigen schamhaften Verhältnissen –258

Den ›Schleier herunterzureißen‹, genau darum geht es hier. Bevorzugt in direkten, selbst entlarvenden Reden führt die Erzählung ihren Protagonisten und mit ihm den Kaufmannsstand in seiner lediglich scheinbaren Respektabilität vor. Notdürftig verkleidet sich dessen Gewinnstreben im Außenauftritt. Schon im ersten Kapitel wird der Lehrling instruiert, in welcher Weise die briefliche Kommunikation die Geschäfte begleitet; im zweiten Kapitel erhält man dann Einblick in einige Korrespondenzen und lernt verschiedene Höflichkeitsformen auf ihren materiellen Hintergrund hin ansehen: Die Rentabilität des zugrunde liegenden Güter- und Zahlungsverkehrs bestimmt den Ausdruck. »Zahlen regieren die Welt«, lautet der Obersatz dieser Preiss’schen Rhetorikschule.259 Tatsächlich erscheint das humoristische Werk auch im weiteren Verlauf wie eine überdimensionierte Amplifi kation der Marx’schen These, dass sich in der bürgerlichen Wirtschaft jedwede Moral auf den Erwerb und die ›bare Zahlung‹ reduzieren lässt. Der Handlungsreisende erörtert breit und anekdotenreich seine Heucheleien und sophistischen Kniffe, die ihm seine Geschäftsabschlüsse ermöglichen, und erweist sich darin als willfähriger Handlanger der Intentionen des Herrn Preiss. »Besondere Kenntnisse verlange ich von meinem Reisenden

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Feuilletonchef der »Neuen Rheinischen Zeitung« 1848/49. In: Michael Vogt (Hg.), Georg Weerth (1822–1856). Referate des I. Internationalen Georg-Weerth-Colloquiums 1992, Bielefeld 1993, S.  129–146, hier: S.  130. Ähnlich wie in Gustav Freytags Soll und Haben vermischen sich in der Figur des Herrn Preiss anachronistische und moderne ökonomische Eigenschaften. Vgl. Norbert Otto Eke: Revolution und Ökonomie oder Der Bürger in der Klemme. Präliminarien einer Weerth-Lektüre. In: Michael Vogt (Hg.), Georg Weerth und das Feuilleton der »Neuen Rheinischen Zeitung«. Kolloquium zum 175. Geburtstag am 14./15. Februar 1997 in Detmold, Bielefeld 1999, S. 69–86, hier: S. 82. Georg Weerth: Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben [1847/1848], hg. von Jürgen-Wolfgang Goette, Stuttgart 1971, S. 4. Nante (eigentlich Ferdinand Strumpf) ist eine Berliner Witzfigur. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 9.

nicht«, erläutert Preiss, »ich bin damit zufrieden, wenn er so tun kann, als ob er etwas wüßte. […] Eine eigene politische Ansicht oder Meinung erlaube ich meinem Reisenden durchaus nicht. Er hänge den Mantel nach dem Winde.«260 In den Gesprächen mit dem Finanzmakler »Eduard Emsig weiland Joel Knoblauch«261 und dem Buchhalter Lenz tritt Preiss dann zunächst selbst als moralisierender Zauderer gegen die jeweils angetragenen Spekulationen auf (»unser Freund befleißigte sich stets, das Gegenteil von dem zu sagen, was er dachte«262), um sie anschließend doch geradezu enthusiastisch durchzuführen. Die Maskerade ist des Kaufmanns Element. Bigotterie, Heuchelei263, hinterlistige Benachteiligung der sozial Schwächeren (schlechtes Geld aus einem Geschäft mit Kunden in Nassau gibt Preiss kurzum als Lohn für seine Arbeiter264) – alle Eigenschaften, die der Realismus allenfalls seinen kontrastiven Nebenfiguren zubilligt (man denke an Herrn Specht bei Hackländer oder an die jüdischen Chargen bei Freytag oder Raabe), werden hier auf den Protagonisten vereinigt. Mit Gründlichkeit und Redundanz (und aus eigener Kenntnis des Kaufmannsberufs heraus) schreitet Weerth den Frame des Kontors ab, nicht um – wie im Realismus üblich – Singularitäten zu generieren, sondern um die Moral des materialistischen Reduktionismus zu verbreiten: Jegliche Handlungen, ökonomische wie politische oder soziale, kennen keine anderen Rücksichten als die Bilanz des Unternehmens. Folgerichtig läuft die einzige Auseinandersetzung, die während der Revolutionskapitel darstellungswürdig ist, auf einen bloßen Gehaltskampf zwischen dem Buchhalter Lenz und Preiss hinaus.265 Es regiert die Antiklimax. Geschichten, wo sie überhaupt in den Blick kommen, zielen unerbittlich auf den Kippeffekt. So wird der Kommis Sassafraß zunächst mit angedeuteter biographischer Tiefe in seiner Treue zum Kontor eingeführt, um in einer unmittelbar anschließenden Szene von Herrn Preiss seine Kündigung zu erhalten: Der Alte ist unrentabel geworden.266 Der Mechanismus dieser Darstellungsroutine korrespondiert mit dem stabilen theoretischen Rahmen, den sich die Erzählung gibt. Es obliegt dem arbeitslos gewordenen Kommis Sassafraß, diesen in einem Brief an Lenz (der ihm 27 Silbergroschen schuldig ist) explizit abzustecken:

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Weerth: Humoristische Skizzen, S. 40. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 65. In dieser Figur wird das Finanzkapital überdeutlich karikiert durch die topische Namensabänderung sowie die sprechende Signifi kanz der Namen (Emsig = Mobilität; Knoblauch = metonymischer Verweis auf den ›Vampirismus‹ des Geldes; Joel = jüdischer Name). Weerth: Humoristische Skizzen, S. 77. Ausführlicher zum Thema ›Scheinmoral‹ und zu den religionskritischen Tendenzen der Darstellung siehe Florian Vaßen: Georg Weerth. Ein politischer Dichter des Vormärz und der Revolution von 1848/49, Stuttgart 1971, S. 112–117. Vgl. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 21f. Vgl. Weerth: Humoristische Skizzen, Kapitel XI, S. 106–110. Vgl. Weerth: Humoristische Skizzen, Kapitel IV, S. 27–36.

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Sie werden mir gestatten, daß ich Ihnen dieselbe [Summe von 27 Silbergroschen] vorhalte wie einen Spiegel, damit Ihre Zahlungsfälligkeit sich darin beschaut. Sie werden mir zugestehen müssen, daß ich, hervorgegangen aus einer Zeit, welche alles auf Zahlen reduziert: den Verstand, den Witz, das Talent, den Glauben, die Liebe …, daß ich, wurzelnd in der Moral eines Jahrhunderts, welche den Preis der menschlichen Tätigkeit zu dem Werte des Menschen gemacht hat, daß ich durch alles dieses berechtigt bin, Sie nicht nur als Mitglied der Gesellschaft , als Staatsbürger, als Kaufmann, sondern auch als Mensch zu messen: nach dem Maßstab von siebenundzwanzig Silbergroschen!267

Konsequenterweise vermag gerade der aus dem Zirkulationsprozess des Kapitals herausgefallene Sassafraß das ökonomische Apriori dieser Diegese zu benennen: »Ich gestehe es, in der Differenz zwischen Wert und Preis liegt die halbe Not unsres Jahrhunderts«.268 Das ist die werttheoretische Annahme, die die Marx’sche Theorie umtreibt: In der Divergenz zwischen Gebrauchs- und Tauschwert verschwinden menschliche Kontexte. Das preisgesteuerte System des Güterverkehrs tilgt die konkrete Sacharbeit und ihre spezifische Wertschöpfung. In zahlreichen Explikationen, sei es in der Figurenrede oder in gelegentlichen Erzählerkommentaren, untermauert Weerth den exemplarischen Status seiner Erzählung. Hier werden systemische Konzepte direkt in den Bereich der Fiktion hinein verlängert, wobei sich die Informiertheit des Erzählers gelegentlich in kleinen Digressionen niederschlägt. Malthus’ Bevölkerungstheorie wird in ihrer Kernthese vorgestellt (im Zuge einer ironischen Schilderung des kinderreichen und daher von Finanzsorgen geplagten Buchhalters Lenz)269; das Prinzip der doppelten Buchführung findet eine eingehende Erörterung.270 Mit Gusto wird das Spezialwissen ausgestellt. Abkürzungen, wie sie der Realismus pflegt, gelten hier wenig. Was wissenswert ist, gelangt auch auf die Textoberfläche. Die Kosten dafür tragen die Figuren. Sie dienen dem theoriefesten, satirischen Projekt eher als Erfüllungsgehilfen der auktorialen Stellungnahmen. Als Karikatur durchschreitet Herr Preiss die Stationen der Erzählung: mit Embonpoint, wenn die Geschäfte gut gehen; abgemergelt, als die Revolution sie einschränkt. Lenz chargiert an seiner Seite als Alkoholiker und Duckmäuser, der in den Tagen des Aufruhrs den grotesken Popanz eines Bürgergardisten vorstellen darf. Alle anderen Figuren (ausgenommen der biedere Sassafraß) sind kaum mehr als umrisshaft gezeichnet. Man ist konfrontiert mit statischen Ensembles in grobkörnigen Deskriptionen, eben mit ›Skizzen‹.271

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Weerth: Humoristische Skizzen, S. 85f. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 86. Vgl. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 20. Vgl. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 23f. Vgl. dazu die Analyse der Skizzen als »gelungene Mischung von Genre-Szene, zumeist karikierendem Porträt und satirischer Kritik mit Hilfe sprachlicher Mittel wie z.B. Ironie, Übertreibung und Vergleich« bei Florian Vaßen: »Rötlich strahlt der Morgen …«. Karikatur und Satire in Georg Weerths Szenen und Porträts ›aus dem deutschen Handelsleben‹. In: Michael Vogt (Hg.), Georg Weerth und die Satire im Vormärz. Referate des

Denn anders als im Realismus nach 1850 zielt die metonymische Achse nicht auf die Produktion von ›sin‹-Zeichen (Geppert), bezweckt sie keine Reihung von partikularen und individuellen Sachverhalten. Das oszillierende Spiel von metaphorischer Repräsentanz und metonymischer Dementierung eines jeden Repräsentanzmoments im Fortgang singulären Erzählens findet hier nicht statt. Vielmehr regiert eine vorgängige Theoretisierung272 die metonymische Achse bei Weerth. Ein jedes Ereignis erhält hier seinen Stellenwert nicht aus der kontigen Verkettung mit anderen Ereignissen heraus, sondern in seiner Funktion im Paradigma des merkantilen Kaufmannskalküls. Einen eigentümlichen Plotverlauf, ausgearbeitete Episoden, entwicklungsfähige Konflikte – das alles sucht man bei Weerth vergeblich. Die Figuren sind über ihre vorab angelegte Rolle (über den kulturellen Stereotyp) so weit definiert, dass es überflüssig wird, sie durch eine Geschichte mit spezifischen Attributen anzureichern.273 Typen begegnet man, nicht den Trägern großer Eigennamen. Vom tatkräftigen ›Helden‹ des Realismus (man denke an Spielhagen) und überhaupt von den episch breiten Unternehmungen eines Soll und Haben oder Handel und Wandel ist man hier ein gehöriges Stück entfernt. Der Unterschied zum Realismus betrifft also, wie gesagt, nicht nur die erzählerische ›Tendenz‹ der Darstellung. Es handelt sich um eine andersartige Machart: Der stabile sozioökonomische Entwurf, der die Darstellung überformt, erlaubt die Schrumpfung der metonymischen Ausgestaltung der Geschichte. Im Wissen um das exemplarische Potenzial wird die Metonymisierung auf das Prinzip einer relativ schlanken Synekdoche eingekürzt. Wenige grelle Striche genügen Weerth, um das Ganze einer Figur aufzurufen und sie als gesellschaftlich repräsentativ zu behaupten. Die Leistung, die in der Erfassung dieser Karikaturen gefordert ist, ist die einer Subsumtion unter die analytische These. Bedeutsam wird der fi ktive Handlungsträger mithin, wenn er sich als abstraktes Strukturelement innerhalb des theoretisch durchdrungenen sozialen Gefüges identifizieren lässt (als typischer Funktionsträger einer

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internationalen Kolloquiums im 150. Todesjahr des Autors 16.–18. Juni 2006 in der Lippischen Landesbibliothek Detmold, Bielefeld 2007, S. 233–250, hier: S. 246. Einschlägig für die ökonomische Reflexion Weerths ist seine Rede auf dem Freihandelskongress 1847 in Brüssel, in der er zum Wohle der Arbeiterschaft für den Abbau von Zollschranken und für internationale Marktöffnung plädiert. Vgl. Georg Weerth: Rede auf dem Freihandelskongreß in Brüssel [1847]. In: Georg Weerth, Sämtliche Werke, Bd.  2 (Prosa des Vormärz), Berlin 1956, S. 128–133. Die Stabilität der hier aufgerufenen Frames ist natürlich auch durch die Publikationssituation der Skizzen garantiert, die beim Erscheinen im Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung eng mit den umfangreichen publizistischen Stellungnahmen der Redakteure korrespondierten. Vgl. etwa zur Veränderung der kritischen Bestandsaufnahmen während der Revolutionsperiode Bernd Füllner: »Die Revolution hat mich um alle Heiterkeit gebracht«. Die 48er Revolution in den Texten Georg Weerths. In: Michael Vogt (Hg.), Georg Weerth und das Feuilleton der »Neuen Rheinischen Zeitung«. Kolloquium zum 175. Geburtstag am 14./15. Februar 1997 in Detmold, Bielefeld 1999, S. 87–103.

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kapitalistischen Marktwirtschaft). Das ist durchaus ein gänzlich anderes Konzept von Repräsentativität als das des Poetischen Realismus, dessen Zeichen zu Vergleichen mit konkreter Wirklichkeit aufrufen (der armen Effi Briest geht es ja wie Frau Müller!) und also tendenziell eine metaphorische Offenheit produzieren. Das Allgemeinmenschliche siedelt nicht in der Abstraktion, sondern es realisiert sich stets im anschaulich Fassbaren, in einer Serie von Ähnlichkeitsbeziehungen. Dem Realismus geht es um eine induktive Verallgemeinerbarkeit bei gleichzeitiger Wahrung der Singularität der geschilderten Sachverhalte. Weerth zielt demgegenüber auf eine deduktive Typisierung und rückt damit auf die Seite systemischer Schreibweisen, wie sie etwa bei Zola zu verfolgen sind.274 Die abstrakte Rolle dominiert die Figur bis in die Namensgebung hinein: Herr Preiss wird zum Inbegriff der auktorial gesetzten warenanalytischen Pointe: Es geht in der Warenwelt um Preise, nicht um Werte275; es geht um die Vermarktung des Uneigentlichen und Geldförmigen, nicht um eine Geschichte lebendiger Arbeit. Als es denn in den Skizzen aus dem deutschen Handelsleben tatsächlich historisch werden soll, die bürgerliche Revolution vor der Tür steht (und mit dem Bürgergardisten Lenz auch scheinbar in die Tür tritt), legt der Text an satirischer Schärfe zu und präsentiert statt potenzieller Konflikte ein hektisches Auf-der-Stelle-Treten der Protagonisten. Lenz ist auch in bundesdeutschen Farben eher um sein Privateinkommen bekümmert; Preiss begegnet der drohenden Rezession mit dem Handel von Schrapnells (was ihm später die Berufung ins Ministerium einträgt). Jeglicher Revolutionsverlauf bleibt ansonsten außen vor, wird lediglich indirekt ins Innere des Kontors (den permanenten Schauplatz der Erzählung) getragen. Worum es draußen geht, erläutert ein allegorischer Traum des Herrn Preiss, in dem ein Aufstand von Zahlen gegen das Regime der Nullen (der Aristokratie) stattfindet. Gleichsam eher implizit wird damit auch die Stabilität des in der Revolution infrage stehenden Systems angezeigt. Der Ökonom träumt von Verschiebungen im Zahlenregister: »In der Empörung der Zahlen gegen die Nullen seines Kapitalkontos sah er einzig und allein eine Gefährdung seiner kommerziellen Interessen«, übersetzt der Erzähler Preiss’ Traum.276 Ein gesellschaftlicher Durchbruch ist aus einer solchen Perspektive, die alles in eine Gewinn-und-Verlust-Rechnung nach privatwirtschaftlichen Maximen überführt, nicht zu erhoffen.

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Vgl. Abschnitt 4.1. dieser Arbeit. Vgl. zum Spannungsverhältnis von Preis(s) und Wert (Weerth) Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 141. Weerth: Humoristische Skizzen, S. 105.

4.3.2.2. Das Theater der Revolution – Karl Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte Weerths Satire läuft so letztlich auf eine Simulation von Bewegung hinaus: Geschichte scheint im Hintergrund der Szene auf, ohne dass sich im Gefüge der Figuren und ihrer Welt etwas ändert. Auch mit dieser Darstellung steht Weerth nahe bei Marx und dessen Schilderung der 1848er Periode.277 Als »Farce« hat Marx bekanntlich in seinem sozialanalytischen Klassiker Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) die Februarrevolution in Frankreich aufgefasst.278 Wie Napoleon Bonaparte nach der Revolution 1789, so ergreift Louis Bonaparte alias Napoleon III. in den Tagen der zweiten Republik 1848 bis 1852 die Alleinherrschaft. Diese Wiederholung eines napoleonischen Staatsstreichs, vor allem aber die Art, wie Louis Bonaparte während seiner Machtergreifung die abgelegte Formensprache der früheren Epoche bemüht, macht das Ereignis in Marx’ Deutung zur ›Farce‹.279 Mit dem ganzen lexikalischen Inventar der Theatralik bzw. des Spiels im Allgemeinen metaphorisiert Marx das Verhältnis von gesellschaftlicher Erscheinung und zugrunde liegender materieller Dynamik: Masken, Schleier, Falschspiel, Kostümierung, Rolle, Fassade, Bühne, Komödie, Hanswurst.280 Es ist ein buntes gesellschaftliches Panoptikum, das hier im Anschluss an die Februarrevolution 1848 entworfen wird und das seine zentralen Szenen in den karnevalesken Auftritten281 des zunächst demokratisch legitimierten Präsidenten und späteren Usurpators Louis Bonaparte besitzt. Marx legt in ihm eine möglichst vielgestaltig und chaotisch anmutende Oberflächenfolie an, gegen die sich die tiefenanalytische Optik des materialistischen Historiographen zu bewähren hat:

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Dazu auch Raphael Hörmann: »Ja, vorübergehend war die große kölnische Domfarce«. Marx’ und Weerths Poetik der Revolution in ihren Satiren 1848/49. In: Michael Vogt (Hg.), Georg Weerth und die Satire im Vormärz. Referate des internationalen Kolloquiums im 150. Todesjahr des Autors 16.–18. Juni 2006 in der Lippischen Landesbibliothek Detmold, Bielefeld 2007, S.121–134. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 115. Über die Gleichnisse in dieser Schrift siehe auch Walter Euchner: Die Funktion der Verbildlichung in Politik und Wissenschaft. Politik und politisches Denken in den Imaginationen von Wissenschaft und Kunst, Münster 2008, S. 94–96. Zum Stellenwert der Schrift im theoretischen Kontext der Bonapartismustheorie siehe Wolfgang Wippermann: Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983. Allgemein zur Bonapartismustheorie siehe Dieter Groh: Cäsarismus, Napoleonismus, Bonapartismus, Führer, Chef, Imperialismus [Artikel]. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 726–771, besonders: S. 758–761. Vgl. zur Produktivität dieser Theatralitäts-Metaphorik auch Terrell Carver: Imagery/ Writing, Imagination/Politics: Reading Marx through the »Eighteenth Brumaire«. In: Mark Cowling/James Martin (Hg.), Marx’s »Eighteenth Brumaire«. (Post)modern Interpretations, London, Sterling 2002, S. 113–128. Vgl. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 160f.

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Ich weise […] nach, wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichten.282

Nach einem »Prolog der Revolution«, der die wirre Gemengelage und das Provisorische der Februarperiode 1848 umreißt283, streift Marx kurz das eigentliche, auf der Höhe der historischen Widersprüche ablaufende Drama der Periode: die (bereits im Manifest als gesetzmäßig prognostizierte) Aufspaltung der revolutionären Bewegung in Bourgeoisie und Proletariat. Aber das Ausscheiden des Proletariats aus dem Ringen um Macht bleibt unpathetisch, solang es sich als Klasse noch nicht formiert und mit eigenständigen Zielen versehen hat. Mit der Niederlage in der Juni-Insurrektion »tritt das Proletariat in den Hintergrund der revolutionären Bühne«.284 Anschließend forciert Marx die eigentliche Farce, wenn er die Diversifizierung und Zersplitterung der bourgeoisen Volksvertretung bei der Konstituierung der Republik nachvollzieht. Den gesamten Verlauf samt Ausscheidung kleinerer bürgerlicher Interessenträger bis zur parlamentarischen Machtergreifung der Ordnungspartei, die schließlich Bonaparte unterliegen wird, lässt Marx in ein Slapstick-Szenario (eine Dominoreihe) münden: Die proletarische Partei erscheint als Anhang der kleinbürgerlich-demokratischen. Sie wird von ihr verraten und fallengelassen am 16. April, am 15. Mai und in den Junitagen. Die demokratische Partei ihrerseits lehnt sich auf die Schultern der bourgeoisrepublikanischen. Die Bourgeois-Republikaner glauben kaum fest zu stehn, als sie den lästigen Kameraden abschütteln und sich selbst auf die Schultern der Ordnungspartei stützen. Die Ordnungspartei zieht ihre Schultern ein, läßt die Bourgeois-Republikaner purzeln und wirft sich auf die Schultern der bewaffneten Gewalt. Sie glaubt noch auf ihren Schultern zu sitzen, als sie an einem schönen Morgen bemerkt, daß sich die Schultern in Bajonette verwandelt haben.285

Dem Blick aus der Halbdistanz (Einzelargumente der Debatten werden zugunsten größerer Gruppenbewegungen eingekürzt) bieten sich die tagespolitischen Streitigkeiten als Tohuwabohu voller Kippeffekte und Paradoxa dar (»das bunteste Gemisch schreiender Widersprüche: Konstitutionelle, die offen gegen die Konstitution konspirieren, Revolutionäre, die eingestandenermaßen konstitutionell sind […], Helden ohne Heldentaten«286 etc.). Aber in dem Wirrnisszenario steckt Methode. Marx 282 283

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Karl Marx: Vorwort [zur Zweiten Ausgabe (1869) »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«]. In: MEW, Bd. 8, S. 559–560, hier: S. 560. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 121: »In keiner Periode fi nden wir daher ein bunteres Gemisch von überfliegenden Phrasen und tatsächlicher Unsicherheit und Unbeholfenheit, von enthusiastischerem Neuerungsstreben und von gründlicherer Herrschaft der alten Routine, von mehr scheinbarer Harmonie der ganzen Gesellschaft und von tieferer Entfremdung ihrer Elemente«, heißt es über den »Prolog« der Revolution zwischen Februar und Anfang Mai 1848. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 122. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 135. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 135f.

resümiert die Vorgeschichte des Machtkampfes zwischen Großbourgeoisie und Bonaparte: Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist, so ist es dieser. Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, als Schatten, denen der Körper abhanden gekommen ist.287

Der Wechsel vom heiteren ›bunten‹ Tableau zum, nunmehr eine Stufe abstrakter angeschaut, ›grau in grau‹ des ›Geschichtsausschnitts‹ bereitet die Enthüllungsvolte vor (der Grauschleier muss fort!). Wenn Marx die Menschen und Ereignisse der Februarrevolution mit Chamisso als ›umgekehrte Schlemihle‹ anspricht, so weist er ihnen metaphorisch jenen Stellenwert zu, den auch das kapitalistische Gut im Warenfetischismus annimmt. Sie erscheinen als Hülle, deren eigentlicher Inhalt verborgen ist. Der Inhalt aber, der als Kausalursache aufzufassen ist, ganz analog dem Verhältnis von Körper und Schatten, bietet sich erst dem materialistisch geschulten Auge dar: Vor einer nähern Betrachtung der Situation und der Parteien verschwindet indes dieser oberflächliche Schein, der den Klassenkampf und die eigentümlich Physiognomie dieser Periode verschleiert.288

Mit dieser Hinwendung zum ›Klassenkampf‹ untersucht Marx zunächst den Widerspruch innerhalb der royalistischen Fraktionen der ab Juni 1849 im Parlament herrschenden Ordnungspartei. Ihre innere Uneinigkeit gründet letztlich auf der »Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum«, zwischen städtischem und ländlichem Großbesitz.289 Nach außen hin aber erweist sie ihre einheitlichen Klasseninteressen, indem sie vom liberalen, demokratischen Lager bis hin zu den Arbeitervertretungen jedwede Opposition und jedwede reformatorische Gesetzesinitiative als ›sozialistisch‹ brandmarkt. Es war dies nicht bloße Redeform, Mode, Parteitaktik. Die Bourgeoisie hatte die richtige Einsicht, daß alle Waffen, die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitze gegen sie selbst kehrten, daß alle Bildungsmittel, die sie erzeugt, gegen ihre eigne Zivilisation rebellierten, daß alle Götter, die sie geschaffen, von ihr abgefallen waren.290

Diese Paraphrase der Kerneinsicht des Kommunistischen Manifests, mit der die Ironie der Klassenherrschaft angesprochen wird, reißt en passant auch den proletarischen Bildungsprozess an. In der offenen Negation und Unterdrückung bekundet sich erstmals die Einheit der proletarischen Masse, und zwar im Auge ihrer Gegner: Im Angriff auf die »sogenannten bürgerlichen Freiheiten« erkennt die Bourgeoisie »mit Recht das Geheimnis des Sozialismus, dessen Sinn und Tendenz sie richtiger beurteilt, als der sogenannte Sozialismus sich selbst zu beurteilen weiß, der daher nicht

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Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 136. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 138. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 139. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 153.

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begreifen kann, wie die Bourgeoisie sich verstockt gegen ihn verschließt«.291 Dass diese tagespolitische Opposition noch nicht den Status des historischen Antagonismus (und also die echte revolutionäre Würde) erhält, liegt an der Zersplitterung der bürgerlichen Herrschaft: Solange die Herrschaft der Bourgeoisklasse sich nicht vollständig organisiert, nicht ihren reinen politischen Ausdruck gewonnen hatte, konnte auch der Gegensatz der andern Klassen nicht rein hervortreten, und wo er hervortrat, nicht die gefährliche Wendung nehmen, die jeden Kampf gegen die Staatsgewalt in einen Kampf gegen das Kapital verwandelt.292

Dieser Lehrsatz hält nebenher auch eine Antwort für die in der Marx-Forschung ausgiebig diskutierte Frage bereit, weshalb der Achtzehnte Brumaire ein wesentlich differenzierteres Gesellschaftsbild entwirft, als es das orthodoxe Zwei-Klassen-Schema aus dem Manifest vorsieht.293 Die Homogenisierung der gesellschaftlichen Gruppen in die beiden geschichtsträchtigen Lager ›Bourgeoisie‹ und ›Proletariat‹ wird als ausstehend angesprochen. Der Achtzehnte Brumaire kalkuliert historische Verzögerungen ein gegenüber der vergleichsweise optimistischen Prognostik des Manifests. Bis jene traditionsfreie ›zukünftige‹ Bewegung der Enteigneten und das allgemeine ›Expropriiert die Expropriateure!‹ einsetzt, regiert das ›bunte Gemenge‹, befindet sich Geschichte in der Pseudobewegtheit der Farce, die sich allein aus Vergangenheit speist. In diese unentschiedene Klassenkampflage hinein dringt also der Staatsstreich des Napoleon-Neffen Louis Bonaparte. Gestützt vom (jüdischen) Finanzkapital erscheint er bei Marx durchweg als Hanswurst, als karnevalesker Glücksritter mit einem heterogenen Gefolge von Lumpenproletariern294 (der nach seinem Wahlerfolg von Marx so genannten ›Gesellschaft vom 10. Dezember‹), als Freund von Orgien und äußerlichen Auftritten (in seiner Farce imitiert er frühere Putschisten und Re-

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Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 153. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 153. Siehe zu dieser Problemstellung Mark Cowling/James Martin: Introduction. In: Mark Cowling/James Martin (Hg.), Marx’s »Eighteenth Brumaire«. (Post)modern Interpretations, London, Sterling 2002, S.  1–15, hier: S.  7–10; Wippermann: Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, S.  50–61; Iring Fetscher: Karl Marx, Freiburg, Basel, Wien 1999, S. 90–94. Vgl. zur metaphorischen Konstruktion des ›Lumpenproletariats‹ – jener Ansammlung von Bohemiens und Unterschichtengruppen, die sich nicht in die Klassenkriterien des Proletariats (hard-working, selbstbewusst, progressiv) einfügen – Robert L. Bussard: The ›Dangerous Class‹ of Marx and Engels. The Rise of the Idea of Lumpenproletariat. In: History of European Ideas, Bd.  8 (1987) Nr. 6, S.  675–692. Kulturwissenschaft lich kontextualisiert Peter Stallybrass das Marx’sche Konzept des ›Lumpenproletariats‹ im zeitgenössischen Diskurs über Pauper und Proletarier und weist ihm einen zentralen Stellenwert für die Analyse politischer Artikulation von heterogenen sozialen Phänomenen zu. Vgl. Peter Stallybrass: Marx and Heterogeneity: Th inking the Lumpenproletariat. In: Representations, Nr. 31 (1990), S. 69–95.

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genten). Nicht eigenes taktisches Geschick, sondern die Unfähigkeit der parlamentarischen Bourgeoisie (der Ordnungspartei) spült ihn hoch. So stellt es sich auf der Oberfläche dar. Tiefenanalytisch aber erkennt Marx in Bonaparte den (uneigentlichen) Repräsentanten der konservativsten französischen Volksgruppe der Periode: der Parzellenbauern. Isoliert durch die schlechten Kommunikationswege und darob unfähig, ein homogenes Selbstverständnis als Klasse auszubilden295, sucht diese Gruppe in Bonaparte den Garanten ihrer materiellen Verhältnisse, ihres Kleinsteigentums. Die Revolution von 1789 hatte sie aus der Leibeigenschaft befreit, Napoleon I. ihre neu geschaffenen Eigentumsverhältnisse konsolidiert. In der Wahl vom 10. Dezember 1848 erneuern sie daher ihre Loyalität zu einem napoleonischen Führer und heben Bonaparte, als gewissermaßen mythischen Wiedergänger, in die Regentschaft. Dass dieser Wahl etwas deutlich Illusionäres anhaftet, macht Marx in seiner Abrundung der Revolutionsfarce (›Restaurationsparodie‹) deutlich. Mit dem ersten Napoleon bestätigte sich die historische Lehre noch in Reinform: »Es sind eben die materiellen Bedingungen, die den französischen Feudalbauer zum Parzellenbauer und Napoleon zum Kaiser machten.«296 In Louis Bonaparte aber treffen sie auf einen Pseudorepräsentanten (einen ›Taschenspieler‹), der vollständig den Kapitalinteressen verpflichtet ist und der eine Bürokratie übernimmt, deren Steuereinkommen gerade am Lebensnerv des kleinen Grundbesitzes zapft. Die Form hat sich hier vom materiellen Inhalt abgelöst. Bonaparte, so hatte bereits Hayden White nachgewiesen297, steht damit unausgesprochen in einem Strukturzusammenhang, den Marx später in der Fetischismustheorie ausarbeiten wird. Die Symbolsprache des Politischen, die ihn trägt298, bleibt ohne pragmatische Relevanz für die Bevölkerungsgruppen, an die sie adressiert ist. Sie konstruiert imaginäre Bilder des Politischen, keine handlungsrelevante Interessenvertretung. Das Metonymische geht bei ihm vollends in der Metaphorik auf: etwa in Ähnlichkeitsbeziehungen zur Herrscherfigur Napoleons (Marx durchstößt die metonymische Relation hier ganz ausdrücklich, wenn er witzelt, man solle den Verwandtschaftsbeziehungen zwischen beiden nicht zu genau nachfragen299). Diese neue Form politischer Semiotik hatte Marx bereits in der vorhergehenden Analyse der Ereignisse in Die Klassenkämpfe in Frankreich angedeutet, wo er polemisiert, »daß der

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Vgl. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 198f. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 200. Vgl. White: Metahistory, S. 420. Der starke Akzent auf der Symbolik des Politischen in Marx’ Schrift hat neuerdings wieder frische Forschungsinteressen geweckt. Vgl. dazu den Sammelband von Cowling/Martin Marx’s »Eighteenth Brumaire«, insbesondere den Aufsatz von Bob Jessop: The Political Scene and the Politics of Representation: Periodising Class Struggle and the State in the »Eighteenth Brumaire«. In: Mark Cowling/James Martin (Hg.), Marx’s »Eighteenth Brumaire«. (Post)modern Interpretations, London, Sterling 2002, S. 179–194. »La recherche de la paternité est interdite.« Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 199.

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einfältigste Mann Frankreichs die vielfältigste Bedeutung erhielt«.300 Mit der Dekontextualisierung gewinnt das Zeichen Bonaparte nahezu universelle Einsetzbarkeit: »Eben weil er nichts war, konnte er alles bedeuten, nur nicht sich selbst.«301 Er verkörpert, anders ausgedrückt, mithin die Funktionsweise des Geldes. In dem Maße, in dem dieses seine Qualität als Stoff einbüßt, kann es zum Äquivalenzzeichen werden. Nur das Gold, das nicht mehr auf Dächern verarbeitet wird, taugt zum Münzträger und Wertmesser. Analog dazu ist nur der Politiker, der sich von nachprüfbaren Haltungen und Programmen reinigt, Ähnlichkeitszeichen für vieles und Desiderat für viele. Das ist die Logik fetischisierter Wirklichkeitserfahrung. Nicht von ungefähr beendet Marx seinen Ausblick auf die historisch notwendige Auflösung des Parzelleneigentums mit einschlägiger Bildlichkeit: Die bürgerliche Ordnung, die im Anfange des Jahrhunderts den Staat als Schildwache vor die neuentstandene Parzelle stellte und sie mit Lorbeeren düngte, ist zum Vampyr geworden, der ihr Herzblut und Hirnmark aussaugt und sie in den Alchimistenkessel des Kapitals wirft.302

Auch das ist die Ironie der Geschichte. Diejenigen, die sich dem Über-Fetisch Bonaparte an den Hals geworfen haben, unterliegen der Auflösungsdynamik, die ihn trägt. Mit der Vampirismus-Metapher ruft Marx noch einmal die Logik des Kapitals auf, das Bonapartes Maskerade trägt und das ihn letztlich überwinden wird, insofern das Kapital über die unmittelbaren Tagesgeschicke hinaus den eigentlichen Motor des Geschichtsprozesses abgibt. Die Prognose, dass das Parzellenbauerntum verelendet, in die Städte auswandert und sich schließlich mit dem Proletariat verbündet (in Anlehnung an die Konzentrationsszenarien, die schon das Manifest entworfen hat), fügt sich in die Moral dieser Revolutionssatire Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: Nur aus der jeweiligen Stellung zum Kapital heraus werden politische Verhältnisse lesbar (was voraussetzt, dass die Parteien sich homogenisieren und in eine klar erkennbare Zwei-Parteien-Opposition treten); und nur in der Erkenntnis dieser Stellung kann sich eine tragfähige revolutionäre Kraft formieren. Die Enthüllungsgeschichte, die Marx auch hier durchweg ironisch gestimmt erzählt, vermag die sittlichen Argumente der Tagesdebatte und die ordnungspolitischen Anstrengungen insoweit auszublenden, als sie die jeweiligen Kapitalinteressen aufspürt. Ihre Optik ist analytisch abstrakter eingestellt, als man es von der realistischen deutschen Nationalökonomie gewohnt ist; ihr Ton ist polemischer. Die Kenntnis des gesellschaftlichen Inhalts (Stellung im Kapitalverhältnis) befreit die Darstellung zu einer schillernden, theatralischen Oberflächengestaltung, die historische Abläufe durchweg äußerlich und nahezu vollständig indirekt rekonstruiert. Widersprüche statt Ausgleichsbestrebungen stehen hierbei im Vordergrund, Kon-

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Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 [1850]. In: MEW, Bd. 7, Berlin 1969, S. 9–107, hier: S. 45. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich, S. 45. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 201.

frontation und Eskalation statt sozialer Befriedung. Der Ruf nach »Ordnung« wird dabei als Programm verschiedener postrevolutionärer Parteien, insbesondere derjenigen Bonapartes, am entschiedensten karikiert.303 Vom ideellen Selbstverständnis von Handlungsträgern ist, wo diese keinen Klassenbegriff zu bilden vermögen, nur untergeordnet bzw. hämisch die Rede; der Tenor der Darstellung wird durch die Zuordnung materieller Interessen zu den jeweiligen Koalitionen bestimmt. Mit einer Geschichtsschreibung, wie sie die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie bezweckt, hat diese elanvolle, streitfreudige Poetik, wie zu sehen sein wird, wenig zu tun. 4.3.3.

Wachsende Attraktion – Die Marx-Rezeption zwischen Älterer und Jüngerer Historischer Schule der Nationalökonomie

Gemessen an der geistesgeschichtlichen Bedeutung, die Marx im 20. Jahrhundert erlangt hat, ist der Wirkungsgrad seiner Schriften zu Lebzeiten gering. In einem restaurativen gesellschaft lichen Klima nach 1848, das bis in die Periode der Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 hinein von Ressentiments gegen die frühe Sozialdemokratie und ihre Theoretiker geprägt ist, spielt sich die öffentliche wie fachwissenschaft liche Auseinandersetzung mit Marx lange allenfalls marginal ab.304 Die Historische Schule der Nationalökonomie bezieht in ihrer Gründungsphase ihre Impulse zwar ähnlich wie Marx aus den ökonomischen Schriften der englischen und französischen Klassiker (von Smith bis Ricardo) sowie von den historischen und rechtswissenschaft lichen Schulen im Anschluss an Hegel. Nichtsdestotrotz verbleiben potenzielle Debatten beiderseits auf Fußnotengröße. Marx exzerpiert umfangreich Roschers Grundlagen der Nationalökonomie im bislang unveröffentlichten Exzerptheft VII (London 1858– 63).305 Übrig bleiben aus dieser Beschäftigung dann einige von Häme und Spott geprägte Anmerkungen im Kapital, die allgemein definitorische und theoretische Unzulänglichkeiten (»Professoralfaselei«306, »Kinderbegriffe«307) ausmachen wollen, in dem, was »Herr Wilhelm Thukydides Roscher«308 mit »wahrhaft Gottschedscher

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Vgl. Marx: Der achtzehnte Brumaire, S. 164f. Vgl. Peter Goller: Marx und Engels in der bürgerlichen Ideologie und in der sozialistischen Theorie. Gesammelte Studien, Wien 2007, S. 73–76. Vgl. Marion Zimmermann: Einige Gedanken zu Marx’ Exzerpt aus Roschers »Nationalökonomie« im Exzerptheft VII (1858). In: Arbeitsblätter zur Marx-Engels-Forschung, Nr. 18. Halle 1986, S. 85–95. Aufgrund seines umfangreichen Anmerkungsapparats stellt Roscher für Marx einen guten Primärliteraturspeicher dar und gibt ihm ansonsten ex negativo Anlass zur weiteren Verständigung über die Ricardo’sche Werttheorie. Wesentliche Erkenntnisse über die publizierten Invektiven hinaus (z.B. Aussagen zur historischen Methode Roschers) hält das Exzerpt nicht bereit. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 107, Fn. 49. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 174, Fn. 22. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 231, Fn. 30. Marx spielt hier auf die Vorrede zur ersten

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Genialität«309 vorlegt. Roschers Lehre vom Unternehmergewinn (die die Mehrwerterzeugung letztlich auf innovatorische Kompetenz und Risikobereitschaft des Arbeitgebers zurückführt) wird herausgehoben und mit Verweis auf den – in Marx’ Augen – geringen Aufwand der Arbeitsorganisation kritisiert.310 Die übrigen Volten, egal ob sie sich gegen den Geld- oder den Tauschbegriff oder die Klassifi kation des Proletariers richten, stellen den Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland relativ unspezifisch in eine Linie mit dem Gros der etablierten ›bürgerlichen Ökonomie‹. Als Vertreter des deutschen Hochschulestablishments dient Roscher als Popanz für Marx’ Polemik. Als Angriffspunkt einer inhaltlichen Kritik ist er für ihn auswechselbar. Allenfalls für die Publikationsstrategie scheint Roscher indirekt Anregungen gegeben zu haben, wenn Marx in einem Brief an Engels über seine geplante Fortsetzung der Kritik der politischen Ökonomie (die letztlich eigenständig als Das Kapital erscheint) schreibt: »Ich dehne diesen Band mehr aus, da die deutschen Hunde den Wert der Bücher nach dem Kubikinhalt schätzen.«311 In der Gegenrichtung verhält es sich nicht anders. Marx taucht in Roschers Grundlagen eher en passant und dann bevorzugt als Epigone der Ricardo’schen Arbeitswerttheorie auf. Für die stärker subjektivistische und also vom Gebrauchswert her denkende Historische Schule312 stellt sich der Objektivismus von Marx, »dieses geistreichen, aber wenig scharfsinnigen Mannes«313, als überholte Position dar.314 In Fragen der Verelendungstheorie findet Ferdinand Lassalle mit seinem ›ehernen Lohngesetz‹ noch ausführlicher Erwähnung als Marx mit seinen entsprechenden Erörterungen zur Abnahme der Reallöhne. In den Abschnitten über »Socialismus und Communismus« (§§ 77–80) und »Gütergemeinschaft« (§§ 81–84) fehlen Verweise auf Marx völlig. Erst in der Jüngeren Historischen Schule, im Anschluss an Gustav Schmoller und die ›Kathedersozialisten‹ des Vereins für Socialpolitik (ab 1872), findet eine vergleichsweise umfangreichere Positionierung statt, insbesondere gegen die sozialen und historiographischen Gesichtspunkte der Marx’schen Theorie. Für die stärker liberal eingestellte Ältere Historische Schule um Roscher ist die Marx’sche Gesellschaftstheorie bereits in ihren ökonomischen Grundannahmen (objektive Werttheorie, Kritik des Privateigentums, Verelendungstheorie) obsolet – zumindest dem ausdrücklichen Bekunden nach. Tatsächlich finden sich schon hier Theorieelemente, die

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Auflage der Grundlagen an, in der Roscher Thukydides als »Lehrer« und Vorbild nennt. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, S. VIII. Marx: Das Kapital. Erster Band, S.  231, Fn. 30. Gottsched dient in diesem ironischen Seitenhieb anscheinend als Stereotyp für innovationsfreie Gelehrsamkeit. Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 385, Fn. 75. Karl Marx: [Brief an Engels vom 18. Juni 1862]. In: MEW, Bd. 30, Berlin 1964, S. 248–249, hier: S. 248. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.3.3.1. dieser Arbeit. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 21, S. 50, Fn. 6. Vgl. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 48, S. 117, Fn. 6; § 107, S. 276, Fn. 4.

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eine Annäherung an die sozialistische Gesellschaftstheorie ermöglichen. So lässt es ein Blick in die umfangreichste und für den kritischen Standpunkt der Historischen Schule ausschlaggebende Diskussion bei Bruno Hildebrand erkennen. 4.3.3.1. Wer schätzt den Wert? Bruno Hildebrand liest Friedrich Engels Hildebrand widmet sich der sozialistischen Theorie in einem der umfangreichsten Kapitel seines Hauptwerks Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft (1848). Gegenstand seiner Kritik des deutschen Sozialismus ist allerdings nicht Karl Marx, sondern Friedrich Engels, »der begabteste und kenntnisreichste unter allen deutschen Sozialschriftstellern«.315 Engels hatte kurz zuvor mit seiner statistisch-deskriptiven Bestandsaufnahme Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) eines der auf lange Sicht hin populärsten Werke der sozialistischen Bewegung verfasst, das »kommunistische Evangelium der Tatsachen«.316 Bevor sich Hildebrand mit diesem empirischen Werk auseinander setzt, schaltet er eine kurze und theoretisch durchaus ertragreichere Lektüre einer programmatischen Schrift von Engels vor: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844), veröffentlicht in Arnold Ruges und Karl Marx’ Deutsch-Französischen Jahrbüchern. Sie zählt zu den Gründungsurkunden des Marxismus, insofern sie der Arbeitsfreundschaft zwischen Marx und Engels den Weg ebnete. Die Umrisse von Engels sind eine knappe, mit zorniger Polemik vorgetragene Kritik der klassischen Ökonomie von Smith und Ricardo bis Say. Begriffsverwirrungen sollen darin vorgeführt werden, eine Ökonomie ›auf dem Kopf‹, schlingernd zwischen unklaren Tausch- und Gebrauchswertdefinitionen. Ziel der Kritik ist dabei nicht die Verbesserung, sondern die Verabschiedung der kanonischen Theorien. Denn sie gelten in ihren ›Verwirrungen‹ und Paradoxien als Symptome der unlösbaren Widersprüche in einer Wirtschaft, die nach dem Eigentumsprinzip verfährt. Es ist, wie Engels selbst etwas konfus317, doch mit Redundanz und Emphase nachzuweisen sucht, eine Wirtschaft voll »Betrug«, »Habsucht« und »Neid«; ihre Begriffe beziehe sie durchweg aus der Logik des Handels, der eigentlich eine »Brüderschaft von Dieben« sei.318 Engels verdeutlicht diesen Punkt an dem Widerstreit der Ansichten über den, wie er es nennt, ›realen‹ Wert (als Gegensatz zum Tauschwert/Preis). Die eine Schule um Ricardo führe diesen ›realen Wert‹ von Gütern auf die inkorporierten Produktionskosten zurück, müsse aber zugestehen, dass unbrauchbare Produkte keine Käufer finden (womit sie wieder auf die Marktfähigkeit als Kriterium des reellen Wertes rekurriere). Die zweite Schule nach Say stütze sich demgegenüber auf die Brauchbar-

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Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 33, S. 125. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 34, S. 130. Vgl. Werner Sombart: Friedrich Engels (1820–1895). Ein Blatt zur Entwicklungsgeschichte des Socialismus, Berlin 1895, S. 6. Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie [1844]. In: MEW, Bd. 1, Berlin 1958, S. 499–524, hier: S. 503f.

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keit einer Sache. Aber die »Brauchbarkeit einer Sache ist etwas rein Subjektives, gar nicht absolut zu Entscheidendes«, so Engels319; sie »hängt vom Zufall, von der Mode, von der Laune der Reichen ab«320 und werde dementsprechend von den Ökonomen letztlich wieder auf die Kaufentscheidungen im Konkurrenzverhältnis zurückgeführt. Vom Markt ist kein Entkommen. Wie Engels die Theorie der Brauchbarkeit zur Bestimmung des ›realen Wertes‹ diskutiert, lässt implizit auf seinen Standpunkt schließen. »Der Wert ist das Verhältnis der Produktionskosten zur Brauchbarkeit«, postuliert Engels.321 Im Fokus steht dabei die Produktionsentscheidung: Nur insofern die Brauchbarkeit einer Sache ihre Produktionskosten aufwiegt, besitzt ihre Herstellung einen Wert. Aber unter den gegenwärtigen Marktbedingungen wird auch diese Wertbestimmung problematisch: Wer befindet über diese Brauchbarkeit der Sache? Engels’ Argumentation begnügt sich mit negativen Hinweisen, die abermals in die Kritik des Tauschs münden: Die Produktionskosten zweier Dinge gleichgesetzt, wird die Brauchbarkeit das entscheidende Moment sein, um ihren vergleichungsmäßigen Wert zu bestimmen. Diese Basis ist die einzig gerechte Basis des Tausches. Geht man aber von derselben aus, wer soll über die Brauchbarkeit der Sache entscheiden? Die bloße Meinung der Beteiligten? So wird jedenfalls einer betrogen. Oder eine auf die inhärente Brauchbarkeit der Sache unabhängig von den beteiligten Parteien gegründete und ihnen nicht einleuchtende Bestimmung? So kann der Tausch nur durch Zwang zu Stande kommen, und jeder hält sich für betrogen. Man kann diesen Gegensatz zwischen der wirklichen inhärenten Brauchbarkeit der Sache und zwischen der Bestimmung dieser Brauchbarkeit, zwischen der Bestimmung der Brauchbarkeit und der Freiheit der Tauschenden nicht aufheben, ohne das Privateigentum aufzuheben; und sobald dies aufgehoben ist, kann von einem Tausch, wie er jetzt existiert, nicht mehr die Rede sein. Die praktische Anwendung des Wertbegriffs wird sich dann immer mehr auf die Entscheidung über die Produktion beschränken, und da ist seine eigentliche Sphäre.322

Die Überwindung des Privateigentums und mithin der gegenwärtigen Tauschökonomie führt auf die ›eigentliche Sphäre‹ des Wertes, die Produktion. Erst Marx wird, wie gesehen, die Theorie der ›gesellschaftlich notwendigen‹ Produktionsvolumen für die Werttheorie positiv ausarbeiten. Engels belässt es in seinen Umrissen bei der negativen Darstellung. Aber die Art und Weise, wie er das Wertproblem aufwirft, ist bezeichnend für die sozialistische Theorie. Seine Kritik der ›bürgerlichen Theorie‹ ist getragen vom Begriff eines festen, von kontingenten Bestimmungen unabhängigen ›realen‹ Wertes. Schwankende Preise bezeugen in dieser Sichtweise die Unfähigkeit des Marktes, stabile Äquivalente für den inkorporierten Wert eines Gutes zu bilden. Was wertvoll ist, muss auf dem Markt nicht teuer werden und umgekehrt. Luxusgü-

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Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 506. Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 508. Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 507. Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 507.

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ter erzielen höhere Preise als Subsistenzmittel. Eben das war ja der Inhalt des klassischen Wertparadoxons, das Engels in seiner Schrift umspielt. Hier setzt Hildebrand seine Gegendarstellung an. Die klassische Theorie habe keineswegs einen festen, vom Markt unabhängigen Wert der Güter gesucht, sondern einen überindividuellen Maßstab des Gütervergleichs, korrigiert er Engels. Und im selben Atemzug wird auch der Objektivismus des Engels’schen Standpunkts abgelehnt: »Die Brauchbarkeit sowohl konkreter Quantitäten von Gütern, als auch der ganzen Gütergattungen bleibt immer schwankend, je nach den Bedürfnissen, den moralischen Eigenschaften und den Fähigkeiten der Menschen, sie zu benutzen, und ist stets relativ.«323 Von einem quasi absoluten Güterwert, der sich von Präferenzen und entsprechenden Kaufentscheidungen unabhängig weiß, könne in der Ökonomie überhaupt keine Rede sein. Hildebrand rückt in diesen Formulierungen nahe an die subjektive Werttheorie, mit der Carl Menger der neoklassischen Ökonomie zum Durchbruch verhilft. Und wie mehrfach bemerkt, ist es einzig die starke Reserve gegen den Individualismus der englischen Ökonomie von Smith, der die historistische deutsche Nationalökonomie von der eigenständigen Entwicklung dieser Theorie abhält. Subjektiver Wert wird hier immer überindividuell, kulturalistisch aufgefasst. Es gilt, »daß der Wert immer eine Beziehung der Sache zum Menschen und zur menschlichen Gesellschaft ist und von der menschlichen Schätzung abhängt«.324 Wichtig ist dabei der Akzent auf der Gesellschaft im Ganzen. Mit diesem Akzent aber wird für Hildebrand, gewissermaßen durch die Hintertür, gerade dasselbe Problem aufgeworfen wie für Engels. Wie lässt sich die Schätzung des Wertes mit einem gewissermaßen substanziellen Gesellschaftsbegriff (man erinnere sich: die Gesellschaft wird hier als ›organische‹ Ganzheit und nicht als Aggregat von Einzelwillen aufgefasst) praktikabel verbinden? Was Hildebrand gegen Engels vorbringt, markiert, gegen den Strich gelesen, auch den blinden Fleck der kulturalistischen Werttheorie der Historischen Schule: [A]uch unter der Herrschaft der Gütergemeinschaft würden die Produkte der Arbeit und das Maß von Genußmitteln, welche dem einzelnen zugeteilt werden, einer Schätzung unterliegen müssen. Es würde, sobald nicht vollständige Anarchie herrschen soll, irgendeine feste Formel für den Umsatz der individuellen Arbeitsbeiträge zum Gemeingut gegen die dem Individuum zufallenden Genußanteile gelten müssen. Richtete sich nun diese Schätzung nach dem Verhältnis der Produktionskosten zum Gebrauchswert, so würde auch dann eine Schätzung des Gebrauchswertes aller Dinge notwendig, und diese könnte entweder von dem beteiligten Individuum oder von der Gemeinde ausgehen. Wäre ersteres der Fall, so würde nach Engelsscher Logik die Gemeinde betrogen; wäre letzteres der Fall, das Individuum; und sollte endlich eine dritte Macht den Gebrauchswert bestimmen, beide. Also dieselben Schwierigkeiten und Widersprüche wie in der gegenwärtigen Wissenschaft.325

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Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 36, S. 136. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 36, S. 136. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 36, S. 136f.

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Die Unmöglichkeit, den Wert zentral einzuschätzen, betrifft nicht nur den von Engels angelegten Begriff eines ›realen‹ Wertes. Er betrifft auch den antiindividualistischen Wertbegriff der Historischen Schule. Letztere umkreist in ähnlicher Weise einen ›gesellschaftlichen‹ Standpunkt, der eine ›gerechte‹, d.h. nicht ausschließlich aus Marktfunktionen stammende, Güterverteilung einsehbar macht. Aber sie hält diesen Standpunkt bereits für prekär. Die unparteiische Aufsicht gilt ihr zwar als ethisch wünschenswert, an der praktischen Durchführbarkeit aber regen sich Zweifel. In Zeiten der Marktöffnung, in denen Deutschland Anschluss an den Welthandel herstellt, ist staatliche Einflussnahme nicht das Gebot der Stunde. Wirtschaftspolitisch bescheidet sich denn auch gerade die Ältere Schule mit einem nationalliberalen Credo, das gesellschaftlichen Ausgleich zwar jederzeit anmahnt, tatsächlich aber gegenüber einem staatlichen Interventionismus zurückhaltend bleibt. In der positiven wissenschaftlichen Forschung wird demgegenüber beständig der kulturelle Wert der Güter mitreflektiert. Aus (historischen) Statistiken (z.B. Preisstatistiken, Bevölkerungsstatistiken), deskriptiven und normativen Kulturzeugnissen (z.B. Rechtsurkunden, Luxusdebatten) extrahiert man dann die Wertbegriffe einzelner Gesellschaften. Wenig überraschend, angesichts dieser konkreten Arbeitsweise der Historischen Schule, hat Hildebrand denn auch Lob für die Methodik von Engels’ Lage der arbeitenden Klasse in England übrig. Er würdigt die Bemühung um akribische Tatsachenschilderung, wendet sich dann aber über siebzig Seiten hinweg gegen Engels’ Interpretation, d.h. gegen die ›Zusammenfügung‹ der Fakten: Die Einzelheiten sind richtig, aber das Ganze ist falsch. Sein [Engels’] Gemälde stellt nur die Nachtseite der britischen Industrie und der britischen Arbeiterwelt dar, und ist ebenso unberechtigt wie eine Darstellung der Moralität der Menschheit, die lediglich aus den Biographen [sic!] der Verbrecher entlehnt ist. Oder eine Statistik der menschlichen Gesundheit, der bloß Beobachtungen in Krankenhäusern und Hospitälern zugrunde liegen.326

Umfangreiche Statistiken werden aufgefahren, um zunächst das Verelendungsmotiv, das Engels seiner Erzählung über die Industrialisierung unterlegt (vom Idyll zum Moloch), zu entkräften.327 Tatsächlich, so Hildebrand, unterliege der Mensch in vorkapitalistischer Zeit viel stärker den Schwankungen der Natur und den Ernteausfällen. Die modernen Wanderungsbewegungen sprächen für den gewachsenen Wohlstand in den Städten. Statistiken über durchschnittliche Lebenserwartungen in industrialisierten Ländern und erste Erkenntnisse über die historische Reallohnentwicklung deuteten auf den zivilisatorischen Fortschritt in Marktwirtschaften. Auch im Vergleich zum weniger entwickelten Deutschland stünde England besser da.328

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Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 37, S. 137f. Vgl. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, §§ 37–40, S. 139– 163. Die skeptische Sicht der britischen Entwicklung hatte in Teilen der bürgerlichen, nationalistischen Kritik für eine durchaus positive Aufnahme des Engels’sche Werkes ge-

Die Hauptkritik aber richtet sich auf die verkürzte Darbietung von Positivitäten bei Engels. Engels würde seine Zahlen regelmäßig aus den Jahren der Handelskrise 1842 und 1843 beziehen, sodass sie »nur einen außerordentlichen Zustand charakterisieren«.329 Dass diese Krisen in marxistischer Sichtweise, wie später im Manifest dargelegt, den eigentlichen systemischen Zustand des Kapitalismus bedeuten, lässt Hildebrand nicht gelten. Sein Blick geht auf langfristige Entwicklungstendenzen, in denen sich eine materielle und sittliche ›Veredelung‹ der britischen Zustände abzeichnet. Getragen von einem liberalistischen und technikfreundlichen Zukunftsoptimismus sieht Hildebrand Krisen allenfalls als vorübergehende Modernisierungserscheinungen an. Sie bedeuten wohl eine Herausforderung an die Sozialgesetzgebung, keineswegs aber geben sie Anlass zur grundsätzlichen Infragestellung der großindustriellen Marktwirtschaft: Wir sind vielmehr vollständig darin einverstanden, daß wir in einer Übergangsperiode leben, in der das Bedürfnis einer gerechteren Güterverteilung, einer Aufhebung des Mißverhältnisses zwischen Kapital- und Arbeitskraft immer dringender eine Befriedigung fordern [sic!]. Wir verkennen das große soziale Problem der Gegenwart nicht, sondern halten es vielmehr für das größte, das jemals dem Menschengeschlechte zur Lösung vorgelegen hat. Aber über jenen entfernteren Wirkungen des Fabriksystems sind die nächsten unendlichen Vorteile nicht zu vergessen.330

In diesen Formulierungen drückt sich die ganze Ambivalenz der Einstellung aus, mit der die realistische Nationalökonomie den sozialistischen Theorien und letztlich auch der Arbeiterbewegung begegnet. Man setzt auf die Dynamik der freien Marktwirtschaft, aber man hegt Sympathie für das ›Bedürfnis einer gerechteren Güterverteilung‹. Man lehnt die sozialistische Kritik des Privateigentums vollständig ab (schon weil das Eigentum als Medium der gesellschaftlichen Bestandswahrung und als materieller Kern des ›sittlichen‹ Familienverbands angesehen wird331), aber man denkt über die öffentlich gesteuerte Redistribution von Gütern nach, und zwar in einem Umfang, wie es Theoretiker in der Smith-Tradition nirgends für zulässig erachten würden. Kaum überraschend endet denn Hildebrands Kritik der sozialistischen Wirtschaftstheorien mit einem Lob ihrer ›Verdienste‹: Ihrer Polemik ist es gelungen, die Unhaltbarkeit der Fundamente zur Anerkennung zu bringen, auf welche sich die Smithsche Lehre stützt, und namentlich jene Vergötterung des Privategoismus, aus welchem die öffentliche Wohlfahrt von selbst hervorwachsen soll, in ihrer Verderblichkeit zu zeigen. […] Sie haben, um es mit einem Worte zu sagen, die Nationalökonomen zu der Einsicht genötigt, daß ihre Wissenschaft keine Naturlehre der menschlichen Selbstsucht sein kann, sondern eine ethische Wissenschaft sein muß.332

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sorgt. Vgl. Wolfgang Mönke: Das literarische Echo in Deutschland auf Friedrich Engels’ Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, Berlin 1965, S. 25–30. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 41, S. 166. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 43, S. 184. Vgl. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 44, S. 197. Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, § 52, S. 223.

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Der liberale österreichisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Ludwig Mises resümiert in einem Aufsatz über den Antimarxismus in der deutschen Nationalökonomie ein gutes dreiviertel Jahrhundert später, dass die Deutschen tatsächlich nie zu einer fundamentalen Kritik des Marxismus vorgedrungen sind, weil sie die Prämissen des Liberalismus (Individualismus, Utilitarismus) nie vollends geteilt haben. Ihr Antimarxismus, so Mises, blieb in letzter Instanz ein verbrämter, oft nationalistisch eingefärbter Marxismus.333 4.3.3.2. Reform statt Revolution – Sozialistisches Echo in der Jüngeren Schule der deutschen Nationalökonomie Diese Einschätzung von Mises betrifft im Besonderen die jüngeren und jüngsten Vertreter der Historischen Schule, von Gustav Schmoller und Lujo Brentano an bis hin zu Werner Sombart. Spätestens mit der Gründung des Vereins für Socialpolitik 1872 in Eisenach manifestiert sich ihr verstärkt wirtschaftspolitisches Engagement, das der Gruppe um Schmoller und Brentano schnell den Spottnamen ›Kathedersozialisten‹ einträgt.334 Tatsächlich beharrt Schmoller in seinen Auseinandersetzungen mit dem Wortführer des nationalliberalen Lagers Heinrich von Treitschke auf einem ›dritten Weg‹ der Ordnungspolitik, den es zwischen der liberalen Freihandelsschule mit ihrem Naturgesetzdenken und dem planwirtschaftlichen Sozialismus einzuschlagen gelte.335 Während dabei die Abgrenzung zur Freihandelspartei (bzw. zur Ideologie des ›Manchestertums‹) die hinlänglich bekannten Argumente gegen das ›Laisser-faire‹ der Privatwirtschaft und ihr Vertrauen auf die Allokationskraft des Marktes aufnimmt (Stichwort: Egoismuskritik), erhält die Positionierung gegenüber dem Sozialismus nun zunehmend Gewicht. Denn während der Freihandel im Wachstum den ersten und letzten Zweck des Wirtschaftens erkennt, geht es im Sozialismus ebenso wie bei den ›Kathedersozialisten‹ um Verteilungsfragen des Mehrprodukts. Eine gute Maßregel, wendet Schmoller gegen die Sozialisten ein, dürfe nicht zu spezifisch sein. Sie kann in letzter Instanz die konkreten Verhältnisse zwischen Wirtschaftsteilnehmern nicht regeln. Ebendiese optimistische Vorstellung von Wirtschaftsorga-

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Vgl. Ludwig Mises: Antimarxismus. In: Weltwirtschaft liches Archiv, Jg. 21 (1925) Heft 2, S. 266–293. Der Name geht auf eine Reihe von Artikeln in der Berliner National-Zeitung vom Redakteur Heinrich Bernhard Oppenheim zurück. Siehe Heinrich Bernhard Oppenheim: Der Katheder-Sozialismus, Berlin 1872. Die Auseinandersetzung erlangt dann zunehmend Gewicht in den Angriffen von Heinrich von Treitschke auf die ›KathederSozialisten‹. Siehe Heinrich von Treitschke: Der Socialismus und seine Gönner. Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller, Berlin 1875; Heinrich von Treitschke: Die gerechte Vertheilung der Güter. Offener Brief an Gustav Schmoller. In: Preußische Jahrbücher, Bd. 35 (1875), S. 409–447. Vgl. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 195f.

nisation wirft man dem Sozialismus vor.336 Schmoller sieht demgegenüber staatliche Steuerungsmaßnahmen als Ultima Ratio an; einen spezifischen Verteilungsschlüssel der Reichtümer lehnt er ab. Modifi kationen der Markttätigkeit dürften allein im formellen Recht vonstatten gehen.337 Sprich: Die Kathedersozialisten suchen eine aktive Gestaltung des institutionellen Rahmens für den wirtschaftlichen Verkehr. Zahlreiche Studien und Enqueten aus dem Umkreis des Vereins für Socialpolitik untermauern diesen Anspruch und sorgen dabei für eine Annäherung konservativer und sozialistischer Positionen. Lujo Brentanos breit angelegtes Standardwerk über die neueren Arbeiterassoziationen Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine (1871) etwa beschreibt und legitimiert einerseits das neuere Gewerkschaftswesen aus der Arbeitsmarktsituation heraus. Die Assoziation wird dabei weniger als Mittel des Machtzuwachses für den (Arbeits-)Kampf akzentuiert oder gar auf einen etwaigen Klassenantagonismus bezogen. Vielmehr geht es hier um die Stabilisierung der Arbeitersituation, um die Substistenzsicherung angesichts schwankender Arbeitsnachfrage und damit letztlich um die Mittel und Wege, am erwirtschafteten Reichtum eines Unternehmens zu partizipieren. Fragen der Arbeiterversicherung stehen im Vordergrund. Und diese Gewerkschaftsleistung wird, zweitens, auf frühere Formen der Arbeitnehmerorganisation, namentlich auf das historische Gildenwesen, bezogen. Die neuesten Arbeiterbünde erscheinen dann weniger als bedrohliches Mittel einer aufstehenden (und aufständischen) Masse denn vielmehr als neueste Erscheinungsform eines historisch beständig wirksamen und bewährten Ordnungsbegehrens. Es ist eine Organisation »frei von Kämpfen und Bitterkeit der darin Interessirten«.338 Diese strukturelle Aufwertung der Arbeiterbewegung konkretisiert sich auch in den positiven Charakterisierungen ihrer Führer. Die »freundliche Offenheit und Zuvorkommenheit« des Generalsekretärs der Gesellschaft der Vereinigten Maschinenbauer, Herr William Allen, verlangt eine nachdrückliche Erwähnung, wo es um die Entkriminalisierung der Interessenvertreter des vierten Standes geht.339 Ähnliche Wertschätzungen der Charakterfestigkeit und ›Sittlichkeit‹ der Handelnden finden sich bei Gustav Schmoller.340 Es geht im Individuellen (Person) wie Allgemeinen (Institution) um die ›Verbürgerlichung‹ der Arbeiterbewegung, d.h. um die Eingliederung in die Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Meinungsmacher.341 Im Zuge dieser Neuorientierung kommt es vermehrt zu Debatten und Austauschbestrebungen zwischen dem kathedersozialistischen und dem marxistischen

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Vgl. dazu bereits die Diskussion sozialistischer Organisationspläne bei Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, §§ 48–51, S. 212–223. Vgl. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 86–89. Lujo Brentano: Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, Bd. 1 (Die Arbeitergilden der Gegenwart), Leipzig 1871, S. VI. Lujo Brentano: Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, Bd. 1, S. X. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 183. Zur Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung vgl. Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik [2004], 5. Aufl., München 2005, S. 55f.

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Lager. Lujo Brentano, obgleich wiederholt angefeindet durch die Marx-Orthodoxie um Karl Kautsky, hält regen brieflichen Kontakt mit Franz Mehring. Gemeinsam mit Gustav Schmoller bemüht er sich, Mehring für die redaktionelle Mitarbeit an dem von Brentano projektierten Jahrbuch der sozialen Bewegung bzw. für Publikationen in Schmollers Jahrbuch zu gewinnen.342 Schmoller bezieht im ›Fall Arons‹ (1893–1900) Position für den angefeindeten Privatdozenten der Physik Leo Arons, der sich außerhalb seiner Lehrveranstaltungen als Sozialdemokrat betätigt.343 Schmollers Doktorand Werner Sombart erfährt die Wertschätzung von Friedrich Engels im Nachtrag zum dritten Band des Kapital für seine »vortreffliche Darstellung der Umrisse des Marx’schen Systems«; es sei »das erstemal, daß ein deutscher Universitätsprofessor es fertigbringt, im ganzen und großen in Marx’ Schriften das zu sehn, was Marx wirklich gesagt hat«.344 Tatsächlich hat sich die akademische Auseinandersetzung mit der sozialistischen Theorie seit den 1870er Jahren intensiviert.345 In einer maßgeblichen Bestandsaufnahme Die Quintessenz des Sozialismus, die 1874 zunächst in der Monatsschrift Deutsche Blätter einem gemischten öffentlichen Publikum vorgelegt und dann als Broschüre in mehreren Neuauflagen gedruckt wurde, besorgt der Ökonomieprofessor Albert Schäffle eine tief greifende Neuinterpretation und Neubewertung zentraler sozialistischer Theoreme. Schäffle bemüht sich, mit einem zarten Echo auf die Eingangsvolte im Kommunistischen Manifest, um Aufk lärung über das »rote Gespenst«.346 Es ist eine Gespensteraustreibung aus dem Geiste der sozialen Marktwirtschaft. Messlatte für die (in subtilen Marx- und Lassalle-Exegesen rekonstruierten) Programmpunkte des Sozialismus sind die marktwirtschaftlichen Errungenschaften: freie Bedarfsentfaltung, d.h. freie Gestaltung individueller Haushalte, und freie Berufswahl. Und obgleich die sozialistische Theorie in diversen Punkten unfertig sei – noch unfertig, wie Schäffle immer wieder betont –, so erscheinen ihm ihre Gesellschaftsvorstellungen keineswegs grundsätzlich unvereinbar mit dem liberalen Freiheitsgebot. Das Privateigentum, so klärt Schäffle auf, solle nach Ansicht der sozialistischen Programmatiker lediglich für die Produktions-

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Vgl. Ursula Ratz: Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano. Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland, Berlin 1997, S. 241–262. Vgl. Rieger: Die Gelehrten, S.  132; vom Bruch: Wissenschaft , Politik und öffentliche Meinung, S. 333–335 (dort auch Quellen und weitere Literatur). Friedrich Engels: Ergänzung und Nachtrag zum III. Buche des »Kapital« [1895/1896]. In: MEW, Bd. 25, S. 895–919, hier: S. 903. Nicht die Rezeptionsbeziehungen, aber Analogien in den Grundkonzepten (Arbeit, Gerechtigkeit) untersucht Thanasis Giouras in seinem Vergleich zwischen der Historischen Schule der Nationalökonomie und dem historischen Materialismus. Im Mittelpunkt stehen dort Karl Marx, Karl Bücher, Gustav Schmoller und Adolph Wagner; die fundamentalen Unterschiede in der werttheoretischen Grundausrichtung kommen leider zu kurz. Vgl. Giouras: Kritik und Geschichte. Albert Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus [1874], 6. Aufl. (Siebenter Nachdruck), Gotha 1878, S. 1.

sphäre, nicht aber für die Konsumtionssphäre wegfallen. Es gehe um die Abschaff ung privater Produktionsmittel (Kapital), nicht um die Vernichtung privater Bestände von Verzehrgütern. Auch die Aufhebung des Privatinteresses, wie es die gegenwärtige Marktwirtschaft zugrunde legt, in ein Kollektivinteresse des einzelnen Gesellschaftsmitglieds wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das Wohl des Ganzen könne durchaus im individuellen Interesse liegen (hier hallt implizit eine Bildungsidee Hegel’scher Provenienz nach). Im Ganzen führe die Ausweitung der öffentlichen Sphäre (Gemeineigentum) de facto lediglich eine Tendenz weiter, die in diversen sozialen Bereichen bereits wirksam sei: »[I]m Staat, in der Schule, der Gemeinde u.s.w. ist da jetzt schon die Arbeit öffentliche (socialistische) Arbeit, sociales besoldetes Amt! Ueberhaupt nicht etwas absolut Neues ist der socialistische Produktionsprozeß, sondern eine Verallgemeinerung öffentlichen Dienstes und öffentlicher Anstalten.«347 Der Fokus dieser konzisen Darstellung liegt auf einer Kritik der Marx’schen Werttheorie und ihrer Bestimmung des Güterwertes nach ›gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitquanten‹. Was der Sozialismus unabdingbar benötige, um auf das Niveau marktwirtschaftlicher Wohlstandsproduktion zu gelangen, sei die Einbeziehung der Gebrauchswerte in die Theorie des Tauschs: Ohne diese Einführung des Gebrauchswerthes in die Socialtaxe, d.h. ohne analoge Nachahmung aller Werthbestimmungs-Vorgänge des heutigen Marktes, wäre gar nicht daran zu denken, daß irgend eine oberste Leitung des einheitlichen Productionssystems Arbeitsund Güterbedarf quantitativ und der Art nach mit den Arbeits- und Gütervorräthen in Uebereinstimmung erhalten, d.h. jenes volkswirtschaft liche Gleichgewicht der Arbeit und Verzehrung bewahren könnte, welches jetzt täglich neu, wenn auch stoßweise und dem Einfluß der auch den wechselnden Gebrauchswerth (Begehr) beobachtenden Marktpreise, hergestellt wird.348

Obgleich Schäffle zaghaft andeutet, dass zur Erhebung des gesellschaft lichen Individualbedarfs eine »enorme Socialbuchhaltung« vonnöten wäre349, schließt er die zentrale Beobachtung und Steuerung der Wirtschaftsleistung keineswegs prinzipiell aus. An ebendieser Stelle hatte sich Hildebrand in seiner Engels-Kritik noch weitaus skeptischer gezeigt. Ein Steuerungsoptimismus, wie ihn die jüngere realistische Nationalökonomie immer wieder durchscheinen lässt, war der Älteren Schule in ihrer stärker liberalistischen Grundausrichtung noch fremd. Nichtsdestotrotz legt die Revision des Sozialismus bei Schäffle offen, was unterschwellig immer schon eine Option der kulturalistischen (intersubjektiven) Werttheorie der realistischen Schule war. Wer die Gebrauchswertbestimmung oberhalb des Marktes ansiedelt, tendiert zur paternalistischen Wirtschaftspolitik. Im Sozialismus, erläutert Schäffle, würde zwar der individuelle Luxus wegfallen, hingegen der »Luxus öffentlicher Anstalten der Breite

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Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus, S. 28. Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus, S. 50f. Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus, S. 47.

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nach zunehmen«.350 Gleichzeitig »könnte der Staat alle Bedarfe, die schädlich erschienen, gründlichst abschneiden, er würde sie nicht mehr produciren; die Vegetarianer, z.B. Baltzer, neigen deshalb zum Socialismus«.351 Eine solche Ausscheidung individueller Luxusexzesse zugunsten eines breiteren mittelständischen Wohlstands sowie das Bestreben nach Zensur inkriminierter Güter fügen sich in die marktskeptische Grundausrichtung des deutschen Realismus. Diese Annäherung an die wirtschaftspolitischen Tendenzen des Sozialismus erfolgt gleichwohl, das bleibt festzuhalten, immer unter zwei Vorzeichen: Die realistische Nationalökonomie schätzt die sozialistischen Alternativen vom Standpunkt der liberalen Eigennutzenwirtschaft aus ein (und bleibt dabei, ungeachtet der Prognosen über zukünftige Entwicklungspotenziale, den Prämissen der Marktgesellschaft und ihrem rechtlichen Rahmen verbunden). Und sie setzt, zweitens, auf den sukzessiven Umbau gesellschaftlicher Institutionen. ›Reform statt Revolution‹, lautet hierfür das gängige Stichwort.352 In beiden Stellungnahmen setzt man sich deutlich von der marxistischen ›Durchbruchsemphase‹ ab. Als Annäherung auf halbem Wege läuft denn auch die Rezeption der marxistischen Geschichtsphilosophie ab. Zum einen kritisiert man Marx’ deterministische Fassung des Widerspruchs zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, zum anderen distanziert man sich von der marxistischen Teleologie. 1) Der Determinismus wird durch den sittlich akzentuierten Kulturalismus und den besagten wirtschaftspolitischen Steuerungsoptimismus beantwortet. Regelmäßig wendet sich Gustav Schmoller gegen den dominant technologischen Charakter der Marx’schen Geschichtsschreibung, d.h. gegen die Ableitung des historischen Prozesses aus der Entwicklung der Produktivkräfte.353 Die Theorie von Marx und Engels, so Schmoller, verkennt, daß alle ökonomisch-technischen Verhältnisse nur durch das Mittelglied menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns auf die weitere historische Entwicklung wirken, daß alle neuen ökonomischen Eindrücke in der Seele sich mit allen anderen vorhandenen seelischen Vorstellungen, Erinnerungen, Kräften verbinden, daß so in jedem Augenblick moralisch-politische Ursachen in Verbindung mit den technischen wirken.354

Im Geiste dieser Kritik entstehen in der historistischen Nationalökonomie zahlreiche Schriften, die die menschliche Bedürfnisstruktur und die kulturellen (›sittlichen‹) Faktoren im historischen Prozess in den Vordergrund rücken. Lujo Brentano etwa zäumt 1889 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung (auf dem Lehrstuhl von Wilhelm

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Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus, S. 24. Schäffle: Die Quintessenz des Socialismus, S. 24. Vgl. als eine einschlägige Erörterung für den verbreiteten Topos Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 117f. Vgl. zu Schmollers Kritik an der ›sensualistisch-materialistischen‹ Grundausrichtung des Marxismus auch Buss: Von Schmollers wissenschaft lichem Denken, S. 30–40. Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 752.

Roscher) die Marx’sche Analyse der Produktivkräfte von hinten auf, indem er die historischen Veränderungen der Nachfragesituation zum kausalen Faktor für technologische Innovationen macht. Erst die Ausdehnung der Märkte bewirke Impulse für den Produktionssektor, nicht umgekehrt.355 Entsprechend wird die Entwicklung des (Welt-)Handels mitsamt den begleitenden Legitimationsstrategien, die sich aus den verschiedenen, insbesondere scholastischen Kirchendoktrinen heraus bilden, für Brentano zum Kernpunkt einer Geschichtsschreibung des Kapitalismus.356 In der jüngsten Generation der Historischen Schule wird diese subjektzentrierte Perspektive dann ausgeweitet. Gegen die monokausale, technizistische Geschichtsphilosophie von Marx setzt man soziologisch breite Kapitalismusanalysen. Es geht nunmehr um den ›Geist des Kapitalismus‹ und die verschiedenartigen Quellen seiner Genese. Als Werner Sombart das Schlagwort in seinem Standardwerk Der moderne Kapitalismus (1902) aufbringt, führt er eine Paarung von unternehmerischem Macht- und Expansionsstreben mit der haushälterischen Exaktheit des biederen Kleinbürgers als Grundlage des Kapitalismus an: »Die aus Unternehmungsgeist und Bürgergeist zu einem einheitlichen Ganzen verwobene Seelenstimmung nennen wir dann den kapitalistischen Geist.«357 In späteren Schriften konzentriert sich Sombart auf weitere Träger und Quellen der kapitalistischen Dynamik. So gilt ihm etwa das Judentum mit seiner prekären rechtlichen Situation und seinen historischen Wanderungsbewegungen als wesentlicher Motor der Kapitalisierung (Aufspeicherung von Geldmengen). Juden legen demnach die Grundlagen der für die Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens notwendigen Kreditwirtschaft.358 Sombart argumentiert hier bereits gegen die berühmte Kapitalismus-These von Max Weber. Alle für die Entstehung des Kapitalismus relevanten Denkmuster des Protestantismus gingen tatsächlich auf die jüdische Religion zurück, so Sombart. Diese Auseinandersetzung (in die sich auch Brentano wiederholt einmischt359) bezeugt die soziologische Erweiterung der wirtschaftshistorischen Perspektive. Max

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Lujo Brentano: Ueber die Ursachen der heutigen socialen Noth. Ein Beitrag zur Morphologie der Volkswirthschaft. Vortrag, gehalten beim Antritt des Lehramts an der Universität Leipzig am 27. April 1889, Leipzig 1889, S. 13–17. Vgl. die gesammelten Aufsätze in Lujo Brentano: Der wirtschaftende Mensch und seine Geschichte [1923], hg. von Richard Bräu/Hans G. Nutzinger, Marburg 2008. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart [1902], Bd. 1 (Die Genesis des Kapitalismus), 3. Aufl., München, Leipzig 1919, S. 329. Vgl. Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911. Vgl. Lujo Brentano: Puritanismus und Kapitalismus. In: Lujo Brentano, Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte, hg. von Richard Bräu/Hans G. Nutzinger, Marburg 2008, S.  271–311 (gegen Webers Protestantismus-These werden hier katholische, scholastische Doktrinen stark gemacht); sowie Lujo Brentano: Judentum und Kapitalismus. In: Lujo Brentano, Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte, hg. von Richard Bräu/Hans G. Nutzinger, Marburg 2008, S. 313–355 (der Aufsatz bringt den ›kapitalistischen Geist‹ bei den Hellenen gegen die Judentum-These vor).

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Weber hatte 1904 bekanntlich den Einfluss der protestantischen Mentalität auf die Umstellung der Bedarfsdeckungs- auf die Erwerbswirtschaft und damit auf die Grundlagen des Kapitalismus erörtert. In seiner Studie geht es um eine Vervielfältigung der Faktoren des historischen Prozesses, nicht um idealistischen Reduktionismus: Es soll »nur festgestellt werden, ob und wieweit hier tatsächlich religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ›Geistes‹ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der kapitalistischen Kultur auf sie zurückgehen«.360 Zielscheibe der Kritik ist auch hier der Materialismus marxistischer Provenienz. Die Ansicht, dass Geschichte gesetzmäßig motiviert ist, wird dabei ebenso zurückgewiesen wie die entsprechende Aufspaltung historischer Abläufe nach ›realem‹ Geschehen (Basis) und Semantik (Überbau): Die »kapitalistische« Form einer Wirtschaft und der Geist, in dem sie geführt wird, stehen zwar generell im Verhältnis adäquater Beziehung, nicht aber in dem einer »gesetzlichen« Abhängigkeit voneinander[.]361

›Ideen‹ gelten demnach auch nicht als ›Widerspiegelung‹ sachlicher Verhältnisse, sondern als produktive Kraft in der Formung gesellschaftlicher Beziehungen. Mit den Untersuchungen Sombarts und Webers steht man am Schlusspunkt der Historischen Schule der Nationalökonomie, der gleichermaßen den Startpunkt der modernen Soziologie markiert.362 Die Interdependenz von sittlichen und technischen Faktoren, die von Roscher bis Schmoller beharrlich als Fokus der Wirtschaftsgeschichtsschreibung ausgerufen wird, findet darin über die Kategorie des sozialen Handelns auch methodisch eine Neueinstellung. Mit dem Werturteilsstreit verabschiedet sich Weber vom dezidiert politischen und praktischen Auftreten seiner nationalökonomischen Vorläufer. Im neuen Paradigma fällt das Bestreben nach öffentlicher Wirkung im Dienste einer gesteigerten ›Wissenschaft lichkeit‹ aus. Versuche, soziale Fragen aktiv vom Katheder herab zu lösen, haben in einer um ihre Autonomie besorgten Wissenschaft keinen Platz. Diese Entwicklungen aber liegen jenseits des realistischen Terrains, jenseits der Jahrhundertwende. 2) Neben der Kritik am werttheoretischen Objektivismus (Schäffle) und am materialistischen Determinismus und Technizismus wird Marx auch in seiner Geschichtsteleologie von realistischer Seite zurückgewiesen. Gerechtigkeit, so führt Schmoller

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Max Weber: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 hg. und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 2. Aufl., Weinheim 1996, S. 51. Weber: Die protestantische Ethik, S. 24. Die Entwicklung von der Jüngeren Schule der Historischen Nationalökonomie hin zu Sombarts und Webers Begründung der Soziologie wurde positivistisch nachgezeichnet von Takebayashi: Die Entstehung der Kapitalismustheorie in der Gründungsphase der deutschen Soziologie.

aus, gilt zwar als oberstes Ziel eines Gemeinwesens, könne aber tatsächlich nicht mehr als eine Direktive für konkretes ordnungspolitisches Handeln abgeben: Jeder Vernünftige und billig Denkende weiß nun wohl, daß dieses Ziel nie ganz zu erreichen ist, weil der Mensch und die Gesellschaft die Natur und die Güterwelt nie ganz beherrschen, weil auch die Urteile über Reihenbildung, Güterverteilung, Gerechtigkeit nie bei allen Menschen übereinstimmen, weil auch vieles, über das alle oder die Besten einig sind, in der Gesellschaft mit ihrem stets rohen Durchschnittsrecht und mit ihren immer unvollkommenen Institutionen doch nicht durchführbar ist.363

Die realistische Disposition setzt stets auf Offenheit. Eine abschließende Integration sozialer Kräfte in regulierende Institutionen erscheint ihr ebenso unmöglich wie die vollständige begriffliche und methodische Erfassung von ›Natur und Güterwelt‹. Eine Realisation von Gesellschaftsutopien, wie sie die sozialistischen Theoretiker vorbringen, fällt demnach nicht in Betracht. Globale Zielvorstellungen für ein harmonisches Zusammenleben stellen allenfalls einen Horizont für die je spezifische Prüfung institutioneller Steuerung dar. Liberaler eingestellte Theoretiker der Historischen Schule (Hildebrand) weisen dabei, wie gesehen, schon die Möglichkeit sozialistischer Reglementierung zurück. Behutsamer argumentierende Vertreter wie Schäffle geben den Endzeitvisionen des Sozialismus mindestens ein großes Fragezeichen bei. ›Noch nicht durchführbar‹ lautet bei ihm die wiederkehrende Wendung angesichts der avisierten Wirtschaftspolitik des Sozialismus. Auf die Offenheit geschichtlicher Prozesse hebt denn auch Werner Sombart in seinen frühen Würdigungen des Sozialismus, in einer Phase, in der er sich selbst als »überzeugter Marxist«364 begreift, ab. Marx und Engels erscheinen ihm als echte ›Realisten‹, allerdings nicht in ihrem Hoffen auf eine endgültige Überwindung des Privateigentums. Vielmehr liege die realistische Auffassung in der Rückführung sozialer Bewegungen auf materielle Wohlfahrtsinteressen. Man müsse »nicht dem Interesse der Kapitalistenklasse die ewige Liebe entgegenstellen«, sondern »gegen die Macht eine Macht, eine reale Macht, eine durch Interessen gefestigte Macht aufbieten«, paraphrasiert Sombart die Marx’sche Lehre in seinem Nachruf auf Friedrich Engels.365 Ihre herausragende Leistung sei demnach die »Befreiung von der Phrase auf sozialpolitischem Gebiet«.366 Sombart entnimmt dem Marxismus einen akzentuierten Begriff von Interessengegensätzen, von ›Klassenkampf‹. Ja er dehnt diese (gelegentlich mit Darwins Überlebenskampftheorie zusammengeschlossene) Geschichtsauffassung über die sozialen Spannungen hinaus auch auf nationale

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Schmoller: Grundriß, Zweiter Teil, S. 124f. Zitiert nach Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, S. 80. Sombart: Friedrich Engels, S. 28. Sombart: Friedrich Engels, S.  29. Wortwörtlich aufgenommen in Werner Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert. Nebst einem Anhang: Chronik der sozialen Bewegung von 1750–1896, Jena 1896, S. 79.

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Gegensätze aus.367 Verteilungskämpfe im Inneren und Territorialkämpfe nach außen erscheinen darin als zwei Seiten einer je von spezifischen Wohlfahrtsinteressen geleiteten Politik. Die sozialen Spannungen führen, ebenfalls in Analogie zu Marx’ Geschichtsmodell, zu einer permanenten Verschiebung der gesellschaft lichen Ordnung (Produktionsverhältnisse) angesichts dynamischer Produktivkraftentfaltung. Anders als Marx sieht Sombart diesen Prozess aber weder auf ein Ziel zulaufen (Überwindung von Eigentum und Kapital) noch erscheint ihm geschichtlicher Wandel notwendig an revolutionäre Umwälzungen gebunden. Vielmehr würden sich Veränderungen schleichend evolutionär vollziehen: Soziale Evolution ist der Gedanke einer schrittweisen Erringung der Macht und Anbahnung eines neuen Gesellschaftszustandes entsprechend der Umgestaltung der wirtschaft lichen Verhältnisse und der Umbildung und Schulung des Charakters.368

Diese evolutionistische Geschichtsauffassung bedeutet zum einen eine Abschwächung der Klassenkampf-Rhetorik (»Da muß ich nun gestehen, daß für mich dieser Begriff [›Klassenkampf‹] ganz und gar nichts Schreckliches hat«369). Zum anderen legt sie ein Bekenntnis zur immanenten Umgestaltung der Ordnung ab: »Man kämpfe im Namen des Rechts gegen das, was man für Unrecht hält, auf dem Boden des bestehenden Rechts.«370 Mit dieser Forderung steht Sombart dann seinem Doktorvater Gustav Schmoller und dessen Orientierung auf ›Reform statt Revolution‹ wieder näher.371 Dass Sombart mit dieser Akzentuierung den Angelpunkt seiner Marxismus-Interpretation verliert, gehört zu den Inkonsequenzen der Sombart’schen Marx-Engels-Rezeption. Denn gerade die Ausscheidung ethischer Gesichtspunkte zugunsten einer rein ökonomischen Theorie, die auf die Eigengesetzlichkeit und Unsteuerbarkeit historischer Prozesse abhebt, hatte den Marxismus für Sombart attraktiv gemacht.372 Schmoller, der der Klassenkampftheorie von Marx und Engels ohnehin überaus skeptisch gegenübersteht, versäumt denn auch nicht, seinen ehemaligen Schüler nachdrücklich auf die Unschlüssigkeiten seiner Marxismus-Revision und die Funktion sittlicher Komponenten im Wirtschaftsverkehr hinzuweisen.373 Nichtsdestotrotz bleibt Sombarts Theorie des ›Evolutionismus‹ der sozialen Bewegung nicht folgenlos. Ein »solchermaßen entschärfter Sozialismus« (Lenger) strahlt über das bürgerliche Publikum hinaus auf die Sozialdemokratie aus374 und

367 368 369 370 371 372 373

374

418

Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 2f. Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 104. Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 121. Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 122f. Zu den Differenzen beider Positionen siehe auch Abschnitt 5.1.2. dieser Arbeit. Sombart: Friedrich Engels, S.  26; sowie Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 81–83. Gustav Schmoller: Karl Marx und Werner Sombart [1909]. In: Gustav Schmoller, Zwanzig Jahre Deutscher Politik (1897–1917). Aufsätze und Vorträge, München, Leipzig 1920, S. 127–134. Lenger: Werner Sombart, S. 91.

gibt Impulse für die innermarxistische Revisionismusbewegung um Eduard Bernstein. Im Lager der Revisionisten arrangiert man sich mit den kapitalistischen Rahmenbedingungen und wirkt vermöge der Gewerkschaftspolitik schrittweise auf den institutionellen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft hin.375 Das sind die Markenzeichen einer ›verbürgerlichten‹ linken Bewegung, die nur noch wenig mit dem aggressiven ›Revolutionismus‹ des orthodoxen Marxismus zu tun hat. Das Erbe der Historischen Schule der Nationalökonomie reicht in dieser Linie bis in die Konstitution der neueren Sozialdemokratie hinein. Was mit Sombart zunehmend abgelegt wird, ist das idealistische Rüstzeug des Realismus und sein um Neutralität und Unabhängigkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen bemühter Denkansatz. Der starke Akzent auf Gruppeninteressen und Kampfkonstellationen führt über das Paradigma, das im nächsten Kapitel noch einmal inhaltlich profi liert werden soll, hinaus. Nicht von ungefähr würdigt Sombart den Marxismus denn auch mit einer literaturgeschichtlichen Analogie, die den traditionellen Realismus hinter sich lässt: Der Naturalismus in der Literatur, das Pleinair in der Kunst: ist es etwas Anderes, liegen ihm andere Leitmotive zu Grunde als jene, die zum Realismus in der Gesellschaftslehre geführt haben: der Drang aus der Düsseldorferei und der Gartenlaubenatmosphäre hinaus in die frische Luft? Marx und Engels die ersten und bis jetzt größten Pleinairisten in der sozialen Welt.376

Marx und Engels, die ›größten Pleinairisten‹, stehen letztlich ebenso wie der Naturalismus jenseits der ›Gartenlaube‹. Sie stehen, als Systematiker der Ökonomie (in der Nachfolge von Smith und Ricardo), jenseits des realistischen Paradigmas. Darin sind sie Carl Menger und der österreichischen Grenznutzentheorie ähnlich. Wenn sie auf die jüngsten Vertreter der realistischen Nationalökonomie in Deutschland inspirierend wirken, dann in ihrem Historismus und ihrem sozialpolitischen Impetus – Elemente, die selbst gleichwohl längst zum Standardrepertoire der Historischen Schule seit Roscher gehörten.

375 376

Vgl. Pribam: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, S. 506f. Sombart: Friedrich Engels, S. 29.

419

5.

Die prekäre gute Mitte – Das Institutionendenken und seine Gefährdung

Die realistische deutsche Nationalökonomie sucht eine Wirtschaftswissenschaft ohne systemische Abstraktion, ohne ahistorische Modellbildungen. Sie entwickelt einen subjektiven Wertbegriff, fasst diesen aber nicht individualistisch auf. Einer rein auf die Marktallokation vertrauenden Laisser-faire-Ökonomie steht sie skeptisch gegenüber. All das hebt sie deutlich von der österreichischen Grenznutzentheorie und ihrer Neuformulierung der klassischen Markttheorie ab. Auf der anderen Seite distanziert sich die realistische Ökonomie auch vom systemischen Historismus von Marx und Engels. Die letztlich als bedarfsblind aufgefasste Produktionswerttheorie des Marxismus (ein Erbe der klassischen Ökonomie nach Smith) wird ebenso zurückgewiesen wie seine als deterministisch und technizistisch eingestufte Geschichtstheorie. Eine Annäherung findet in den wirtschaftspolitischen Stellungnahmen statt. Doch gibt man sich hier, bei aller Agitation für den Ausbau öffentlicher Güterbereiche, moderater als die sozialistischen Theoretiker. Statt auf eine globale Revolution setzt man auf partikulare Reformen innerhalb der bestehenden Rechts- und Wirtschaftsordnung.

5.1.

Gustav Schmoller und das Lob der besitzlosen Intelligenz

Nachdem im vorangegangenen Kapitel diese Abgrenzungen zur Sprache gekommen sind, ist es an der Zeit, noch einmal die positiven Erträge und Inhalte der ökonomischen Geschichtsschreibung der Historischen Schule in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt steht nunmehr Gustav Schmoller, als repräsentativer Vertreter der Jüngeren Historischen Schule, insofern sich erst mit ihm das realistische Projekt vollends durchsetzt. Sein Vorgänger Wilhelm Roscher hatte, wie in Abschnitt 2.3.3.1. erläutert, den Turn zur historisch-statistischen Untersuchung zwar programmatisch eingeleitet. Seine eigenen Studien bleiben aber hinter den realistischen Detailansprüchen zurück. Statt auf Analysen konkreter Kulturräume trifft man bei ihm auf polyhistorische Tableaus, die Ähnlichkeiten zwischen temporal wie lokal unverbundenen Kulturen registrieren. Zusammengehalten und strukturiert werden diese Sammlungen von Similaritäten durch eine organizistische Metaphorik von Aufstieg, Blüte und Ableben. Die Neuorientierung, die die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie demgegenüber einleitet, wird schon im Vorwort zu Gustav Schmollers erster prominenterer Arbeit Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe (1870) ersichtlich. Ins übliche Pathos der Akribie mischt sich nunmehr eine Emphase erlebter Nähe: 420

Auf manchen Reisen und Wanderungen habe ich den Süden und den Norden des Zollvereins durchstreift , die großen Fabriken besichtigt, die Werkstätten der Handwerker aufgesucht und in den Wohnungen der Arbeiter eingesprochen. […] Eine Arbeit derart, welche mit über die wichtigsten volkswirtschaftlichen Fragen der Gegenwart sich ausspricht, soll subjektiv im guten Sinne des Wortes, sie soll eine erlebte sein.1

Eigene Anschauung bildet das Gütesiegel volkswirtschaft licher Kompetenz2, weil sie allein eine Ebene unterhalb der numerischen Abstraktionen präsent hält: Wenn ich dabei suchte, die Zahlen ganz für sich sprechen zu lassen, so weiß doch jeder Statistiker, daß das nur möglich ist, wenn der, welcher die Zahlen vorführt, eine genaue und vollständige Kenntnis der realen Verhältnisse hat, um die es sich handelt.3

Mit dem reisenden Erleben wird demnach gerade jene Kohärenz des Wirklichen erarbeitet, die im Text auf der metonymischen Achse reproduziert wird. Es ist die Ebene des ›Realen‹, ohne die die statistische Repräsentation blind bliebe. Tatsächlich beinhaltet diese methodische Grundausrichtung bereits eine Antwort auf die von Schmoller angemahnten ›wichtigsten volkswirtschaftlichen Fragen der Gegenwart‹. Seine Schrift argumentiert gegen den »Nihilismus des ›laisser faire et laisser passer‹« und damit gegen den ›einseitigen Standpunkt‹, dass die Gewerbefreiheit das einzige Mittel des volkswirtschaftlichen Fortschritts sei.4 Diese Position des Freihandels sitzt, aus realistischer Sicht betrachtet, selbst den Tücken der Abstraktion auf und muss entsprechend durch eine genauere Fokussierung auf die wirtschaftlichen Handlungsträger, deren Gestalt durch die Zahlenstatistik verstellt wird, ausgeräumt werden. Typologien und Charakteristiken von Handwerkern5 stehen dann gleichberechtigt neben Erhebungen zur Preisentwicklung oder Unternehmerzahlen im Gewerbesektor. Schmollers Beschäftigung mit den Kleingewerben, die auch für die folgenden Jahre nach 1870 ein wichtiges Motiv seiner Arbeit abgibt, ist von einer sozialpolitischen Sorge angesichts der wachsenden Industrialisierung getragen: »[D]as Verschwinden des Mittelstandes untergräbt unsere politische wie unsere soziale Zukunft.«6 Es

1 2

3 4 5 6

Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. VIIIf. Ebenso bei Brentano: Geschichte der englischen Gewerkvereine, Bd. 1, S. VIII. Topisch ist das Motiv in Schriften, die vom Rande her in die staatswissenschaft liche Theoriebildung des ökonomischen Realismus hereinreichen, so etwa bei Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik [4 Bde., 1851– 1869], Bd. 1 (Land und Leute [1851]), 11. Aufl., Stuttgart, Berlin 1908, S. V–VIII. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. VIII. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. VII. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 666–670. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S.  666–677. Diese These von der Bedrohung des Mittelstandes gibt noch den jüngeren Mitarbeitern Schmollers ihre Forschungsaufgaben vor. Vgl. etwa die Rostocker Rektoratsrede von Wilhelm Stieda: Die Lebensfähigkeit des deutschen Handwerks. Rede zur Feier des 28. Februar 1897 gehalten vom derzeitigen Rector, Rostock 1897, hier: S. 5.

421

gilt, dem Zerfall der Gesellschaft in eine Minorität von Besitzenden und eine Majorität von verarmten Bevölkerungsteilen vorzubeugen.7 Schmollers antizipierte Lösung liegt in einer doppelten Bewegung: Zur Restitution des Handwerks setzt er auf die genossenschaftliche Bewegung und mithin auf die Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Betroffenen in mesoökonomischen Institutionen.8 Damit einhergehen müsse die Beobachtung des Marktes durch die »sittliche Kontrolle der Öffentlichkeit«.9 Schulen, polytechnische Bildungsanstalten, Handwerkskammern sowie ein Fabrik- und Gewerbeinspektorat zur Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen gehören in Schmollers Forderungskatalog für staatliche Aufsichtsmaßnahmen. Grundlage der gesetzlichen Arbeit aber sollen Enqueten werden, denn: »Erst auf Grundlage einer derartigen Detailinformation könen [sic!] auch die Detailvorschläge gemacht werden«.10 Eben solche Enqueten wird er mit seinen Kollegen vom Verein für Socialpolitik kurze Zeit später in Serie vorlegen. Für die Einhaltung der gesetzlichen Regularien in Betrieben solle dann eine geringe Zahl »reisender Beamter«, die als Fabrikinspektoren je einen »großen Bezirk« zu überwachen hätten, aktiv werden.11 Schmoller gelangt damit gewissermaßen selbst dort an, wo seine eigene Schrift ihren Ausgangspunkt besitzt. Der reisende Forscher, der sich als ›überparteilich‹ auffasst und deshalb von vermeintlich neutralem wissenschaftlichen Standpunkt aus Gesetzesinitiativen anregt, korrespondiert mit dem ›reisenden Beamten‹, der zum Wohle der Allgemeinheit die Einhaltung der Gesetzesvorschriften begutachtet. Öffentliche Wissensbildung über das Wirtschaftsleben und öffentliche Kontrolle der Privatwirtschaft gehen Hand in Hand. Zur Legitimation dieser antifreihändlerischen Bestrebungen bemüht Schmoller eine geschichtliche Analogie: »Ist nicht heute noch das Herz jedes Edeldenkenden auf Seite Solon’s, wenn er die Schuldverhältnisse der untern Klassen Athens ordnet, ihre Schulden reduziert […]?«12 Die geschichtliche Tiefe gibt den aktuellen Auseinandersetzungen überhaupt erst das entscheidende Gewicht und den Nachdruck des wissenschaftlichen Auftritts. Gegenüber den un-

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9 10 11 12

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Später sieht Schmoller anstelle der hier geschilderten Verfallstendenz eine ›Doppelbewegung‹ in der neueren Geschichte des Mittelstandes: Der Bedrohung durch die große Industrie mitsamt der Aufspaltung in eine neue, quasi ›aristokratische‹ Klasse von Besitzenden und eine Klasse der Lohnabhängigen tritt eine ›demokratische‹ Tendenz der allgemeinen Steigerung des Bildungs- und Einkommensniveaus gegenüber. Vgl. Gustav Schmoller: Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im 19. Jahrhundert zu- oder abgenommen? Vortrag auf dem 8. Evangelisch-sozialen Kongreß in Leipzig am 11. Juni 1897, Göttingen 1897, hier: S. 12. Vgl. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S.  678. Zur Konzeption mesoökonomischer Institutionen bei Schmoller, d.h. zur staatlich garantierten Regulierungskompetenz sozialer und parastaatlich-parafiskalischer Verbände, siehe ausführlich Priddat: Die andere Ökonomie, insbesondere: S. 30–40 u. S. 241–275. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 681. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 701. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 694f. Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 687.

mittelbaren wirtschaft lichen Belangen gilt es, wie es regelmäßig heißt, eine Position aufzubauen, von der aus man ›weiter blickt‹, eine Position, die von größerer Dauer und Geistestradition zeugt. Vor diesem Hintergrund eines historistischen Gegenwartsbezugs, der in der Vergangenheit stets die Allegorie auf aktuelle Verhältnisse sucht, erklärt sich auch eine Reihe von verfahrensästhetisch einschlägigen Schriften Schmollers, die in den Folgejahren in seiner Straßburger Universitätszeit entstehen. In ihrer – zumindest von außen betrachtet – Abseitigkeit und Detailverliebtheit gehören Schmollers Reden und Dokumentationen über das historische Straßburg im Zeitalter der Zünfte zum Eigentümlichsten, was die historistische Nationalökonomie hervorgebracht hat. Von Carl Menger wurden sie im Methodenstreit mit reichlich Spott bedacht.13 Und tatsächlich muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass sich diese mikrographischen Arbeiten als Inbegriff nationalökonomischer Arbeit – als Ökonomie, wie sie sein soll – verstehen. Denn was Schmoller über Straßburg zu erzählen hat, erscheint dem ungeübten Betrachter eher als Lokalgeschichte für Spezialgelehrte. 5.1.1.

Die große Schule des öffentlichen Dienstes – Straßburgs Ministeriale im 13. Jahrhundert

Zwei Rektoratsreden und eine umfangreiche Quellensammlung nebst zweihundertseitigem Kommentar zur Geschichte der Tucher- und Weberzunft in Straßburg legt Schmoller in den 1870er Jahren in Straßburg vor. Die Rede über Strassburgs Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im XIII. Jahrhundert, mit der Schmoller 1874 das Rektorat der frisch dem Preußischen Reich eingegliederten Elsässer Universität übernimmt, gibt in Reinform jene Motive vor, die die beiden späteren Texte dann mit wachsender Komplexität ausführen. Erbauung, so macht bereits die Eröffnung der Rede klar, ist das Ziel dieses historiographischen Ausflugs ins 13. Jahrhundert. Die Tagesgeschäfte in den 1870er Jahren sind in den Augen des jungen Rektors von Parteienzwist geprägt (eine Einschätzung, die ebenso auf die Debatten um den ›Kathedersozialismus‹, in denen Schmoller seinerzeit führend auftrat, wie auf den international prekären Status der neuen Reichsstadt Straßburg anspielt). Umso mehr dürfe ein jeder Hörer, unabhängig von seiner Lagerzugehörigkeit, mit »Hochgefühl« auf die große Epoche der Städtegründung blicken.14 Es handelt sich um eine Epoche, in der sich die Naturalwirtschaft auf Geldwirtschaft umstellt, eine Epoche großen Bevölkerungswachstums, in der sich die Zünfte formieren und die mittelalterliche Marktgesellschaft ihr Gesicht erhält. Mit ostentativer Geste beschwört Schmoller die Denkmäler und Zeugnisse jener Tage: [W]ie im Nebel nur steigen die Gestalten vor uns auf; – aber welch grossartige Gestalten sind es und was haben sie geschaffen! diese Stadt, dieses Münster, diese ganz un-

13 14

Vgl. Abschnitt 2.1. dieser Arbeit. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 19.

423

vergleichliche Werde- und Blütezeit der Staufer, der deutschen Poesie, der deutschen Städtegründung.15

Wiederholt wird auf die reale Präsenz des Vergangenen im gegenwärtigen Leben hingewiesen (›dieses Münster‹). Das betrifft nicht zuletzt den Ort der Rektoratsrede selbst: An der Stelle des Schlosses (des Universitätsgebäudes) habe früher das bischöfliche Palatium gestanden und mit ihm der Fronhof, der »politische und wirtschaftliche Mittelpunkt der Ackerstadt«.16 Diese Koinzidenz bedeutet mehr als ein nur beiläufiges Dekor für die Darstellung. Denn Schmollers Rede sucht in ihrem Thema ganz explizit einen reflexiven Rückbezug von den industriellen Gründerjahren auf das Straßburg der ›ersten volkswirtschaftlichen Revolution‹. Im Zentrum steht dabei eine Institution, in der sich die akademische Zuhörerschaft durchaus selbst erkennen darf: die hochmittelalterliche Ministerialität. Diese Schicht unfreier bischöflicher und kaiserlicher Verwaltungsangestellter nimmt zu einem Zeitpunkt ihren Aufschwung, da das Reich mit dem wachsenden Domänenbesitz auch umfangreichere Kontrollaufgaben im Lehenssystem zu bewältigen hat. Im 11. und 12. Jahrhundert profi lieren sich diese Amtsträger aus dem Gefolge (Truchsess, Schenk, Marschall, Schultheiss etc.) als einflussreichste Beamte am Hof. Schmoller charakterisiert sie als besitzlose Intelligenz voll »Treue« und »Hingabe«: »[R]itterliche Lebensart, grosse politische Auffassung, praktische Geschäftserfahrung verband sich mit der formell noch vorhandenen Unfreiheit und mit der Abhängigkeit des Beamten«.17 Ebendiese ausgezeichneten Eigenschaften prädestinieren die Ministeriale auch als Reflektorfiguren für Schmollers zeitgenössische Hörerschaft: Sie sind gleichsam die Vorläufer des modernen Beamten- und Offi ziersstandes […]. Die Ursachen ihrer Leistungsfähigkeit sind in der Zeit ihrer Blüte dieselben, wie bei dem modernen Beamtenthum: hohe Bildung, hohe Intelligenz, ausgeprägtes Staatsgefühl ohne das Nebeninteresse einer Geld- oder Grundaristokratie, die in erster Linie für sich selbst erwerben und genießen will.18

Die Redlichkeit der Ministeriale, gepaart mit einer Orientierung auf das Große und Ganze des Staatswohls, verbürgt das Identifi kationsangebot für den modernen Hochschulkader. Inwieweit aber wird die Ministerialität, jenseits der personalen Charakteristik, beispielhaft? Wo liegt ihre repräsentative historische Leistung für den volkswirtschaftlichen Aufstieg der Stadt Straßburg? Sie erfüllt ihre progressive Rolle in den politischen Reformen eines Gesetzgebungs- und Verwaltungsapparats, die zur Umwandlung der frühmittelalterlichen Ackerstadt mit regelmäßig kaum mehr als 5000 Seelen zur mittelalterlichen Stadt mit bis zu 50.000 Einwohnern beitragen. Schmoller schildert dieses Bevölkerungswachs-

15 16 17 18

Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 20. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 30. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 28. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 28.

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tum als Effekt der bischöflichen Befriedung des Fronhofs. Die Blutrache wird aus den Grenzen der Stadt verbannt; gleichzeitig bildet sich über das geistliche Gericht zur Eindämmung von Fälschungen (»woraus nach meiner Überzeugung der grösste Theil des späteren Gewerbe- und Zunftrechtes hervorging«19) eine tragfähige Wirtschaftspolizei aus, die den Übergang vom strengen Frondienst mit Naturalabgaben in den Marktverkehr und die Geldwirtschaft ermöglicht. Wenn diese wirtschaftlichen Konsequenzen vergleichsweise asyndetisch aufsummiert werden, wechselt Schmoller vom historischen Agens (›Die Bischöfe und Beamten sahen‹) auf das Patiens der Entwicklung (›Die Stadt erhielt‹). Diese unterschiedliche Akzentuierung verfolgt strategische Zwecke. Denn Schmoller geht es um die Korrektur einer Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die einseitig die Produktivkräfte in den Vordergrund rückt: Man pflegt die politische Veränderung, die sich damals in den Bischofsstädten vollzog, mit dem allgemeinen politischen Satze zu erklären, dass jede wohlhabend und mündig gewordene Klasse der Gesellschaft ihren Antheil am Regiment fordere, die Bevormundung abwerfe; so komme es, dass Patricier und Kaufleute erst den Bischof und dann die Handwerker diese wiederum verdrängt hätten. An dieser Theorie ist etwas Wahres; aber sie ist viel zu allgemein, um die concrete Art richtig wiederzugeben, wie der historische Process sich gerade damals, gerade in den Bischofsstädten, speciell in Strassburg, vollzog.20

›Gerade damals‹, ›gerade dort‹, ›speziell‹ – wer Geschichte mit Sinn für Ordnungspolitik schreiben will, muss sich eingehender in die je konkreten administrativen Verhältnisse eines Wirtschaftsraumes vertiefen. Mit realistischer Feinoptik geht Schmoller an die Binnendifferenzierung innerhalb der bischöflichen Ministerialität, die letztlich zur Blütephase des 13.  Jahrhunderts führte. Der ausschlaggebende Widerspruch sei gerade nicht der zwischen Bischof und Kaufmannsschicht gewesen, sondern derjenige zwischen dem Bischof und dem Teil der Ministerialität, die für die städtische Verwaltung zuständig war. Denn diese Beamten vermitteln zwischen Einwohnerschaft und Bischof, sie treiben die Entwicklung des neuzeitlichen Geldsteuersystems voran und reformieren die Administration, sodass gegen 1200 die Stadt über einen eigenen Stadtrat verfügt. In Schmollers Schilderung treten diese Ministeriale als Moderatoren und progressive Neuerer des Gemeinwesen auf, gerade weil sie sich in einer besonderen Zwischenstellung befinden: Sie sind einerseits mit den Interessen der Bürgerschaft ›verwachsen‹ und stehen andererseits in der Tradition »der grossen Schule des öffentlichen Dienstes unter den grössten deutschen Kaisern«21; sie zeichnen sich ebenso durch Ortskenntnis und Wissen um die marktwirtschaftlichen Belange wie durch

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20 21

Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 29f. Schmoller schließt sich hiermit der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden hofrechtlichen Ursprungstheorie der Zünfte an. Vgl. dazu Otto Gerhard Oexle: Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jg. 118 (1982), S. 1–44, hier: S. 2f. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 42. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 49.

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»weltmännische, politische und militärische Bildung« aus.22 Kurz: Sie besitzen hinreichend Bildung und Praxis, um »das aufstrebende Gemeinwesen zu leiten«23, wenigstens solange, bis die endgültige Abnabelung vom Bischof (1260–1263) erfolgt und die Selbstadministration durch den Stadtrat einsetzt. Mit der Fokussierung auf diese Mittlerfigur des Ministerialen bearbeitet Schmoller im historisch-ökonomischen Diskurs ein Problem, das sich in ähnlicher Form auch im literarischen Diskurs stellt: Wie kann die Fülle eines an sich profanen Zeitstoffes exemplarisch werden; wie kann man ihm etwas Wesentliches abgewinnen, das über den zeitgeschichtlichen Kontext hinaus bedeutsam erscheint? Diese Frage, die im literarischen Diskurs als Verklärungsproblem aufgeworfen wurde (vgl. Abschnitt 2.3.), stellt sich für den realistischen Ökonomen umso dringlicher, als der vorliegende historische Stoff ungleich breiter repräsentiert wird. Eine detailgetreue Rekonstruktion von historischen Sachverhalten wie hier im Fachdiskurs lässt sich in den kanonischen Werken des Realismus nirgendwo finden. Allenfalls der historistische Strang realistischer Literatur (etwa die Professorenromane) legt ähnlich viel Gewicht auf die metonymische Rekonstruktion von kulturellen Kontexten wie hier der Nationalökonom.24 Im kanonischen Realismus ist die Verknappung von Kontexten und mithin ein gewisser Grad an diskursiver Ungenauigkeit bereits Teil der Verklärungsstrategie.25 Die Abstraktion von den Feinheiten des Zeitstoffs ist das erste Mittel seiner Verwesentlichung. Schmoller verpflichtet sich demgegenüber als Fachwissenschaftler auf eine möglichst genaue historische Rekonstruktion. In umfangreicher metonymischer Textarbeit geht es hier zuallererst um die präzise Darstellung eines kohärenten Wirklichkeitsraumes auf Basis sachlicher Zusammenhänge. Wenn Schmoller die verschiedenen Ämter mit ihren Funktionen aufzählt, wenn er den kontigen Zusammenhang von Domäne (Fronhof) und städtischem Markt erläutert, wenn er Entwicklungslinien des Stadtwesens aufzeigt, leistet er diese Basisarbeit der Metonymisierung. Allerdings ist diese Arbeit noch lange nicht hinreichend für eine realistische Darstellung. Hier geht es dem Nationalökonomen nicht anders als dem realistischen Literaten. Etwas muss seiner Darstellung hinzutreten und sie über die flächige historische Rekonstruktion erheben. Etwas muss die Metonymie transzendieren. Es geht um jenes zusätzliche Bedeutungsmoment realistischer Darstellung, das in der Poetologie als ›Verklärung‹ gefasst wird: die Tendenz aufs Wesentliche, in der der jeweilige aktuelle metonymische Frame und also die einfache Diegese durchstoßen wird. Gemäß dem Verklärungsauftrag sind denn die Ministeriale nicht allein x-beliebige Teilnehmer im historischen Geschehen (als solche figurieren sie selbstredend auch und sind Bestandteil der metonymischen Achse). Sondern sie sind eben auch

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Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 46. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 46. Vgl. dazu den folgenden Exkurs in Abschnitt 5.1.3. Vgl. Baßler: Gegen die Wand.

jene nunmehr allegorisch aufzufassenden Gestalten, die der modernen Zuhörerschaft Schmollers den Stellenwert von Ordnungspolitik und Administration illustrieren sollen. Die Ministeriale harmonisieren Interessengegensätze, ohne selbst primär von materiellen Interessen geleitet zu sein. Sie werden gewissermaßen ›sanfte Gesetzgeber‹ (mit Stifter gesprochen). Ihr öffentlicher Dienst, so schärft Schmoller auch mit Blick auf die Eingemeindung Straßburgs ins Deutsche Reich ein, gilt der höheren Allgemeinheit von (deutschem) Reich und Kaisertum. Aus dem Blick für das Große und Ganze beziehen sie das Ethos und die Fähigkeit, lokalpolitische soziale Fragen zu lösen. Weil die Verklärungsbewegung immer schon auf die Überschreitung eines gegebenen Rahmens angelegt ist, dienen die Ministeriale, wie gesagt, dem transhistorischen Brückenschlag zu den modernen Staatsdienern. Die Ähnlichkeitsbeziehung durchstößt die Kontiguität. Die verklärten Ministerialen sind im übertragenen Sinne ebenso Zeitgenossen von Friedrich II. wie von Reichskanzler Bismarck. Als Nachfahren der kaiserlichen Hofgesellschaft finden sie »in dem ritterlichen Tristan ihr Vorbild und Ideal«.26 Mit dem Verweis auf die Minne-Kunst rundet sich die Aufwertung des alten wie neuen öffentlichen Dienstes ab. Und erst dieser verklärungswürdige öffentliche Dienst garantiert die wahrhafte ›Blüte‹ eines Gemeinwesens und mithin die Verklärung der historischen Wirtschaft. In der Literatur des Poetischen Realismus, so ist hinlänglich ausgeführt worden, besitzt die verklärte Wirklichkeit stets einen prekären Status. Sie ist nicht auf Dauer angelegt, sondern muss als durch und durch dynamisch aufgefasst werden. Jede tiefere Bedeutsamkeit läuft stets auf unverklärt metonymische Wirklichkeitsbilder zu. Metaphorische, symbolische und allegorische Momente sind ohne ihre umgehende Profanierung nicht zu haben. Die Differenz beider Ebenen wird paradigmatisch durch die Entsagung markiert. Entsagung verweist als intertextuelles Motiv des Realismus auf jene höhere Bedeutsamkeit, die auch dann noch in Sichtweite bleibt, wenn die metonymischen Verhältnisse längst über den harmonischen, verklärungswürdigen Zustand hinaus sind. Der entsagende Held wählt einen defizitären, aber ›lebbaren‹ Selbstentwurf, bezeugt darin seinen Widerstand gegen das bloß Profane (Ehe, Beruf, Altern) und hält gleichsam den Wunsch nach einer harmonischen Grundordnung des Daseins, das über die einzelne Biographie hinausgeht, aufrecht. Damit bleibt der überindividuelle Ordnungsbegriff im Hintergrund der realistischen Erzählung zumindest in Reichweite. Wie verhält es sich in diesem Punkt mit dem historisch-ökonomischen Diskurs? Auch er sucht eine Position oberhalb des profanen, wirklichen Interessenspiels (des Marktes und der politischen Parteien), und auch er begreift jedwede Lösung gleichzeitig als transitorisch. Konsequenterweise erscheinen bei Schmoller die Ministerialen als Entsagende. Sie sind die Herren des Schrifttums, der Verwaltungsakte, der

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Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 46.

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Wirtschaftspolizei – aber sie sind es nur »auf einige Zeit«.27 Denn der Preis ihres Einsatzes ist hoch; sie beziehen ihre Leistungsfähigkeit aus einem interesselosen »Staatsgefühl ohne das Nebeninteresse einer Geld- und Grundaristokratie, die in erster Linie für sich erwerben will«.28 Und ebendieser Status ist nicht lange aufrechtzuerhalten. So heißt es schon über die königlichen Ministerialen: »[S]ie fingen an als Verwalter all der schönen Güter und Domänen selbst darnach zu trachten, sich ein Stück nach dem andern als Lehen geben zu lassen, sie fingen an Vermögen zu erwerben […]. Die staufischen Ministerialen wurden damit so unbotmäßig als die Herren und Ritter; der staufische Staatsbau war damit in seinem innersten Lebensprinzip getroffen.«29 Das Eigennutzenprinzip holt die Hüter der Ordnung beständig ein. Ihre Verwaltungskraft reicht nur für eine gewisse historische Dauer. Auch die bischöflichen Beamten gehen schließlich mit der Selbstermächtigung des Stadtrats unter (bzw. sie gehen qua Heirat in die städtischen Schichten ein). So sind die Instanzen des Gemeinwohls ebenso vergänglich wie die Blütezeiten, die sie bewirken. Mit dem Verlust der Entsagung öffnet sich das Gemeinwesen für das neuerliche Spiel der Interessengegensätze. In den folgenden Jahren führt Schmoller in zwei weiteren Straßburg-Schriften diese historisch-ökonomische Erzählung mit all ihren Motiven aus. Es geht auch dort um Ordnungspotenziale, die durch eine strukturell notwendige Entsagung vom zeitgenössischen Kräftemessen erlangt werden, doch stets nur eine begrenzte Zeit wirksam bleiben. Gleichzeitig wächst das historische Wissen und also die metonymische Dimension der Texte an. Das führt auch in diesem Diskurs zu einem Problem, das Richard Brinkmann, wie oben gesehen, in Auseinandersetzung mit Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde für den literarischen Diskurs einschlägig beschrieben hat: Je detaillierter und sachhaltiger die metonymische Ausgestaltung, desto expliziter muss jener Bedeutungsmehrwert der ›Verklärung‹ erwirtschaftet werden, der doch eigentlich (in Anlehnung an Goethe) ›symbolisch‹ aus dem Erzählten selbst erwachsen sollte. Wo bereits die Darstellungsebene ein hohes Maß an Aufwand erfordert (in der Einarbeitung präzisen Sachwissens), da kommt das Verallgemeinernde und Zeichenhafte dann vergleichsweise deutlich markiert als »Sauce« über den Text.30 Ausdrückliche Analogien und Metaphern lagern sich da an. Es sind Effekte einer stillen Kommentierung der Diegese von zweiter Ebene aus.

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Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 28. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 28. Schmoller: Rede über Strassburgs Blüte, S. 28f. Vgl. dazu allgemein auch die emphatischere Schilderung in Gustav Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat vom 16. bis 18.  Jahrhundert [1894]. In: Gustav Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. 289–313, hier: S. 293f. Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S.  207. Alles Weitere dazu in Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit.

Auch diese Problematik lässt sich in Schmollers Weiterarbeit am Straßburg-Thema verfolgen. Seine Texte werden bis zum Bersten mit historischem Detailwissen angefüllt. Dabei ist ihnen eine Personalisierung des Ordnungsgedankens (wie bei den Ministerialen) nicht mehr möglich, insofern hier stärker ausdifferenzierte Wirtschaftskulturen Gegenstand werden. Dieses Mehr an metonymischer Komplexität kompensiert Schmoller immer wieder durch kommentierende Passagen, die mit betont metaphorischem Aufwand die zeichenhafte Allgemeinheit, das ›Bezeichnende‹ der Zustände, nachreichen. Auch der historisch-ökonomische Diskurs besitzt demnach eine Tendenz, ›Sauce‹ auszuschütten. Wie geht das vor sich? 5.1.2.

Ordnung schaffen – Straßburgs Verfassungs- und Zunftgeschichte vom 13. bis zum 17. Jahrhundert

Der Fortsetzung seiner offenen Geschichtsschreibung, die den Wechsel zwischen harmonischen Zeiten (›Blüte‹) und Phasen von Parteikämpfen beobachtet, widmet sich Schmoller in den folgenden Jahren in Straßburg, zunächst mit einer Rektoratsrede zur Feier des Stiftungsfestes der Universität: Strassburg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im XV. Jahrhundert (1875). Die konfliktreiche Zeit wird bereits eingangs durch organizistische Metaphorik entdramatisiert: »Wellen« und »krampfhafte Zuckungen« hätten das Gemeinwesen in den Jahren der Zunftaufstände 1370–1490 befallen, heißt es, mit den von Roscher bekannten Krankheitstropen.31 Die Pointe der Rede bedient sich bei der Metaphorik der Lebensalter: »Auf die Flegeljahre des 14. Jahrhunderts war eine besonnene Reform gefolgt.«32 So werden die Klassenkämpfe, in denen die Handwerkerschaft dem kaufmännischen Patriziat die städtische Herrschaft streitig macht, gewissermaßen neutralisiert. Die Aufmerksamkeit gilt nicht den rivalisierenden Interessengruppen, sondern den wechselnden Zuständen des Gemeinwesens zwischen Ruhe- und Unruhephasen. Schmoller perspektiviert stets von der Ordnung (Ruhe/Gesundheit) her. Anders als in der ersten Rektoratsrede lässt sich die Ordnungsinstanz hier, wo das 15. Jahrhundert Gegenstand ist, nun nicht mehr einfach personalisieren. Die ausdifferenzierte Stadt wird vielmehr in der wachsenden Zahl ihrer Verwaltungsorgane beschrieben. Die Gründung der Zünfte bedeutet dabei eine erste Organisationsform, eine Verallgemeinerung und Selbstorganisation der handwerklichen Partikularinteressen (Schmoller führt sie, wie gesagt, direkt auf die früheren Reglementierungen der Ministerialität zurück). Schmoller konterkariert den Aufstieg der Zünfte beständig mit dem Verfall des herrschenden Patriziats: »[I]hr moralisches Niveau war gesunken. […] Sie waren übermüthig geworden, diese städtischen Patricier, seit sie Niemanden mehr über sich fühlten; kein Bischof, kein Kaiser hatte ja ihnen mehr etwas

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Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 3. Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 66.

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zu sagen.«33 Aber auch die Zünfte verharren, nachdem sie sich weitgehende gewerberechtliche Autonomie gesichert haben, bald in einer kleingeistigen Interessenpolitik, in einem »cynischen Erwerbstrieb«.34 Dieser Widerspruch ungeregelter Partikularinteressen bereitet ein Krisen-Szenario, gegen das Schmoller im langen Schlussteil seiner Rede eine neue ordnungspolitische Allgemeinheit zu kennzeichnen vermag. Über gute zwanzig Seiten wird die Reform des Ämterwesens geschildert, die Ausdifferenzierung des Rates, die Trennung von Exekutive und gesetzgebender Gewalt. »Es ist die Ueberzeugung durch die härtesten Schläge des Schicksals festgestellt, dass ein von Parteien beherrschtes Parlament ohne feste stabile Regierungsbehörde über ihr [sic!] kein grosses Gemeinwesen erspriesslich regieren und vollends nicht eine vernünftige auswärtige Politik treiben könne.«35 Bezeichnenderweise schaltet Schmoller für die Schilderung dieser Entwicklung in eine vom Agens abgewandte Redeweise (»Man stritt sich«; »man hatte, wo das Bedürfnis am dringendsten war, einzelne selbständige Behörden geschaffen«36). Sie kulminiert in einer maximal abstrahierenden Wachstumstrope: »Aus dem Schiffbruch einer übertriebenen Selbstverwaltung erhebt sich in dem Strassburg des 15. Jahrhunderts zuerst noch halb im Nebel, dann aber immer deutlicher in festen klaren Linien das moderne Aemterwesen mit seiner Lebenslänglichkeit, seiner speciellen Berufsvorbereitung, seiner Arbeits- und Competenzentheilung […].«37 Die moderne staatliche Organisation tritt in dieser Darstellungsweise scheinbar von oben an die Parteienkämpfe heran. Denn Gemeinsinn ist bei Schmoller in letzter Instanz nicht auf den (wirtschaftlichen) Egoismus einzelner Interessengruppen reduzierbar. Die Zunftgeschichtsschreibung, die Schmoller in dieser zweiten Rektoratsrede skizziert, liegt vier Jahre später in einer umfangreichen Quellensammlung nebst Darstellungsteil zur Strassburger Tucher- und Weberzunft ausgearbeitet vor. Sie umfasst die Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert und ist als Quintessenz des volkswirtschaftlichen Historismus bei Schmoller anzusehen. Drei Zielsetzungen verbinden sich mit der Schrift: a) Sie steuert ihren Teil zur »Geschichte des deutschen Zunft wesens« bei und steht demnach, wie schon die Rektoratsreden, in einer deutschnationalen Perspektive.38 b) Sie behauptet nationalökonomische Relevanz als Beispiel einer Institutionengeschichte und untersucht also wie grosse volkswirthschaft liche Institutionen, gestützt auf gewisse Interessen, gleitet durch gewisse Ideale, Form gewinnend in Sitte und Recht, langsam durch die Jahrhunderte entstehen, erst nach langen Kämpfen sich im Volksbewusstsein und praktischen

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Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 19. Die moralische Komponente wird in beständigen Verweisen auf Luxusexzesse und Willkürmaßnahmen unterstrichen. Vgl. S. 20f. u. S. 25–27. Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 42. Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 69. Beide Zitate in Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 47. Schmoller: Strassburg zur Zeit der Zunft kämpfe, S. 69. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. XI.

Volksleben festsetzen, während einer Zeit des Gleichgewichts der ihnen dienenden und entgegengesetzen Kräfte scheinbar allmächtig das wirthschaft liche Leben beherrschen und zuletzt ebenfalls im Laufe von Jahrhunderten unter langsamer sukzessiver Aenderung der wirthschaft lichen Bedürfnisse, der Gefühle, der Sitten und Rechtsüberzeugungen anderen Institutionen Platz machen.39

Dieser historische Wandel der Institutionen wird auch hier in einem offenen Narrativ vorgetragen, das allgemein eine Abfolge von Spannungen und Befriedungen im Gemeinwesen beschreibt und mithin von Blütezeit zu Blütezeit geleitet. Schmoller definiert hier erstmals seine zentrale historiographische Kategorie der ›Blüte‹: Mit dem von der Pflanze genommenen Vergleich der Blüthe bezeichnen die nachlebenden Geschlechter in der Regel die kurze Spanne Zeit, während welcher eine der geschichtlichen Entwicklung unterworfene Institution im Kampfe um ihre Existenz die ihr dienenden Kräfte zur hingebendsten Aufopferung begeistert, während welcher die Tugenden, auf denen sie ruht, am deutlichsten hervortreten, die ihr eigenthümlichen Sitten und Rechtsregeln eine feste klare Form annehmen, ohne doch schon durch das Schwergewicht der Form an sich die lebendige Fortschrittsbewegung zu hemmen.40

Mit dem Akzent auf sozialen Ausgleichsbestrebungen bei gleichzeitigem Wissen um die Unabschließbarkeit der geschichtlichen Entwicklung verbindet sich die dritte Stoßrichtung dieser Schrift: c) Es geht ihr auch um aktuelle sozialpolitische Implikationen. Vorgeführt werden soll, wie sozialpolitische Fortschritte im Interesse der mittleren und unteren Klassen, trotz ihrer Irrthümer, trotz hässlicher und gewaltthätiger Ausbrüche ihrer Leidenschaften, möglich sind, wie aus starken sozialpolitischen Kämpfen heraus durch massvolle Bescheidung auf das Erreichbare der soziale Friede wieder herzustellen ist, aber auch, wie selbst für kleine Errungenschaften lange Epochen des Kampfes, der Kompromisse, der tastenden Versuche nöthig sind.41

Die sozialpolitische Volte richtet sich anders als noch in der Studie über die Geschichte der deutschen Kleingewerbe von 1870 nunmehr nicht so sehr gegen die freihändlerische ›abstrakte‹ Schule, sondern gegen eine neuartige Abstraktion, eine von Seiten der Linken. Um sich gegen die sozialistische Klassengeschichtsschreibung abzugrenzen, gibt Schmollers Einleitung zwei Tendenzen vor: einerseits die kühne und zuversichtliche Erwartung einer besseren sozialen Zukunft , einer fortschreitenden Hebung der unteren Klassen, die Hoffnung auf das Gelingen grosser sozialer Reformen in Sitte und Recht, und andererseits jene ruhige Besonnenheit, die in nüchterner Arbeit zufrieden ist, zunächst für das Kleine und Nächstliegende zu kämpfen, Sandkorn auf Sandkorn zu häufen, die den Ikarusflug sozialistischer Weltverbesserer nicht schon deswegen verurtheilt, weil unser heutiger Gesellschafts- und Wirthschaftszustand nicht der Verbesserung fähig und bedürftig wäre, die aber solche Ideen jedenfalls praktisch

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Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. XI. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 531. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. XI.

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bekämpft , weil sie weiss, dass, wer nach den Sternen greift , den festen Boden auf der Mutter Erde verliert, dass wer an die physische Gewalt appellirt, sich selbst stets eine Grube gräbt.42

Eine Politik der kleinen Schritte wird hier gegen den ›Ikarusflug sozialistischer Weltverbesserer‹ vorgebracht; statt des Appells an ›physische Gewalt‹ darf man auf detaillierte Schilderungen von Interessenausgleich durch politische Reformen gespannt sein. Schmollers Mikrohistorie mit Lokalkolorit gibt sich so als Alternative zur optimistischen Metageschichte der revolutionären Klassenbewegung zu verstehen. Tatsächlich ist die Studie von ausgesuchter Nüchternheit. Breite Aufzählungen informieren bis in die letzten verbürgten Einzelheiten hinein über Verordnungen und Regularien der Zünfte, über Beitragsgelder, Mitgliederzahlen, Zugangsbeschränkungen, Vermögensverhältnisse oder Qualitäts- und Mengenvorschriften in der Produktion. Auch allgemeinere städtische Verhältnisse vom Münzwesen bis zur Einwohnerzahl in Straßburg wie in anderen Reichsstädten werden in ausufernden Parataxen katalogisiert. Über lange spröde Abschnitte hinweg folgt man letztlich verbalisierten Statistiken. Dazwischen wechselt aber Schmoller regelmäßig auf die Metaebene, auf der sich die Fülle von Belegen (»einiges Einzelne«43) in den institutionenökonomischen Rahmen einfügt. Erst hier trifft man auf eine vergleichsweise lebendigere Darbietung, auf adverbiale und attributive Zuschüsse, auf metaphorische Verklärung des profanen Archivmaterials (mithin auf die oben angesprochene ›Sauce‹ im Sinne Brinkmanns). Die leitenden Topoi der hier entwickelten Erzählung werden bereits im Eingangskapitel angerissen. Nach einem kurzen stufengeschichtlichen Abriss des menschlichen Wirtschaftens überhaupt (von der Hausarbeit der Selbstversorger über die Hausindustrie für lokale Märkte zum modernen Fabrikwesen) fokussiert Schmoller auf die Geschichte der Weberei bei den Germanen (schließlich soll ja ›deutsche‹ Geschichte erzählt werden). Erst dann peilt er das mittelalterliche Marktwesen im Besonderen an. Seine Entstehung wird auf die Synthese romanischer und germanischer Anschauungen zurückgeführt, auf ein Zusammenspiel von klösterlicher Ordnung und einer sich langsam ausdifferenzierenden Handarbeit. Ein längerer Exkurs über die Entwicklung des Wertbewusstseins hebt dabei die Bedeutsamkeit fester Gütermaßstäbe für die Marktentstehung heraus. Das ›freie Spiel von Angebot und Nachfrage‹ sei überhaupt erst dort möglich, wo sich über Jahrhunderte hinweg Durchschnittsvorstellungen von Qualität und Quantität der auf dem Markt gehandelten Produkte ausgebildet hätten.44 Die Aufgabe, diese Qualitäten in der Anfangszeit zu sichern und also sittlich bildend auf das Wertbewusstsein einzuwirken, sei durch wirtschaftspolizeiliche Verordnungen und Vorschriften übernommen worden. Schmoller führt hiermit historisch ein Argument aus, das in seinen damals aktuellen Auseinandersetzun-

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Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. XII. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 383. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 370f.

gen mit dem freihändlerischen Liberalismus und Heinrich von Treitschke wiederholt vorgebracht wird: Märkte, so Schmoller, sind überhaupt nur als regulierte zu denken; schon ihr Entstehen verdankt sich äußerlichen Reglementierungen.45 Mit dem Übergang zur Zunftentstehung im zweiten Kapitel geht der Zoom ins Partikulare weiter und erreicht das eigentliche Thema der Darstellung. Schmoller handelt die Geschichte der Zunft in drei Stufen – Aufstieg, Blütezeit, Verfall – ab.46 Während in der Zeit der Marktentstehung im 13. Jahrhundert noch eine exogene, vom bischöflichen Beamtenwesen getragene Verwaltung wirksam war, beginnt nunmehr die Geschichte eines wachsenden Machtanspruchs der Zünfte, angetrieben durch den Willen zur Selbstverwaltung. Schmoller entwirft ihren Ursprung in Weiterführung der bereits angelegten Dichotomie von romanischen und germanischen Tendenzen: Die deutschen Zünfte des 13. und 14.  Jahrhunderts waren Vereine oder Genossenschaften von Gewerbetreibenden eines Handwerks, die gemeinsam ihre gewerblichen und socialpolitischen Interessen verfolgten, aber ihre Vereinsthätigkeit auch auf alle Seiten des geselligen und gesellschaft lichen Daseins ausdehnten, vor allem für politische Herrschafts- und praktische Verwaltungszwecke ihrer Verbände ausnutzten oder ausnutzen ließen und damit zu Korporationen des öffentlichen Rechts, zu Polizei- und Gerichtsbehörden wurden. Wenn diese Auffassung richtig ist, so ist es auch klar, dass die Zünfte aus zwei Strömungen und deren Vereinigung erwuchsen und ihre Lebenskraft erhielten, aus einer privat- und einer öffentlich-rechtlichen, aus einer individualistischen und einer staatlichen, einer genossenschaft lichen und einer polizeilichen, man könnte auch sagen aus einer germanischen und einer romanischen.47

Die ›germanische Wurzel‹ verkörpert hier das vitale Eigennutzenprinzip, eine ›rohe‹ Dynamik wirtschaftlichen Strebens Gleichgesinnter, während der ›christlich-romanische‹ Einfluss die überindividuelle staatliche Orientierung verbürgt. Erst die öffentliche Garantie der Zunftprivilegien (des ›Zunftzwangs‹) gibt der Institution ihre Form. In dieser zweiten Komponente liegt damit der Anschluss an die kulturelle Tradition und, wie Schmoller ausführt, die Garantie eines geregelten Kulturfortschritts.

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Vgl. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S.  37– 39. Beispiele von Marktregulierung als Instrument der Bildung und ›Versittlichung‹ wirtschaft lichen Bewusstseins durchziehen entsprechend die gesamte Straßburg-Schrift; besonders aufschlussreich sind die Passagen über das Straßburger Kaufhaus seit 1358: Vgl. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 427–430. Kanonisch wird diese Verlaufsgeschichte dann durch einen Handbuchartikel seines Schülers Wilhelm Stieda: Zunft wesen [Artikel]. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. von Johannes Conrad/Ludwig Elster/Wilhelm Lexis/Edgar Loening, Bd. 8, 3. Aufl., Jena 1911, S. 1088–1111. Stieda unterteilt die Geschichte der Zunft in Gründungsphase (12.–13.  Jahrhundert), Blütezeit (14.–15.  Jahrhundert) und Verfall (16.–18.  Jahrhundert). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Situierung vgl. Josef Ehmer: Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft . In: Friedrich Lenger (Hg), Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, Bielefeld 1998, S. 19– 77, besonders: S. 19–35. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 375f.

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Ohne die ›Strenge‹ der Gesetzgebung und Verwaltung wirkt die ›jugendliche‹ Rohheit und Freiheitslust des germanischen Erwerbstriebs bloß anarchisch. Entsprechend erhält die Geschichte des Zunft wesens, die Schmoller aus dieser Ursprungscharakteristik heraus erzählt, genau dort einen positiven Zuschnitt, wo sich durch die beständig verfeinerten Zunftregularien Schulung und ›Veredelung‹ der ›rohen‹ Gemütstimmung der Mitglieder schildern lassen. Die Aussetzung der Konkurrenz im Inneren sowie die technischen, sittenpolizeilichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Vorschriften der zunehmend autonomen Zünfte gelten als »sittigendes Element« für die andernfalls ›ungezähmten Leidenschaften‹ der mittelalterlich-kindlichen Gemütsstimmungen.48 In dieser Hinsicht erscheint die Zunft also als Vermittlungsinstanz allgemeiner Ordnungsansprüche gegenüber tendenziell ›rohen‹ und ›rauflustigen‹ Individuen. Umgekehrt wird die zunehmende Entkoppelung von staatlicher Aufsicht, verbunden mit einer aggressiven Interessenpolitik nach außen (Widerspruch mit dem Rat) und innen (Widerspruch zwischen Meistern und Gesellen49), als problematische Tendenz der Zunftentwicklung geschildert.50 Durch die Autonomisierung wird die Zunft nunmehr selbst zu einer Individualität, die ›egoistisch‹ und anarchisch das soziale Gefüge stört. Ausdruck dieser Diskrepanzen sind dann die Zunft unruhen des 14. Jahrhunderts, an deren Ende eine ordnungspolitische Abstraktionsbewegung von den Zünften gefordert ist: Die Zunft musste sich erst richtig einfügen lernen in den Zusammenhang eines grösseren Ganzen; erst nachdem sie das gelernt, konnte sie die öffentlichen Aufgaben, die ihr geworden, und denen sie bisher oft verworren und unklar gedient, richtig lösen. Im Gefühle jugendlicher Kraft hatte sie bisher die Schranken nicht gefunden, die jeder sozialpolitischen Institution erst ihre volle Wirksamkeit und ihren Adel geben; aus der Bändigung dieser Kraft erwuchs die Zunftreform des 15. Jahrhunderts.51

Was die Zunft zu leisten hat, ist – entsprechend der Lebensalter-Metaphorik, die Schmollers gesamte Kommentarebene durchzieht – eine Entsagung. Ihre ›gröbli-

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Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 455. Vgl. hierzu auch die Schilderung des Arbeitskampfes innerhalb der Zunft bei Karl Bücher: Zur Arbeiterfrage im Mittelalter [1876]. In: Karl Bücher, Beiträge zur Wirtschaft sgeschichte, Tübingen 1922, S. 245–258. Die Vor- und Nachteile des Zunft wesens werden bis weit in die 2. Hälfte des 19.  Jahrhunderts hinein auch unter aktuellen Gesichtspunkten diskutiert. Siehe dazu Stieda: Die Lebensfähigkeit des deutschen Handwerks, S. 12–15. Bereits früh hat Schmoller den Tenor der Einschätzung vorgegeben. Seit dem 18.  Jahrhundert sei das Zunft wesen einer »unübersehbaren Verkrustung« unterlegen; »Stumpfsinn und Apathie, kleinlicher Spießbürgergeist und beschränkte Indolenz« zeichneten die Zunft in ihrer Schrumpfungsphase aus. Siehe Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe, S. 14f. Für eine neuere Überprüfung (und Revision) dieser über lange Zeit paradigmatischen Kritik des späten Zunft wesens vgl. Heinz-Gerhard Haupt: Neue Wege zur Geschichte der Zünfte in Europa. In: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich, Göttingen 2002, S. 9–37. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 467.

chen‹ Übertreibungen, das gewissermaßen pubertäre »Messen der Kräfte«52 in den »Flegel- und Jugendjahren der Institution«53 (1300–1432), weichen in der Lernphase einem Zurücktreten von den eigenen narzisstischen Macht- und Erwerbsansprüchen. ›Schranken finden‹ lautet das Motto der Reifejahre; die Eigennutzendynamik muss sich selbst auf höherer Ebene vermitteln. Wie Kontrollfunktionen an städtische Institutionen delegiert werden und wie sich der öffentliche Dienst ausdifferenziert, ist Gegenstand der nachfolgenden Darstellung der Jahre zwischen 1433 und 1560 (Schmoller untersucht seinem sozialpolitischen Ansatz entsprechend stets zunächst rechtliche Voraussetzungen und anschließend die wirtschaftlichen Ergebnisse der Periode). Im Obersatz dieser Entwicklungsphase wird die Entsagung vom Sturm und Drang als Besinnungsphase des Lebens metaphorisiert (›Ruhe‹, ›Friede‹, ›Reife‹): Nach den grossen historischen Epochen wilder Gärung, geringer Gesetzgebung, wir möchten sagen anarchischer Vorwärtsbewegung mit freierem Spiel der Kräfte kommen nothwendig Zeiten ruhiger Organisation, fester staatlicher Ordnung, friedlicher Ausgestaltung, möglichst weit gehender gesetzgeberischer Thätigkeit; und wenn die ersteren Fermente des Fortschritts erzeugen; die letzteren bringen sie zur Blüthe und zur Reife.54

Diese Blütephase, die mittleren Jahren im ›Leben der Zunft‹, ist von begrenzter Dauer, wie Schmoller bereits zu Beginn dieses Abschnitts zu Bedenken gibt. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne; dem Realisten wird ein jeder Höhepunkt zum ephemeren Idealzustand; er selbst entsagt jedweder Heilserwartung. Entsprechend untriumphal gerät seine Geschichtserzählung: In diesem Übergang von unklaren, tastenden, embryonischen Zuständen zu einem festen Rechtsmechanismus, der dann mit der Zeit durch seine Festigkeit und Starrheit die Fähigkeit des Fortschritts verliert, drückt sich eines der allgemeinsten und wichtigsten Gesetze der sozial- und rechtspolitischen Entwicklung aus.55

Mit dem Jahr 1560 sieht Schmoller den Höhepunkt der Zunfthistorie gekommen. Die Jahre nach 1560, die die besagte Verfestigung und das Ableben der Institution umfassen, werden vergleichsweise kurz abgerissen. Ähnlich wie in der oben erwähnten zweiten Rektoratsrede, der wesentliche Punkte dieses Mittelabschnitts (mit den Jahren 1433–1560) entnommen sind, dominiert auch in Schmollers großer Zunftgeschichte Straßburgs die agensabgewandte Darstellungsweise, wo es um ordnungspolitische Reformen geht. ›Immer lauter wurde der Ruf‹, ›es gärte‹, das »nie ruhende Leben muss sich dann neue Organe schaffen«56 – in solchen Wendungen wird die Implementierung neuer Verwaltungsorgane und Gesetze präsentiert. Wo aktive Veränderungen mit einem passivischen Fokus

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Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 465. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 471. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 470. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 470. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 471.

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eingeführt werden, unterläuft dann auch schon mal eine Katachrese (»Die konservativeren Stimmungen gewannen die Oberhand«57). Anschließend sprechen allein die mit positivistischer Zurückhaltung vorgelegten Verordnungen und amtlichen Urkunden. Der öffentliche Dienst steht somit auch hier, vergleichbar der ersten Rektoratsrede über die Ministerialität, in Distanz zum freien Spiel der Marktinteressen, wie es die Zunft nach außen verkörpert. Ordnung kommt gewissermaßen von oben bzw. aus einer längeren öffentlich-rechtlichen Tradition (eben aus den ›romanischen Wurzeln‹). Aus Partikularinteressen entstammen etwaige Reformen jedenfalls nicht. Schmoller hat diesen strukturellen Sachverhalt noch einmal stärker personalisierend ausgearbeitet in seinen Studien zur preußischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, die überwiegend in die Zeit seiner Berliner Professur ab 1882 fallen. Hier vernimmt man noch einmal stärker das Loblied auf den Beamtenstand. In der einschlägigen Rede zur Genese des Beamtenstaates vom 16. bis 18. Jahrhundert heißt es über den idealtypischen Beamten: Ich möchte sagen, ein tüchtiger, ehrlicher, über dem Egoismus der einzelnen sozialen Klassen stehender Beamtenstand sei stets ein sociales und wirtschaft liches, wie ein psychologisch-sittliches Kunstwerk, das immer wieder drohe, den Baumeistern unter den Händen einzufallen.58

Das Kunstwerk des ›Beamtenstandes‹ ist stets bedroht, weil seine Existenz von einer Entsagungsleistung abhängt, die strukturelle wie persönliche Komponenten besitzt. Die Strukturen der ›Entsagung‹, d.h. der Isolation vom unmittelbaren Marktgeschehen, erfasst Schmoller in der Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen preußischen Beamtentums: Nur langsam erfüllten sich die Vorbedingungen, die ihr [der Beamten] geistiges und moralisches Niveau hoben: die Beseitigung der Gebühren, der Naturalien, der ganzen Spekulation auf Lehen und andere Vorteile, die Ausbildung eines geregelten Geldbesoldungswesens, ein klares Amtsrecht, feste Instruktionen und Kontrollen, ein gut geordnetes Vorschlags- und Ernennungsrecht, ein amtliches Straf- und Disciplinarrrecht, ein richtiges Prüfungswesen, ein fester Stufengang der Ämter, eine feste Tradition darüber, welchen socialen Klassen die einzelnen entstammen, welche Bildung sie haben müssen, und als Folge von all dem die festgefügten Ehr- und Pflichtbegriffe.59

Die persönliche Seite mitsamt den Ehr- und Pflichtbegriffen, die diesen Vorbedingungen erwachsen, stellt sich ebenso prekär dar wie der gesamte Zusammenhang: In jedem größeren Beamtenkörper entsteht stets wieder die Gefahr, daß er zu einer Vetternclique werde, daß die Patronage ihn korrumpiere, daß zu viele faulenzende Sinekurenjäger, die bei wenig Arbeit sich pflegen und bereichern wollen, eindringen, daß der Schlendrian Herr werde über die frische Initiative und hingebende Pflichttreue. Es liegt das an der Thatsache, daß der Beamte gegen ein stetes, mäßiges Gehalt und gegen

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Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 468. Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat, S. 307. Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat, S. 307.

gewisse Ehrenrechte das höchste Maß von Eifer und Hingebung für Zwecke einsetzen soll, die zunächst nicht mit seinem natürlichen Egoismus, seinem wirtschaft lichen Selbstinteresse zusammenfallen, oder die wenigstens nur bei hoher sittlicher und intellektueller Bildung ihm als die ersten und wichtigsten am Herzen liegen können.60

Nur in dem Maße, in dem der Beamte in der Lage ist, die persönlichen Erfordernisse des öffentlichen Dienstes zu internalisieren, auf dass ihm das Allgemeinwohl zum ›ersten und wichtigsten‹ Eigeninteresse werde, vermag er seinem Amt zu genügen. Allein die Entsagung von konkreten wirtschaftlichen Selbstinteressen garantiert ihm seine Leistungsfähigkeit und die ›Ehrenrechte‹ seines Standes. Von dem entsagungsbereiten Beamten und nur von ihm gilt, dass er vermöge ›unparteiischer‹ Bildung einen Überblick gewinnt und also ›weiter sieht‹, weiter als alle Interessengruppen auf dem Markt.61 Dass diese labile Konstruktion im 19.  Jahrhundert zunehmend problematisch wird, lässt Schmoller in seinen Darlegungen zum Beamtenstaat ebenfalls anklingen. Der aufgeblähte Beamtenstaat des 18. Jahrhunderts ist in seiner Form den Erfordernissen der liberalen Marktgesellschaft und dem neuen Verfassungsstaat nicht angemessen. Gegen das Ideal des Beamten aber spricht diese historisch neue Herausforderung einstweilen nicht. Auch nach dem Ende des absolutistischen Kameralismus sieht Schmoller einen (schlankeren) Beamtenapparat in der Pflicht. Er ist grundlegender Bestandteil in einem breit gefächerten, marktfernen Segment des öffentlichen Dienstes und gilt als Element dessen, was Schmoller in seinen Auseinandersetzungen mit Treitschke als ›besitzlose Intelligenz‹ charakterisiert hat (Geistliche, Lehrer, Staats- und Kommunalbeamte, Offiziere, Ärzte, Advokaten, Literaten, Maler).62 In dieser Schicht, der Schmoller nicht zuletzt selbst angehört, entdeckt er die progressive Bildungselite. Sie gibt, vermöge der ›überparteilichen‹ Wissensbildung, die Garantie staatlichen Ordnungsvermögens und staatlicher Integrität ab. In einer Reihe mit den Ministerialen des Mittelalters stehend, verbürgt sie eine Gemeinwohlorientierung, die beständig notwendige soziale Reformen gegen das Prinzip der Marktallokation und das bloße Güterwachstum durchzusetzen vermag. Dieses Pathos interessenferner, ›überparteilicher‹ Wissenschaftlichkeit und Bildung reicht bis in das Selbstverständnis des Vereins für Socialpolitik, das Schmoller in regelmäßigen Programmreden wirkungsstark artikuliert hat.63

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Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat, S. 307. Vgl. Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat, S. 297. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 147. Fritz K. Rieger hat die Bildungshintergründe dieser Intelligenz in seiner Analyse des deutschen Mandarinentums dargelegt. Vgl. Rieger: Die Gelehrten, S. 47–61. Hier sei lediglich auf die drei unter der Überschrift ›Sinn und Wert des unparteiischen Studiums der sozialen Frage‹ zusammengefassten Reden verwiesen, in Gustav Schmoller: Zwanzig Jahre Deutscher Politik (1897–1917). Aufsätze und Vorträge, München, Leipzig 1920, S. 25–50.

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Es ist diese Annahme einer vermeintlichen Neutralität und Überparteilichkeit des öffentlichen Dienstes, die Schmollers Doktorand Werner Sombart, anlässlich seiner Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus von Marx und Engels, zurückweist: Jede dieser Gruppen von wirtschaft lichen Interessenten [Landwirte, Groß- und Kleinkapitalisten, Proletarier] hat ihre besondere Vertreterschaft unter den »ideologischen« Elementen der Gesellschaft , d.h. den dem Wirtschaftsleben fern stehenden Beamten, Gelehrten, Künstlern etc., die sich ihrer Stellung und Herkunft nach der einen oder der anderen sozialen Klasse angliedern.64

Die hier vollzogene Reduktion des Beamtenwesens auf konkrete Interessenpolitik bedeutet den Abschied vom bürgerlichen Realismus, wie ihn Schmoller propagiert.65 Was Sombart als ›realistische Auffassung‹ des Zusammenhangs von Politik und wirtschaftlichem Streben am Marxismus begrüßt, steht dem Schmoller’schen Lob der besitzlosen Intelligenz diametral entgegen. Nicht dass Schmoller nicht auch die Verbindungen zwischen wirtschaftlicher und politischer Sphäre anzuerkennen bereit gewesen wäre. Aber mit dem Eintritt in den öffentlichen Dienst passiert, in seiner Sichtweise, eine Abspaltung. Ordnungspolitik darf eben nicht auf Partikularinteressen rückführbar sein. Beamte sind bei Schmoller keine Reflektorfiguren oder gar Handlanger für Klasseninteressen, sondern eine Bildungsschicht, die sich qua Einbindung in staatswissenschaftliche und philosophische Traditionslinien über die tagespolitischen Belange hinwegzusetzen vermag. Ihr Wissen und Handeln zeugen von größerer Dauer. Diese Dauer ist in Schmollers Textverfahren durch die nahezu neutralisierte Darbietung von Ordnungsvorschriften angezeigt. Es ist eine Ordnung ohne Handlungsträger, die Schmollers Darstellungsweise vorbringt. Nicht von ungefähr. Denn in dem Moment, da sich die Ordnungsträger konkretisieren und sich mit dem von ihnen regierten Raum gemein machen, bricht der harmonische Zustand einer gewissermaßen interesselosen Ordnungspolitik zusammen. Wo der Beamte Partikularinteressen ausbildet, gerät das labile Gleichgewicht des Gemeinwohls aus dem Lot. Es ist diese Problemstellung einer prekären Ordnungslage, die, wie zu sehen sein wird, auch die Literatur des Poetischen Realismus dominiert. 5.1.3.

Exkurs: Zunftgeschichte im Roman – Otto Rüdigers Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück

»Die Art, wie Rüdiger in seinem Zunftroman, Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück (1878), diese Dinge darstellt, scheint mir sehr richtig«, schreibt Gustav Schmoller in einer Fußnote zu seinen Darlegungen über die Zunftkämpfe in Straßburg.66 Verwie-

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Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung, S. 75. Zur Problematisierung des ›gouvernementalen‹ und ›sozialkonservativen‹ Profi ls der Schmoller’schen Nationalökonomie nach 1900 vgl. vom Bruch: Gustav Schmoller: Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, S. 233–238. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 470, Fn. 1.

sen wird hier auf den Hamburger Lehrer und Schriftsteller Otto Rüdiger mit seinem ein Jahr vor Schmollers Straßburg-Studie erschienenen ›kulturgeschichtlichen Roman aus der Zeit der Zunftunruhen‹. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen ökonomischer und literarischer Diskurs im Realismus konkret aufeinander Bezug nehmen. Wie mehrfach gesagt, verlaufen die Zusammenhänge innerhalb der realistischen Diskursivität vorzugsweise indirekt und unmarkiert. Das verfahrensrelevante Ineinander von Metonymisierung, Verklärung und Entsagung gestaltet das Feld realistischer Schreibweisen, ohne dass sich Austauschbeziehungen zwischen den Teildiskursen Ökonomie und Literatur in ausgiebiger Zitatation niederschlagen. Die Verfahren haben einen Abstraktionsgrad erreicht, der sie in unterschiedlichen textlichen Manifestationen funktional macht. Im Besonderen kann dann gerade die kanonische Literatur des Poetischen Realismus durch eine offensive Ausräumung extraliterarischer Diskursangebote ihren eigenen Kunstcharakter hervorheben. Je weniger alltägliches Handwerk die Texte abhandeln, desto eher scheinen sie zur tieferen Bedeutsamkeit disponiert. Man erinnere sich an Gutzkows Diktum, dass sich Literatur mit dem ›Sonntag‹ zu beschäftigen habe.67 Nicht von ungefähr bezieht sich Schmollers Verweis auf einen Roman, der eher im Bereich der historistischen Literatur (in der Nähe zum Professorenroman) anzusiedeln ist, also auf einem Nebenstrang des Realismus, der sich explizit außerliterarischen Vorgaben verpflichtet. In dieser stärker ›heteronomen‹ Literatur wird der diskursive Austausch nicht verschleiert, sondern geradezu mit Forscherstolz (ausgedrückt in üppigen Fußnoten) ausgestellt.68 Dieses Vorgehen ist für den Ökonomen direkt anschlussfähig. Schmoller verweist auf Rüdigers historischen Roman an durchaus zentraler Stelle seiner Schrift, auch um damit ein eigenes Darstellungsproblem zu umgehen. Die etwaige ›Dramatik der Zunftauseinandersetzungen‹ käme seiner gemütlichen, auf Ordnungspotenziale ausgerichteten Repräsentation nicht entgegen. Wenige Attribute erübrigt Schmoller für »drückendes Unrecht«, das die Zunft von Seiten des Finanzjudentums und des Patriziats empfand, von einer kapitalkräftigen städtischen Aristokratie, die »immer üppiger, immer hochmütiger und egoistischer« wurde.69 Die knappe, spröde Darstellung ruft nach dem literarischen Begleitdiskurs. Für plastische Ansichten, die sich hinter diesen Attributen verbergen, soll man nunmehr Rüdigers Roman konsultieren. Offensichtlich kann Schmoller dabei sicher sein, dass sich der literarische Text homogen seinem Gedankengebäude einfügt. Der Roman, so entnimmt man schon der Schmoller’schen Fußnote, buchstabiert die geschilderte Zunft welt aus, ohne dabei andere intellektuelle Parameter zu setzen.

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Vgl. Abschnitt 1.2. dieser Arbeit. Zum Heteronomieproblem des historischen Romans siehe Christoph Brecht: Historismus und Realismus im historischen Roman. In: Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne, mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tübingen 1996, S. 36–67. Schmoller: Die Strassburger Tucher- und Weberzunft , S. 463.

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Otto Rüdiger (1845–1904), Sohn eines Schneidermeisters, ist nicht nur Lehrer und Schriftsteller, sondern auch promovierter Historiker. Er tritt als Beiträger in der Gartenlaube70 und wiederholt als historischer Romancier71 und Biograph72 in Erscheinung. 1874 gibt er den historiographischen Fachbeitrag Die ältesten Hamburgischen Zunft rollen und Brüderschaftsstatuten heraus und versieht ihn mit einem Glossar. Vier Jahre später lässt er dieser Beschäftigung den kulturgeschichtlichen Roman Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück folgen. Größerer Erfolg und mehr als eine Auflage sind dem Werk nicht beschieden, allerdings erhält es eine Würdigung von Julian Schmidt in den Preußischen Jahrbüchern: Der Roman schildert Hamburger Zustände, die aber in jener Periode sich mit mehr oder mindern Modificationen in allen andern Fabrikstädten wiederholten. Die sehr schwierige Aufgabe, das verwickelte und zum Theil sehr prosaische Zunfttreiben in lebendige Bilder umzuwandeln, aus denen sich die einzelnen Gestalten kräftig hervorheben, ist dem Verfasser in hohem Grade gelungen.73

Tatsächlich fügt sich Otto Rüdiger nahtlos in den hier ausgebreiteten Diskurszusammenhang ein. Sein Werk ist Gustav Freytag gewidmet und gibt sich bereits im Vorwort als Beitrag zur sozialen Frage der Gegenwart zu erkennen: Es »soll dieser Roman ein Spiegelbild sein unserer Zeit, reflectirt auf der Geschichte des vierzehnten Jahrhunderts«.74 Im redlichen Wirken der Zunft einerseits, in ihrem engherzigen Konservativismus andererseits möge man die Herausforderungen neuerer Gewerbeordnung und Gewerbeentwicklung erkennen. Zu diesem Zwecke beabsichtigt Rüdiger, möglichst ›unparteiisch‹ zu erzählen, sodass der Roman »dem radicalen Freund der alten Zunft nicht genug Lichter« und »dem Gegner des Zunft wesens nicht genug Schatten« biete, sprich Sieg fried Bunstorp’ Meisterstück will »kein Tendenzroman« sein.75 Nicht nur Thema und aktueller Anlass entstammen dem nationalökonomischen Realismus, auch das geschichtsoffene Modell des Widerstreits von öffentlicher Ordnung und Eigennutzendynamik, wie man es von Schmoller kennt, findet im Credo des Romans seine Resonanz: Der Streit der Gegensätze von Ordnung und Freiheit, die sich stets einander ihre Härten vorwerfen, wird und kann niemals vollständig ausgesöhnt werden, das ist einmal die ewige

70 71 72

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Otto Rüdiger: Wisby. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Heft 20 (1894), S. 331–334. Otto Rüdiger: Die letzten Marienbilder. Eine Lübecker Künstlererzählung, Hamburg 1886. Otto Rüdiger: Caroline Rudolphi. Eine deutsche Dichterin und Erzieherin, Klopstock Freundin, Hamburg, Leipzig 1904; Otto Rüdiger: Caspar Voght. Ein hamburgisches Lebensbild, Hamburg 1901. Julian Schmidt: Historische Romane. In: Preußische Jahrbücher, Bd.  44 (1879) Heft 6, S. 608–613, hier: S. 613. Otto Rüdiger: Siegfried Bunstorp’s Meisterstück. Kulturgeschichtlicher Roman aus der Zeit der Zunftunruhen, 2. Bde., Jena 1879, hier: Bd. 1, S. 3. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 3f.

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Tragik des Lebens; sondern in stetiger Reibung, wobei bald das Eine, bald das Andere mächtiger ist, werden sie das Veraltete vernichten und das Neue aufwachsen lassen und so dem ewigen Fortschritt der Menschheit dienen.76

Im Geiste dieses stets auf Vermittlungsoptionen abzielenden Gegensatzdenkens erzählt Rüdiger seine Geschichte aus dem Jahre 1375. Malergeselle Siegfried Bunstorp kehrt nach siebenjähriger Wanderschaft aus Braunschweig, wo aufrührerische Zünfte blutig den Stadtrat gestürzt haben, in seine Heimatstadt Hamburg zurück. Auch in Hamburg gärt es. Der Rat hat wegen eines Krieges mit Dänemark die Steuern erhöht77, diverse Vergnügungsverbote wurden erlassen (vom Würfelspiel78 bis zum Tanzen in den Straßen79). Den Zünften ist zudem das unamtliche Brauereiwesen, das die Kaufleute vom Rat geduldet betreiben, ein Dorn im Auge. Man fordert ein »Brauamt«80 und überdies einen gleichberechtigten Sitz im Stadtrat.81 In diesen Zeiten unseligen Widerspruchs innerhalb der Bürgerschaft tritt Siegfried Bunstorp seine Meisterschaft an. Nachdem er sich im Hause des Kaufmanns und Ratsmitglieds Vicko von Geldersen mit Wandbildern bewährt hat, erhält er von Geldersen den Auftrag, für das Kloster zu St. Maria Magdalenen neue Altartafeln als Meisterstück anzufertigen. In diesen Altartafeln kulminiert das obligatorische Verklärungsbestreben realistischer Literatur auf mehrfache Weise. Der Stifter Geldersen, ein leuchtendes Beispiel an Milde, politischer Weitsicht und sozialer Vernunft, veredelt mit den Bildern einen üppigen Handelsgewinn, den ihm seine jüngste Unternehmung eingebracht hat.82 Siegfried wiederum ermöglicht die Arbeit am Altar den Abschied vom engherzigen Anspruchsdenken der Zünfte und eine, wenngleich private Versöhnung mit dem Kaufmannsstand. Sie gipfelt in einer symbolträchtigen Vereinigung: Siegfried ehelicht Geldersens Tochter Marie, seine Gefährtin aus Kindertagen, aus der Zeit, da »sich alle Bürger so nah« standen.83 Seine Liebe schlägt sich in den Altarbildnissen selbst nieder. In dem Moment, da er sich Marie offenbart und von ihr Zuneigung erfährt, verewigt er ihr Konterfei in der Heiligenfigur Maria-Magdalena.84 Rüdiger versäumt nicht, diese Bildschöpfung implizit poetologisch einzurichten. Die Realisation des historischen Bildthemas (des Sieges Norddeutschlands über die Dänen bei Bornhöved am Maria-Magdalenen-Tag 1227 mit anschließender Klosterstiftung des Siegers Graf Adolph IV.) erfordert beständig den Abgleich von metonymischen und metaphorischen Zeichenprozessen. Mühselige Recherchearbeit unter

76 77 78 79 80 81 82 83 84

Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 4. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 49. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 62. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 30. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 53. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 51. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 114. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 91. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 322.

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Mithilfe des Stadtschreibers geht Siegfrieds Arbeit voran. Doch die Verwandlung des Stoffes in das Bildthema gelingt erst im Kontakt mit der lebendigen Bevölkerung und ihrem mündlichen Hörensagen-Wissen.85 So wird eine Altartafel mit einer Szene verziert, die den Grafen Adolph zu Hamburg als Mönch zeigt, obgleich der Stadtschreiber die betreffende Anekdote in Kiel verortet. Die allegorische Verklärung der Stadtgeschichte Hamburgs erfordert den partiellen Bruch der Metonymie und die symbolische Verrückung der historisch beglaubigten Szene. Nur so entsteht Bedeutsamkeit: Das Kunstbild darf sich nicht völlig von der nachweisbaren Lebensgeschichte Adolphs entfernen, aber es muss sich doch die Freiheit der symbolischen Verschiebung gönnen. In der zentralen Gestaltung der Magdalenen-Figur wiederholt sich dieser ambivalente Schaffensprozess in umgekehrter Richtung. Hier verfolgt man zunächst das Problem eines entkoppelten, rein der Imagination entspringenden Abbildes. Schon während Siegfried für Marie von Geldersen schwärmt, beabsichtigt er, der Heiligen Magdalena ihre Züge zu verleihen. Immer wieder ruft sich Siegfried dazu ihr Gesicht in der Phantasie auf. Doch vermag er nicht, es auf dem Skizzenblatt zu fi xieren. Der Imagination des Liebenden fehlt die metonymische Konkretisierung. Erst als sich Marie in ihrer Gegenliebe zu erkennen gibt, nimmt Siegfrieds Bildnis Formen an. Die Frau soll in der realistischen Kunst eben keine romantische ›blaue Blume‹ bleiben, keine ätherisch entrückte Heilige. Es bedarf der lebendigen Füllung und Fundierung des Bildes. Die gelungene Allegorie erhöht das Leben, ohne seine irdischen Fesseln zu negieren. Oder poetologisch ausgedrückt: Allein die metonymisch manifeste Liebesgeschichte verbürgt die metaphorische Überschreitung des historischen Rahmens und also die Ähnlichkeit der Heiligenfigur mit Marie von Geldersen. Das hier beschriebene Spannungsverhältnis der Kunst, das nichts anderes beschreibt als das auch für den Autor Otto Rüdiger verbindliche Oszillationsmodell des realistischen Verfahrens, diskutiert Siegfried im Gespräch mit seinem Ausbilder Meister Bertram, und zwar anhand der Berufsauffassung: »Nun ja!«, sagt Siegfried, »es ist Kunst. Wehe dem Handwerk, wenn es sich von der Kunst trennt! Es verkommt in geistiger Armuth.« »Nein, wehe der Kunst, wenn sie sich vom Handwerk trennt; sie verkommt in leiblicher Armuth und muß betteln gehen.« »Nun, Meister, das Beste ist, sie gehen beide Hand in Hand. Die Kunst erfrischt das Handwerk, und das Handwerk ernährt die Kunst. Wenn sich auch beide zuweilen trennen, sie fühlen sich am Wohlsten innig vereint.«86

Das Handwerkliche steht hier für ein demütiges Schaffen am vorhandenen Stoff, für die technische Seite der Bildherstellung. ›Kunst‹ sucht demgegenüber nach Transzendenz, nach Überwindung des vorgegebenen Rahmens. Sie sucht Freiheit in der tropischen Gestaltung. Dass beide Dimensionen ›Hand in Hand‹ zu gehen haben, wie der Protagonist verkündet, formuliert einen Kompromiss aus dem Geiste der rea-

85 86

Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 248f. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 268.

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listischen Selbstverpflichtung: Weder einem abbildenden Naturalismus noch einer frei schwirrenden romantischen Phantasie will man zu nahe kommen. Es sind die Prämissen des Poetischen Realismus, die hier ganz selbstverständlich auch für den historischen Roman in Anschlag gebracht werden. Man will kulturgeschichtlich genau rekonstruieren, aber die Darstellung soll doch auch eine höhere Bedeutsamkeit artikulieren. Die programmatische Weichenstellung für eine solche Literatur hatte bereits der Kulturhistoriker und Lehrstuhlinhaber Wilhelm Heinrich Riehl 1856 im Begleitwort zu seinen kulturgeschichtlichen Novellen vorgenommen. Riehl bestimmt die Aufgaben der Novelle dort in Entsprechung zum Roman. »Der Roman folgt dem Fortgange der Geschichtsschreibung«, heißt es, und ebenso möge auch die Novelle nicht nur der »inneren Wahrheit« des Charakters genügen, sondern auch »die äußere des geschichtlichen Kostüms« bedienen.87 Demnach sei es ratsam, sich nicht an weltgeschichtlich überragenden und folglich bekannten Stoffen und Figuren abzuarbeiten, sondern in die Randgebiete des Historischen vorzudringen: »Denn in den Winkeln der Spezialgeschichte können wir allerdings noch Intrigen und Helden aufspüren, die novellistisch bildsam sind, ohne daß wir durch die poetische Freiheit das historische Bewußtsein der Nation beleidigen.«88 Die Selbstmarginalisierung, der Drift in die ›Spezialgeschichte‹, erlaubt dem literarischen Werk, einen interessanten, individuellen Plotverlauf zu entwerfen, ohne den allgemeinen historischen Kontext und seine bereits fi xierten Skripte (z.B. das ›Leben der Kaiser‹) zu beschädigen. Auf der Achse der Metonymie geht es demnach um die passgenaue Einfügung fi ktionaler Anteile in vorhandene Frames und Skripte, durch die sich die Geschichte als getreues ›Spiegelbild‹ einer Epoche aufbaut: Der Boden aber, worauf sich die erfundene Handlung bewegt, ruhe auf den Pfeilern der Zeitgeschichte; die Luft , worin die erdichteten Personen atmen, sei die Luft ihres Jahrhunderts; die Gedanken davon sie bewegt werden, seien ein Spiegel der weltgeschichtlichen Ideen ihrer Tage.89

Dieser metonymische Anschluss an vorgegebenes Wissen stellt aber auch in der kulturgeschichtlichen Literatur nur eine, wenngleich eine notwendige, Bedingung der Textarbeit dar. Hinzu kommt – ganz im Sinne des Poetischen Realismus – das Moment der Verklärung, durch das der zeitgenössische Kontext transzendiert wird: Der Dichter kann ein durchgebildetes Kunstwerk hinstellen, dem das kulturgeschichtliche Detail eine handgreifliche Lebensfrische gibt deren das Drama entbehren muß – ein Kunstwerk, welches nicht bloß geschichtliche Zustände schildert, sondern in seinem Kern jenes höchsten sittlichen Inhalts voll ist, der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen lässt.90

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Wilhelm Heinrich Riehl: Zu den »Kulturgeschichtlichen Novellen« [1856]. In: RKN, Bd. 4, Meersburg, Leipzig 1933, S. 331–334, hier: S. 331f. Riehl: Zu den »Kulturgeschichtlichen Novellen«, S. 332. Riehl: Zu den »Kulturgeschichtlichen Novellen«, S. 332. Riehl: Zu den »Kulturgeschichtlichen Novellen«, S. 332f.

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Um den ›höchsten sittlichen Inhalt‹ auszudrücken, werden letztlich die Annalen und Chroniken bemüht. Damit die ›Hand des gerechten Gottes‹ spürbar werde, soll sich die dichterische Phantasie im engen Korsett des historischen Wissens bewähren. In dieser zweiten Dimension werden die gegebenen Frames auf eine transhistorische Analogisierung hin durchstoßen. Da handelt es sich dann nicht mehr um akribisch reproduzierte Abbilder ferner Zeiten, sondern um eine unmittelbare Nachbarschaft zwischen gestern und heute, um die allgemein menschlichen Gemeinsamkeiten, wie sie vor ›Gott‹ erscheinen. Im Lichte der Ähnlichkeitsbeziehung (der metaphorischen Dimension des Textes) verklärt sich die kulturgeschichtliche Schilderung. In ebendieser Weise verfährt auch Otto Rüdigers Zunftroman, wenn er die Altartafeln seines Protagonisten zentral stellt. Mit den Altartafeln gewinnt der Roman dabei nicht nur intradiegetisch, sondern auch extradiegetisch sein Verklärungsmoment. Wo der Roman von Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerschaft handelt, versprechen die Bilder und die an ihnen vollzogene Vereinigung der Protagonisten Siegfried und Marie eine harmonische Synthese. Mit der Hochzeit zwischen Handwerker und Patriziertochter lösen sich die historischen Fronten zwischen Zunft und Rat, unten und oben, auf. Als Katalysator dieser Vereinigung fungiert Maries jüngster Bruder Hartwig. Er ist ein missgestalteter, doch seelenguter Junge, nimmt bei Siegfried Malunterricht und treibt bald das Kennenlernen der Liebenden voran. Als sich Maries dünkelhafte Mutter, Frau von Geldersen, vehement gegen die Heirat der beiden sträubt, besänftigt Hartwig ihren Starrsinn. Die letztendliche Versöhnung gelingt freilich nur um den Preis seines eigenen Todes. Auf dem Sterbebett ringt er der Mutter das Versprechen ab, in die Ehe der Liebenden einzuwilligen. Hartwig stellt hierin eine für die realistische Prosa nicht ungewöhnliche Figur dar: den überhöhten Entsagenden. Selbst bis zur Lebensunfähigkeit unvital, fungiert er als Instanz mit höheren Weihen. Er stiftet Frieden und Bindungen und wirkt im Ganzen segensreich für die realistischeren Charaktere des Buches. Darin ist Hartwig der blinden Cilli aus Spielhagens Sturmflut nicht unähnlich oder auch, in Abstufung, Ehrenthals fragilem Sohn Bernhard in Soll und Haben. Mit dieser Klasse der siechen Heiligen radikalisiert sich ein Entsagungsstreben, das anderswo im Realismus, etwa bei den Hauptfiguren Storms, Raabes, Ludwigs oder Kellers, dosiert und stets innerweltlich verankert auftritt.91 Dass Rüdiger mit Hartwigs Agonie92 eine eher grelle Variante des obligatorischen Ineinanders aus Entsagung und Verklärung wählt, mag den Komplikationen seiner panoramatisch breiten Geschichte geschuldet sein. Die spielerisch leichte Oszillation zwischen metonymischem Ausmessen des historischen Wirklichkeitsraums und metaphorischer Überhöhung, wie sie das Verfahren verlangt, gelingt hier jedenfalls nur mühsam. Schon gegen Ende des ersten Bandes sind die Verhältnisse zwischen Siegfried und Marie vollends geklärt. Von da an harrt man die gut 360 Seiten

91 92

Zum Konzept der Entsagung vgl. in dieser Arbeit die Abschnitte 1.2.2. und 2.3.2. sowie 5.2. Vgl. Rüdiger: Siegfried Bunstrop, Bd. 2, S. 348–356.

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des zweiten Bandes hindurch des dann relativ abrupt einsetzenden Sinneswandels der Frau von Geldersen. Über lange Kapitel hinweg vergisst der Roman seine Hauptfiguren nahezu komplett. Denn eigentlich und vordergründig geht es ihm um ein ›kulturgeschichtliches‹ Mapping. Während die Verklärung gewissermaßen gratis abgeliefert wird, entfaltet der Text seine ganze Freude in uferlosen Bestandsaufnahmen historischer Details. Umfangreich abgesichert durch Fußnoten in der Manier des Professorenromans führt Rüdiger in die Institutionen des öffentlichen Lebens der mittelalterlichen Hansestadt Hamburg ein. Umzüge, Versammlungsformen, Kleiderordnungen (als soziale Statussymbole) werden ausgiebig beschrieben. Seitenlang folgt man akribisch ausbuchstabierten Festivitäten anlässlich der Hochzeit von Siegfrieds Schwester.93 Die Zurschaustellung des Wissens tritt vor die narrative Bewegung; Handlung steht im Dienste der Deskription und der historiographischen Inventarisierung. Immer wieder schafft Rüdiger Episoden mit kleineren und größeren Ordnungsverstößen (Zahlungssäumigkeit, Münzfälschung, Kleiderkoketterie, Liederlichkeit von Knechten), um die Regeln des städtischen Zusammenlebens aufzuzeigen. Sein Erzähler spricht dabei mit der distanzierten Stimme eines Historikers; mehrfach fallen Wendungen wie ›im 14.  Jahrhundert‹ oder ›so war der Geist der Zeit‹. Um die Markierung institutioneller Grenzen im Zuge wiederholter Gesetzesübertretungen geht es auch im zentralen Parallelgeschehen des Buches. Der Fall des elternlosen Schreibers Klaus thematisiert das im Vorwort angesprochene innere Zwangsregime der Zunft. Klaus ist als Findelkind aufgewachsen und daher nicht berechtigt, ein ordentliches Handwerk in der Stadt auszuüben. Dass seine Mutter die gütige Beginen-Nonne Elsbeth, Vico von Geldersens Schwester, ist, erfährt er erst am Ende der Romanhandlung. Zu diesem Zeitpunkt aber hat er sich bereits einer gutsherrlichen Intrige gegen die Hansestadt angeschlossen, ist schließlich festgenommen und zum Tode verurteilt worden. Doch naht ihm Rettung in Gestalt eines weiteren Outlaws, des ›wendischen Gesellen‹. Der slawischen Volksgruppe der Wenden ist es untersagt, sich in der Zunft zum Meister emporzuarbeiten, erfährt man in einem Kapitel, das die Widersprüche zwischen Gesellen und Meistern thematisiert.94 Die Verstrickungen, die Klaus und der Wende mit der adligen Gegnerschaft Hamburgs eingehen, zeichnen keine ausführlichen Plotlinien. Sie sind vielmehr als Vergrößerung der besagten Episodenstruktur aufzufassen.95 Ihre Handlungen produzieren punktuelle Turbulenzen im bestehenden Gefüge der Stadt, ohne das eigentlich konfliktreiche Gegenüber von Zunft und Rat zu beeinflussen oder gar zu verschieben. Die diegetischen Verhältnisse bleiben in dieser Hinsicht komplett statisch.

93 94 95

Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 7–19. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 61–77. Der Episodenstil ist durchaus nicht untypisch für das Genre des kulturgeschichtlichen Romans. Vgl. dazu Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875, Frankfurt a.M. 1971, S. 105f.

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Ganze drei Mal wird der wendische Geselle von den Ordnungskräften (Knieper und Schwertute) inhaftiert. Ein jedes Mal entkommt er ihnen in der Manier einer Schelmenfigur. Sein zentrales Projekt, ein Überfall auf eine hamburgische Gesandtschaft, ausgeführt im Auftrag des Ritters Bruno von Hummelsbüttel, verpufft ohne größere Nachwehen. Schmucklos und undramatisch gestaltet der Erzähler den Kampf der Gesandtschaft mit den Raubrittern. Was die Narration dabei an Brisanz vermissen lässt, wird durch einen lakonischen Kommentar nachgereicht: »All das war das Werk weniger Augenblicke gewesen.«96 Das diegetische Geschehen mag als hitzig vorzustellen sein, seine Darbietung ist es nicht. Rüdigers Erzählung bleibt überaus reserviert gegenüber allem potenziell Spannenden und Heroischen. Das ist die Kehrseite jener metonymisch akribischen Texturierung, die hier alles Interesse auf die institutionelle Ordnung abstellt. Die biederen Hauptfiguren dienen ebenso wie die kriminellen Randfiguren vordergründig der Illustration objektiver Zustände. So erscheint denn das Asoziale, das Klaus und der Wende verkörpern, als Ergebnis einer suboptimalen Zunftgesetzgebung. Die hohen Inklusionshürden der Zünfte produzieren genau jene Ordnungswidrigkeiten, die sie zu unterdrücken suchen und auf die der Roman seine, wenn auch dürren, Handlungsmotive gründet. Nicht von ungefähr bleibt in diesem Roman die übliche poetische Bestrafung der Querulanten aus. Statt einer Todesnachricht erhält man am Ende einen mythischen Bericht, demzufolge Klaus und der Wende nach ihrer Flucht sich den Piraten um Störtebecker anschlossen. Möglicherweise, heißt es, seien sie bei der Seeschlacht bei Helgoland 1402 gefallen; zumindest hätten Siegfried und Marie trotz Nachforschungen im Anschluss an diese Schlacht nichts mehr von ihnen gehört.97 Die poetische Gerechtigkeit dieses Romans erteilt seinen Antihelden in gewissem Grade eine Absolution und entlässt sie in ein sagenhaftes Nirgendwo. Diese ambivalente Haltung gegenüber den Ruhestörern ist der ausbalancierten Diagnose der Zünfte geschuldet, die Rüdiger hier ganz im Einklang mit der nationalökonomischen Zunftforschung vorlegt und regelmäßig von seinen Figuren artikulieren lässt. In einer Mischung aus moderater Kritik und konservativem Einverständnis blickt etwa Ratsmitglied Vico von Geldersen, als vorausschauender, doch letztlich ohnmächtiger Moderator der städtischen Spannungen, auf die restriktive Politik der Zünfte. So äußert er sich in einem Gespräch gegenüber Klaus: Wir stecken Alle in den Banden der Sitte und der Gewohnheit und sind alle von Fleisch und Blut. Beides steht oft im Widerspruch zueinander, aber was steht höher? Die wilde Freiheit der Natur, die in jedem Menschen steckt und sich mitunter tobend Bahn brechen will, oder die heilige Ordnung Gottes und des ganzen Volkes? Alle Ordnung hat ihre Härten, aber sie schränkt jeden Menschen wohltätig ein zum Nutzen des Andern, damit ein Jeder Raum zum Leben habe.98

96 97 98

Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 305. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 361. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 117.

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Der von Schmoller und den realistischen Ökonomen regelmäßig beschworene Gegensatz von Einzelinteresse und Gemeinwohl, von dynamischem Freiheitsdrang und konservativem Ordnungsgebot, dominiert auch dieses Zunftgemälde aus dem Hochmittelalter. In immer neuen Redefolgen und Disputen wird der Gegensatz umspielt. Gelöst werden aber kann er im Rahmen der historistischen Wahrheitstreue nicht. Daher rühren die Statik der Gesamtanordnung und die Aufkündigung größerer Konfliktlinien zugunsten lokaler Kleinstepisoden. Was die metonymische Achse des ausgebreiteten Wissens anbelangt, so vermag die Erzählung allenfalls in Figurenreden den Rahmen ihres Tableaus zu überschreiten. So gipfelt das Buch in einer umfangreichen politischen Rede des Zunftsprechers und Werkmeisters der Knochenhauer Tideke Bickelstedt.99 Gegen die Gewerbefreiheit der Bierbrauer argumentiert Tideke erfolgreich. Die Kaufleute stellen zudem eine größere Beteiligung am Stadtrat in Aussicht. Dann aber verlangen sie im Gegenzug die Lockerung der Zunftbeschränkungen (eben für Fälle wie die des Wenden oder des Schreibers Klaus). Die »Reinheit der Zunft« steht auf dem Spiel.100 Tideke, den das politische Interesse weitsichtig gemacht hat, gesteht die Rechtmäßigkeit dieser Liberalisierungsforderung ein. Doch scheitert er am verstockten Sinn der Seinigen. Die Zunft lehnt jedweden Kompromiss ab – aus »Eigennutz«, wie Tideke mehrfach kritisiert und mahnt. Resignierend wendet sich der Knochenhauer von seinem Lager ab und prognostiziert treffend den weiteren Geschichtsverlauf: Es wird dereinst die Zeit kommen, und ahnenden Geistes scheint es mir, als sähe ich es gegenwärtig, wo die Schuld und die Grausamkeit der Zunft so angeschwollen ist, daß alle Ausgeschlossenen sich künftig vereinen mit den Männern der freien Nahrung, die Euch jetzt als die schlimmsten Feinde erscheinen. Nicht sie sind’s, die aus Uebermuth und Erwerbstrieb Euer Zunftrecht verhöhnen, sondern die Armen, die die Noth treibt, die Zunft zu verachten, damit sie leben können. Die freie Nahrung wird dann die Zunft vernichten, damit Alle ihr Brod fi nden können, sei es auch noch so spärlich, denn jeder Ungerechtigkeit erwächst endlich der Rächer.101

Am Horizont erscheint das Zeitalter der freien Lohnarbeit als Lösung des hier ausgebreiteten Konflikts. Es ist ebenso Versprechen wie Drohung. Es kündet von einer Freiheit, die sich den tradierten Ordnungen widersetzt. Aber es verbreitet auch den Schrecken kapitalisierter, entindividualisierter Arbeitsverhältnisse außerhalb sozialer Verbände. Tideke Bickelstedts gewissermaßen auktorial abgesegnete Rede bildet den Schlusspunkt in der Gestaltung der ›Zunftunruhen‹, von denen der Untertitel des Romans kündet. Ein vergleichsweise lieblos ausgemaltes Kapitel mit der Hochzeit von Marie und Siegfried besorgt anschließend ein Happy End, das mit dem zentralen Konflikt weniger metonymisch denn allegorisch zusammenhängt. Auf der Hochzeit,

99 100 101

Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 326–345. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 336. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 342.

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auf der sich immerhin eine Kaufmannstochter mit einem Malermeister vermählt, tanzt Meister Tideke Bickelstedt mit der ehemals vor »Geschlechterstolz« strotzenden, nunmehr aber geläuterten Frau von Geldersen.102 Der Verklärungswille des Romans vereint die Figuren über alle Standesschranken hinweg, ohne dass der Plot diese Finte konsequent durchmotivieren kann. Allenfalls lose Voraussetzungen werden auf Seiten der Beteiligten herausgeschält. Man betrachte noch einmal Siegfried Bunstorp. Wie angesprochen erkennt er in seiner Meisterarbeit am Altargemälde die Kunst als eine Arbeitsform, die die tradierten Normen der Zunft in gewissem Grade überschreitet. Mehr noch: In einer zentralen Reflexion seiner eigenen Stellung bringt er seinen Kunstanspruch in direkte Analogie mit dem Fall des Schreibers Klaus. Beide, so sinnt Siegfried, tendierten dazu, die »Schranke der Zunft« zu durchbrechen.103 Diese Nähe wertet den Abtrünnigen Klaus auf; den Protagonisten Siegfried aber schmälert sie nicht. Wieso? Weil Siegfried mit seiner Reflexion alsgleich die Akzeptanz von Norm und Ordnung verbindet. Der Held definiert sich als passiver; er ist beispielhaft, insofern er zunächst und zuerst die bestehende Autorität anerkennen lernt: »Er hatte gehofft , die Schranken der Sitte leicht zu überspringen, wie ihm Vieles so leicht gelungen war. Seine Seele fasste sich, sammelte und beruhigte sich jetzt in dem Gedanken, daß ihm das Glück bei treuem Ausharren doch noch hold sein würde.«104 Dieser passive Held wirkt nicht in metonymisch nachvollziehbaren Ereignisketten auf sein Glück hin; nein, er muss in letzter Instanz ausharren, auf dass es ihm widerfahre. Es bleibt, wie oben gesagt, dem buckeligen Knaben und Segensbringer Hartwig vorbehalten, durch seinen Tod für die nötige Fügung der Ereignisse zwischen Marie von Geldersen und Siegfried Bunstorp zu sorgen. Kunst und Gnade treten schicksalhaft an das ›Leben der Protagonisten‹ heran. Die Verklärung wird hier, stärker als in den kanonischen Werken des Realismus, zur Entrückung. D.h. die metonymische Verankerung des bildhaften Geschehens bleibt eher lose. Hartwig, der Heilige und Visionär (mehrfach hat er Erscheinungen), nimmt zwar bei Siegfried Unterricht. Sein eigentliches Wirken für den Helden aber erscheint als transzendente Sendung. Verklärung kommt von oben, nicht von unten, aus dem realen Setting heraus. Während die Zunft, ohne Tideke Bickelstedt führerlos geworden, im Streit mit dem Rat unterliegt105, verkörpert die Hochzeitsszene antithetisch und allegorisch die Harmonisierung der städtischen Ordnung. Mehr als die Gleichzeitigkeit haben beide Sphären nicht miteinander gemein. Andersherum betrachtet, feiert der Roman in seinem Schlusskapitel damit eine Ordnung, die er im Verlauf seiner Ereigniserzählung selbst als überaus prekär, wenn nicht gar als illusionär geschildert hat. Von Geldersen erscheint im Kontext des Stadt-

102 103 104 105

Vgl. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 93 sowie Bd. 2, S. 359. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 128. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 129f. Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 2, S. 356.

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rates ebenso als besonnener Außenseiter wie Tideke Bickelstedt, der in seiner Schlussrede aus den Reihen der Zunft heraustritt. Die Vereinigung von Marie und Siegfried vollendet eine dezidiert private Option, eine Inselexistenz, die mit den umgebenden Konfliktlinien kaum Verbindungen aufweist. Das emphatische Harmonieversprechen am Schluss des Buches wird damit eher zum politischen Leitbild und Desiderat denn zu einer repräsentativen realen Möglichkeit. Im nächsten Kapitel dieser Arbeit wird sich zeigen, dass das Ordnungspostulat des Realismus auch in der kanonischen Literatur von einer ähnlichen Mischung aus Skepsis und Emphase getragen ist. Die gute Mitte, die Vereinigung von oben und unten, von Gemeinwohl und Selbstinteresse, von Repräsentativem und Partikularem, ist in der realistischen Diskursivität stets ebenso gesucht wie angezweifelt. Die gute Mitte ist prekär.

5.2.

Der öffentliche Dienst und die prekäre Lage der Ordnungspolitik in der Literatur Unsere heutigen Geistlichen, Lehrer, Staats- und Kommunalbeamten, Offi ziere, Ärzte, Advokaten, Literaten und Maler sind in der Mehrzahl Leute, denen ohne oder ohne großen Besitz die höchste Bildung zugänglich ist, die auf eine mäßige aber ihrem Verdienst wenigstens ungefähr entsprechende Geldeinnahme angewiesen, ihre sociale Stellung von Generation zu Generation nicht durch ihr Vermögen, sondern nur durch die Erziehung ihrer Kinder behaupten, die nicht so direkt in das Getriebe des Erwerbslebens hineingeflochten, bei ihrem Einfluß auf das Staatsleben leichter von höheren Motiven, als der bloßen Erwerbslust ausgehen.106

Bildung ohne Besitz, Intelligenz ohne Erwerbstrieb, höhere Motive statt materieller Prioritäten. Mit diesen Charakterwerten schildert, ja glorifiziert Gustav Schmoller in seinen Auseinandersetzungen mit Heinrich von Treitschke in den 1870er Jahren jenes Personal des öffentlichen Sektors, das ihm als Rückgrat der Gesellschaft gilt. Der Kitt des Sozialen entstammt nicht der modernen Wachstumsökonomie und ihren Wohlfahrtsverheißungen (steigendes Sozialprodukt, höhere Realeinkommen etc.). Er verdankt sich einer marktfernen Gesellschaftsschicht, die den staatlichen politischen Standpunkt gegenüber den sachlichen Belangen der Wirtschaft behauptet. Was diese Schicht an privaten Entbehrungen aufzubringen hat, wird ihr gewissermaßen durch das öffentliche Prestige und die Anerkennung für ihre ›idealere Gesinnung‹ vergolten. Sie darf sich im direkten Zusammenhang mit dem Wohl des Gemeinwesens sehen: Schon »in älterer Zeit«, so rundet Schmoller seine Apotheose der besitzlosen Intelligenz ab, hingen »die großen Epochen unserer Kulturblüte mit analogen socialen Einflüssen zusammen«.107 Kulturelle Blütezeiten sind Zeiten starker Entbeh-

106 107

Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 147. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 147.

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rungsbereitschaft im Auftrage des allgemeinen Großenganzen des Staates. Darin liegt in Schmollers Denken die Quintessenz des öffentlichen Dienstes. Geistliche, Lehrer, Staats- und Kommunalbeamte, Offiziere, Ärzte, Advokaten, Literaten und Maler – diese Parade der besitzlosen Intelligenz liest sich wie die Dramatis personae der bürgerlich realistischen Prosaliteratur. 130 Texte mit evangelischen und katholischen Geistlichen führt die Bibliographie Beruf und Arbeit in deutscher Erzählung für den Zeitraum zwischen 1850 und 1900 auf.108 Das sind gut zweieinhalb Mal so viele Einträge, wie sie die populäre Kaufmannsliteratur aufbringt (51), und immer noch etwa eineinhalb Mal so viele wie Texte mit bäuerlichem Personal (83). Nimmt man die übrigen Berufsfelder von der obigen Liste hinzu – Studienräte und Lehrer (48), Beamte und Politiker (49), Ärzte (40), Juristen (26) –, überwiegt der öffentliche Sektor die Waren produzierenden und handelnden Gewerbe um ein Vielfaches. Die Literatur des Poetischen Realismus ist eine Literatur, die sich dem Markt und seinen Verwicklungen verweigert. Dabei schwankt der Grad dieser Verweigerung. Die Flucht aus der Metropole, die Hans Unwirsch im Hungerpastor von Wilhelm Raabe in die küstenländliche Einöde nach Grunzenow verschlägt, rückt den Helden an den äußersten Rand der ›besitzlosen Intelligenz‹. Dem Happy End eignet hier eine ähnlich privatistische Note wie dem Rückzug des Schulmeisters a.D. Wilhelm in Gottfried Kellers Ökonomienovelle Die mißbrauchten Liebesbriefe. Dieser verabschiedet sich aus dem öffentlichen Leben in die bäuerliche Subsistenzwirtschaft, befreit von Amt und Würde und jeglichem sozialen Ballast. Solche radikalen Formen der Entsagung, in denen die Helden mit dem Marktgeschehen auch gleich ihr angestammtes Berufsleben samt der gesellschaftlichen Teilhabe hinter sich lassen, bedeuten eine eher radikale Option im Poetischen Realismus. Sie bieten ein pessimistisches, dezidiert antimodernes Schlussszenario gegen die Lockungen kosmopolitischer Flexibilität (Moses Freudenstein/Theophile Stein im Hungerpastor) und überregionaler Kreditaktivität (Viggi Störteler in Die mißbrauchten Liebesbriefe) auf. In diesem Kapitel soll es demgegenüber um Texte gehen, die sich offensiver mit den Fragestellungen und Problematiken des öffentlichen Dienstes auseinander setzen, und zwar in Reaktion auf die wachsende Ökonomisierung der Gesellschaft. Es sind Texte, die von der emphatischen Bejahung des öffentlichen Dienstes getragen sind, ganz im Geiste jener Vorgaben, die die realistische Diskursivität auch in den ökonomischen Beiträgen formuliert. Überindividuelle Wertbildung und Neutralität in Vermittlungszusammenhängen gelten ihnen weiterhin als Charakteristika eines wohlständigen Gemeinwesens. Aber diese Texte schildern die Werte des öffentlichen Dienstes bereits unter dem Druck privatwirtschaft licher Strebungen. Beiden Aspek-

108

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Die Bibliographie erfasst die deutsche Prosaliteratur beileibe nicht vollständig und führt gelegentlich denselben Titel in unterschiedlichen Kategorien auf (etwa ›Beamter‹ und ›Bürgermeister‹). Aussagekräftig sind hier also die relativen Verhältnisse, nicht die absoluten Zahlen.

ten, der Emphase wie der Skepsis gegenüber den Potenzialen eines von besitzloser Intelligenz getragenen öffentlichen Dienstes, sind die folgenden Kapitel gewidmet. 5.2.1.

Die Wiege des Beamten und der Kaufmann als Ordnungshüter – Sturmflut und Soll und Haben

Es ist ein Ende mit Aplomb, das Friedrich Spielhagen in seinem Gründerzeitroman Sturmflut den Aktienspekulanten und ihren infamen Finanzgeschäften gönnt.109 Ein Ostseehochwasser, das schon auf den ersten Seiten angekündigt wurde, rafft einen Teil der Intriganten hinweg; der kriminelle Entrepreneur Philipp Schmidt begeht nach missglückter Flucht in Bremerhaven Selbstmord. Dann aber entspannt sich die Lage und ein Happy End nach dem Geschmack realistischer Ordnungspolitik folgt. Am Küstenstreifen treffen zwei der redlichen und ebendeshalb über weite Strecken dieses Aktienschwindel-Romans passiv im Hintergrund verbliebenen Figuren zusammen: der Kauffahrerkapitän Reinhold Schmidt (der tüchtige Cousin des Aktienbetrügers Philipp) und sein Förderer, der Präsident von Sanden aus Berlin. Und der Verwaltungsbeamte gibt Bericht von höchster Stelle: Solche Köpfe [wie Sie, Kauffahrerkapitän Schmidt], meint der Herr Minister, dürften nicht feiern; er hat mir auf meinen summarischen Bericht der hiesigen Ereignisse telegraphisch befohlen, Ihnen [Schmidt] die Rettungsmedaille am Bande im Namen Sr. Majestät anzukündigen, und Sie in seinem Namen zu fragen, ob Sie geneigt sind, in irgend einer Eigenschaft über welche Sie sich persönlich mit ihm zu verständigen hätten, in sein Ministerium zu treten […].110

Reinhold hat sich gerade als Lebensretter in den Ostseefluten bewährt, wofür ihm die ›Rettungsmedaille am Bande im Namen Sr. Majestät‹ gebührt. Doch steht ihm noch eine gesamtgesellschaft lich ungleich bedeutendere Ehre in Aussicht: Schmidt erhält die Berufung in den ministerialen Beamtenstand nach Berlin. »Sie sind es dem Gemeinwohl, sie sind es sich selbst schuldig«, insistiert der Präsident auf Schmidts Zusage.111 Bei einem Helden, der über sechs Bücher und knappe 1100 Seiten des Romans hinweg als Muster an Bescheidenheit aufgebaut wurde112, ist solch ein Drängen notwendig. Das soldatische Pflichtbewusstsein aber, das Schmidt gleichermaßen auszeichnet, lässt ihn mit dem Ja-Wort nicht allzu lange fackeln. Es ist ein Vorzeigeschicksal, das Spielhagens Gesellschaftsroman für seinen Protagonisten ersonnen hat. Der Eintritt in den öffentlichen Dienst markiert die Vollendung einer tüchtigen Bürgerbiographie, die sich gegen alle Lockungen des Geldver109 110 111 112

Siehe zu Spielhagens Sturmflut auch Abschnitt 3.2.4.3. dieser Arbeit. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, 369. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, 369. Die Blassheit dieses Helden ist ein Gemeinplatz der Spielhagen-Forschung (vgl. Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 93–97; Neumann: Friedrich Spielhagen: Sturmflut, S. 269). In der folgenden Lesart erscheint sie als konsequente Manifestation des Neutralitätspostulats im Beamtendenken.

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kehrs immun gehalten hat. Reinhold betritt eine Sphäre höherer politischer Vernunft und Wachsamkeit, die in gehöriger Distanz zu den Finanzmarktverstrickungen steht. Im Bewusstsein gehalten wurde diese Sphäre lediglich über das Expertenduo, Präsident von Sanden und General von Werben, die mit regelmäßigen Prognosen das Platzen der Spekulationsblase und die ›Sturmflut‹ der Aktienkapitalvernichtung avisierten. Von einer Wirksamkeit des öffentlichen Dienstes ist ansonsten kaum Näheres zu erfahren. Reguliert wird das Marktgeschehen von diesen Vertretern der Beamtenintelligenz nicht (die Kapitalinteressen erscheinen als zu mächtig), wohl aber kommentiert und beobachtet. Reinholds Übertritt in den Staatsdienst soll aber nicht nur die Abrundung eines privaten Glücks, das er mit der Generalstochter Else von Werben auch ehelich zementiert, bedeuten. In der besagten Aufforderung ›Sie sind es dem Gemeinwohl schuldig‹ signalisiert der Präsident gleichsam, dass hier ein exemplarischer Beamter vorgestellt wird, ein Mann, der das öffentliche Interesse zumindest zukünftig zu wahren vermag. Reinhold verkörpert ein Beamtenprofi l, mit dem man dem Staat neuerliche Schläge wie die Gründerkrise erspart. Und dafür braucht er mehr als den soldatischen Wagemut, den er in den Ostseefluten bewiesen hat. Er braucht ein ganzes Set an Qualifi kationen. Welche? Bereitschaft zum Gehorsam, veredelt durch eine bis zur Selbstaufgabe gespannte Initiativkraft in der Not, zeichnet den Leutnant der Reserve und Kriegesteilnehmer von 1870 aus. »Es scheint, daß dir das Dienen zum Bedürfniß geworden ist«, reflektiert Onkel Ernst Reinholds Selbstverständnis.113 Mit dem militärischen Rang des Leutnants ist schon seine optimale Dienststellung bezeichnet: Reinhold ist die ideale Besetzung für die mittleren Leitungsebenen: Er blickt pflichtbewusst nach oben (insbesondere zu Präsidenten von Sanden und General von Werben) und verantwortungsvoll nach unten (auf diverse in Not geratene Figuren). Folgerichtig plädiert er im Streitgespräch mit seinem liberal gestimmten Fabrikantenonkel Ernst für die militärische Durcharbeitung des Beamtenapparates: »Bei uns in unserem kleinen republikanischen Gemeinwesen geht Alles ein wenig lässig zu; Niemand versteht recht die Kunst zu commandiren, und Niemand will sich commandiren lassen.«114 Gegen Lässigkeit, gegen – so mag man paraphrasieren – die Option des Laisser-faire, tritt Reinhold ganz im Zeichen preußisch-bismarckscher Disziplinierung auf. Spielhagens Held gibt an dieser Stelle den Blick auf eine Gesellschaftsstruktur frei, die Max Weber gute vierzig Jahre später kritisch als umfassende Bürokratisierung und Beamtenherrschaft analysiert. Es ist eine Bürokratisierung aus dem Geist des Bismarck’schen Obrigkeitsdenkens, die militärförmig alle Gesellschaftsbereiche, von der Verwaltungspolitik über das Militär bis in die Wirtschaftsbetriebe hinein, durchziehe. Die »Modernisierung des Staates« gründe auf einem »bureaukratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung,

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Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 150. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 150.

festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum«.115 Die ›Kommandostruktur‹, die Spielhagens Reinhold feiert, ist in einem solchen institutionellen Gefüge Bedingung und Ausdruck ihres Funktionierens. Denn wo Betriebsmittel nicht mehr in der Hand der Angestellten liegen und feste Verfügungsregeln an die Stelle individueller Entscheidungsfindung treten, da bedarf es einer gleichsam militärischen »Dienstdisziplin«.116 Amtsgefühl und Pflichterfüllung stehen hier in letzter Instanz über der Eigenverantwortung für die Sache.117 Ein konkretes Interesse, wie es politische Akteure oder auch Unternehmensführer mit ihrer Arbeit verbinden, fällt für den Fachbeamten aus. Sein Sachwissen versteht sich auch hier als leidenschaftslos, überparteilich und neutral. Richard Sennett hat den Charakter dieser Institutionenform jüngst noch einmal, im Anschluss an Weber, analysiert und gegen modernere Netzwerkstrukturen der ›New Economy‹ abgehoben: Das vergleichsweise statische Funktionieren der alten Institutionen stelle allenthalben »eher auf soziale Integration als Effizienz« ab.118 Durch die pyramidale Organisation lassen sich große Gefolgschaften rekrutieren, allerdings eben auf Kosten der Eigeninitiative. Wo Unterordnung zur Kernkompetenz wird, erfahre der Einzelne dann leicht die Institution als Zwang, als jenes »stahlharte Gehäuse«, von dem Weber bereits am Ende seiner Studie zur protestantischen Ethik spricht.119 Die »Maschine« der bürokratischen Organisation »mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen« drohe dann zu einem »Gehäuse« einer »Hörigkeit der Zukunft« zu werden, das die individuelle Tatkraft lähmend einsperrt.120 Von dieser Kehrseite der institutionellen Integration ist bei Spielhagen nirgends die Rede. Reinhold kann seine Eigeninitiative im begrenzten Ausnahmezustand (Flut, Schiffbruch) ausleben; ansonsten bescheidet er sich glücklich mit den ihm zugewiesenen Aufgaben und Anstellungen. Selbstredend hält er sich insbesondere von demjenigen Sektor fern, der mit seinen spielerisch anmutenden Transaktionsgeschäften am weitesten entinstitutionalisiert und entbürokratisiert wirkt: vom Börsensektor. Der Aktienschwindel mit seinen spontanen Aktivitäten und Rollenspielen (man erinnere sich, wie die Spekulanten den Grafen Golm als ›adligen Leithammel‹ den zu ködernden Anlegern vorspannen wollen) stellt für den Weg des Helden allenfalls eine dunkle Kontrastfolie dar, gegen die sich sein Aufstieg im ›stählernen‹ Gehäuse

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Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, München, Leipzig 1918, hier: S. 14. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 14. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 32. Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus [engl. 2006], übers. von Michael Bischoff, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 29. Weber: Die protestantische Ethik, S. 153. Vgl. Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus, S. 29. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 30.

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des Staatswesens abhebt. Gegenüber seinem Cousin Philipp erweist sich Reinhold als ein Mann der mäßigen Spareinlagen (»Ich habe eine kleine Summe zurückgelegt, die ich gern behalten möchte«121). Nicht Geldgewinne, sondern Realwerte liegen ihm am Herzen – im Beruflichen wie Privaten. Seine Ehe mit Else von Werben gründet auf der Fähigkeit, dem Erbe ihres Onkels (das Else laut Testament nur für eine adlige Heirat ausgeschüttet wird) zu entsagen. Die Liebe der beiden Protagonisten bedarf des umstrittenen aristokratischen Familienvermögens nicht (dieses geht denn folgerichtig in den Fluten unter). In Else gewinnt Reinhold eine Gattin, die weniger über ihre edle Herkunft als über ihren sozialen Sinn und ihre bürgerliche Aufopferungsbereitschaft definiert ist. Voller Empathie widmet sich Else etwa dem alten Pächterehepaar Pölitz, das schon zu Anfang unter den Abgaben für den Grafen Golm zu leiden hat und dessen Pachtverhältnis später gekündigt wird.122 Bei ihnen beschäftigt sie sich erstmals mit dem Gedanken an ein Leben in Armut (mit Reinhold). Ihnen gesteht sie als Ersten ihre Verbindung mit dem Kauffahrerkapitän. In den kurzen Begegnungen mit dem Pächterpaar Pölitz wird von langer Hand eine Probe auf Entsagungsbereitschaft angelegt, die das Happy End dieses Paares über alle Ständegrenzen hinweg verklärt (eine Hochzeit von Adliger und Bürger von den besten Wünschen des einfachen Landmanns begleitet). Es ist der freudvolle Verzicht auf jedwedes Erbkapital, das mit der Hochzeit Reinholds und Elses besiegelt wird. Wer entsagungsbereit ist, wer sich von Kapitalinteressen frei weiß, der besitzt auch einen klaren Blick für die dinglichen Verhältnisse. Reinhold weist seine Qualitäten in wissenschaft lichen (zumindest als solche ausgewiesenen) Prognosen über das anstehende Naturschauspiel, die Sturmflut, und in darauf gründenden Expertisen zum umstrittenen Kriegshafenbau an der Ostsee nach. Es ist eine Sachkompetenz, die dezidiert gegen den ›luftigen‹ Aktienschwindel auftritt. Sie überprüft die Realverhältnisse, wo das Heer der Intriganten und Spekulanten allein mit Blick auf die Finanzinstrumente agiert. Reinholds Prognose zur Ostseesturmflut wird denn auch nicht von ungefähr mit der metaphorischen ›Sturmflut‹ an der Börse korreliert, die der Präsident wiederholt mahnend ankündigt. »Prophete rechts, Prophete links! ja, ja mein lieber junger Freund! und was gäben wir wohl, wären wir als falsche Propheten erfunden worden und unsere Sturmfluten wären nicht gekommen!«123 Die Korrespondenz dieser beiden Analysten, Reinhold und Präsident von Sanden, bezeugt früh die Eignung des Helden für den beobachtenden Beamtenstand. Es handelt sich um eine auch poetologisch ideale Ergänzung: Wo Reinhold metonymische Kompetenzen einbringt (und also die Infrastrukturverhältnisse an der Küste einzuschätzen vermag), dort kann der Präsident seine Metapher darüberbauen. Die ›Sturmflut‹ an der Börse gründet in den natürlichen Risiken des Baulandes. Und nur wer Letztere

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Spielhagen: Sturmflut, B. 1, S. 254. Vgl. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 1, S. 32–26 u. Bd. 3, S. 21–33. Spielhagen: Sturmflut, Bd. 3, 368.

kennt, kann das Ausmaß der Bauspekulation einschätzen und es metaphorisch ansprechen. Der rechte Beamtensinn vermag die Verhältnisse auf den prägnanten bildlichen Begriff zu bringen, weil er die ›wirkliche‹ Kette der Aktienverwicklungen bis zu ihrem Ausgangspunkt überblickt: die Fehleinschätzungen bzw. die gezielten Täuschungen der Spekulanten über die realen Notwendigkeiten einer Gründerindustrie. Sachkompetenz (verkörpert in Reinhold) und ordnungspolitische Weitsicht (verkörpert in Präsident von Sanden) treten so in Spielhagens Roman final zusammen und künden von einer hoffnungsvolleren Wirtschaftsentwicklung im Zeichen eines starken Beamtentums. Geborgen im großen Staatskörper – Noch einmal Gustav Freytags Soll und Haben Ordnungspolitische Positionen sind im Poetischen Realismus aber nicht nur dort zu erwarten, wo explizit Handlungsträger aus dem öffentlichen Dienst auftreten. Auch der maßgebliche Kaufmannsroman dieser Epoche zielt, wie in den Abschnitten 3.2.1.2. und 3.2.3. geschildert, auf ein dezidiert politisches Programm und eine in letzter Instanz marktferne Idealisierung von Wirtschaftlichkeit. Wenn in Soll und Haben die Angestellten des patriarchalischen Kontors T. O. Schröter auseinander treten, um eigene kaufmännische Unternehmungen zu gründen, dann verlegen sie sich ausdrücklich auf Geschäfte, die mit dem Kontor Schröter nicht in Konkurrenz geraten können.124 Dem Kontoristen Baumann bereitet ein vermeintlich unverdienter Sprung auf der Karriereleiter gegenüber Anton ausgiebig Gewissensbisse125 (derer er sich später entledigt, wenn er sich als Missionar ins Ausland verabschiedet126). Konkurrenz als Prinzip effizienter Allokation gilt diesem Roman wenig. Er setzt auf eine harmonische, reibungslose Gestaltung der diegetischen Verhältnisse. In diesem Sinne wirkt denn auch der Protagonist Anton Wohlfart trotz seines finalen Aufstiegs in die Führungsriege des Handelunternehmens Schröter weniger als marktwirtschaftlicher Ökonom, der Risiken und Gewinnchancen auf das eigene Wohl hin kalkuliert. Vielmehr bewährt er sich als Mann, dem das Allgemeinwohl am Herzen liegt. Von seinen Aktivitäten, die letztlich den harmonischen Endzustand der Geschichte ermöglichen, ist am Schluss nahezu das gesamte diegetische Universum erfasst. Der Held löst den Kriminalfall um den Bankrott des Barons Rothsattel unter Verzicht auf jegliche Belohnung (rechnet man eine etwaige Genugtuung ab, die der Detektivauftrag dem Willen der Baronin nach für Anton einbringen soll, über die dann aber kein weiteres Wort zu vernehmen ist). Voll privatem Engagement, gepaart mit juristischem und kriminologischem Geschick, beschafft Anton die gestohlenen Schuldscheine des Barons Rothsattel wieder. Unterstützung erfährt er dabei von Polizeibeamten (schließlich geht es auch hier nicht um ein spontanes Eingreifen nach

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Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 279. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 243. Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 276f.

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Western-Manier, sondern um eine regelkonforme Restaurierung der in die Krise geratenen Verhältnisse).127 Nur derjenige, der selbstgewissen Interessen entsagen kann und der noch in seiner eigenmächtigsten Aktivität auf den öffentlichen Rechtsrahmen vertraut, vermag die Ordnung der Diegese wiederherzustellen. Vice versa ist es unter den Schurken gerade Hippus, der gelernte Jurist, auf den Schimpf und Schande des Romans vor allen anderen niederprasseln. Denn erst seine Lektionen in Rechtsverbiegung verschaffen dem ungelenken, von kleinherzigen Eigeninteressen angetriebenen Itzig die nötigen Kompetenzen, um seinen Handlungsspielraum entscheidend auszudehnen. Der Materialist Itzig, so entnimmt man, wird erst dort zu einer Störkraft gegen das öffentliche Wohl, wo er lernt, den Rechtsrahmen zu manipulieren. Ohne Hippus’ Lehrstunden würde Itzigs Energie im Partikularen verpuffen. Die Stabilisierung des institutionellen Rahmens, insbesondere die Wahrung von Besitz und Recht, steht in Freytags Soll und Haben auf dem Programm. Unmissverständlich formuliert das Bürgertum seinen ideellen wie wirtschaftlichen Führungsanspruch, während die militärische Obhut weiterhin dem Adel obliegt (den Widerstandskampf der deutschen Kolonisten auf dem polnischen Gut bei Rosmin führt dann doch der Junker Fink). Das ist eine Konzession an die alte Ständeordnung. Der bürgerliche Anspruch aber, den die Protagonisten des Kontors T. O. Schröter vortragen, steht weit entfernt vom wirtschaftlichen Pragmatismus neuerer Marktökonomie. Der bürgerliche Held der deutschen Wirtschaft wird nur insofern beispielhaft, als er in seinem Handeln das Gemeinwohl mitreflektiert.128 Nicht von ungefähr ist das Kontor als zentrale Orientierungsgröße des Romans von Anfang an nach politischen Begriffen definiert. Das Bild eines »großen Staatskörpers« entdeckt Anton schon kurz nach dem Eintritt darin: Was die unerfahrene Außenwelt höchst oberflächlich unter dem Namen Commis zusammenfaßt, das waren für ihn, den Eingeweihten, sehr verschiedene, zum Theil Ehrfurcht gebietende Aemter und Würden. Der Buchhalter, Herr Liebold, thronte als geheimer Minister des Hauses an einem Fenster des zweiten Comtoirs in einsamer Majestät und geheimnisvoller Thätigkeit.129

In »Cassirer Purzel« wird ein zweiter »Würdenträger« herausgehoben, dem im alten Hausdiener eine »Ordonnanz« zur Seite steht (der Begriff ist der Militärsprache entlehnt).130 Pars pro Toto bezeichnet das Kontor das von Max Weber diagnostizierte Organisationsprinzip des Bürokratismus. Es verkörpert die obrigkeitsstaatliche, auf quasimilitärischen Verwaltungsabläufen beruhende Grundordnung der Gesellschaft. Zutrittsbedingung zu dieser Grundordnung ist, wie betont, die Entsagungsfähigkeit, die den Teilnehmer an jedem Punkt von möglichen kurzfristigen Wirtschaftsinteressen Abstand nehmen lässt. Anton verzichtet darauf, gemeinsam mit dem Arbei-

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Vgl. Freytag: Soll und Haben, Bd. 3, S. 249–251. Vgl. dazu auch Charbon: Der Homo oeconomicus, S. 140. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 103. Freytag: Soll und Haben, Bd. 1, S. 103f.

tersohn Sturm eine eigene Unternehmensgründung durchzuführen. Denn Loyalität gegenüber der gegebenen Institution überwiegt ein potenzielles Wachstumsbegehren. Das ist die Konzession an eine tief greifende Marktskepsis und ein politisches Moderationsbedürfnis zu einem geschichtlichen Zeitpunkt, da Deutschland Anschluss an den weltwirtschaftlichen Aufschwung der Industrialisierung findet. Nicht der aufstrebende Ökonom wird in Anton Wohlfart gefeiert, sondern der dienende, ambitionslose Angestellte, der sich mit seinem Handeln primär dem Allgemeinwohl unterordnet. Nicht von ungefähr ist Wohlfarts Name ein sprechender. Freytag zieht in seiner vordergründigen Fokussierung auf den Kaufmannssektor, unter weitestgehender Ausblendung der staatlichen Behördensphäre, sicherlich eine stärker liberale Option als etwa Spielhagen.131 Er schildert Wirtschaftssubjekte, die das öffentliche Interesse bereits in ihr Eigeninteresse internalisiert haben (und also scheinbar keiner externen Beobachtungsinstanz bedürfen).132 Aber das ordnungspolitische Grundmotiv ist dabei lediglich verschoben worden. In T. O. Schröter und seiner Schwester (die am Schluss ihre schützende Rolle bekennt) erfährt Anton nicht die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes, sondern die Lenkung durch Vorgesetzte, die darin ihrerseits die überall im Staat greifende Führungsstruktur personifizieren. Es ist eine Veredelung aus dem Geiste des Beamtenwesens heraus, die die Figuren bei Freytag erfahren. Nicht dem tatkräftigen, innovativen Neuerer und Wirtschaftspionier, nicht dem präzise kalkulierenden Ökonomen begegnet man in Soll und Haben, sondern dem entsagungsfähigen Ordnungsgaranten. In der moderaten Grunddisposition der Helden und der Verweigerung jeglicher Erfolgs- und Wachstumsbiographie konvergiert der Kaufmannsroman mit der Apotheose des Beamtentums, wie sie in Sturmflut vorliegt. 5.2.2.

Zwei Stützen der Wohlfahrt – Wilhelm Raabes Villa Schönow

»Wir sind nicht die Wohlfahrt«, erklärte 2008 der Deutschlandchef des Öl-Riesen BP Uwe Franke in einem Tagesspiegel-Interview angesichts steigender Benzinpreise.133 Auf hoch kompetetiven Märkten sei es keine Option, Gewinne, die ein Unternehmen wie BP durch kurzfristige Schwankungen des Rohölpreises eingefahren habe, an den Verbraucher weiterzureichen. Auf lange Sicht werde eine sinkende Nachfrage das Preisniveau und die Gewinnspannen ohnehin drücken. Der Markt richtet es.

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Siehe dazu noch einmal die in Abschnitt 3.2.4.3. dieser Arbeit angeführte Literatur zum Vergleich zwischen Freytag und Spielhagen. Anders gewendet: Da die autoritäre Staatsmacht die Firma bereits an jedem Punkt durchformt, muss sie nicht von außen herantreten. Vgl. Charbon: Der Homo oeconomicus, S. 140. »Benzin wird eher teuerer als billiger« [BP-Deutschland-Chef Uwe Franke im Interview mit Carsten Brönstrup und Kevin Hoffmann]. In: Der Tagesspiegel, 17.12.2008 [zitiert nach http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/BP-Benzinpreis-Uwe-Franke;art271,2686386, abgerufen am 11.09.2009].

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Dieser Marktoptimismus, der das Credo ›Wir sind nicht die Wohlfahrt‹ grundiert, dominiert die Ökonomie des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Moderne Manager sind primär den Anlegerinteressen, dem ›shareholder value‹, verpflichtet, möglicherweise auch noch dem Wohle der Belegschaft (das ist allerdings jenseits der traditionellen Personenunternehmen ein deutlich untergeordnetes Unternehmensziel). Vom Wohl der Allgemeinheit, von Wohlfahrtszielen, ist kaum noch die Rede. Moralische Begriffe sind längst gegen die kühle Sprache der Bilanzen eingetauscht. Allenfalls in Krisenzeiten feiert der Tonfall der Sittlichkeit ein gelegentliches Comeback. »Wir sind doch keine Unmenschen!«, wies Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann in einem Spiegel-Interview 2008, im Jahr der Lehman-Brothers-Pleite und des weltgrößten Finanzcrashs seit 1929, die Kritik an einer vermeintlich (oder tatsächlich?) skrupellosen Renditehatz in seiner Branche zurück.134 Der Ausfall der Selbstregulierungsfähigkeit des Finanzmarktes, der die G-20-Staaten reihenweise in die Zwangslage brachte, als milliardenschwere Bürgen für das angeschlagene Bankensystem aufzutreten, besorgte eine Renaissance der Fragen nach Ökonomie und Verantwortung, nach Privatinteresse und Gemeinwohl. Man könnte auch sagen: Es ist ein Aufflackern der realistischen Diskursivität zu beobachten. Plötzlich geht es in Debatten wieder um die sozialen Kapazitäten und Risiken großer Unternehmen. Der öffentliche Sektor besinnt sich nach Jahren der Krankschrumpfung auf seine traditionellen Aufgaben, wirtschaftliche Spielregeln aktiv politisch zu gestalten und zu überwachen. Wenn Unternehmen strukturell keine Wohlfahrtsaufgaben ausüben können, brauchen sie staatliche Gewalten an ihrer Seite, die ökonomische Effekte sozialverträglich aussteuern. So will es das Denken einer neuen sozialen Marktwirtschaft. Im Realismus des 19. Jahrhunderts, am Vorabend der Sozialreformen in Deutschland, stellte sich das alles, wie gesehen, etwas einfacher dar. Wo sich ökonomische und politische Handlungssphäre noch nicht in dem heutigen Maße ausdifferenziert haben, beruft man sich auf die Steuerungsfähigkeit politischer und behördlicher Instanzen. Und es herrscht daneben ein Grundvertrauen in den patriarchalischen Unternehmertypus, in dem sich eine moderate Charakterdisposition mit Umsicht und Interesse für das Gemeinwohl verbindet. Gustav Freytags T. O. Schröter gibt hier das literarische und gesellschaftliche Rollenmodell vor. Diesem Wirtschaftshelden stellen Unternehmensführung und Wohlfahrtsaufgaben noch keine gegensätzlichen Handlungsziele dar. Der beispielhafte Unternehmer befindet sich gewissermaßen in einem gleitenden Übergang zur öffentlichen Sphäre: »Aber seitdem ich im Rathstuhl sitze und scheiden und schlichten soll, sehe ich ein, wie viel weiser des Rechts ein ganzes Volk ist, als der Wille und die dreiste Meinung der Einzelnen«, sagt Vi-

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»Wir sind doch keine Unmenschen« [Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann im Interview mit Beat Balzli und Armin Mahler]. In: Der Spiegel, 03.03.2008 (Nr.10, 2008), S. 79– 84, hier: S. 80.

ko von Geldersen in Otto Rüdigers Zunftroman Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück.135 Von Geldersen ist auch ein solch patriarchaler Kaufmann, der weiß, wann man den wirtschaftlichen Eigennutzen im Interesse des Gemeinwohls fahren lassen muss. Und auch wenn zwischen legislativen und administrativen Aufgaben, zwischen Ratspolitik und Verwaltung durch Beamte, Unterschiede bestehen: Hier darf man sich durch das öffentliche Amt von etwaigen Eigeninteressen geläutert sehen. Eine besondere Stellung innerhalb dieses Paradigmas redlichen Unternehmertums nimmt Wilhelm Raabes von der Forschung weitgehend ignorierter Gründerzeitroman Villa Schönow (1884) ein. Auch Raabes schrullige Hauptfigur, der Schieferbruchbesitzer und Inhaber eines Berliner Dachdeckergeschäfts Wilhelm Schönow, tritt primär als Wohltäter für seine Umgebung auf. Von seinen Geschäftsgebaren erfährt man nichts. Er ist beständig außer Dienst und kann umso mehr in seinen charakterlichen Marotten und Liebenswürdigkeiten glänzen. Schönows wohltätige Einstellung wird weniger aus der charakterlichen Integrität des Helden oder gar aus der exemplarischen Disposition eines redlichen Ökonomen abgeleitet denn aus einer besonderen Konstellation: Der Unternehmer benötigt in diesem Roman die still lenkende Hand des Bildungsbürgers auf seiner Schulter, damit sein Streben in die rechten Bahnen gerät. Und so tritt dem Fabrikanten Schönow als ordnende Kraft und »Gestalt gewordene Vernunft«136 die Gelehrtentochter Julie Kiebitz zu Seite. Wie geht das im Einzelnen vor sich? »Ist das eine Lotterie, das menschliche Leben!«, formuliert Schönow in einem Brief aus der Provinz an seine Berliner Freundin Julie Kiebitz.137 Der Allgemeinplatz bezeichnet die Ausgangsbedingung dieses Romans sehr genau. Tatsächlich sind die Lebens-Lose für einige der hier versammelten Figuren nicht allzu glücklich gefallen. Um 1880 herum stirbt in dem kleinen Provinzstädtchen Gandersheim der ehemalige Maurergeselle und Kriegsinvalide Ludolf Amelung. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war er auf dem Schlachtfeld von Beaune la Rolande irreparabel am Fuß verwundet worden. Während des langen, ein Jahrzehnt währenden Siechtums übernimmt sein Bruder Gerhard Amelung die Pflege und verzichtet zu Ludolfs Gunsten auf seinen Gymnasialabschluss. Gelegentlich erhält der Haushalt Amelung, dem noch die garstige alte Tante Fiesold angehört, milde Gaben von Hroswitha, genannt Wittchen, der Tochter des Baumeisters Hamelmann. Mit Ludolf Amelungs Tod verschlimmern sich die Verhältnisse. Die letzten Stunden des »toten Siegers von Beaune-la-Rolande«138 sind auch die letzten im Leben des Baumeisters Hamelmann. Wittchen Hamelmann ist nunmehr Vollwaise gleich ihrem Jugendfreund Gerhard Amelung. Und so wie er gerät sie unmittelbar in eine

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Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 117. Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit, S. 7. Wilhelm Raabe: Villa Schönow. Eine Erzählung [1884]. In: BA, Bd. 15, Göttingen 1964, S. 387–571, hier: S. 442. Raabe: Villa Schönow, S. 491.

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finanzielle Zwangslage. Das Haus ihres Vaters ist ebenso durch eine ungetilgte Hypothek belastet wie die Hundstwete, das kleine Anwesen der Amelungs. Wo die Not groß ist, führt der Roman mit dem Berliner Unternehmer Wilhelm Schönow einen finanzstarken Gönner in die Provinz. Schönow hat am Ort einen Schieferbruch erworben. Er vergnügt sich unter den ortsansässigen Honoratioren im Lokal Daemel und besucht regelmäßig das Haus der Amelungs. Denn Ludolf, dem Versehrten aus dem Frankreich-Feldzug, fühlt sich der Unteroffizier und Veteran der Schlacht von Königgrätz (1866) kameradschaftlich verbunden. Raabes Roman, der die Kosten der Gründerzeit (und des ihr zugrunde liegenden Kriegsgewinns 1870/71) dem Reich ins Stammbuch einträgt, ist schon wegen Schönows Berliner Idiom mühsam zu konsumieren. Der geschriebene Dialekt verkompliziert Raabes übliche Erzähltechnik, die Informationsvergabe nahezu ausschließlich über die Figurenreden zu realisieren. Umso simpler und klarer konturiert der Roman die zentrale Fürsorge-Geschichte, die an der Notlage der beiden jungen Liebenden ansetzt (man kennt dieses Motiv einer Hilfsaktion aus zahlreichen Raabe-Texten, von Die Chronik der Sperlingsgasse über Im Alten Eisen bis hin zu Das Odfeld). Schönow übernimmt die Hypotheken des Hauses an der Hundstwete (wodurch es zur ›Villa Schönow‹ wird), bringt den verhinderten Studiosus Gerhard Amelung (der Schönow bereits bei der Abfassung seiner Memoiren behilflich ist) zur weiteren Ausbildung in sein Haus nach Berlin und stellt Wittchen unter die Obhut seiner eigenen Förderin und stillen Teilhaberin seiner Firma, Julie Kiebitz. Das ist im Ganzen ein eher unauffälliger Plot und könnte vollends als private Hilfsaktion durchgehen, hätte Raabe diesem Handlungsverlauf nicht, symbolisch wohl dosiert, eine breitere Dimension unterlegt. Schon die erste Szene des Buches zeigt sinnfällig den Beispielcharakter, der hier angestrebt wird. Da beobachtet man eine Runde junger Damen, unter ihnen Wittchen Hamelmann, wie sie sich mit einem modischen Gesellschaftsspiel unterhält: ›Hammer und Glocke‹. Dieses Spiel, das für den Roman mehr als bloß dekorative Funktion besitzt, hat eine reale Grundlage. Vermutlich um 1809 vom Wiener Kunsthändler Heinrich Friedrich Müller erfunden, erlangte es schnell in weiten Teilen Europas Popularität und darf als eine Art Monopoly des 19. Jahrhunderts gelten. Es handelt sich um ein Würfelspiel mit fünf Karten (Schimmel, Hammer, Glocke, Wirtshaus sowie eine Karte, die Hammer und Glocke kombiniert), bei dem die Karteninhaber nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel Geld von ihren Mitspielern bzw. von der Bank erhalten. Der Gewinn hängt von der geworfenen Augenzahl und/oder dem jeweils angezeigten Kartensymbol ab (man spielt mit acht Würfeln, die je auf nur einer Seite ein Symbol bzw. eine Augenzahl besitzen). Die Bank bezieht ihre Einlagen aus einer Auktion, auf der die Spieler eingangs ihre Spielkarten ersteigern. Das Spiel endet, wenn die Bank geknackt wird – und zwar exakt geknackt (wenn man höhere Augenzahlen erzielt als die Bank an Einlagen besitzt, muss man Geld an den Inhaber der Wirtshauskarte bezahlen). Sieger ist derjenige Teilnehmer mit den meisten Spielmarken (bei Raabe fungieren türkische Bohnen als Spielmarken). ›Hammer und Glocke‹ ist mithin ein paraökonomisches Gesellschaftsspiel, bei dem es darauf ankommt, an je460

dem Punkt (insbesondere in der anfänglichen Auktion) seinen Einsatz und das damit verbundene Risiko richtig zu kalkulieren. Dieses Spielewissen lagert im Hintergrund der Raabe’schen Szene, die – wie im Realismus üblich – das Paradigma lediglich ausschnitthaft anreißt. Mehr als auf die Repräsentation des Spielablaufs kommt es hier auf die Konnotationen an, die sich an das Ereignis heften. Mit gewohnt enzyklopädischem Tiefsinn verzeichnet Raabe, dass ›Hammer und Glocke‹ unter dem Namen ›Campa et martello‹ bereits in den Memoiren des Geheimrats Friedrich Karl von Strombeck (1833) auftaucht. Dieser habe es eher lustlos bei der Fürst-Äbtissin Auguste Dorothea von Braunschweig-Wolfenbüttel gespielt. Die Braunschweiger Raabe-Ausgabe lässt in ihrem Stellenkommentar eine aufschlussreiche Nebenbemerkung unerwähnt, die Strombeck anlässlich der Spielrunden bei der Fürst-Äbtissin einstreut. Die Äbtissin erlebte Strombeck, seinen Aufzeichnungen nach, als eine etwa 50-jährige Dame voller Herzensgüte, Frömmigkeit und Edelmut, mehr »für Andere, besonders für Nothleidende als für sich lebend und stets dahin strebend, Menschen-Elend zu lindern«.139 In dieser Schilderung liegt ein Rollenangebot versteckt, das Raabe für seine Romanheldin Wittchen Hamelmann reserviert hat: die herzensgute Fürsorgerin. Nicht von ungefähr vermerkt also der Roman (in einer freien Improvisation über der Strombeck-Stelle), dass Wittchen gleich der Fürst-Äbtissin an diesem geselligen Abend die eher unlukrative Schimmel-Karte spielte. Über diese Analogie hinaus gibt es aber auch eine entscheidende Differenz: Raabes Fürsorgerin Wittchen kann, anders als ihr fürstliches Rollenvorbild, nicht aus dem Vollen schöpfen, gerät vielmehr selbst, wie erwähnt, in eine Notlage. Der Roman deutet also qua Intertextualität einen Richtungswechsel gegenüber dem feudalen Ideal der individuellen Fürsorge an: Güte und soziale Hilfsbereitschaft lassen sich hier nicht mehr einfach personal verankern. Sie müssen über weitere Netzwerkbeziehungen hergestellt werden. Diesen Wechsel hin zu größeren Interdependenzen macht Raabes Roman deutlich, wenn er das Spiel ›Hammer und Glocke‹ für mehr als bloße Abendunterhaltung nimmt. Bei Raabe wird es zum Abbild des Lebens selbst. Das Gesellschaftsspiel der jungen Damenrunde um Wittchen Hamelmann schafft überproportionale Gewinne, und zwar ausgerechnet für Malchen Liebelotte, die Tochter desjenigen Mannes, der das Haus der Gebrüder Amelung beliehen hat. Hier gilt also: Wie der Vater so die Tochter. Beide scheffeln einigermaßen skrupellos Geld, wobei die Allegorie des Glücksspiels den Gelderwerb vollends von der Leistungsethik abkoppelt. Liebelottes sind jeder für sich Gewinner in einem System, das Wohlstand per se ebenso ungleich verteilt wie die Gesellschaftsunterhaltung ›Hammer und Glocke‹. Eine individuelle sittliche Komponente eignet ihrer Vermögensbildung erst dort, wo sie ihr soziales Gewissen gegen den Gelderwerb abmessen müssen. Dann versagen sie der Reihe nach: Vater Liebelotte diskreditiert sich, wenn er dem sterbenden Amelung seine

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Friedrich Karl von Strombeck: Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit, in zwei Theilen, 1. Theil, Braunschweig 1833, S. 153.

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Hypothek kündigt. Malchen rückt in ein schlechtes Licht, indem sie später das notleidende Wittchen verhöhnt.140 Mit dem Geld ist ihnen ein wenig Seele abhanden gekommen. Zufriedenheit stellt sich bei ihnen ein, wenn sie wie Malchen im Spiel »ein anständiges Geschäft gemacht« haben.141 Die Grenzen einer solchen Geschäftigkeit mahnt dann Schönow als Stimme einer aufgeklärten unternehmerischen Moral an: »Ick hätte zum Exempel in Liebelottes Stelle jetzt nich det Kap’tal in de Hundstwete jekündigt«.142 Mit dem exemplarisch behandelten Spiel ›Hammer und Glocke‹ markiert der Roman sein zugrunde liegendes Gesellschaftsbild: Sein Ausgangspunkt liegt in einer freien Marktsituation (man bedenke hierbei, dass eine Auktion, mit der das Spiel einsetzt, ein beliebtes Marktmodell für transparente Preisbildung darstellt). Allerdings sind Gewinn und Verlust darin strukturell gekoppelt. Es handelt sich um ein Nullsummenspiel, in dem die Erträge auf der Siegerseite den Defiziten der Verlierer entsprechen. Damit ist gleichzeitig eine moralische Bewährungssituation angelegt: Wenn Erfolge im Leben derart spielerisch und schicksalhaft zustande kommen, womöglich sogar auf Kosten der Mitspieler gehen, dann sind umso mehr Ausgleich, Hingabe und Fürsorge gefordert. Dann bedarf es der tätigen Unterstützung für die Verlierer im ökonomischen Wettbewerb. Genau diese Forderung wird im Roman anhand von Gerhard Amelung und Wittchen Hamelmann durchgespielt. Zunächst ist es noch Wittchen selbst, die ein Projekt zur Förderung der Notleidenden auflegt. Ihre Armenpflege vermittels der Verpflegungskörbchen für Amelungs ist eher Dekor für ihre Personencharakteristik. Als Ludolf Amelung stirbt und Liebelotte die Hypothek kündigt, muss sie ihr Hilfsprojekt für den hinterbliebenen Gerhard eine Nummer größer anlegen. Gemeinsam mit ihren Freundinnen gründet sie eine Lotterie, mit der Geld für Gerhards Ausbildung unter wohlhabenden Berlinern aufgetrieben werden soll: »fünfhundert Mitleidije-Backfisch-Lotterie-Lose, unjarantiert vom Staate«, spottet der Ironikus Schönow.143 Schönow selbst ist als Berliner Mittelsmann und Agent dieser Lotterie vorgesehen, in der es »jestickte Zigarrentaschen, jehäkelte Hausmützen und jemalte Lampenschirme« gegen Lose zu je einer Mark zu gewinnen gibt.144 Wo Menschen auf dem großen Marktspiel der Gründerzeit aus Arbeitsunfähigkeit untergehen – was wiederum ein Resultat des persönlichen Schicksals im deutsch-französischen Kriegsspiel ist –, dort soll ein weiteres Glücksspiel den Zufluss von Geldern koordinieren. Wittchens Hilfslotterie bemüht

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Zu den moralistischen Untertönen des Romans, der den materialistischen Gründerzeitgeist auch in den Figuren der Tante Fiesold und in Schönows Frau Helene anreißt, siehe Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, S.  137–139. Zu den Grundzügen der Figurenkonstellation auch Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung, S. 200f. Raabe: Villa Schönow, S. 394. Raabe: Villa Schönow, S. 417. Raabe: Villa Schönow, S. 430. Raabe: Villa Schönow, S. 424.

sich, die Härten des Arbeits- und Wohnungsmarktes, die die Amelungs erleiden, abzufedern. Es darf als Ironie dieser Geschichte gelten, dass Wittchen, kurz nachdem sie dieses Hilfsprogramm ersonnen hat, durch Tod und Überschuldung ihres Vaters selbst in Not gerät, dass das Mädchen also, in den Worten Schönows, »erbärmlich in seine eigene Barmherzigkeitslotterie reingefallen ist«.145 Die Lotterie, und mit ihr jedweder Versuch, die pekuniären Umstände der Protagonisten spielerisch zu verbessern, versagt also schon im Ansatz. Stattdessen greift eine nunmehr direktere Steuerung der Verhältnisse. Schönow selbst (der bereits als Hauptabnehmer der Lose in Erscheinung trat) übernimmt persönlich Verantwortung für die beiden jugendlichen Protagonisten, sodass er fortan, gute einhundert Romanseiten hindurch, eine »ganze Kleinkinderbewahranstalt auf dem Buckel« trägt.146 Dieses Eingreifen eines zwar kauzigen, aber herzensguten Wohltäters gemahnt nun tatsächlich eher an die direkte und selbstverantwortliche Armenpflege älterer Zeiten, wie sie durch die Schilderung der Fürst-Äbtissin beim Gelehrten von Strombeck wehen. Es ist ein Szenario unmittelbarer Hilfsbereitschaft , das bei Raabe, wie gesagt, nicht unüblich ist und das ansonsten eine Traditionslinie in eher weiblich geprägter Literatur besitzt, die etwa vom Gemeindekind von Marie von Ebner-Eschenbach147 bis in die Trivialliteratur des 20. Jahrhunderts hineinreicht.148 Raabes vordergründiges Gutmenschenporträt hat sich jedoch, auf den zweiten Blick betrachtet, ein gutes Stück von der personalen, feudal konnotierten Fürsorgepraxis entfernt. Denn es rechnet eine Arbeitsteilung ein: Schönow hebt wiederholt darauf ab, dass er die volle Ausbildung seines Selbst einer einzigen Person verdankt, die in Berlin als stille Teilhaberin seiner Firma und Untermieterin seines Hauses residiert: Fräulein Julie Kiebitz. Als sich unser Herrgott in mir vergriff und mir, wie Sie von Olims Zeiten wissen, statt zu einem Menschen zu einem Kamel machte, hat er Sie doch nur deshalb gleich hinter mich her erschaffen, um seinen Fohpah wenigstens zur Hälfte wieder gutzumachen.149

In diesen Lobpreisungen, die Schönow seiner Ausbilderin und Ziehmutter Kiebitz regelmäßig zukommen lässt, legt der Roman seine basalen Koordinaten offen: Der Unternehmer Schönow ist nichts ohne die Gelehrtentochter Kiebitz, der Bourgeois nichts ohne den Citoyen. Darin liegt die Transformation des feudalen Sozialbegriffs

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Raabe: Villa Schönow, S. 449. Raabe: Villa Schönow, S. 446. Ich denke hierbei an die Figur der Gutsfrau, die allerdings in ihrer Fürsorge für ihre Pflegetochter Milada (die Schwester des notorisch vernachlässigten und verachteten Protagonisten Pavel) gründlich scheitert. Vgl. dazu Christian Rakow: Gewissenhaft am Rockzipfel. Christel Harms »Niemand fragt uns«. In: Walter Gödden (Hg.), Flammende Herzen. Unterhaltungsliteratur aus Westfalen, Bielefeld 2007, S. 197–199. Raabe: Villa Schönow, S. 446.

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in den bürgerlichen. Er, der Ökonom, bringt Spontaneität und Tatkraft ein; sie, die Kulturbürgerin, steht als »Berlins männlichste Tochter«150 für Weitblick und »Objektivität«.151 Er besitzt die Geldmittel, die Hundstwete als neue ›Villa Schönow‹ aufzukaufen; sie wird den weiteren Lebensweg der Jugendlichen begleiten und vermag durch ihr soziales und kommunikatives Geschick, sogar mit der egoistischen (und anscheinend diebischen) Tante Fiesold umzugehen. Raabe vereinigt in der Figur der Julie Kiebitz alle Eigenschaften, die den Typus des Beamten auszeichnen: Sie besitzt eine höhere, insbesondere geschichtliche Bildung (als Tochter eines Hochschuldozenten gilt sie als »Berlins letzte Hegelianerin«152), lebt unehelich in Entsagung und bewegt sich, wo es Not tut, selbst in die Provinz, um die Angelegenheiten Schönows zu ordnen. Ohne das Hinzutreten dieser Kompetenzen, so wird wiederholt betont, blieben die materiellen Zuwendungen von Schönow inhaltslos und wenig nachhaltig, griffe das Fürsorgeprogramm zu kurz. Georg Lukács hat im Zusammenspiel dieser beiden exemplarischen Figuren, des Unternehmers und der Bildungsbürgerin, eine verlogene oder zumindest anachronistisch kleinbürgerliche Versöhnungsgeste ausgemacht. Es eigne dieser Schilderung nicht die »Wahrheit des Typischen«, wenn »kapitalistische Tätigkeit« mit dem »gehüteten Geist der deutschen Traditionen in Einklang gebracht werden« soll.153 Dieses Urteil ist selbstredend vor dem Hintergrund einer sozialistischen Fundamentalkritik der kapitalistischen Produktions- und Repräsentationsverhältnisse gefällt. Für eine Diskursivität, die wie die realistische des 19. Jahrhunderts an der sittlichen Regulierung ökonomischer Prozesse oder zumindest an der Regulierungsfähigkeit festhält, nimmt sich diese Symbiose der Figuren Schönow und Kiebitz als der eigentliche Zielpunkt ihrer Ordnungsvorstellungen aus. Es braucht die entsagungsbereite, in relativer Distanz zum Geschehen befindliche Intelligenz, um den verantwortungsbewussten Unternehmer auszubilden. Und der verantwortungsbewusste Unternehmer weiß umgekehrt auch um die notwendige Selbstreproduktion dieser Bildungsschicht, selbst zu dem Preis, dass sie seinen Handlungsspielraum als Ökonom und Militär beschneidet. So witzelt Schönow sinnfällig: Wat ick dem verreisten Kameraden [Gerhards Bruder Ludolf Amelung bei dessen Tod] da versprochen habe, det besorje ick so jut als möglich – ooch uf die Jefahr hin, det mir dies junge jelehrte Tier [Gerhard] hier dermaleinst als Professor der Jeschichte oder sonstiger Parlamentarier die fünf Jroschen für die Samoainseln verweijern und den Militäretat vom höheren Jesichtspunkte aus beschneiden sollte!154

Das ist die Haltung eines aufgeklärten Unternehmertums, in dem der Instinkt für das eigene Geschäft und ein stabiler Sinn für das Allgemeinwohl konvergieren. Wer

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Raabe: Villa Schönow, S. 539. Raabe: Villa Schönow, S. 561. Raabe: Villa Schönow, S. 441. Lukács: Die deutschen Realisten, S. 244. Raabe: Villa Schönow, S. 438.

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die höhere Bildung zur Untermieterin hat, kann auch als Unternehmer sozial nicht fehlen. Fraglos ist sich der Roman der Instabilität bzw. des utopischen Moments dieses kulturellen Entwurfs bewusst. Nicht umsonst wird Schönow in seiner Schrulligkeit als ein eher eigentümlicher Charakter gezeichnet, als ›Sonderling‹, wie so viele Raabe-Figuren.155 Sein Hilfsprojekt nimmt privatistische Züge an. Bereits im folgenden Roman, Pfisters Mühle (1884), wird ihn ein modernerer Charakter beerben: der gelehrte Fabrikgründer Adam Asche. Asche ist eine radikalere Unternehmerfigur. Er steht loyal zu seinen alten Freunden und Förderern, den Pfisters, die er mit chemischen Expertisen in einem Gerichtsprozess gegen eine Zuckerrübenfabrik unterstützt. Aber Asche macht sich, unabhängig von diesem Engagement, als Gründer einer Waschmittelfabrik selbst zum aktiven Teilnehmer in einem ökologisch verheerenden Industrialisierungsprozess. Er taucht in die nämliche Ökonomie ein, die den Untergang der alten Sozialverbände und ihrer behaglichen Gewerbe, für die Vater Pfisters Mühle steht, bewirkt. Hier lassen sich das Wirken für den Sozialverband und das private Engagement kaum mehr aufeinander abbilden. In dasselbe Jahr wie Villa Schönow und Pfisters Mühle fällt dann auch die Veröffentlichung der Erzählung Zum wilden Mann, die mit der diabolischen Figur des Kolonisten und Finanzhasardeurs August/Agonista keinen Zweifel an den destruktiven Tendenzen dieser neuen, zunehmend global auftretenden Wachstumsökonomie aufkommen lassen will.156 In Villa Schönow sind diese pessimistischen Untertöne noch humorvoll abgefedert, auch weil die Ausbeutung der Natur (und der Arbeiter) in den Schieferbrüchen nie zum Thema wird. Der Roman verwirklicht sein Regulierungsversprechen durch Ausblendung beinah des gesamten kulturellen Umfeldes der Figuren. Einzig ein paar leise Nebenbemerkungen melden hier Zweifel an der Exemplarizität und damit der Reichweite dieser harmonisch eingerichteten Kleinstdiegese an. Über Julie Kiebitz sagt Schönow: »Die hätte als Polype jeboren werden müssen, daß aus jedem Stücke von sie een neues jleiches Exemplar möglich wäre zum Besten von unsereinem.«157 Schönow und der Roman wissen nur zu gut um die Begrenztheit der altruistischen Beihilfe, die das entsagungsvolle Fräulein Kiebitz leistet. Der ›Polyp‹ des Sozialen reicht bei weitem nicht bis in die letzten Winkel der Wirklichkeit, auch nicht im Zeitalter der Verherrlichung des öffentlichen Dienstes. Raabes Qualität liegt darin, ebendiese Begrenzung zu einem Gegenstand der eigenen Reflexion zu machen. Mit der Figur Julie Kiebitz rückt die Verfertigung des künstlerischen Erzähltextes selbst in den Blick. »Wir fallen immer in die entferntesten gelehrten Reminiszenzen, wenn von Fräulein Julie Kiebitz die Rede ist«, diagnos-

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Vgl. Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung, München 1963, hier: S. 229–289. Wie Meyers kanonische Studie herausarbeitet, tritt der Sonderling in Raabes Frühwerk eher als Erzieher, im Spätwerk als Kämpfer gegen die Welt und als ihr Kritiker auf. Siehe Abschnitt 3.2.4.4. dieser Arbeit. Raabe: Villa Schönow, S. 537.

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tiziert der Erzähler seine ›Ansteckung‹ durch seine Figur.158 Wenn Fräulein Julie schon nicht zu einem ›Polypen‹ werden kann, der sich mit sicherer Hand um alle und jeden kümmert, – so kann das Erzählen dieses sehr wohl. Weniger durch die Repräsentation der außerliterarischen Verhältnisse denn durch eine selbstbewusste Fiktion, so macht Raabe klar, gelingt die vollständige Integration und Harmonisierung der Figurenwelt (und sei es um den Preis, dass man ›negative‹ Charaktere wie Vater Liebelotte einfach sterben lässt). Das stille ›Eingreifen in diese Verhältnisse‹, das Julie Kiebitz in der Romanhandlung verkörpert, korrespondiert mit einer Narration, die stets sehr explizit und markiert zwischen den Schauplätzen und Figuren hin und her geleitet: Er [der Baumeister Hamelmann] widerstand der Verlockung, sein Wittchen allein weiterzuschicken und bei Daemel [im Wirtshaus] noch auf einen Moment einzutreten. Wir nicht; – es ist sogar unsere Pflicht und Schuldigkeit, noch ein bisschen hineinzugehen und unser Kind mit hineinzunehmen.159

Nur ›Wir‹ (ein Pluralis modestiae des Erzählers) können Wirklichkeit beeinflussen, – und zwar eben nur, weil sie eine fi ktionale Diegese ist. Dieses Wissen um die Artifizialität wird später ironisch markiert (und darin gleichsam verstärkt), wenn es heißt, das »Schicksal (nicht der Erzähler!)« bewege die Figuren.160 Tatsächlich, so entnimmt man den Selbstreflexionen des Textes, sind es nicht die vorgestellten Personen, die erfolgreich in die ›Lotterie des Lebens‹ eingreifen. Es ist die sichtbar-unsichtbare Hand des Erzählers selbst, die Wohlfahrt herstellt. Das inhaltlich abgegebene Versprechen auf Fürsorge realisiert sich nurmehr als gemachte Narration. Nicht als Repräsentation (›so ist die Welt‹), sondern als betonte Fiktion (›so wünschen wir uns die Welt‹) glückt das Projekt dieses Textes. Was die heimliche Hauptfigur – die eingangs als Muse angerufene »hohe Julia«161 – im Verbund mit Schönow unternimmt, vermag in letzter Instanz allein das Kunstwerk herzustellen: den gesellschaftlichen Anspruch auf Ordnung und Interessenausgleich. Erst wenn dieser Kunstcharakter noch stärker akzentuiert wird, wenn es nicht mehr ›Schicksal (nicht Erzählen!)‹, sondern ganz unironisch ›Erzählen (nicht Schicksal!)‹ heißt, ist die realistische Diskursivität abgelöst. In den ›Nuller Jahren‹ nach 1900 tauchen Texte auf, die sich vom Totalitätsanspruch der Repräsentation vollends lösen und zunehmend ausschnitt- und modellhaft werden. Anstelle von realistischen Wirklichkeitsbehauptungen findet man dann zunehmend künstlerische Etüden. Es sind Texte mit starker Formbetonung, die das Ganzheits- und Repräsentationsbegehren des Realismus ablösen (ohne dass sie bereits den Experimentcharakter der Avantgarden aufweisen). Eine halbe Stunde Seelenleben heißt eine Erzählung des

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Raabe: Villa Schönow, S. 468. Raabe: Villa Schönow, S. 412. Raabe: Villa Schönow, S. 544. Raabe: Villa Schönow, S. 389.

Lyrikers Richard Dehmel im Untertitel162, die mit einer prononcierten, artifiziellen Manier, einer »Routine«163, eine Detailansicht aus einem Künstlerleben produziert. Mit solchen Texten tritt das Erzählen als Konstruktionsvorgang in den Vordergrund, während der soziale Gedanke und der realistische Anspruch auf Reproduktion von Welt und ›Wirklichkeit‹ verblassen. Im Realismus der Gründerzeit zeichnen sich solche verstärkt autopoetischen Optionen allenfalls am Horizont ab. In letzter Instanz ist es immer noch ›die Welt als solche‹, eine irgendgeartete ›eigentliche‹ Wirklichkeit, die sich dem beschreibenden Auge darbietet. Der realistische Grundansatz ist tendenziell induktivistisch, keineswegs konstruktivistisch. Selbstrelativierungen bleiben stets auf die ›Sache‹ bezogen. Auch hinter privatistischen Projekten von Sonderlingen wie Schönow steht nach wie vor der Wunsch nach einem stabilen Begriff von Wirklichkeit, der tendenziell auf einen breiten Konsens bauen kann. Das Gesellschaftsspiel ›Hammer und Glocke‹ wird nicht als diskursives Konstrukt wahrgenommen, sondern es dient zur Allegorie auf das Schicksal des Menschen und die ›Lotterie des Lebens‹ schlechthin. Dass das Spiel selbst eine spezifische ökonomische Modellierung von Wirklichkeit bedeutet, dass es Handlungsräume formt, fällt dabei letztlich nicht ins Gewicht. Der eigentliche Handlungsverlauf überschreitet denn auch die Vorgaben des Spiels und mündet in die Interventionen der kollektiven Helden. Diese Überschreitung meint nichts anderes als den ›realistischen Weg‹, den Hans Vilmar Geppert beschrieben hat. Definierte, abgegrenzte Räume sind im Realismus stets nur dazu da, verlassen zu werden. Modelle wie das Gesellschaftsspiel stellen allenfalls kurzfristige Handlungs- und Bedeutungsmöglichkeiten bereit. Der echte realistische Held verweilt in ihnen lediglich für kurze Zeit. In diesem Kapitel ist aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes eine Integrationsfigur der realistischen Wirklichkeit in den Blick gerückt worden. Die entsagungsbereite Intelligenz, die dem Gemeinwohl Untertan ist, garantiert jene Ausgleichsbewegung, die den Sozialverband gegen die destruktiven Tendenzen einer Eigennutzenwirtschaft absichern soll. Es sind Beamtenfiguren und Unternehmer in der Nähe des Beamtentypus, auf die der entsprechende Fokus fällt. In ihnen personifiziert sich das vom Diskurs bereitgestellte Ordnungsbegehren. Stärker als bei Spielhagen und Freytag macht sich bei Raabe Zweifel an der Totalisierbarkeit dieser Ordnungsidee und mithin an der Verklärbarkeit des Wirklichen breit. Tatsächlich begleitet, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, vielfach eine tief greifende Skepsis jene Denkfigur des öffentlichen Dienstes. Das Lob des Beamten geht mit dem Zweifel an seiner Tatkraft einher. Wie schon Schmoller die ›besitzlose Intelligenz‹

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Richard Dehmel: Das Gesicht. Eine halbe Stunde Seelenleben. In: Richard Dehmel, Gesammelte Werke in drei Bänden, Bd. 3, Berlin 1913, S. 45–52. Vgl. dazu Moritz Baßlers Einleitung »Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne« in dem demnächst bei De Gruyter erscheinenden Sammelband Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der Frühen Moderne (hg. von Moritz Baßler).

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im permanenten Ringen mit den Dynamiken der Wirtschaft schilderte, so fasst auch die Literatur ihre bevorzugten Handlungsträger als prekär auf. In Zeiten der Marktmobilisierung kann eine Stabilisierung der öffentlichen Sphäre kaum Dauer beanspruchen, ist die Verklärung des Realen allenfalls ein transitorisches Moment. 5.2.3.

Unter dem Druck des Eigennutzens – Von der Krise des Ordnungsbegehrens bei Gustav Freytag, Gottfried Keller, Theodor Storm und Wilhelm Heinrich Riehl

Als Wilhelm Raabes Figur der Wohltäterin, Julie Kiebitz, kaum im Provinzstädtchen Gandersheim eingetroffen, sich eigeninitiativ zur Hundstwete alias Villa Schönow aufmacht, um die dortigen Verhältnisse zu ordnen, nimmt sie einen kurzen Umweg über einen Hügel. Es ist ein signifi kanter Schritt, den die Heldin hier vollzieht, um »vorerst mal einen Blick über das ›Ganze‹ zu bekommen«.164 Der Gang auf die Anhöhe, wie er in älterer Zeit Kriegsherren vorbehalten war, markiert die exponierte Stellung dieser fürsorgebereiten Intelligenzfigur. Sie ist in der Lage, das Geschehen aus der Distanz zu betrachten, um dann im gegebenen Fall in die Niederungen der Ebene abzutauchen und die in Unordnung geratenen Verhältnisse zu richten. Nur wer den ›Blick über das Ganze‹ pflegt, ist dann auch in der Lage, den abgerissenen Bildungsweg der jungen Helden, Gerhard Amelung und Wittchen Hamelmann, zu kitten. Über diese Perspektive verfügt der stets in der Nahdistanz wirkende, spontane Fabrikant Schönow nicht. Raabe rekapituliert hier eine Konstellation, die er mit dem Fürsorgeverband der »Entsagenden«165 in seinem Frühwerk Die Leute aus dem Walde (1862) schon einschlägig ausgearbeitet hatte: Dort war es das Zusammenwirken zwischen dem hoch gebildeten Astronomen Heinrich Ulex und dem praktisch gesinnten Polizeischreiber Friedrich Fiebiger, das dem Protagonisten Robert Wolf einem gesunden Mittelweg zwischen dem Idealen und »der Welt des Realismus« eröffnete.166 Der Schritt hinaus aus den tagespolitischen Verstrickungen und dem aktuellen Interessengemenge, den Julie Kiebitz symbolisch vollzieht, markiert jene Kompetenz des öffentlichen Dienstes, die die realistische Literatur mit Vehemenz beschwört. Wiederkehrend heißt es von Seiten realistischer Ökonomen, dass der wahrhaftige Wirtschaftswissenschaftler sich im »Gewoge der Tagesmeinungen« eine »feste Insel« zu schaffen habe (Roscher167), dass er »von dem allgemeineren Standpunkt des Rechts, der Gesamtinteressen aus die Probleme betrachten« müsse (Schmoller168). Und die realistische Prosaliteratur nimmt dieses Neutralitätspostulat auf. Aus dem Gewoge der Ostseefluten, die in Spielhagens Sturmflut bildhaft für den Börsen164 165 166 167 168

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Raabe: Villa Schönow, S. 497. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 150. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 377. Siehe Abschnitt 3.2.4.4. dieser Arbeit. Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie, § 27, S. 62. Schmoller: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft , S. 203.

strudel der Gründerkrise 1873 stehen, vermag einzig der designierte Beamte, Kauffahrerkapitän Reinhold Schmidt, aufzutauchen. Auf festem Boden empfängt ihn sein väterlicher Freund, der Präsident, und befördert ihn zum Beamten. Distanz zu halten, nicht unterzugehen in den Untiefen des Partikularen und Tagesaktuellen – das ist die Anforderung an Verantwortungsträger im öffentlichen Sektor. Dieses Denken entstammt, wie gesehen, vornehmlich dem Verwaltungsbereich. Es nimmt aber auch die politischen Entscheidungsträger in die Verantwortung. Gemäß dem Obrigkeitsstaatsmodell, das weniger auf demokratische Repräsentation divergierender Gruppeninteressen denn auf Steuerung durch eine Elite baut, definiert sich auch die Legislative als überparteiliche Instanz und Hüterin des Gemeinwohls. Gleich der Verwaltung siedelt sich die gesetzgebende Politik oberhalb der dynamischen, wogenden Marktwirtschaft an. Wer immer in diese Sphäre aufsteigt, weiß, dass er damit einen ›Blick für das Ganze‹ einzunehmen hat. Wie bereits zitiert, gibt Viko von Geldersen, der Kaufmann in Otto Rüdigers Zunftroman Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück, diesen Richtungswechsel, der mit dem öffentlichen Amt einhergeht, exemplarisch vor: »Aber seitdem ich im Rathstuhl sitze und scheiden und schlichten soll, sehe ich ein, wie viel weiser des Rechts ein ganzes Volk ist, als der Wille und die dreiste Meinung der Einzelnen«.169 In diesen Worten steckt das Credo eines starken Staatsdenkens, das sich auf die Pluralität von Einzelmeinungen und individuellen Willensakten, wie sie sich im Marktgeschehen bekunden, nur bedingt einlässt. Das Credo beschreibt das Desiderat realistischen Ordnungsverständnisses. Aber, wie bereits mehrfach angeklungen ist, es erfasst zusehends weniger das tatsächlich erzählte Geschehen. Der ideelle Rahmen und die metonymische Reihe kommen nicht zur Deckung. Die Verklärung, die der Realismus in Nachfolge von Goethes Symbolbegriff programmatisch als hoch integratives Organisationsprinzip vorgibt, wird als solches in den Texten der Epoche kaum mehr realisiert. Entsprechend findet die stets anvisierte Position oberhalb der ökonomischen und sozialen Gemengelage gerade bei den kanonischeren Autoren des Poetischen Realismus kaum noch jenen narrativen Rückhalt, der ihr von Seiten der diskursiven Programmatik in Ökonomie und Literaturtheorie der Zeit zukommen sollte. Gelegentlich erhalten Schurken vom Schlage eines Leon von Poppen (Die Leute aus dem Walde) oder Theophile Stein (Der Hungerpastor) Zugang zur höheren Beamtenriege; ein Raabe’scher Auswanderer diagnostiziert in Amerika »etwas zuwenig von dem, was wir daheim zuviel haben, Polizeigesetz!« (Die Leute aus dem Walde).170 Auf die

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Rüdiger: Siegfried Bunstorp, Bd. 1, S. 117. Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 371. Die allgemeine Sicherheitspolizei erscheint bei Raabe in »doppelter Funktion: als staatlicher Apparat gesellschaftlicher Zucht und als ordnungsstiftender Ruhepol innerhalb einer bürgerlich in Unordnung geratenen Welt«, so Wolfram Siemann: Bilder der Polizei und Zensur in Raabes Werken. Realgeschichtliche Grundlagen und Antwortstrukturen. In: JbRG, 1987, S. 84–109. Zu unterscheiden ist hiervon die politische Polizei, auf die, wie Siemann zeigt, wiederholt in ihrer Funktion als Zensurorgan angespielt wird.

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wachsende Reglementierung und Versachlichung der exekutiven Strukturen in Preußen reagiert Theodor Storm, nach dem Anschluss Schleswigs und Holsteins 1867171, mit einem Spottgedicht auf ›den Beamten‹: Er reibt sich die Hände: »Wir kriegen’s jetzt! Auch der frechste Bursche spüret Schon bis hinab in die Fingerspitz’, Daß von oben er wird regieret. Bei jeder Geburt ist künftig sofort Der Antrag zu formulieren, Daß die hohe Behörde dem lieben Kind Gestatte zu existieren!«172

Das Ordnungs- und Verwaltungsbegehren, das hier in seinem Totalitätsanspruch und in seiner streng bürokratischen Gestalt karikiert wird (Existenzrecht per ›Antrag‹), zeigt sich auch in den prägenden narrativen Textzeugnissen des Realismus zunehmend als prekär. Man bedenke nur, wie die großen Bildungsromane der Epoche mit jenem sozioökonomischen Modell verfahren, das Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre ihnen vorgezeichnet hat. In der Turmgesellschaft des Wilhelm Meister hatte sich letztmalig in Reinkultur ein kameralistisches Steuerungsversprechen bekundet: Es ging um die teleologische Einrichtung eines exemplarischen Bildungsweges (oder mit Novalis: um die ›Wallfahrt nach dem Adelsdiplom‹), den die Turmgesellschaft über personale Begegnungen mit dem Helden gewissermaßen von oben inszenierte und moderierte.173 Schon in Freytags Soll und Haben (das man zu Recht als Weiterführung des Wilhelm Meister im Gewand des Kaufmannsromans gelesen hat174) taucht dieses Steuerungsversprechen in deutlich abgespeckter Form auf: »Ja Wohlfart«, bekennt die stille Teilhaberin des Kontors Sabine Schröter dem Protagonisten am Ende seiner Lehrjahre: »Auch ich habe ein kleines Anrecht an Ihr Leben gehabt.«175 Mit Gaben und Fürsprache habe sie den Ausbildungsweg ihres Schützlings begleitet. Von einem weltumspannenden Netz, wie es die Turmgesellschaft bei Goethe ausbreitet, ist da schon keine Rede mehr. Es geht den Akteuren nicht mehr um eine aktive Gestaltung der Erziehung in einem zwar inszenierten, doch möglichst

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Zur Umstellung der eher dezentralen und durch persönliches Engagement geprägten Verwaltung in den alten Herzogtümern Schleswig und Holstein auf das zentralisierte, bürokratische System Preußens, durch die sich Storm in seiner Beamtentätigkeit unmittelbar betroffen sah, siehe David A. Jackson: Theodor Storm. Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 169–181. Theodor Storm: Der Beamte [1867]. In: SSW, Bd. 1 (Gedichte. Novellen 1848–1867, hg. von Dieter Lohmeier). Frankfurt a.M. 1998, S. 85. Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft , S. 35–38; vgl. Lottmann: Arbeitsverhältnisse, S. 133– 144. Vgl. Charbon: Der Homo oeconomicus, S. 139. Freytag: Soll und Haben, Bd. 2, S. 329.

frei wirkenden Trial-and-Error-Verfahren (»nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den irrenden [sic!] leiten«176). Die schützende Hand der Sabine Schröter erleichtert allenfalls den Weg innerhalb einer Institution, deren Regeln ohnehin recht transparent sind und die durch den Inhaber und die Kontoristen beständig vorgelebt werden. In Freytags Reminiszenz an die Turmgesellschaft erfolgt zudem ein Umschwung ins Private. Letztlich qualifiziert sich Sabine in der Behauptung ihrer lebenslangen Teilnahme am Schicksal Anton Wohlfarts vordergründig als patente Partnerin für den Helden. Weniger eine komplexe Steuerungsidee denn ein punktuell aufscheinendes, individuell zugeschnittenes Fürsorgeversprechen wird hier vorgestellt. Der Trennung von materieller (marktökonomischer) und sittlicher Sphäre entsprechend, wird Anton dann auch nicht eine Lebenserzählung (wie im Wilhelm Meister in den Schriftrollen der Lehrjahre) übergeben, sondern das Geheimbuch der Firma T. O. Schröter mit den Geschäftsbilanzen. Die Frau verbürgt den empathetischen Zuspruch und der Mann darf die Zahlen der Firma studieren – das ist die Aufspaltung der sittlich-ökonomischen Synthese, die der Wilhelm Meister noch verspricht. In der äquivalenten Episode im Grünen Heinrich von Gottfried Keller wird die Steuerungsidee gleich vollends durchökonomisiert und letztlich verabschiedet. Auf dem Grafenschloss erfährt Heinrich Lee, dass auch er in seinen zurückliegenden Lebensmonaten einen stillschweigenden Wohltäter besaß. Der Graf Dietrich zu W… berg entdeckt dem Helden, dass er eine Reihe von Bildern erwarb, die Heinrich in der Residenzstadt zum Antiquar Joseph Schmalhöfer gebracht hatte. Bezeichnenderweise liegt diese Hilfsaktion bereits jenseits der eigentlichen Lehrjahre des Helden, nach Abbruch seiner künstlerischen Ambitionen. Und auch die Vermittlungsart hat wenig mit dem Modell des Wilhelm Meister gemein: Der Graf gibt durch seinen Bilderwerb eine indirekte Finanzspritze für einen Helden, dessen materielle Umstände längst desolat sind und der sich mit seinem Bilderverkauf leidlich den eigenen Lebensunterhalt sichert. Vor allem aber sorgt die Episode im Grafenschloss keineswegs für eine harmonische Ordnung im Sinne eines Bildungsziels oder für eine etwaige glückliche clôture der Erzählung, sondern für ein Mehr an Kontingenz. Zwar wird Heinrich Lee noch einmal ein Selbstverwirklichungsschub ermöglicht (mit dem Auftrag, neuerlich ein ganz und gar eigenes Gemälde zu schaffen) und auch eine Liebesheirat ist ihm in der Person des Findelkinds Dortchen Schönefund in Aussicht gestellt. Tatsächlich aber produziert Heinrichs gesamter Aufenthalt beim Grafen mit den ausgiebigen Gesprächen über Theologie genau jene Verzögerung, die den Helden zu spät zu seiner sterbenden Mutter heimkehren lässt. Wo sich ein Steuerungsideal, wenngleich skizzenhaft, noch einmal kundtut, da wird vom skeptischen Realisten Keller gleich

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Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman [1795/1796], hg. von Hans-Jürgen Schings (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter et al.), München 1988, S. 509.

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der blinde Schrecken des Unsteuerbaren dagegengesetzt. Der realistische Weg durchschreitet mit individuellem Zuschnitt alle allgemeinen Ordnungsangebote und stellt sie damit in ihrer abschließenden Geltung infrage. Gerade die Vermischung von ökonomischen Anliegen, die Partikularinteressen repräsentieren, und generelleren Begriffen des Gemeinwohls wird in der kanonischen Literatur des Realismus nachhaltig als Problem geschildert. Der soziale Gedanke soll sich, abseits relativierender wirtschaftlicher Logiken, als neutral und dauerhaft behaupten. Aber in den Texten ist vornehmlich von den zerstreuenden Dynamiken des Besonderen die Rede. Verklärung tritt dann nurmehr als raunender Oberton des Überindividuellen bzw. Allgemeinmenschlichen auf, als »Sauce« (Brinkmann)177, die kontingente Handlungsverläufe mit Zeichen größtmöglicher Symbolkraft und Würde (Religion, Mythos, Klassizität) übergießt. Theodor Storms Vater-Figuren in den Mühlen des Eigennutzens Unter dem Druck wachsender Eigeninteressen wankt der öffentliche Sektor. Genau diese Drucksituation wird in einschlägigen Erzähltexten des Realismus wiederholt inszeniert. So besitzt die unheilvolle Vater-Sohn-Geschichte Hans und Heinz Kirch (1882) von Theodor Storm dort ihren Ausgangspunkt, wo sich der erfolgreiche Handelsschiffer Hans Kirch nach einem Aufstieg in das Magistratskollegium seiner Heimatstadt sehnt. Vater Kirch begreift den Sitz im obersten Verwaltungsgremium der Gemeinde nirgends inhaltlich, er tritt ihm nur in der äußeren Symbolik als erhöhter Platz im Kirchenchor entgegen. Um die prestigeträchtige Abrundung privater Ambitionen und Errungenschaften geht es hier. Sein Sohn Heinz Kirch, der ihm wie ein »Ebenbild« gleicht178, ist ausersehen, dieses Streben zu vollenden. Mit Strenge, wie er sie an sich selbst trainiert hat, übt der sparsame und eifrige Schiffsunternehmer Hans Kirch seine Erziehung aus, »glaubte er doch selber nur den Erben seiner aufstrebenden Pläne in dem Sohn zu lieben«.179 Doch wo ein betontes Eigeninteresse auf ein öffentliches Amt zugreift, das an sich Interesselosigkeit erfordert, da lässt der realistische Text seine Handlungsträger scheitern. Noch ehe Hans Kirch seinen Sohn in seine Fußstapfen hineinzwingen kann, flieht dieser. Bezeichnenderweise bricht der Konflikt der beiden immer dann auf, wenn sich Heinz mit Figuren solidarisiert bzw. liiert, die ein gewisses Maß an Empathie und sozialer Teilnahme verlangen (etwa mit dem hierarchisch niedriger gestellten Schiffsjungen auf der ersten Bootsfahrt180 oder mit Wieb, der Tochter einer anrüchigen Seemannsfrau181).182 Und die Möglichkeit zur Reue lässt der Vater aufgrund

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Brinkmann: Illusion und Wirklichkeit, S. 207. Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 61. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 63. Vgl. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 61–63. Vgl. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 63–72. Schon Winfried Freund hat daher in Hans und Heinz Kirch die »Tragödie von Eros und

seiner rigiden ökonomischen Prinzipien verstreichen. Als ein Bittbrief des geflohenen Sohnes ohne Porto eintrifft , verweigert Hans Kirch dessen Annahme: »Nicht ’mal das Porto hatte er gehabt! Und der, der sollte im Magistrat den Sitz erobern, der für ihn, den Vater, sich zu hoch erwiesen hatte!«183 Diese enge Verschaltung von Geld (Porto) und öffentlicher Rolle (Magistrat), die die erlebte Rede hier kundtut, hebt den Krisenfall dieser Vater-Sohn-Beziehung (der in der Storm-Forschung eingehend biographistisch erörtert wurde184) ins ordnungspolitisch Exemplarische. Es kann nicht gut gehen, wenn das öffentliche Amt von Privatinteressen infiziert wird (oder werden soll). Die Verwirrungen bleiben dabei auf der Figurenebene; die Erzählung vermag sie aus nüchterner Distanz zu registrieren. Das ist gewissermaßen der narratologische Schachzug, mit dem jenes Ineinanderfallen der programmatischen Unterscheidung zwischen Eigennutzen und Gemeinwohl literarisch krisenfest realisiert werden kann. Die obrigkeitsstaatliche, politische Funktion mag wie hier prekär werden, ihre narrative Repräsentation ist es noch nicht. In ähnlicher Weise verfährt die Novelle Carsten Curator (1878), mit der Storm bereits vier Jahre zuvor das Vater-Sohn-Thema entfaltet hatte. Hier wird das besagte Problem von der entgegenliegenden Seite her aufgerollt. Denn in der Hauptfigur Carsten Carstens scheitert kein überambitionierter Kleinunternehmer, sondern ein Vertreter des öffentlichen Dienstes, ein gerichtlich bestellter Sachverwalter. Er scheitert aber, und darin sind sich beide Novellen einig, an einer nahezu fatal wirkenden Kraft der Eigennutzenökonomie. Dieses für den Helden prekäre Feld wird bereits zu Anfang der Novelle überaus deutlich mit einer ökonomischen Metapher bezeichnet, wenn es dort über den Vater von Carstens zukünftiger Frau heißt: »[D]er einzige Aktivbestand seines Nachlasses, so wurde gesagt, sei seine Tochter, die hübsche Juliane; aber bis jetzt hätten sich noch keine Käufer gefunden«.185 In der Übertragung erscheint Juliane, die Tochter eines bankrott gegangenen Spekulanten, als Aktivposten, d.h. als Vermögensbestandteil eines Unternehmens, und kann im Insolvenzfall entsprechend wie eine Ware betrachtet werden, die auf einen ›Käufer‹ wartet. In diese Rolle des ›Käufers‹ rückt Carsten Carstens, wenn er Juliane heiratet. Eine solche ökonomische Metaphorisierung ist in realistischen Texten eher selten, eben weil die dadurch nahe gelegte ›Versachlichung‹ der Subjektivität der programmatisch angestrebten Versittlichung offensichtlich zuwiderläuft. Tatsächlich

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Karitas« als Reflex auf die zeitgeschichtlichen Ökonomisierungsprozesse beschrieben. Vgl. Winfried Freund: Theodor Storm, Stuttgart et al. 1987, S. 104–122. Storm: Hans und Heinz Kirch, S. 80. Zur problematischen Disposition der Söhne Storms vgl. etwa Jackson: Theodor Storm, S.  204–215. In exemparischeren Deutungen wird die Novelle entsprechend auf die Problematik des ›Erwerbssinns‹ für das Wohl der ›bürgerlichen Familie‹ hin ausgewertet. Vgl. auch für weitere Literatur Thomas Baltensweiler: Die Aporie in der bürgerlichen Familie. Zur Funktion des Erwerbssinns in »Hans und Heinz Kirch« und »Der Schimmelreiter«. In: STSG, Bd. 51 (2002), S. 87–100. Storm: Carsten Curator, S. 457f.

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stammt denn dieser Sprachgebrauch, wie gesehen, nicht vom Erzähler, sondern von einer anonymen Stimme, von den Leuten des Städtchens. Der prototypische realistische Erzähler steht oberhalb derartiger Redeweisen. Konsequenterweise wird die Buchhaltungsmetaphorik in der Geschichte geradezu ironisch zurückgewiesen. Denn die hübsche und leichtlebige Juliane entpuppt sich, einmal angeheiratet, zwar als überaus agil (aktiv), nicht aber als ökonomisch wertvoller Aktivbestand für den Carstens’schen Haushalt. Juliane und ihr Sohn Heinrich, der sie nach ihrem Tod metonymisch vertritt186, werden für den Protagonisten Carsten zum Motor permanenter Vermögensminderung bis zum finanziellen Ruin. Das Eigenkapital von Carsten wird allmählich aufgebraucht. Schließlich leitet die Aufnahme eines Investitionskredits zum Ankauf eines Krämerladens für seinen Sohn die finale Stufe der Verfallsgeschichte ein.187 Die gesamte Geschichte von Vater und Sohn spielt also – ohne dass es von der Erzählung so benannt würde – im Feld der Passiva. Wobei der fatale Zug darin besteht, dass von diesen Passiva aufgrund der ökonomischen Unvernunft des Sohns kein produktiver Gebrauch gemacht wird, sprich keine Aktiva gebildet werden. So findet der Text denn seine Ironie in einer einfachen Umkehrung nach den Regeln der Bilanzrechnung: Aus Aktiva mach Passiva. Nichts ist, wie es anfänglich scheinen will. Als wenig verlässlich stellt sich die ökonomische Metapher dar. Nun geht es in der Erzählung aber noch um mehr als um den trügerischen Sprachgebrauch der Leute. In Carsten scheitert eine Figur, die sehr genau dem in diesem Kapitel geschilderten Idealtypus eines öffentlichen Ordnungsgaranten entspricht. Als gleichermaßen ökonomisch rational wie interesselos steht Carsten ähnlich seinem Erzähler in der Exposition der Geschichte oberhalb wirtschaftlicher Verwicklungen. Seine Rolle als Kurator für die »verwitweten Frauen und ledigen Jungfrauen«, als Verwalter von Konkurs- und Erbmassen ist die eines unbeteiligten Dritten.188 Carsten bezieht seine Qualifi kation als Sachverwalter daraus, dass »bei ihm, wenn er die Angelegenheiten Anderer ordnete, nicht der eigene Gewinn, sondern die Teilnahme an der Arbeit selbst voranstand«.189 Nicht Selbstinteresse und Gewinnkalkül kennzeichnen diesen Protagonisten, sondern eine entsagungsvolle Neutralität gegenüber den ökonomischen Belangen seiner Klienten. Gleiches gilt für seinen eigenen Haushalt. Der kleinbürgerliche Handel mit gestrickten Wollwaren, der Carstens Einkommen gründet, liegt in den Händen seiner unverheirateten Schwester. Dieses geschwisterliche Zusammenleben ruft die im Poetischen Realismus topische Entsagungskonstellation auf.190 Wo andere Helden (etwa der entsagungsbereite Apollonius

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Bekanntlich macht der Text eine Genealogie auf, in der Verschwendergeist und Spekulantentum von Julianes Vater über sie selbst bis zu ihrem Sohn Heinrich weitergereicht erscheint. Vgl. Storm: Carsten Curator, S. 496f. Storm: Carsten Curator, S.  456. Als Insolvenzverwalter ist Carsten eher in juristischen denn betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten tätig. Storm: Carsten Curator, S. 456. Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Diesem geschwisterlichen Zusammenleben eine

Nettenmair in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde) erst angelangen müssen, da startet Carsten Curator bereits. Als Inbegriff der Begierde- und Interesselosigkeit setzt er den Ausgangspunkt der Erzählung jenseits der Homo-oeconomicus-Logik. Carsten wirtschaftet, aber er maximiert nicht; er ordnet die Bestände. Im moderaten, antiegoistischen Zuschnitt seines Wirtschaftens verkörpert Carsten Curator das zeitgenössische nationalökonomische Ideal. Wie beschrieben, sieht auch die Nationalökonomie das Gleichgewicht zwischen institutioneller Ordnung, die der Fähigkeit zur Entsagung aufruht, und dynamischem Marktstreben als permanent gefährdet an. Der Sog des Marktes höhlt noch die entsagungsbereitesten Instanzen aus, auf dass die Blüteepochen mit ihrem Höchstmaß an Selbstüberwindung vorübergehen.191 In Carsten Curator bleibt das ebenso gemütliche wie prekäre Ausgangsszenario des Verwaltungsmenschen keine zwei Textseiten bestehen. Dann fällt die, mit modernem Verständnis betrachtet, doppelte Lücke in der hier geschilderten Entsagungsordnung auf: Carsten lebt und verwaltet ohne Ehe und ohne Sinn für den eigenen Haushalt. Die wiederholt beobachtete (tragische) Schuld des Protagonisten Carsten Curator192, die ebenso topisch auf (monetäre) Verschuldung hinausläuft, hat, im Sinne einer literarökonomischen Lektüre, ihr auslösendes Moment im Eintritt des Helden in die Eigennutzenwirtschaft.193 Das anfängliche Verwalten ›für andere‹ stellt sich um auf ein Wirtschaften ›für sich‹. Nicht an Dritte wird der besagte Aktivbestand des insolventen Spekulanten veräußert, sondern dem eigenen Haushalt führt Carsten den ›Aktivposten‹ Juliane zu. Womit sein Haushalt denn überhaupt erst sichtbar und in der Folge kalkulierbar wird, in seinen Vermögensbestandteilen und Grenzen. Carstens Einstieg in die Belange der eigenen Buchhaltung korrespondiert mit dem sukzessiven Abschied vom Verwaltungsgeschäft des Kurators: »[E]ine Kuratelrechnung, obwohl sie morgen zur Konkurssache eingereicht werden sollte, war bei Seite geschoben und dagegen ein kleines Buch aus dem Pult genommen, das den Nachweis des eigenen Vermögensstandes enthielt«.194 Es macht den tragischen Zuschnitt dieses Falles aus, dass Carsten Curator weiterhin um die Position des unbeteiligten Dritten ringt, während er längst durch seinen

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»inzestuöse« Dimension zu unterstellen, wie es Regina Fasold in ihrer Storm-Monographie tut, scheint mir textanalytisch weit hergeholt und im Kontext des realistischen Entsagungsparadigmas wenig überzeugend. Siehe Regina Fasold: Theodor Storm, Stuttgart, Weimar 1997, S. 146. So beschrieben in Gustav Schmollers Straßburg-Reden. Vgl. Abschnitt 5.1. dieser Arbeit. Vgl. Karl Ernst Laage: Die Schuld des Vaters in Theodor Storms Novelle »Carsten Curator«. In: STSG, Bd. 44 (1995), S. 7–22; vgl. Nathalie Klepper: Theodor Storms späte Novellen. Bürgerliche Krisenerfahrungen im Umbruch zur Moderne, Marburg 2008, S. 58–67. Und zwar eine Eigennutzenwirtschaft , die durch den Topos der Spekulation bereits von vornherein als krisenhaft angelegt ist. Vgl. zu diesem Topos Hempel: Spieler, Spekulanten, Bankrotteure; vgl. ebenso Abschnitt 3.2.4.3. dieser Arbeit. Storm: Carsten Curator, S. 497f.

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Sohn ins Feld interessegeleiteter Wirtschaft verstrickt ist. Im entscheidenden, fatalen Schritt der Handlung – dem Ankauf eines Krämerladens für Heinrich – klingt nicht von ungefähr der ideale Anfangszustand nach: »[D]as zu Kauf gestellte, jetzt zwar herabgekommene Geschäft konnte bei guter Führung und ohne zu hohe Zinsenlast als eine sichere Versorgung gelten. Hier am Orte konnte der Vater selbst ein Auge darauf halten, und Heinrich würde allmählich auf sich selber stehen lernen.«195 Anderer Leute Unternehmungen und Haushalte zu überwachen, verwalten, statt sich um das eigene Wohlergehen zu sorgen – das war Carstens ursprüngliches Geschäft. Aber wo er selbst über seinen Sohn mit den Interessen dieser Unternehmungen verknüpft ist, muss der verwaltungswirtschaftliche Grundansatz scheitern. Carsten Curator liest sich in diesem Sinne als Tragödie eines Repräsentanten des öffentlichen Dienstes in den Mühlen einer auf Selbstnutzen basierenden Privatwirtschaft. Wilhelm Heinrich Riehl – 1848 und das Dilemma des Interessenpolitikers Mit dieser Problematisierung des öffentlichen Amtes aus einem Liebes- bzw. Begehrensmotiv heraus steht Storm nicht allein da. Wilhelm Heinrich Riehl hat in Der Märzminister (1873) eine vergleichbare Skizze vorgelegt und darin gleichsam die politische Dimension der Entsagungsproblematik angezeigt. Die kleine Novelle aus Riehls Zyklus Durch tausend Jahre handelt von den Liebesirrungen eines politischen Karrieristen. Rudolf Gärtner wird im März 1848 zum »dirigierenden Staatsminister« gewählt und bewährt sich zunächst tadellos als »trefflicher Mann, biegsamen Talentes und unbiegsamen Charakters, goldtreu und eisenfest«.196 In der ersten Parlamentssitzung des neuen Landtags ordnet er mit ruhiger Hand die Abläufe; ein formales Aufbegehren der Stände gegen ihren Landesfürsten weiß er mit diplomatischem Geschick abzumildern. Gärtner probt so eingangs des Textes recht kunstvoll einen Spagat zwischen einem Interessenvertreter des Volkes und einem notwendigerweise volksfern agierenden Staatsdiener. Aber genau dieser Zwiespalt wird zum Problem. Denn Gärtner bewegt sich in seiner Rolle zusehends unentschieden, ob er – mit den Worten Max Webers – als ›politischer Beamter‹ oder als ›Fachbeamter‹ agieren soll. Das Ideal gibt hier zweifelsohne das Fachbeamtentum vor, das ›sine ira et studio‹ (ohne Zorn und Eingenommenheit) die Staatsangelegenheiten verwaltet und den Staatsapparat durch eine, wie

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Storm: Carsten Curator, S.  496. Wie immer in realistischen Texten geht es bei der Geschäftsgründung nicht um das Erschließen neuer Wachstumssektoren, sondern allein um eine ›sichere Versorgung‹, d.h. um ein hinreichendes Einkommen. Der Realismus denkt Marktaktivitäten bevorzugt subsistenzwirtschaft lich. Vgl. dazu auch Abschnitt 3.2.2. dieser Arbeit. Wilhelm Heinrich Riehl: Der Märzminister [1873]. In: RKN, Bd. 4, Meersburg, Leipzig 1933, S. 129–160, hier: S. 132 u. S. 134.

Weber sagt, »im höchsten Sinn sittliche Disziplin und Selbstverleugnung« trägt.197 Solange Gärtner sich als entsagungsbereit erweist, vermag er, die öffentlichen Angelegenheiten glücklich zu moderieren. Von parteitaktischen Erwägungen ist nichts zu erfahren. So raunen die Leute über diesen Musterpolitiker aus dem Geiste deutscher Beamtenherrschaft: »Er ist erst dreißig Jahre alt und schon Minister, und er ist schon dreißig Jahre alt und noch niemals verliebt gewesen!« Aber gerade dieser Zustand soll sich ändern. Eine spezielle Form von ›Interessenpolitik‹ holt auch ihn ein. Gärtner verliebt sich in die Tochter des Oberförsters Sachs und handelt sich damit eine Reihe von Verstrickungen ein. Um in der Nähe von Hedwig Sachs zu bleiben, verzichtet er auf einen Sitz im Deutschen Bundestag und zieht so erstmals den Unmut seines Landesfürsten und der Parteienriege auf sich. Eine Beförderung des Akzessisten Baum stellt er zurück, weil dieser selbst um Hedwig Sachs wirbt. Wider seine Überzeugung stimmt Gärtner einem neuen, für Förster nachteiligen Jagdgesetz zu, um nicht in den Verdacht zu geraten, für den Schwiegervater in spe Politik zu betreiben. Dieses Schwanken zwischen ministerialen Aufgaben und privatem Interesse erhält einen latent lächerlichen Anstrich, weil Gärtner bereits Konsequenzen verarbeitet zu einem Zeitpunkt, da er noch gar keine Avancen in Richtung Marie Sachs gemacht hat. Seinen Konflikt trägt er durchweg innerlich, vor dem Gerichtshof seines Gewissens, aus: Alle Versuche, einen ganz arglosen Verkehr [mit Hedwig] anzuknüpfen, waren vergeblich; sie scheiterten an seiner Stellung, am Minister. Dabei wurde er immer ruheloser, blasser, magerer, immer schwankender in der Politik, verworrener in den Geschäften: schon um des Staates willen mußte ein Ende gemacht werden.198

Diese Reflexion der Krise zeigt bereits den konventionellen Ausweg des Helden an. Er entsagt dem Ministeramt, und zwar ohne Rücksicht darauf, dass sein Liebesbrief, den er an Hedwig aufsetzt, unbeantwortet bleibt. Die Vermischung öffentlicher und privater Angelegenheiten, die Gärtner in dieser Novelle unterläuft, sei sie in großen Teilen auch nur eine antizipierte, fordert den Tribut des Helden. Überaus deutlich (und aus heutiger Sicht schreiend konservativ) spricht sich die Novelle gegen eine auf demokratischer Willensbildung beruhende Interessenpolitik aus. Der implizite Kotau gilt dem unabhängigen Fachbeamtentum und seiner obrigkeitsstaatlichen Verankerung. Aber ganz im Sinne der ›versöhnenden‹ Poetik, die Riehl in der programmatischen Novelle Abendfrieden entwirft199, geht diese politische Pointe nicht vollends auf Kosten des Protagonisten. Denn wer sich erniedrigt, der kann auch erhöht wer-

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Max Weber: Politik als Beruf [1819], 2.  Aufl., München, Leipzig 1926, S.  28. Die Problematik der Beamtenherrschaft in Deutschland hat Weber ausführlich diskutiert in Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Vgl. auch Abschnitt 5.2.1. dieser Arbeit. Riehl: Der Märzminister, S. 147. Vgl. dazu Abschnitt 1.2. dieser Arbeit.

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den. Als Gärtner seinen Hut nimmt, läuft das Volk (das ihn langsam als korrupten Politiker ansieht) Sturm. Von einer aufgebrachten Menge vertrieben, gerät der Märzminister zufällig in die Fledergasse Nr. 15, ins Haus der Familie Sachs. Dort lösen sich auf kaum drei Textseiten umstandslos alle Verwirrungen und Gärtner kann schon bald Hedwig ehelichen. Riehl garniert diesen Novellenschluss mit einer Analogie, die die spätpubertären Launen des Märzministers zum Kommentar auf die 1848er Bewegung erhebt. Offensichtlich im Auftrag seines Erzählers äußert Gärtner gegenüber einem Bekannten: ›Politik und Liebe! Wir werden dort denselben Weg gehen, den ich gegangen bin. Wir lieben die Freiheit, wir schwärmen wie Liebende für die deutsche Einheit, im Grunde ist das aber ein und dieselbe Person, wir laufen ihr nach auf allen Gassen, aber wir kennen sie noch gar nicht ordentlich; es ist ja vorerst nur das Schattengebilde unserer eigenen Phantasie, dem wir nachlaufen. Wir werden sie kennenlernen, und dann beginnt erst die wahre Liebe. Allein das geht nicht so sanft: wir müssen hineingeschleudert werden von unsichtbaren Händen wie ich in die Fledergasse!‹200

Die revolutionären Anstrengungen von 1848 werden lapidar als blinde Liebe zum Vaterland abgetan. So wie sich Gärtner mit seiner spröden Idealisierung der Hedwig Sachs zunehmend in reale Sachzwänge verstrickt, so erscheint ex post die gesamte Märzpolitik als präpotentes Unterfangen. Einer aktiven politischen Haltung leistet diese Moral keinen Vorschub. Es gilt vielmehr, sich den anonymen Kräften der Geschichte zu überantworten, d.h. den angestammten Führungseliten, die mit ›unsichtbaren Händen‹ lenken. In diesem Punkt trifft sich denn der literarische Topos der Entsagung mit der von der Forschung hinreichend vermerkten realpolitischen Bescheidung und Resignation im Nachmärz.201 Zum Zeitpunkt, da Riehl seine Novelle verfasst (1873), hat sich dieses Vertrauen auf die ›unsichtbare Hand‹ in Bismarcks kleindeutscher Bundespolitik bereits eingelöst. Die Entsagung, die hier Abschied vom politischen Streben bedeutet, wird in diesem Fall vergleichsweise indirekt verklärt. Grundlage dafür ist ein im Rahmen der realistischen Literatur topisches Moment, mit der die Novelle ihren Plot auslöst: eine Bildbetrachtung. Gärtners Liebe wird überhaupt erst entfacht, weil Hedwig Sachs ihn an ein holländisches Gemälde – »einen Mieris«202 – in seinem Studierzimmer erinnert. Das Bild gilt ihm als behagliches, doch in Zeiten politischer Teilhabe unzulängliches Motiv. Denn es zeigt ein Mädchen, das beim Nähen die Nadel sinken lässt, um seinem Singvogel zu lauschen. »Die Zeit ist vorbei, wo wir uns dem leichten Spiel des Schönen in der Kunst und im Leben gefangengaben«, befindet der Politiker Gärtner und hängt das Bild bei seinem Amtsantritt zugunsten eines Plakats mit den Forderungen des Volkes ab.203 Aber der Ästhet und Liebende in ihm bleibt, wie gesagt, dem

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Riehl: Der Märzminister, S. 160. Vgl. Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 41f. Riehl: Der Märzminister, S. 133. Riehl: Der Märzminister, S. 133f.

Reiz des idyllischen Bildes verpflichtet. Die Entflammung für Hedwig Sachs, ihre unheimliche Ähnlichkeit mit dem Gemälde – das sind die bekannten Reiz erzeugenden Anleihen, die der Realismus bei der Romantik nimmt. Die Verwirrungen des Helden beschreiben dann jene Phantasterei und Kopflosigkeit, die der Realismus den idealistischen Strömungen von der Romantik bis zum jungdeutschen Vormärz regelmäßig nachsagt. Notwendigerweise entproblematisiert Riehls Novelle hier ihren Helden, indem sie ihn sukzessive in die tatsächliche Bekanntschaft mit Hedwig überführt. Das ist die topische Metonymisierung, die den prekären Zusammenfall von Bild und lebendiger, konkreter Person überwindet. Gleichzeitig bleibt aber etwas vom Reiz der Similarität erhalten. Die profane Vorgeschichte einer Ehe erhält ästhetische Weihen, wenn das Liebesglühen durch den Mieris angefacht ist. Der entsagende Abschied von der Politik wird durch das Bildmotiv konnotativ erhöht: Während das Plakat mit den Forderungen des Volkes längst in Vergessenheit geraten ist, vermählt sich Gärtner mit jenem Mädchen, das eingangs der Novelle in der »Waldeinsamkeit« der Fledergasse sitzt und wie sein Alter Ego in dem holländischen Genrebild voll Grazie beim Nähen rastet.204 Es siegt gewissermaßen die Ästhetik des Nichtstuns (die Nadel sinkt; die Vöglein singen) über das politische Anpacken. Wo das Ministerialamt nicht interesselos und entsagend gefüllt werden konnte, da entsagt man der Politik und verklärt diese Entsagung in einer bürgerlichen Ehe, die sich als Ausfluss eines harmonischen Genrebildes versteht. 1873 blickt Riehl damit auf die Gründungsurkunde jener Nachmärzhaltung, die das Warten auf die ›unsichtbaren Hände‹ der Geschichte mit einem ästhetisch bereinigten Rückzug ins Private überbrückt. 5.2.4. Die letzten Entsagenden – Der öffentliche Dienst in Gottfried Kellers Martin Salander und Der grüne Heinrich Kaum ein Text der realistischen Epoche hat die hier diskutierte Krise des öffentlichen Dienstes derart en bloc präsentiert wie Martin Salander (1886) von Gottfried Keller. Als ›unversöhnlicher‹ und wenig humorvoller205 Zeitroman über die Gründerepoche führt er in der klassischen Keller-Forschung ein vergleichsweise randständiges Dasein. Die Ballung literarökonomischer Klischees des Realismus, gepaart mit einer durchweg skeptischen Haltung gegenüber der neuen Marktgesellschaft und ihrem Verklärungspotenzial206, macht dieses Spätwerk nicht eben leicht konsumierbar. Auch Kellers, durchaus im Tenor der zeitgenössischen Aufnahme formulierte, Selbst-

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Riehl: Der Märzminister, S. 135. So noch unlängst die an Preisendanz orientierte Einschätzung von Stotz: Das Motiv des Geldes, S. 227f. Zum gesellschaft lichen Hintergrund und den zeitkritischen Aspekten des Werkes vgl. Rudolf von Passavant: Zeitdarstellung und Zeitkritik in Gottfried Kellers »Martin Salander«, Bern 1978.

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kritik, sein Werk besitze »zuwenig Poesie«207, bremste die Rezeptionsgeschichte.208 Noch heute wird Martin Salander eher im Kontext von Kellers Werkgeschichte denn in eigenständigen Untersuchungen diskutiert. Eine unverhoffte Renaissance erfuhr der Roman jüngst außerhalb der Fachwissenschaft: Am 18. September 2009 brachte das Zürcher Schauspielhaus (am Auftaktwochenende der neuen Intendantin Barbara Frey) eine Martin-Salander-Bühnenfassung von Thomas Jonigk unter der Regie von Stefan Bachmann zur Urauff ührung. Knapp ein Jahr zuvor hatte Patrick Eiden im Dezemberheft von Merkur auf die Aktualität des Keller’schen Romans in Zeiten der Finanzkrise aufmerksam gemacht. Allerdings diagnostizierte Eiden dabei umgehend, dass die »Hellsichtigkeit« in der Schilderung des gründerzeitlichen Geldwesens durch »einen anscheinend unwiderstehlichen Zug zur Moralisierung der Finanzwirtschaft« getrübt werde.209 Diese Moralisierung ist, wie in dieser Arbeit gesehen, unabdingbarer Bestandteil des realistischen Paradigmas. Wenn Martin Salander einen Abgesang auf das realistische Ordnungsversprechen vor dem Hintergrund einer wachsenden Finanzökonomie darstellt, dann doch einen Abgesang, der ganz den Parametern der hier beschriebenen Diskursivität verpflichtet bleibt. ›Excelsior‹ hätte das Buch zunächst heißen sollen und ein Notizzettel Kellers beschreibt die Signifi kanz dieses Titels: Wir haben Sehnsucht nach oben, nach Licht und Ruhe: aber nicht der erfüllten Pflicht und des befriedigten Gewissens, nach dem Licht der Ordnung, sondern nach dem Glanze der befriedigten Selbstsucht, des Ehrgeizes und der Ruhe des Gewissens.210

Mit der Konterkarierung des realistischen Ordnungsdesiderats (›Licht der Ordnung‹) durch das Eigennutzenprinzip (›Glanz der befriedigten Selbstsucht‹) ist bereits das skeptische Koordinatensystem des Projekts angezeigt. Die politische und administrative Steuerungsebene erscheint in diesem Buch nahezu vollständig verkümmert; von einer neutralen Mitte im ›Gewoge der Tagesmeinungen‹ kann ohnehin keine Rede mehr sein. Die Problematik wird bereits in der Hauptfigur Martin Salander greifbar. Von fern gemahnt er an das liberale Ideal der Einheit von Ökonomie, Bildung und Gemeinsinn, wie es Vater Lee im Grünen Heinrich verkörpert.211 Aber schon die Tatsache, dass er sein Lehramt zugunsten des Kaufmannsberufs auf-

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Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller [1892], Bern o.J. [1940], S. 36. Für eine konzise Zusammenschau von Selbst- und Fremdkommentaren vgl. Selbmann: Gottfried Keller, S. 172–175. Patrick Eiden: Die Immobilienblase von Münsterburg. Gottfried Keller unterscheidet guten von bösem Kapitalismus. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 62 (2008) Heft 12, S. 1155–1159, hier: S. 1157. Die moralisierenden Tendenzen dieses Romans sind als Mittel der Einkürzung zeitgeschichtlicher Bezüge selbstverständlich auch in der kritischen Literaturforschung der 1970er Jahre problematisiert worden. Vgl. etwa Worthmann: Probleme des Zeitromans, S. 125–129. Zitiert nach Wysling: Gottfried Keller. 1819–1890, S. 362. Dazu ausführlich Eva Graef: Martin Salander. Politik und Poesie in Gottfried Kellers Gründerzeitroman, Würzburg 1992, S. 64–75.

gegeben hat (ein Umstand, der für das Versagen des Bildungssystems, das der Roman dann ausführlich kritisiert, nicht von geringer Bedeutung ist), zeigt eine Verschiebung der Rollen an. Salander ist primär Ökonom; er bewegt sich zwischen den Kontinenten und unternimmt – was anderweitig in realistischen Texten gern als Problem inszeniert wird – gründerzeittypische Bauinvestitionen.212 Gleichwohl bleibt dieser Held mit einem durchgängigen Pathos des Sozialen ebenso wie mit seiner asketischen Geschäftspraxis den Diskurskonventionen verpflichtet. In seinen Geschäften strebt er nach ›mäßigem Besitz‹, denn »ein zu großer macht natürlich den Mann auch unfrei«.213 Als er von falscher Seite (von seinen unrühmlichen künftigen Schwiegersöhnen) zum Ratsherrn nominiert wird, zieht er sich von der Wahl zurück. Ein gewisses Maß an Entsagungsbereitschaft liefert auch hier den positiven Charakternachweis. Später ändert Salander seinen Sinn und tritt doch noch in den Rat der Stadt Münsterburg ein. Die politische Teilnahme ist als Ausdruck seiner patriotischen »Neigung, für das Ganze und Kommende zu leben«, aufzufassen.214 In einer Zeit, da Parteienkämpfe zwischen Altliberalen und Demokraten die politische Szene bestimmen, bemüht sich Salander um Ausgleich: »Er war der Haupturheber des Gedankens, in versöhnlichem Sinne beiden Hauptparteien Rechnung zu tragen«.215 Auch hier wird der ehrenwerte politische Standpunkt also oberhalb der Interessengegensätze gesucht. Salander lädt sein politisches Selbstverständnis entsprechend mit den Attributen eines Bürokraten und Sachbeamten auf, wenn er seine Arbeitsmaxime für die Ratstätigkeit formuliert: Ich kann, wenn ich dort etwas nützen will, nicht in den Rat eintreten, um still auf der Bank zu sitzen und bei den Abstimmungen aufzustehen oder sitzen zu bleiben. Ich kann auch nicht in den Tag hinein schwatzen, wenn ich reden will, sondern ich muß die Akten studieren und aktenmäßig reden; das ist die einzig echte Beredsamkeit und schafft Einfluß! Wissen ist Macht!216

Das entbehrungsvolle Aktenstudium garantiert Sachkompetenz und darauf aufbauend die Urteilskompetenz des Ratsmanns. Salander beansprucht diese Kompetenz in den Bereichen »Erziehungswesen, in Staatshaushalt und Volkswirtschaft, Ausbildung und Ueberwachung der Volksrechte«.217 Jedoch stößt dieses Do-it-yourselfEthos an seine Grenzen angesichts der wachsenden Komplexität der Arbeitsbereiche. So ahnt Salander, dass dort, wo er keine eigene Sachkenntnis aufzubringen vermag, Expertisen Dritter bemüht werden müssen. Deren Geltung hänge dann vom subjek-

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Vgl. Keller: Martin Salander, S. 242. Keller: Martin Salander, S. 70. Keller: Martin Salander, S. 73. Keller: Martin Salander, S. 129. Keller: Martin Salander, S. 186f. Keller: Martin Salander, S. 188.

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tiven Urteil über die Gutachter ab: »Es gilt also in solchen Fällen«, sagt Salander, »statt der Akten mehr die Menschen zu studieren«.218 Gerade in diesem Punkt der Menschenkenntnis aber weist der Held erhebliche Defizite auf. Keller hat seine biedere Titelfigur fast bis zur Blödigkeit verkleinert, um die instabilen Verhältnisse der Gründerzeit zu illustrieren.219 Zwei Mal sitzt Salander den betrügerischen Spekulationen seines Jugendfreundes Louis Wohlwend auf. In beiden Fälle gewinnt er nach Märchenart220 sein Kapital in Südamerika zurück. Lerneffekte sind dem Glücksritter dabei verwehrt. Einem dritten Angriff entgeht Salander nur knapp: Als der notorische Pleitier Wohlwend seine Schwägerin Myrrha auf Salander ansetzt, lässt dieser sich umgehend betören. Erst die Rückkehr seines Sohnes Arnold aus der Lehre im Ausland bringt Salander zur Raison. Arnold (auf den Wohlwends Absicht, in Salanders Familie einzuheiraten, eigentlich zielt) vermag den Lockungen von Myrrha leichthin zu widerstehen. Denn er bringt in Erfahrung, dass die bezaubernde Frau »in hohem Grade einfältig« bzw. »blödsinnig« ist.221 Wenigstens am Romanende schlägt so ein Plan Wohlwends fehl. Und der tumbe Glücksritter Salander kommt ungeschoren davon. Mit einem Geständnis gegenüber seiner Frau Marie geht die Myrrha-Episode, »Salanders später Liebesfrühling, der die Verjüngung seiner politischen Thatkraft herbeiführen sollte, in Gnaden und ohne weitere Gewitter vorüber«.222 Statt einen politischen Würdenträger voller Akten- und Menschenkenntnis führt der Roman, mit Gerhard Kaiser gesehen, eine Schrumpfgestalt vor: Martin Salander als »Rundum-Illusionist« und »endgültige Zerfallsfigur des Rundum-Idealisten Rudolf Lee«.223 Mit der Rückkehr des Sohnes wählt der Roman den typischen realistischen Ausweg. In der Myrrha-Episode wurde noch einmal die libidinöse Gefahr beschworen, die konventionellerweise mit ökonomischer Gefährdung assoziiert ist (Wohlwend beabsichtigte sich durch den strategischen Einsatz von Myrrha neuerlich finanziell zu sanieren). Anders als etwa in Carsten Curator steuert der Held hier allerdings nicht ins Fiasko, weil er von seinem in der Manier eines Deus ex Machina auftretenden eigenen Nachwuchs von Torheit gereinigt wird. Die Rettung gelingt, weil Arnold sei-

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Keller: Martin Salander, S. 187. Zu den narrativen Mitteln, die Salanders permanente »Realitätsverfehlung« darstellen und implizit kommentieren, siehe Hartmut Laufhütte: Ein Seldwyler in Münsterburg. Gottfried Kellers »Martin Salander« und die Deutungstradition. In: Hans Wysling (Hg.), Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, München, Zürich 1990, S. 23–43, hier: S. 30. Vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 582. Der Märchencode und überhaupt die (für den Realismus typischerweise) fehlende Ausarbeitung der Ereignisse in der Fremde lassen denn auch den Kontext vergessen, nach dem Salander in Brasilien sein Geld streng genommen durch Sklavenhaltung verdient haben müsste. Vgl. dazu Eiden: Die Immobilienblase von Münsterburg, S. 1158. Keller: Martin Salander, S. 346. Keller: Martin Salander, S. 339. Kaiser: Gottfried Keller, S. 589.

nen Vater an Strenge und Entsagungsfähigkeit überbietet und die im Salander’schen Haushalt waltende Selbstbescheidung noch einmal auf eine neue Höhe treibt. Als der Vater erwägt, ob für das eigene Unternehmen »ein gewisser Aufschwung zu wagen sei«224, wiegelt Arnold ab: Wollen wir in der That kleine Nabobs werden, die entweder ihr Leben ändern oder den weit über ihre Bedürfnisse reichenden Mammon ängstlich vergraben müssen und in beiden Fällen vor sich selbst lächerlich sind? Zudem bist du ja Politiker und Volksmann, ich bin meines Zeichens Geschichtsfreund und Jurist; es steht also uns beiden besser an, wenn wir in schlicht bürgerlichen Verhältnissen und Gewohnheiten bleiben, wie du es bis jetzt so musterhaft gethan hast.225

Arnold bringt an sich die gebündelte Kompetenz eines seriösen Sachverwalters und Lenkers der öffentlichen Hand mit – nicht zuletzt durch seine einschlägige nationalökonomische Nebenfachkombination, die er als »Geschichtsfreund und Jurist« besitzt.226 Als »eine Art Beamter der Zukunft« (Muschg) stünde ihm ein glänzendes Romanende in Aussicht.227 Aber es kommt anders. Tatsächlich beansprucht Arnolds Bildung keine gemeinnützige Wirkung mehr. Ebenso wie der Wachstumsökonomie verschließt sich Arnold der politischen Karriere und tritt seinen Rückzug ins Private an, erfüllt von einem »Heimweh nach meinen Büchern« (womit eben die Geschichts- und Rechtsstudien gemeint sind). Parallel dazu entsagt der Held auf geradezu idealtypische Weise: Ohne Liebesheirat, ja ohne die geringste Aussicht auf eine Liaison, sieht man Arnold am Romanschluss bei einem geselligen Abend inmitten eines gebildeten Männerstammtischs. Dies ist keine heroische Entsagung, die weiter auf das Gemeinwohl ausgerichtet bleibt. In Arnold trifft man – eher dem Modell des Raabe’schen Hungerpastor verpflichtet – auf einen kleinmütigen Rückzug ins innere Exil. Dieser Rückzug erscheint gleichwohl veredelt durch die Freude Martin Salanders über die Bescheidenheit und Bildung seines Sohnes (»›Gottlob!‹ dachte er, ›wir haben unser Geld nicht umsonst ausgegeben! Das sind doch auch Erziehungsfrüchte!‹«228). So bestätigen sich in dem dezidiert unterambitionierten, aber lebbaren Zustand, den Arnold wählt, väterliches Wohlgefallen und familiäre Harmonie: »Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen.«229 Dieses Ineinander von Entsagung und (personal realisierter) Verklärung entspricht so haargenau der realistischen Poetologie, dass es nicht wundernimmt, dass Keller seine angedachte Romanfortsetzung unter dem Titel Arnold Salander unterließ.230

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Keller: Martin Salander, S. 340. Keller: Martin Salander, S. 340. Keller: Martin Salander, S. 340. Muschg: Gottfried Keller, S. 167. Keller: Martin Salander, S. 351. Keller: Martin Salander, S. 353. Arnold hätte sich in der Forsetzung wenigstens im Privaten weiter als Ordnungsgarant bewähren sollen, indem »der kluge Sohn die bedrängte Familie« noch mehrfach von »aller-

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Im Sinne des realistischen Erzählprojekts hat sein Roman hier ein perfektes Ende gefunden.231 Der hier vollendete Rückzug in eine private Existenzform und die Skepsis gegen ein sozial tragfähiges Entsagungsmodell reagieren auf den Zerfall der Öffentlichkeit, den der Roman vorführt. In Salander wird der Raum von Recht und Politik eher schwächlich besetzt, und seine Schwiegersöhne Isidor und Julian Weidelich werfen dazu ein Bild grassierender Korruption ab.232 Das Zwillingspaar pervertiert die Idee einer ›besitzlosen Intelligenz‹, indem es seine amtlichen Aufgaben (sie werden Notare und Politiker) zur Spielfläche ebenso krimineller wie täppischer Machenschaften umgestaltet. Dabei wird ›Besitzlosigkeit‹ hier eher als Parvenü- und Strebertum entworfen. Die aus einfachen Verhältnissen stammenden Weidelichs schielen nach Professorenberufen, insofern diese »jetzt so hoch bezahlt werden«.233 Von einer adäquaten ›Intelligenz‹ kann in ihrem Falle kaum die Rede sein. Bereits für den höheren Schulabschluss fehlen ihnen jedwede Ausdauer und Disziplin. Ihrem Eintritt ins Notariatswesen und ihrer politischen Karriere tut das keinen Abbruch. Mit ihrem Talent für äußerliche Auftritte gewinnen sie Salanders Töchter Setti und Netti für sich, ohne dabei den Konventionen der Brautwerbung und insbesondere dem Willen der Brauteltern größere Aufmerksamkeit zu schenken. Allem Anschein nach werden sie zu der einträglichen Heirat von ihrer Mutter angestachelt, die schon mal auf dem Markt klatscht, Salanders »Töchter seien jedenfalls eine halbe Million wert«.234 In dem Bruderpaar Isidor und Julian versammelt Keller noch einmal alle Aspekte, die dem Realismus für die Schilderung prekärer Verhältnisse zur Verfügung stehen. Als Zwillingspaar sind die beiden optisch kaum voneinander zu unterscheiden. Und wie Salanders Töchter in ihrer vorschnell geschlossenen Ehe bald einsehen lernen, haben sie »keine Seelen«.235 Bar jeder eigenen Überzeugung würfeln die Brüder beim Eintritt in die Politik aus, in welche Partei (Altliberale oder Demokraten) sie jeweils eintreten wollen. Anstelle von Inhalten beherrschen die beiden Formspiele, im »Malen kalligraphischer Kunststücke« liegen ihre Talente.236 Isidor und Julian ver-

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lei Fährnissen und Nöten« befreien sollte. Siehe Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller, S. 30. Entsprechend angetan zeigte sich denn auch der Verleger Julius Rodenberg vom Romanende, das »den wahrhaft versöhnenden, von vornherein geplanten Abschluß« darstelle. Zitiert nach [Brief von Julius Rodenberg an Keller, 29. Dezember 1886]. In: Hans Wysling (Hg.), Gottfried Keller. 1819–1890, Zürich, München 1990, S. 364. Zeitgenössische Bezüge ihrer Korruptionsaffäre zum Zürcher Leben der 1880er Jahre sind angeführt bei Emil Ermatinger: Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von Jakob Baechtolds Biographie dargestellt [1915/1916], 8. Aufl., Zürich 1950, S. 563–566. Zur Rechtslage hinter der im Roman verhandelten Wirtschaftskriminalität siehe Stephan Christoph Saar: Recht und Rechtskritik in Gottfried Kellers »Martin Salander«, Baden-Baden 2006. Keller: Martin Salander, S. 96. Keller: Martin Salander, S. 106. Keller: Martin Salander, S. 217. Keller: Martin Salander, S. 102.

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körpern mithin genau jene Äußerlichkeit und Similiarität, die in realistischen Texten stets zu überwinden ist. »[U]nbequem und vexierlich« nennt Salander das Bruderpaar und deutet damit bereits früh dessen problematischen Rollen- und Zeichenstatus an.237 Wo (zu) viel Ähnlichkeitsrelation vorhanden ist, da benötigt der Realismus konventionellerweise ein Erzählen, das Kontiguitäten einführt, um die prekären Zeichenträger mit einer je singulären Geschichte auszustatten. Es braucht, wie ClausMichael Ort gezeigt hat238, die Metonymisierung des metaphorischen Verhältnisses. Ironischerweise erlangen die Gebrüder Weidelich diese Individualisierung durch ihre kriminellen Machenschaften. Infolge der polizeilichen Aufk lärungsarbeit, heißt es vom spottenden Erzähler, »gewann jeder dem andern gegenüber eine gewisse Originalität, was man nie für möglich gehalten hätte«.239 Isidor habe seine berufliche Stellung als Notar ausgenutzt, um aus Hypothekengeschäften seiner Kunden für eigene Börsenspekulationen Geld abzuziehen. Julian wiederum habe Pfandbriefe gefälscht und in den Handel gebracht. Der Unterschied der beiden Methoden ist selbstredend nicht so groß, wie es der Erzähler in seiner humorvollen Note nahe legt. Bezeichnenderweise agieren beide Brüder im Bereich der sekundären Zeichen und manipulieren also vergleichsweise moderne Finanzinstrumente. Im »Zerrspiegel des Kriminellen« nehmen sie neueste Praktiken vorweg: »die Zweit- und Drittverwertung auf ohnehin überbewerteten Immobilien; die Wechselfinanzierung zwischen Aktien- und Immobliengeschäften, bei der die Bewertung der Papiere wechselseitig füreinander bürgen« (Eiden).240 Die Kritik fällt dabei nicht nur moralisch aus, sondern auch realwirtschaftlich. Dem Roman geht es im gemeinsamen Fall der Brüder Weidelich um die Diskreditierung eines gründerzeitlichen Spekulationswesens, das mit äußerlichen Symbolen operiert, ohne sich noch um die Realien der Wirtschaft zu kümmern. Um das Prekäre dieser Methodik unmissverständlich darzustellen, lässt der Erzähler ein altes Bruderpaar auftreten. Julian hat heimlich eine Hypothek auf des einen Bruders Hof und Land »hinter Lindenberg« ausgestellt.241 Als Gläubiger ist dessen ebenfalls unwissender Bruder, der so genannte »Schleifer in Nasenbach«, eingetragen. Bedauerlicherweise führen beide Brüder »seit Jahrzehnten eine Erbstreitigkeit um die andere«. Und so kommt es zwischen ihnen umgehend zu einem handfesten Schlagabtausch, als sie auf der Polizeiwache vorstellig werden. Denn es ist den hitzigen Alten schwer beizubringen, dass sie nicht Opfer einer Fälschung durch den jeweils anderen, sondern durch einen Dritten wurden. Ähnlich wie in Die mißbrauchten Liebesbriefe, wo die Briefhändel und Fälschungen von Gritlis Hand den Lehrer Wilhelm und ihren Gatten Viggi in eine latent homoerotische Konstellation

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Keller: Martin Salander, S. 101. Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Keller: Martin Salander, S. 300. Eiden: Die Immobilienblase von Münsterburg, S. 1157. Keller: Martin Salander, S. 305. Dort auch die beiden folgenden Zitate.

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bringen, so stiftet auch hier der Zeichenverkehr der Pfandbriefspekulanten handfeste Verwirrung im realen Referenzraum. Allein die vom Roman selbst als ›humoristisch‹ apostrophierte Anekdote gehört zum wenigen Anschaulichen, mit dem Keller hier das Thema der Gründerspekulationen ausführt. Sein Spätwerk Martin Salander weiß in Fragen von Zeichenmanipulation und Gefährdungen durch moderne Kommunikationsmittel den früheren Erzählungen wie Kleider machen Leute, Der Schmied seines Glückes oder eben Die mißbrauchten Liebesbriefe nichts Substanzielles hinzuzufügen. Vornehmlich über seine Titelfigur perspektiviert, widmet sich der Roman eher den persönlichen Auswirkungen jener Finanzakrobatik, mit der die Gebrüder Weidelich an der modernen Börsenwirtschaft partizipieren wollen. Während ihre kriminellen Verfahren auf knappen drei Seiten abgehandelt werden, findet sich das Schicksal der Eltern Weidelich ungleich umfangreicher ausgeführt. Das Begräbnis der Mutter wird ausgiebig beschrieben, bis hin zur Auslösung des Vaters Weidelich aus seiner Bürgschaft für seine Söhne, mit der Salander Weidelichs drohenden Ruin abwendet. Dass Salander selbst in Hypothekengeschäfte investiert, erwähnt der Roman nurmehr im Vorbeigehen, von seinen Unternehmungen in Übersee erfährt man gleichfalls nichts Näheres (dabei hat man es hier mit dem im Realismus eher seltenen Fall eines seriösen Heimkehrers zu tun). Wenn Salander sich schließlich, wie erwähnt, in einer kurzen amourösen Episode in Myrrha verliebt, diff undiert der Roman das an den Brüdern entwickelte Äußerlichkeitsmotiv endgültig und treibt es über den Finanz- und Rechtsrahmen hinaus in den Bereich allgemein menschlicher Binsenweisheit: »Und weiter bedachte er [Martin Salander] keineswegs, wie solch ein Liebesverhältnis eines weisen älteren Mannes als Hauptsache ein mit ungewöhnlichem Geiste begabtes weibliches Wesen voraussetzt, während er von Myrrhas innern Zuständen noch gar keinen Begriff hatte oder dieselben zusammenphantasierte«, kommentiert der Erzähler überexplizit.242 Egal, ob Isidor und Julian Weidelich oder Myrrha Glavitz – wer immer bloß vom Außenauftritt lebt, erweist sich innerlich als hohl und gefährlich. Die Personage des Romans stößt den Leser damit weniger auf tiefere Einsichten über die Logik wachstumsökonomischer Prozesse und ihrer modernen Finanzmittel als vielmehr auf die schlichte schulgemäße Faustformeln, dass nicht alles Gold ist, was da glänzt. Im Ganzen wirft Martin Salander damit ein skeptisches, wenngleich wenig detailliertes Bild der gründerzeitlichen Wirtschaft und ihrer politischen Steuerungsmöglichkeit ab.243 Das Versagen einer potenziell ›besitzlosen Intelligenz‹ im Bru-

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Keller: Martin Salander, S. 265. Der explizite Kommentar ist eher untypisch. Im Großen und Ganzen baut sich die Erzählhaltung im Martin Salander eher über implizite ironische Signale auf. Teilweise verschwindet der Erzähler ganz hinter der Sichtweise seiner Figuren. Vgl. dazu Margarete Merkel-Nipperdey: Gottfried Kellers »Martin Salander«. Untersuchungen zur Struktur des Zeitromans, Göttingen 1959, S. 14–33. Obgleich der liberale Verfassungsstaat der Schweiz andere Voraussetzungen als der deutsche Obrigkeitsstaat besitzt, wie Michael Böhler zu Recht anmerkt, ist doch Kellers vordringliches Problem längst kein regionales mehr: die Einschränkung politischer

derpaar Weidelich wird mit dem Wohlstandsversprechen der Salanders korreliert. »Und wer könne wissen, ob nicht der Antrieb, selber reich zu werden, gerade durch die sogenannte reiche Heirat in die thörichten Notare gefahren sei«, reflektiert Frau Salander, der stabilste und bescheidenste Charakter des Buches244, ihren Fall.245 Die öffentliche Sphäre, die durch die Brüder Julian und Isidor repräsentiert und manipuliert wird, ist längst selbst vom Virus der wirtschaft lichen Ambition infiziert. Eine neutrale, ebenso gleichförmig wie unsichtbar agierende Instanz des Gemeinwohls kennt dieser Roman nicht mehr. Sinnfälligerweise wird der Gerichtspräsident, der nach einem ausgiebigen Lob auf das eidgenössische Bildungssystem mit einer scharfen Zurechtweisung die Weidelich-Söhne aburteilt, selbst von seinem Erzähler gestutzt: »Dieser Präsident war allerdings ein Altliberaler und der gleiche Herr, welcher bei dem ersten Erscheinen der Zwillinge im Großen Rate den Vorsitz führte.«246 Der Fall von Isidor und Julian schildert demnach eher ein Versagen der gesamten öffentlichen Aufsichtspflicht. Die Korruption, so darf man entnehmen, ist universal geworden und lässt sich nicht mehr auf den einzelnen Missetäter runterrechnen. Eben deshalb bleibt den Salanders, insofern sie bürgerlich und redlich bleiben wollen, einzig die Flucht in die private Selbstbescheidung übrig. Der Beamte in Der grüne Heinrich und der letzte Kampf des Ratsmitglieds Kleinpeter in Martin Salander Diese Skepsis gegen die ordnungspolitischen Potenziale der neuen, finanzkräftigen Marktwirtschaft hatte Keller bereits Jahre zuvor in seinem Grünen Heinrich (2. Fassung 1879/80) in nuce formuliert. Wie angesprochen247, kommt es hier im Rahmen des Tell-Festes (einer Freilufttheaterauff ührung, mit der die ländliche Bevölkerung alljährlich den Rütli-Schwur feiert) zu einem Tischgespräch, dem der noch jugend-

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Handlungsmöglichkeiten sowie die »Nivellierung nationaler Unterschiede im Zeichen des Primats der Ökonomie und einer zunehmend globalisierten Weltwirtschaft«. Siehe Böhler: »Fettaugen über einer Wassersuppe«, S. 295f. Kellers Diktum aus dem Umkreis dieses Romans ›C’est chez nous comme partout‹ liefert die einschlägige Sentenz für diese Problematik. Marie Salander wurde in diesen Eigenschaften denn auch als Stellvertreterfigur der auktorialen Instanz aufgefasst, etwa von Diana Schilling: Kellers Prosa, Frankfurt a.M. et al. 1998, S. 218–221. Von Marie her das ›moralische Gefüge‹ des Romans als bloß vorgeschobenes aufzufassen, wie es Schilling tut, und damit dem Roman implizit die Absicht zu unterstellen, hier solle »Moral als Unbewusstsein der Figuren« geschildert werden (Schilling: Kellers Prosa, S. 218), sodass der Akzent auf die von der Macht ausgeschlossenen Gruppen und Klassen (Frauen, Arbeiter) falle, scheint mir doch eine sehr kühne Interpretation zu sein, die ihren Angelpunkt deutlich jenseits des realistischen Paradigmas (nämlich in der linken Ideologiekritik des 20. Jahrhunderts) hat, zumal Marie im Roman deutlich eine Nebenrolle bekleidet. Keller: Martin Salander, S. 316. Keller: Martin Salander, S. 321. Siehe Abschnitt 3.2.3. dieser Arbeit.

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liche Titelheld Heinrich Lee beiwohnt: Der Wirt des Ortes streitet mit einem Holzhändler über den Neubau der Landstraße. Beiden geht es dabei um handfeste Eigeninteressen: Der eine wünscht die neue Straße in der Höhe nahe seinem Wirtshaus, der andere in der Niederung, wo er seinen Holzhandel abwickelt. Der eine formuliert konservative Werte (das Wirtshaus soll bleiben, wo es schon zu Väterzeiten stand), der andere zeigt sich als Vorreiter moderner flexibler Arbeitsverhältnisse. Wie so oft spielt Keller auch in dieser Szene mit der Divergenz von äußerer Repräsentanz und tatsächlicher, konkreter Interessenlage. Denn während der Wirt rücksichtslos für seine Sache streitet, steckt er im Kostüm des Wilhelm Tell, der Symbolfigur schweizerischer Gemeinschaft. »Die Unterredung hatte einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht«, befindet Heinrich Lee, »besonders am Wirt verletzte mich dies unverhohlene Verfechten des eigenen Vorteiles, an diesem Tage und in so bedeutungsvollem Gewande; solche Privatansprüche an ein öffentliches Werk, von vorleuchtenden Männern mit Heftigkeit unter sich behauptet, das Hervorkehren des persönlichen Verdienstes und Ansehens widersprachen durchaus dem Bilde, welches von dem unparteiischen Wesen des Staates in mir lebte und das ich mir auch von den berühmten Volksmännern gemacht hatte.«248 Der jugendliche Beobachter wird in seiner kritischen Wahrnehmung der Szene jedoch umgehend zurechtgewiesen von einem just anwesenden Statthalter, einem Mann, der, wie es heißt, ›staatswissenschaftlich gebildet‹ ist und alle Eigenschaften des idealtypischen Beamten verkörpert: »Immer war er gelassen, führte seine Geschäfte mit Festigkeit durch, ohne sich auf die Gewalt zu berufen und als Regierungsperson zu brüsten.«249 Dieser Statthalter, als Vermittler der wirtschaftlichen Interessen angetreten, antwortet dem jungen Lee nach dem Abgang von Wirt und Holzhändler: Sodann merkt Euch für Eure künftigen Tage: wer seinen Vorteil nicht mit unverhohlener Hand zu erringen und zu wahren versteht, der wird auch nie imstande sein, seinem Nächsten aus freier That einen Vorteil zu verschaffen! […] Einer, der immer und ewig entsagt, überall sanftmütig hintenansteht, mag ein guter harmloser Mensch sein; aber niemand wird es ihm Dank wissen und von ihm sagen: Dieser hat mir einen Vorteil verschafft!250

Dieses Lob des Eigennutzens bedeutet eine tief greifende Relativierung der Beamtenrolle.251 Man vernimmt das Pathos einer dynamischen, von starken Selbstinteressen getragenen Privatwirtschaft.252 Sie wird sogar als Motor gemeinnütziger Einstellungen vorgestellt (denn ›nur wer Besitz erringt, vermag auch auszuteilen‹). Damit

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 382. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 380. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 384. Vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 213f. So wurde die Szene denn auch als Ausdruck liberaler Selbstreflexion gelesen. Vgl. Seja: Seldwyla – A Microeconomic Inquiry, insbesondere: S. 97–99 u. S. 103–106.

schrumpft dasjenige, was im realistischen Diskurs konventionellerweise als Korrelat der Wachstumswirtschaft auftritt: der Verteilungsanspruch der öffentlichen Hand. Seinem Lob des Eigennutzens stellt der Statthalter kein Lob der Entsagung gegenüber. Die Balance zwischen öffentlichem Dienst und Markt ist in diesem Selbstverständnis der Figur aus dem Lot. Das Hoffen richtet sich einseitig auf die Produktivität und ›Versittlichung‹ der Wirtschaftsakteure. Es obliegt dem Schulmeister, Annas Vater, diese ordnungspolitisch prekären Ausführungen des Statthalters neuerlich zu relativieren. Er stellt ein Verständnis für den Beamten her, indem er ihn zu psychologisieren sucht: Der Statthalter eifert nur darum so sehr gegen das, was er Entsagung nennt, weil er selbst eine Art Entsagender ist, d.h. weil er selbst diejenige Wirksamkeit geopfert hat, die ihn erst glücklich machen würde und seinen Eigenschaften entspräche.253

So interpretiert ein Vertreter der ›besitzlosen Intelligenz‹ den anderen – der Lehrer den Beamten –, ohne dass vom Pathos der gemeinnützigen Entsagung noch groß die Rede wäre. Anstatt die gesamtgesellschaftliche Relevanz herauszustreichen, wird die eigene Rolle auch hier zunächst als defizitär markiert (eben durch die Psychologisierung der Entsagung, die gleichsam ihre Partikularisierung bedeutet). Schließlich kommt der Schulmeister aber doch auf die strukturelle Perspektive zu sprechen: Viele Personen des Staates, welche zeitlebens tüchtige Angestellte waren, haben keinen Begriff vom Erwerbe; denn alle öffentlich Besoldeten bilden unter sich ein Phalansterium, sie teilen die Arbeit unter sich und jeder bezieht aus den allgemeinen Einkünften seinen Lebensbedarf ohne weitere Sorge um Regen oder Sonnenschein, Mißwachs, Krieg oder Frieden, Gelingen oder Scheitern. Sie stehen so als eine ganz verschiedene Welt dem Volke gegenüber, dessen öffentliche Einrichtung sie verwalten.254

Die marktferne Besoldungselite bildet ihre eigene Kaste und ihre eigene Mentalität aus, wenn sie von den Risiken des Erwerbs ausgenommen ist. Was sie darin gewinnt, kommt hier nicht mehr zur Sprache. Statt die gegenseitige Abhängigkeit von öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft zu untersuchen, lässt der Schulmeister seine Rede in ein Entweder-Oder der beiden Arbeitsformen münden: Wer essen will, der soll auch arbeiten; ob aber der verdiente Lohn der Arbeit sicher und ohne Sorgen sein, oder ob er außer der einfachen Arbeit noch ein Ergebnis der Sorge, des Geschickes und dadurch zum Gewinnst werden soll, welches von beiden das Vernünftige und von höherer Absicht dem Menschen Bestimmte sei: das zu entscheiden wage ich nicht, vielleicht wird es die Zukunft thun. Aber wir haben beide Arten in unseren Zuständen und dadurch ein verworrenes Gemisch von Abhängigkeit und Freiheit und von verschiedenen Anschauungen.255

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 385. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 388. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 388.

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Hier ist nicht mehr, wie im ökonomischen Programm des Realismus, von einer ›gesunden‹ Balance zwischen öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft die Rede. Hier diagnostiziert die Romanfigur lediglich ein ›verworrenes Gemisch von Abhängigkeit und Freiheit und von verschiedenen Anschauungen‹. Ebendiese Verworrenheit spitzt sich im Martin Salander zu. Da erscheint einerseits die neue Generation von Amtsträgern längst vom Eigennutzen überwältigt (so im Falle der Notare Isidor und Julian Weidelich). Da wird andererseits die Wirtschaft verstärkt in ihrem destruktiven Charakter geschildert (hauptsächlich in der Figur des Spekulanten Wohlwend). In einem leisen Nachklang auf das Tischgespräch aus dem Grünen Heinrich informiert Marie Salander ihren Mann, nach dessen Heimkehr aus Amerika, über die verschwundenen Bäume auf dem Grundstück eines Nachbarn: »Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben.«256 Hier liegt der Akzent nicht mehr auf der vitalen wirtschaftlichen Konkurrenz, sondern auf den Kosten der gründerzeitlichen Gesamtentwicklung: Die Bäume des Nachbarn fallen, »aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen«.257 Die Wirtschaft verbrennt Traditionen und verschwendet Ressourcen.258 Wie wenig in diesem Spannungsfeld vom öffentlichen Sektor übrig bleibt, schildert dann die kleine Episode des Alt-Großrats und Statthalters Kleinpeter (auch hier gibt der Name schon einiges von seiner kümmerlichen Rolle preis). Als »geringer Fabrikant von Baumwolltüchern« führt Kleinpeter das Geschäft seines Vaters »vorsichtig und gemächlich«, »ohne stark vorwärts-, aber auch ohne zurückzugehen«.259 Wie stets in realistischen Beispielbiographien ist ihm Erfolg nicht mit Wachstum gleichbedeutend, sondern mit gleichmäßigem Fortschreiten im Bestehenden. Die bescheidene Grundhaltung disponiert ihn (ähnlich wie Martin Salander) schließlich für die Ratsmitgliedschaft. Um sich ganz dem öffentlichen Amt zu widmen, tritt Kleinpeter seine Fabrik an die Söhne ab. Leider aber kommen diese Söhne ganz nach seiner ›eitlen‹ und ›leichtsinnigen‹ Gemahlin. Wie diese Kleinpeters Ansehen beständig nur zum Schuldenmachen nutzt, so verfahren nun auch seine Söhne: Die Fabrik gerät unter ihrem unsoliden Regime in die Krise, Arbeiter wandern ab, weil ihnen der Lohn vorenthalten wird. Als das Unternehmen schließlich zahlungsunfähig wird, kommt es zum Eklat: Die Söhne bedrängen ihren Vater, Gelder aus der Staatskasse zu stehlen. Allein hier regt sich zum ersten Mal der väterliche Widerstand und Kleinpeter besteht im Ringen mit den Söhnen seinen Charaktertest als öffentlicher Würdenträger: »Die unerwartete Kraft des schwachen Mannes, der um seinen letzten Besitz, den ehrlichen Namen, kämpfte, schreckte die ungeratenen Söh-

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Keller: Martin Salander, S. 47. Keller: Martin Salander, S. 47. Diese pessimistische Wendung gegenüber dem Kapitel »Tischgespräche« relativiert die Liberalismus-Leküre, die Uwe Seja an diesem Kapitel des Grünen Heinrich und an einigen frühen Seldwyla-Novellen ansetzt. Vgl. Seja: Seldwyla – A Microeconomic Inquiry. Keller: Martin Salander, S. 194.

ne zurück, und sie entfernten sich ebenso bleich, wie der Vater geworden war.«260 Anschließend legt Kleinpeter seine Ämter nieder. Und Martin Salander, der sich diese Lebensgeschichte aus erster Hand berichten lässt, entdeckt darin ihre verborgene Größe: »Nein, sagte sich Salander, gerade wenn der Haltlose noch am wahren Bürgersinne sich aufrichten und die Achtung vor sich selbst retten kann, ist das Gemeinwesen nicht im Niedergang.«261 Diese in konventioneller realistischer Manier an den Romanschluss vorausblickende Figurenreflexion, die im charakterfesten Dulden und Widerstehen eines Einzelnen ein verklärungswürdiges Moment ausmacht, liegt noch vor der Korruptionsgeschichte um die Schwiegersöhne Salanders. Tatsächlich ist das Gemeinwesen in diesem Werk in einem weitaus desolateren Zustand, als es der Protagonist anzunehmen bereit ist. Begierden und Schuldenfallen haben hier längst den Spielraum für eine neutrale Ordnungspolitik aufgebraucht. Die wenigen redlichen Amtsvertreter, allesamt Männer der älteren Generation, bezeugen ihre idealtypische Disposition allenfalls noch im Untergang. Wer leidlich und unversehrt durchs Leben kommen möchte, zieht sich wie Martin Salander und sein Sohn Arnold aus den öffentlichen Geschäften sobald als möglich zurück. Das ist die skeptische Position des späten literarischen Realismus gegenüber jenen Schaltstellen des Gemeinwesens, die von dem diskursiven Feld angelegt sind. Während die realistische Diskursivität in der Ökonomie bis in die 1890er Jahre hinein, bis in das Spätwerk von Gustav Schmoller, von einem Grundoptimismus in puncto ordnungspolitischer Steuerung und Expertise des Beamtenstandes getragen ist, geben sich literarische Kanoniker wie Gottfried Keller zurückhaltender. Ein strukturell verändertes Denken der Diskurspositionen ist gleichwohl auch hier nicht auszumachen. Weiterhin gilt dasjenige als ultimativ gefährlich, was Baustein einer modernen liberalistischen Auffassung von Staat und Wirtschaft wäre: der freie Einzelwille, der unabhängig von der Beobachtung Dritter seine Präferenzen ausbildet und auf dem Markt ins Spiel bringt. Gesellschaftliches Handeln wird auch bei den literarischen Realisten gegen wirtschaftliches Nutzenkalkül definiert. Wer sich in die Politik begibt, betreibt, zumindest idealiter, keine Interessenpolitik, sondern verpflichtet sich einem überindividuellen, objektivierenden Maßstab des Gemeinnutzens. Das ist der diskursive Rahmen, innerhalb dessen sich das einzelne Narrativ zeitkritisch entfalten kann. Vom Scheitern des öffentlichen Dienstes als Scheitern der Entsagungsbereitschaft kann nur dort die Rede sein, wo diese Fähigkeit überhaupt noch als Kernkomponente einer wohlfahrtsorientierten Wirtschaft und Wirtschaftspolitik angesehen wird. Erst wenn man nicht mehr bereit ist, an die Kraft der Entsagung zu glauben, und sei es, dass man sie lediglich als Desiderat ausstellt, hat die realistische Diskursivität historisch abgewirtschaftet.

260 261

Keller: Martin Salander, S. 198. Keller: Martin Salander, S. 200.

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5.2.5.

Glanz und Elend des Beamten als Erzähler – Friedrich Spielhagens Erzähltheorie und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs

Lob und Skepsis gegenüber dem Beamtenstand und der ›besitzlosen Intelligenz‹ haben aber nicht nur einen kontextuellen Vektor. Was in den vorangegangen Kapiteln thematisch aufgerollt und aus dem diskursiven Paradigma heraus erklärt wurde, ist auch für die literarische Selbstkonstitution von Belang. Bekanntlich tritt der Titelheld des Grünen Heinrich in der zweiten Fassung von 1879/80 zum Abschluss seiner Lehrjahre – gleich seinem Autor Gottfried Keller (der von 1861 bis 1876 Staatsschreiber und damit höchstbezahlter Beamter im Kanton Zürich war)262 – in den Staatsdienst ein, in eine »Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung«.263 Der narrativen Logik nach ist die Erzählung – abzüglich der Jugendgeschichte (die Dortchen Schönefund zu lesen kriegt) – in der Zeit des öffentlichen Dienstes verfasst. Man hat es folglich mit einem Beamtenerzähler zu tun, der hier literarisch »noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung« abschreitet.264 Die von Keller gewählte Formulierung nimmt nahezu wortwörtlich das erwähnte Diktum aus Charles Dickens’ The Haunted Man auf, mit dem auch Wilhelm Raabe knappe drei Dekaden zuvor seine Chronik der Sperlingsgasse implizit motivierte: ›Lord keep my memory green‹.265 Und ähnlich wie Raabes Erzähler Johannes Wachholder gelingt ihm die sentimentale Rückschau auf die eigene Biographie um den Preis einer Entsagung. So wie Lee sich und seiner Aff äre aus Jugendtagen, Judith, eine abschließende Erlösung durch Heirat verwehrt, so tritt auch Wachholder bereits früh von einer Schwärmerei für Maria zugunsten seines Jugendfreundes Ralf zurück. Der Gewinn beider Erzähler ist ein literarischer. Der abgeklärte Blick des Autobiographen Lee bzw. des Chronisten Wachholder stellt sich gerade durch ihren Schritt in die Uneigennützigkeit und Selbstbescheidung ein. »Würde ich diese Erinnerung mit all ihrem Schmerz für der ganzen Welt Macht, Reichtum, Weisheit lassen? – – – Ich glaube nicht«, versichert sich Johannes Wachholder.266 Das erinnernde Erzählen verlangt, Abstand zu nehmen von den Gütern des gegenwärtigen oder zukünftigen Moments: »[N]icht der Gedanke an Glück oder Unheil in der Zukunft ist’s, der liebevoll, rein, heilig macht; nie ist dieser Gedanke rein von Egoismus«.267 Das ist das Credo einer Erzählkunst, die sich in größtmögliche Distanz zu allem setzt, was einem rationalen Homo oeconomicus lieb und teuer ist: zu Eigeninteresse, Vorausschau, planendem Kalkül.

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Über diese verwaltungspolitische Arbeit Kellers informiert Hans Max Kriesi: Gottfried Keller als Politiker. Mit einem Anhang: Kellers politische Aufsätze, Frauenfeld, Leipzig 1918, S. 153–206. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 266. Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 4 (HKKA, Bd. 3), S. 281. Vgl. dazu die Abschnitte 1.2.1. und 1.2.3. dieser Arbeit. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 152. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse, S. 150.

Raabe legt diesen, für sein Werk paradigmatischen Erzähler als alternden Privatgelehrten an; bei Keller ist er, wie gesagt, Staatsbeamter. Es ist eine Literatur der ›besitzlosen Intelligenz‹. Konsequenterweise schlägt sich Kellers Heinrich Lee in dem im vorigen Kapitel diskutierten Tischgespräch abschließend auf die Seite des entsagenden Statthalters: »Ich empfand eine große Teilnahme für den Statthalter und ehrte ihn […], und erst später wurde mir klar, daß er das Schwerste gelöst habe: eine gezwungene Stellung ganz so auszufüllen, als ob er dazu allein gemacht wäre, ohne mürrisch oder gar gemein zu werden«.268 Die spätere Einsicht des Beamtenerzählers verschafft an dieser Stelle Aufk lärung über die seinerzeit empfundene ›Teilnahme‹ des Jünglings am Schicksal des Statthalters. Hier fällt demjenigen Achtung zu, der im Defizitären Größe beweist, der als Entsagender verklärungswürdig ist. Kellers Empathiebekundung darf, nach allem, was in dieser Arbeit über das Verfahren des Realismus ausgeführt wurde, nicht als bloß subjektives Urteil missverstanden werden. Es handelt sich keineswegs um einen individuellen, singulären Schulterschluss, den hier ein Entsagender, der späte Heinrich Lee, mit einem anderen, dem Statthalter, vornimmt. Die Poetologie dieses Diskurses hängt strukturell vom Entsagungsmoment ab, und es ist nur konsequent, wenn dieses Moment auf die Narration übergreift. Um ebendiese Verschränkung der Ebenen anzuzeigen, verortet sich die Erzählinstanz in dieser Wirtshaus-Szene implizit in ihrer Geschichte. Die Entsagung, so war gesagt worden, entspringt dem Ordnungsdenken des Realismus, das sich zunehmend als defizitär und prekär erfährt. Wo Texte beständig zwischen metonymischer und metaphorischer Achse oszillieren, da gerät die Entsagung zum letzten Garanten einer Schließung der erzählten Welt. In der Entsagung bezeugt der literarische Text, dass zwischen eigentlicher, wesentlicher und dauerhafter ›Wirklichkeit‹, die vom literarischen Zeichen stets artikuliert werden soll (metaphorische Dimension), und dem Partikularen, Handgreiflichen und Motivierten (der metonymischen Dimension), keine abschließende Synthese möglich ist. Was zeichenhaft wird, muss immer wieder als machbar und profan, als dinglich real, ›entzaubert‹ werden. Was aber bloß dinglich real erscheint, verlangt nach zeichenhafter Aufwertung. Im Spiel zwischen beiden Dimensionen entsteht das Kippmodell, mit dem der literarische Realismus in der Praxis auf Distanz zum monistischen Symboldenken Goethes tritt, auf das er sich programmatisch noch unbeirrt beruft . Die Entsagung stellt diese Kippfigur selbst auf Dauer und bezeugt darin das besagte Eigentlichkeits- und Ordnungsbegehren bei gleichzeitigem Wissen um die zunehmende Partikularisierung von Ordnung. Das Kippverfahren des literarischen Realismus ist dabei, wie in dieser Arbeit ausgeführt, im Kontext einer realistischen Diskursivität zu sehen. Beständig geht es dem realistischen Wirklichkeitsentwurf um die Vermittlung zwischen Partikulartendenzen und dem auf Integration abzielenden Totalitätsbestreben. In der Ökonomie, die hier untersucht wurde, schlägt sich dieser Widerstreit im Umgang mit der modernen

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Keller: Der grüne Heinrich, Bd. 2 (HKKA, Bd. 1), S. 388f.

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Eigennutzenwirtschaft nieder. Die realistischen Staatswissenschaftler und Nationalökonomen zielen auf eine volkswirtschaftliche Harmonie und Sittlichkeit (Institutionalisierung), die – und darin liegt der entscheidende Punkt – qualitativ anders zu denken ist als in den Begriffen der Privatwirtschaft. Es liegen kategoriale Unterschiede zwischen der Auffassung, dass etwa eine starke Einkommensmitte einem Gemeinwesen zuträglich und durch gesetzliche Intervention zu bewirken ist (Roscher, Schmoller), und der Ansicht, dass eine solche Verbreiterung des Wohlstands letztlich automatisch durch die Marktallokation eintrete (Smith, Menger). Wie die Literatur von der Ebenentrennung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem, dinglich Manifestem und symbolisch Wesenhaftem, abhängt, so stützt sich die Ökonomie des Realismus auf die Differenz zwischen dem Feld handgreiflicher, wirtschaftlicher Güter und der Sphäre des Gemeinwohls, die eine höhere Objektivität beansprucht. An der Schaltstelle zwischen beiden Feldern befindet sich die Denkfigur der Entsagung. Der öffentliche Dienst – ausgeübt durch die ›besitzlose Intelligenz‹, die große Riege der Beamten und Quasibeamten – nimmt die Mittlerposition zwischen Einzel- und Gemeininteressen ein. Dass diese Position selbst prekär und für die Partikularinteressen anfällig ist, ist in diesem durch und durch dynamischen Wirklichkeitsentwurf stets mitgedacht. Aus dieser diskursiven Konstellation heraus ist es denn auch wenig verwunderlich, dass Beamtentypen nicht nur zum regelmäßigen, ja vornehmlichen Personal realistischer Texte gehören, sondern dass sie eben auch auf der narrativen Ebene zum Einsatz kommen. Der Beamtenerzähler gehört konsequenterweise zum Inventar eines Diskurses, der um seinen Objektivitätsanspruch ringt. Eindrucksvoll lässt sich dies bei Friedrich Spielhagen, dem Vordenker der ›Objektivität im Roman‹, nachvollziehen. Wie gesehen, gehört Spielhagen mit Sturmflut zu den Autoren des Realismus, die der Beamtenfigur noch relativ vorbehaltlos eine gesellschaftliche Führungsrolle zudenken. In seiner Erzähltheorie schafft er dafür das narratologische Pendant. Um Objektivität (»das oberste Gesetz« der Romanpoetik269) zu gewährleisten, braucht es nach Spielhagen eine Erzähltechnik, die den Vermittlungsakt möglichst transparent macht, die den Erzähler weitestgehend hinter den handelnden Figuren verschwinden lässt.270 Es braucht, mit Gérard Genette gesprochen, einen mimetischen Erzählmodus. »[A]lles für, alles durch die Personen!«, lautet das Credo einer solchen Darstellungsweise.271 Wie gewährleistet der Erzähler, dass in der Vielzahl handelnder Figuren nicht bloß ein Gewirr von Einzelheiten, sondern eine fi ktionale Totalität und »eine Breite und Weite der Weltübersicht«272 entsteht? Hier genügt, wie Spielhagen in seinem Werkstattbericht Finder oder Erfinder erläutert, blo-

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Spielhagen: Das Gebiet des Romans, S. 62. Vgl. Abschnitt 2.3.1. dieser Arbeit für eingehendere Ausführungen zur Spielhagen’schen Narratologie. Spielhagen: Der Held im Roman, S. 91. Spielhagen: Novelle oder Roman, S. 264.

ße Künstlerinspiration nicht. Eine Arbeitstechnik muss verhindern, dass man sich durch den aufgefundenen Stoff forttreiben lässt. Der Erzähler (bei Spielhagen noch mit dem Autor identisch gesetzt) benötigt Planung und akribische Textorganisation. Spielhagen bedient sich der topischen Architektur-Metaphorik, wenn er die vier Stadien der narrativen Komposition (in Nähe zu den rhetorischen Produktionsstadien inventio, dispositio und elocutio) erläutert: 1) die Findung der ›Idee des Ganzen‹, die gleichursprünglich mit dem Helden gegeben ist; 2) der Aufriss eines Gesamtplans durch Entwicklung von ›Helfern und Helfershelfern‹; 3) die »specielle Durcharbeitung des Grund- und Aufrisses, gleichsam eine sorgfältig auf dem Papier mit Lineal und Zirkel ausgeführte Zeichnung der Haupt- und Seitenfaçaden mit Eintragung der bestimmten Maße und sauberer Durchführung aller anzubringenden Ornamente«; 4) der »wirkliche Bau, das Auf- und Vermauern jedes einzelnen Form- und Backsteines«.273 In seinem Organisationswillen klingt dieser Arbeitsablauf eher nach Baubehörde denn nach freier kreativer Architektentätigkeit. Und tatsächlich rückt Spielhagen am entscheidenden Schritt dieser Gesamtplanung (2) den Romancier in die Nähe des Beamten. Nebencharaktere, die eigentlich dem Helden zu Diensten sein sollen, heißt es, erlangen, einmal entworfen, eine »spröde Selbstständigkeit«; sie werden »schwierig und sagen: dies will ich thun, jenes nicht; dies kann ich thun, jenes muß ich lassen«.274 Und weiter: »Da giebt es denn ein Handeln und Markten hinüber und herüber, ein Streiten und Debattieren, ein Abwägen zwischen Mein und Dein, daß dem armen Dichter vor dem Wirrwarr der Kopf springen möchte.«275 Dieses ›Markten‹ des Figurenpersonals untereinander ist nichts anderes als die fi ktionale Übersetzung einer Situation, die auch auf den realen Märkten des zeitgenössischen Lebens herrscht: Da findet sich eine Pluralität von Talenten, Intentionen, Bedürfnissen und Werten. Es herrscht ein ›Wirrwarr‹ möglicher Ereignisse, das einer ›objektiven‹ Erfassung die größtmöglichen Schwierigkeiten bereitet. Mit einem Laisser-faire kommt der Erzähler hier ebenso wenig weiter wie der Marktbeobachter. Wer sich den Kontingenzen seiner fi ktionalen Einbildungskraft hingibt (und damit nurmehr die Kontingenz weltlicher Ereignisse fingiert), mag zwar eine fortlaufende Erzählung schaffen. Eine Totalität des Erzählens, nach Maßgabe der organischen Idee, aber wird er nicht erlangen. Ebendeshalb muss der Erzähler bei Spielhagen zum Statistiker an sich selbst werden. Er erstellt eine Liste der Dramatis personae: »Und zwar enthält diese Liste nicht bloß die Namen der Personen und etwaigen Titel, sondern auch ein ausführliches Signalement in dem biedern Stil der Pässe und Steckbriefe, in welchen eben alles: das Alter, die Größe, die Statur, die Farbe der Haare und Augen, der Teint, und – die

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Beide Zitate in Spielhagen: Finder oder Erfi nder, S. 30. Spielhagen: Finder oder Erfi nder, S. 26. Spielhagen: Finder oder Erfi nder, S. 26.

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besonderen Kennzeichen sorgfältig notiert waren.«276 Im Zentrum der Figurenorganisation steht so eine »geheime Polizeikontrolle«, die eine Atomisierung des diegetischen Personals verhindern soll.277 Spielhagens Erzähler wird hier in Analogie zum klassischen Kameralbeamten entworfen, der mit ›polizeilicher‹ Aufsicht Einheit und Ganzheit der erzählten Welt überblickt. Diese Form der strengen Regulierung garantiert dieser realistischen Romankunst ihren quasi staatswissenschaftlichen Zuschnitt: Denn ohne diese Ruhe, ohne diese Klarheit und Objektivität wäre sie eben nicht imstande, ihrer Aufgabe zu genügen; nicht imstande, ihr Objekt, die Menschheit, zu erfassen und darzustellen als ganzes, im Zusammenhang mit, in der Abhängigkeit von der Natur, in der Bedingtheit von den Kultur- und sonstigen Verhältnissen, die in dem betreffenden Volke in der bestimmten Epoche die herrschenden waren.278

Wer den Erzähler mit einer so weit reichenden Kompetenz ausstattet, rückt ihn dann auch gern in die Nähe zu berufsmäßigen Staatsdienern, nah an »den geborenen Politiker, den echten Staatsmann«.279 Nicht die Vertiefung in partikulare Ansichten obliegt ihm, nicht das »Advokaten-Plaidoyer«, sondern die Gesamtschau, die Würde »eines objektiven richterlichen Resumé«.280 Spielhagens Theorie der ›Objektivität im Roman‹ ist der prägnanteste Ausdruck eines poetologischen Anliegens, das die realistische Diskursivität auf breiter Front vermittelt. Es geht ihr um eine streng an individuellen Handlungen orientierte Weltsicht, die gleichwohl eine qualitative Einheit mitartikuliert. Sie sucht das funktionale Miteinander der Figuren, der Helden und ihrer Helfer und Helfershelfer, im Dienste eines ideellen Gesamtzusammenhangs. Pluralität ist dabei allenfalls so weit zugelassen, als sie die von oben zu steuernde konzeptuelle Totalität nicht gefährdet. Es ist eine Erzähltheorie aus dem Geiste des Beamtenwesens. Eigentumsmüdigkeit in Die Akten des Vogelsangs Aber ganz ähnlich wie es auf der histoire-Ebene der realistischen Erzählliteratur nicht nur das beschwingte Lob des Beamtentums, des Institutionalismus und der staatlichen Regulierung gibt, so findet sich auch auf der Ebene der Narration die entsprechende Gegenbewegung. Auch im Erzählen selbst bleibt der prekäre Status der ›guten Mitte‹ bürgerlicher Öffentlichkeit nicht folgenlos. In Wilhelm Raabes 1896 erschienenem Opus magnum Die Akten des Vogelsangs trifft man auf die Krise der besagten Objektivitätsbehauptung. Dieses Spätwerk manifestiert nicht allein die

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Spielhagen: Finder oder Erfi nder, S. 27. Spielhagen: Finder oder Erfi nder, S. 27. Spielhagen: Das Gebiet des Romans, S. 49. Spielhagen: Das Gebiet des Romans, S. 62. Spielhagen: Roman oder Novelle?, S. 265.

letzte Stufe in »Raabes Resignationen«.281 Es stellt als hoch komplexes und in der Forschung ausgiebig gewürdigtes Erzählstück auch den Endpunkt des realistischen Projekts und seiner Wirklichkeitsauffassung dar. Nach Raabe wird eine Literatur der Moderne einsetzen, die den Pluralisierungs- und Atomisierungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft mit gezielten Formenexperimenten begegnet und den Fokus auf einzelne Ausschnitte von Wirklichkeit richtet. Bei Raabe sieht man dagegen noch einmal das seinem Anspruch nach wesentliche, verklärende, antirelativistische Vorhaben des Realismus in die Krise geraten. Man erinnere sich, was Gottfried Kellers Figur Martin Salander als Arbeitsmaxime für seine Ratsmitgliedschaft ausgegeben hat: ›Aktenstudium‹ und ›Menschenkenntnis‹ solle ein würdiger Vertreter des öffentlichen Dienstes aufbringen. In Raabes Akten des Vogelsangs ist ersterer Bestandteil bereits im Titel angezeigt; der homodiegetische Erzähler Oberregierungsrat Dr. jur. Karl Krumhardt verkörpert den idealtypischen Beamten des Deutschen Reiches. Seinen »Leutnant der Reserve« und weitere Titel erwähnt er noch im ersten Satz des Buches.282 Dass er mit seinem Beruf eine Familientradition fortsetzt, wird ebenso schnell deutlich. Krumhardts Vater war Oberregierungssekretär, ein »sehr tüchtiger Beamter«.283 Sein Bild hängt über dem Schreibtisch des Sohnes, der als Studierter die höhere Beamtenstufe erklimmt und darin den von Elternseite stets erhofften beruflichen Aufstieg nimmt.284 Es handelt sich selbstredend um einen sanften Aufstieg, in den Bahnen des Vorgeordneten. Die Bewegung in Traditionen reflektiert sich am Familienbesitz: »Mein Vater, Oberregierungssekretär Krumhardt, hatte sein Haus im Vogelsang von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem Vater.«285 Dass die Familie Krumhardt zum Zeitpunkt des Erzählens diesen Grundbesitz längst aufgegeben hat, macht bereits etwas vom zentralen Problem der Erzählung deutlich: Der Beamte kann nicht mehr auf eine stabile Wirklichkeit vertrauen. So, wie in Krumhardts Eltern mit der renommierteren Stellung ihres Sohnes der Wunsch nach einer neuen Wohnung aufkeimt, so wachsen allerorten die Ambitionen, wechseln die Besitzstände, werden die Verhältnisse mobil und ungewiss: »Wahrhaftig, ich bin es nicht gewesen, der die zwei treuen, wackeren Seelen mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und sie so in ihren greisen Tagen in ein fremdes Erdreich versetzte!«, klagt Krumhardt über den Wegzug seiner Eltern aus dem Vogelsang. »Ihre liebe menschliche Torheit war’s, die da Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück sah, wo die übrigen Millionen unserer Brüder und Schwestern im Erdenleben – ebendasselbe sahen.«286 Industrieller Wachstums- und Veränderungsdruck, das ist das Signum temporis im Hintergrund der Erzählung.

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Vgl. Geppert: Der realistische Weg, S. 591–655. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 213. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 217. Vgl. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 268f. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 219. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 322.

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Im Vordergrund wird diese Thematik jedoch nicht an Krumhardt und seiner Familie, deren Lebensumstände sich nach bürgerlichen Maßstäben vergleichsweise stetig und materiell durchweg zum Besseren wandeln, verhandelt. Die Instabilität des Lebendigen und mit ihr die Sinnkrise des Beamten werden über jene Figur entwickelt, deren Leben Krumhardt zu erzählen beabsichtigt: über Velten Andres. Im Nachvollzug dieser Biographie eines romantischen, unkonventionellen, letztlich unbürgerlichen Helden wäre die – nach Salander’schen Begriffen – ›Menschenkenntnis‹ des beobachtenden Beamten gefordert. Hier gilt es erinnernd zu bergen, was nicht in den Akten ist. Hier wären das nachbarschaftliche Leben im Vogelsang und was sich daraus weiter entwickelt ins Schrift tum einzufüttern und zu archivieren, auf dass es spätere Generationen »nach den Akten« erfahren können.287 Aber es soll nicht so leicht gelingen. Schon die Wohnsituation, die die Protagonisten dieses Buches in ihrer Jugend erleben, deutet hinreichend viel über ihren späteren Lebensweg an. Da sind zum einen die Krumhardts, die, wie erwähnt, auf sicheres Familienerbe bauen können. Auf dem Nachbarhaus der Arztwitwe Andres und ihres Sohnes Velten lastet hingegen eine Hypothek. Noch etwas prekärer lebt eine dritte Partei: Frau Trotzendorff und ihre Tochter Helene, in die sich Velten Andres unglücklich verliebt. Die verarmten Trotzendorffs leben während Helenes Kindheit und Jugend, von der Nachbarschaft fürsorglich behütet, in einer Mietswohnung bei Hartleben. Herr Charles Trotzendorff, der »Erzschwindler«288, sucht derweil sein Glück in Amerika und wird tatsächlich rechtzeitig zu Helenes Jugendblüte »zehnfacher Dollarmillionär«.289 Bald darauf ruft er Tochter und Mutter zu sich zurück in die Staaten. Die beiden Helden mit den kritischen Wohnumständen, Velten und Helene, bürgen in diesem Roman denn auch für das Höchstmaß an Abenteuer und überhaupt für alle größeren Bewegungen, nach Übersee und zurück (auch wenn diese, wie im Realismus typisch, narrativ nur angerissen werden). Von Grundbesitz und größerem sozialen Ballast von vornherein befreit, repräsentieren sie zwei verwandte, wenngleich diametral entgegengesetzte Lebensläufe. Velten ist ein Mann der Tat, belesen und voller Unternehmungsgeist. Mehrfach tritt er als Lebensretter in Erscheinung. Die Aura reisender, romantischer Dichtertypen wie Laurence Sterne oder Lord Byron umweht ihn. Von Chamissos Schlemihl und aus Heines Buch der Lieder stammen die zentralen Motive seiner Figurenkomposition (Eigentumslosigkeit, Liebesscheitern).290 Vel-

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Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 239. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 225. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 270. Vgl. Rosemarie Haas: Einige Überlegungen zur Intertextualität in Raabes Spätwerk. Am Beispiel der Romane »Das Odfeld« und »Die Akten des Vogelsangs«. In: JbRG, 1997, S. 103–122, hier: S. 113–122. Die intertextuelle ›Stilisierung‹ des Velten Andres ist im Anschluss an Haas’ Aufsatz weiterverfolgt und etwa um Belege aus dem Münchhausen angereichert worden von Sven Meyer: Narreteien ins Nichts. Intertextualität und Rollenmuster in Wilhelm Raabes »Die Akten des Vogelsangs«. In: JbRG, 1999, S. 95–111.

tens spätere Lebensmaxime, die er dem frühen Goethe entlehnt – »Sei gefühllos! / Ein leichtbewegtes Herz /Ist ein elend Gut /Auf der schwankenden Erde«291 –, weist ihn als Mann der Empfindungen aus. Als selbsternanntes Opfer der »Weibererziehung«292 mangelt es ihm an ›männlicher‹ Selbstdisziplin und überhaupt an Akzeptanz normalgesellschaftlicher Werte. Als er durch die Lebensrettung des Knaben Schlappe, Krumhardts späterem Schwager, Zugang zur Honoratiorenelite seines Heimatstädtchens erlangt, verpasst er die Gelegenheit zum gesellschaftlichen Aufstieg. Vergleichsweise unromantisch agiert die gleichfalls ›unbürgerliche‹ Helene Trotzendorff. Nach Amerika zurückgekehrt, geht sie eine finanziell lukrative Heirat mit einem Mister Mungo ein – wohl wissend, dass diese Ehe eine Selbstvermarktung bedeutet: »Wäre ich doch wie andere, die sich damit trösten können und es auch tun, daß sie verkauft worden seien, daß es von Vater und Mutter her sei, wenn sie gleich wie andere auf dem Markte der Welt eine Ware gewesen sind! Aber das wäre eine Lüge, und gelogen habe ich nie, und feige bin ich auch nicht, und wenn er [Velten] was von mir wußte, war es das«, gibt Helene gegenüber Krumhardt nach dem Tod von Velten zu.293 Wer in seiner Jugend unter den Hilfebedürftigen war, weiß materiellen Wohlstand zu schätzen. Aus freien Stücken hat sich Helene gegen ihre inspirierende Jugendliebe entschieden. Mit dieser Form von Pragmatismus steht sie in direkter Nachbarschaft zur Fabrikantengattin und sozialen Aufsteigerin Frau Jenny Treibel in Fontanes gleichnamigem Roman. Nur dass Raabe den Preis dieses Pragmatismus schmerzlich aufrechnet in den Schlussabschnitten der Akten. Dort begegnet man einer Helene Trotzendorff alias Witwe Mungo, die zwar kolossal reich geworden ist, aber über den Untergang ihres Jugendglückes verzweifelt. Ihre wertvollste Habe bezieht sie aus dem Sterbenslächeln Veltens – »mein einziges Eigentum für alle Zeit«.294 Am Ende ist das Flüchtigste das Bleibende. Velten und Helene verkörpern jeder auf eigene Weise den Übergang zu einer Gesellschaft, die zunehmend von dauerhaften dinglichen Werten auf mobile, immaterielle Werte umstellt. Ihr Mehr an Beweglichkeit geht mit Geldzuwachs einher, auch bei Velten Andres. Als er im Hause der Fechtmeisterin Feucht seine letzte Lebensstation bezieht, hat er in seiner Brieftasche »genug Scheine aus aller möglichen Herren Länder«.295 Aber in Velten radikalisiert sich die mit der Geldform verbundene Überwindung aller konkreten, dinglichen Zusammenhänge. Dieser spätromantische Alleskönner wird zum tragischen Vorboten einer neuen Kultur des Ephemeren, weil ihm in seinen Absolutheitsansprüchen an das Leben (Kunst, Liebe) die metonymische Erdung komplett misslingt. Velten ist reine Potenzialität, intellektuell wie physisch agil, spontan und bindungsfrei. Konsequenterweise wird er vom Text eher als

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Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 352. Es handelt sich hierbei um den Eingangsvers der Dritten Ode an Behrisch von 1767. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 273. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 401. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 405. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 394.

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Zitatkonglomerat inszeniert denn als Figur mit klar definierten metonymisierbaren Projekten. Velten vertritt das Prinzip der Metapher, den permanenten Verweis auf Ähnlichkeitsstrukturen im kulturellen, hier vornehmlich literarisch definierten Paradigma. Karl wird ihm zu (Don) »Karlos«296; mit der Behrisch-Ode wagt er eine Travestie auf Goethe (der ihm als der »größte Egoist der Literaturgeschichte« gilt297); seine einsetzende »Eigentumsmüdigkeit«298 und sein Tod im leeren Zimmer gemahnen an das Schicksal des Diogenes. Die intertextuellen Felder hinter diesen similiaren Zuordnungen sind in der Forschung ausgiebig zur Sprache gekommen.299 Da Velten nicht primär über die metonymische Dimension bestimmt ist, baut er sich intradiegetisch keine Habe auf, hinterlässt er kein Werk. Im Gegenteil. Auf dem Höhepunkt des Buches mistet Velten nach dem Tod seiner Mutter Amalie ihren Hausrat aus und verheizt alles: »Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen, liebster Freund!«300 Die Zerstörung des Erbes richtet sich auf das, »was in der Menschen Seele sich den Sachen anhängt« (so interpretiert es der zur Mittäterschaft herbeigeeilte Krumhardt).301 Mit dem »Herzensmuseum«302 der Mutter zerstört Velten den metonymischen Zusammenhang der Tradition, den Besitz als Medium enger sozialer Zusammenhänge und Kommunikation.303 Dabei wird in dieser Szene nicht bloß die Selbstüberwindung eines Menschen inszeniert, dem an seiner Liebe zu Helene Trotzendorff das ›Herz zerbrach‹ und der nunmehr seine Bindungslosigkeit rituell verarbeitet. Exemplarisch zerstört Velten das Inventar als Archiv von Erinnerungen, die dem modernen mobilen Menschen zur Last werden. ›Eigentumsmüdigkeit‹ diagnostiziert Krumhardt bei seinem Jugendfreund und dieses Motiv dominiert nachfolgend den gesamten Schluss der Erzählung. Velten vollendet sich in einem Pathos reiner Zeichenhaftigkeit als Mensch, der ohne Besitz, ohne materielle Hinterlassenschaft in einem leeren Zimmer stirbt. Es ist ein Lebensweg, der auf einen Nullpunkt jenseits der traditionellen Ökonomie, die eben auf Eigentum und Erbe angelegt ist, zuläuft, eine Ökonomie, die sittliche Verklärung und idealische Überhöhung nur im Zusammenhang konkreter Dinglichkeit zu denken vermag. Mit dem Verlust seines absolut gesetzten Wertes, der

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500

Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 370. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 352. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 373. Christoph Zeller: Zeichen des Bösen. Raabes »Die Akten des Vogelsangs« und Jean Pauls »Titan«. In: JbRG, 1999, S. 112–142; Berndt: Anamnesis, S. 313–411; Haas: Einige Überlegungen zur Intertextualität in Raabes Spätwerk; Meyer: Narreteien ins Nichts; Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 234–318. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 370. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 370. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 372. Vgl. Marianne Wünsch: Eigentum und Familie. Raabes Spätwerk und der Realismus. In: JbDSG, Jg. 31 (1987), S. 248–266, besonders: S. 258–261. Der Aufsatz gruppiert gut die verbreiteten Formen von Besitz in Raabes Werk, schenkt aber der Problematik des mobilen, insbesondere monetären Besitzes zu wenig Beachtung.

Partnerschaft mit Helene, wird Velten nicht bloß zum Entsagenden, wie man es von prototypischen Protagonisten des Realismus kennt. Er wird zum Zerstörer von Werten, die einstmals die Zusammenhänge in seiner Familie und im Vogelsang garantierten. Während rundherum die Industrialisierung die Nachbarschaft einschmilzt und sich schleichend neue, unpersönlichere Güter durchsetzen, sucht Velten in der völligen Entleerung seines Geburtshauses die Reinigung von metonymischen Bindungen (die das Erbe speichert) auf ein symbolisches Extrem hin. Er verbrennt das Gestern, während andere, wie die Krumhardts, mit dem Wandel gehen. Er zerstört, anstatt Güter umzubauen und sie an veränderte Bedingungen anzupassen. Das Bleibende wird zum Flüchtigen; es wird verfeuert. In dieser gewaltsamen Überhöhung schafft sich der Roman ein Untergangssymbol auf den allerorten wirksamen Ökonomisierungsprozess, der von den alten Häusern und Lebenskontexten nichts übrig lässt. Dass dieser symbolische Akt, insofern er nicht mehr auf einen wesenhaften Bestand gerichtet ist, kein poetisch realistischer im engeren Sinne ist, hat die Raabe-Forschung hinreichend betont.304 So wie Velten in seinen Selbststilisierungen und metaphorischen Zuschreibungen eine abschließende Semiose unterläuft, so artikuliert er auch in seinem diegetisch manifesten Handeln nirgends eine positive Allgemeinheit im Besonderen. Veltens Schritt hinaus über die Eigennutzen- und Eigentumsökonomie aber wird zum Problem für seinen Biographen, den Beamtenerzähler Karl Krumhardt. Krumhardts literarischer Vorgänger Johannes Wachholder in der Chronik der Sperlingsgasse benötigt ein hinreichendes Maß an positiver Aktivität und Vitalität in seinem Umfeld.305 Nur so kann er als tendenziell passiver Beobachter oberhalb einer lebhaften Wirklichkeit zum Chronisten oder Archivar werden. Eine Aktivität jedoch, die sich in ephemeren Ereignissen, nicht aber in dauerhaften Gütern niederschlägt, liegt jenseits dieses paradigmatischen Rahmens. Chronikhafte Ordnung braucht Positivität. In den Akten findet man demgegenüber, mit Christoph Zeller gesprochen, allenfalls Negativität, Sinnverweigerung und die »Faszination absoluter Leere«.306 Sie generieren jene oft beschriebene Krise des Erzählens, mit der Raabes Spätwerk an die Pforte der Moderne klopft. Wie mir mein von Vorgesetzten und Untergebenen anerkannter guter Geschäft sstil abhanden kommt, je länger ich diese Blätter beschreibe, je klarer und deutlicher ich mir das zu Sinnen und Gedanken bringe, was ich hier dem Papier übergebe! Was bis jetzt das Nüchternste war, wird jetzt zum Gespenstischsten. Sie wackeln, die Aktenhaufen, sie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen. Ich kann nichts dagegen: zum

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Eberhard Geisler: Abschied vom Herzensmuseum. Die Auflösung des Poetischen Realismus in Wilhelm Raabes »Akten des Vogelsangs«. In: Leo A. Lensing/Hans-Werner Peter (Hg.), Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk. Aus Anlaß des 150. Geburtstags (1831–1981), Braunschweig 1981, S. 365–380. Raabe legt den Vergleich zwischen beiden Werken explizit an, wenn er Krumhardt einmal von der »Chronik des Vogelsangs« reden lässt. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 387. Zeller: Zeichen des Bösen, S. 117.

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erstenmal will an diesem Schreibtisch, jawohl an diesem Schreibtisch, die Feder in meiner Hand nicht so wie ich; und Velten Andres ist wieder schuld daran.307

Diese ›gespenstische‹ Präsenz seines Helden, das »Übergewicht dieses ›Menschen‹«, das der Erzähler Krumhardt verspürt, resultiert nicht allein aus dem Defizit der Vertextung, aus der eher konventionellen Einsicht in die Unmöglichkeit, »ein Lächeln, den Klang einer Stimme, das Neigen einer Stirn, die Bewegung, den Druck und die Wärme einer Hand« in den Akten festzuhalten.308 Sie resultiert vor allem aus der paradigmatischen Differenz zwischen Held und Erzähler. Krumhardt ist, wie gesagt, ein Mann des Erbes. Seine berufsmäßigen Protokolle überwachen eine Gesellschaft, die sich im Güterverkehr ihren sozialen Zusammenhang schafft . »Eigentumsfragen« sind sein tägliches Geschäft.309 In seinen Lebensaufzeichnungen vergewissert er sich immer wieder seiner Kinder als Adressaten, wenngleich mit Skepsis ob der Verständlichkeit der Ausführungen. Am symbolischen Höhepunkt der Handlung mistet Krumhardt gemeinsam mit Velten den Hausrat im Vogelsang aus, wohl wissend um ihrer beider Differenz: »Ja – er hatte mich auch jetzt wieder unter sich, es war von meiner Besitzfreudigkeit aus keine Abwehr gegen seine Eigentumsmüdigkeit: ich habe ihm geholfen, sein Haus zu leeren und sich frei zu machen von seinem Besitz auf Erden!«310 Tatsächlich hat Krumhardt in dieser Szene Anteil an einem symbolischen Prozess, der in letzter Instanz ihn selbst betrifft . Nicht nur das Archiv der Erinnerungen von Mutter Andres steht hier auf dem Spiel, sondern überhaupt das Lebensprojekt der Archivierbarkeit, für das Krumhardts Vertextungsversuch (auch Pars pro Toto für das Schaffen Wilhelm Raabes311) steht. Der Bruch zwischen dem unkonventionellen Helden und dem biederen Erzähler markiert das Ende der diskursiven Konstellation des Realismus. Der Held lässt sich nicht mehr vollständig aus seinen partikularen Motiven heraus erfassen, und das Erzählen verliert seinen Objektivitätsstatus: »Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur anderen, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen!«312 Mit Krumhardt scheitert ein sinnstiftendes Erzählen313, das dem Geschehen nicht nur eine protokollarische, ›aktengemäße‹ Genauigkeit und Chronologie, sondern vor allem ›logische‹ Verknüpfungen und überhaupt eine interpretatorische Dimension beizulegen versteht.

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Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 270. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 366. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 369. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 373. Vgl. Sigrid Th ielking: Akteneinsamkeit. Archiv- und Aufzeichnungsfi ktion bei Wilhelm Raabe. In: Wilhelm Raabe. Text+Kritik, Bd. 172 (Oktober 2006), S. 39–50. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 304. Vgl. auch Geppert: Der realistische Weg, S. 647f.

Tatsächlich verlaufen die Episoden und Szenen aus dem Leben von Velten Andres, Helene Trotzendorff und Karl Krumhardt zwar entlang dem konventionellen Zeitstrahl, doch sind sie sprunghaft und diskontinuierlich angeordnet. Immer wieder treten innerliterarische, intertextuelle Verweisstrukturen vor die referenzielle Funktion, mit der die Diegese, dem Anspruch des Erzählers nach, ›aktenmäßig‹ objektiv erfasst werden sollte.314 Wesentliche Handlungsschritte, wie die Amerika-Ereignisse um Veltens Scheitern und Helenes Hochzeit, werden en passant in direkten Zeugnissen abgehandelt. Ohne Metaeinlassungen kommentieren Erzählbruchstücke einander (so wird etwa Veltens andeutungsvoller Brief aus den Staaten nur über eine flankierende Zeitungsnotiz vorab verständlich). Oberbegriffe fehlen in dieser Erzählkomposition; die Sammlung bleibt überwiegend Juxtaposition von Einzelteilen und erhebt sich damit nicht, wie beabsichtigt, über das textuelle Modell der Akte.315 Eine auktoriale Deutung des Geschehens, die sich der Beamtenerzähler selbst auferlegt, bleibt aus. Aus der Rebellion des Velten Andres heraus gerät so auch der realistische Anspruch auf eine ganzheitlich geordnete Wirklichkeitsauffassung in die Krise: »Was kann ich heute an seinem Grabhügel andres sein als ein nüchterner Protokollführer in seinem siegreich gewonnenen Prozeß gegen meine, gegen unsere Welt?«316 Der Wechsel vom Ich zum Wir erhebt den singulären Fall zum exemplarischen. In den Akten des Beamten Krumhardt vollzieht sich nicht nur ein sentimentaler Abschied von den vormodernen Jugendidyllen mit ihren engen Sozialverbänden (diese thematische Dimension ist bei Raabe Standard317). Es geht vielmehr um die Grenzen der gesamten diskursiven Konstellation (ebendas ›Wir‹), an die der Erzählvorgang hier stößt. Dauer, Bestandswahrung, Tradition und damit letztlich die Möglichkeit zur metonymischen Verknüpfung und symbolischen Überhöhung von Ereignissen – diese konventionellen Koordinaten realistischer Literatur werden von Seiten der Diegese durch die Aushöhlung des Eigentums und das Pathos des Ereignisses im Helden problematisiert. Entsprechend stark atomisiert diese Erzählung ihre Diegese. Die tendenziell szenische Produktion des Geschehens erfolgt nicht mehr von oben, durch einen deutungsstarken Erzähler, sondern vornehmlich aus den Selbstzeugnissen der Figuren heraus. Narrative Objektivität wird gegen eine Pluralität subjektiver Stim-

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Zur Durchbrechung der bürgerlich-väterlich codierten Aktenstruktur durch die literarischen Bezüge vgl. Nathali Jückstock: Zitierend die Welt deuten. Wilhelm Raabes »Akten des Vogelsangs«. In: Holger Helbig/Bettina Knauer/Gunnar Och (Hg.), Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaft liche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann, Würzburg 1996, S.  179–189. Die These wird von der Autorin länger ausgeführt in Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 267–318. Vgl. Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen, S. 267–279. Raabe: Die Akten des Vogelsangs, S. 295. Vgl. Karin Kluger: »Der letzte Augenblick der hübschen Idylle«. Die Problematisierung der Idylle bei Wilhelm Raabe. New York et al. 2001, besonders: S. 41–51; vgl. Heldt: Isolation und Identität.

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men eingetauscht, in deren Chorus sich Krumhardts Erzählstimme als eine unter mehreren einreiht. Diese selbst erklärte Krise des Beamtenerzählers bei Raabe markiert die äußerste Grenze jenes ebenso emphatischen wie skeptischen Beamtendenkens des Realismus. Hier scheitert der Vertreter des öffentlichen Dienstes nicht mehr nur diegetisch, als mehr oder minder tragischer Held. Hier problematisiert er sich auf der Narrationsebene in seinen Kernkompetenzen: Als interesseloser Beobachter, als Garant objektiver, überindividueller Wertzuschreibungen, aus denen die höhere Einheit des Wirklichen zu gewinnen wäre, fällt dieser Beamtenerzähler aus. Er fällt aus, weil ihm das Raster für ein mobiles, ungesteuertes und bis zum ökonomischen Widersinn freies Leben seines Helden fehlt. Krumhardt begegnet hier in letzter Instanz dem Rätsel eines unkonventionellen und unökonomischen Handelns, wie es etwa Fjodor Dostojewski in seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864) von der anderen Seite her beleuchtet hat. Dostojewskis Ich-Erzähler, seinem Selbstverständnis nach ein ›krankhafter Mensch‹ und im Übrigen ein gescheiterter Beamter, markiert in seinen Bekenntnissen ungleich schärfer die Widerstände, die ein selbstbestimmtes, spontanes Leben in der wachsenden statistischen Normierung der Gesellschaft findet: »Was ist denn das noch für ein Vergnügen, nach der Tabelle zu wollen«318; »was soll man noch unternehmen, wenn alles schon auf der Tabelle ausgerechnet ist?«319 Seine antiökonomische Philosophie mündet in die Rebellion gegen alles Normale, gegen das »Zweimal-zwei-ist-vier«.320 Depression und paradoxe Selbstentwürfe sollen dem Selbst einen Ausweg weisen. Nur indem das schlichtweg Unvorteilhafte als eigener Vorteil behauptet werde, manifestiere sich der individuelle Wille, so die These dieses gesellschaftlichen Aussteigers. Je irrationaler, desto besser, desto sicherer weiß man, der öffentlichen, statistischen Erfassung des Lebens zu entgehen. Velten Andres ist weniger irrational als hochgradig unkonventionell in seiner Überwindung des Eigentums; sein Pathos ist das eines bindungslos gewordenen Idealisten. Das macht ihn gleichwohl, wie gesehen, keineswegs greifbarer für eine beamtenmäßige Erfassung. Aus dem übersteigerten Sinnbegehren des Spätromantikers erwächst eine ereignishafte, immaterielle Aktivität, für die der realistische Archivar keine Beschreibungsform mehr aufbringen kann. Tatsächlich radikalisiert sich im Transzendenzverlust, den Velten hoch subjektiv ausagiert, eine Tendenz, die gesellschaftlich längst eingesetzt hat (und sich etwa in der katalogreichen Literatur des Fin de Siècle ausdrucksstark in neuen Texturen manifestiert): Die Modifi kation und Ausdifferenzierung individueller Präferenzen (bis hin eben zur Wertnegierung) entzie-

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Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. In: Fjodor M. Dostojewski, Der Spieler. Späte Romane und Novellen, übers. von E. K. Rahsin, 15.  Aufl., München, Zürich 1996, S. 429–576, hier: S. 458. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 456. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 466.

hen sich zunehmend der ordnungspolitischen, realistischen Beschreibung von oben. Mit der Demokratisierung der Genüsse und dem Anwachsen des Güterhaushalts gerät die Objektivierung der Werte, und mit ihr der Status eines neutralen, überindividuellen öffentlichen Sektors, ins Wanken. Nicht von ungefähr steht am Ende der hier untersuchten Epoche die Durchsetzung des individualistischen Homo-oeconomicus-Modells (wie es etwa bei Carl Menger begegnete). Zumindest aus ökonomischer Perspektive findet die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft fortan auf den Märkten statt, auf denen ihre relevanten Güter, gleich ob von immaterieller oder materieller Art, gehandelt werden. Ein politischer Allgemeinheitsanspruch, wie ihn die realistische Diskursivität für ihr dynamisches und antisystemisches Wirklichkeitskonzept behauptet, ist darin nicht angedacht. Neoliberale Ordnungspolitik verfährt weniger kulturalistisch und ethisch denn materiell und wachstumsorientiert. Das Schrumpfen des öffentlichen Sektors, der sich als unabhängig von der Ökonomisierung versteht, ist eine Konsequenz dieser Entwicklung. Sie dauert bis in unsere Tage fort. In der realistischen Diskursivität sind lediglich die Anfänge dieses gesellschaftlichen Umbaus verzeichnet. Es ist eine Diskursivität aus einer Spannung zwischen Pluralisierungstendenzen und Homogenisierungsbegehren heraus, zwischen der Ausdifferenzierung von Faktenbeständen und dem Willen zu ihrer Integration, zwischen metonymischer und metaphorischer Vermittlung des Wissens. Am Scharnier zwischen beiden letztlich inkommensurablen Dimensionen stehen jene geachteten und beklagten Figuren der ›guten Mitte‹, die Vertreter einer untergehenden ›besitzlosen Intelligenz‹. Ihr Pathos ist das Pathos eines öffentlichen Dienstes, der sich vom Regime des Eigennutzens distanziert. Solange dieses Pathos dauert, funktioniert die realistische Diskursivität. An ihr Ende kommt sie erst, wenn dem Neutralitätsstreben keine Gültigkeit mehr zugebilligt wird, wenn die Kraft der Entsagung versiegt.

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6.

6.1.

Literaturverzeichnis

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6.4. Dank

Das Zustandekommen dieser Arbeit verdanke ich vielen Menschen: meinen Eltern, Ute und Werner Rakow, meinen Ausbildern an der Universität Rostock, Prof. Dr. Helmut Lethen und Prof. Dr. Heinz-Jürgen Staszak, und an der Humboldt-Universität zu Berlin, Prof. Dr. Klaus R. Scherpe, meiner Münsteraner Kollegin Katharina Grabbe, meinen Lesern Klaus Gehre und Evi Neu und den Freunden und Diskutanten im Oberseminar »Zur Logik des Spätrealismus« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter Leitung von Prof. Dr. Moritz Baßler, namentlich: Dennis Borghardt, Katharina Dornhöfer, Dr. Matthias Erdbeer, Melanie Horn, Rainer Karczewski, Torsten Leine, Brahim Moussa, Konrad Müller und Philipp Pabst. Finanziell unterstützt wurde meine Promotion durch das Nachwuchsförderungsgesetz des Landes Berlin, von der International University Bremen und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Vor allem aber gilt mein Dank meinem Betreuer Prof. Dr. Moritz Baßler und meiner Lebensgefährtin Julia Neu. Ohne sie hätte es nicht geklappt.

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6.5. Personen- und Werkregister

Achermann, Eric 79f., 287 Ackermann, Josef 458 Akerlof, George A. 11 Albertus Magnus 199 Aristoteles 71, 95, 142f., 146, 189, 192, 207, 301 Arons, Leo 412 Bachmann, Stefan 480 Baecker, Dirk 17 Bal, Mieke 27 Balzac, Honoré de 101 Barthes, Roland 101f., 106, 110–114, 154, 160, 170 Baßler, Moritz 154 Becker, Sabina 49 Bentham, Jeremy 333 Bernstein, Eduard 419 Bismarck, Otto von 427, 452, 478 Blaschke, Bernd 65, 67 Bockelmann, Eske 215f. Böhm-Bawerk, Eugen 358–361 Böhme, Hartmut 380 Böhme, Jakob 327 Braunschweig-Wolfenbüttel, Auguste Dorothea von 461, 463 Brecht, Bertolt 23 Brecht, Christoph 110 Breithaupt, Fritz 222–224 Brentano, Lujo 5, 93, 197f., 410–415 Brinkmann, Richard 153f., 162, 428, 432, 472 Brock, Karolina 37, 86–88 Bucharin, Nikolai 376 Bücher, Karl 197f., 211–215 Burdach, Konrad 31 Burke, Kenneth 386 Burman, Leonard E. 12 Byron, George Gordon Noel (Lord Byron) 498 Campe, Joachim Heinrich 354, 363–365, 367, 369f.

Cervantes, Miguel de 218f. Chamisso, Adelbert von 399, 498 Cooper, James Fenimore 243 Crouch, Colin 14f. Darwin, Charles 331, 345, 417 Defoe, Daniel 353–357, 362, 364, 367, 369, 371 Dehmel, Richard 467 Dickens, Charles 51, 332–335, 492 Oliver Twist 332–335 Dietzel, Heinrich 358–361 Dilthey, Wilhelm 40 Dostojewski, Fjodor 504 Drews, Axel 105 Droste-Hülshoff, Annette von 212 Du Barry, Barry 260f. Ebner-Eschenbach, Marie von 463 Eiden, Patrick 480 Engels, Friedrich 3–5, 7, 16, 327, 349, 375f., 385, 391, 404–409, 412–414, 417–420, 438 Escher, Alfred 42 Eucken, Walter 13 Flaubert, Gustave 109–111, 113f., 161 Fleck, Ludwik 91f., 209 Fontane, Theodor 3, 108, 115, 129, 135f., 158, 161, 178, 257, 371–375, 499 Foucault, Michel 6, 69, 78 Franke, Uwe 457 Frey, Barbara 480 Freytag, Gustav 5, 42, 45, 103, 107, 130, 134–137, 158, 191, 208f., 216, 231–233, 240–254, 267–275, 301–305, 337, 393, 440, 455–458, 467, 470f. Dramentheorie 134–137 Soll und Haben 45, 103, 107, 134–136, 191, 231–233, 240–254, 267–275, 301–305, 455–458, 470f. Frickhinger, Albert 261, 263 Friedman, Milton 8

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Friedrich II. (Heiliges Römisches Reich) 427 Fukuyama, Francis 15 Furst, Lilian R. 114 Galbraith, John Kenneth 10–12 Galilei, Galileo 85 Geppert, Hans Vilmar 157, 159–162, 166, 168, 179f., 184, 186, 326f., 342f., 346f., 395, 467 Gerhard, Ute 105 Gervinus, Georg Gottfried 146, 208 Goethe, Johann Wolfgang 31, 35, 38, 53f., 58, 72, 146, 149, 153f., 162, 218f., 314, 326, 349, 384, 428, 469–471, 493, 499f. Gotthelf, Jeremias 172 Gottschall, Rudolf 19, 179 Greenblatt, Stephen 1f., 17, 26, 82f. Gutzkow, Karl 5, 45, 48, 439 Hackländer, Friedrich Wilhelm 107, 233–240, 243–245, 252, 255, 270, 393 Handel und Wandel 107, 233–240, 243–245, 252, 255, 270 Harsnett, Samuel 82–84 Hart, Heinrich 103 Hart, Julius 43, 103 Hauptmann, Gerhart 236 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 31, 44, 53–58, 146f., 153, 208, 382, 389, 391, 403, 413, 464 Heidegger, Martin 73 Heine, Heinrich 498 Heinzelman, Kurt 3, 19, 68 Hempel, Dirk 65 Henderson, Willi 69 Hettner, Hermann 362f. Hildebrand, Bruno 5, 92f., 117, 182, 186, 196, 283f., 287, 405, 407–409, 413, 417 Hobbes, Thomas 76–78, 82f. Hörisch, Jochen 66–68, 74, 217, 221–224, 226f., 291–293 Huysmans, Joris-Karl 111 Jakobson, Roman 99–101, 110, 138, 160, 163, 179 Jean Paul 140, 218 Jevons, Stanley 19, 36f., 85, 96, 99 Johnson, Mark 144 Jonigk, Thomas 480 Kaiser, Gerhard 150, 482

542

Kautsky, Karl 412 Keller, Gottfried 1, 3, 42, 86f., 100f., 108, 149–152, 154, 157f., 163–178, 180, 216–231, 260–268, 288–301, 313, 325, 370, 444, 450, 468, 471, 479–493, 497 Der grüne Heinrich 1, 86f., 100f., 163– 170, 176–178, 260–267, 288–301, 471, 487–490 Der Schmied seines Glückes 108, 170–176 Die mißbrauchten Liebesbriefe 217–231, 450 Martin Salander 158, 266f., 313, 370, 479–487, 490f., 497f. Kennedy, John F. 13 Keynes, John Maynard 11, 13, 89 Knapp, Georg Friedrich 197, 280f., 285 Knies, Karl 92f., 116, 182, 196f., 282 Kultermann, Udo 150 Künzel, Christine 65 Lakoff, George 144 Lasker, Eduard 311 Lassalle, Ferdinand 404, 412 Laya, Léon 224 Lenger, Friedrich 418 Lortzing, Albert 48 Lukács, Georg 3f., 112, 464 Luhmann, Niklas 68, 74, 88, 276f., 280 Ludwig, Otto 130–134, 141, 152–157, 162, 179, 428, 444, 475 Zwischen Himmel und Erde 131–134, 152–157, 179, 428, 475 Malthus, Thomas Robert 73, 328–333, 345, 394 Mangoldt, Hans von 246 Mann, Heinrich 374 Marshall, Alfred 127 Martini, Fritz 114, 150 Marx, Karl 4f., 7, 16, 87, 90, 226, 238, 291, 327, 345, 349, 351, 356–359, 375–392, 394, 397–406, 412–420, 438 Mauss, Marcel 251 McCloskey, Deirdre N. 85 Mehring, Franz 412 Menger, Carl 6f., 16, 19, 36, 85, 90, 93, 96, 119–127, 182f., 281, 350–353, 357f., 360, 365, 372, 379, 407, 419, 423, 494, 505 Meyer, Richard M. 29 Meyer-Krentler, Eckhardt 50f. Michaels, Walter Benn 69, 75

Mises, Ludwig 410 Molinari, Theodor 42 Müller, Adam 23, 191, 284–287 Münchau, Wolfgang 8f., 11 Muschg, Adolf 483 Napoleon III., Louis Bonaparte 397–401 Neumann, Emil 224 North, Douglass C. 201, 366 Ort, Claus-Michael 159, 163f., 175, 177, 485 Osteen, Mark 65, 69 Peirce, Charles Sanders 160, 342 Plumpe, Gerhard 114 Priddat, Birger P. 122, 192 Prince-Smith, John 186, 188 Prutz, Robert 20–29, 33, 35, 265 Raabe, Wilhelm 3f., 44, 47–53, 61–65, 108, 115, 140, 158, 167, 176, 191, 209, 256, 289, 313–325, 327f., 335–343, 345, 347–349, 367–371, 393, 444, 450, 457, 459–469, 492f., 496–504 Der Hungerpastor 176, 256, 314, 327f., 335–343, 347–349, 450, 469, 483 Die Akten des Vogelsangs 209, 371, 496–504 Die Chronik der Sperlingsgasse 47–53, 61–65, 492 Die Leute aus dem Walde 62f., 191, 313–318, 468, 469 Prinzessin Fisch 368–370 Stopfkuchen 44 Villa Schönow 457, 459–468 Zum wilden Mann 318–325, 370 Rabelais, François 218 Rau, Karl Heinrich 94 Ricardo, David 350, 358, 376, 403–405, 419 Riehl, Wilhelm Heinrich 45–47, 158, 443, 468, 476–479 Abendfrieden 45–47, 477 Der Märzminister 158, 476–479 Roscher, Wilhelm 5, 10, 12f., 16, 23, 27, 30–32, 34f., 37f., 41–43, 53, 56–61, 64, 81, 89f., 92–99, 116–121, 127–129, 142–148, 181–197, 199, 200f., 204–206, 208, 244, 246f., 255f., 271–273, 275, 282–284, 287, 299, 307, 330, 358, 361–365, 376, 389f., 403–405, 415f., 419f., 429, 468, 494 Rüdiger, Otto 438–449, 459, 469

Sieg fried Bunstorp’s Meisterstück 438–449, 459, 469 Ruge, Arnold 405 Say, Jean-Baptiste 405 Schäfer, Ulrich 12 Schäffle, Albert 37, 88, 412–414, 416f. Scherer, Wilhelm 29–44, 69, 208, 214, 228 Poetik 29–41, 43f., 69, 214, 228 Schiller, Friedrich 146, 149, 210f., 264–267, 374 Schmidt, Erich 20, 33 Schmidt, Julian 5, 21, 23, 41f., 148f., 440 Schmoller, Gustav 5, 10, 13, 16, 29, 31, 41f., 89, 93f., 116, 121, 125, 146, 182, 185, 192, 196–208, 210–212, 235f., 271f., 275, 278–281, 288, 330–332, 345, 350, 365–367, 404, 410–412, 414, 416–418, 420–440, 447, 449f., 467f., 491, 494 Schnitzler, Arthur 391 Schopenhauer, Arthur 328 Schößler, Franziska 69 Schumpeter, Joseph 95 Scott, Walter 46f. Sennett, Richard 453 Shakespeare, William 82–84, 151f., 223 Shell, Marc 3, 68 Shiller, Robert J. 11f. Simmel, Georg 75f., 221, 278–281, 324 Sinn, Hans-Werner 13 Sloterdijk, Peter 376 Smith, Adam 6f., 19, 39, 55f., 72, 79, 85, 88, 96–98, 120, 212, 226, 286f., 294, 376, 403, 405, 407, 409, 419f., 494 Sombart, Werner 5, 197, 273, 410, 412, 415–419, 438 Spielhagen, Friedrich 13, 42, 50, 102–106, 112f., 130, 137–142, 176, 209, 301, 305–313, 395, 444, 451–455, 457, 467f., 492, 494–496 Erzähltheorie 103, 112f., 137–142, 494–496 Sturmflut 13, 50, 102–106, 112f., 176, 305–313, 444, 451–455, 467f. Spiethoff, Arthur 197 Spinoza, Baruch de 266 Steinbach, Erwin von 199 Sterne, Laurence 140, 218, 498 Stieda, Wilhelm 197f. Stifter, Adalbert 3, 158, 180f., 188, 257–260, 427

543

Waarenauslagen und Ankündigungen 257–260 Storm, Theodor 3, 47, 136, 158, 180, 313, 319, 321, 371, 385, 444, 468, 470, 472–476 Carsten Curator 313, 319, 321, 473–476, 482 Hans und Heinz Kirch 371, 472f. Straßburg, Gottfried von 199 Strombeck, Friedrich Karl von 461, 463 Thünen, Johann Heinrich von 98 Tieck, Ludwig 218 Tietzel, Manfred 70 Tolstoi, Lew 212 Treitschke, Heinrich von 410, 433, 437, 449 Tschechow, Anton 326 Tschopp, Silvia Serena 229 Vischer, Friedrich Theodor 31 Veblen, Thorstein 193 Vogl, Joseph 6f., 18, 24, 69–82, 84, 276, 284, 329

544

Walker, Amasa 255 Walras, Auguste 122 Walras, Léon 19, 36, 85, 96, 99, 122 Walzel, Oskar 40 Watt, Ian 354 Watts, Michael 66 Weber, Max 5, 145, 147, 197, 253, 364, 415f., 452f., 456, 476f. Weerth, Georg 391–397 Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben 391–397 Wezel, Johann Karl 355f., 362–364 White, Hayden 386–389, 401 Wieser, Friedrich von 358, 360 Winterfeld, Adolf von 224f. Woodmansee, Martha 65, 69 Wunberg, Gotthart 109 Wunderlich, Werner 67 Zola, Émile 3, 212, 343–348, 396 Germinal 343–348