Textkohärenz und Narration: Untersuchungen russischer Texte des Realismus und der Moderne 9783110210934, 9783110208115

The present volume is concerned with the question of what distinguishes a prose text from the Age of Realism from one fr

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German Pages 380 Year 2008

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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Textkohärenz und Narration in realistischer und modernistischer russischer Literatur (einführende Betrachtungen)
Absatzstruktur und Satzbau
Zur Funktion des Symbolischen. Ein Vergleich zwischen Realismus und Moderne (Tolstoj, Čechov, Belyj)
Figur und Perspektive. Anhand von Beispielen der russischen realistischen und modernistischen Prosa
Perspektivierung und Rekurrenz
Der narrative Redetyp und seine Analyse
Vom Realismus zum Modernismus: Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich
Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten
Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus
Zur Chronologie Episodizität, Deflexion und Kontinuität
Granularitätsphänomene als Parameter zur Unterscheidung von Realismus und Moderne
Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften russischer Texte des Realismus und des Modernismus
Zusammenfassung und Diskussion der linguistischen Untersuchungsergebnisse
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Textkohärenz und Narration: Untersuchungen russischer Texte des Realismus und der Moderne
 9783110210934, 9783110208115

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Textkohärenz und Narration

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Textkohärenz und Narration Untersuchungen russischer Texte des Realismus und der Moderne

Robert Hodel Volkmar Lehmann

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020811-5 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Der vorliegende Band ist das Resultat des DFG-Projektes „Textkohärenz und Narration“, das die beiden Herausgeber und ihre Mitarbeiter Christina Janik, Andrey Bogen und Doris Marszk sowie Vyacheslav Yevseyev als Kooperationspartner im Rahmen der Hamburger Forschergruppe „Narratologie“ (Sprecher: W. Schmid) während drei Jahren betrieben haben. Der zentrale Orientierungspunkt des Projekts war die Frage, was einen realistischen von einem modernistischen Prosatext unterscheidet. Es sollten Verfahren entwickelt werden, mit denen der Übergang vom Realismus zur Moderne auf der Grundlage einer sich verändernden Textkohärenz bestimmt werden kann. Ausgehend von der bisherigen textsemantischen und narratologischen Forschung wurden Kriterien der Charakterisierung dieser beiden Epochen überprüft und ausgewählt sowie neue Parameter entwickelt, die es erlauben, den Epochenwandel innerhalb der russischen Prosa umfassender zu beschreiben, weiter als dies bisher in literaturwissenschaftlichen Arbeiten geschehen ist, zu formalisieren, und, soweit möglich, computergestützt zu quantifizieren. Das Projekt stellt einen Versuch dar, literaturwissenschaftliche und linguistische Erkenntnisse und Methoden zusammenzuführen und am gemeinsamen Objekt „Text“ eine Kluft zu überbrücken, die sich zunehmend zwischen den beiden großen Teildisziplinen der neusprachlichen Philologien auftut. Die Herausgeber

  

Inhaltsverzeichnis ROBERT HODEL Textkohärenz und Narration in realistischer und modernistischer russischer Literatur (einführende Betrachtungen) ...................... 1 1. Rationalismuskritik und Kritik des rationalistischen Weltbildes ................................................................................................. 6 2. Verwerfung des Moralkodexes ................................................... 7 3. Verschiebung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ....................... 8 4. Autorbild ....................................................................................... 9 5. Erweiterung des Kulturkreises .................................................. 12 6. Literarisierung der Wirklichkeit ................................................ 13 7. Deklaration der Kunst ................................................................ 14 8. Hybridisierung der Gattungen .................................................... 15 9. Leseakt ........................................................................................ 16 10. Eigenthematisierung der Sprache ............................................ 17 11. Fokussierung des Autors ......................................................... 25 12. Auflösung der Fabel ................................................................. 26 13. Perspektive und Redewiedergabe ........................................... 27 14. Menschenmaß, Granularität ..................................................... 29 15. Metaphorisierung, Universalisierung ...................................... 30 16. Rekurrenz .................................................................................. 31 17. Literaturverzeichnis ................................................................. 38 ROBERT HODEL Absatzstruktur und Satzbau ................................................................ 1. Absatzstruktur ............................................................................ 2. Satzbau ........................................................................................ 2.1 Erläuterung der Analyseparameter ....................................... 2.2 Statistische Ergebnisse .......................................................... 2.2.1 Durchschnittliche Satztiefe .......................................... 2.2.2 Durchschnittliche Anzahl der Teilsätze im InterS ....................................................................................... 2.2.3 Rechtsverzweigung der Teilsätze ................................ 2.2.4 Periphere Stellung der Teilsätze innerhalb des InterS ................................................................................ 2.2.5 Anzahl defektiver Strukturen .......................................

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2.2.6 Durchschnittliche Anzahl der Wörter im InterS ................................................................................. 2.3 Auswertung ............................................................................ 2.4 Interpretation der Ergebnisse ................................................ 3. Literaturverzeichnis ...................................................................

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ROBERT HODEL Zur Funktion des Symbolischen. Ein Vergleich zwischen Realismus und Moderne (Tolstoj, Cµechov, Belyj) ............................ 1. Einführung .................................................................................. 2. Cµechov: Knjaginja (1889) ........................................................ 3. Zosˇcˇenko: Agitator (1923).......................................................... 4. Cµechov: Gusev (1890) ............................................................... 5. Zamjatin: Pesˇcˇera (1920) ........................................................ . 6. Literatur .................................................................................... ..

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ANDREY BOGEN Figur und Perspektive. Anhand von Beispielen der russischen realistischen und modernistischen Prosa ....................... 1. Die Perspektive ........................................................................ 2. Die Figur ................................................................................... 3. Der Realismus .......................................................................... 3.1 L. N. Tolstoj „Anna Karenina" ........................................... 3.1.1 Oblonskij ..................................................................... 3.1.2 Anna Karenina ............................................................ 3.2 I. S. Turgenev „Otcy i deti“ ................................................ 3.2.1 Nikolaj Petrovicˇ Kirsanov .......................................... 3.2.2 Arkadij Kirsanov ......................................................... 3.2.3 Bazarov ........................................................................ 4. Übergang zum Modernismus .................................................. 4.1 A. P. Cµechov „Archierej“ ................................................... 5. Modernismus ............................................................................ 5.1 B. A. Pil'njak „Golyj god“ .................................................. 5.2 E. Zamjatin „Afrika“ ........................................................... 5.3. Babel’: „Kak e˙to delalos' v Odesse“ ................................. 6. Fazit ........................................................................................... 7. Literatur ....................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

ANDREY BOGEN Perspektivierung und Rekurrenz ....................................................... 1. Einführung: die theoretischen Ansätze ................................... 2. Die Rekurrenz und der Textaufbau ......................................... 2.1 Rekurrenzen auf der phonologischen Ebene ..................... 2.2 Rekurrenzen auf der lexikalischen Ebene .......................... 2.3 Rekurrenzen auf der syntaktischen Ebene ......................... 2.4 Rekurrenzen auf der Ebene der Komposition .................... 3. Literatur .................................................................................... VOLKMAR LEHMANN Der narrative Redetyp und seine Analyse ........................................ 1. Der narrative Redetyp .............................................................. 1.1 Das definitorische Merkmal des narrativen Redetyps ...... 1.2 Narrative Passagen .............................................................. 1.3 Narrativität und Sequenzialität ........................................... 1.4 Hypothesen zu Passagengrenzen ........................................ 2. Distinktive Merkmale des narrativen Redetyps ..................... 2.1 Formale Merkmale des narrativen vs. sprechzeit orientierten Redetyps ................................................................. 2.2 Funktionale Merkmale des narrativen vs. sprechzeitorientierten Redetyps ........................................................... 2.3 Zur Identifizierung narrativer Passagen ............................. 3. Basismerkmale und Varianz des narrativen Redetyps ........... 3.1 Basismerkmale des narrativen Redetyps ............................ 3.2 Narrative Dynamik .............................................................. 3.3 Beschreibung als Beispiel für Redetypvarianz .................. 4. Mikro- und makrostrukturelle Ereignisse ............................... 5. Literatur .................................................................................... CHRISTINA JANIK Vom Realismus zum Modernismus: Sprechund Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich ................................................................. 1. Einleitung .................................................................................. 2. Analysen ................................................................................... 2.1 Vorgehensweise ................................................................... 2.2 Redeeinleitung ..................................................................... 2.3 Satzarten ...............................................................................

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2.4 Verba sentiendi und cogitandi in der 3. Person ................. 2.5 Egocentriki ........................................................................... 3. Schluss: Modernismus gegenüber Realismus: Komplementäre Verfahren der Darstellung von Rede und Wahrnehmung ............................................................. 4. Quellen ...................................................................................... 5. Literatur .................................................................................... CHRISTINA JANIK Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten .................................................................... 1. Einleitung .................................................................................. 2. Adverbialia ............................................................................... 2.1 Quantitative Ergebnisse ...................................................... 2.2 Positionen der Adverbialia im Satz .................................... 2.3 Durch die Lokaladverbialia bezeichnete Bezugsräume .... 3. Konjunktionen ....................................................................... 3.1 Häufigkeit und Verteilung subordinierender Konjunktionen ........................................................................... 3.2 Koordinierende Konjunktionen .......................................... 4. Schluss ...................................................................................... 5. Quellen ...................................................................................... 6. Literatur .................................................................................... CHRISTINA JANIK Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus ...................................................................................... 1. Einleitung .................................................................................. 2. Analysen ................................................................................... 2.1 Berücksichtigte Formen der Koreferenz ............................ 2.2 Vorgehensweise ................................................................... 2.3 Quantitative Ergebnisse ...................................................... 3. Formen der Referenz und syntaktische Funktionen ............... 4. Wiederholungen von Konstituenten ........................................ 5. Schluss ...................................................................................... 6. Quellen ...................................................................................... 7. Literatur ....................................................................................

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CHRISTINA JANIK Zur Chronologie Episodizität, Deflexion und Kontinuität .............. 1. Einleitung .................................................................................. 2. Episodizität ............................................................................... 2.1 Begriffsbestimmung Episodizität ....................................... 2.2 Sprachliche Realisierungen im Russischen ....................... 2.3 Auswertungsverfahren ........................................................ 2.4 Gesamtverteilung der Situationstypen ............................... 2.5 Verteilung episodischer und nicht-episodischer Passagen auf die einzelnen Kapitel .......................................... 2.6 Verhältnis von Passagen und Zeichenzahl ......................... 3. Deflexion .................................................................................. 3.1 Der Begriff ........................................................................... 3.2 Analyse ................................................................................. 3.3 Ergebnisse ............................................................................ 4. Chronologische Kontinuität ..................................................... 5. Aspekt-Tempus-Formen .......................................................... 6. Quellen ...................................................................................... 7. Literatur .................................................................................... DORIS MARSZK Granularitätsphänomene als Parameter zur Unterscheidung von Realismus und Moderne ............................................................ 1. Einleitung: Was ist Granularität? ............................................ 1.1 Beschreibung des Phänomens ............................................. 1.2 Bestimmung der Granularität .............................................. 2. Einsatz der Granularität in der Narratologie .......................... 2.1. Lev Tolstoj und Andrej Belyj ............................................ 2.2 Analyse-Verfahren in diesem Projekt ................................ 3. Exemplarische Unterschiede zwischen Belyj und Tolstoj .................................................................................... 3.1 Granularität bei Belyj und Tolstoj an einem Beispiel ........ 3.2 Untersuchung der Granularitätsstruktur bei Tolstoj und Belyj anhand von Stichproben .................................................. 4. Geschehensbeteiligte bei Belyj und Tolstoj ........................... 5. Diskussion ................................................................................ 6. Literatur ..................................................................................... Quellen ....................................................................................... Sekundärliteratur .......................................................................

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VYACHESLAV YEVSEYEV Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften russischer Texte des Realismus und des Modernismus ............................................................................... 1. Einleitung .................................................................................. 2. Dichte der paarweise kodierten Ereignisse und die Narrativität ....................................................................... 3. Redundante Kodierung sequenzieller Zeitrelationen und die Explizitheit der Schriftsprache .......................... 4. Nicht-ikonische Kodierung sequenzieller Zeitrelationen und die schriftliche Erzähltradition ................................. 5. Redundante und nicht-ikonische Taxisfälle und die Frage nach der Nähe eines Textes zum mündlichen / schriftlichen Usus ............................................................................................... 6. Ergebnisse ................................................................................. 7. Quellen ...................................................................................... 8. Literatur .................................................................................... VOLKMAR LEHMANN / CHRISTINA JANIK Zusammenfassung und Diskussion der linguistischen Untersuchungsergebnisse .................................................................. 1. Einleitung .................................................................................. 2. Epochenspezifika ..................................................................... 2.1 Koordination vs. Subordination .......................................... 2.2 Manipulative vs. deklarative Satztypen ............................. 2.3 Situativität vs. Konnektivität . ............................................. 2.4. Satzinitiale Positionierung von Adverbialia ..................... 2.5 Granularität .......................................................................... 2.6. Taxis .................................................................................... 3. Epochenübergreifende Phänomene ......................................... 3.1. Narrativer Basismodus ....................................................... 3.2 Adverbialtypen .................................................................... 3.3 Korrelation von Satzgliedfunktionen und Refernzformen ........................................................................... 3.4 Erzählerrede und Figurenrede ............................................ 4. Ausblick .................................................................................... 5. Literatur ....................................................................................

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Textkohärenz und Narration in realistischer und modernistischer russischer Literatur (einführende Betrachtungen) Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen ist die Frage: Gibt es Merkmale, die einen Text als „realistisch“ oder „modernistisch“ ausweisen? Anhand dieser Merkmale soll ein Text oder Textauszug dem Realismus, der Moderne oder keiner der beiden literarischen Strömungen zugeordnet werden können. Bevor wir uns diesen Parametern zuwenden und sie aufgrund zweier Textanalysen veranschaulichen, sind die Begriffe „Realismus“ und „Moderne“ einführend zu erläutern. Mit „Realismus“ und „Moderne“ bezeichnen wir zunächst zwei literarische Epochen 1. Der „Realismus“ verdrängt in Russland in den beginnenden vierziger Jahren des 19. Jh. die romantische Literatur, erreicht in den sechziger und siebziger Jahren seinen Höhepunkt und wird in den achtziger und neunziger Jahren vom „Modernismus“ (modernizm, Moderne im engeren Sinn) abgelöst. Diese neue Literatur, deren Hauptstoßrichtung den Namen „Symbolismus“ trägt, geht um die Zeit des ersten Weltkrieges mit den Dichterbewegungen „Akmeismus“ und – zentral – „Futurismus“, aber auch innerhalb der symbolistischen Bewegung selbst (Blok, Belyj), in die „Avantgarde“ über, die ihrerseits mit der Etablierung des „Sozialistischen Realismus“ ein vorläufiges Ende nimmt. Moderne verwenden wir hier also als Oberbegriff für „Modernismus“ (modernizm; ca. 1890–1910) und „Avantgarde“ (avangarda; 1910–19292). Dieser er1

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Zum umfassenderen Gebrauch des Begriffs der Moderne siehe Schönert 1986, 394: Schönert unterscheidet drei verschiedene Anfänge von Moderne, einen „denkgeschichtlichen“ (zwischen 1450 und 1600), einen „sozialgeschichtlichen“ (in der zweiten Hälfte des 18. Jh.) und einen „kunst- und literaturgeschichtlichen“ (mit der kunstprogrammatischen Fixierung von Modernität 1859 durch Baudelaire). Das Jahr 1929 bezeichnet nicht das Ende der Avantgarde-Literatur, man denke an die „Oberiuty“ (Charms, Vvedenskij, Zabolockij), an Platonov, Mandel’s˘tam u.a., sie verschwindet aber weitgehend aus der Öffentlichkeit oder wird institutionalisiert und damit in den sozrealistischen Kanon einverleibt.

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weiterte Epochenbegriff umfasst somit die Zeitspanne vom letzten Jahrzehnt des 19. Jh. bis zum Ende der 1920er Jahre. Mit „Epoche“ bezeichnen wir eine in sich vielgestaltige, zeitlich begrenzte und gegenüber anderen Epochen unterscheidbare kultur-, kunstund geistesgeschichtliche Strömung, die über den nationalen Rahmen hinaus Gültigkeit und Vergleichbarkeit erreicht. Gerade im Hinblick auf westeuropäische aber auch andere slavische Literaturen, in denen z.T. beträchtliche Phasenverschiebungen und Überschneidungen stattfinden, erscheint der Oberbegriff der Moderne als gemeinsamer Nenner sinnvoll. Die zu verwendenden Untersuchungsmethoden setzen freilich mit den epochalen Begriffen „Realismus“ und „Moderne“ jeweils auch eine Summe charakteristischer Merkmale voraus, die diese Zeitabschnitte als Kunstrichtung ausweisen. Mit „Realismus“ bezeichnen wir insofern die dominante poetologische Ausrichtung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in den 1890er Jahren ihren Primat an die Kunstrichtung der Moderne verliert. Auch diese ästhetische Konzeption macht die Trennung zwischen Modernismus und Avantgarde, die etwa Flaker (1976, 415) mit der avantgardistischen Überwindung des Transzendentalen im Symbolismus und des Dekorativen in der Sezession begründet und die er durch das Konzept der Desintegration des Realismus zugleich auch aufhebt (Flaker 1976, 311), in keiner Weise zwingend. Man kann vielmehr, insbesondere in Bezug auf die Prosa, von einer Radikalisierung des modernistischen Ansatzes (modernizm) in der Avantgarde sprechen. Was Japp (1986, 131) auf der Grundlage der deutschsprachigen Literatur formuliert, die Moderne werde von einer „Vielzahl von Modernismen und Avantgardismen pluralisiert“, gilt auch für Russland. Auch hier sind neben den genannten dominanten „Ismen“ (Symbolismus, Akmeismus, Futurismus u.a.), die sich vor allem auf das in Manifesten und Programmen geäußerte Selbstverständnis dieser Gruppierungen stützen, Beschreibungskonzepte in Betracht zu ziehen, die sich stärker an die Begriffe westeuropäischer Strömungen wie Naturalismus, Dekadenz, Impressionismus, Expressionismus u.a. anlehnen (vgl. etwa Golubkov 1992, aber bereits auch Maca 1926), ohne hierbei die zeitliche Trennlinie zwischen Modernismus und Avantgarde deutlich werden zu lassen. Die Merkmale, die eine Epoche charakterisieren, bilden eine nicht abgeschlossene Menge. Sie bestimmen die Epoche als Ganzes, d.h. die Summe der sie bildenden Texte. Ein Einzeltext hingegen vereinigt lediglich ein Mehr oder Weniger an konstitutiven Merkmalen. Je mehr Merk-

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male er bindet, umso näher kommt er einem realistischen bzw. modernistischen Prototypus. Prototypen einer Epoche sehen wir approximativ in Werken von Tolstoj und Turgenev (Vojna i mir, Anna Karenina, Otcy i deti) bzw. Belyj, Pil’njak oder Babel’ (Peterburg, Golyj god, Konarmija) realisiert. Wie die Werke Gonc˘arovs und Dostoevskijs nahelegen, kann ein Text aus der Epoche des Realismus Züge aufweisen, die ihn an die Romantik zurückbinden (Oblomov) oder ihn als modernistisch „avant la lettre“ erscheinen lassen (Dvojnik). Umgekehrt können Texte außerhalb der Epoche des Realismus als weitgehend realistisch taxiert werden (Radis¬c¬evs Putes¬estvie iz Peterburga v Moskvu), was sehr häufig bei nachrealistischen Autoren der Fall ist, die sich dem Einfluss modernistischer Verfahren weitgehend entziehen (Bunin, Gor’kij, Kuprin, Sµolochov). Bereits die genannten „Deviationen“ von einem Prototypus lassen erkennen, dass das Ziel der Untersuchung nicht in der Eruierung durchgehender Merkmale „realistischer“ und „modernistischer“ Literatur bestehen kann, vielmehr soll ein Bestand an Merkmalen die Beschreibung zweier Epochen ermöglichen, die ein Text mehr oder weniger intensiv vertritt. Die Ablösung des Realismus durch die Moderne ist in einer engeren als nur chronologischen Beziehung zu sehen, leitend ist hierbei für uns Lichacˇevs Vorstellung von ungleichen Paaren, in denen das zweite das erste voraussetzt und modelliert. Es handelt sich hier um eine Vorstellung, die sich in sehr unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Moderne wiederfindet. So bezeichnet Zµirmunskij (1969, 10) die Moderne als eine „Menge poetischer Mikrosysteme“, die nichts anderes seien als „Teile des universalen Makrosystems“, das dem Realismus entgegenstehe. Auf Zµirmunskij stützt sich Flaker (1976, 311), wenn er die Moderne als „Desintegration des Realismus“ bestimmt. Bürger (1992, 384) fasst die Moderne als eine ästhetische Kategorie auf, die man „als ganze nur dann in den Blick [bekommt], wenn man sie nicht mit einem ihrer einander widerstreitenden Impulse identifiziert, sondern sie als Prozess des Auseinandertretens in Extreme begreift“ (vgl. auch Fähnders 1998, 6). Und nach Gumbrecht (1978, 126) ist die ästhetische Moderne „Imperativ des Wandels“ und verfolgt seit ihren Anfängen eine Pathetik des Bruchs. Diese Versuche, nachrealistische Literatur ex negativo zu definieren, berufen sich maßgeblich auf die Modernisten selbst. Bereits mit der ersten Verwendung des Begriffs „Moderne“ im Berliner Literaturverein „Durch“ (1887) wird die Innovation als Wert an sich deklariert: „Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.“ (zit.

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nach Grimminger 1995, 14). 1890, zwei Jahrzehnte vor Marinettis futuristischem Manifest, fordert Hermann Bahr: „Es darf keine alte Meinung in uns bleiben, kein Betrug der Schule […]. Es muss ausgeholzt werden, dass der Morgenwind der Freiheit durchstreichen kann […]. Die Axt muss mörderisch übers Gestrüpp.“ (zit. nach Grimminger 1995, 21). Die literarische Moderne, so schließt Grimminger (1995, 21), entsteht und entwickelt sich in einer „dezentrierten Kunstszene, die sich von der Zentrale der Institutionen abgespalten hat“. Den Drang, sich von den Fesseln der Poetik und der ideologischen Leitlinien des 19. Jh. zu befreien, teilen auch die russischen Modernisten: Preobladaüwij vkus tolpy – do six por realistiçeskij. Xudoжestvennyj materializm sootvetstvuet nauçnomu i nravstvennomu materializmu. […] V suwnosti vse pokolenie konca XÛX veka nosit v du‚e svoej to жe vozmuwenie protiv udu‚aüwego mertvennogo pozitivizma, kotoryj kamnem leжit na na‚em serdce. (D. S. Merezˇkovskij. O pricˇinach upadka i o novych tecˇenijach sovremennoj russkoj literatury, Spb., 1893 // Literaturnye manifesty 1929, 11 und 13) […] pri povorotax k novym kul´turnym qpoxam […] ne moжet naçat´sä inaçe kak bespowadnym razru‚eniem idej uжe mertvyx, nevernyx, tormozäwix dviжenie mysli. Nuжno zanovo perepaxat´ i vskopat´ zemlü, na kotoroj uжe niçto ne rastet. I kakie by sväwennye ostanki ne popadalis´ pri qtom pod lemex soxi, prixoditsä prodolжat´ rabotu bez loäl´nyx zaminok – radi novogo poseva i buduwix vsxodov. (A. Volynskij. O simvolizme i simvolistach (Polemicˇeskie zametki). Severnyj vestnik, Spb., 1898, No 10–12, 218) A odin iz principov novogo napravleniä – vsegda itti po linii naibol´‚ego soprotivleniä. (N. Gumilev. Nasledie simvolizma i akmeizm 1913. // Literaturnye manifesty 1929, 42) […] do nas ne bylo slovesnogo iskusstva byli жalkie popytki rabskoj mysli vossozdat´ svoj byt, filosofiü i psixologiü (çto nazyvalos´ romanami, povestämi, poqmami i pr.) byli sti‚ki dlä vsäkogo doma‚nego i semejnogo upotrebleniä, no i sk u s st va s l o va ne bylo (A. Krucˇenych. Novye puti slova. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 65) No vrednaä literatura poleznee poleznoj: potomu çto ona – antiqntropijna, ona – sredstvo bor´by s obyzvestleniem, sklerozom, koroj, mxom, pokoem. (E. Zamjatin. O literature, revoljucii i e˙ntropii. 1923 // Zamjatin 1988, 293)

Die russische Moderne scheint geradezu maßgeblich ihre Identität in der Abgrenzung vom Realismus zu finden. Zweifellos stellt die ungeahnte Wirkung der Realisten (von Gogol’ und Gonc¬arov über Tolstoj und Dostoevskij bis zu Cµechov) weit über die Landesgrenzen hinaus einen beträchtlichen Faktor dieser Haltung dar, mitzuveranschlagen ist aber nicht weniger der veränderte Wahrnehmungshorizont der Literatur: Die Verfah-

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ren, die realistisches Erzählen charakterisieren und die Flaubert 1857 mit den Forderungen nach „impartialité“, „impassibilité“, „impersonnalité“ (Flaubert 1980, 691) auf einen programmatischen Punkt gebracht hat, finden ihre Vorlage in der Poetik nichtliterarischer (publizistischer, wissenschaftlicher, juristischer) Diskurse. Das bedeutet, dass die der Moderne vorlaufende Literatur von Verfahren bestimmt wird, die auch nach ihr das öffentliche Leben (Staat, Presse, Wissenschaft) beherrschen. Die realistische Literatur behält ihre Präsenz auch in nachrealistischer Zeit, und zwar nicht so sehr, weil sie auch nach 1900 weiter geschrieben wird, sondern weil ihre Verfahren mit nichtfiktionalen Texten identifiziert werden. Auf der Grundlage dieser Leseerfahrung kann der Realismus – in Erweiterung des Lichacˇevschen Ansatzes – als Primärstil bezeichnet werden. Der Realismus bildet somit eine Reihe mit den einfachen, rationalen und normsetzenden Stilen Romanik, Renaissance und Klassizismus, deren Verfahren durch die Sekundärstile Gotik, Barock und Romantik bzw. nunmehr Moderne aufgenommen und modelliert werden. Damit liegt nahe, dass manche Züge, die für die Moderne konstitutiv sind, bereits auch für frühere Sekundärstile bestimmend sein können. Man mag hier an die barocke Sprach- und Formkunst, an das „Wortflechten“ (pletenie sloves) oder an die Fokussierung des Subjekts in der Romantik denken. Wichtiger freilich ist, dass der Begriff des Primärstils nicht eine willkürliche, umkehrbare Reihenfolge impliziert, nach der etwa der Realismus in Hinsicht auf die Romantik als Sekundärstil zu sehen wäre. Der Primärstil stellt aus verschiedenen Gründen einen Default dar. Das ästhetische Normsystem, das von einer sekundären Formation deformiert und überstiegen wird, bezeichnet auch das Bestreben, eine Sprachnorm zu etablieren und zu stützen; hierin entspricht es dem Primat des Staates vor dem Individuum und dem Primat der Vernunft und des Verstandes vor anderen Erkenntnisquellen. Dieses hierarchische Verständnis der Epochenabfolge erlaubt die Konzentration unserer Darstellung auf die Moderne als Deviation des Default Realismus. Die Moderne als sekundäre, am Realismus orientierte Stilformation In der synthetisierenden Betrachtung der Moderne als sekundäre Stilformation gehen wir zunächst von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus: Wie ist im literarischen Text Erkenntnis möglich? Was ist die Rolle des Subjekts im Erkenntnisvorgang? Gibt es einen unabhängigen Erkenntnisgegenstand? Was leistet die Sprache im Erkenntnisvorgang? Die-

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se Hinsichten führen zu Fragen nach dem Autorbild, der Möglichkeit textextern begründeter Werturteile, der Semiotisierung des Textraums, den Auswirkungen auf die Gattungsgrenzen und den Leseakt. Die Frage nach dem Status der Sprache bildet dabei den Übergang zu enger literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten wie der Perspektive, der Textinterferenz, dem Grad und der Funktion der Metaphorisierung und der Rekurrenz. Die gewählten Parameter stehen nicht in einer systematischen Beziehung zueinander, sondern sind Resultat der Auseinandersetzung mit primären und sekundärliterarischen Texten, d.h. sie bilden einen Grundstock von Hinsichten, die ständig erweitert und verfeinert werden können. Die Erörterungen sind, soweit möglich, durch Zitate aus Manifesten und programmatischen Texten im Umkreis der Moderne zu belegen und zu illustrieren. 1. Rationalismuskritik und Kritik des rationalistischen Weltbildes Das dem Realismus zugrundeliegende Weltbild wird von den Modernisten als rationalistische Reduktion verworfen. Nicht nur der vernünftige Teil der menschlichen Seele soll für sie das Leben bestimmen, sondern auch das der Ratio nicht zugängliche Unterbewusste und Transzendente. Bereits der frühe Symbolismus vollzieht einen Paradigmenwechsel des Wirklichkeitsbezugs vom „äußeren“ (vie extérieure) zum „inneren Leben“ (vie intérieure), von den „états des choses“ zu den „états d’âme“ (Paul Bourget in: Deppermann 1997, 155). Mit dieser Defokussierung des Äußeren und Rationalen verblasst die Vision einer vernünftigen und gesetzmäßigen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Statt eines linearen Progresses erhalten nun zyklische Zeitvorstellungen und religiös oder mythisch begründete Wirklichkeitsmodelle Aufschwung. Die Kritik des rationalistischen Denkens ist dabei freilich nicht notwendigerweise auf ein transzendentes Sein ausgerichtet, sie kann auch als rationale Kritik an einem wissenschaftlich überholten, von der Erfahrung desavouierten Weltbild verstanden werden. V suwnosti vse pokolenie konca XÛX veka nosit v du‚e svoej to жe vozmuwenie protiv udu‚aüwego mertvennogo pozitivizma […]. «Mysl´ izreçennaä est´ loж´». V poqzii to, çto ne skazano i mercaet skvoz´ krasotu simvola, dejstvuet sil´nee na serdce, çem to, çto vyraжeno slovami. (D. S. Merezˇkovskij. O pricˇinach upadka i o novych tecˇenijach sovremennoj russkoj literatury, Spb., 1893 // Literaturnye manifesty 1929, 11, 13 und 15) Nyne iskusstvo, nakonec, svobodno.

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Teper´ ono soznatel´no predaetsä svoemu vys‚emu i edinstvennomu naznaçeniü: byt´ poznaniem mira, vne rassudoçnyx form, vne my‚leniä po priçinnosti. (V. Brjusov. Kljucˇi tajn. Vesy, 1,1904 // Literaturnye manifesty 1929, 29) Istinno svobodnoe v prirode ne estestvenno. Princip estestvennogo – neizbeжnye zakony prirody. Princip svobodnogo – çudo, kak naru‚enie qtix zakonov – çudo, kak protest protiv nasiliä prirody. (K. E∆rberg. Cel’ tvorcˇestva. Izd. „Rus. Mysl’“ 1913, str. 26–28, zit. in: I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 69) I kazalos´ by, moduläciä ritmov dolжna by nas naibolee daleko otvodit´ ot osmyslennoj vnätnosti pereжivanij myslej poqta; meжdu tem s naibol´‚eü vnätnost´ü v ee muzyke otraжen smysl dnevnoj (Zµezl Aarona // Belyj 1917, 200)

2. Verwerfung des Moralkodexes Mit der Rationalismuskritik und der Hinwendung zum Unbewussten geht die Verneinung traditioneller Normen und Moralvorstellungen einher; Maßstab des Lebens ist nicht mehr die allen Menschen gemeinsame Vernunft, die auf ein Leben in der Gemeinschaft (Familie) und Gesellschaft (Staat) abzielt, sondern das Individuum in seiner umfassenden, intelligiblen wie empirisch-sinnlichen Existenz. Die Bedürfnisse und Willensäußerungen dieses Einzelnen stehen über den allgemein verbindlichen und verbürgten Werten. Nicht: Wie muss sich der Einzelne verhalten, damit ein gemeinschaftliches Leben entsteht?, sondern: Wie kann er jenseits der Auflagen der Gesellschaft seinen Bedürfnissen gerecht werden? Das Schöne, dem er sich zuwendet, bildet einen vom Guten unabhängigen Bereich. Dieser Standpunkt äußert sich auch in Bezug auf den menschlichen Körper. Der Blick auf das Körperliche löst sich von den Normen der geltenden Moral, die es in seiner Nacktheit als „niedrig“ und „hässlich“ erscheinen ließen. Die Erotik wird zu einem thematischen Bereich der Literatur. Tolstoj (16. Jan. 1900) kommentiert seine Lektüre von Cµechovs Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“, von der Gor’kij am 5. Januar desselben Jahres schrieb, sie „erschlage den Realismus“ (Ubivaete realizm. Cµechov 1977, X, 425), mit den folgenden Worten: „Qto vse Nic‚e. Lüdi, ne vyrabotav‚ie v sebe äsnogo mirosozercaniä, razdeläüwego dobro i zlo. PreΩde robeli, iskali; teper´ Ωe, dumaä, çto oni po tu storonu dobra i zla, ostaütsä po sü storonu, to est´ poçti жivotnye.“ (L. N. Tolstoj 1985, XXII, 111) Mne kaжetsä, çto ne belletristy dolжny re‚at´ takie voprosy, kak bog, pessimizm i t.p. Delo belletrista izobrazit´ tol´ko, kto, kak i pri kakix obstoätel´stvax govorili ili dumali o boge ili pessimizme. XudoΩnik dolΩen byt´

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Robert Hodel ne sud´eü svoix personaΩej i togo, o çem govorät oni, a tol´ko bespristrastnym svidetelem. […] Tolpa dumaet, çto ona vse znaet i vse ponimaet; i çem ona glupee, tem kaΩetsä ‚ire ee krugozor. Esli Ωe xudoΩnik, kotoromu tolpa verit, re‚itsä zaävit´, çto on niçego ne ponimaet iz togo, çto vidit, to uΩ qto odno sostavit bol´‚oe znanie v oblasti mysli i bol´‚oj ‚ag vpered. [Pis’mo Cµechova A. S. Suvorinu (30 maja 1888g., Sumy) // A. P. Cµechov. O literature. M., 1955) Preobladanie moralistiçeskoj, qmpiristiçeskoj mysli (ävno pravil´noj) gubit stixotvorenie. (S. Bobrov. Liricˇeskaja tema. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 103) ˇizn´ byvaet moral´noj i amoral´noj. Iskusstvo ne znaet ni togo, ni drugogo… […] Iskusstvo est´ forma. SoderΩanie odna iz çastej formy. Celoe prekrasno tol´ko v sluçae, esli prekrasna kaΩdaä iz ego çastej. […] Glubina v soderΩanie – sinonim prekrasnogo. (A. Mariengof. Imazˇinizm. Mertvoe i zˇivoe. „Bujan-ostrov“ Imazˇinizm. Maj 1920 // Literaturnye manifesty 1929, 95) Die Kunst ist real wie das Leben und wie das Leben ohne Ziel und Sinn. (Lev Lunc, 1922; zit. nach Hansen-Löve 1983, 329) Lä‚ko (proletarskij pisatel´), çuvstvuüwij ko mne nepreodolimuü antipatiü (instinkt), vozraΩal mne s xudo skrytym razdraΩeniem: – Ä ne ponimaü, o kakoj «pravde govorit t. Bulgakov? Poçemu [vsü kriviznu] nuΩno izobraΩat´? (…)» Bol´‚e vsex qtix Lä‚ko menä volnuet vopros – belletrist li ä? (M. Bulgakov. Moj dnevnik. 1923g. Moskva 26 dekabrja. (V nocˇ’ na 27e) // Bulgakov 2000, t. 10, 120, 130)

3. Verschiebung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses Die Wirklichkeit modernistischer Kunst ist nicht mehr jener Objektbereich, der an und für sich gegeben ist, auf den sich das Erkenntnissubjekt einstellt, um ihn durch Beobachtung und intellektuelle Durchdringung in seiner Gesetzmäßigkeit zu erfassen und abzubilden. Wirklich ist nicht so sehr, was erscheint, sondern was durch die Erscheinung verdeckt ist. Um diese hintergründige Wirklichkeit zu erfassen, muss das erkennende Subjekt fähig sein, die allen gemeine, offenbare und empirisch-rational erfassbare Oberfläche zu durchstoßen und in den Bereich des Vor- und Überrationalen vorzudringen. Hierbei stellt der Blick nach innen, in die Welt der Triebe, Träume und kollektiven Bilder, ein zentrales Erkenntnisfeld dar. Prädestiniert für ein solches Erkennen sind folglich Subjekte, deren intuitiver Zugang nicht verschüttet ist, die fähig sind, ihre ganze Person auf eine verdeckte Wirklichkeit auszurichten (Symbolismus) oder die

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Welt nach ihrer Persönlichkeit, in der sich die Struktur der Wirklichkeit wiederfindet, zu formen oder zu konstruieren (Konstruktivismus). Das Subjektive – das körperlich und geistig vielfältig definierte Erkenntnissubjekt in seiner einmaligen Anlage und Verfassung – wird damit unabdingbarer Faktor der Erkenntnis. Diese Fokussierung des dezentrierten, nicht mehr bewusstseinsgesteuerten Subjekts führt mit einer gewissen Hybris auch die radikale Infragestellung und Negierung des Selbst mit sich, sei es in Form eines rigorosen Nihilismus und einer weitgehenden Dissoziierung des Ich, sei es in seiner Auflösung in ein übergeordnetes Prinzip. Simvolizm sväzan s celostnost´ü liçnosti kak samogo xudoΩnika, tak i pereΩivaüwego xudoΩestvennoe otkrovenie… (V. Ivanov. Mysli o simvolizme. 1912 // Literaturnye manifesty 1929, 39) I kaΩdyj znaet, – qto ne koneçnost´. Buduwij, neskoryj put´ literatury – bezmolvie, gde slovo zamenitsä knigoj otkrovenij – Velikoj Intuiciej. (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 67) £Podlinnyj“ xudoΩnik dolΩen znat´, çto suwestvovanie Ωizni (ili mira, kosmosa i pr.) voznikaet tol´ko posredstvom owuweniä, i çto takim obrazom çelovek imeet mistiçeskuü vlast´ nad mirom. Poqtomu podlinnyj xudoΩnik ne podçinäetsä vewi, ne kopiruet ävleniä, a proektiruet ix na samogo sebä. On – ne passivnyj zritel´ mira, ne razmnoΩaet ävlenij, ne vosproizvodit ix, a proizvodit, tvorit. Vot filosofskaä osnova qkspressionizma… (I. Maca. Iskusstvo sovremennoj Evropy. M.-L. 1926, 27)

4. Autorbild Mit der stärkeren Gewichtung des Erkenntnissubjekts im Erkenntnisvorgang verändert sich auch das Selbstverständnis des Dichters. Der moderne Autor schreibt seine Schlüsseltexte in bedeutend jüngeren Jahren als der realistische Autor. Die zentralen realistischen Romane werden in der Regel in einem deutlich reiferen Alter (ca. zwei Jahrzehnte später) geschrieben als Schlüsselwerke der Romantik und der Moderne:3

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Zahlen nach: Sovetskij e˙ncyklopedic˘eskij slovar’. M. 1987.

10 Romantik Lermontov: Geroj nas¬ego vremeni Pusˇkin: Boris Godunov

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26 26

Evgenij Onegin

23

Gogol’: Vecˇera na chutore bliz Dikan’ki

23

Realismus Goncˇarov: Oblomov Dostoevskij: Prestuplenie i nakazanie Brat’ja Karamazovy Tolstoj: Vojna i mir

47

Modernismus Remizov: Prud

28

45

Belyj: Peterburg (1914)

34

58

27

Anna Karenina

49

Voskresenie

71

Pil’njak: Golyj god Zosˇcˇenko: Rasskazy Nazara Il’icˇa , g. Sinebrjuchova Babel’: Konarmija Leonov: Barsuki

Leskov: Soborjane

41

Olesˇa: Zavist’

28

Saltykov-Sµcˇedrin: Gospoda Golovlevy

54

Platonov: Cµevengur

30

41

28

32 25

Hinzu kommt, dass die Hauptprotagonisten der realistischen Werke wie ihre romantischen Vorgänger fast allesamt im jugendlichen Alter sind, sodass eine beträchtliche zeitliche und mentale Distanz zur Erlebniswelt des Verfassers entsteht. Der moderne Autor sieht sich nicht mehr als umfassend gebildeten Schriftsteller, der philosophische, historische, soziologische, naturwissenschaftliche und psychologische Kenntnisse mit der Gabe der mimetischen Darstellung vereinigt und die Handlungen und Stimmungen seiner Figuren nachvollziehbar entwickelt und wertet. Statt seine Fähigkeiten und Ziele in einer Koexistenz mit Wissenschaftlern und Mitbürgern und sein Werk als Beitrag zu einer aufgeklärten Welt zu sehen, erfährt er sich als einzelner und vereinzelter Künstler, der sich für Sphären der menschlichen Natur interessiert, die gemeinhin nicht als Gegenstand des Wissens betrachtet werden. Er liebäugelt mit dem Bild des Wahrsagers, des Magiers, des Priesters, des Ekstatikers, des Ausgestoßenen, des Süchtigen, des Verrückten, der sein Leben der Kunst verschrieben hat, dessen bürger-

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liche (vernünftige) Existenz von der Kunst aufgezehrt wird und dessen Leben selbst eine Form von Kunst darstellt. Seine Person und seine persönliche Verfassung (Ekstase, nächtliche Existenz, religiöse Bestimmung), die auf Erkenntnis durch Intuition angelegt sind, werden zum genuinen Teil der Kunst, die er der Welt der Bürger und der bürgerlichen Vernunft entgegenhält. In dieser Dekontextualisierung als Bürger gründet auch die Überzeugung, einem auserwählten und elitären Kreis anzugehören, der den Massen der sich rasant entwickelnden urbanen Zentren entgegensteht. Diese Selbsteinschätzung wird (insbesondere angesichts der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Diskurse) auch als Hybris erfahren und kann durch eine ironisierende Geste gebrochen sein. Tolpa, dovol´naä ponätnym dlä nee fenomenalizmom sobytij, risovki, psixologii, ne podozrevaet vnutrennix çert, kotorye sluΩat fonom opisyvaemyx ävlenij; qti çerty dostupny nemnogim. Takov aristokratizm luç‚ix obrazcov klassiçeskogo iskusstva, spasaüwegosä pod liçnoj obydennosti ot vtorΩeniä tolpy v ego sokrovennye glubiny. (A. Belyj. Simvolizm kak miroponimanie. Mir iskusstva, 5, 1904 // Literaturnye manifesty 1929, 32) Edinstvennyj metod, kotoryj moΩet nadeät´sä re‚it´ qti voprosy – intuiciä, vdoxnovennoe ugadyvanie, metod, kotorym vo vse veka pol´zovalis´ filosofy, mysliteli, iskav‚ie razgadki tajn bytiä. […] iskusstvo est´ postiΩenie mira inymi, nerassudoçnymi putämi. Iskusstvo – to, çto v drugix oblastäx my nazyvaem otkroveniem. (V. Brjusov. Kljucˇi tajn. Vesy, 1,1904 // Literaturnye manifesty 1929, 27) […] qgo-futuristy 1912g. […] priznaüt: a) vosslavlenie Qgoizma, b) Intuiciü-Teosofiü, v) du‚u v kaçestve Istiny i g) Mysl´ do Bezumiä; ibo li‚´ Bezumie (v korne) individual´no i proroçestvenno. (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 54) I inogda, vo vremä neoΩidannogo intuitivnogo vospriätiä, pod vliäniem sovpadeniä moego dannogo nastroeniä s nastroeniem tvorca v moment tvorçestva, vdrug poznaü ä çto-to znaçitel´noe. Stanovitsä ponätnym i bessoznatel´nyj protest tvorca, i derzkoe svobodnoe preodolenie im kosnyx zakonov prirody […] (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 6) […] tvorçeskij process proxodit glavnym obrazom v tainstvennoj oblasti podsoznaniä. […] Nedarom Ωe mnogie pisateli, kak izvestno, pribegaüt vo vremä raboty k narkotikam, dlä togo çtoby usypat´ rabotu soznaniä i oΩivit´ rabotu podsoznaniä, fantazii. (E. Zamjatin. Psichologija tvorcˇestva. 1919–1920 // Zamjatin 1988, IV, 366–372, 368, 369)

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5. Erweiterung des Kulturkreises Indem die neue Literatur ihren Erkenntnisgegenstand nicht mehr an der Oberfläche, im einzelnen und konkreten Phänomen sucht, das sie mit anderen Sachverhalten zu größeren Einheiten und kausalen Zusammenhängen verkettet, sondern jenseits dieses phänomenalen Bereichs, um durch Intuition zum Wesentlichen und allem Gemeinsamen vorzustoßen, wächst das Interesse für das Andere und Ähnliche. Der modernistische Künstler entdeckt die fremde Kultur und das Fremde in der eigenen Kultur. Das Unzivilisierte, Triebhafte, Unbestimmte und Unkontrollierte in der eigenen Seele findet sein Pendant in „primitiven“, einheimischen und vor allem fremden Volkskulturen, deren materielle Güter im Zuge der Kolonialisierung massenweise in die Museen gelangen. Hierbei wird die Verhaftung des „Primitiven“ in seiner eigenen Tradition weitgehend ausgeblendet, im Vordergrund steht der Bruch mit den Kanones der zivilisierten Welt: Die „primitive“ Kunst fasziniert zwar durch ihre Reduktion und Abstraktion, durch ihr unmittelbares Erfassen des Wesentlichen, doch steht sie zugleich für die Abkehr von der westlichen, durch die Aufklärung geprägten Zivilisation und ihrer sozialen und ideologischen Verunsicherung wie auch für den Willen, in einen übergeordneten Zusammenhang (Natur, Religion) zurückzukehren. Das Interesse am Fremden – von der indischen Philosophie und japanischen Dichtung bis zur orientalischen Welt und afrikanischen Maske – verbindet sich mit dem Drang nach dem Ursprünglichen (vom byzantinischen Erbe bis zum „lubok“), die Internationalisierung der Kunst ist gekoppelt mit der Hinwendung zu den nationalen „Wurzeln“ (dem Indogermanischen, dem Panslavischen, dem Skythentum). Dieser Neoprimitivismus stößt im slavischen Osten (wie auch Süden), anders als in den meisten europäischen Ländern, auf eine reiche literarische und künstlerische Tradition (bylina, skazka, obrjadovaja i liricˇeskaja pesnja cˇastusˇka, lubok, ikona, narodnaja rez’ba i keramika). In Russland verändert sich insbesondere auch das Verhältnis zur altrussischen Literatur: Während Belinskij die russische Literatur als Ausdruck des Kunstwillens mit Kantemir oder gar erst Pusˇkin beginnen lässt, indem er sie im Geiste des aufklärerisch-positivistischen Fortschritts an Peters Reformen zurückbindet, und mit dieser Geringschätzung der altrussischen Literatur auch die Position seiner Gegner trifft, gehört die altrussische Literatur um die Jahrhundertwende zum allgemein anerkannten Fond der künstlerischen Werke (vgl. Lotman 1981, 185f.).

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Von einigen, vorbildlichen Poemen aus der Sammlung „Smert’ iskusstva“ sagt I. V. Ignat’ev: Tut pered nami vstaet qlektrizovannyj, prodolΩennyj impressionizm, osobenno xarakternyj dlä äponskoj poqzii. (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 67) Ego [äsnyj çistyj çestnyj zvuçnyj russkij äzyk] leçit´ i sover‚enstvovat´ nel´zä, i my sover‚enno pravil´no zaävili «brosit´ Pu‚kina, Tolstogo, Dostoevskogo i proç. s paroxoda sovremennosti» çtob ne otravläli vozdux! posle bylin i «slova o polku Igoreve» slovesnoe iskusstvo padalo i pri Pu‚kine ono stoälo niΩe çem pri Tred´äkovskom […]. Kogda xilomu i blednomu çeloveçku zaxotelos´ osveΩit´ svoü du‚u soprikosnoveniem s sil´no-korävymi bogami Afriki, kogda polübilsä emu ix dikij svobodnyj äzyk i rezec i zverinyj (po zorkosti) glaz pervobytnogo çeloveka, to sem´ nänü‚ek srazu zavopili i staraütsä oxranit´ zablud‚ee ditä […] (A. Kruc˘enych. Novye puti slova. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 65 und 70) Der originellste unter diesen Dichtern war Chlebnikov, der die urbane Zivilisation und die westliche Kultur verneinte, zur russischen und slavischen Mythologie zurückkehrte und eine Rückkehr zu den angeblich „montenegrinischen“ Quellen der russischen Sprache aus der Zeit vor Pus˘kin forderte. (Flaker 1976, 422)

6. Literarisierung der Wirklichkeit Die Orientierung an einer urtümlichen Kunst ist Teil eines dichten Netzes literarischer Allusionen, die den Zeichencharakter der Welt offenlegen. Neben die Schilderung einer unmittelbar erfahrbaren Wirklichkeit tritt eine vermittelte, gedeutete, bereits als Text vorhandene Welt. Der Autor sieht sich weniger einem Erkenntnisobjekt gegenüber als er sich in eine Reihe von Erkenntnissubjekten, i.e. Dichtern, einordnet. Seine Aussagen haben somit betont literarischen Charakter. Die Textwirklichkeit erscheint ästhetisiert und semiotisiert. Dieses Selbstbewusstsein einer ästhetischen Tradition ist nicht nur da gegeben, wo der eigene Text als Beitrag zum überindividuellen literarischen Gedächtnis verstanden wird (Akmeismus), sondern auch im offenen Bruch mit der literarischen Tradition (Futurismus). Lübov´ k organizmu i organizacii akmeisty razdeläüt s fiziologiçeskigenial´nym srednevekov´em. V pogone za utonçennost´ü XÛX vek poteräl sekret nastoäwej sloΩnosti. To, çto v XÛÛÛ veke kazalos´ logiçeskim razvitiem ponätiä organizma – gotiçeskij sobor – nyne qstetiçeski dejstvuet, kak çudoviwnoe – Notre Dame, est´ prazdnik fiziologii, ee dionisijskij razgul. (O. Mandel’sˇtam. Utro akmeizma. 1919. // Literaturnye manifesty 1929, 48) V krugax, blizkix k akmeizmu, çawe vsego proiznosät imena Íekspira, Rable, Villona i Teofilä Got´e. Podbor qtix imen ne proizvolen. KaΩdoe iz nix kraeugol´nyj kamen´ dlä sozdaniä akmeizma, vysokoe napräΩenie toj ili inoj

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Robert Hodel ego stixii. (N. Gumilev. Nasledie simvolizma i akmeizm. Apollon 1, 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 44)

7. Deklaration der Kunst Mit dem neuen Autorbild einher geht die veränderte Position des Dichters in der Öffentlichkeit. Der neue Dichter deklariert seine Kunst, er schließt sich in Gruppen zusammen, gibt Manifeste und Kampfschriften heraus, polemisiert gegen synchrone Strömungen, expliziert seine Abneigung und seine Vorbehalte gegenüber der Literatur der Alten, sucht die öffentliche Lesung und Deklamation, die Auseinandersetzung und Provokation. Die theoretische Beschäftigung mit seiner Materie ist genuiner Bestandteil seiner Kunst und seiner künstlerischen Identität und wirkt sich unmittelbar in seinen Werken aus. Er beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Sinn seines Schaffens (dabei neigt er dazu, die Kunst als selbstständigen und absoluten Bereich zu betrachten), mit der Rolle als Künstler, mit der Funktion der Sprache, mit formal-technischen Aspekten wie der Semantik des Metrums, der Erweiterung des Reims, der Interpunktion. Diese „Profilierung“ der Literatur und des Schreibens rührt daher, dass er mit der bürgerlichen Welt (dem gemeinen Menschenverstand, den Wissenschaften) nicht mehr den Gegenstand seiner Betrachtung teilt und sich damit auch selbst dekontextualisiert. Er hat die Existenz seiner Kunst als absoluten, dem pragmatischen Kontext enthobenen Bereich gleichsam beständig gegen den gesunden Menschenverstand zu behaupten und zu bestätigen. Die Kunst wird zur sekularisierten Religion, zur Offenbarung. Die rhetorisierte Deklamation ihrer Aussagen ersetzt deren Herleitung und psychologische Motivierung. Wie ein Produkt auf dem Markt seine Konkurrenten ausschalten muss, entsteht ein Wettbewerb der literarischen Schulen und Programme. Vosstanoviv svoü sväz´ s religioznym soznaniem, poqtiçeskoe tvorçestvo stanet kogda-nibud´, kak qto bylo v Qllade, luç‚im delom dlä çeloveka. (A. Volynskij. Dekadentstvo i simvolizm. 1900. // Literaturnye manifesty 1929, 23) Iskusstvo, moΩet byt´, veliçaj‚aä sila, kotoroj vladeet çeloveçestvo. V to vremä, kak vse lomy nauki, vse topory obwestvennoj Ωizni ne v sostoänii razlomat´ dverej i sten, zamykaüwix nas, – iskusstvo tait v sebe stra‚nyj dinamit, kotoryj sokru‚it qti steny, bolee togo – ono est´ tot sezam, ot kotorogo qti dveri rastvorätsä sami. (V. Brjusov. Kljuc˘i tajn. Vesy, 1,1904 // Literaturnye manifesty 1929, 29-30)

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Iskusstvo organizuet posredstvom Ωivyx obrazov social´nyj opyt ne tol´ko v sfere poznaniä, no takΩe v sfere çuvstva i stremlenij. Vsledstvie qtogo, ono samoe moguwestvennoe orudie organizacii kollektivnyx sil, v obwestve klassovom – sil klassovyx. (Proletariat i iskusstvo. Proletarskaja kul’tura, 5,1918 // Literaturnye manifesty 1929, 130) Podobno tomu, kak francuzy iskali novyj, bolee svobodnyj stix, akmeisty stremätsä razbivat´ okovy metra propuskom slogov, bolee, çem kogda-libo, svobodnoj perestanovkoj udarenij, i uΩe est´ stixotvoreniä, napisannye po vnov´ produmannoj sillabiçeskoj sisteme stixosloΩeniä. (N. Gumilev. Nasledie simvolizma i akmeizm. Apollon 1,1913. // Literaturnye manifesty 1929, 41) Tol´ko m y – l i c o n a ‚ e go Vremeni. Rog vremeni trubit nami v slovesnom iskusstve. (A. Burljuk, A. Krucˇenych, V. Majakovskij, V. Chlebnikov. Posˇcˇecˇina obsˇcˇestvennomu vkusu. 1912 // Literaturnye manifesty 1929, 77) Futuristiçeskoe razorvannoe soznanie otxodit v oblast´ «milyx» kur´ezov. (Imazˇinizm. Pocˇti deklaracija, 1923 // Literaturnye manifesty 1929, 123)

8. Hybridisierung der Gattungen Der natürliche Hang der Prosa, die begriffliche Funktion der Sprache zu betonen, so wie es in der alltäglichen Kommunikation meist geschieht, geht im Realismus mit der Ausrichtung auf eine unabhängig gegebene Wirklichkeit und auf der Subjektseite mit dem Primat des Intelligiblen einher. Darüber hinaus versteht sich der Realismus als „prosaische“ Hinwendung zum Menschen auf der Straße, dessen Bedeutung mit der Emanzipation und dem Primat der Prosa angehoben wird. Dieser Einzelne will in seiner alltäglichen sozialen und materiellen Umgebung geschildert sein, und zwar so, dass seine Handlungen und Gedanken real, d.h. wahrscheinlich und psychologisch nachvollziehbar werden. Die Situierung des Menschen in ein umfassendes soziales Milieu und die glaubwürdige Motivierung seiner Entfaltung und Entwicklung bringt umfangreiche Texte hervor. Der Roman wird zum dominanten Genre. Die Moderne dagegen verwirft prinzipiell die Möglichkeit und die Intention, die Sprache auf ihre begriffliche Funktion zu reduzieren. Sprache ist, will sie nicht bloß oberflächliche Phänomene beschreiben, notwendigerweise poetisch und autoreferentiell. Der Unterschied zwischen Poesie und Prosa wird hinfällig. Beiden Gattungen liegt eine profilierte Sprache zugrunde, die neben der begrifflichen auch die bildliche und lautliche Seite instrumentalisiert. Durch diese umfassende Integration des sprachlichen Zeichens gerät die Literatur in die Nähe anderer Künste, insbesondere der Musik, aber auch der Malerei.

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Robert Hodel Robeü i boüs´, çto moä «Step´» vyjdet neznaçitel´noj. Pi‚u ä ee ne spe‚a, kak gastronomy edät düpelej: s çuvstvom, s tolkom, s rasstanovkoj. Otkrovenno govorä, vyΩimaü iz sebä, natuΩus´ i naduvaüs´, no vse-taki v obwem ona ne udovletvoräet menä, xotä mestami i popadaütsä v nej ”stixi v proze”. (Brief Cµechovs an A. N. Plesˇcˇeevu vom 23.1.1888 // A. P. Cµechov 1949, t. 14) Da, i çetyre liriçeskix stixa mogut byt´ prekrasnee i pravdivee celoj serii grandioznyx romanov. Sila qtix meçtatelej v ix vo zm u w e n i i . (D. S. Merezˇkovskij. O pricˇinach upadka i o novych tecˇenijach sovremennoj russkoj literatury, Spb., 1893 // Literaturnye manifesty 1929, 13) Ne sobytiämi zaxvaçeno vse suwestvo çeloveka, a s i m vo l a m i i n o go . Muzyka ideal´no vyraΩaet simvol. Simvol poqtomu vsegda muzykalen. […] Muzyka okno, iz kotorogo l´üt v n a s o ç a r o v a t e l ´ n y e p o t o k i V e ç n o st i i b r y z Ωe t m a g i ä . (A. Belyj. Simvolizm kak miroponimanie. Mir iskusstva, 5,1904 // Literaturnye manifesty 1929, 30–31) V iskusstve net ni smysla, ni soderΩaniä, i ne dolΩno byt´. Poqziä i proza qto odno i to Ωe. Tipografiçeskaä privyçka ne kriterij dlä razdela. Literatura – qto iskusstvo soçetaniä samovityx slov. (V. Sµersˇenevicˇ. Dva poslednich slova. Zelenaja ulica, 1916 // Literaturnye manifesty 1929, 73) Ko vremeni poävleniä neorealistov – Жizn´ usloΩnilas´, stala bystree, lixoradoçnej, amerikanizirovalas´. […] V sootvetstvii s qtim novym xarakterom Ωizni – neorealisty nauçilis´ pisat´ sΩatej, koroçe, otryvistej, çem qto bylo u realistov. Nauçilis´ v desäti strokax skazat´ to, çto govorilos´ na celoj stranice. Nauçilis´ soderΩanie romana – vtiskivat´ v ramki povesti, rasskaza. (E. Zamjatin. Sovremennaja russkaja literatura. 1918 // Zamjatin 1988, IV, 348–365, 360) Kubizm grammatiki – qto trebovanie trexmernogo slova. Prozraçnost´ slova kliç imaΩinizma. Glubina slova – trebovanie kaΩdogo poqta. (V. Sµersˇenevicˇ. 2X2=5. Lomat’ grammatiku. Fevral’ 1920 // Literaturnye manifesty 1929, 112) No dlä menä äsno: meΩdu poqziej i xudoΩestvennoj prozoj – net nikakoj raznicy. […] Vnutrennie izobrazitel´nye priemy v poqzii i proze – te Ωe: metafory, metonimii i t.d. Vne‚nie izobrazitel´nye priemy v poqzii i v proze – kogda-to raznilis´. No teper´ u nas est´ stixi bez rifm. Est´ stixi bez opredelennogo ritma – svobodnyj stix. S odnoj storony, v novej‚ej xudoΩestvennoj proze – my çasto naxodim pol´zovanie opredelennym ritmom; s drugoj – v proze my naxodim çastoe pol´zovanie muzykoj slova – ves´ arsenal novej‚ej poqzii: alliteracii, assonansy, instrumentovku. (E. Zamjatin. O jazyke. 1920– 1921 // Zamjatin 1988, IV, 373–389, 373)

9. Leseakt Der Glaube des realistischen Autors an die Diskursfähigkeit des Menschen und damit auch an die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Fort-

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schritts setzt in jedem Kunstwerk einen Kern voraus, der die Kunst transzendiert. Diese Orientierung auf etwas, das „außerhalb“ ist, das in der denotativen Bedeutung eines jeden Wortes liegt, wirkt sich auch im Leseakt aus. Der Leser realistischer Werke fixiert eine autonome, kohärente, kausal-logisch bestimmte Wirklichkeit. Jedes Textelement ist in Bezug auf diese einheitliche Welt zu befragen, muss Teil dieser Ordnung werden. Das modernistische Werk mit seiner Poetik der Suggestion, der Andeutung und des nicht zu Ende Sprechens (nedoskazannost’) hingegen zwingt den Leser auf die Sprache selbst zu hören, auf ihren Klang, ihren Rhythmus und das Zusammenspiel ihrer Bilder. Die Orientierung an einem Handlungs- und Entwicklungsrahmen, der zum Weiterlesen drängt, der nach Klärung offener Fragen und nach Bestätigung von Vermutungen und Hypothesen über den weiteren Verlauf verlangt, ist stark zurückgenommen. Der Leser verliert oft die Orientierung, schweift ab, muss nachlesen, rezipiert die Leseabschnitte eher als selbstständige Gedichte denn als Teile eines Prosaganzen. Wie die Welt in Perspektiven und Fragmente zerfällt und wie das Autorsubjekt nur mehr eine deklarative Einheit erreicht, wird auch der Leser in der Lektüre dissoziiert. «[…] Naprimer: kak mnogo moΩno vyrazit´ odnim li‚´ kucen´kim dvusloΩeniem «Vesna». Ot bukvy «s» poluçaetsä predstavlenie solneçnosti, bukvoj «a» – radost´ dostiΩeniä dolgoΩdannosti i pr. – celaä prostrannaä poqma». U kaΩdogo çitatelä, protim, moΩet byt´ individual´noe vospriätie, ibo «sovremennym tvorçestvom predostavlena polnaä svoboda liçnomu postigu». (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 67) Cel´ü iskusstva ävläetsä dat´ owuwenie vewi, kak videnie, a ne kak uznavanie; priemom iskusstva ävläetsä priem «ostraneniä» vewej i priem zatrudnennoj formy, uveliçivaüwij trudnost´ i dolgotu vospriätiä, tak kak vosprinimatel´nyj process v iskusstve samocelen i dolΩen byt´ prodlen; iskusstvo est´ sposob pereΩit´ delan´e vewi, a sdelannoe v iskusstve ne vaΩno. (V. Sµklovskij. Iskusstvo kak priem. 1916. // Striedter 1969, 2–35, 14)

10. Eigenthematisierung der Sprache Die Sprache als Medium der Kommunikation wird in der Moderne von zwei Seiten her unter Beschuss genommen. Für die einen ist sie zur Übertragung rein logischer Gedanken zu ungenau und muss in Richtung eines mathematischen Begriffssystems diszipliniert werden 4, für die anderen ist 4

So sieht bereits Gottlieb Frege 1879 eine Aufgabe der Philosophie in der Brechung der „Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist“, indem sie „die Täuschungen

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sie den feinen Nuancen und Tiefen der menschlichen Seele gegenüber unempfindlich geworden und bedarf einer Erneuerung durch den Dichter.5 In dieser Aura der Sprachskepsis kommt der Literatur eine neue Bedeutung zu: Die für die Modernisten maßgebliche Welt ist durch die Ratio allein nicht nur nicht erschließbar, sie eröffnet sich Autor wie Leser erst im Medium der Sprache. Die Sprache ist kein widerstandsloses Vehikel des Denkens, das vor ihr und unabhängig ihrer existiert und in unterschiedlicher Weise verbalisiert werden kann, die Sprache ist in ihrer einmaligen, über Generationen hinweg gewachsenen Ausgestaltung Quelle der Erkenntnis. Der Dichter „horcht“ auf sie, „reinigt“ sie von unnötigem Ballast, um die ihr eingeschriebene ursprüngliche Erfahrung wieder aufleben zu lassen, oder „schafft“ und „konstruiert“ sie (die bestehenden Formen radikal verneinend) von Grund auf neu. Da die bürgerliche Existenz eines Schriftstellers ganz in der künstlerischen aufgeht, bleibt seine Sprache auch in vor- oder nichtliterarischen Texten (Tagebüchern, Manifesten bis hin zur mündlichen Gesprächssituation) profiliert. Der exaltierte Ausdruck ist nicht Zierde und Ornament, Erkenntnis ist notwendigerweise an eine „profilierte“, „autothematische“ Sprache gebunden. Einen extremalen Ausdruck hat diese Tendenz, die Sprache vom Objektbereich (Denotat) abzukoppeln, in der Forderung nach handschriftlichen Texten gefunden, in denen das Wort in seiner wiedergewonnenen Materialität eine eigene Sinndimension entfaltet. Mysl´ i reç´ ne uspevaüt za pereΩivaniem vdoxnovennogo, poqtomu xudoΩnik volen vyraΩat´sä ne tol´ko obwim äzykom (ponätiä), no i liçnym (tvorec individualen), i äzykom, ne imeüwim opredelennogo znaçeniä (ne zastyv‚im), zaumnym. Obwij äzyk sväzyvaet, svobodnyj pozvoläet vyrazit´sä polnee […]. (A. Krucˇenych: Deklaracija slova, kak takovogo. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 63)

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aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet“ (Gottlieb Frege. Begriffsschrift – eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Zit. nach W. Schiffels, A. Estermann. Nichtfiktionale deutsche Prosa 1870–1918. // Kreuzer 1976, 225–264, 232). Wie Fritz Mauthner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1901/02; Die Sprache, 1906) zeigt, kann diese Haltung durchaus mit einer radikalen nominalistischen Position zusammengehen. Für Mauthner ist die Sprache stets metaphorisch und subjektiv, da Worte Erinnerungen sind, die nie identisch sein können. Alle Anwendung von Sprache ist somit „Dichtung“, objektive Erkenntnis ist nicht möglich. (zit. nach: Kreuzer 1976, 233)

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My sçitaem slovo tvorcom mifa, slovo, umiraä, roΩdaet mif i naoborot. (D. Burljuk, E. Guro, N. Burljuk, V. Majakovskij, E. Nizen, V. Chlebnikov, V. Livsˇic, A. Krucˇenych. Predislovie. Sadok Sudej. 1914 // Literaturnye manifesty 1929, 79) No sli‚kom çasto my upuskaem iz vidu, çto poqt vozvodit ävlenie v desätiznaçnuü stepen´ i skromnaä vne‚nost´ proizvedeniä iskusstva neredko obmanyvaet nas otnositel´no çudoviwno-uplotnennoj real´nosti, kotoroj ono obladaet. Qta real´nost´ v poqzii – slovo, kak takovoe. Sejças, naprimer, izlagaä svoü mysl´ po vozmoΩnosti v toçnoj, no otnüd´ ne v poqtiçeskoj forme, ä govorü v suwnosti soznaniem, a ne slovom. (O. Mandel’sˇtam. Utro akmeizma. 1919. // Literaturnye manifesty 1929, 45) A ved´ sprosite lübogo iz reçarej, i on skaΩet, çto slovo, napisannoe odnim poçerkom ili nabrannoe odnoj svincavoj, sovsem ne poxoΩe na to Ωe slovo v drugom naçertanii. […] Est´ dva poloΩeniä: 1) Çto nastroenie izmenäet poçerk vo vremä napisaniä. 2) Çto poçerk, svoeobrazno izmenennyj nastroeniem, peredaet qto nastroenie çitatelü, nezavisimo ot slov. […] Vew´, perepisannaä kem-libo drugim ili samim tvorcom, no ne pereΩivaüwim vo vremä perepiski sebä, utraçivaet vse te svoi çary, kotorymi snabdil ee poçerk v ças «groznoj v´ügi vdoxnoveniä». (V. Chlebnikov, A. Krucˇenych. Bukva kak takovaja. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 60–61)

Symptome dieser Profilierung sind: a) das mit Baudelaire6 geforderte Zusammengehen von Begriff, Bild und Laut 7: Der sprachliche Ausdruck erhält durch den Einbezug seiner bildlichen und lautlichen Seite jenen Grad der Motiviertheit, der die Sprache der Poesie (im Sinn der „poie¯sis“) charakterisiert. Er ist weniger Träger von Gedanken als „geschaffenes“, „gemachtes“ Werk. Mit der Betonung des Bildlichen und Lautlichen wird der Wahrnehmungsvorgang sinnlicher gemacht, d.h. über das ausschließlich rationale Verstehen hinausgehoben und an ein ästhetisches Empfinden (im Sinne der griechischen und forma6

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Die zweite Strophe des 1857 verfassten Sonetts „Correspondances“ lautet: „Comme de longs échos qui de loin se confondent/Dans une ténébreuse et profonde unité,/Vaste comme la nuit et comme la clarté,/Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.“ (Baudelaire. Poésies choisies. Paris 1936). Baudelaire (1855) zitiert im Salon de 1846 aus E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana, wo es heißt: „Ce n’est pas seulement en rêve… c’est encore éveillé… que je trouve une analogie et une réunion intime entre les couleurs, les sons et les parfums.“ Vadim Sµersˇenevicˇ unterscheidet in seinem „Otkrytoe pis’mo M. M. Rossijanskomu“ (1913) neben dem „slovo-zvuk“, dem „slovo-soderzˇanie“ und dem „slovo-obraz“ auch ein „slovo-zapach“ (vnutrennjaja fizionomija slova) (Manifesty i programmy… 1967, 95).

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listischen „aisthe¯sis“) geknüpft. An die Stelle des rein intellektuellen Verständnisses tritt die Suggestion (vgl. suggerere – ‚von unten herantragen’). Verfahren dieser suggestiven Wirkungskraft der Sprache sind Euphonie, Metrisierung, Paronomasie, syntaktische Parallelismen, Postpositionen, Ellipsen, graphische Gestaltung, Synästhesie (Farbenhören, Klängesehen) u.ä. Davno pora znat´, çto kaΩdaä bukva imeet ne tol´ko zvuk i cvet, – no i vkus, no i ne razryvnuü ot proçix liter zavisimost´ v znaçenii, osäzanie, ves i prostranstvennost´. (I. V. Ignat’ev. Ego-futurizm. 1913 // Literaturnye manifesty 1929, 67) Glavnoe zadanie v napisanii – çtoby zvuk i kraska vskriçali smyslom, çtoby tendenciä byla zvuçna i krasoçna. (A. Belyj. // Biely, Gorky, Zamiatin 1930, 20) V oblasti garmoniçeskix priemov – naibolee rasprostranennyj qto tak nazyvaemaä instrumentovka, to est´ postroenie celoj frazy ili daΩe räda fraz na opredelennuü glasnuü ili soglasnuü, çto vpolne sootvetstvuet postroeniü v opredelennoj tonal´nosti. (E. Zamjatin. O stile. Undatiert. // Zamjatin 1988, IV, 581–588, 588) Esli vy poprobuete proiznosit´ vslux slova s udareniämi na poslednem sloge – nazovem ix uslovno anapestiçeskimi, to vy uvidite, çto est´ potrebnost´ pervye proiznesti bystree, a vtorye medlennee. Qto estestvenno: pri proiznesenii slova est´ stremlenie poskoree najti oporu v udarenii. V anapestiçeskix slovax – qta opora v konce – i estestvennaä tendenciä poskoree proskoçit´ neudaräemye stupeni; naoborot, v slovax daktiliçeskix – opora uΩe dana v naçale, i poqtomu spokojnee, medlennee proiznosätsä neudaräemye sloga. (E. Zamjatin. O ritme v proze. Undatiert. // Zamjatin 1988, IV, 594–599, 597)

b) der Bruch mit der literatursprachlichen Norm: Da der informative, diskursiv-logisch mitteilbare und verhandelbare Gehalt einer Aussage nicht im Vordergrund steht und für ein intuitives Erkennen hinderlich ist, wird die semantisch-logische Struktur des Ab-satzes und der syntaktisch-logische Bau eines Satzes, die beide die begriffene Ordnung der Wirklichkeit widerspiegeln, systematisch zerschlagen. Verfahren der sprachlichen Deformation sind: nichtneutrale Wortstellung, Parzellierung, Asyndese, Ellipse, normwidrige, rhythmisch bestimmte Interpunktion, auffällige Rekurrenz, sozial und regional markierte Lexeme, Neologismen 8, Nicht-Isosemie9, Transposition. Die Hypotaxe wird entwe8

Auffällige Lexeme im modernistischen Kontext sind in erster Linie Neologismen, aber auch Dialektismen und Soziolektismen. Die letzteren spielten zweifellos bereits im Realismus eine gewichtige Rolle, man denke beispielsweise an die ethnographischen Beschreibungen eines Leskov. Dennoch ist ihre Funktion im realistischen Text eine ande-

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der radikal abgebaut, sodass der zusammengesetzte interpunktorische Satz durch Nebenordnung nicht explizierbare, i.e. kausal-logisch nicht fassbare „Verbindungen“ suggeriert, oder sie wird in einem Ausmaß ausgebaut, das den Rahmen der logisch geordneten Periode sprengt und damit wiederum ikonisch den Verlust der gedanklichen Durchdringung der Wirklichkeit manifest macht. Der zu weitgehend selbstständigen Einheiten zerstückelte, das einzelne Wort hervorhebende Satz („Wortprosa“) wird so zum Ausdruck des zerstörten Weltbildes des 19. Jahrhunderts, zum Symptom der Auflösung der Welt (vgl. Kap. „Absatzstruktur und Satzbau“). Als eines der vier Rechte der neuen Poeten deklarieren die Verfasser der „Posˇcˇecˇina obsˇcˇestvennomu vkusu“ (1912) den „unüberwindbaren Hass auf die vor ihnen existierende Sprache“ (Nepreodolimuü nenavist´ k suwestvovav‚emu do nix äzyku; Literaturnye manifesty 1929, 78). Und enger auf die Syntax bezogen: My pervye skazali, çto dlä izobraΩeniä novogo i buduwego nuΩny sover‚enno novye slova i novoe soçetanie ix. Takim re‚itel´no novym budet soçetanie slov po ix vnutrennim zakonam, koi otkryvaütsä reçetvorcu, a ne po pravilam logiki ili grammatiki, kak qto delalos´ do nas. […] Poqtomu my ras‚atali grammatiku i sintaksis, my uznali çto dlä izobraΩeniä golovokruΩitel´noj sovremennoj Ωizni i ewe bolee stremitel´noj buduwej – nado po novomu soçetat´ slova i çem bol´‚e besporädka my vnesem v postroenie predloΩenij – tem luç‚e. (A. Krucˇenych, 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 68)

Als Mittel der „Aufrüttelung“ (ras‚atat´) der Syntax wird auch die Interpunktion mobilisiert: My ras‚atali sintaksis. […] Nami uniçtoΩeny znaki prepinaniä, – çem rol´ slovesnoj massy – vydvinuta vpervye i osoznana. (D. Burljuk, E. Guro, N. Burljuk, V. Majakovskij, E. Nizen, V. Chlebnikov, V. Livsˇic, A. Krucˇenych: „Sadok sudej“, 1914 // Literaturnye manifesty 1929, 79) Suwestvitel´noe, suwestvennoe, osvoboΩdennoe ot grammatiki ili, esli qto nevozmoΩno, veduwee graΩdanskuü vojnu s grammatikoj – vot glavnyj material poqtiçeskogo tvorçestva. […]

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re. Während sie hier Personen und ihre Rede charakterisieren, dem Autor und seiner Standardsprache also gegenüberstehen, werden sie im modernistischen Text vom Autor weitgehend subjektiv vereinnahmt, sodass die anscheinend „fremde“ zur „eigenen“ Rede wird. In der Verwendung dieser lexikalischen Schichten manifestiert sich das neoprimitivistische Verhältnis zum „Ursprünglichen“ und „Autochthonen“. Zum Begriff der Nicht-Isosemie (bzw. Transformation) siehe Kap. „Zur Funktion des Symbolischen“.

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Robert Hodel Po tomu Ωe principu, po kotoromu futuristy borolis´ protiv punktuacii, my dolΩny borot´sä protiv punktuacii arxitekturno-grammatiçeskoj: protiv predlogov. […] Lomaä grammatiku, my uniçtoΩaem potencial´nuü silu soderΩaniä, soxranää preΩnüü silu obraza. (V. Sµersˇenevicˇ. 2X2=5. Fevral’ 1920 // Literaturnye manifesty 1929, 107, 108 und 110) Sovremennyj narodnyj äzyk – qto preΩde vsego äzyk razgovornyj, dialogiçeskij. A osnovnaä osobennost´ dialogiçeskogo äzyka – bud´ qto narodnyj ili nenarodnyj – qto otsutstvie periodov i pridatoçnyx predloΩenij vtoroj i tret´ej stepeni. […] Sledstvie qtogo ävläetsä to, çto v narodnom äzyke poçti sover‚enno otsutstvuüt takie soüzy, kak ”kogda”, ”tak kak”, ”potomu çto” […]. (E. Zamjatin. O jazyke. 1920-1921. // Zamjatin 1988, IV, 373–389, 377) Staryx medlennyx, dormeznyx opisanij net: lakonizm – no ogromnaä zaräΩennost´, vysokovol´tnost´ kaΩdogo slova. (…) i sintaksis stanovitsä qlliptiçen, letuç, sloΩnye piramidy periodov razobrany po kamnäm samostoätel´nyx predloΩenij. V bystrote dviΩeniä kanonizirovannoe, privyçnoe uskol´zaet ot glaza: otsüda – neobyçnaä, çasto strannaä simvolika i leksika. Obraz – ostr, sintetiçen, v nem – tol´ko odna osnovnaä çerta, kakuü uspee‚´ primetit´ s avtomobilä. (E. Zamjatin. O literature, revoljucii i e˙ntropii. 1923 // Zamjatin 1988, IV, 296) […] Gogol´ dokazyvaet: revolüciä äzyka moΩet obojtis´ bez soblüdeniä vsex grammatiçeskix çopornostej, potomu çto äzyk – v «äzyke äzykov»: v mowi ritmov i v vybleskax zvukosloviä, ili v dejstviäx oplamenennoj Ωizni, – ne v pravilax vovse; zvukopis´, perexodäwaä v Ωivopis´ äzyka, est´ vyxvativ‚eesä iz vulkana letuçee plamä. (A. Belyj. Masterstvo Gogolja. 1934 // Belyj 1934, 9) U Gogolä fraza vzorvana, razmetannaä oskolkami pridatoçnyx predloΩenij, podçinennyx glavnomu, sopodçinennyx meΩdu soboj […]. No dlä frazy Gogolä ne tipiçna i periodiçeskaä reç´: «kogda…, kogda…, togda»; v gotiçeskom periode Karamzina na pridatoçnyx «kogda – kogda», kak na strel´çatyx dugax, voznositsä vverx glavnoe predloΩenie; Gogolem razorvan period Karamzina; räd pridatoçnyx predloΩenij stanovätsä poboçnymi glavnymi; no stroj ix obrazuet – celoe povtorov. (Belyj 1934, 8)

c) Erweiterung der Sprachregister Bereits der Realismus wendet für die Figurencharakterisierung breit das Mittel der ungewöhnlichen Sprache an (Dialekte, Soziolekte, Übermaß an Fremdwörtern u.ä.). Hierbei handelt es sich freilich ausschließlich um Figuren, die regional, sozial oder ideologisch vom Autor distanziert und in einer gewissen Weise deklassiert sind. Die Rede des auktorialen Erzählers hingegen bleibt wie die Rede der ethisch-ideologisch gestützten Figuren an eine merkmallose Standardsprache gebunden. Diese Rede steht nicht in der Funktion, Repräsentanten einer bestimmten Bildungsschicht zu porträtieren, sie hat vielmehr den Status einer Metasprache und dient dem Aus-

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druck der Gedanken: Der Leser hält sich nicht darüber auf, wie, d.h. in welchem Register etwas gesagt ist, er bleibt auf das Was fixiert. In der Moderne beginnt sich die Sprache der Straße und der entlegenen Landstriche systematisch in der Erzählerrede auszubreiten. Vermittelnd wirkt dabei der realistische „skaz“ (Gogol’, Leskov), auf den sich die Modernisten (zunächst Remizov, später Zamjatin u.a.) berufen. Mit dieser Expansion verändert sich zusehends der Status der nichtstandardsprachlichen Signale: Sie sind nicht mehr so sehr Symptom eines dissoziierten Bewusstseins, als vielmehr Teil einer erweiterten auktorialen Rede. Damit wirkt die exaltierte Erzählerrede im Vergleich zur dialektal oder soziolektal gefärbten Rede des realistischen Erzählers und Protagonisten allgemeingültiger, umgekehrt gerät sie als „autorisierte“ und zugleich „exaltierte“ Rede in den Sog des Subjektiven. Und darin wird der Hiatus zwischen Sprache und Welt offenkundig. PoloΩenie o tom, çto äzyk dialogov dolΩen byt´ äzykom izobraΩaemoj sredy – uΩe stalo besspornym. No ä rasprostranäü qtot tezis – na vse proizvedenie celikom: äzykom izobraΩaemoj sredy dolΩny byt´ vosproizvedeny i vse avtorskie remarki, vse opisaniä obstanovki, dejstvuüwix lic, vse pejzaΩi. (E. Zamjatin. O jazyke. 1920–1921 // Zamjatin 1988, IV, 373–389, 376)

Hierbei geht es Zamjatin nicht bloß um eine effizientere Darstellung eines „Milieus“, er sieht darin auch eine notwendige Demokratisierung der Gesellschaft: Vopros o razgovornom äzyke v xudoΩestvennoj proze – v suwnosti govorä – vopros social´nogo porädka, kak qto ni paradoksal´no na pervyj vzgläd. No qto tak. Esli my oglänemsä nazad, my uvidim: çem bliΩe bylo obwestvo k feodal´nomu stroü, tem bol´‚e, rezçe bylo razliçie meΩdu literaturnym i razgovornym äzykom. […] Poävilis´ novye admiraly ‚i‚kovy, kotorye tak Ωe r´äno zawiwaüt neprikosnovennost´ turgenevskogo äzyka […] sbliΩenie literaturnogo i razgovornogo äzyka […] odet v nogu s obwej istoriçeskoj tendenciej demokratizacii vsej Ωizni. (Ebd., 382, 383) Obyçno dumaüt, çto ä iskaΩaü ‚prekrasnyj russkij äzyk‘, çto ä radi smexa beru slova ne v tom znaçenii, kakoe im otpuweno Ωizn´ü, çto ä naroçno pi‚u lomanym äzykom dlä togo, çtoby pome‚it´ poçtennej‚uü publiku. Qto ne verno. Ä poçti niçego ne iskaΩaü. Ä pi‚u na tom äzyke, na kotorom sejças govorit i dumaet ulica. (M. Zosˇcˇenko. Pis’ma k pisatelju. L. 1929, 58) V çisle grandioznyx zadaç sozdaniä novoj, socialistiçeskoj kul´tury pered nami postavlena i zadaça organizacii äzyka, oçiwenie ego ot parazitivnogo xlama. […] Bor´ba za oçiwenie knig ot ”neudaçnyx fraz“ tak Ωe neobxodima, kak i bor´ba protiv reçevoj bessmyslicy. S veliçaj‚im ogorçeniem prixoditsä ukazat´,

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Robert Hodel çto v strane, kotoraä tak uspe‚no – v obwem – vosxodit na vys‚uü stupen´ kul´tury, äzyk reçevoj obogatilsä takimi nelepymi sloveçkami i pogovorkami, kak, naprimer, mura, buza, volynit´, ‚amat´, daj pät´, na bol´‚oj palec 10 s prisypkoj, na ät´ i t. d. (M. Gor’kij. O jazyke. 1934 // Gor’kij 1953, t. 27, 169)

d) sprachimmanente Autoverweisungsmittel: Sprachimmanente Autoverweisungsmittel sind Elemente, die an sich ein Bewusstsein vom Hiatus zwischen Sprache und Welt evozieren, da sie über die denotative Bedeutung hinaus auf die Bezeichnungsfunktion der Sprache verweisen. Im Vordergrund stehen graphische Verfahren und Tropen. Graphische Elemente wie die Schrift oder die bewusste graphische Gestaltung eines Textes nach Vorbild der Poesie können in modernistischen Texten eine eigene Bedeutungsdimension entfalten (vgl. A. Krucˇenychs handschriftlich verfertigtes und vervielfältigtes Buch Vzorval’, 1913). Bei der Modellierung der Schrift wirkt sich die Typographie der Printmedien und der Werbeplakate aus, die den Satz auf das Schlagwort verkürzen und das Erscheinungsbild der Schrift graphisch aufwerten. Wichtige Tropen sind die poetische Etymologie und die realisierte Metapher: Die Figura etymologica oder verwandte rhetorische Figuren lassen gegenüber der aktuellen die historische Bedeutung eines Ausdrucks hervortreten, die realisierte Metapher thematisiert implizit das Verfahren des bildlichen Sprechens, indem sie den eingeschliffenen Vorgang der Übertragung ad absurdum führt. Die Funktion der Eigenthematisierung der Sprache ist dabei nicht bloß im Sinne der Zerstörung der alten Einheit von Denken (Wissen) und Welt zu sehen (also nicht bloß relativistisch), sondern auch als neue Gewichtung des Ausdrucks. So zeugt die Figura etymologica auch von der überindividuellen, über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Macht der Sprache und damit von der prinzipiellen Unmöglichkeit des begrifflichen, nur dem Hier und Jetzt zugewandten Denkens, und die realisierte Metapher suggeriert die Grenzen des Diskursiven, indem sie die Trennung zwischen eigentlichem und bildlichem Sprechen aufhebt. Gromadnoe znaçenie imeet raspoloΩenie napisannogo na bumaΩnom pole. Qto prekrasno ponimali takie utonçennye Aleksandrijcy, kak Apollonij Rodosskij i Kallimax, raspolagav‚ie napisannoe v vide lir, vaz, meçej i t. p.

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Das Zitat von Gor’kij steht hier für den „sozrealistischen“ Kampf gegen die modernistische (ornamentale) Prosa auf der Ebene der Lexik, deren implizite Ideologie darin besteht, in der sprachlichen Buntheit eine Vielfalt von Schichten und Milieus abzubilden, die durch ein einheitliches Proletariat ersetzt werden soll.

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(N. Burljuk. Poe˙ticˇeskie nacˇala. Futuristy. Pervyj zˇurnal russkich futuristov. 1–2, 1914, Moskva // Manifesty i programmy… 1967, 78) No Ωivoe, izreçennoe slovo […] – vyraΩenie sokrovennoj suwnosti moej prirody; i poskol´ku moä priroda est´ priroda voobwe, slovo est´ vyraΩenie sokrovennej‚ix tajn prirody. […] vne reçi net ni prirody, ni mira, ni poznaüwego (A. Belyj. Magija slov. 1994, 131)

11. Fokussierung des Autors Auch wenn der realistische Erzähler Handlungen und Situationen wertet und sein Weltbild dem Leser oft in ausgedehnten Exkursen kundtut, bleibt sein Rezipient auf die geschilderte Welt konzentriert. Der Sprecher des Gesamttextes ist nur dann fokussiert, wenn er, wie im „skaz“, in Distanz zum Autor tritt, d.h. personalisiert wird. Anders im modernistischen Text. Mit der markierten Sprache ist hier auch der Sprecher des Gesamttextes profiliert. Der Leser bleibt zwar sehr wohl auf die erzählte Welt ausgerichtet, doch nimmt er diese nicht als objektiven, nüchternen Bericht, sondern in Abhängigkeit von einem „demiurgischen“ Vermittler wahr. Statt Wirklichkeit zu konstatieren, wird sie behauptet und gesetzt. Der Vermittler wird dabei nicht zu einer psycho-physisch wahrnehmbaren Person, d.h. er wird nicht in gebührender Distanz zu einem unbeteiligten Autor wahrgenommen, die geschilderte Welt erscheint vielmehr als Produkt einer zwar subjektiven aber dennoch auktorialen Schöpfungskraft und büßt damit als Ganzes an Objektivität ein11. (Im realistischen „skaz“ bleibt die auktoriale Instanz frei von jeglicher Subjektivierung.) Durch diese profilierte Stellung des Sprechers wird die dargestellte Wirklichkeit nicht nur defokussiert, sondern auch in ihrer Kohärenz geschwächt. Kohärenz entsteht durch den Bezug auf das sprechende Subjekt (i.e. den demiurgischen Autor-Erzähler). Dies zeigt sich am deutlichsten auf der Ebene der Fabel. MYSLÆ I REÇÆ NE USPEVAÜT ZA PEREØIVANIEM VDOXNOVENNOGO, poqtomu xudoΩnik volen vyraΩat´sä ne tol´ko obwim äzykom (ponätiä), no i liçnym (tvorec individualen), i äzykom, ne imeüwim opredelennogo znaçeniä (ne zastyv‚im), zaumnym. (A. Krucˇenych: Deklaracija slova, kak takovogo. 1913 // Manifesty i programmy… 1967, 63)

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Wir sind hier geneigt, den Erzähler mit dem Autor gleichzusetzen (deshalb der Begriff „Sprecher des Gesamttextes“). Dieser „demiurgische Autor-Erzähler“ gleicht dem Autor lyrischer Gedichte, in denen man ebenfalls geneigt ist, „lyrisches Ich“ und „Autor“ undifferenziert zu verwenden.

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12. Auflösung der Fabel Die dem rationalistischen Weltbild inhärente „progressive“ Geschichte der Gesellschaft findet im Realismus eine Entsprechung in der Struktur der Fabel. Auch wenn sie durch Rückblenden und Linearisierung paralleler Handlungsstränge kein isomorphes Abbild einer Wirklichkeit liefert, ist ihre zeitlich-kausale Ordnung der Ereignisse und Situationen gleichwohl erkennbar. Im modernistischen Text hingegen löst sich die Fabel mit der Verwerfung des linearen Entwicklungsgedankens – parallel zur Atomisierung und Fragmentarisierung des Satzes und zur Betonung des einzelnen Wortes – auf. Sie ist oft bruchstückhaft und in ihrer Verbindung von Ereignissen kosmischen Ausmaßes und feinsten Details undurchsichtig. Durch die ausgedehnte Entfaltung innerer, geistiger Welten werden die äußeren Vorgänge systematisch durchbrochen, sodass der Ereignischarakter generell reduziert ist. Diese fehlende Kohärenz auf der Fabelebene, die durch eine profilierte, poetische Sprache sowie einen profilierten Sprecher kompensiert wird, spiegelt sich in unterschiedlichen Bereichen und Aspekten des Textes wider: - in der zeitlichen Strukturierung: Die zeitliche Abfolge der Ereignisse, die dem Entwicklungsgedanken inhärent ist, wird ersetzt durch die Synchronizität. Diese Destruktion des Chronologischen manifestiert sich u.a. im freien Wechsel zwischen Präteritum und Gegenwart. (Im Realismus ist dieser Wechsel in der Erzählerrede ohne Fokussierung einer subjektiven Position nicht möglich.) - in der Absatzstruktur: Die semantisch-logische Gliederung des Textes, die durch die Reduktion des Ereignischarakters an Stringenz einbüßt, ist nicht mehr ausschließliches Kriterium der Absatzgrenzen, die Segmentierung des Textes folgt ebensosehr rhythmisch-lautlichen und graphischen Kriterien (siehe Kapitel „Absatzstruktur und Satzbau“). - in der Thema-Rhema-Struktur: Durch den systematischen Einbezug des Subjekts in den Erkenntnisvorgang, der zu einer weitgehend assoziativen Verknüpfung von äußeren Situationen und Handlungen mit inneren Vorgängen führt, tendiert die neue Prosa dazu, ein Thema nicht psychologisch nachvollziehbar zu entwickeln, sondern nach Vorgabe der Poesie „rhematisch“ zu setzen. Diese rhematische Grundstruktur zeigt sich etwa in der redundanten Wiederholung von Eigennamen, in der normwidrigen Interpunktion, in der Häufigkeit von Nominalsätzen oder – besonders augenscheinlich – in der Parzellierung.

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- in der Zuordnung von Räumlichkeiten (Raum-Frames): Genauso wie eine chronologische Ordnung nicht mehr vorausgesetzt werden kann, ist auch der Ort der Handlung oft nur vage bestimmbar. Realer vermischt sich mit imaginärem Raum (Traum, Tagtraum, Halluzination), konkretepisodische Situationen reichen unmerklich in generische oder legendär überhöhte Wirklichkeitsstrukturen hinein (vgl. Kapitel „Zur Funktion des Symbolischen“). Rasskaz [Çasy Remizova] vedetsä tak diko-priçudlivo, takimi kapriznymi zigzagami, psixologiä lic tak osloΩnena namekami, ürodstvom, fantastikoj, i, glavnoe, vne‚nää manera izobraΩeniä – slog, razgovor – tak nenuΩno qkscentriçna, çto na kaΩdoj stranice xoçetsä s dosadoj brosit´ knigu. Zaçem ürodstvovat´, otçego ne govorit´ çeloveçeskim äzykom? (M. Gersˇenson. Cµasy. Vestnik Evropy, 8,1908, 770) Vremena glagolov ne osobenno tverdo sväzany grammatikoj. Qta agrammatiçnost´ obßäsnäetsä, ibo vse nado obßäsnit´, Ωivost´ü reçi! Xarakternoe obßäsnenie! Vo imä qtoj Ωivosti reçi soçetanie: «idu ä vçera po ulice i smotrü» my vozvodim v princip. Doloj soglasovannost´ vremen! (V. Sµersˇenevicˇ. 2X2=5. Lomat’ grammatiku. Fevral’ 1920 // Literaturnye manifesty 1929, 113) Fabuloj interesovalis´ i fabulu kul´tivirovali u nas v poslednee vremä pisateli tret´estepennye, skoree daΩe bul´varnye, vrode Verbickoj i Nagrodskoj. Nastoäwie Ωe mastera xudoΩestvennogo slova – kak-to prenebreΩitel´no otnosilis´ k fabulistiçeskoj storone i kak budto daΩe sçitali niΩe svoego dostoinstva interesovat´sä fabuloj. (E. Zamjatin. O sjuzˇete i fabule. 1920–1921 // Zamjatin 1988, IV, 390–399, 398)

13. Perspektive und Redewiedergabe Im Realismus geht der an sich gegebene Objektbereich mit der unbefragten Existenz eines beobachtenden Standpunktes einher. Dieser zentral perspektivierende, als neutral rezipierte Ort manifestiert sich prototypisch im Wechsel von Global- und Naheinstellung, von Kommentar, Beschreibung und Erzählung, von auktorialer und personaler Sichtweise. Dabei weiß der Leser jederzeit, aus wessen Perspektive berichtet wird, sodass er jedes Phänomen am auktorialen, absoluten Standpunkt messen und in seinem jeweiligen Modalisierungsgrad einschätzen kann. Diese Kenntnis vom hierarchischen Ort einer narrativen Instanz schließt auch die sichere Einschätzung ihrer Rede mit ein. Auch im Fall der erlebten Rede und des inneren Monologs besteht kein Zweifel darüber, ob bestimmte subjektive

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Signale der Wahrnehmung, der Wertung und des sprachlichen Ausdrucks der Erzähler- oder Personenrede zuzuordnen sind. Anders verhält es sich in modernistischen Texten. Durch den Verlust eines an sich gegebenen, allgemein zugänglichen Objektbereichs ist jede Erkenntnis notwendigerweise perspektiviert. Folge dieser radikalen Modalisierung der Wirklichkeit ist auf der Textebene die Ausweitung personaler Perspektiven sowie die Markierung (i.e. Subjektivierung) der zentralen auktorialen Sicht. Hierbei kann dem Leser die Gewissheit, aus wessen Warte berichtet wird, sehr wohl abhanden gehen. Im Bereich der erlebten Rede spiegelt sich diese Desorientierung in der systematischen Verwischung der Redegrenzen zwischen Erzähler- und Personentext wider: Durch die Profilierung und Subjektivierung der auktorialen Rede verlieren subjektive Signale aus der Personenrede weitgehend ihre differenzierende Wirkung. Eine besondere Form der grundsätzlichen Perspektivierung und Modalisierung jeglicher Aussage ist die Metalepse, i.e. die implizite oder explizite Thematisierung des Erzählvorgangs. Während sie im Realismus selten ist, eher rhetorischen Charakter hat (z.B. als Hinwendung des Sprechers zum Leser) oder die Authentizität des Berichteten unterstreicht (z.B. in autobiographischen Erzählungen) und die Textränder bevorzugt, ist sie in modernistischen Texten häufig, im Text omnipräsent und meist gegen die Illusionsbildung gerichtet: Sie soll die Subjektivität, Willkür und Konstruiertheit der geschilderten Welt unterstreichen. Für die Diskussion der Perspektive ist die modernistische Rezeption Dostoevskijs12 im Umkreis der französischen Symbolisten wichtig, die in wechselseitiger Abhängigkeit mit dem russischen Symbolismus im Umkreis der Zeitschrift Severnyj vestnik (mit L. Gur’evicˇ, N. Minskij, A. Wolynskij, D. Merezˇkovskij, F. Sologub, K. Bal’mont u.a.) sowie bei V. Solov’ev, L. Sµestov, V. Rozanov u.a. stand (vgl. Hodel 2006). Suare`s (1935, 218) stellte 1910 in Bezug auf Prestuplenie i nakazanie fest: „L’ordre d’une œuvre comme Crime et Chaˆtiment est inoui¨. J’en ferai quelque jour l’analyse. Je me contente de dire que ce drame admirable se passe tout entier, actes sur actes, dans la conscience de Raskolnikov. Les deux longs volumes ne contiennent que 12

Auch wenn Dostoevskij in Frankreich – vermittelt über Nietzsche – zu einer Schlüsselfigur der Moderne geworden ist und neben seinem Psychologismus auch die Perspektive ins Feld gegen die naturalistische Prosa geführt worden ist, beurteilen wir Dostoevskijs Umgang mit der Perspektive als radikalisiertes realistisches Modell (vgl. Hodel 2006).

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la suite des sentiments, des visions et des pense´es cre´e´es par l’imagination du he´ros, et que sa conscience de´roule.“ V to vremä kak obyçno samosoznanie geroä ävläetsä li‚´ qlementom ego dejstvitel´nosti […], zdes´, naprotiv, vsä dejstvitel´nost´ stanovitsä qlementom ego samosoznaniä. (Bachtin 1929, 55)

14. Menschenmaß, Granularität Das „Menschenmaß“ (vgl. Marszk 1996) bezeichnet den auf der Grundlage seiner natürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten basierenden Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Es ist ein Aspekt des „common sense“. So ist die maßvolle (neutrale) Distanz zu einem unbekannten Gesprächspartner etwa jene, bei der dessen Gestalt und Augen sichtbar und somit seine Reaktionen einschätzbar sind; der Bezugspunkt für die Einteilung der Tierwelt in „kleine“ und „große“ Tiere ist die Größe des Menschen, usw. Der Realismus hält sich tendenziell an das Menschenmaß, während die Moderne es voraussetzt, um oft bewusst gegen es zu verstoßen. So nähert sich der porträtierende realistische Autor einer Figur in der Regel über deren Gestalt und Kleidung, um dann auf die Augen und ggf. die spezifische Form der Lippen oder andere Details einzugehen. Diese kontinuierliche Annäherung unterwandern modernistische Porträtisten, indem sie nach Vorgabe einer Synekdoche ein Detail (eine Falte, ein Ohr, einen Blick) herausgreifen und an ihm gleichsam das Wesen der Figur festmachen, oder aber sie verharren in einer Globalperspektive und lösen damit den Einzelnen in der Menschenmasse auf. Die erwähnten realistischen und modernistischen Verfahren sind mit einer bestimmten Körnigkeit (Granularität, vgl. Marszk 1996 sowie Kap. „Granularitätsphänomene“ in diesem Band) der Verben und mit einer Tendenz zur Isosemie verknüpft. Modernistische Texte zeichnen sich auch hier gesondert aus, indem sie nicht selten eine merkmalhafte, zu kleine oder zu große, Granularität sowie Nicht-Isosemie aufweisen (vgl. Kap. „Zur Funktion des Symbolischen“). To, çto uvidite, budet oçen´ malo poxoΩe na privyçnyj vid koΩi i pokaΩetsä nepravdopodobnym, ko‚marnym. Teper´ zadajte sebe vopros: çto Ωe est´ bolee nastoäwee, çto Ωe est´ bolee real´noe – vot qta li gladkaä, rozovaä koΩa – ili qta, s bugrami i rasselinami? Podumav‚i, my dolΩny budem skazat´: nastoäwee, real´noe – vot qta samaä nepravdopodobnaä koΩa, kakuü my vidim çerez mikroskop. (E. Zamjatin. Sovremennaja russkaja literatura. 1918 // Zamjatin 1988, IV, 348–365, 356)

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Robert Hodel Takoj çelovek… [Pil´näk] do krajnosti blizoruk, kak çasovoj master, privyk‚ij k meloçam […]. (A. Lunacˇarskij. SS, t. 8, str. 58; zit. nach V. Novikov. Tvorcˇeskij put’ Borisa Pil’njaka. // Pil’njak 1976, 4)

15. Metaphorisierung, Universalisierung Der Autor realistischer Werke erweckt die Illusion einer vom Schöpfer unabhängigen Welt, die sich der außertextlichen Wirklichkeit maximal angleicht. Diese Illusionsbildung beruht auf zwei Stützen, die sich in einem gewissen Sinne widersprechen: Die geschilderten Personen, Ereignisse und Situationen haben einmaligen Charakter und sind dennoch unbestimmt, d.h. „typisch“ genug, um für ein ganzes Milieu oder eine ganze Zeit zu stehen. Modernistische Texte verfolgen zwei die Episodizität und Typizität realistischer Prosa destruierende Verfahren. Durch die Fokussierung von Details wird die Einmaligkeit des Gegenstands gesteigert und zugleich die Möglichkeit, diese auf mehrere Gegenstände anzuwenden und insofern Typisches darin zu erkennen, reduziert. Andererseits wird durch einen rigorosen Analogie-Stil, durch ein ausgedehntes Netz von Metaphern, die u.a. von der mikroskopischen, nicht dem menschlichen Auge angemessenen Betrachtung der Details herrühren, und durch eine Destruktion der logisch-syntaktischen Bindung die episodische Weltdarstellung unterwandert. Die geschilderten Gegenstände lassen eine universale Struktur erkennen. An die Stelle der lokal und sozial definierten Typizität tritt die kosmische Gültigkeit. SkaΩu koroçe: material dlä tvorçestva u neorealistov tot Ωe, çto u realistov: Ωizn´, zemlä, kamen´, vse imeüwie meru i ves. No pol´zuäs´ qtim materialom, neorealisty izobraΩaüt glavnym obrazom to, çto pytalis´ izobrazit´ simvolisty, daüt obobwenie, simvoly. Leonid Andreev nazyvaet dejstvuüwix lic v £ˇizni Çeloveka“ – Çelovek, ˇena Çeloveka, Druz´ä Çeloveka, Vragi Çeloveka – dlä togo, çtoby zastavit´ çitatelä zadumat´sä o çeloveçeskoj Ωizni voobwe. Teper´ voz´mite neorealista Remizova. […] Reç´ o Marakuline i Murke. No tak qto napisano, çto mysl´ çitatelä srazu perexodit na vsü Rossiü. […] Vy vidite ewe odnu osobennost´ neorealistov: oni zastavläüt çitatelä prixodit´ k obobwaüwim vyvodam, k simvolam, izobraΩaä sover‚enno real´nye çastnosti. (E. Zamjatin. Sovremennaja russkaja literatura. 1918 // Zamjatin 1988, IV, 348–365, 359–360)

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16. Rekurrenz Verwendet ein realistischer Autor rhetorische Mittel wie die Wiederholung gleicher sprachlicher Elemente (Rekurrenz), charakterisieren sie ein subjektives Bewusstsein. Sie sind Teil der personalen Rede. Innerhalb der auktorialen Rede sind sie selten und dienen ausschließlich der persuasiven (meist polemischen) Darstellung eines Standpunktes. Dabei sind sie so gesetzt, dass sie der Leser nicht als effektvolle Sprachgestaltung rezipiert. In der Moderne wird die Rekurrenz – nach Vorgabe der Lyrik – für den gesamten Erzählbericht zu einem zentralen Verfahren. Entscheidend dabei ist, dass in der erhöhten Frequenz gleicher sprachlicher Elemente ein unmittelbares Bewusstsein der Wiederholung entsteht. Wiederholt werden rhythmische und syntaktische Muster, Motive und Motivkomplexe, Laute, Silben und Wörter bis hin zu ganzen Sätzen und Absätzen. Die Funktionen der Rekurrenz sind hier vielfältig: Als rhythmisch-lautliches Mittel verstärkt sie die suggestive Kraft des Textes, gleichzeitig hindert sie als selbstreflexives Signal den kontinuierlich von links nach rechts fortschreitenden, logisch-semantisch und kausal-chronologisch organisierten Informationsfluss – sie wird zum Symptom des Zerfalls progressiver Entwicklung, Ausdruck eines zyklischen oder mythischen Weltverständnisses. Als merkmalhafte Sprachgestaltung zeugt sie von der Subjektivität und willentlichen Geformtheit der dargestellten Welt. Sie ist Symptom des profilierten Autors. Raz my govorim o muzyke slova – estestvenno budet raspoloΩit´ analiz po muzykal´nym kategoriäm: garmonii i melodii. Garmoniä traktuet voprosy o blagozvuçii v muzyke, o konsonansax i dissonansax. V oblasti xudoΩestvennogo slova parallel´nye ävleniä i priemy – qto rifma, alliteraciä i assonans. […] Vsäkij zvuk çeloveçeskogo slova, vsäkaä bukva – sama po sebe vyzyvaet v çeloveke izvestnye predstavleniä, sozdaet zvukoobrazy. (E. Zamjatin. Instrumentovka. Undatiert. // Zamjatin 1988, IV, 589–593, 591 und 592)

Textbeispiele 1 Va‚i prevosxoditel´stva, 2 Vse sçastlivye sem´i povysokorodiä, blagorodiä, graΩdane! xoΩi drug na druga, kaΩdaä . . . . . . . . nesçastlivaä sem´ä nesçastliva poÇto est´ Russkaä Imperiä svoemu. na‚a? Vse sme‚alos´ v dome

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Russkaä Imperiä na‚a est´ geografiçeskoe edinstvo, çto znaçit: çast´ izvestnoj planety. I Russkaä Imperiä zaklüçaet: vopervyx – velikuü, maluü, beluü i çervonuü Rus´; vo-vtoryx – gruzinskoe, pol´skoe, kazanskoe i astraxanskoe carstvo; v-tret´ix, ona zaklüçaet…– No – proçaä, proçaä, proçaä. […] Apollon Apollonoviç Ableuxov byl poçtennogo roda: imel svoim predkom Adama. I qto ne glavnoe: vaΩnej, çto odin iz qtogo poçtennogo roda byl Sim: praroditel´ semitskix, xessitskix i krasnokoΩix narodnostej. Zdes´ sdelaem perexod k predkam ne stol´ udalennoj qpoxi. Oni proΩivali v kirgizkajsackoj orde, otkuda v carstvovanie imperatricy Anny Ioannovny doblestno postupil na russkuü sluΩbu mirza Ab-Laj, prapraded senatora, poluçiv‚ij pri xristianskom krewenii imä Andreä i prozviwe Uxova. Dlä kratkosti posle byl prevrawen Ab-Laj-Uxov uΩe v Ableuxova prosto. Qtot prapraded i okazalsä istokom roda. . . . . . . . .

Oblonskix. ˇena uznala, çto muΩ byl v sväzi s byv‚eü v ix dome francuΩenkoü-guvernantkoj, i obßävila muΩu, çto ne moΩet Ωit´ s nim v odnom dome. PoloΩenie qto prodolΩalos´ uΩe tretij den´ i muçitel´no çuvstvovalos´ i samimi suprugami, i vsemi çlenami sem´i, i domoçadcami. Vse çleny sem´i i domoçadcy çuvstvovali, çto net smysla v ix soΩitel´stve i çto na kaΩdom postoälom dvore sluçajno so‚ed‚iesä lüdi bolee sväzany meΩdu soboj, çem oni, çleny sem´i i domoçadcy Oblonskix. […] Na tretij den´ posle ssory knäz´ Stepan Arkad´eviç Oblonskij – Stiva, kak ego zvali v svete – v obyçnyj ças, to-est´ v 8 çasov utra, prosnulsä ne v spal´ne Ωeny, a v svoem kabinete, na saf´ännom divane. On povernul svoe polnoe, vyxolennoe telo na pruΩinax divana, kak by Ωelaä opät´ zasnut´ nadolgo, s drugoj storony krepko obnäl podu‚ku i priΩalsä k nej wekoj; no vdrug vskoçil, sel na divan i otkryl glaza. «Da, da, kak qto bylo? – dumal on, vspominaä son. – Da, kak qto bylo? Da! Alabin daval obed v Darm‚tadte; Darm‚tadt byl v Amerike. Da, Alabin daval obed na Seryj lakej s zolotym galunom steklännyx stolax, da, – i stoly pepuxovkoü sträxival pyl´ s li: Il mio tesoro, i ne Il mio tesoro, a pis´mennogo stola; v otkrytuü çto-to luç‚e, i kakie-to malen´kie dver´ zaglänul kolpak povara. grafinçiki, oni Ωe Ωenwiny», – «Sam-to, vi‚´, vstal…» vspominal on.

Textkohärenz und Narration

– «Obtiraütsä odekolonom, skoro poΩaluüt k kofiü…» – «Utrom poçtar´ govoril, budto barinu – pis´meco iz Gi‚panii; s gi‚panskoü markoü». – «Ä vam vot çto zameçu; men´‚e by vy v pis´ma-to sovali svoj nos…» Golova povara vdrug propala. Apollon Apollonoviç Ableuxov pro‚estvoval v kabinet. . . . . . . . . LeΩawij na stole karanda‚ porazil vnimanie Apollona Apollonoviça. Apollon Apollonoviç prinäl nameren´e: pridat´ karanda‚nomu ostriü ottoçennost´ formy. (A. Belyj. Peterburg. // A. Belyj. Socˇinenija v dvuch tomach. Moskva 1990, T. II, 8 und 10)

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Glaza Stepana Arkad´eviça veselo zablesteli, i on zadumalsä, ulybaäs´. «Da, xoro‚o bylo, oçen´ xoro‚o. Mnogo ewe tam bylo otliçnogo, da ne skaΩe‚´ slovami i myslämi, daΩe naävu ne vyrazi‚´». I, zametiv polosu sveta, probiv‚uüsä s boku odnoj iz sukonnyx stor, on veselo skinul nogi s divana, otyskal im ‚ityä Ωenoj (podarok ko dnü roΩdeniä v pro‚lom godu), obdelannye v zolotistyj saf´än tufli i po staroj, devätiletnej privyçke, ne vstavaä, potänulsä rukoj k tomu mestu, gde v spal´ne u nego visel xalat. I tut on vspomnil vdrug, kak i poçemu on spit ne v spal´ne Ωeny, a v kabinete; ulybka isçezla s ego lica, on smorwil lob. (L. Tolstoj. Anna Karenina. Moskva 1985)

Subjekt-Objekt-Verhältnis: Beide Texte beginnen mit einer generischen Struktur, die durch ein gnomisches Präsens angezeigt ist, und gehen zur Schilderung einer einmaligen Situation über, die als Exemplifizierung der gnomischen Aussage aufgefasst werden kann. Während freilich Tolstojs Feststellung über das Glück und Unglück von Familien in ihrer Objektivität nur textextern in Zweifel gezogen werden kann, unterliegen die Ausführungen über das russische Imperium bereits einer textimmanenten Ironisierung und Korrektur. Die Erzählerrede erscheint aufgrund der auffälligen Sprachführung (Ironie, Tautologien und des überzogen-kanzleisprachlichen Duktus) als subjektiv, geradezu exaltiert, ohne dass freilich diese subjektiven Signale personal umzudeuten wären. So gibt es außer dem Erzähler keine fiktive Gestalt, die für die merkmalhafte Reihung „semitskie, chessitskie i krasnokoz¬ie narodnosti“ und ihre Verschiebung von der Beschreibung einer mythisch-historischen Realität zu einer Haltung dieser Realität gegenüber verantwortlich gemacht werden könnte. Hieraus ergibt sich ein verminder-

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ter Grad der Existenzbehauptung, der Belyjs Textwelt insgesamt kennzeichnet. Das bedeutet, dass die dargestellte Welt in hohem Maß an den Autor zurückgebunden und als gesetzter, demiurgischer Akt rezipiert wird. Das Bewusstsein der Abhängigkeit der Objektwelt vom wahrnehmenden und wiedergebenden Subjekt fördert auch der Metakommentar „Zdes’ sdelaem perechod...“, der über den klassischen, realistischen Rahmen der Hinwendung an den Leser, wie man sie etwa bei Turgenev oder Dostoevskij13 findet, hinausgeht. Dieser Kommentar ist selbstironisch, da er statt einer rhetorischen Kompetenz gerade deren Mangel offenlegt: Der seriöse, an wissenschaftliche Essays, psychologische Romane oder altrussische Erzählungen 14 erinnernde Wortlaut dieses metathematischen Einschubs steht in einem schrillen Missverhältnis zur Nichtigkeit der vorlaufenden Aussagen. Literarisierung: Der Illusionsverlust der realen Welt wird in Peterburg durch eine weitgehende Literarisierung, Semiotisierung und Poetisierung des Textraums kompensiert. Den betont literarischen Charakter des Werks belegt bereits die Fülle der Allusionen in den ersten Zeilen: Mit der Ahnenreihe paraphrasiert und parodiert der Autor die Genesis und bringt sich als konkurrierender Demiurg ins Spiel, die Formel „procˇaja, procˇaja, procˇaja“ ist eine Anspielung auf den offiziellen Titel des russischen Imperators, der ca. 60 Namen ihm untertaner Länder einschließt und mit eben dieser Formel endet. Der Name Apollon Apollonovicˇ Ableuchov nimmt Bezug auf Solov’evs Magier Apollon aus „Kratkaja povest’ ob Antichriste“, der halb Asiate und halb Europäer ist, auf den griechischen Gott Apollon und seine Funktion in Nietzsches Dionysos-Kult sowie auf mehrere historische Fi13

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Der erste Metakommentar in Turgenevs Otcy i deti findet sich im dritten Absatz und bezieht sich auf Nikolaj Petrovicˇ Kirsanov: Barin vzdoxnul i prisel na skameeçku. Poznakomim s nim çitatelä, poka on sidit, podognuv‚i pod sebä noΩki i zadumçivo poglädyvaä krugom. (Turgenev, VII, 1981, 7). Auch hier liegt sehr wohl ein Bewusstsein des Schreibaktes vor, dennoch bleibt der Leser aber auf Geschehen und Figur konzentriert, deren Existenz durch diese abstrahierende Geste nicht in Frage gezogen ist. Vgl. den formelhaft wiederkehrenden Ausdruck £äkoe rekoxomß“ aus der Povest’ vremennych let. Belyjs Romanbeginn ist mit dieser Erzählung auch thematisch verbunden – der Anfang der Povest’… lautet: Se naçnemß pov™st´ siü. Po potop™ trie synove Noevi razd™li‚a zemlü, Simß, Xamß, Afetß. (zit. aus: Pamjatniki literatury drevnej Rusi XI – nacˇalo XII veka. Moskva 1978, 22).

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guren der russischen Geschichte und der Gegenwart (vgl. die Kommentare von Piskunova/Piskunov in Belyj 1990, II, 624f.). Diese verdichtenden Allusionen sind verantwortlich dafür, dass sich schon zu Beginn des Romans jene Konfrontation zwischen Ost und West entfaltet, die zum zentralen thematischen Kohärenzfaktor des Werks avancieren wird. Dieser dichotomen Struktur unterwerfen sich weitgehend auch die Figuren: Wir nehmen sie nicht in erster Linie als Personen wahr, deren Handlungen in einem sozialen Umfeld und einer persönlichen Entwicklungsgeschichte motiviert und nachvollzogen werden, sondern als Verkörperungen zweier konkurrierender Prinzipien. Wertung und Moral: Die Stellung des Autors zum thematischen Komplex Westen-Osten bleibt in Peterburg weitgehend ausgeklammert, wir entnehmen dem Text lediglich die Überzeugung, dass diese Konfrontation Russland in einer genuinen Weise charakterisiert. Einer klaren ethisch-ideologischen Zuordnung entzieht sich der Autor bereits dadurch, dass er auch im Hauptvertreter des Appollinischen (Ableuchov) und damit im Zentrum Peterburgs einen „asiatischen“ Kern ansetzt. Anders verhält es sich in Tolstojs Text, der die dichotome Welt eines verwestlichten Peterburg und eines autochthonen Moskau aufbaut: Die Welt des Stepan Arkad’evicˇ Oblonskij – angefangen von seinem Vatersnamen Arkad’evic¬ und Spitznamen Stiva über seine Schwäche für alles Ausländische (die französische Gouvernante, Darmstadt, Amerika, die italienisch singenden Glastische) bis hin zu seinem vollen Körper und seinem pompösen und arbeitsscheuen Leben – wird vom Autor einhellig verurteilt. Der Autor ist auf der Seite des Lichts, das am späten Morgen trotz der Storen ins Zimmer dringt und Stepan Arkad’evicˇ aus seinen Träumen in die Welt der Vernünftigen, Moralischen und Arbeitsamen zurückholt. Poetisierung: Die Poetisierung des Textes erreicht Belyj maßgeblich durch die Metrisierung und die graphische Gestaltung des Textraums. Die Strukturierung durch Leerzeilen, Auslassungspunkte, Einrückungen, Stufungen (stupencˇatost’, Sµklovskij 1919, 36f.), eingeschobene Gedichte und Überschriften erinnert bereits optisch an die poetische Vers- und Strophengliederung. Dabei setzt Belyj die großen und kleinen Pausen, die durch Leerräume und Zeichensetzung entstehen, z.T. bewusst gegen die logisch-

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syntaktische Textgliederung ein, um paradigmatischen Beziehungen Vorschub zu leisten. Intensiviert wird dieser poetische Diskurs durch die weitgehende Metrisierung des Textes, deren Rhythmizität durch euphonische Strukturierung und Rekurrenz unterstrichen und damit Gegenstand des bewussten Wahrnehmens wird (vgl. z.B. den paronomasisch klingenden Satz „Golova povara vdrug propala“). Streng metrisch gestaltete Syntagmen kommen freilich auch in Anna Karenina vor, doch fallen sie hier aufgrund der fehlenden „Instrumentalisierung“ nicht auf. Der Autor sucht derartige Effekte in der auktorialen Rede gerade zu vermeiden, er reduziert den Selbstverweisungscharakter der Sprache dort maximal, wo die Rede mehr oder weniger unvermittelt auf ihn bezogen wird. Auch die lautliche Gestaltung bezieht Belyj systematisch in die thematische Organisation des Textes ein. So steht der Laut „l“, der im penetrant wiederholten Namen Apollon Apollonovicˇ Ableuchov als lautliches Leitmotiv eingeführt wird, für den Glanz der westlichen Hauptstadt, und der Explosivlaut „p“ für die zerstörerische Kraft des „asiatischen“ Prinzips. Mit dieser Motivation der sprachlichen Form bringt Belyj seine Prosa in die Nähe der suggestiven Wirkung poetischer Texte und deren Präferenz paradigmatischer Verhältnisse. Syntagmatik versus Paradigmatik: Die poetische Textgestaltung wird in Peterburg durch die systematische Reduktion syntagmatischer Beziehungen gestützt und ermöglicht. Diese Reduktion erreicht Belyj durch den schroffen Wechsel der Szenerien, den Lakonismus und die Abgerissenheit der Sätze, die häufigen Postpositionen sowie die redundante Wiederholung einzelner Wörter, Syntagmen und ganzer Sätze. Anstatt wie Tolstoj, nachdem er Stiva mit Namen genannt hat, den Textfluss durch ein Pronomen zu verstärken, evoziert der wiederholte Eigenname Apollon Apollonovicˇ (am Ende des zitierten Ausschnitts) eine gewisse Autonomie des Satzes und des Wortes. Gleichzeitig wird auch die Person zu einer Größe, die nicht vorgegeben und abzubilden, sondern immer wieder neu zu setzen ist. In Tolstojs Text hingegen haben die auffälligen Wiederholungen – die Partikel „da“ und der italienische Spruch – eine diametral entgegengesetzte Funktion. Beide Elemente desavouieren, wie die kurz darauf folgenden Interjektionen „aj“ und „ach“, Oblonskijs oberflächliches, fröhlich-sinnliches Leben und stehen damit stilistisch wie axiologisch in Opposition zur neutralen Rede des auktorialen Erzählers.

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Perspektive, Menschenmaß: Tolstojs Erzähler zeichnet über den nüchtern berichtenden Ton hinaus auch ein neutraler Blick auf die beschriebene Welt aus. Er nimmt die Dinge so wahr, wie sie Menschen gewöhnlich sehen (Menschenmaß). Entsprechend selten sind Tropen, nichtneutrale Wortstellung, Umkehrung des Agens-Patiens-Verhältnisses oder ungewöhnliche Blickwinkel. Wendet er verfremdende Perspektiven an, signalisieren sie eine subjektive, entweder personale oder polemisch-auktoriale Sicht. Belyj hingegen verstößt beinahe konstant gegen gewohnte Sicht- und Ausdrucksweisen. Dabei beginnt die Grenze zwischen personaler und auktorialer Perspektive, die bei Tolstoj auch in der erlebten Rede klare Konturen zeigt, zu verfließen. Dies zeigen bereits die zitierten Absätze: So lässt sich die Synekdoche „kolpak povara“ zwar durch das Gesichtsfeld des Lakaien begründen, doch unterscheidet sie sich in der Ausdrucksweise kaum vom Prolog oder von der Beschreibung des Bleistifts: LeΩawij na stole karanda‚ porazil vnimanie Apollona Apollonoviça. Appollon Apollonoviç prinäl nameren´e: pridat´ karanda‚nomu ostriü ottoçennost´ formy.

Die Verselbstständigung des Gegenstands durch seine Rolle als Agens ist kaum durch die Wahrnehmung der Person zu motivieren. Dennoch bilden der papierene Nominalstil und die Transposition (statt: „c¬init’ karandas¬“), die in keinem Verhältnis zur Banalität des Vorgangs stehen, den stupiden Geist des spröden Beamten geradezu ikonisch ab. Sprachregister: Die Verwischung der Redegrenzen in der erlebten Rede, die in Peterburg durch die Profilierung der Erzählerrede als Ganzes bedingt ist, verändert auch die Funktion dialektaler und soziolektaler Elemente. Betrachtet man genauer den Dialog der beiden Bediensteten, erkennt man sehr deutlich einen Standesunterschied: Der Koch duzt den grauen Lakaien und spricht von seinem Herrn in der 3.P. Sg. (vstal), der Lakai siezt den Koch und spricht vom Hausherrn in der Höflichkeitsform (otbirajutsja). Ähnliche Stilisierungen finden sich in Anna Karenina in Bezug auf Levins Bedienstete und Bauern. Dennoch ist die Wirkung dieser Sprachregister unterschiedlich. Während sie bei Tolstoj, neben ihrem informativen Gehalt, das beschriebene Milieu charakterisieren und es von der aristokratischen Stadtkultur abheben, wird diese ikonische Funktion der Sprache bei Belyj aufgeweicht: Da die Erzählerrede selbst profiliert ist und deutlich Elemente der Umgangssprache aufweist, entbehrt die stilisierte Rede der Lakaien

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jenes neutralen Hintergrundes, vor dem sie sich auszeichnen könnte. Der gesamte Erzählbericht wächst zu einer Rede zusammen, hinter der der demiurgische Autor steht. Die fehlende Kohärenz der dargestellten Welt wird durch die Fokussierung ihres Schöpfers kompensiert. 17. Literaturverzeichnis Bachtin, M. 1979. Problemy poe˙tiki Dostoevskogo (1929). Moskva. Baudelaire. 1936. Poésies choisies. Paris. Belyj, A. 1917. Zµezl Aarona (o slove v poe˙zii). Skify. Peterburg. Sb. 1, 155–212. Belyj, A. 1994. Magija slov. Simvolizm kak miroponimanie, Moskva, 131–142. Belyj, A. 1969. Simvolizm, kak miroponimanie. Literaturnye manifesty: ot simvolizma k Oktjabrju. Sbornik materialov. Hrsg. von N. L. Brodskij. Nachdruck der Ausgabe Moskva 1929. (Slavische Propyläen. Band 64,1). The Hague, 30–37. Belyj, A. 1969. Masterstvo Gogolja. Nachdruck der Ausgabe Moskva 1934. (Slavische Propyläen. Band 59). München. Biely, A., Gorky, M., Zamiatin, E. et al. 1983. Kak my pisˇem. Nachdruck der Ausgabe Leningrad 1930. Vermont. Bobrov, S. 1967. O liricˇeskoj teme. Trudy i Dni, 1-2, 1913. Liricˇeskaja tema. Manifesty i programmy russkich futuristov. Hrsg. von V. Markov. München, 98–106. Bourget, P. 1886. Nouveaux essais de psychologie contemporaine. Paris. Bulgakov, M. 2000. Sobranie socˇinenij v 10 tomach. Moskva. Bürger, P. 1992. Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger. Frankfurt/M. Brjusov, V. 1969. Kljucˇi tajn. Literaturnye manifesty: ot simvolizma k Oktjabrju. Sbornik materialov. Hrsg. von N. L. Brodskij. Nachdruck der Ausgabe Moskva 1929. (Slavische Propyläen. Band 64, 1). The Hague, 27–30. Burljuk, D., Guro, E., Burljuk, N., Majakovskij, V., Nizen, E., Chlebnikov, V., Livsˇic, V., Krucˇenych, A. 1969. Predislovie. Literaturnye manifesty: ot simvolizma k Oktjabrju. Sbornik materialov. Hrsg. von N. L. Brodskij. Nachdruck der Ausgabe Moskva 1929. (Slavische Propyläen. Band 64,1). The Hague, 78–80. Burljuk, N. 1967. Poe˙ticˇeskie nacˇala. Futuristy. Pervyj zˇurnal russkich futuristov. Manifesty i programmy russkich futuristov. Hrsg. von V. Markov. München, 77-80. Cµechov, A. P. 1977. Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. Moskva, t. 10. Cµechov, A. P. 1949. Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. Serija vtoraja. Pis’ma. T. 14. 1888–1889. Moskva. Cµechov, A. P. 1955. O literature. Moskva. Depperman, M. 1997. Dramaturgie der Stille – Cµechov und Maeterlinck. Anton P. Cµechov – Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und im Werk. Hrsg. von V. B. Kataev, R.-D. Kluge, R. Noheyl. München, 151–174. Dering-Smirnova, I. R., Smirnov, I. P. 1982. Ocˇerki po istoricˇeskoj tipologii kul’tury. Salzburg. Fähnders, W. 1998. Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart. Flaker, A., Sµkreb, Z. 1964. Stilovi i razdoblja. Zagreb.

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Absatzstruktur und Satzbau Im Folgenden sollen die Absatzstruktur und der Satzbau realistischer und modernistischer Prosatexte auf der Grundlage statistischer Untersuchungen beschrieben und im Hinblick auf die im vorlaufenden Kapitel erörterten differenzierenden Merkmale interpretiert werden. Eine wechselseitige Verbindung der beiden Parameter hat sich bereits im Textvergleich zwischen Tolstojs Anna Karenina und Belyjs Peterburg herausgestellt. Eine weitergehende Explikation dieser Korrelation erfolgt im zweiten, interpretativen Teil (Punkt 2.4). Die statistischen Untersuchungen zur Syntax sind im Rahmen von Werkverträgen von Christina Otto (russische Texte) und Horst Dippong (Texte in serbokroatischer Sprache) durchgeführt worden 1. Absatzstruktur Beschreibung des Untersuchungsverfahrens: In je drei Auszügen aus den folgenden Werken wurden sämtliche Alineas liquidiert und als graphisch ungegliederter Text ausgedruckt: •







Ivan Turgenev. Otcy i deti. PSS v 30 tt., t. 7, M. 1981: Auszug I (str. 43–44; gl. X), II (str. 142–143, gl. XXIV: Den’ prosˇel kakto…), III (163–164, gl. XXVI) Lev Tolstoj. Anna Karenina. SS v 22 tt., t. 8, M. 1981: Auszug I (str. 108–109, cˇ. I, gl. XXVII), II (243–244, cˇ. II, gl. XXXII), III (336–337, cˇ. III, gl. XX) Andrej Belyj. Peterburg. M. 1981 (Ausgabe „Sirin“ von 1913– 1914): Auszug I (str. 36–37, gl. I, Nasˇa rol’), II (195–196, gl. IV, Cµto zˇe dalee?), III (387–388, gl. VIII, no sperva…) Boris Pil’njak. Golyj god. In: B. Pil’njak. Golyj god. Celaja zˇizn’. Izbrannaja proza. Minsk 1988: Auszug I (str. 41–42, Vstuplenie, Kitaj-Gorod), II (58–59, gl. II), III (147–148, gl. VI).

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Die Auszüge, die alle einen vergleichbaren Umfang haben und (mit Ausnahme von Auszug II aus Otcy i deti) jeweils am Anfang eines Kapitels stehen, wurden nach einem Zufallsverfahren ausgewählt. Bedingung für eine mögliche Wahl war dabei das Vorhandensein einer ausgedehnten Erzählerrede (da dies bei Turgenev eher selten der Fall ist, musste hier in Kap. XXIV eine Ausnahme gemacht werden). Die Beschränkung der Untersuchung auf je zwei realistische und zwei modernistische Autoren führt dazu, dass die Ergebnisse streng genommen nur auf die gegebenen vier Texte zu beziehen sind und in Bezug auf die Epochen Realismus und Moderne lediglich hypothetischen Charakter haben. 35 Studierende der Petersburger Herzen-Universität1 hatten die Aufgabe, in den gegebenen Textauszügen Alineas so zu setzen, wo sie sie im Original 2 vermuteten. Es wurde weder gesagt, von wem der betreffende Text stammt (was freilich nicht selten aus dem Auszug zu erschließen sein dürfte) noch wieviele Absätze der Auszug im Original hat. Der Begriff des Absatzes wurde nicht im Voraus definiert, vielmehr ist von einem intuitiven Verständnis des Begriffs ausgegangen worden. Um die nachfolgende statistische Auswertung zu veranschaulichen, seien hier zwei der zwölf Textauszüge vorangestellt. (Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Anzahl der Studierenden, die an der gegebenen Stelle ein Alinea vorgeschlagen haben; ist diese Zahl fett gedruckt, liegt auch im Original ein Alinea vor.) (a) Lev Tolstoj. Anna Karenina. SS v 22 tt., t. 8, M. 1981: Auszug I (108– 109 c˘. I, gl. XXVII, Anfang) Дом был большой, старинный, и Левин, хотя жил один, но топил и занимал весь дом. Он знал, что это было глупо, знал, что это даже нехорошо и противно его теперешним новым планам, но дом этот был целый мир для Левина. (7) Это был мир, в котором жили и умерли его отец и мать. Они жили тою жизнью, которая для Левина казалась идеалом всякого совершенства и которую он мечтал возобновить с своею женой, с своею семьей. (18)

1

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Rossijskij gosudarstvennyj pedagogicˇeskij universitet (RGPU) imeni A. I. Gercena. Die Studenten waren 21-24 Jahre alt und belegten den 4. Kurs Baccalaureus (bakalavrskogo otdelenija) und den 1. Kurs Magister (magisterskogo otdelenija). Die Untersuchungen sind im Rahmen eines Werkvertrags mit Prof. Dr. Konstantin Barsˇt entstanden. Die vorliegende Untersuchung nimmt eine kanonisierte Ausgabe als Vorlage. Der Frage, inwieweit die Gliederung in Absätze dem Willen des Autors entspricht, ist nicht nachgegangen worden.

Absatzstruktur und Satzbau

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Левин едва помнил свою мать. Понятие о ней было для него священным воспоминанием, и будущая жена его должна была быть в его воображении повторением того прелестного, святого идеала женщины, каким была для него мать. (10) Любовь к женщине он не только не мог себе представить без брака, но он прежде представлял себе семью, а потом уже ту женщину, которая даст ему семью. (1) Его понятия о женитьбе поэтому не были похожи на понятия большинства его знакомых, для которых женитьба была одним из многих общежитейских дел; для Левина это было главным делом жизни, от которого зависело все ее счастье. (2) И теперь от этого нужно было отказаться! (31) Когда он вошел в маленькую гостиную, где всегда пил чай, и уселся в своем кресле с книгою, а Агафья Михайловна принесла ему чаю и со своим обычным: «А я сяду, батюшка», села на стул у окна, он почувствовал что, как ни странно это было, он не расстался с своим мечтами и что он без них жить не может. С ней ли, с другою ли, но это будет. (13) Он читал книгу, думал о том, что читал, останавливаясь, чтобы слушать Агафью Михайловну, которая без устали болтала; и вместе с тем разные картины хозяйства и будущей семейной жизни без связи представлялись его воображению. (3) Он чувствовал, что в глубине его души что-то устанавливалось, умерялось и укладывалось. (2) Он слушал разговор Агафьи Михайловны о том, как Прохор бога забыл и на те деньги, что ему подарил Левин, чтобы лошадь купить, пьет без просыпу и жену избил до смерти; он слушал и читал книгу и вспоминал весь ход своих мыслей, возбужденных чтением. (9) Это была книга Тиндаля о теплоте. Он вспоминал свои осуждения Тиндалю за его самодовольство в ловкости производства опытов и за то, что ему недостает философского взгляда. (4) И вдруг всплывала радостная мысль: «Через два года будут у меня в стаде две голландки, сама Пава еще может быть жива, двенадцать молодых Беркутовых дочерей, да подсыпать на казовый конец этих трех – чудо!» (6) Он опять взялся за книгу.

(b) Andrej Belyj. Peterburg. M. 1981, Auszug I (36–37) Петербургские улицы обладают несомненнейшим свойством: превращают в тени прохожих; тени же петербургские улицы превращают в людей. (2) Это видели мы на примере с таинственным незнакомцем. (3) Он, возникши, как мысль, в сенаторской голове, почему-то связался и с собственным сенаторским домом; там всплыл он в памяти; более же всего упрочнился он на проспекте, непосредственно следуя за сенатором в нашем скромном рассказе. (20) От перекрестка до ресторанчика на Миллионной описали мы путь незнакомца; описали мы, далее, самое сидение в ресторанчике до пресловутого слова «вдруг», которым все прервалось; вдруг с незнакомцем случилось там что-то; какое-то неприятное ощущение посетило его. (21) Обследуем теперь его душу; но прежде обследуем ресторанчик; даже окрестности ресторанчика; на то есть у нас основание; ведь если мы, автор, с педантичною точностью отмечаем путь первого встречного, то читатель нам верит: поступок наш оправдается в будущем. (17) В нами взятом естественном сыске предвосхитили

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Robert Hodel мы лишь желание сенатора Аблеухова, чтобы агент охранного отделения неуклонно бы следовал по стопам не знакомца; славный сенатор и сам бы взялся за телефонную трубку, чтоб посредством ее передать, куда следует, свою мысль; к счастию для себя, он не знал обиталища незнакомца (а мы же обиталище знаем). (11) Мы идем навстречу сенатору; и пока легкомысленный агент бездействует в своем отделении, этим агентом будем мы. (12) Позвольте, позвольте... (2) Не попали ли мы сами впросак? Ну, какой в самом деле мы агент? Агент – есть. И не дремлет он, ей-богу, не дремлет. (7) Роль наша оказалась праздною ролью. (14) Когда незнакомец исчез в дверях ресторанчика и нас охватило желание туда воспоследовать тоже, мы обернулись и увидели два силуэта, медленно пересекавших туман; один из двух силуэтов был довольно толст и высок, явственно выделяясь сложением; но лица силуэта мы не могли разобрать (силуэты лиц не имеют); все же мы разглядели: новый, шелковый, распущенный зонт, ослепительно блещущие калоши да полукотиковую шапку с наушниками. (5) Паршивенькая фигурка низкорослого господинчика составляла главное содержание силуэта второго; лицо силуэта было достаточно видно: но лица также мы не успели увидеть, ибо мы удивились огромности его бородавки: (1) так лицевую субстанцию заслонила от нас нахальная акциденция (как подобает ей действовать в этом мире теней).

Erläuterungen zur nachfolgenden Auswertung (siehe Tabelle):



In der ersten Kolonne sind mit arabischer Zahl die Absatzgrenzen nummeriert: „1“ steht für die Grenze zwischen dem 1. und 2. Absatz des jeweiligen Textauszugs, „2“ für die Grenze zwischen dem 2. und 3. Absatz, usw.



In der Zeile „Erfolg“ ist in Prozenten der Mittelwert angegeben, wie oft die jeweiligen Absätze eines Textauszugs wiedererkannt worden sind: z.B. in Textauszug I von Turgenev: 86% = (31+29 Treffer) : (2 x 35 Teilnehmer).



In der nachfolgenden Zeile „Mittel“ steht jeweils der Durchschnitt der drei auf die Textauszüge eines Autors bezogenen Prozentzahlen.



In der Zeile „Andere“ ist die Gesamtzahl der gemachten Vorschläge für andere, nicht mit dem Original identischen Alineas angegeben.



Die Aufschlüsselung dieser Gesamtzahl „Andere“ in die einzelnen „Vorschläge“ folgt in der nächsten Zeile; hier stehen die arabischen Zahlen jeweils für die Anzahl Studierender, die denselben Absatzvorschlag gemacht haben, die letzte Ziffer in eckigen Klammern steht für die Anzahl unterschiedlicher vorgeschlagener Absätze (ausschließlich der im Text realisierten Alineas).

47

Absatzstruktur und Satzbau Absatzgrenze

Turgenev: Otcy i deti

Tolstoj: Anna Karenina

I

II

III

I

1

31

21

35

2

29

26

6

Belyj: Peterburg

Pil’njak: Golyj god

II

III

I

II

III

18

7

17

2

2

10

19

3

3

5

31

9

18

20

2

23

14

21

5

18

17

12

6

3

3

17

4

I

II

III

3

0

17

24

1

16

14

1

20

3

12

7

10

3

16

7

26

16

9

4

2

28

1

2

7

1

22

7

14

20

18

1

8

5

9

13

9

9

7

10

15

11 Erfolg

8 86 %

Mittel Andere

1

61 %

59 %

44 %

69 %

38 %

39 %

28 %

40 %

27 %

23 %

25 %

30

71

99

103

26 %

53 %

25 %

34 %

90

78

47

45

25

37

36

38

2, 4,

2, 4,

1, 2,

7, 1,

7, 1,

7, 4,

17,

1, 1,

2, 2, 12, 7,

1, 2,

7, 3,

13, 12, 3,

7,

2, 10, 1, 15, 1, 11, 7,

4,

25, 1 11, 1,

8, 9,

1, 1,

1, 5,

5, 1, 4, 15,

4, 1,

5, 3,

8, 1,

2, 3,

2, 2, 1, 14,

9, 1,

8, 4,

1, 3,

1, 1,

1, 2,

1

5, 4,

2, 5,

1, 2,

6, 2,

3, 2,

14, 8,

2,

18, 13, 3,

14, 2, 20, 3, 14, 2, 1, 15, 14, 8, 2,

1, 4,

14, 1

5

1, 1,

6

9, 4,

1, 3,

1

4, 2

6

1

2, 2

1, 2, 33, 2,

10, 6, 9, 17, 5

1, 1, 2, 2, 4

[12]

[12]

[9]

[8]

[5]

[8]

[4]

[12]

[4]

[16]

[19]

[23]

Auswertung: In den beiden realistischen Texten ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein vom Autor gesetzter Absatz erraten wird, deutlich höher als in den beiden modernistischen Texten (rund 55% : 30%). Nur in den Auszügen von Turgenev und Tolstoj haben mehr als 30 von 35 Personen Alineas mit dem Original übereinstimmend gesetzt, umgekehrt weisen die Vorschläge

48

Robert Hodel

für andere Absatzgrenzen, die von den Autoren nicht realisiert worden sind, bei Belyj und Pil’njak die höchsten Zahlen auf. Dennoch schließen alle zwölf Auszüge Alineas ein, die von mindestens der Hälfte der Studierenden als solche erkannt werden; es handelt sich hier um Absatzgrenzen, bei denen mehrere Sinnlinien zugleich unterbrochen werden, sodass sie als abgeschlossene gedankliche Einheit relativ leicht zu erkennen sind. Umgekehrt gibt es bei allen Autoren Satzgrenzen, die von mindestens 15 Studierenden als Absatzgrenzen gedacht werden, ohne dass im Original ein Alinea stände. Eine Abstufung in semantischlogisch klare bis zu mehr oder weniger diffusen Absätzen ist also in allen Texten gegeben. Auch aufgrund der Zeile „Andere“ (nicht dem Original entsprechende Alineavorschläge) kann nicht unmittelbar auf Epochenspezifisches geschlossen werden: Hier weist z.B. Turgenev fast ebenso viele Neuvorschläge auf wie Pil’njak. Dass sich bei näherer Betrachtung der Gründe hierfür dennoch epochenspezifische Aussagen ergeben könnten, kann hier nur vermutet werden. So scheint z.B. das intensive Suchen nach weiteren Absätzen bei Turgenev weniger durch die Struktur als die ungewohnte Länge der Absätze bedingt zu sein. Belyj hingegen zergliedert den Text in relativ kurze typographische Einheiten, sodass die Möglichkeit, noch weitere Alineas hinzuzufügen, deutlich reduziert ist. So kommen in seinem III. Auszug pro Absatz durchschnittlich 34 Wörter vor, während in Turgenevs I. Auszug allein der erste Absatz 258 Wörter umfasst. Bei Tolstoj wiederum scheint die relativ geringe Anzahl vorgeschlagener „anderer“ Alineas auf die kompakte Sinneinheit eines Absatzes zurückzuführen zu sein. Wie repräsentativ die Petersburger Ergebnisse für die gegebenen Texte sind, zeigt ein Vergleich mit einer in Hamburg im Rahmen eines Seminars (Sommer 2003) durchgeführten Untersuchung zu den drei Auszügen aus Tolstojs Anna Karenina. Hier wurden dieselben Texte auf der Grundlage des russischen Originals von 7 Studierenden und auf der Grundlage der deutschen Übersetzung von 13 Studierenden des Instituts für Slavistik bearbeitet.

49

Absatzstruktur und Satzbau

L. Tolstoj: Anna Karenina Auszug I: Auszug II: Abs.grenzen 1-4 Absatzgrenzen 1-6 HH Ru 7 Andere HH Dt 13 Andere

5 4 6 0 Mittel I: 54 % 9

2

3 7 13 2 Mittel I: 48 % 16

0

SPb 35

18 10 31 2 Mittel I: 44 %

Andere

45

Auszug III: Absatzgrenzen 1-5

2 3 5 2 Mittel II: 40 % 1

3

8 2 11 7 Mittel II: 38 % 1

2

7 19 9 23 18 Mittel II: 38 % 25

3

4

3 17

Mittel

2 4 2 4 Mittel III: 43 % 6

46 %

1 8 4 9 Mittel III: 40 % 20

42 %

3 18 14 17 Mittel III: 39 %

40 %

37

Erläuterung:



HH Ru 7: sieben Hamburger Studierende auf der Basis des russischen Originals, usw.



In derselben Zeile stehen jeweils unter einem gegebenen Auszug so viele Felder wie der Auszug Absatzgrenzen aufweist. Die Zahl in diesen Feldern gibt die absolute Zahl der Studierenden wieder, die diese Absatzgrenze erkannt haben.

• •

Andere: nicht dem Original entsprechende Alineavorschläge Zum Vergleich sind im unteren Viertel der Tabelle nochmals die Petersburger Ergebnisse (SPb) aufgelistet.

Der Vergleich zwischen den Petersburger und den Hamburger Ergebnissen zeigt, dass sich die Mittelwerte weitgehend gleichen und sich aus analogen internen Verhältnissen zusammensetzen. Die kanonisierte graphische Absatzgliederung wird z.B. in Auszug I durchwegs am häufigsten und in Auszug II durchwegs am seltensten erkannt, und selbst die Vorschläge für andere Absatzgrenzen weisen analoge Verhältnisse auf. Der Vergleich zeigt darüber hinaus, dass die Absatzstruktur in der deutschen Übersetzung von Tolstojs Roman (mit einigen Ausnahmen) genauso gut zu erkennen ist wie im Original. Diese Ausnahmen lassen sich z.T. unmittelbar erklären. So steht in Auszug II Absatz 1 im deutschen Text kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt. Die geringe Trefferquote in Auszug I Absatz 1 ergibt sich durch eine Veränderung der Wortstellung und damit der Thema-Rhema-Struktur:

50

Robert Hodel […] Es war die Welt, in der seine Eltern gelebt hatten und gestorben waren. Sie hatten ein Leben geführt, das Lewin als Inbegriff der Vollkommenheit erschien, und er träumte davon, es einstmals mit seiner Frau und seiner eigenen Familie zu erneuern. An seine Mutter konnte sich Lewin kaum entsinnen, aber das Bild, das ihm von ihr vorschwebte, war für ihn ein geheiligtes Andenken […]. (Lew Tolstoi. Anna Karenina. Berlin 1985, Bd. 1, 139; übersetzt von Hermann Asemissen; kursiv – R.H.)

Im russischen Original beginnt der neue Absatz nicht mit der Erwähnung eines Elternteils (der Mutter), um damit unmittelbar an das Thema der vorlaufenden Sätze (die Eltern) anzuknüpfen und die Absatzgrenzen zu verwischen, sondern mit einem neuen Thema – mit Lewin: „Lewin konnte sich kaum an seine Mutter entsinnen. Das Bild (wörtlich: der Begriff) von ihr war für ihn eine geheiligte Erinnerung […].“ 2. Satzbau Im Vergleich des Satzbaus realistischer und modernistischer Prosatexte sind folgende Parameter untersucht worden:

• • • • • •

durchschnittliche Tiefe eines Interpunktorischen Satzes (InterS) durchschnittliche Anzahl der Teilsätze im InterS Rechts-/Linksverzweigung der Teilsätze periphere/nicht periphere Stellung der Teilsätze innerhalb des InterS Anzahl defektiver Strukturen durchschnittliche Anzahl der Wörter im InterS

Analysiert wurden insgesamt 22 realistische und 27 modernistische Prosatexte. Zur Frage der Zugehörigkeit einzelner Autoren und Texte zum Realismus bzw. zur Moderne wird bei der Interpretation der Ergebnisse noch Stellung genommen.

Absatzstruktur und Satzbau

Realismus -

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Moderne

Ivan Bunin: Derevnja Ivan Bunin: Suchodol Anton Cµechov: Archierej Anton Cµechov: Dama s sobacˇkoj Nikolaj Cµernysˇevskij: Cµto delat’? Fedor Dostoevskij: Besy Fedor Dostoevskij: Brat’ja Karamazovy Fedor Dostoevskij: Prestuplenie i nakazanie Nikolaj Gogol’: Mertvye dusˇi Nikolaj Gogol’: Sµinel’ Ivan Goncˇarov: Oblomov Ivan Goncˇarov: Obryv Maksim Gor’kij: Foma Gordeev Maksim Gor’kij: Mat’ Michail Lermontov: Geroj nasˇego vremeni Nikolaj Leskov: Nekuda Nikolaj Leskov: Soborjane Michail Saltykov-Sµcˇedrin: Gospoda Golovlevy Lev Tolstoj: Anna Karenina Lev Tolstoj: Vojna i mir Ivan Turgenev: Dvorjanskoe gnezdo Ivan Turgenev: Otcy i deti

-

Isaak Babel’: Konarmija Isaak Babel’: Korol’ Isaak Babel’: Otec Andrej Belyj: Kotik Letaev Andrej Belyj: Peterburg (1913) Andrej Belyj: Peterburg (1922) Michail Bulgakov: Master i Margarita Velimir Chlebnikov: Lico cˇerneet Velimir Chlebnikov: Zµiteli gor Il’f i Petrov: 12 stul’ev Leonid Leonov: Barsuki Leonid Leonov: Bubnovyj valet Jurij Olesˇa: Tri tolstjaka Jurij Olesˇa: Zavist’ Boris Pil’njak: Golyj god Boris Pil’njak: Masˇiny i volki Andrej Platonov: Cµevengur Andrej Platonov: Kotlovan Michail Prisˇvin: Basmaki ˇ Michail Prisˇv in: Nikon Starokolennyj Andrej Remizov: Neuemnyj buben Andrej Remizov: Sµumy goroda Evgenij Zamjatin: Afrika Evgenij Zamjatin: Mamaj Evgenij Zamjatin: Uezdnoe Michail Zosˇcˇenko: Koza Michail Zosˇcˇenko: Viktorija Kazimirovna

2.1 Erläuterung der Analyseparameter Analysiert wurden jeweils die ersten 50 interpunktorischen Sätze der genannten Werke. Ein interpunktorischer Satz (InterS) ist definiert als Ge-

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Robert Hodel

samtheit von Wörtern, die durch die Interpunktionszeichen Punkt, Frageoder Ausrufezeichen als zusammengehörig gekennzeichnet werden. Nicht berücksichtigt wurden Sätze, die direkte Rede (Personenrede) enthalten. Handelte es sich um eine zitierte Rede, so wurde diese in der Analyse als Objekt betrachtet, ohne dass die Einzelstruktur berücksichtigt wurde. (1) I poverxnostno nablüdatel´nyj, xolodnyj helovek, vzglänuv mimoxodom na Oblomova, skazal by: £Dobräk doløen byl, prostota.“ (I. A. Gonc¬arov: Oblomov, Satz 6)

Ein InterS kann mehrere Elementarsätze (hier: Teilsätze) enthalten. Ein Elementarsatz ist strukturell definiert durch das Merkmal der Prädikativität. (2) On uπel s sem´öj v gorod – i skoro proslavilsä: stal znamenitym vorom. (I. A. Bunin: Derevnja, Satz 7)

Der InterS (2) enthält drei Prädikate, also drei Teilsätze – in diesem Fall drei Hauptsätze. Im Beispiel (1) entspricht der InterS dem Elementarsatz, d.h. der InterS umfasst einen Hauptsatz. Adverbialpartizipien, Partizipien und Infinitive sind nicht satzwertig, bilden also keine Teilsätze, da ihnen das Merkmal der Prädikativität fehlt.3 Ausgehend von diesen Definitionen wurde anhand der jeweils ersten 50 InterS die SATZTIEFE ermittelt. Der Parameter Satztiefe gibt an, wie viele Ebenen ein InterS hat. Ein Hauptsatz (HS) steht immer auf der Ebene 1 (E1). Ein Nebensatz (NS) steht mindestens auf der Ebene 2 (E2); wenn er von einem weiteren Nebensatz abhängig ist, steht er mindestens auf der Ebene 3 (E3), usw. (3) S nim sluhalos´ v qtu minutu to, hto sluhaetsä s lüd´mi, kogda oni neoΩidanno uliheny v hem-nibud´ sliπkom postydnom. (L. N. Tolstoj: Anna Karenina, Satz 17) Schema: HS(E1)\NS1(E2)\NS2(E3) (\ = Unterordnung rechts)

3

Da das Vorhandensein von Partizipial- oder Infinitivkonstruktionen den Lesefluss erheblich erschweren kann, wurde parallel zur Teilsatzanalyse ermittelt, wie sich die o.g. Parameter verändern, wenn auch diese Konstruktionen als satzwertig betrachtet und dementsprechend in der Analyse berücksichtigt werden. Die Betrachtung von Partizipial- und Infinitivkonstruktionen als Bestandteil der Satzstruktur hat Auswirkung auf die Parameter SATZTIEFE und ANZAHL DER TEILSÄTZE im InterS: Der durchschnittliche Wert der Satztiefe vergrößert sich sowohl bei realistischen wie modernistischen Autoren im Durchschnitt um 0,2, der Wert für die Anzahl der Teilsätze vergrößert sich um 0,2 bei modernistischen bzw. um 0,4 bei realistischen Autoren.

Absatzstruktur und Satzbau

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Des Weiteren wurde von jedem analysierten Text die DURCHSCHNITTLICHE ANZAHL DER TEILSÄTZE pro InterS ermittelt. Verfügt ein Satz über mehr als eine Ebene, wurde außerdem die Stellung der untergeordneten Teilsätze zu den übergeordneten untersucht: a) in Hinblick auf ihre RECHTS- BZW. LINKSVERZWEIGUNG: Ausschlaggebend für die Entscheidung ist die Stellung des Teilsatzes in Bezug auf die Stellung des Prädikats des übergeordneten Satzes. (4) Oni skazali, hto vernutsä herez polhasa. (I. E∆. Babel’: Korol’, Satz 14) Rechtsstellung des NS, Schema: HS\NS (5) I pervyj äzyk, na kotorom my zagovorili, byl suxodolskij. (I. A. Bunin: Suchodol, Satz 47) Linksstellung des NS, Schema: NS/HS

b) in Hinblick auf ihre PERIPHERE BZW. NICHT PERIPHERE STELLUNG: Zusätzlich zur Rechts- bzw. Linksverzweigung wurde untersucht, ob der untergeordnete Teilsatz dem übergeordneten vorausgeht bzw. nachfolgt (periphere Stellung) oder ob er ihn unterbricht (nichtperiphere Stellung). (6) No nedarom sloΩena poslovica, hto na vsäkij has ne oboreΩöπ´sä. (N. S. Leskov: Soborjane, Satz 41) periphere Stellung des NS (7) Na terrasku, gde tarelkami Ksüπa gromyxala, Sergej Nikolaih vzoπel. (L. M. Leonov: Bubnovyj valet, Satz 49) nichtperiphere Stellung des NS

Gesondert gezählt wurden DEFEKTIVE STRUKTUREN (defS), also Teilsatzstrukturen, die keinen eigenständigen Elementarsatz darstellen, da ihnen das Prädikat fehlt. Defektive Strukturen können separat als InterS stehen oder aber einen Teilsatz im InterS ersetzen. Sie werden nicht als Teilsatz gezählt. (8) Zahem takie rehi? Nemnogo dobroduπiä, i skoro ä ujdu. (V. V. Chlebnikov: Lico cˇerneet, Sätze 44, 45) Schema: DefS. DefS^HS (^ = nebengeordnet)

Abschließend wurde von jedem Text die durchschnittliche Satzlänge, d.h. die ANZAHL DER WÖRTER PRO INTERS berechnet.

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Robert Hodel

2.2 Statistische Ergebnisse 2.2.1 Durchschnittliche Satztiefe a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.2.2 Durchschnittliche Anzahl der Teilsätze im InterS a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.2.3 Rechtsverzweigung der Teilsätze a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.2.4 Periphere Stellung der Teilsätze innerhalb des InterS a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.2.5 Anzahl defektiver Strukturen a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.2.6 Durchschnittliche Anzahl der Wörter im InterS a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

b) bei modernistischen Autoren

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2.3 Auswertung 4 Vergleicht man die realistischen mit den modernistischen Texten auf Grundlage der hier dargestellten Analyseergebnisse, stellt man zunächst fest, dass die Satztiefe bei realistischen Autoren mit 1,5 um 0,3 größer ist als bei modernistischen Autoren (1,2). Diejenigen Autoren, die innerhalb der Gruppe der Realisten nicht zum Realismus des 19. Jh. zählen, sondern aufgrund ihrer Poetik als Realisten gelten, liegen mit den Werten 1,3 (Bunin) und 1,35 (Gor’kij) zwischen den beiden Mittelwerten 1,5 (Realismus) und Moderne (1,2); ordnete man sie also nach einem streng chronologischen Prinzip ein, wäre die Veränderung der Mittelwerte gegenüber dem gewählten Vorgehen vernachlässigbar. Die Streuung innerhalb der beiden Epochen ist relativ gering, wobei sie im Realismus etwas größer ist, als in der Moderne, d.h. wir haben es mit klaren Tendenzen zu tun. Die fast einheitliche Tendenz unter den Modernisten ist umso signifikanter, als auch jene Texte, die niedrige Werte aufweisen, poetologisch unterschiedlich strukturiert sind (vgl. Belyjs Peterburg (1922) und Pil’njaks Masˇiny i volki mit Zosˇcˇenkos Koza oder Zamjatins Uezdnoe). 4

Um einzuschätzen, ob die Ergebnisse der hier dargestellten Analyse nur für den Textanfang gültig oder auf den gesamten Text übertragbar sind, wurden in 4 Texten weitere 50 Sätze untersucht: • Andrej Belyj: Peterburg (1913) • Lev Tolstoj: Anna Karenina • Ivan Turgenev: Dvorjanskoe gnezdo • Ivan Turgenev: Otcy i deti Die Analyse hat ergeben, dass sich die Satztiefe nur geringfügig verändert (im Mittel um 0,1 Punkte, jeweils in Richtung der bereits vorhandenen Tendenz): bei Belyj ist sie um den Faktor 0,1 flacher, bei Tolstoj um 0,1 tiefer, bei Turgenev in Dvorjanskoe gnezdo um 0,2 tiefer und in Otcy i deti bleibt sie gleich. Der Parameter durchschnittliche Anzahl der Teilsätze im InterS verändert sich bei den realistischen Autoren ebenso wenig signifikant: Bei Turgenev bleibt der Wert gleich, bei Tolstoj steigt er um den Faktor 0,1. Lediglich bei Belyj ist eine auffallende Veränderung festzustellen. Die durchschnittliche Anzahl der Teilsätze steigt hier um 0,8. In Bezug auf die periphere Stellung und die Rechtsverzweigung der Teilsätze ist nur bei Turgenev eine Veränderung zu beobachten. In beiden Texten steigt der Wert von rund 70 % auf nahezu 100 %. Weder die Anzahl der defektiven Strukturen noch die durchschnittliche Anzahl der Wörter im InterS verändern sich in bemerkenswerter Weise. Lediglich bei Turgenev steigt die Anzahl der Wörter um durchschnittlich 4-5 je InterS.

Absatzstruktur und Satzbau

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Zweifellos muss diese Tendenz zu einer flacheren Syntax mit der allgemeinen Kolloquialisierung der Standardsprache in Zusammenhang gebracht werden, doch scheint diese Entwicklung in der Belletristik nicht kontinuierlich zu verlaufen: von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 1920er Jahre ist sie offensichtlich an einen stilistischen Wechsel, i.e. an den Übergang vom Realismus in die Moderne gebunden. Die expliziten Äußerungen in modernistischen Manifesten und Abhandlungen hinsichtlich der Notwendigkeit, die Syntax zu revolutionieren, belegen dabei, dass es sich um einen weitgehend bewussten Prozess handelt (vgl. im vorlaufenden Kapitel Punkt 10.b). Ein Vergleich mit der Entwicklung der Satztiefe im Bereich der serbokroatischen Sprache legt darüber hinaus nahe, dass die russischen Realisten die Kolloquialisierung der Syntax lange ‚aufgehalten’ haben, woraus sich die schubartige Veränderung mit den modernistischen Texten erklärt. Der in der russischen Linguistik verbreitete Begriff der „Demokratisierung“ der Standardsprache (für Kolloquialisierung) scheint gerade für die Moderne äußerst treffend zu sein, haben sich doch viele modernistische Autoren sprachlich gerade dem Mann auf der Straße zugewandt, und zwar nicht allein im Bereich der Personenrede, wie dies bereits breit im Realismus der Fall war, sondern auch innerhalb der „autorisierten“ Erzählerrede. Betrachten wir die Satztiefe in den Literaturen in serbokroatischer Sprache, zeigt sich ein deutlich anderes Bild.

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Robert Hodel

Die durchschnittliche Satztiefe a) bei realistischen Autoren

Absatzstruktur und Satzbau

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b) bei modernistischen Autoren

Die durchschnittliche Satztiefe in realistischen Texten unterscheidet sich nicht von jener in modernistischen Texten (beide rund 1,6). Dies hat, so vermuten wir in „Zur Syntax der sˇtokavischen Moderne“ (Hodel 2003, 251–262), damit zu tun, dass sich die Sprache der Realisten auf eine Standardsprache beruft, die auf der Grundlage einer Folklore-Koine¯ und einer vorwiegend mündlichen literarischen Tradition kodifiziert worden ist und die sich erst gegen Mitte des 19. Jh. durchzusetzen beginnt. Ausgesprochene Vertreter dieser ‚kolloquialen’ Standardsprache sind die v.a. aus Serbien stammenden Autoren des „folklorni realizam“ (vgl. Ivanic´ 1996, 39ff.). Die Erzählungen dieser realistischen Stilformation (am typischsten bei Glisˇic´) unterscheiden sich vom russischen „skaz“ des 19. Jh. (insbesondere von Leskov) gerade dadurch, dass ihr Erzähler, obwohl er ebenfalls deutlich zu einer mündlichen Rede tendiert, nicht in Distanz zum Autor tritt, d.h. sprachlich nicht als Deviation vom Standard wahrgenommen und damit desavouiert wird.

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Robert Hodel

Die südslavischen Modernisten hatten also keinen Grund, sich von der Syntax des realistischen 19. Jh. zu distanzieren wie ihre russischen Kollegen. Davon zeugen auch ihre Manifeste, die trotz z.T. sehr engem Kontakt mit dem italienischen und russischen Futurismus die Syntax kaum erwähnen, geschweige denn bekämpfen. Dennoch gibt es auch in diesem sˇtokavischen Bereich Autoren, die eine rigorose ‚Verflachung’ der Syntax betreiben, so etwa H. Humo in Grozdanin kikot oder M. Krlezˇa in Hrvatska rapsodija. Auch ist freilich eine gegenteilige Reaktion vertreten – die syntaktische Anlehnung an eine Literatur vor der ‚Vukschen‘ Reform5 (z.B. bei Crnjanski). Der Vergleich der beiden Sprachbereiche bestätigt insgesamt die relativ einheitliche Tendenz zur Parataxe in der russischen Moderne. Des Weiteren legt er die Abhängigkeit epochaler stilistischer Ausprägungen von der Kodifizierung der Standardsprache nahe. In engem Zusammenhang mit der Satztiefe im Bereich der russischen Literatur steht der Parameter ANZAHL DER TEILSÄTZE JE INTERS: Bei realistischen Autoren beinhaltet ein Interpunktorischer Satz im Durchschnitt 2,6 Teilsätze, bei modernistischen Autoren 2,3. Zählen wir Partizipialund Infinitivkonstruktionen zu den Teilsätzen, erhöht sich der realistische Durchschnitt um 0,4 auf 3,0 und der modernistische um 0,2 auf 2,5. Auch dieser Parameter zeugt, v.a. in Korrelation mit der Satztiefe, von der erwähnten Tendenz zur Kolloquialisierung der Syntax. Im Hinblick auf die Rechtsverzweigung und periphere Stellung der Nebensätze zeigt sich bei gleicher Tendenz ein deutlicheres Bild bei realistischen Autoren: 79,1% aller Nebensätze sind rechtsverzweigt, 87,2% stehen peripher zum übergeordneten Satz. In modernistischen Texten stehen 67,1% der Nebensätze rechts, 82% sind peripher. Eine Deutung dieses Parameters bezüglich der festgestellten Entwicklung muss hier zurückgestellt werden, zumal vermutet wird, dass seine Interpretation sehr stark vom semantisch-logischen Bau der Hypotaxe abhängig ist (vgl. unten). Ein realistischer Textanfang (50 InterS) verfügt im Durchschnitt über 3,1 defektive Strukturen, ein modernistischer weist mit 5,9 fast doppelt so viele auf. Hier ist wiederum deutlich die Verschiebung von einer betonten Schriftsprachlichkeit und Explizitheit zu einer Stilisierung mündlicher Rede feststellbar. Dies zeigt auch die Verteilung von Parzellierungen 5

Der Name ‚Vuk‘ (Karadzˇic´) steht hier in Anführungsstrichen, weil er für die Kodifizierung der serbokroatischen Standardsprache zwar bestimmend, nicht aber alleine verantwortlich war.

Absatzstruktur und Satzbau

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(compounded formations). Während diese Form der defektiven Struktur in realistischen Texten auf die direkte Rede beschränkt bleibt, greift sie in modernistischen Texten dezidiert auf die Erzählerrede über. Die Parameter SATZTIEFE und ANZAHL DER TEILSÄTZE JE INTERS ließen bereits vermuten, dass die Sätze bei modernistischen Autoren kürzer sind als bei realistischen. Dies bestätigt die Analyse: Ein realistischer Satz umfasst im Durchschnitt 21,1 Wörter, ein modernistischer 16. Freilich ist hier die Streuung bzw. Standardabweichung bei modernistischen Autoren deutlich größer als bei realistischen. 2.4 Interpretation der Ergebnisse Die untersuchten syntaktischen Parameter können insgesamt als Faktoren einer syntaxgebundenen Wahrnehmungsleistung (SynWl) gedeutet werden. Darunter verstehen wir jenen Aufwand, den ein Rezipient eines InterS unmittelbar für das Verständnis der syntaktischen Struktur, ohne Rücksicht auf die Semantik, aufbringen muss. Die SynWl ist umso höher, je tiefer ein Satz ist und je mehr Teilsätze und Wörter er hat. Defektive Strukturen sind Ausdruck einer Minimalisierung dieser Leistung. Bezüglich der Stellung der Nebensätze kann man zunächst vermuten, dass nichtperiphere Stellung sowie Links- gegenüber Rechtsverzweigung den Aufwand tendenziell erhöhen, doch legt die Betrachtung konkreter Beispiele nahe, dass der semantisch-logische Zusammenhang zweier Handlungen oder Sachverhalte möglicherweise wichtiger ist als die absolute Stellung der Teilsätze. So ist der InterS (1) „Kaum war er angekommen, begann es zu regnen“ wohl einfacher zu rezipieren als der InterS (1’) „Es begann zu regnen, kaum war er angekommen“, der den Nebensatz profiliert. Bei den Sätzen (2) „Esli on priexal, to on obäzatel´no nam pomoøet“ und (3) „On poexal na daçu, potomu çto emu nuøno otdoxnut´“ (Sµv edova, Lopatin 1990, 564 und 571) entspricht die Links- bzw. Rechtsverzweigung der kommunikativen Dynamik: In (2) ist der Hauptsatz fokussiert, in (3) der Nebensatz, der – bleibt man bei der gewählten Konjunktion –, nicht links vom Hauptsatz stehen kann. So gibt die Links- und Rechtsverzweigung eine logische Struktur wieder, die bei einer anderen Anordnung ihrer Glieder schwerer nachvollziehbar wäre. Insofern müssten wir unsere eigene Darstellung (2003, 21ff.) weiter differenzieren und die SynWl von der argumentativen Struktur eines hypotaktischen Gefüges abhängig machen. Da dies den gegebenen Rahmen sprengen würde, wird dieser Parameter nicht in die interpretierende Auswertung aufgenommen.

72

Robert Hodel

Der Vergleich der beiden Epochen zeigt nun, dass die SynWl bei den Realisten merklich größer ist als in modernistischen Texten. Wie der Leser realistischer Werke deutlicher auf die erzählte Geschichte ausgerichtet bleibt, richtet sich seine Aufmerksamkeit im Satz intensiver auf dessen semantisch-logische Struktur. Dieses Phänomen soll hier auf drei Abstraktionsebenen interpretiert werden. Erstens steht die reduzierte SynWl in Zusammenhang mit der Ausbildung eines anderen Kohärenzprinzips: Je kleiner die SynWl, desto mehr Wahrnehmungsleistung kann ein Rezipient für weitere Bedeutungsebenen des Satzes freimachen. Die ‚flache‘ Syntax wird in der Moderne kompensiert durch rhythmisch-euphonische Gliederung (die eine graphische Textgestaltung und eine eigenwillige Interpunktion einschließen kann), hohe Metaphorizität und markierte Rekurrenz, durch Verfahren also, die auch den lyrisch-poetischen Diskurs prägen. Zweitens kann der komplex hypotaktisch organisierte InterS als Ausdruck einer zentripetal ausrichtenden Perspektive und einer dominanten auktorialen Erzählinstanz gedeutet werden, die in modernistischen Texten zugunsten des Blickwinkels der Person und des häufigen, oft nicht mehr nachvollziehbaren Perspektivenwechsels aufgegeben wird. Drittens ist die reduzierte SynWl als Ausdruck des Bruchs mit dem rationalistischen Weltbild des 19. Jh. zu deuten, dessen gedankliche, kausallogische Durchdringung der Welt in der komplexen Periode ikonisch abgebildet ist. Mit der Zerschlagung des komplexen, hypotaktischen Baus wird also das Erkennen jener dem Verstande nicht zugänglichen „Verbindungen“ (correspondances) ermöglicht, von denen Baudelaire im Kontext der Moderne erstmals spricht. Auf allen drei Ebenen verstärken die schwächer ausgeprägten Absatzgrenzen, die tendenziell die modernistische Prosa prägen6, die Verschiebung von einer semantisch-logisch und temporal-kausal bestimmten Textstruktur zu einem Text, dessen Kohärenz vermehrt durch assoziative Verbindungen gegeben ist. Statt klar strukturierte Sinneinheiten zu schaffen, rückt die rhythmische und z.T. auch graphische Funktion des Absatzes, parallel zum parataktisch geprägten InterS, in den Vordergrund. Auch 6

Vgl. Isaak Babel’: „Absatzeinteilung und Zeichensetzung müssen richtig sein, jedoch nach dem Prinzip der stärksten Wirkung auf den Leser durchgeführt werden und nicht nach einem toten Katechismus. Etwas Besonderes ist der Absatz. Er ermöglicht es, beliebig den Rhythmus zu wechseln, und oft lässt er, wie der Strahl des Blitzes, ein uns bekanntes Bild in ganz unerwarteter Perspektive erscheinen.“ (Zit. nach Silman 1974, 106f.)

Absatzstruktur und Satzbau

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in Verbindung mit der diffusen Perspektivik verstärkt die modernistische Absatzstruktur die Profilierung einer demiurgischen Erzählinstanz: Indem ein Alinea nicht mit einem klaren Perspektivwechsel zusammenfällt, drückt die Textgliederung weniger die Beschaffenheit einer vorgegebenen, textunabhängigen Welt aus, als dass sie als willkürliche Setzung erscheint. 3. Literaturverzeichnis Hodel, R. 2003. Zur Syntax der sˇtokavischen Moderne. Die Welt der Slaven XLVIII, 241– 252 (Beitrag zum XIII. Internationalen Slavistenkongress, Ljubljana, 15.-21. 8. 2003). Ivanic´, D. 1996. Srpski realizam. Beograd. Silman, T. 1974. Probleme der Textlinguistik. Heidelberg. Sµvedova, N. Ju., Lopatin, V.V. (red.) 1990. Russkaja grammatika. Moskva.

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Zur Funktion des Symbolischen. Ein Vergleich zwischen Realismus und Moderne (Tolstoj, Cµechov, Belyj) 1. Einführung Im Folgenden soll unter einer diachronen Perspektive die Funktion des Symbolischen im Realismus und in der Moderne vergleichend beschrieben werden. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass symbolische Gegenstände und Handlungen im Realismus in erster Linie psychologisch motiviert sind, während sie in der Moderne hypostasiert werden und für das (menschliche) Leben überhaupt stehen. Diese Verschiebung ist an eine Defokussierung der für den Realismus zentralen sozialen Verhältnisse gebunden. Je stärker universale Bedingungen des menschlichen Lebens in den Vordergrund treten, umso weniger liegt das Augenmerk auf einem historisch konkret ausgearbeiteten Milieu, aus dem ein Protagonist hervorgeht und zu welchem er sich in Verhältnis setzt. Mit dieser Defokussierung sozial charakterisierter Figuren geht eine Form von Textkohärenz einher, die sich an das Prinzip der Verdichtung in lyrischen Texten anlehnt: Die Abschwächung der Kohärenz auf der Grundlage kausaler und temporaler Folgen (syntagmatische Ebene) sowie die Abwendung von einer ausgeprägten Referentialität, d.h. von einem Bezug auf eine sprachunabhängige Außenwelt, werden kompensiert durch einen hochmetaphorischen, symbolischen Diskurs, der meist mit einer lautlich-rhythmischen Instrumentierung sowie einer markierten Rekurrenz zusammengeht. Diese letzteren drei Faktoren führen zu einer vermehrt assoziativen Verknüpfung des Textraums (paradigmatische Ebene). Während die realistische Poetik die unmittelbar erzählte Welt fokussiert, tritt in den modernistischen Texten das Moment der virtuosen Erzählung und damit ein demiurgischer Autor in den Vordergrund. Mit „modernistischen“ Texten meinen wir dabei, wie in den „Einführenden Betrachtungen“ erläutert, jene dominante Ausrichtung modernistischer (inkl. avantgardistischer) Prosa, wie sie von Belyj in Peterburg, von Remizov in Sµu my goroda, von Zamjatin in Znamenie, Mamaj oder

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Pesˇcˇera, von Pil’njak in Golyj god, von Platonov in Cµevengur, von Babel’ in Konarmija oder von Bulgakov in Master i Margarita vertreten wird. Neben dieser im weiten Sinne symbolistisch geprägten Literatur existiert allerdings eine weitere, wenn auch sekundäre Ausrichtung modernisstischer Prosa, die, in Anlehnung an den Gogol’schen und Leskovschen skaz, dezidiert auf das konkrete Sein (byt) ausgerichtet bleibt. Typischster Vertreter dieser bytovaja proza ist Zosˇcˇenko in seinen Rasskazy Nazara Il’icˇa, gospodina Sinebrjuchova. Indessen weisen auch eine ganze Reihe weiterer Autoren skaz-Tendenzen auf: von Remizov über Zamjatin, V. Ivanov und Leonov bis zu Babel’. In den Erzählungen dieser Autoren wird freilich der Fokus, der auf den byt gesetzt ist, oft durch eine mehr oder weniger deutlich symbolisch-allegorische Überhöhung entschärft. Die Textgrundlage der folgenden Analyse bilden vier Werke: zwei Erzählungen von Cµechov, die den Übergang von einem realistischen (Knjaginja, 1889) zu einem protosymbolistischen (Gusev, 1890) Konzept nachvollziehen lassen, eine für die dominante modernistische Poetik charakteristische Erzählung von Zamjatin (Pesˇcˇera, 1920) und eine Erzählung von Zosˇcˇenko (Agitator, 1923), die der bytovaja proza zuzurechnen ist. Die Begriffe Metapher, Allegorie und Symbol gebrauchen wir im Sinne von Kurz (1982), ohne in der Erörterung der symbolischallegorischen Überhöhung immer zwischen diesen einzelnen Tropen zu unterscheiden. Die Erzählungen Knjaginja (1889) und Gusev (1890) fallen nach Cµudakovs Gliederung des Cµechovschen Prosawerks in die Phase der objektiven Narration, deren Höhepunkt in die Jahre 1888–1894 fällt (Cµudakov 1971, 61ff.). „Objektiv“ nennt Cµudakov die Narration deshalb, weil der Erzählertext durch die Personenrede in Form von erlebter Rede überformt wird, d.h. der Erzähler fast vollständig auf sein „Objekt“, i.e. die Personen ausgerichtet bleibt (den Begriff der erlebten Rede verwenden wir hier übergeordnet auch für verwandte Phänomene wie die erlebte Wahrnehmung oder den inneren Monolog). Cµechovs Erzählungen der späten 1880er Jahre streben also generell nach psychologischer Stringenz und wertfreier Beobachtung; ihr Erzähler tritt in seiner Subjektivität maximal zurück. Die Erzählungen Knjaginja und Gusev eignen sich zur Darstellung der Entwicklung symbolistisch-modernistischer Tendenzen deshalb besonders gut, weil beide ausgesprochene Passagen objektiver Narration aufweisen und dennoch den Unterschied zwischen realistischer und modernistischer Poetik veranschaulichen lassen. Während Knjaginja voll-

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ständig dem psychologischen Realismus zuzurechnen ist, betritt Cµechov mit dem Schluss von Gusev modernistisches Neuland. 2. Cµechov: Knjaginja (1889) Über die 1889 erschienene Erzählung Knjaginja schrieb Cµechov am 15. Nov. 1888 an A. S. Suvorin: Pi‚u dlä «Nov[ogo] vr[emeni]» rasskaz. Opisyvaü odnu poganuü babu. (Cµechov 1974–1983, tom III, 71)

Gemeint ist damit die Titelheldin, eine neunundzwanzigjährige, reiche, von ihrem Mann getrennte Fürstin, die in einem Vierspänner in ein Kloster fährt, um, wie sie selber überzeugt ist, für ein paar Tage ein einfaches, bescheidenes und kontemplatives Leben (sozercanie, 2591) zu führen. Hier trifft sie auf den Arzt Michail Ivanovicˇ, den sie einst grundlos von seinem Posten auf einem ihrer Güter entlassen hatte und der ihr nun vorwirft, sie würde ihre ganze Umgebung vergiften und versklaven. Die Wahrheit dieser unerbittlichen Worte tritt im Umgang der Fürstin mit den Klosterbrüdern und auch mit dem Arzt selber offen zutage, sodass der mehrfache Hinweis des Erzählers auf Ivanovicˇs boshaftes Lächeln nicht als Relativierung der Schelte zu deuten ist. Unbestimmt bleibt lediglich, wie man das Verhalten des Arztes und seine Auswirkung auf die Fürstin zu beurteilen hat: Will uns der Autor zeigen, dass Michail Ivanovicˇ, indem er die selbstverliebte Aristokratin gnadenlos anklagt, ihr jegliche Möglichkeit der Besinnung nimmt und sie nur noch tiefer in die Rolle der unverstandenen Heiligen drängt? Legt uns die Erzählung nahe, dass sich der Doktor der Fürstin gegenüber nicht anders verhält, als er ihr selber vorwirft, und alles ohne „Liebe und Barmherzigkeit“ (ljubov’ i miloserdie, 266) tut? Entschuldigt er sich am Ende bei ihr, weil er – im Unterschied zur Fürstin – sein Fehlverhalten einsieht, oder weil er befürchtet, die Fürstin könnte sich beim Erzbischof beschweren und damit Unheil über das Kloster oder gar über seine eigene Person bringen? Oder steht der Schluss, der mit dem Beginn der Erzählung eine Ringkomposition bildet (die Fürstin verabschiedet sich selbstzufrieden von der Menge, zu der sich nun auch der Arzt gesellt hat), schlicht dafür, dass Einbildung und Rang Russland regieren? 1

Hier und im Folgenden zitieren wir aus Cµechov (1974–1983, tom VII) nur mit Angabe der Seitenzahl.

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Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen wird – was für die mittlere und spätere Phase des Cµechovschen Werks charakteristisch ist – schon deshalb erschwert, weil die relativ häufigen Werturteile in der Erzählerrede nicht eindeutig einer narrativen Instanz zugeordnet werden können. Selbst dort, wo man am ehesten ein (nach Cµudakov 1971, 27) neutrales Erzählen vermuten könnte, wie z.B. im deskriptiven ersten Abschnitt, beginnen sich Werturteile auf mehrere narrative Instanzen zugleich zu beziehen: V bol´‚ie, tak nazyvaemye «Krasnye» vorota N-skogo muΩskogo monastyrä vßexala koläska, zaloΩennaä v çetverku sytyx, krasivyx lo‚adej; ieromonaxi i poslu‚niki, stoäv‚ie tolpoj okolo dvoränskoj poloviny gostinogo korpusa, ewe izdali po kuçeru i po lo‚adäm uznali v dame, kotoraä sidela v koläske, svoü xoro‚uü znakomuü, knäginü Veru Gavrilovnu. (258; kursiv hier und im Folgenden, falls nicht anders ausgewiesen – R.H.)

Das axiologisch hervorgehobene Epitheton „chorosˇaja“, das man zunächst als auktorial gestützte Wertung verstehen mag, ist im Kontext der gesamten Erzählung eher auf die Rede der Fürstin zu beziehen (vgl. dazu Cµudakov 1971, 71, der den ersten Teil der Erzählung bis zum Treffen mit dem Arzt als Beispiel ausgedehnter erlebter Rede deutet). Jedoch bindet auch die Fürstin dieses Urteil nicht vollständig an sich, es entsteht vielmehr die Vermutung, das Attribut könnte auch die Meinung der versammelten Menge wiedergeben, deren Position freilich im Gesamttext wenig verankert ist, oder es werde von einer polemischen Intonation der Erzählinstanz überlagert. Polemische Momente klingen im Text mehrfach an, insbesondere bei Diminutiva (ptic¬ka, 259, 260, 270, oblac¬ko, 270), Oxymora (prijatnym i grustnym, 260; Kak sladko pod e˙to penie plakat’ i stradat’!, 268), in Formulierungen, die ein oberflächliches Mitgefühl entlarven (choros¬o by ostanovit’ e˙tu staruchu i skazat’ ej c¬to-nibud’ laskovoe, zadus¬evnoe, pomoc¬’ ej, 261; ej zaxotelos’ posoc¬uvstvovat’ emu, 261) oder in Werturteilen, die sich im Kontext als falsch erweisen (skromnaja zakuska, 259). Selbst der Name Vera Gavrilovna wirkt provozierend: Die Fürstin ist überberzeugt, dass sie Kraft ihres Glaubens (Vera) wie ein Engel (Gavriil) „Wärme, Licht und Freude“ (teplota, svet i radost’, 270) ins Kloster und von da in die Welt ihrer Feinde bringt: Kaz¬dyj, gljadja na nee, dolz¬en byl dumat’: «Bog poslal nam angela...» (260). In allen diesen Formulierungen bleibt der Erzähler freilich der Perspektive der Fürstin verpflichtet, sodass der polemische Unterton nie über den Standpunkt der Person dominiert.

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Insgesamt entsteht also der Eindruck, das Epitheton „chorosˇaja“ schwebe gewissermaßen über allen drei involvierten Instanzen (Erzähler, Fürstin, Umgebung), ohne einer dieser Instanzen ausdrücklich anzugehören. Auf diese schwebende Erzählhaltung macht auch Polockaja (2001, 187) aufmerksam: Avtorskaä toçka zreniä moΩet pribliΩat´sä k otdel´nym golosam, no nikogda ne sovpadaet ni s odnim iz nix; polnost´ü ona obnaruΩivaet sebä tol´ko v kontekste vsex qlementov proizvedeniä.

Auch Hielscher (1987, 83) deutet Cµechovs „objektives“ Schreiben letztlich als „Demonstration dafür, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Das Bild der Welt setzt sich zusammen aus einzelnen subjektiven Wahrnehmungen, Stimmungen, Erlebnissen, Gefühlen, die auch zeitlich als Momenterfahrungen kenntlich gemacht werden.“ Betrachten wir die bildlichen Ausdrücke in diesem Text, so fällt auf, dass es sich ausschließlich um konventionelle, oft phraseologisch gebundene Tropen handelt, die kaum als solche wahrgenommen werden. So beschränkt sich die reine Erzählerrede auf die folgenden Metaphern: govorila gorjac¬o (259), otvec¬al cholodno, sucho (261), zalilsja tonkim smechom (265), smejalsja tjaz¬elo (267), cholodnoe lico prosijalo (267), lico ego potemnelo (268), porchnula v e˙kipaz¬ (270), s¬eds¬ich verenicami v monastyr’ (270), valili oblaka pyli (270). Auch die umfangreiche Rede des Arztes weist nur wenige und ebenfalls konventionelle Bilder auf: duch caril (262), mjaso dlja pus¬ek (263), sodrat’ s odnogo vola tri s¬kury (264), otstavnaja garnizonnaja krysa (265), zabavljat’sja z¬ivymi kuklami (266). Diese Ausdrücke verraten eine tiefe Verachtung, sind also unmittelbar durch das Empfinden der Figur motiviert. Die meisten Metaphern freilich tauchen in einer Erzählerrede auf, die weitgehend der Bewusstseinswelt der Protagonistin verpflichtet ist. Hier sind auch am ehesten Ansätze zu einer symbolischen Überhöhung des Geschilderten gegeben. Das zentrale Metaphernfeld dieser Erzählpassagen weist auf die Situation eines schuldbewussten Menschen hin, der fern vom Treiben der Welt die Einsamkeit der dunklen Klosterzelle aufsucht, um hier Läuterung und Ruhe zu finden: Byvaet tak, çto v temnuü keliü postnika, pogruΩennogo v molitvu, vdrug neçaänno zaglänet luç ili sädet u okna kelii ptiçka i zapoet svoü pesnü; surovyj postnik nevol´no ulybnetsä, i v ego grudi iz-pod täΩeloj skorbi o grexax, kak iz-pod kamnä, vdrug pol´etsä ruç´em tixaä, bezgre‚naä radost´ (259), V temnyx oknax, gde krotko mercali lampadnye ogon´ki (260), v qtom

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Robert Hodel monastyre, gde Ωizn´ tixa i bezmäteΩna, kak letnij veçer (260), kloç´ämi brodit veçernij tuman… çernym oblakom, poxoΩim na vual´, letät na noçleg graçi (260), to veter poduet i tronet verxu‚ki berez (261), i tol´ko by odin bog da zvezdnoe nebo videli slezy stradal´cy (268).

Diese Bilder haben an sich durchaus das Potential zur symbolischen Überhöhung des involvierten Bewusstseins, sodass der Leser das geschilderte Sehnen nicht mehr an die Protagonistin bindet, sondern es als einen allgemeinmenschlichen Wert wahrnimmt. Im gegebenen Kontext sind jedoch die Metaphern so eng an das Bewusstsein der Protagonistin gebunden, dass sie statt einer symbolischen Überhöhung einer polemischen Unterwanderung ausgesetzt sind. Diese Polemik ergibt sich in erster Linie daraus, dass sich die Fürstin weniger als große Sünderin denn als jenes Vögelchen (pticˇka) sieht, das in eine ihm feindliche Welt „Wärme, Licht und Freude“ (270) trägt. Damit verliert die Vorstellung von der Weltflucht einer Reuigen in die Abgeschiedenheit eines mondbeschienenen Klosters ihre positiv-symbolische Kraft und steht nur mehr für eine selbstverliebte Imagination. Ähnlich verhält es sich mit einem durch Rekurrenz hervorgehobenen Gegenstand, der ebenfalls über ein symbolisches Potential verfügt – mit dem Hut des Arztes. Dieser Strohhut findet im Text nicht weniger als acht Mal Erwähnung. In der ersten Verwendung ist der Hut Teil der Beschreibung des Äußeren und das zweite Mal ist er Gegenstand der Begrüßungsgestik. Im dritten Verwendungskontext redet der Arzt derart verbittert auf die Fürstin ein, dass sie sich vorstellt, man würde ihr mit dem Hut auf den Kopf schlagen (b’et ee svoeju s¬ljapoj po golove, 264). Am Ende der Tirade, nachdem der Doktor hämisch in seinen Hut gespritzt hat (zloradno prysnul v s¬ljapu, 264), meint die Fürstin, er würde mit dem Hut gar auf sie einhämmern (dolbit ee svoej s¬ljapoj po golove, 266) und hebt schützend die Hände (podnimaja vverch ruki, c¬toby zaslonit’ svoju golovu ot doktorskoj s¬ljapy, 266). Schließlich verstummt der Arzt jäh, entschuldigt sich, und geht, ohne den Hut aufzusetzen, weg (I, konfuzlivo, kas¬ljanuv, zabyvaja nadet’ s¬ljapu, on bystro otos¬el ot knjagini, 268). Es wäre durchaus vorstellbar, dass der Hut in diesen Beschreibungen zu einem Symbol für einen unbarmherzigen, unmenschlichen Richter würde und damit dessen Träger zu „transzendieren“ begänne. Diese Bedeutungsdimension wird jedoch durch den dominant mimetischpsychologischen Gehalt der Szene verunmöglicht: Das Gestikulieren des Arztes ist nicht nur real, d.h. verhaltenspsychologisch motiviert (er hat vorher den Hut aus Höflichkeit abgenommen und behält ihn, da er nicht

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zum Sitzen eingeladen wurde, in der Hand), in diesen anscheinend bedrohlichen Gesten steht auch die Perspektive der Protagonistin im Vordergrund: Statt sich mit den Vorwürfen des Arztes auseinanderzusetzen, vernimmt sie nur ein „schlagendes Rauschen“ (stuc¬as¬c¬ij s¬um, 264), statt den Mann vor sich zu sehen, den sie unlängst entlassen hat und dessen Frau möglicherweise deshalb sterben musste, sieht sie lediglich einen drohenden, anonymen Hut. Die niedrige Frequenz und die Konventionalität der Metaphern und Bilder sowie ihre konsequente Einbindung in den Charakter und die Perspektive der auftretenden Figuren verhindert in Knjaginja, dass deren potentieller symbolischer Gehalt entfaltet wird. Auch wenn der Autor weit davon entfernt ist, die Aristokratie als Klasse zu verdammen, steht die sozialkritische Bedeutungsdimension im Vordergrund. Das Kloster als Symbol des kontemplativen, gerechten Daseins, als „Symbol des ewigen Kampfes mit dem Bestehenden im Namen immer höherer Formen des Lebens“ (Berdjaev // Losievskij 1993, 38) wird durch seine vollständige Subsumierung unter die Person der Fürstin nicht nur seiner Nähe zu einem „unerreichbaren Ideal“ (ebd., 33) beraubt, es charakterisiert die Fürstin auch in einem negativen Sinne. 3. Zosˇcˇenko: Agitator (1923) Cµechovs karge Verwendung von Metaphern und Bildern in den ersten Schaffensphasen (bis zum Ende der 1880er Jahre) deckt sich weitgehend mit der frühen Prosa Zosˇcˇenkos. Auch Zosˇcˇenko, der unter dem Einfluss des frühen Cµechov schreibt (vgl. Ersˇov 1982), verwendet kaum Bilder. Tauchen vereinzelte Metaphern im Text auf, sind sie stark lexikalisiert, als bildliche Ausdrücke kaum wahrnehmbar und vollständig in die Funktion der Redecharakterisierung – sei es des Erzählers oder einer Person – integriert. Dabei bleibt Zosˇcˇenko bewusst auf der banalen Oberfläche des Lebens; er schildert alltägliche Situationen von Personen, die sich um Nichtigkeiten sorgen, ohne in die innere Welt dieser Figuren einzudringen. Existenzielle Konflikte und letzte Fragen bleiben ausgespart oder treten nur im Diskurs eines beschränkten, vom Autor klar getrennten Bewusstseins zutage. Die geschilderten Situationen sind durch die Konkretheit der Benennungen und die charakteristische Rede des Erzählers – eines ungebildeten und weitgehend „kulturlosen“ Stadtbewohners (rec¬’ malokul’turnogo gorodskogo obyvatelja, Sµcˇeglov 1981, 129) – sozial, lokal und zeitlich weitestgehend verankert. Eine gewisse Allgemein-

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gültigkeit der geschilderten Personen und Situationen ergibt sich lediglich, analog zum Realismus des 19. Jahrhunderts, durch ihre Repräsentanz für ein bestimmtes Milieu. Soziale und historische Konkretheit, Alltäglichkeit und phänomenologische Oberflächlichkeit sowie die (v.a. sprachlich gegebene) Deklassierung des Figurenbewusstseins führen nun, wie anhand einer Erzählung kurz auszuführen ist, zu einer vollständigen Desemantisierung der symbolischen Dimension der Sprache. In der Erzählung Agitator (1923) aus dem Band Rasskazy Nazara Il’icˇa, gospodina Sinebrjuchova besucht der beurlaubte Wächter einer Flugschule Grigorij Kosonosov sein Heimatdorf. Von seinen Arbeitskollegen wird er aufgefordert, bei dieser Gelegenheit für das Flugwesen zu „agitieren“. Die Intention des Protagonisten, die bereits im Titel angekündigt wird, und der eigentliche Handlungsablauf stehen dabei, wie in vielen Erzählungen aus diesem Zyklus, in einem schreienden Gegensatz. Statt die als rückständig erachteten Bauern für die neue Technik zu gewinnen, verwandelt sich die Rede des „Agitators“ in eine Schilderung von Flugzeugabstürzen und Zerfleischungen von Tieren durch Flugzeugpropeller. Zosˇcˇenko vollzieht eine zur symbolisch-allegorischen Überhöhung geradezu gegenteilige Bewegung: Statt einer konkreten Handlung (Agitation) universale, i.e. welt-revolutionäre Züge zuzuschreiben, entlarvt er den universalen Anspruch dieses Vertreters der jungen kommunistischen Epoche als wirres Gefasel eines eingebildeten und zugleich verunsicherten Menschen. Die Erzählung weist die folgenden bildlichen Ausdrücke auf: valäjte; vy est´ narod, koneçno temnyj; MuΩiçki slu‚ali mraçno; bliΩe k massam; svernuv koz´ü noΩku; babaxnet vniz; aΩ ki‚ki vroz´; tut nakos´, vy2 kusi; vred im v uxo; lo‚adej kro‚it´; mraçno posmeivaäs´ (84–85 ).

Die Ausdrücke sind meist lexikalisiert und haben mehr oder weniger deutlich umgangssprachlichen Charakter. Hierbei spielt der Autor offensichtlich mit der Diskrepanz von eigentlicher und übertragener Bedeutung. Die Aufforderung, „volksnaher“ zu sprechen (bliz¬e k massam), versteht der Agitator wörtlich (podos¬el bliz¬e k), und der Charakterisierung des Volkes als „dunkle“ Masse (narod temnyj) korrespondiert das zweimal wiederholte Attribut „finster“ (slus¬ali mrac¬no, mrac¬no posmeivajas’). Gerade in dieser bildlichen Hervorhebung der Rückständigkeit mag man 2

Hier und im Folgenden zitieren wir aus Zosˇcˇenko (1982) nur mit Angabe der Seitenzahl.

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einen dezidierten Hinweis dafür finden, dass der Autor die kommunistischen Agitatoren selbst für aufklärungsbedürftig hält. Nie jedoch deutet diese „Dunkelheit“ auf eine mangelnde Mündigkeit des Menschen an sich hin, die der Leser auf sich selber beziehen könnte. Der Autor verbleibt in merklicher Distanz zum dargestellten beschränkten Bewusstsein. Die Erzählung bleibt auf eine bestimmte Zeit und eine bestimmte soziale Umgebung fixiert, die auch nicht in Ansätzen symbolisch-allegorisch überhöht wird. 4. Cµechov: Gusev (1890) Die ideologischen Verhältnisse in Gusev sind zunächst weitgehend vergleichbar mit Knjaginja: Der Autor übt harsche Kritik an der russischen Wirklichkeit, die er diesmal nicht aus der Perspektive einer privilegierten Aristokratin, sondern eines Schiffsreisenden dritter Klasse schildert. Gusev, ein aus dem Militärdienst fristlos entlassener, schwindsüchtiger Offiziersbursche, steht im Text buchstäblich für seinen sprechenden Namen (vgl. Dal’: Gus´ iz peçi ne lezet; I gusä na svad´bu tawat, da vo wi; I bol´‚omu gusü ne vysidet´ telenka; Pej, gus´, vodu, ne s boärskogo rodu; gusem, gus´kom; gusinaä pamät´; usw.). Auch wenn man in ihm positive Züge sehen mag – etwa die Sorge für seine Familie, die Jackson (1997, 419–425) als christliche Nächstenliebe auslegt –, so ist die Kritik an ihm und seinem Weltbild ebenso wenig in Frage zu stellen wie die Kritik an denen, die sein Schicksal verantworten. Gusev ist nicht nur Opfer eines menschenverachtenden Systems, das schwerkranke Soldaten vom russischen Fernen Osten ‚nach Hause’, i.e. in den Tod schickt, er steht auch für ein abergläubisches und blind höriges, einfaches Volk. Er ist nicht nur mild, fürsorglich und altruistisch, er zeigt auch retrograde, despotische und rassistische Züge: So wünscht er sich Kinder, die nicht klüger als ihre Eltern sind (3523); er schlägt grundlos Manzy (Chinesen aus dem Ussurijskij kraj) blutig (355), die in der Hierarchie noch weiter unten stehen als er; er möchte einen Chinesen, den er nur von ferne sieht, ohrfeigen; oder er würde Manzy und Deutsche ohne Weiteres im Meer ertrinken lassen, ganz im Unterschied zu den rechtgläubig Getauften (kresˇcˇenye, 362).

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Hier und im Folgenden zitieren wir aus Cµechov (1974–1983, tom VII) nur mit Angabe der Seitenzahl.

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In der Kritik an diesem Titelhelden, die mit der Kritik seines Schicksals als Repräsentant einer deklassierten Schicht einhergeht, wendet sich Cµechov gegen eine einseitige Darstellung sozialhierarchischer Verhältnisse. Das Verhalten von Untergebenen hatte Cµechov bereits in der zweiten Variante der Erzählung „Tolstyj i tonkij“ (1886) in die Frage nach den Ursachen sozialer Ungerechtigkeit einbezogen. Hier verunmöglicht das unterwürfige Verhalten des Dünnen einen menschenwürdigen Umgang mit seinem einstigen Schulkameraden, der nun sein Vorgesetzter geworden ist. Und 1893 (23.4.) schreibt Cµechov an Suvorin: […] Iz vsex sovremennyx pisatelej ä ne znaü ni odnogo, kotoryj byl by tak strastno i ubeΩdenno liberalen, kak Pisemskij. U nego vse popy, çinovniki i generaly – splo‚nye merzavcy. (Cµechov 1974–1983, V, 204)

In Gusev wird freilich die Kritik an der Fähigkeit des Helden, sich mit beliebigen Umständen abzufinden (prinoravlivat’sja k ljubym obstojatel’stvam, 683), dadurch gebrochen, dass sie von einem Intellektuellen vorgetragen wird, dem es, obwohl selbst Opfer des Systems geworden, nicht gelingt, mit diesem einfachen Soldaten wirklich ins Gespräch zu kommen. Pavel Ivanycˇ ist weder fähig noch willig, seine scharfe, ironische Zunge seinem ungebildeten Gegenüber anzupassen. Es scheint, als ob er sich, in dem er Gusev als einen Vertreter des Obskurantismus abstempelt, nicht an sein Gegenüber, sondern bereits an jene kritische Öffentlichkeit wendet, die er nach seiner Rückkehr nach Charkov schonungslos aufzuklären gedenkt. Pavels Kritik wird also – ähnlich wie jene des Doktors in Knjaginja – durch ihre Unerbittlichkeit und Radikalität, die sich in einem fehlenden Einfühlungsvermögen äußert, ihrerseits wieder in Frage gestellt. Im Unterschied freilich zu Knjaginja lösen sich in Gusev die Interpretationsansätze, die aus der Unterwanderung der von Pavel Ivanycˇ geäußerten Kritik erwachsen, weitgehend von der Perspektive der involvierten Personen. Dies geht, wie es auch für das spätere Schaffen Cµechovs charakteristisch sein wird, mit einer sich intensivierenden symbolischallegorischen Bedeutungsdimension des Textes einher. Gegenüber Knjaginja sind in Gusev drei wechselseitig korrelierte Verschiebungen festzustellen: Je mehr sich die symbolische Ebene, die eine ideologische Ausrichtung mitträgt, intensiviert, entkoppelt sie sich, wie parallel auch die axiologische Ebene, von der Perspektive der Personen. Diese Verlagerung ist bereits zu Beginn der Geschichte angelegt und radikalisiert sich gegen ihr Ende hin. Im Vordergrund stehen dabei die

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Metaphern und Symbole im Redekontext der Figur Gusev. Metaphorische Ausdrücke in Pavel Ivanycˇ’s Rede fallen kaum ins Gewicht, zumal sie weitgehend lexikalisiert und durch sein aufgewühltes Gemüt motiviert sind (kogo v gazetach rass¬c¬elkat’, vryvat’ c¬eloveka iz rodnogo gnezda, vognat’ v c¬achotku, 354; Vy ljudi temnye, viz¬u torz¬estvujus¬c¬uju svin’ju, 358). Sie zeugen von der Radikalität der geübten Kritik und der Voreingenommenheit seines Standpunktes und entfalten über die Person und den gegebenen historischen Kontext hinaus keine Bedeutung. Diese Beschränkung der Bilder auf eine personenimmanente Funktion geht mit der vollständigen Absenz erlebter Rede einher. Dies ist umso signifikanter, als dem Intellektuellen Pavel Ivanycˇ die ausgedehntesten Repliken im Text zufallen. Gusev indessen kommt deutlich weniger zu Wort und dennoch sind seine metaphernreichen Aussprüche von intensiver erlebter Rede (bzw. erlebter Wahrnehmung), von Träumen und Fieberphantasien begleitet. Die ersten Metaphern im Text beziehen sich auf die lange Fahrt auf See, die bei den Kranken Übelkeit und Langeweile hervorrruft: veter guläet, xlewut volny, vse krugom spit i bezmolvstvuet, Kojka pod Gusevym… toçno vzdyxaet. (351)

Sie bereiten Gusevs direkte Rede „Veter s cepi sorvalsä“ (351) vor, deren animistische Tendenz Pavel Ivanycˇ kritisiert und die Gusev wiederum in fieberhaftem Zustand rechtfertigt: […] takΩe poloΩim, çto tam, gde konec sveta, stoät tolstye kamennye steny, a k stenam prikovany zlye vetry… Esli oni ne sorvalis´ s cepi, to poçemu Ωe oni meçutsä po vsemu morü kak ugorelye i rvutsä, slovno sobaki? (352)

Diese starken Bilder werden für den Leser – neben ihrer Motivation durch die realen Geräusche auf dem Schiff – durch Gusevs elenden Gesundheitszustand und sein mythisch-religiöses Weltbild nachvollziehbar. Ebenfalls psychologisch motiviert ist das sporadische Auftauchen eines augenlosen Stieres: Nicht zufällig erscheint ihm dieses Todesmotiv zum ersten Mal, als er sich sein heimatliches Dorf vorstellt (352); auch dürfte er im Lazarett die Stiere gehört haben, die sich auf Deck befinden. Ungeachtet dieser Verankerung in der Person bereiten die gewählten Bilder aber eine symbolisch-allegorische Bedeutungsebene vor, die die Figur zu transzendieren beginnt. Ansätze zu dieser Verschiebung zeigen sich bereits in der Szene, in der Gusev im feuchtheißen Schiffsrumpf zu ersticken droht und von einem Soldaten „nach oben“ (naverch, 361) getragen wird. Auf Deck schla-

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fen reihenweise fristlos entlassene Soldaten und Matrosen unter acht Stieren und einem Pferd, das Gusev streicheln möchte und das ihn in den Ärmel beißt. An der Schiffsplanke angelangt, schauen Gusev und der Soldat aufs offene Meer hinaus (to vverch, to vniz): Naverxu glubokoe nebo, äsnye zvezdy, pokoj i ti‚ina – toç´-v-toç´ kak doma v derevne, vnizu Ωe – temnota i besporädok. Neizvestno, dlä çego ‚umät vysokie volny. Na kakuü volnu ni posmotri‚´, vsäkaä staraetsä podnät´sä vy‚e vsex, i, davit, i gonit druguü; na nee s ‚umom, otsveçivaä svoej beloj grivoj, naletaet tret´ä, takaä Ωe svirepaä i bezobraznaä. U morä net smysla, ni Ωalosti. Bud´ paroxod pomen´‚e i sdelan ne iz tolstogo Ωeleza, volny razbili by ego bez vsäkogo soΩaleniä i soΩrali by vsex lüdej, ne razbiraä svätyx i gre‚nyx. U paroxoda toΩe bessmyslennoe i Ωestokoe vyraΩenie. Qto nosatoe çudoviwe pret vpered i reΩet na svoem puti milliony voln […]. (362)

Der emporgerichtete Blick, der ausdrücklich mit Gusevs Heimatdorf verbunden wird, ist noch deutlich seinem religiösen Weltbild verpflichtet. Auch im Blick in die Tiefe mag man Ansätze erlebter Rede sehen: So ist die dämonische Kraft der Wellen in der Personifikation des Windes bereits antizipiert worden und auch die Kategorie „Heilige und Sünder“ spiegelt zweifellos Gusevs simple Weltsicht wider. Die Fokussierung einer grausamen Hierarchie jedoch, die aus der Beschreibung der Wellen hervorgeht, ist kaum mehr mit Gusevs Erfahrungshorizont zu verbinden. Denn Gusev empfindet seinen Dienst weder als ungerecht noch erniedrigend, vielmehr ist er überzeugt, dass derjenige, der recht lebt und gehorcht (ez¬eli ty z¬ives¬’ pravil’no, slus¬aes¬’sja, 355), von keinem beleidigt würde. Mit der mangelnden psychologischen Motivierung beginnt sich der symbolische Gehalt des hochmetaphorischen Diskurses von der Person Gusevs zu lösen, er ist, das wird immer deutlicher, dem Autor selbst zuzuschreiben. Ganz offensichtlich wird diese Verschiebung am Schluss der Erzählung: Der tote, mit eisernen Rosten in Segeltuch eingewickelte Gusev wird – einer Rübe oder einem Meerrettich ähnlich (363) – über Bord geworfen und versinkt in den Tiefen des Meeres. Nachdem er vom Schiff aus schon längst nicht mehr zu sehen ist (isc˘ezaet v volnach, 363), tauchen Lotsenfische und schließlich ein Hai in seiner Nähe auf: Qto akula. Ona vaΩno i nexotä, toçno zameçaä Guseva, podplyvaet pod nego, i on opuskaetsä k nej na spinu, zatem ona povoraçivaetsä vverx brüxom, neΩitsä v teploj, prozraçnoj vode i lenivo otkryvaet past´ s dvumä rädami zubov. Locmany v vostorge […] parusina razryvaetsä vo vsü dlinu tela, ot golovy do nog […].

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A naverxu v qto vremä, v toj storone, gde zaxodit solnce, skuçivaütsä oblaka; odno oblako poxoΩe na triumfal´nuü arku, drugoe na l´va, tret´e na noΩnicy… Iz-za oblakov vyxodit ‚irokij zelenyj luç i protägivaetsä do samoj srediny neba; nemnogo pogodä rädom s qtim loΩitsä fioletovyj, rädom s qtim zolotoj, potom rozovyj… Nebo stanovitsä neΩno-sirenevym. Glädä na qto velikolepnoe, oçarovatel´noe nebo, okean snaçala xmuritsä, no skoro sam priobretaet cveta laskovye, radostnye, strastnye, kakie na çeloveçeskom äzyke i nazvat´ trudno. (364)

Da Gusev (wie Pavel Ivanycˇ) tot und seine Leiche vom Schiff aus nicht mehr zu sehen ist, kann die Beschreibung nicht auf den Blickwinkel einer Figur bezogen, d.h. psychologisiert werden. Darin unterscheidet sich die Schlussszene grundsätzlich von den vorhergehenden Auszügen wie auch von der gesamten Anlage der Knjaginja. Der symbolische Gehalt des hochmetaphorisierten Diskurses steht, da auch keine Anzeichen für einen subjektiven, vom Autor distanzierten Erzähler vorhanden sind, für die Wahrnehmung der autorisierten Erzählinstanz. Auch wenn die Beschreibung des Himmels den Bewusstseinsbahnen Gusevs streckenweise folgen mag, denkt nun statt seiner offenkundig der Autor-Erzähler. An die Stelle eines mimetischen, psychologisch motivierten Abbildens tritt unmittelbar das Bewusstsein des Autors. Der symbolische Schluss ist depersonalisiert, demotiviert und hypostasiert. In ihm vollzieht Cµechov den Bruch mit dem psychologischen Realismus. Zur „Anwesenheit des Autors“ im symbolischen Raum schrieb Losievskij (1993, 33): «Polusimvolizm» Çexova (termin D. N. Ovsäniko-Kulikovskogo) – odna iz nemnogix primet prisutstviä avtora v povestvovanii. Ne terää proçnyx sväzej so stixiej otraΩennej predmetnosti, obßektivnoj real´nosti, çexovskij «polusimvolizm» neset v sebe kod avtorskoj duxovnosti, subßektivnokonceptual´nogo naçala. Vrastaä v predmetno-sobytijnuü tkan´ povestvovaniä, simvol soglasuetsä s ideej dinamiçeskogo edinstva material´nogo i duxovnogo mira, dominiruüwej v mirovozzrenii pisatelä.

Der Bruch mit der psychologisch motivierten Bildlichkeit ist auch unmittelbar auf der sprachlichen Ebene nachvollziehbar: Nicht nur werden häufiger Bilder (Metaphern) verwendet, ihr Gebrauch ist auch oft an eine Transposition bzw. Nicht-Isosemie gebunden. Isosemie (ein Begriff von G. A. Zolotova4) liegt vor, wenn die Bedeutung eines Inhaltsworts der zugehörigen ontologischen Kategorie entspricht. (Die „ontologisch korrekten“ Inhaltswörter bilden das Zentrum der jeweiligen Wortart; z.B. bilden 4

Vgl. Zolotova, Onipenko, Sidorova 2004, 44 und Zolotova 1982.

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Substantive, mit denen Personen und Dinge bezeichnet werden, das Zentrum der Substantive, abstrakte Substantive hingegen liegen an der Peripherie dieser Wortart). Während die zitierten Auszüge aus Knjaginja deutlich zur Isosemie tendieren, bemerken wir in Gusev, insbesondere in der Beschreibung des Himmels und des Meeres, eine auffällige Reihung nicht-isosemer Substantive: Die Eigenschaften ruhig, still, dunkel, unordentlich werden zu Abstrakta transponiert (pokoj, tisˇina, temnota, besporjadok). Auch der Gebrauch von smysl und zˇalost’ ist – vor allem in Bezug auf das Meer – auffällig. Vergegenwärtigen wir uns hierbei den unbedarften Gusev, so bestärken diese Transpositionen die Dekontextualisierung und Universalisierung der verwendeten Bilder. Symptomatisch hierfür ist die Erwähnung einer menschlichen Sprache, mit der die Farben des Himmels nur schwer zu benennen seien (364). Cµechovs Bruch mit dem Realismus wurde bereits von seinen Zeitgenossen, insbesondere in Bezug auf die Dramen, wahrgenommen. Aufschlussreich für den gegebenen Zusammenhang ist der Wortlaut dieser Kritiken: So empfindet M. S. Ol’minskij (Vostocˇnoe obozrenie, 1901, 29.7., No 168) die Handlung der Drei Schwestern als „unnatürlich“ und „unmotiviert“, als etwas, das „vom realistischen Standpunkt her […] keiner Kritik“ standhalte (zit. nach Cµudakov 1971, 210). Positiv beurteilt wird dasselbe Phänomen von P. Percov (Pervyj sbornik. SPb. 1902, 189), der darin die neue, symbolistische Poetik erkennt: Stremlenie trex sester v Moskvu […] svoim simvolizmom, svoej nemotivirovannost´ü oçen´ napominaet ibsenovskij priem. (zit. nach Cµu dakov 1971, 211)

Das modernistische Verfahren der fehlenden psychologischen Motivierung führt freilich in Gusev nicht zu einer ideologisch einheitlicheren Ausrichtung als in Knjaginja, im Gegenteil, Cµechovs Skeptizismus aus der objektiven Schaffensphase, der selbst schon eine einschlägige Moral verbietet, wird noch um eine metaphysische Bedeutungsdimension erweitert. Es scheint, dass die fehlende axiologische Positionierung des Autors, in der Tolstoj den Einfluss Nietzsches erkennt, sich zunächst innerhalb der realistischen Poetik konstituiert (Knjaginja), um dann in die modernistische Rationalismuskritik und die Verwerfung des rationalistisch begründeten Moralkodexes einzumünden (Gusev). Drei Bedeutungsebenen, unter denen keiner Ebene der Vorrang zu geben ist, erschließen sich dem Interpreten:

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1. Kritik am zaristischen Russland (sozialkritische Tendenz) Bevor Gusev an der Schiffsplanke aufs offene Meer blickt, betrachtet er das dunkle Deck: Net ognej ni na palube, ni na maçtax, ni krugom na more. Na samom nosu stoit nepodviΩno, kak statuä, çasovoj, no poxoΩe na to, kak budto i on spit. KaΩetsä, çto paroxod predostavlen sobstvennoj vole i idet, kuda xoçet. (361)

Vorbereitet durch Pavel Ivanycˇs radikale Kritik wird das Schiff zu einem Symbol Russlands, das um sich lauter Feinde (Wellen) schart und seine Umgebung bedroht und zerstört. Auf dem Boot selber findet sich eine streng hierarchische Gesellschaft von Reisenden erster und dritter Klasse, die voneinander räumlich getrennt werden, sobald sie das Boot betreten (eine Mittelschicht gibt es nicht). Der Versuch eines vereinzelten kritischen Intellektuellen, sich dem einfachen Volk im stickigen Schiffsrumpf zu nähern, scheitert an der eigenen narzisstischen Moralität wie am Obskurantismus der geknebelten, unter Vieh hausenden Deklassierten. Auch der Geistlichkeit, die die hinweggerafften Siechenden mit den letzten Sakramenten versorgt, um sie dann dem Fraß der Fische zu überlassen, ist (mit Ausnahme von „Säufervisagen“ in Tuchrock und hohen Stiefeln, 357) der Zugang zum Schiffsrumpf versagt. Sich selbst überlassen, treibt das Schiff, über einem Himmel, an dem sich dieselbe grausame Hierarchie spiegelt, ins offene Meer hinaus. Der Schlussakkord über den Ozean, der vom „bezaubernden Himmel“ beruhigt wird und der „zärtliche, fröhlich-leidenschaftliche Farben“ (364) annimmt, erscheint demnach nur mehr als satirische Pointe im Sinne eines „Svjatocˇnyj rasskaz“. 2. Kritik der Lebensgrundlage (nihilistische Tendenz) Das Boot – eine Art Arche Noah – steht nicht nur symbolisch für Russland, sondern für die ganze Menschheit und das gesamte Leben. Das Grundprinzip dieses Lebens ist das Recht des Stärkeren, das vom Himmel (Triumphbogen, Löwe, Schere) über die Gesellschaft (erste, dritte Klasse) bis in die Tiefen des Meeres reicht (Hai, Lotsenfische). 3. Metaphysische Dimension Obwohl die Geschichte über Gusev und Pavel Ivanycˇ eine grausame historische Wirklichkeit erzählt, ist der Schlussakkord positiv zu fassen. Am Ende („pered zachodom solnca“, 363) werden sich die räuberischen Wellen angesichts des „zärtlich-fliederartigen“ Himmels (364) beruhigen. Dieses Sinnbild ist in zweifacher Weise zu interpretieren: religiösmetaphysisch und weltimmanent-teleologisch.

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Die Versöhnung des Ozeans mit dem Himmel lässt sich in einem religiös-metaphysischen Sinne auf Gusev beziehen, der in ein jenseitiges Leben übertritt. Insofern ist das Aufreißen des Segeltuchkokons als Wiedergeburt und Erwachen aus einem langen Schlaf zu deuten: Spit on dva dnä, a na tretij v polden´ prixodät sverxu dva matrosa i vynosät ego iz lazareta. (363)

Der fröhlich-leidenschaftliche Himmel symbolisiert die Liebe Gottes.5 Bevorzugen wir innerhalb dieser positiven Bedeutungsausrichtung indessen eine weltimmanente Interpretation, so wird der Tod Gusevs dadurch relativiert, dass seine Person in dem von ihm vorgelebten Ideal weiterlebt. Er erscheint gleichsam als ein aus dem Meer geretteter Ionas 6, dessen Predigt in Ninive Früchte tragen wird. Diese biblische Allusion stützt sich auf mehrere Parallelen: Ionas wie Gusev stoßen auf einen großen Fisch; beide steigen sie ins Innere des Schiffes und schlafen hier ein, bevor sie über Bord geworfen werden; wie Gusev im Lazarett drei Tage „schläft“, so schläft auch Ionas im Bauch des Fisches drei Tage und drei Nächte; wie sich der biblische Sturm legt, so beruhigt sich auch Cµechovs „finsterer“ Ozean. Gusevs „Predigt“ ist dabei freilich eher als Absenz einer in Worten und Regeln vermittelbaren Wahrheit zu verstehen. Als Antipode zum unversöhnlichen, auf die eigene Person konzentrierten Pavel Ivanycˇ verkörpert Gusev ein Lebensideal an sich selbst, als ein Mensch, der sich um seine Nächsten sorgt und der überzeugt ist, dass das Glück des Menschen, ungeachtet seines Standes, von Redlichkeit und Gehorsam abhängt (no eΩeli Ωive‚´ pravil´no, slu‚ae‚´sä, to kakaä komu nadobnost´ tebä obiΩat´, 355). Diese tätige Nächstenliebe erscheint weniger als bewusster Entschluss, denn als Resultat einer traditionellen, patriarchalischen Erziehung. (Da diese maßgeblich auf einem nicht weiter hinterfragten religiösen Weltbild beruht, spielt auch hier die metaphysische Dimension eine Rolle.) 5

6

Zvinjackovskijs (1996, 27) Kommentar zur besagten Stelle lautet: Fioletovyj, zolotoj, rozovyj na voskre‚ennom modernom äzyke srednevekovogo vitraΩa oznaçaüt veru, nadeΩdu, lübov´ […] Ob qtom, v çastnosti, pisal M. A. Volo‚in v zametke ob Odilone Redone: «Fioletovyj cvet vsegda byl cvetom mistiki i very» (M. A. Volo‚in. Avtobiografiçeskaä proza. Dnevniki. M., 1991, 166–167). Das Ionas-Motiv (vgl. Kniga proroka Iony, 1-4) ist in der Sekundärliteratur über Gusev intensiv diskutiert worden. Unüblich ist dabei, dass Ionas nicht mit dem Titelhelden, sondern, wie bei Jackson (1997, 421), mit Pavel Ivanycˇ identifiziert wird.

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Keiner dieser Interpretationsansätze kann als kohärent bezeichnet werden und gerade die symbolgeladenen Bilder erlauben konträre Deutungen. Dies betrifft auch das Symbol des großen Fisches. Nicht weniger berechtigt als der Schluss, Gusevs Ideal stehe in Analogie zu Ionas’ Predigt, ist das Gegenteil: Während Ionas auf Geheiß Gottes von einem Walfisch gerettet wird, wird Gusev schlicht von einem Hai aufgefressen. Cµechovs nüchternes „boga net“ (siehe unten) mag man auch auf diese Deutung beziehen. Alle drei Ansätze – der sozialkritische, der nihilistische und der metaphysisch-teleologische – haben eine gemeinsame Voraussetzung: Der Autor verlässt das Prinzip der objektiven Narration. Die thematisierten Bilder, Motive, Ideologeme und Mytheme sind nicht mehr in erster Linie im Wahrnehmungshorizont von Personen verankert wie in der objektiven Phase, sondern verweisen unmittelbar auf den Autor und sein Interesse an einer nichtrationalen bzw. metaphysischen Welt. Dieses Interesse ist in der Sekundärliteratur breit konstatiert worden. Wir beschränken uns hier auf einen Hinweis: U Çexova sfera zapredel´nogo i smutnogo, kogda on k nej prikasaetsä, racional´nym putem nepoznavaema; bolee togo – dlä nego polna tajny, sloΩna, stra‚na ili prekrasna Ωizn´ prirody, sama obydennaä Ωizn´ lüdej, ee smysl i cel´. […] Kak ni paradoksal´no qto zvuçit, no Çexov – bol´‚ij irracionalist i mistagog, çem MereΩkovskij (Cµudakov 1996, 57–58)

Dabei verschweigt Cµudakov keineswegs Cµechovs religionsskeptische Haltung 7. Es scheint, dass Cµechov auch da, wo er sich den Grenzen des Rationalen nähert, die Distanz zwischen der „richtigen Fragestellung und ihrer Beantwortung“ nicht zu überbrücken gedachte (Cµechov 1974–1983, Pis’ma, 3, 46). Nichtsdestoweniger erscheint Cµechov in dieser Profilierung bestimmter Symbole als Vorläufer des russischen Symbolismus. 5. Zamjatin: Pesˇcˇera (1920) Zamjatins Erzählung Pesˇcˇera zeichnet sich auch im Vergleich zu anderen modernistischen Texten durch einen besonders metaphernreichen Diskurs aus. Dennoch unterscheidet sich ihr Zusammengehen von Konkret7

Cµudakov zitiert u.a. auch aus dem bekannten Brief an Suvorin vom 25.11.1892: U nas net ni bliΩaj‚ix, ni otdalennyx celej, i v na‚ej du‚e xot´ ‚arom pokati. Politiki u nas net, v revolüciü my ne verim, boga net, prividenij ne boimsä, a ä liçno daΩe smerti i slepoty ne boüs´.

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Realem mit Symbolisch-Allgemeinem nicht grundsätzlich von der Poetik eines Belyj in Peterburg, Pil’njak in Golyj god, Platonov in Cµevengur, Babel’ in Konarmija oder Bulgakov in Master i Margarita. Zamjatin intensiviert in Erzählungen wie Znamenie, Mamaj oder Pesˇcˇera lediglich ein Verfahren, das bereits beim späten Cµechov im Ansatz vorliegt. In Bezug auf die erörterte Erzählung Gusev konnten wir feststellen, dass sich die Erzählinstanz gegenüber den Protagonisten vor allem in den metaphorischen Passagen zu verselbstständigen beginnt und damit die Poetik der objektiven Narration unterwandert. In seinen späten Erzählungen (z.B. in Dama s sobacˇkoj) führt Cµechov diese Tendenz weiter aus und verbindet sie mit einem Element, das man oft mit der musikalischen Komposition verglichen hat. Cµechov beginnt seine Sprache nicht mehr primär oder ausschließlich in ihrer referentiellen Funktion zu verwenden, sondern instrumentalisiert auch unmittelbar ihre lautliche Gestalt. Dennoch aber tritt auch der Erzähler der Cµechovschen Spätphase nicht als souveräne, über seinen Figuren stehende Instanz auf. Er wandelt sich nicht zu einem demiurgischen Autor, dessen Erzählvorgang zum zelebrierten Schöpfungsakt wird. Insofern bleibt Cµechov, anders als Zamjatin, in der Poetik des Realismus verhaftet. Auf der wörtlichen Handlungsebene geht es in Pesˇcˇera um zwei Eheleute – Martin Martinycˇ und Masˇa –, die sich vor der drohenden Kälte des Winters 1920/21 in ihrem Petersburger Schlafzimmer verschanzen. Die Möbel des Kabinetts haben sie aus Mangel an Holz bereits verheizt. Da der zweite Tag der Handlungsgegenwart, der 29. Oktober 1920, auf Masˇas Namenstag fällt, stiehlt Martin beim Nachbarn Obertysˇev ein paar Holzscheite. Als darauf der Hausvorsitzende vorspricht, kann Martin der schwerkranken Masˇa den Mangel an Heizmaterial nicht mehr verheimlichen. Nun bittet sie ihn, das Fläschchen Gift, das nur für eine Person ausreicht, ihr zu überlassen. Die wörtliche Handlungsebene kann trotz der hohen Bildlichkeit der Beschreibungen, die z.T. Züge der Allegorie annehmen, verlässlich rekonstruiert werden. Dafür verantwortlich sind in erster Linie eine Reihe von Realien: Zeit (28. - 29. Oktober 1920), Ort (Wohnung in Petersburg), Gegenstände (der verheizte Bürotisch, das vernickelte Bettgitter, Kartoffelschalen, Notenblätter), Personen (Ehepaar, Nachbarn, der Hausvorsitzende) und Ereignisse (an beiden Tagen wird Punkt zehn der Strom eingeschaltet). Auf einer symbolisch-allegorischen Ebene wird freilich eine andere Geschichte erzählt: Wir befinden uns inmitten einer Eiszeit an einem Ort,

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wo vor Jahrhunderten einmal Petersburg lag. Draußen brüllen Mammute, die Menschen haben sich in ihre Höhlen verkrochen und huldigen – mit steinernen Äxten ihre hölzernen Opfer schlachtend – dem Ofengott. Beide Ebenen sind im Text, wie bereits der Anfang zeigt, aufs engste miteinander verknüpft: Ledniki, mamonty, pustyni. Noçnye, çernye, çem-to poxoΩie na doma, skaly; v skalax pewery. I neizvestno, kto trubit noç´ü na kamennoj tropinke meΩdu skal i, vynüxivaä tropinku, razduvaet beluü sneΩnuü pyl´; moΩet byt´, seroxobotyj mamont; moΩet byt´, veter […]. MeΩdu skal, gde veka nazad byl Peterburg, noçami brodil seroxobotyj mamont. I zavernutye v ‚kury, v pal´to, v odeäla, v loxmot´ä pewernye lüdi otstupali iz pewery v peweru. Na Pokrov Martin Martinyç i Ma‚a zakolotili kabinet […]. (4538)

Der Titel, die ersten drei Wörter, der Vergleich der Felsen mit Häusern sowie die insgesamt hohe Frequenz der Metaphern suggerieren zunächst, dass nicht das reale Petersburg des Jahres 1920 als primäre Handlungsebene anzusehen ist, sondern die Eiszeit. Freilich wird dieser Blickwinkel nicht konsequent eingehalten, sodass der Leser das Auftreten des (kommunistischen) Hausvorsitzenden (domovyj predsedatel’) oder die Erwähnung von Skrjabins Opus 74 keineswegs als Bruch empfindet. Wie in Gusev geht die hohe Metaphorizität auch hier mit der Abschwächung der psychologischen Motivierung einher. Es ist zwar nachvollziehbar, dass die geschilderten Eheleute den Winter 1920/21, den viele Petersburger tatsächlich nicht überlebt haben, in einer Intensität erfahren, die den Vergleich mit der Eiszeit rechtfertigt, die gewählte Bildlichkeit und Sprache freilich ist im Text nicht durch die handelnden Personen motiviert. Letzteres ist anhand folgender Sachverhalte zu belegen: • Die allegorische, beinahe groteske Sprechweise, die eine gewisse Distanz zum Erfahrenen erfordert, widerspricht der tragischen Situation der Protagonisten. • In der direkten Rede der Personen spielt das zentrale Metaphernfeld der Höhlenbewohner keine Rolle. • Nähert sich der Erzähler der Rede einer Person (erlebte Rede), treten die Höhlenmetaphern ebenfalls zurück: V oktäbre, kogda list´ä uΩe poΩolkli, poΩuxli, snikli – byvaüt sineglazye dni; zaprokinut´ golovu v takoj den´, çtob ne videt´ zemli – i moΩno poverit´: ewe radost´, ewe leto. Tak i s Ma‚ej: esli vot zakryt´ 8

Hier und im Folgenden zitieren wir aus Zamjatin (1970, Bd. 1) nur mit Angabe der Seitenzahl.

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glaza i tol´ko slu‚at´ ee – moΩno poverit´, çto ona preΩnää, i sejças zasmeetsä, vstanet s posteli, obnimet, i ças tomu nazad noΩom po steklu – qto ne ee golos, sovsem ne ona […] (454, aus Martins Perspektive geschildert; vgl. des Weiteren s. 460: Dvadcat’ devjatoe…) • Treten hingegen kühne Metaphern im Umkreis der Personenreden auf, sind sie verlässliche Anzeichen für die reine Erzählerrede: Da, v tot veçer byla sotvorena vselennaä, i udivitel´naä, mudraä morda luny, i solov´inaä trel´ zvonkov v koridore. (457) Es handelt sich hier um die Antwort auf Masˇas Frage: – Mart, a pomni‚´: moä sinen´kaä komnata, i pianino v çexle, i na pianino – derevännyj konek – pepel´nica, i ä igrala, a ty podo‚el szadi […] (457). Masˇa erinnert Martin an ihre gemeinsame erste Verliebtheit, die nun der Erzähler in der ihm eigenen Sprache kommentiert. Insbesondere der Ausdruck „morda“ und der kosmische Bezug zur Genesis widersprechen sowohl dem jugendlichen Liebesempfinden als auch der Wahrnehmung Masˇas in der Handlungsgegenwart. In diesen Zeilen zeigt sich anschaulich, dass gerade der profilierte Erzählstil die Versetzung in die Wahrnehmungs- und Sprachwelt der Personen (d.h. die erlebte Rede) verhindert. Stünde lediglich statt „morda“ das neutrale „lico“, rückte die Wahrnehmung der Person, i.e. die „erlebte“ Rede, in den Vordergrund. Während das neutrale Erzählen, dessen sprachliche Grundlage die schriftliche Variante der Standardsprache ist, in dem Sinne als ubiquitär bezeichnet werden kann, als es keine reale (weder sozial-regionale noch persönliche) Sprachverwendungsweise darstellt, tritt in der vorliegenden Erzählerrede der „Erzähler“ als subjektive Instanz hervor, auch wenn diese sprachliche Profilierung „autorisiert“ ist, d.h. nicht in Distanz zum Autor tritt. Wir haben diesen Erzählstil deshalb an anderer Stelle als ein subjektives Erzählen bezeichnet, das – im Unterschied zum skaz – eine autornahe Erzählinstanz fokussiert (Hodel 2001, 5). Eine solche Subjektivität des autornahen Erzählers verhindert im gegebenen Auszug die Entfaltung des Wahrnehmungsfeldes der Figur. An die Stelle der Figuren tritt die demiurgische Erzählinstanz, der demiurgische Autor. Neben dem Metapherngebrauch sind drei weitere Faktoren der Profilierung und Subjektivierung der Erzählinstanz zu benennen und kurz zu veranschaulichen: die euphonische Strukturierung, die Rekurrenz und die Transposition.

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So ahmt in der oben zitierten erlebten Rede „V oktäbre, kogda list´ä uЖe poЖolkli, poЖuxli, snikli – byvaüt sineglazye dni“ der Zischlaut „zˇ“ onomatopoetisch das Rascheln der Blätter nach. Da die lautliche Gestaltung der Sprache generell die Erzählerrede charakterisiert (vgl. z.B. „rЖavo-ryЖij, prizemistyj, Жadnyj pewernyj bog: çugunnaä peçka“, 453) und in Personenreden nicht vorkommt, reduziert sich damit auch der Grad der „Erlebtheit“ im Satz über die blauen Oktobertage. Eine analoge Wirkung zeigt die auffällige Rekurrenz von Wörtern, Syntagmen und Sätzen. Im Kontext der ganzen Erzählung ist etwa die Wiederholung des Zahnmotivs in „ˇeltye kamennye zuby skvoz´ bur´än, Ωeltye zuby – iz glaz, ves´ Oberty‚ev obrostal zubami, vse dlinnee zuby“ (456) weniger Martins Wahrnehmung verpflichtet, als sie Teil eines metaphorisch-symbolischen Raumes ist, dessen Gestaltung der Erzählinstanz obliegt. Diese versetzt sich nicht in ihre Figur, sie setzt die Figur vielmehr als Funktion ihres Universums. Wie weit sie dabei gegen das mimetische Prinzip des Realismus verstößt, zeigt die Gestaltung der direkten Rede: V kuxne, otvernuv kran, kamennozubo ulybalsä Oberty‚ev: – Nu çto Жe: kak Жena? Kak Жena? Kak Жena? (455). Es ist ausgeschlossen, dass Obertysˇev diese Frage dreimal wiederholt, vielmehr greift die Erzählinstanz auch in die Personenrede ein, um die eiszeitliche Atmosphäre hallender, entmenschlichter Höhlen heraufzubeschwören. Auch die Transposition erwies sich in Gusev als ein Mittel der Profilierung, das sich tendenziell der psychologischen Motivierung durch die Person entzieht. Vergegenwärtigen wir uns das Phänomen der NichtIsosemie in Knjaginja und Pesˇcˇera, bestätigt sich diese Tendenz. In den ersten 150 Wörtern der Erzählerrede sind die folgenden nichtisosemen Wörter zu finden: Knjaginja N-skij muΩskoj monastyr´, çetverka lo‚adej, dvoränskaä polovina gostinogo korpusa, podo‚la pod blagoslovenie (2x), vostorΩenno, bez umolku, otryvisto i po-voennomu

Pesˇcˇera Noçnye doma, kamennaä tropinka, sneΩnaä pyl´, seroxobotyj mamont (2x), ledänoj rev kakogo-to mamontej‚ego mamonta, kamennyj topor, kosmatye zverinye ‚kury, pewernye lüdi, Kazanskaä

Es ist nicht so sehr die Anzahl nicht-isosemer Wörter, die beide Texte voneinander unterscheidet, als vielmehr der „Grad“ und der „Charakter“ der Nicht-Isosemie: Während die Ausdrücke aus Knjaginja einen hohen

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Grad an Konventionalität aufweisen, die durch das synsemantische Umfeld noch verstärkt wird, sind Zamjatins Transpositionen unüblich (vgl. die Neologismen serochobotyj und mamontejsˇij) und suggerieren im gegebenen Kontext einen metaphorischen Gebrauch (nocˇnye doma). Wie bereits in Bezug auf die Metaphern erörtert, ist dabei die auffällige NichtIsosemie nicht durch eine personale Perspektive motiviert: Es gibt keine Anzeichen im Text dafür, dass sich einer der Protagonisten als Höhlenmensch verstände. Auch Cµechov verwendet in Knjaginja nicht-isoseme Lexeme, die im synsemantischen Umfeld eine gewisse Profilierung erfahren: […] knäginä naçinala dumat´, çto […] roΩdena ne dlä bogatstva, ne dlä zemnogo veliçiä i lübvi, a dlä Ωizni tixoj, skrytoj ot mira, sumereçnoj […]. (259)

Anders aber als bei Zamjatin ist hier Nicht-Isosemie Ausdruck personaler Perspektive: Die Abstrakta bogatstvo, velicˇie und ljubov’ benennen die Werte, an denen sich die Fürstin orientiert. Dies zeigt bereits die Bedeutung von „Liebe“, die nicht als christliche Nächstenliebe, sondern – sehr viel enger – als Partnerliebe verstanden wird. In der archaisch anmutenden Nachstellung der attributiven Adjektive tichaja, skrytaja ot mira und sumerecˇnaja wiederum erkennt man die deplazierte Selbststilisierung der Protagonistin wieder. Cµechov bringt also seine Wertungen in Knjaginja durch eine besondere Verwendung der Sprache zum Ausdruck, wie sie für den Realismus insgesamt typisch ist: Positive Helden sprechen tendenziell eine stilistisch unauffällige, informationsbetonte, sachlich-nüchterne Sprache, während eine markierte Sprache – sei es durch hypertrophe Bildlichkeit oder ausgiebigen Gebrauch von Fremdwörtern und Abstrakta – in der Regel Symptom einer Deviation vom auktorialen Wertsystem ist. Um den metaphorisch-symbolischen Raum in Pesˇcˇera zu charakterisieren, den der Autor parallel zur wörtlichen Handlungsebene erstehen lässt, reicht es aus, sich die zentralen Metaphern zu vergegenwärtigen: Die historische Zeit unmittelbar nach der Revolution wird zur Eiszeit, die Häuser sind Felsen mit Höhlen, die Straßen – Pfade, das Spaltbeil ist aus Stein und die Kleider sind zottige Tierfelle (kosmatye zverinye s¬kury, 453). Die Menschen selbst sind zu Tieren verkommen (obertys¬evskaja samka i troe obertys¬at, 455), mammutähnlich (mamontopodobnyj, 459), sie haben Krallen, Hauer und Lehmgesichter (kogti, klyki, 453; lico u nego skomkannoe, glinjanoe, 454), die von wildem Haar überwuchert und voller Zähne sind (lico – zaross¬ij kakim-to ryz¬im, naskvoz’ propylennym

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bur’janom pustyr’, 455; ves’ obross¬ij zubami – svirepo chlopaet dver’ju, 458), sie bewegen sich in Sprüngen (i vverch – ogromnymi, zverinymi skac¬kami, 456), schnauben (pofyrkivaja, 458) und gehen archaischen Tätigkeiten nach: Holz spalten (s¬c¬epat’ derevo kamennym toporom, 453), Feuer von Höhle zu Höhle tragen (perenosit’ svoj koster iz pes¬c¬ery v pes¬c¬eru, 453), schlachten (zakolotili kabinet, 453), kleinhacken (kamennym toporom koljut Martina Martinyc¬a na kuski, 454). Dabei ist es kaum relevant, um welche Figur es sich jeweils handelt. Obwohl Martin dem Erzähler zweifellos näher ist als Obertysˇev und dieser auch vom Hausvorsitzenden als „Eitergeschwür“ bezeichnet wird, hat das tierische Leben alle erfasst. Alle huldigen – mit Holz, Möbeln und Büchern – dem neuen Gott: Ravnodus¬no poz¬iraja bessmertnye, gor’kie, nez¬nye, z¬eltye, belye, golubye slova – tichon’ko murlykal c¬ugunnyj bog (461). Vor ihm verblassen Sitte und Moral (man denke an Martins Holzdiebstahl).9 Der metaphorisch-symbolische Raum in Pesˇcˇera legt also das Ende einer Zivilisation nahe: Die Tage werden alt (Sumerki. Dvadcat’ devjatoe oktjabrja sostarilos’, 458), der Mensch entwickelt sich zurück – zu Adam (teper’ u nogich glinjanye lica: nazad – k Adamu, 454) und zum Tier. Der neue Gott fordert als Opfergabe das gesamte (alte) Kulturgut (Möbel, Klavier, Bücher). Wie eine Sintflut dringt die Eiszeit in die letzten Kammern des alten Lebens vor: V pewerskoj peterburgskoj spal´ne bylo tak Ωe, kak nedavno v noevom kovçege: potopno pereputannye çistye i neçistye tvari, (453); potopno pereputannye v pewere predmety... (459)

Die Zeit hält inne, und erst nach Jahrhunderten wird sie wieder erstehen („zavtra“ – neponjatno v pes˘c˘ere; tol’ko cerez veka budut znat’ „zavtra“, „poslezavtra“, 457). Es liegt auf der Hand, im zentralen Metaphernfeld der Erzählung Pesˇcˇera eine Darstellung dessen zu sehen, was Zamjatin in verschiedenen Artikeln der frühen 20er Jahre propagiert hat. Diese Texte geben Aufschluss darüber, wie sich Zamjatin zwar sehr wohl als Kritiker sowjetischer Verhältnisse, nicht aber als antisowjetischer Schriftsteller verstan9

Das Verfeuern von Holz ist derart zentral geworden, dass es selbst wiederum metaphorisch verwendet wird: […] vse gromçe smeälsä Martin Martinyç – çtoby podbrosit´ v Selixova drov, çtoby on tol´ko ne perestal […] (458, Martin will den Hausvorsitzenden unterhalten, damit dieser nicht vom Diebstahl zu sprechen beginnt).

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den hat. So schreibt er in „Ja bojus’“ (1921) von der Notwendigkeit der Häresie, die Teil jeder, auch der sowjetischen Literatur sein müsse: Ä boüs´, çto nastoäwej literatury u nas ne budet, poka my ne izleçimsä ot kakogo-to novogo katolicizma, kotoryj ne men´‚e starogo opasaetsä vsäkogo eretiçeskogo slova. (Zamjatin 1988, IV, 255)

Besonders aufschlussreich für die gegebene Erzählung ist seine Vorstellung von der Revolution in „O literature, revoljucii i e˙n tropii“ (1923): Revolüciä – vsüdu, vo vsem; ona beskoneçna, poslednej revolücii net, net poslednego çisla. Revolüciä social´naä – tol´ko odno iz besçislennyx çisel: zakon revolücii ne social´nyj, a neizmerimo bol´‚e – kosmiçeskij, universal´nyj zakon – takoj Ωe, kak zakon soxraneniä qnergii, vyroΩdenie qnergii (qntropii). (Zamjatin 1988, IV, 291)

Die Revolution wird in eine kosmische Formel eingebettet, sie bildet den Gegenpol zum Beständigen, zur Tradition, zur Sklerose und ist Voraussetzung jeglicher Erneuerung. Die russische Revolution wird damit nicht nur grundsätzlich begrüßt, sie ist Teil eines übergeordneten kosmischen Gesetzes. Dieser kosmische Blick – Keldysˇ (1989, 23) spricht von „ae˙roplannye krugozory“ – prägt generell Zamjatins Texte und kann umso mehr für Erzählungen wie Znamenie, Mamaj oder Pesˇcˇera reklamiert werden. In Pesˇcˇera wird dabei die Dimension der Unendlichkeit, von der Keldysˇ spricht (ebd., 22), in erster Linie durch das zentrale Metaphernfeld der Eiszeit realisiert. Der hochmetaphorische Diskurs bewirkt die Hypostasierung der Wirklichkeit, die Verschiebung von einer konkreten, linear fortschreitenden Zeit in ein zyklisches und mythisches Zeitprinzip. Zugleich aber verweisen die Metaphern nicht bloß auf diese kosmische Dimension, sie halten auch die Verbindung mit der wörtlichen Aussageebene, mit der konkreten historischen Wirklichkeit des Kriegskommunismus aufrecht. Die Metaphern erfüllen insofern die Funktion von Schaltstellen: Sie verbinden Konkretheit mit symbolistischer Unendlichkeit, sie zeigen das abstrakte Sein im konkreten Dasein (bytie v byte, ebd., 24).

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6. Literatur Cµechov, A. P. 1974–1983. Polnoe sobranie socˇinenij i pisem v tridcati tomach. Moskva. Cµudakov, A. P. 1971. Poe˙tika Cµechova. Moskva. Cµudakov, A. P. 1996. Cµechov i Merezˇkovskij: dva tipa chudozˇestvenno-filosofskogo soznanija. Cµµechov i „serebrjanyj vek“, Otv. red. A. P. Cµudakov. (Cµechoviana, 5). Moskva, 50–67. Ersˇov, L. 1982. Vstupitel’naja stat’ja. // Zosˇcˇenko 1982, 3–27. Hielscher, K. 1987. Tschechow. Eine Einführung. München. Hodel, R. 2001. Erlebte Rede in der russischen Literatur. Vom Sentimentalismus zum Sozialistischen Realismus. Band 1. Slavische Literaturen. Band 22. Frankfurt a.M. u.a. Jackson, R. L. 1997. Biblejskie i literaturnye alljuzii v rasskaze »Gusev«. Anton P. Cechov – Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und im Werk. Hrsg. von V. B. Kataev, R.-D. Kluge, R. Noheyl. München, 419–425. Kataev, V. B. 1974. Avtor v „Ostrove Sachaline“ i v rasskaze „Gusev“. V tvorcˇeskoj laboratorii Cµechova. Moskva, 232–252. Keldysˇ, V. A. 1989. E. I. Zamjatin. // Zamjatin 1989, 12–36. Kurz, G. 1982. Metapher, Symbol, Allegorie. Göttingen 1982. Losievskij, I. Ja. 1993. Simbolicˇeskoe u Cµechova v kontekste iskanij russkoj filosofskoj mysli. Cµechov v kul’ture XX veka. Otv. red. V. Ja. Laksin. (Cµechoviana, 3) Moskva, 32–40. Polockaja, E. 2001. O poe˙tike Cµechova. Moskva. Sµcˇeglov, Ju. K. 1981. Mir M. Zosˇcˇenko. Wiener Slawistischer Almanach, 7, 109–154. Zamjatin, E. 1970 / 1988. Socˇinenija. München, Band 1 und Band 4. Zamjatin, E. I. Izbrannye proizvedenija. Moskva 1989. Zolotova, G. A. 1982. Kommunikativnye aspekty russkogo sintaksisa. Moskva. Zolotova, G. A., Onipenko, N. K., Sidorova, M. Ju. 2004. Kommunikativnaja grammatika russkogo jazyka. Moskva. Zosˇcˇenko, M. 1982. Izbrannoe. Leningrad. Zvinjackovskij, V. Ja. 1996. Cµechov i stil’ modern (K postanovke voprosa). Cµµechov i „serebrjanyj vek“, Otv. red. A. P. Cµudakov. (Cµechoviana, 5). Moskva, 23–30.

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Figur und Perspektive. Anhand von Beispielen der russischen realistischen und modernistischen Prosa Gegenstand dieser Arbeit ist das Verhältnis zwischen zwei narrativen Grundbegriffen, nämlich zwischen der „Figur“ und der „Perspektive“. Es soll anhand von Beispielen russischer realistischer und modernistischer literarischer Texte unter einem diachronen Gesichtspunkt betrachtet werden. Einen erschöpfenden Überblick der Wandlung dieser zwei Kategorien in der russischen Literatur vorzunehmen, gehört aber nicht zur Aufgabe unserer Analyse. Sie schließt nur die folgenden Punkte ein: die Haupttendenz dieser Wandlung aufzuzeigen; ein Modell der Figurencharakterisierung auszuarbeiten; den konkreten Mechanismus dieser Charakteristisierung zu beschreiben und die Differenz zwischen realistischen und modernistischen Texten unter narratologischem Blickwinkel zu definieren. 1. Die Perspektive Das Problem der Perspektive gehört bereits deshalb zu den wichtigsten Problemen der Narratologie, weil eine Narration sich als Darstellung eines Geschehens von einem bestimmten Standpunkt aus auffassen lässt. Über die Bedeutung dieses Begriffs für die Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte schreibt Jurij Lotman: Jedes der Elemente der künstlerischen Struktur existiert als Möglichkeit in der Struktur der Sprache und - weiter gefasst - in der Struktur des menschlichen Bewusstseins. Deshalb lässt sich die Geschichte der künstlerischen Evolution der Menschheit in Bezug auf jedes beliebige dieser Elemente beschreiben, sei das nun die Geschichte der Metapher, die Geschichte des Reims oder die Geschichte der einen oder anderen Gattung. Wenn wir über hinreichend vollständige Beschreibungen dieser Art verfügten, könnten wir sie zu untereinander zusammenhängenden Bündeln synchronisieren und so ein Bild der Entwicklung der Kunst erhalten. Selten hängt jedoch ein Element der künstlerischen Struktur so unmittelbar mit der allgemeinen Aufgabe, ein Bild von der Welt zu konstruieren, zusammen wie der „Blickpunkt“. Er steht in direkter Korrelation zu solchen Fragen in sekundären modellierenden Systemen, wie es die Position des

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Textschöpfers, das Problem der Wahrheit und das Problem der Persönlichkeit sind (Lotman 1973, 398).

Die Geschichte des Begriffs „Perspektive“ zu überblicken, stellt ein erhebliches Problem dar. Wir werden deshalb nur einige wichtige Punkte dieser Geschichte skizzieren, um zu erklären, auf welche Art und Weise wir diesen Begriff im Folgenden verwenden. Der Begriff „Perspektive“ (point of view) wurde in den 40er Jahren in den Arbeiten der Vertreter des amerikanischen „New criticism“ geprägt (Brooks, Waren 1943; Friedman 1955). Die russischen postformalistischen Literaturwissenschaftler Bachtin, Volosˇinov, Vinogradov und Gukovskij stellten ihrerseits die Frage nach der Perspektive (Bachtin 1963; Vinogradov 1971; Gukovskij 1959; Volosˇinov 1929). Zuerst aber wurde das Problem der Perspektive in den Werken der russischen wie der westlichen Forscher wenig differenziert betrachtet. Seine Analyse diente verschiedenen Autoren eher als Mittel zur Untersuchung der Texte und wurde nicht zum unabhängigen Forschungsthema. Gleichfalls wenig differenziert wird das Problem der Perspektive von den Begründern der strukturalen Poetik G. Genette (1994) und Z. Todorov (1967) betrachtet. Genette schlägt zwar eine bestimmte Differenzierung der Perspektive (Fokalisierung) vor, bezieht sie jedoch nur auf einen einzelnen Aspekt der Perspektivierung, und zwar auf die Fähigkeit des Erzählers, in das Bewusstsein einer Figur einzudringen. In der Abhandlung „Die Erzählung“ unterscheidet Genette in Anlehnung an seine Vorgänger Todorov (Todorov 1967) und Pouillon (Pouillon 1946) eine Erzählung mit Nullfokalisierung, eine Erzählung mit interner Fokalisierung und eine Erzählung mit externer Fokalisierung, wobei die interne Fokalisierung ihrerseits als fest, variabel und multipel definiert werden kann (Genette 1994, 132–138). In der Monographie von B. A. Uspenskij „Poe˙tika kompozicii“ aus dem Jahre 1970 wird eine Klassifizierung der Formen der Perspektive nach dem Prinzip ihrer Ausdrucksmittel vorgeschlagen. Dazu werden einige Verfahren für deren Bestimmung entworfen. B. A. Uspenskij definiert die Perspektive (tocˇka zrenija) in Bezug auf die Ebene der Ideologie, der Phraseologie, der Raum-Zeit-Charakteristik und der Psychologie und illustriert jede Perspektivart mit Beispielen aus der klassischen russischen Literatur. In Bezug auf jede dieser Ebenen bestimmt Uspenskij die Perspektive (den Standpunkt) des Autors und die Perspektive der Figuren, die aufeinander Einfluss haben oder miteinander verknüpft sein können (Uspenskij 1970).

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Uspenskijs Monographie evozierte verschiedene Konzepte der Perspektivierung in der westlichen Literaturwissenschaft, von denen in erster Linie die von Schlomit Rimmon (Rimmon 1983), Mieke Bal (Bal 1977) und Karlheinz Stierle (Stierle 1977) zu nennen sind. Gleichzeitig rief das Modell Uspenskijs im Westen einige Kritik hervor. So z. B. bei Wolf Schmid, der Uspenskijs Beitrag in der Perspektivtheorie anerkennt, aber eine Reihe von Korrekturen in Uspenskijs System einbringt und ein eigenes System der Perspektive vorschlägt. Nach Wolf Schmid gibt es nicht vier, sondern fünf Ebenen, auf denen ein Standpunkt in einem Text entwickelt wird. Zudem unterscheiden sich diese Ebenen von jenen Uspenskijs. Schmid definiert die Ebene des Raums, die Ebene der Zeit, die Ebene der Ideologie, die Ebene der Sprache (der Lexikologie) und eine perzeptive Ebene. Die Ebene der Psychologie soll laut Schmid ausgeschlossen werden, da alle Fälle der Perspektivik, die Uspenskij dieser Ebene zuschreibt, den anderen Ebenen zugerechnet werden können (Schmid 1984, 1989. Vgl. Lintvelt 1981). Das Modell von Schmid wurde in den Diskussionen der FGN „Narratologie“, die im Internet dokumentiert sind, weiterentwickelt 1. Letztlich besteht das Modell von Wolf Schmid aus fünf Typen der Perspektive:

• • • • •

Räumliche Perspektive Zeitliche Perspektive Sprachliche Perspektive Ideologische Perspektive Perzeptive Perspektive

Auf jeder dieser Ebenen können sich sowohl die Perspektive des Erzählers (narratoriale Perspektive) als auch die Perspektive der Figur (personale Perspektive) entwickeln, wobei sie sowohl unabhängig voneinander (als kompakt-narratoriale Perspektive und kompakt-personale Perspektive) als auch in verschiedenen Verknüpfungen (diffuse Perspektive) erscheinen können. Im Weiteren wird dieses Modell von Schmid zur Anwendung gebracht. Es wird dabei auf Abweichungen im Einzelnen hingewiesen. 1

Schmid W.: Anti-Genette II. Perspektive + Fokalisation. // www.narrport.unihamburg.de/FGN Forum. Vgl. auch: Janik, Ch.: Linguistische Ansätze zur Beschreibung von „Perspektive“ // www.narrport.uni-hamburg.de /P7.

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2. Die Figur Im Gegensatz zu dem Begriff „Perspektive“ hat der Begriff der „Figur“ bisher kaum die Aufmerksamkeit der Literaturtheoretiker auf sich gezogen. Neben Untersuchungen, die einzelnen Figuren der Weltliteratur gewidmet sind, gibt es nur wenige Aufsätze, in denen die Figur als abstrakte Kategorie behandelt wird. Hier können vor allem die theoretischen Ansätze zur Beschreibung der „Figur“ in J. M. Lotmans „Struktura poe˙ticˇeskogo teksta“ genannt werden. Dennoch gibt es auch in der Lotmanschen Abhandlung keine eigentliche Definition der Figur. In Anlehnung an V. J. Propps „Morfologija skazki“ schreibt Lotman, dass eine Figur die Kreuzung mehrerer Strukturfunktionen darstelle, und bringt diese in Verbindung mit dem Begriff „Sujet“, der seinerseits mit den Begriffen „Ereignis“ und „semantischer Raum“ in Verbindung steht (Lotman 1970, 280–296). Lotman definiert ein Ereignis in einem Text als „die Versetzung einer Figur über die Grenze [eines] semantischen Feldes hinweg“ (Lotman 1973, 350) und unterscheidet zwei Gruppen von Figuren: die Träger der Handlung und diejenigen Figuren, die lediglich für die „Bedingungen und Umstände der Handlung“ (Lotman 1973, 365) relevant sind, wobei nur die Figuren der ersten Gruppe die Fähigkeit besitzen, die Grenze zwischen semantischen Feldern bzw. Räumen zu überschreiten, was unter gewissen Umständen durch eine Handlung oder durch eine NichtÜbereinstimmung mit der Umgebung realisiert werden kann. Lotmans Thesen können weiter entwickelt werden. Wenn wir eine Figur als eine Funktionskreuzung begreifen, die sich auf einen bestimmten semantischen Raum bezieht, müssen wir davon ausgehen, dass jede Figur ursprünglich in einem semantischen Raum verankert ist. Die Fähigkeit, diese Verankerung zu durchbrechen bzw. die Grenze eines semantischen Raums zu überschreiten, setzt vor allem eine mentale Befähigung dazu voraus. Eine reale (bzw. explizite) Handlung stellt nur eine besondere Art und Weise dar, diese Fähigkeit zu realisieren. Als Ereignis soll deshalb nicht nur eine reale Handlung, z. B. ein Mord, sondern auch eine mentale Handlung, z. B. der Gedanke an einen möglichen Mord gelten. Der Gedanke stellt eine obligatorische Voraussetzung für die Handlung dar, obwohl die Handlung nicht die obligatorische Folge des Gedankens ist: Dieses Prinzip, das höchst folgerichtig in den Werken Dostoevskijs umgesetzt wird, gilt für jeden literarischen Text, unabhängig davon, ob es ein Liebesroman des 18. Jahrhunderts, eine russische realistische Erzäh-

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lung oder ein moderner Thriller ist. D'Artagnan, Akakij Basˇmacˇkin, Pecˇorin oder Holden Caulfield – sie alle sind ursprünglich in einem semantischen Raum verankert, dessen Grenze sie theoretisch überschreiten könnten. Nur durch die erzählte Geschichte erfährt man, dass d'Artagnan nicht nur die mentale Fähigkeit besitzt, eine solche Grenze zu überschreiten, sondern dies auch tatsächlich tut, und dass z. B. Basˇmacˇkin, obwohl er gewissermaßen als Handelnder auftritt, zu dieser Überschreitung nicht fähig ist, oder dass Pecˇorin und Holden Caulfield im Prinzip dazu fähig wären, die Grenzen der ihnen zugeordneten semantischen Räume zu überschreiten, jedoch nichts unternehmen, um diese Fähigkeit zu realisieren. Die mentale Fähigkeit, die Grenze eines semantischen Raums zu überschreiten, ist ein wesentliches Merkmal, durch das eine Figur von allen anderen Figuren unterschieden werden kann. Die Fähigkeit, die Grenze eines semantischen Raums zu überschreiten, setzt für die betreffende Figur aber voraus, im Widerspruch zu ihrem ursprünglichen fixierten Zustand zu stehen. Deshalb scheint es zweckmäßig, die Figuren nicht nach ihrem Verhältnis zur Handlung zu unterscheiden, sondern danach, ob sie zu ihrer Umgebung in Widerspruch treten oder ob sie diesen Widerspruch bereits in sich tragen. Eine Figur, bei der die Fähigkeit vorhanden ist, die Grenze eines semantischen Raums zu überschreiten, in dem diese Figur ursprünglich verankert war, bezeichnen wir als widersprüchlich. Eine Figur, die zwar im Rahmen der fiktiven Welt handelt, dabei aber nicht die Grenze ihres eigenen semantischen Raums überschreitet, sondern in ihrem ursprünglichen Zustand verharrt, bezeichnen wir als nicht-widersprüchlich. Die Gesamtheit der Zustände einer Figur, bei deren Gegenüberstellung sich ggf. ein Widerspruch kundtut, bildet deren Charakterisierung. Diese Charakterisierung kann von verschiedenen Perspektiven aus vorgenommen werden. Der Begriff „semantischer Raum“ bedarf gleichfalls einer Präzisierung. Michael Titzmannn betont, dieser Begriff solle nicht als „Raum“ im eigentlichen Sinne des Wortes verstanden werden, sondern auch im übertragenen Sinne, obwohl sich diese beiden Bedeutungen in bestimmten Situationen überschneiden könnten (Titzmann 2003, 3061). Ein semantischer Raum ist eine fiktive Realität, die eine Reihe semantischer Merkmale und Funktionen besitzt und im Rahmen eines Textes einer anderen fiktiven Realität gegenübersteht. Gerade deshalb ist die Opposition zwischen zwei semantischen Räumen eine notwendige Voraussetzung für das sich anbahnende Ereignis bzw. die Entstehung des Sujets.

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Titzmann merkt dazu an, dass die Grenzen und die Opposition der semantischen Räume entweder schon vortextuell-kulturell als relevant gelten oder erst im Text selbst als relevant gesetzt werden können (Titzmann 2003, 3062). Diese Auffassung Titzmanns könnte Anlass zu einer näheren Betrachtung geben. Zunächst bemerken wir, dass Merkmale und Funktionen, die einem semantischen Raum zu Grunde liegen, ihrerseits nicht immer eindeutig bestimmt werden können. Sie sind sozial, ethisch, kulturell oder psychologisch bedingt und bleiben deshalb relativ2. Die Frage, ob ein Held die Grenze eines semantischen Raums überschreitet oder nicht (wie z. B. in Dostoevskijs „Podrostok“ oder in Jack Londons „Martin Eden"), sowie die Frage, zwischen welchen semantischen Räumen diese Grenze anzusiedeln ist (wie z. B. in Camus' Erzählung „Der Fremde“, in der der Held nicht für einen Mord, sondern wegen seiner Unangepasstheit hingerichtet wird) können selbst zum Gegenstand eines literarischen Textes werden. Die Relativität des semantischen Raums stellt ein großes Problem für die Kommunikationswissenschaft dar. Um dieses Problem zu klären, sollen die Begriffe „Figur“ und „semantischer Raum“ mit dem Begriff „Perspektive“ in Verbindung gebracht werden. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Opposition zwischen den semantischen Räumen und die damit verbundene Fähigkeit, die Grenze zwischen ihnen zu überschreiten, von verschiedenen Standpunkten aus ganz unterschiedlich bewertet werden kann, sondern auch darin, dass die Umstände und Bedingungen des Handelns, die laut Lotman von bestimmten Figuren verkörpert werden, aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt werden können. In ihrer Kombination ergeben diese sich auf unterschiedlichen Ebenen entwickelnden Perspektiven eine künstlerische Ganzheit. Die Vielfältigkeit dieser Kombinationen in verschiedenen Werken ist unübersehbar, und ihre Zahl kommt als die Zahl aller Elemente des Textes der Unendlichkeit nahe. Das bedeutet aber nicht, dass es in dieser Vielfältigkeit keine Gesetzmäßigkeiten gäbe, die für die Texte ei2

Die deutsche Übersetzung des Lotmanschen Begriffs „semanticˇeskoe pole“ als „semantischer Raum“ scheint uns nicht ganz korrekt. Wir sind der Meinung, dass Lotman das Wort pole nicht nur in Analogie zu einem räumlichen Feld benutzt, sondern eher in Analogie zu dem Begriff pole in der Naturwissenschaft (Kraftfeld, Magnetfeld u. a.). Die Übersetzung dieses Begriffs als „Raum“ führt oft zur Begriffsverwirrung zwischen narratologischen und topologischen Begriffen. Das Semantische Feld (Semanticˇeskoe pole) wird nach Lotmans Auffassung nicht nur vom Raum, sondern auch von der Zeit bestimmt. Dennoch werden wir den Begriff „semantischer Raum“ in seiner gebräuchlichen Bedeutung weiter verwenden.

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nes konkreten Autors oder einer konkreten Epoche bezeichnend sind und die durch eine Analyse des jeweiligen Textes bestimmt werden können. Versuchen wir, anhand von Beispielen aus der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts einige dieser Gesetzmäßigkeiten zu skizzieren und dadurch die Unterschiede zwischen Realismus und Modernismus teilweise zu erklären. 3. Der Realismus Unsere Auffassung des Realismus stützt sich auf zwei primäre Ansätze. Der erste ist rein historisch: Der Höhepunkt in der Entwicklung des russischen Realismus ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine vollendete Verwirklichung sind die Romane von Tolstoj, Turgenev und Dostoevskij. Der zweite ist ästhetischer und philosophischer Natur und bedarf einer Erklärung. Wir gehen davon aus, dass der Realismus als Kunstrichtung eine Realität voraussetzt, die für den Autor ebenso wie für den Leser eine Verbindlichkeit besitzt. Diese Realität wird zum eigentlichen Gegenstand des realistischen Kunstwerkes und ihre hypothetische Verbindlichkeit bestimmt die maßgebliche Rolle des auktorialen Erzählers im realistischen Text. Robert Hodel schreibt: Dominantes Genre des russisches Realismus ist der Roman. Sein Autor ist der philosophisch, soziologisch, historisch und naturwissenschaftlich gebildete und engagierte Schriftsteller, der seine Romanwelt empirisch-induktiv entwickelt und zugleich rational durchdringt und wertet (Hodel 2003, 13).

Unsere primäre Hypothese besteht darin, dass in einem realistischen Text dieser Autor durch eine auktoriale Erzählinstanz (EI) repräsentiert wird, die unterschiedliche Formen annimmt, jedoch stets eine erklärende und organisierende Rolle übernimmt. Aus der Perspektive dieser EI wird nicht nur die Kausalität der Ereignisse letztlich motiviert, sondern auch solche Narrationskomponenten wie die zeit-räumliche Konsequenz, die ideologischen und moralischen Bewertungen der Worte und Taten, stilistische Abweichungen von der Standardsprache u. a. Das Wort „letztlich“ muss dabei betont werden: In einem realistischen Text können aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Motivierungen herzuleiten sein, diese Perspektiven aber bedürfen wiederum ihrer eigenen Motivierungen, die aus einer umfassenderen Perspektive dargestellt werden. Die aus einer auktorialen EI dargestellte Motivierung bedarf keiner weiteren Motivie-

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rungen und motiviert selbst alle anderen Motivierungen im Text. Es gibt in einem realistischen Text also eine Hierarchie der Perspektiven. Die Charakterisierung der Figuren kann in einem realistischen Text aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden, die einer auktorialen Perspektive untergeordnet sind. Diese auktoriale Perspektive übt eine erklärende und organisierende Funktion aus und nimmt in der Hierarchie der Perspektiven eine führende Stellung ein. Gerade mittels dieser auktorialen Perspektive können die verschiedenen Komponenten einer Charakterisierung in ihrer Ganzheit erfasst werden, welche der Ganzheit jener Welt entspricht, die der realistische Diskurs abbildet. Um diese Hypothese zu belegen, betrachten wir die unterschiedlichen Typen der Figurencharakterisierung in einigen Werken des russischen Realismus. 3.1 L. N. Tolstoj „Anna Karenina" Tolstojs „Anna Karenina“ stellt ein klassisches Beispiel des realistischen Diskurses und folglich auch der realistischen Perspektivierung dar. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Perspektiven offenbart sich bereits in der Charakterisierung der ersten auftretenden Figur, Stepan Arkad’icˇ Oblonskij. 3.1.1 Oblonskij Der Roman beginnt mit einer belehrenden Sentenz, die zweifellos die Perspektive des Erzählers wiedergibt: Vse shastlivye semæi poxoøi drug na druga, kaødaä neshastlivaä semæä neshastliva po-svoemu. (3)

Die folgende Beschreibung der Familie Oblonskij konkretisiert diese Sentenz: Vse smeπalosæ v dome Oblonskix. Øena uznala, hto muø byl v sväzi s byvπeü v ix dome francuøenkoü-guvernantkoj, i obßävila muøu, hto ne moøet øitæ s nim v odnom dome. Poloøenie qto prodoløalosæ uøe tretij denæ i muhitelæno huvstvovalosæ i samimi suprugami, i vsemi hlenami semæi, i domohadcami. Vse hleny semæi i domohadcy huvstvovali, hto net smysla v ix soøitelæstve i hto na kaødom postoälom dvore sluhajno soπedπiesä lüdi bolee sväzany meødu soboj, hem oni, hleny semæi i domohadcy Oblonskix. (3)

Die Bezeichnung der Familienmitglieder durch Gattungsnamen zeigt, dass es sich um Familienmitglieder in einem allgemeinen Sinne handelt,

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um Repräsentanten eines bestimmten Menschentyps. Als Mitglieder einer Familie, die im vorliegenden Text eine gewichtige Rolle spielt, erfahren diese Typen jedoch eine zunehmende Konkretisierung. Das geschieht durch die allmähliche Einführung einzelner Details und Merkmale: Øena ne vyxodila iz svoix komnat, muøa tretij denæ ne bylo doma. Deti begali po vsemu domu, kak poterännye; anglihanka possorilasæ s qkonomkoj i napisala zapisku priätelænice, prosä priiskatæ ej novoe mesto; povar uπel ewe vhera so dvora, vo vremä samogo obeda; hernaä kuxarka i kuher prosili rasheta. (3)

In diesem Abschnitt sind die Figuren noch abstrakt charakterisiert. Sie erscheinen jedoch konkreter als im ersten Abschnitt, weil mit den Wörtern anglicˇanka, e˙konomka, povar, cˇernaja kucharka, kucˇer, die unterschiedliche Diener der Familie bezeichnen, die Familie Oblonsij als eine russische Adelsfamilie von einem bestimmten Einkommen dargestellt wird. Die Kombination der Wörter anglicˇanka und franzuzˇenka-guvernanka besitzt dabei ein besonderes semantisches Gewicht. Erst danach wird eine konkrete Figur eingeführt – Stepan Arkad’icˇ Oblonskij. Seine Persönlichkeit wird durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert. Diese Merkmale stehen in keinem Widerspruch zu dem ursprünglich vorgegebenen abstrakten Typus eines Familienmitglieds der russischen Adelsfamilie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (muzˇ). Sie konkretisieren und entwickeln lediglich diesen Typus: Na tretij denæ posle ssory knäzæ Stepan Arkadæih Oblonskij – Stiva, kak ego zvali v svete, – v obyhnyj has, to estæ v vosemæ hasov utra, prosnulsä ne v spalæne øeny, a v svoem kabinete, na safæännom divane. On povernul svoe polnoe, vyxolennoe telo na pruøinax divana, kak by øelaä opätæ zasnutæ nadolgo, s drugoj storony krepko obnäl poduπku i priøalsä k nej wekoj; no vdrug vskohil, sel na divan i otkryl glaza. (3)

Aus der Perspektive des Erzählers wird also sowohl ein allgemeines Bild der Familie als auch eine konkrete Beschreibung eines ihrer Mitglieder gegeben. Dieser Erzähler ist derart präsent und allwissend, dass er nicht nur die Familie beschreiben, sondern auch das Beschriebene kommentieren und kausale Verbindungen zwischen den Ereignissen herstellen kann. Erst nach dieser aus der Perspektive des Erzählers gegebenen Beschreibung wechselt die Perspektive zu der einer bestimmten Figur. Im ersten Kapitel des Romans „Anna Karenina“ wird diese Figurenperspektive durch direkte Rede ausgedrückt: "Da, da, kak qto bylo? – dumal on, vspominaä son. – Da, kak qto bylo? Da! Alabin daval obed v Darmπtadte; net, ne v Darmπtadte, a hto-to amerikanskoe. Da,

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no tam Darmπtadt byl v Amerike. Da, Alabin daval obed na steklännyx stolax, da, – i stoly peli: Il mio tesoro i ne Il mio tesoro, a hto-to luhπe, i kakie-to malenækie grafinhiki, i oni øe øenwiny,“ – vspominal on. (4)

Obwohl diese Gedanken Oblonskijs als zusammenhanglos erscheinen, sind in dessen Rede Wörter und Ausdrücke zu finden, die ihn als Vertreter eines bestimmten Milieus kennzeichnen. Die Wendungen daval obed, il mio tesoro, malen'kie grafincˇiki, i oni zˇe zˇensˇcˇiny sind als die Gedanken eines Mitglieds einer russischen Adelsfamilie und zugleich die Gedanken eines Ehemanns, der seiner Ehefrau untreu war und auf die Folgen wartet, klar zu identifizieren. Die persönlichen Eigenschaften erhalten allmählich Konturen: Glaza Stepana Arkadæiha veselo zablesteli, i on zadumalsä, ulybaäsæ. “Da, xoroπo bylo, ohenæ xoroπo. Mnogo ewe hto-to tam bylo otlihnogo, da ne skaøeπæ slovami i myslämi daøe naävu ne vyraziπæ.“ I, zametiv polosu sveta, probivπuüsä sboku odnoj iz sukonnyx stor, on veselo skinul nogi s divana, otyskal imi πitye øenoj (podarok ko dnü roødeniä v proπlom godu), obdelannye v zolotistyj safæän tufli i po staroj, devätiletnej privyhke, ne vstavaä, potänulsä rukoj k tomu mestu, gde v spalæne u nego visel xalat. I tut on vspomnil vdrug, kak i pohemu on spit ne v spalæne øeny, a v kabinete; ulybka ishezla s ego lica, on smorwil lob. (4)

Oblonskijs Perspektive tritt in diesem Kapitel noch mehrmals in direkter und erlebter Rede in den Vordergrund. Diese Passagen werden aber jedes Mal mit Details versehen, wie sie für eine auktoriale Perspektive charakteristisch sind, z. B. als Kommentar auf die direkte Rede: "Da! Ona ne prostit i ne moøet prostitæ. I vsego uøasnee to, hto vinoj vsemu ä, vinoj ä, a ne vinovat. V qtom-to vsä drama, – dumal on. – Ax, ax, ax!“ – prigovarival on s othaäniem, vspominaä samye täøelye dlä sebä vpehatleniä iz 3 qtoj ssory. (4)

Und in der erlebten Rede (vgl. Hodel 2001, 161–173): Ona, qta vehno ozabohennaä, i xlopotlivaä, i nedalekaä, kakoü on shital ee, Dolli, nepodviøno sidela s zapiskoj v ruke i s vyraøeniem uøasa, othaäniä i gneva smotrela na nego. (4)

Durch die Einführung solcher Bemerkungen werden die persönlichen Merkmale und Gedanken Oblonskijs auf jene Gesetzmäßigkeit zurückgeführt, die am Anfang des Kapitels beschrieben wird. Am Ende des Kapitels werden die für Oblonskij typischen Eigenschaften noch einmal betont: 3

Die auktoriale Rede ist hier und im Folgenden unterstrichen.

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I pri qtom vospominanii, kak qto hasto byvaet, muhalo Stepana Arkadæiha ne stolæko samoe sobytie, skolæko to, kak on otvetil na qti slova øeny. S nim sluhilosæ v qtu minutu to, hto sluhaetsä s lüdæmi, kogda oni neoøidanno uliheny v hem-nibudæ sliπkom postydnom. (4–5)

In der Charakterisierung Oblonskijs im ersten Kapitel des Romans wird eines der Hauptprinzipien des Realismus folgerichtig durchgeführt. Die Beschreibung geht vom Allgemeinen zum Besonderen und umgekehrt. Am Anfang des Kapitels steht die Beschreibung einer allgemeinen Familie. Dann wird diese Familie näher definiert als eine russische Adelsfamilie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer bestimmten sozialen Stellung. Darauf wird ein konkreter Vertreter der Familie vorgestellt, der mehrere konkrete Merkmale besitzt. Auf diese Weise wird die Figur in einem semantischen Raum verankert, und der Narrator besitzt theoretisch zwei Möglichkeiten: Er kann diese Figur die Grenze des betreffenden semantischen Raumes überschreiten lassen oder nicht. In Bezug auf Oblonskij wählt er die zweite Möglichkeit: Oblonskijs Untreue stellt nur die scheinbare Überschreitung einer solchen Grenze dar und beweist in Wirklichkeit die Unfähigkeit der Figur, in Widerspruch zu den Regeln der Gesellschaft zu treten. Der Wechsel der Perspektive entspricht diesem Gang vom Allgemeinen zum Besonderen und umgekehrt. Die Vermittlung des Allgemeinen obliegt dabei der auktorialen Perspektive, das Besondere kann von einer auktorialen Perspektive sowie von einer Figurenperspektive aus vermittelt werden. Deshalb ist die Figurenperspektive der auktorialen Perspektive untergeordnet. Die auktoriale Perspektive rahmt die Figurenperspektive ein und erklärt sie. Die hier aufgezeigten Prinzipien der Charakterisierung sind für realistische Texte insgesamt kennzeichnend, wenn auch ihre konkrete Umsetzung nicht unbedingt so folgerichtig sein muss, wie es in Bezug auf Oblonskij der Fall ist. 3.1.2 Anna Karenina Die Hauptheldin des Romans wird nicht in der auktorialen Rede, sondern in der direkten Rede einer Figur, und zwar der Rede Oblonskijs, eingeführt: – Matvej, sestra Anna Arkadæevna budet zavtra, – skazal on, ostanoviv na minutu gläncevituü, puxluü ruhku cirülænika, rashiwavwego rozovuü dorogu meødu dlinnymi kudrävymi bakenbardami. (8)

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Die erste direkte Erscheinung der Anna Karenina wird aus Vronskijs Perspektive beschrieben: Vronskij poπel za konduktorom v vagon i pri vxode v otdelenie ostanovilsä, htoby datæ dorogu vyxodivπej dame. S privyhnym taktom svetskogo heloveka, po odnomu vzglädu na vneπnostæ qtoj damy, Vronskij opredelil ee prinadleønostæ k vysπemu svetu. On izvinilsä i poπel bylo v vagon, no pohuvstvoval neobxodimostæ ewe raz vzglänutæ na nee – ne potomu, hto ona byla ohenæ krasiva, ne po tomu izäwestvu i skromnoj gracii, kotorye vidny byli vo vsej ee figure, no potomu, hto v vyraøenii milovidnogo lica, kogda ona proπla mimo ego, bylo hto-to osobennoe laskovoe i neønoe. Kogda on oglänulsä, ona toøe povernula golovu. Blestäwie, kazavπiesä temnymi ot gustyx resnic, serye glaza druøelübno, vnimatelæno ostanovilisæ na ego lice, kak budto ona priznavala ego, i tothas øe pereneslisæ na proxodivπuü tolpu, kak by iwa kogoto. V qtom korotkom vzläde Vronskij uspel zametitæ sderøannuü oøivlennostæ, kotoraä igrala v ee lice i porxala meødu blestäwimi glazami i hutæ zametnoj ulybkoj, izbegavπeü ee rumänye guby. Kak budto izbytok hego-to tak perepolnäl ee suwestvo, hto mimo ee voli vyraøalsä to v bleske vzgläda, to v ulybke. Ona potuπila umyπlenno svet v glazax, no on svetilsä protiv ee voli v hutä zametnoj ulybke. (64–65)

Dennoch ist in dieser Beschreibung die Figurenperspektive ihrerseits einer auktorialen Perspektive untergeordnet. Davon, dass der angeführte Abschnitt die Perspektive Vronskijs wiedergibt, zeugt die Tatsache, dass die Karenina von ihm stets als „Dame“ (dama) bezeichnet wird. Das Wort „Dame“ verweist auf die Perspektive Vronskijs, denn der Erzähler weiß, wer diese Dame ist und würde sie aus seiner Perspektive „Karenina“ oder „Anna“ nennen. Die Verwendung des Wortes dama zeigt, dass sich auf der lexikalischen Ebene die Perspektive Vronskijs entwickelt. Die semantische Bedeutung, die der Gattungsname „Dame“ in diesem Fall erhält, unterscheidet sich von der Bedeutung der Gattungsnamen muzˇ, zˇena u. a. am Anfang des Romans: Im ersten Kapitel besteht die semantische Bedeutung der Gattungsnamen in der Typisierung, in der Entwicklung einer Gesetzmäßigkeit, aus der die besonderen Typen ihrer Träger abgeleitet werden können. Anna Karenina hingegen wird nicht als Vertreterin eines bestimmten Typus eingeführt – die Betonung liegt auf ihrer Einmaligkeit. Vronskijs „Dame“ ist zwar eine von mehreren „Damen“, ihre Einmaligkeit wird jedoch dadurch hervorgehoben, dass sich Vronskij „veranlasst fühlte, sich noch einmal nach ihr umzublicken“ (pocˇuvstvoval neobchodimost' esˇcˇe raz vzgljanut' na nee). Dann wird Vronskijs Empfindung durch die Beschreibung seiner Wahrnehmung erklärt, und seine Perspektive, die vor allem auf der lexikalischen Ebene ausgeprägt ist, wird auf die perzeptive Ebene erweitert.

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Die Einmaligkeit einer Figur setzt deren Fähigkeit voraus, die Grenze eines semantischen Raums zu überschreiten. Die Tatsache, dass die Einmaligkeit der Karenina aus der Perspektive Vronskijs geschildert wird, spielt eine wichtige Rolle in der Komposition des Romans, dessen Fabel auf die Beziehung zwischen Karenina und Vronskij aufbaut. Dennoch ist Vronskijs Perspektive der auktorialen Perspektive untergeordnet, und ihre Unterordnung wird auf verschiedenen Ebenen ausgedrückt. Auf der räumlichen und zeitlichen Ebene besteht diese Unterordnung darin, dass die räumlichen und zeitlichen Umstände in den ersten Passagen, die aus der Perspektive Vronskijs geschildert sind, noch immer die Perspektive des Erzählers enthalten. Durch diese aus der Perspektive des Erzählers gegebenen Umstände kann der implizite Leser z. B. erfahren, dass die Figur, die Vronskij im Wagen trifft und als „Dame“ bezeichnet, die Karenina ist. Im vorausgehenden Kapitel hatte es noch geheißen: Na drugoj denæ, v 11 hasov utra, Vronskij vyexal na stanciü Peterburgskoj øeleznoj dorogi vstrehatæ matæ, i pervoe lico, popavπeesä emu na stupenækax bolæπoj lestnicy, byl Oblonskij, oøidavπij s qtim øe poezdom sestru. (61)

Zumal bereits bekannt ist, dass Oblonskijs Schwester eben Anna Karenina ist, kann aus der Darstellung durch die auktoriale Perspektive auch geschlossen werden, dass es sich bei der „Dame“, die Vronskij schildert, um Anna Karenina handelt. Vronskij erfährt dies erst später: Vronskij vspomnil teperæ, hto qto byla Karenina. (65)

Auf der Ebene der Ideologie wird die Unterordnung der Perspektive Vronskijs unter die Perspektive des Erzählers durch einen auktorialen Kommentar ausgedrückt, mit dem der Erzähler immer wieder in die Rede Vronskijs eingreift, um sie zu erklären. S privyhnym taktom svetskogo heloveka, po odnomu vzglädu na vneπnostæ qtoj damy, Vronskij opredelil ee prinadleønostæ k vysπemu svetu. (64)

Mit diesem Satz gibt der Erzähler zu verstehen, dass Vronskij einem bestimmten Milieu angehört, und dass jene Gefühle und Gedanken, die aus seiner eigenen Perspektive wiedergegeben werden, durch seine soziale Stellung bedingt sind. Auf der perzeptiven Ebene besteht die Unterordnung der Perspektive Vronskijs unter die auktoriale Perspektive darin, dass Vronskijs Perspektive stets von der auktorialen Perspektive begleitet wird und in einigen Sätzen als eine diffuse Perspektive erscheint (vgl. den angeführten Abschnitt).

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Bei der Charakterisierung der Karenina verwendet der Autor das Verfahren der untergeordneten Figurenperspektive über viele Seiten hinweg. Auf Vronskijs Perspektive folgend wird Anna Karenina aus der Perspektive der Dolly vorgestellt. Dies geschieht in dem folgenden 19. Kapitel des ersten Teils: Kogda Anna voπla v komnatu, Dolli sidela v malenækoj gostinnoj s belogolovym puxlym malæhikom, uø teperæ poxoøim na otca, i sluπala ego urok iz francuzkogo hteniä. Malæhik hital, vertä v ruke i staraäsæ otorvatæ hutæ derøavπuüsä pugovicu kurtohki. Matæ neskolæko raz otnimala ruku, no puxlaä ruhonka opätæ bralasæ za pugovicu. Matæ otorvala pugovicu i poloøila ee v karman. – Uspokoj ty ruki, Griπa, – skazala ona i opätæ vzälasæ za svoe odeälo, davniπnüü rabotu, za kotoruü ona vsegda bralasæ v täøelye minuty, i teperæ väzala nervno, zakidyvaä palæcem i shitaä petli. Xotä ona i velela skazatæ muøu, hto ej dela net do togo, priedet ili ne priedet ego sestra, ona vse prigotovila k ee priezdu i s volneniem ødala zolovku.(69)

Davon, dass dieser Abschnitt die Perspektive der Dolly wiedergibt, zeugt die Disproportion der beschriebenen Details. Obwohl die bevorstehende Ankunft Annas als das Hauptthema dieser Szene gelten kann, wird jene nur am Rande erwähnt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Einzelheiten des Verhaltens von Dollys Sohn. Diese Disproportion kann dadurch erklärt werden, dass Dollys Perspektive in dem angeführten Abschnitt lediglich auf der perzeptiven Ebene vorherrscht und einer Erläuterung aus der auktorialen Perspektive auf der Ebene der Ideologie bedarf. Dolli byla ubita svoim gorem, vsä poglowena im. Odnako ona pomnila, hto Anna, zolovka, byla øena odnogo iz vaønejπix lic v Peterburge i peterburgskaä grande dame. I blagodarä qtomu obstoätelæstvu ona ne ispolnila skazannogo muøu, to estæ ne zabyla, hto priedet zolovka. (69)

Der Erzähler erklärt die Gefühle der Figur und lenkt den impliziten Leser in der richtigen Deutung dieser Gefühle, indem er erklärt, welchen Stellenwert die Ankunft Annas für Dolly besitzt. Ona, kak hasto byvaet, glädä na hasy, ødala ee kaøduü minutu i propustila imennno tu, kogda gostæä priexala, tak hto ne slyxala zvonka. (70)

Eine unmittelbare Charakterisierung Annas ist in Dollys direkter Rede enthalten: "Da, nakonec, Anna ni v hem ne vinovata, – dumala Dolli, – Ä o nej nihego, krome samogo xoroπego, ne znaü, i v otnoπenii k sebe ä videla ot nee tolæko lasku i druøbu.“ (69–70)

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Der Erzähler kommentiert diese Charakterisierung und seine Rede geht ihrerseits in Dollys erlebte Rede über: Pravda, kak ona mogla zapomnitæ svoe vpehatlenie v Peterburge u Kareninyx, ej ne nravilsä samyj dom ix; hto-to bylo falæπivoe vo vsem sklade ix semejnogo byta. (70)

In dieser Art und Weise ist die Perspektive Dollys, die auf der perzeptiven Ebene realisiert wird, der auktorialen Perspektive untergeordnet, die auf der räumlichen, lexikalischen und ideologischen Ebene vorherrscht. In den Kapiteln XXII-XXIII des ersten Teiles des Romanes werden die Ballszenen auf der räumlichen Ebene aus der Figurenperspektive wiedergegeben, dabei wird Anna aus Kitis Perspektive gezeigt. Kiti, raskrasnevπisæ, snäla πlejf s kolen Krivulina i, zakruøennaä nemnogo, oglänulasæ, otyskivaä Annu. Anna stoäla, okruøennaä damami i muøhinami, razgovarivaä. Anna byla ne v lilovom, kak togo nepremenno xotela Kiti, no v hernom, nizko srezannom barxatnom platæe, otkryvavπem ee tohenye, kak staroj slonovoj kosti, polnye plehi i grudæ i okruglye ruki s tonkoü kroπehnoü kistæü. Vse platæe bylo obπito venecianskim gipürom. Na golove u nee, v hernyx volosax, svoix bez primesi, byla malenækaä girlända anütinyx glazok i takaä øe na hernoj lente poäsa meødu belymi kruøevami. Priheska ee byla nezametna. Zametny byli tolæko, ukraπaä ee, qti svoevolænye korotkie kolehki kurhavyx volos, vsegda vybivavπiesä na zatylke i viskax. Na tohenoj krepkoj πee byla nitka øemhugu. (82)

Die Kohärenz dieser Sätze verdankt sich dem Standpunkt der Kiti, die anfangs nach Anna sucht, sie dann unter den Gästen ausfindig macht und beobachtet. Die Einzelheiten, mit denen Annas Aussehen und Kleidung beschrieben werden, entsprechen ebenfalls Kitis Wahrnehmung. Der Erzähler aber verschwindet nicht, sondern tritt nur in den Hintergrund. Der erste Satz des angeführten Abschnitts wird noch aus der auktorialen Perspektive geschildert. Er bereitet die Perspektive der Kiti vor und gibt einzelne Erläuterungen. Daraufhin erscheint der Erzähler noch einmal mit einer kurzen Bemerkung (Anna byla ne v lilovom, kak togo neprimenno chotela Kiti) und gibt schließlich Kiti das Wort. Im folgenden Absatz erscheint wiederum die Perspektive des Erzählers, die Kitis Perspektive erklärt: Kiti videla kaødyj denæ Annu, byla vlüblena v nee i predstavläla ee neprimenno v lilovom. No teperæ, uvidav ee v hernom, ona pohuvstvovala, hto ne ponimala vsej ee prelesti. Ona teperæ uvidala ee soverπenno novoü i neoøidannoü dlä sebä. Teperæ ona ponäla... (82)

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In der Komposition des Romans soll die aus Kitis Perspektive gegebene Beschreibung Anna Kareninas mit Vronskijs Perspektive in Einklang gebracht werden. Durch die Perspektive der Kiti begreift der implizite Leser, warum Anna so attraktiv für Vronskij ist. Nicht zufällig wird der Beginn der Beziehung zwischen Anna und Vronskij aus der Perspektive der Kiti geschildert: No, tancuä poslednüü kadrilæ s odnim iz skuhnyx ünoπej, kotoromu nelæzä bylo otkazatæ, ej sluhilosæ bytæ vis-à-vis s Vronskim i Annoj. Ona ne sxodilasæ s Annoj s samogo priezda i tut vdrug ona uvidela ee opätæ soverπenno novoü i neoøidannoü. Ona uvidala v nej stolæ znakomuü ej samoj hertu vozbuødeniä ot uspexa. Ona videla, hto Anna pæäna vinom vozbuødaemogo eü vosxiweniä. Ona znala qto huvstvo i znala ego priznaki i videla ix na Anne – videla droøawij, vspyxivaüwij blesk v glazax i ulybku shastæä i vozbuødeniä, nevolæno izgibaüwuü guby, i othetlivuü graciü, vernostæ i legkostæ dviøenij. (84)

Im angeführten Abschnitt ist auf der räumlichen, ideologischen und perzeptiven Ebene jeweils das Vorherrschen der Figurenperspektive zu beobachten. Auf der lexikalischen Ebene dominiert die Perspektive des Erzählers, der Kitis Wahrnehmung beschreibt. Im Weiteren jedoch wird auch Kitis Perspektive in direkte Rede bzw. in erlebte Rede verwandelt: "'Kto? – sprosila ona sebä. – Vse ili odin?' “(84) "Net, qto ne lübovanie tolpy opæänilo ee, a vosxiwenie odnogo. I qtot odin? Neuøeli qto on?“ (84)

In der erlebten Rede heißt es: Kuda delasæ ego vsegda spokojnaä, tverdaä manera i bespehnoe spokojnoe vyraøenie lica? Net, on teperæ kaødyj raz, kak obrawalsä k nej, nemnogo sgibal golovu, kak by øelaä pastä pered nej, i vo vzgläde ego bylo odno vyraøenie pokornosti i straxa. (96)

Robert Hodel kommentiert das angeführte Beispiel: „Kiti hat entdeckt, was der Erzähler schon immer wusste, nicht nur als vermittelndes Zentrum der Textwelt, sondern auch als auktorial befugter Richter.“ (Hodel 2001, 170–171) Die Perspektive der Kiti wird also auf der ideologischen, zeitlichen, räumlichen sowie teilweise auf der lexikalischen Ebene einer auktorialen Perspektive untergeordnet. Die Perspektive der Karenina tritt im 29. Kapitel des ersten Teils in Erscheinung, erst nachdem die Heldin bereits aus den Perspektiven der anderen Figuren dargestellt worden ist. Der Autor verwendet dasselbe

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Verfahren wie bei Kiti: Die auktoriale Perspektive greift auf verschiedenen Ebenen ein, um die aus der Figurenperspektive vorgestellte Realität zu ordnen und zu erklären. £Nu, vse konheno, i slava Bogu!“ – byla pervaä myslæ, priπedπaä Anne Arkadæevne, kogda ona prostilasæ v poslednij raz s bratom, kotoryj do tretæego zvonka zagoraøival soboj dorogu v vagone. Ona sela na svoj divanhik rädom s Annuπkoj, i oglädelasæ v polusvete spalænogo vagona. £Slava Bogu, zavtra uviøu Sereøu i Alekseä Aleksandroviha, i pojdet moä øiznæ, xoroπaä i privyhnaä, po-staromu.“ (102)

Im zitierten Abschnitt kommt die Perspektive Anna Kareninas auf der räumlichen Ebene zum Ausdruck: Die Szene wird vom Standpunkt Annas aus beschrieben, so dass der Blickwinkel des implizierten Lesers mit jenem der Karenina zusammenfällt. Die Perspektive Anna Kareninas manifestiert sich gleichfalls auf der lexikalischen Ebene: Die Verwendung von Diminuitiva ist für die Rede der Karenina charakteristisch. Die Verkleinerungsformen bestimmen gemeinsam mit der räumlichen und zeitlichen Charakterisierung vom Standpunkt der Karenina aus die weitere Beschreibung der Szene: Vse v tom øe duxe ozabohennosti, v kotorom ona naxodilasæ vesæ qtot denæ, Anna s udovolæstviem i othetlivostæü ustroilasæ v dorogu; svoimi malenækimi lovkimi rukami ona otperla i zaperla krasnyj meπohek, dostala poduπehku, poloøila sebe na koleni i, akkuratno zakutav nogi, spokojno uselasæ. Bolænaä dama ukladyvalasæ uøe spatæ. [...]Anna otvetila neskolæko slov damam, no, ne predvidä interesa ot razgovora, poprosila Annuπku dostatæ fonarik, pricepila ego k ruhke kresla i vzäla iz svoej sumohki razreznoj noøik i anglijskij roman. (102)

Allmählich wird die Erzählung, die der Bewegung eines Zuges bzw. der Empfindung eines mit dem Zug Reisenden entspricht, zur erlebten Rede der Karenina: Pervoe vremä ej ne hitalosæ. Snahala meπala voznä i xotæba; potom, kogda tronulsä poezd, nelæzä bylo ne prisluπatæsä k zvukam; potom sneg, bivπij v levoe okno i nalipavπij na steklo, i vid zakutannogo, mimo proπedπego konduktora, zanesennogo snegom s odnoj storony, i razgovory o tom, kakaä teperæ straπnaä metelæ na dvore, razvlekali ee vnimanie. Dalee vse bylo to øe i to øe; ta øe träska s postukivanæem, tot øe sneg v okno, te øe bystrye perexody ot parovogo øara k xolodu i opätæ k øaru, to øe melækanie tex øe lic v polumrake i te øe golosa, i Anna stala hitatæ i ponimatæ hitaemoe. (102–103)

In dieser Szene, die hauptsächlich aus der Perspektive Anna Kareninas dargestellt ist, besitzt die Perspektive des Erzählers einen geringeren Stellenwert als in jenen Szenen, die aus der Perspektive der anderen Figuren

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gestaltet sind. Dennoch weiß der Erzähler auch in dieser Szene mehr als die übrigen Figuren, etwa in dem Satz: [...] i Anna stala cˇitat' i ponimat’ procˇitannoe, oder in dem auf den zitierten Abschnitt folgenden Satz: Geroj romana uzˇe nacˇinal dostigat’ svoego anglijskogo scˇast’ja, baronetstva i imenija, i Anna zˇelala s nim vmeste exat’ v e˙to imeni [...](103), in dem der ironische Ausdruck svoego anglijskogo scˇast’ja eindeutig für die Rede des Erzählers charakteristisch ist. Erst nachdem Anna Karenina aus der Perspektive verschiedener Figuren vorgestellt wurde und der Leser auch ihrer eigenen Perspektive über manche Abschnitte hinweg hat folgen können, wird sie aus einer auktorialen Perspektive beschrieben. Die Beschreibung des St. Petersburger Milieus im 4. Kapitel des zweiten Teils fasst die vorausgehenden, aus den Perspektiven der unterschiedlichen Figuren gegebenen Beschreibungen Kareninas zusammen: Peterburgskij vysπij krug, sobstvenno, odin; vse znaüt drug druga, daøe ezdät drug k drugu. No v qtom bolæπom kruge estæ svoi podrazdeleniä. Anna Arkadæevna Karenina imela druzej i tesnye sväzi v trex razlihnyx krugax. Odin krug byl sluøebnyj, oficialænyj krug ee muøa, sostoävπij iz ego sosluøivcev i podhinennyx, samym raznoobraznym i prixotlivym obrazom sväzannyx i razßedinennyx v obwestvennyx usloviäx. Anna teperæ s trudom mogla vspomnitæ to huvstvo pohti naboønogo uvaøeniä, kotoroe ona v pervoe vremä imela k qtim licam. Teperæ ona znala vsex ix, kak znaüt drug druga v uezdnom gorode; [...] Drugoj blizkij Anne kruøok – qto byl tot, herez kotoryj Aleksej Aleksandrovih delal svoü karæeru. Centrom qtogo kruøka byla grafinä Lidiä Ivanovna. Qto byl kruøok staryx, nekrasivyx, dobrodetelænyx i naboønyx øenwin i umnyx, uhenyx, hestolübivyx muøhin. [...] Tretij krug, nakonec, gde ona imela sväzi, byl sobstvenno svet, – svet balov, obedov, blestäwix tualetov, svet, derøavwijsä odnoü rukoj za dvor, htoby ne spustitæsä do polusveta, kotoryj hleny qtogo kruga dumali, hto prezirali, no s kotorym vkusy u nego byli ne tolæko sxodnye, no odni i te øe. (128–129)

Mit dieser Beschreibung umreißt der Erzähler Kareninas gesellschaftliche Stellung, um dadurch ihre Gefühle und ihre Handlungen zu erklären. Eine vergleichende Analyse der Charakterisierungen Annas und Oblonskijs zeigt, dass beide nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind, ihre Elemente jedoch in einer gegensätzlichen Ordnung stehen. Bei der Charakterisierung Oblonskijs bewegt sich die Erzählung vom Allgemeinen zum Besonderen, bei derjenigen der Karenina vom Besonderen zum Allgemeinen. Wird Oblonskij anfangs aus einer auktorialen Perspektive dargestellt, die seine Verankerung in einem semantischen Raum bestimmt und seine

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Typhaftigkeit entwickelt, so erscheint bald darauf die Perspektive Oblonskijs selbst, die der Figur ihre spezifischen Eigenschaften verleiht. Diese Eigenschaften befähigen Oblonskij jedoch noch nicht dazu, die Grenze des ihm zugeordneten semantischen Raums zu überschreiten und sich in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Konventionen zu stellen. Anna Karenina hingegen wird anfangs aus verschiedenen Figurenperspektiven dargestellt, die sämtlich ihre Einmaligkeit betonen. Daraufhin wird aus auktorialer Perspektive ihre soziale Stellung gezeigt und auf diese Weise ein semantischer Raum festgelegt, dessen Grenze Karenina später aufgrund ihrer Einmaligkeit überschreiten wird. In gewisser Hinsicht kann die Fabel des Romans als eine Gegenüberstellung von Karenina und Oblonskij begriffen werden. Karenina ist eine widersprüchliche Figur, Oblonskij ist nicht-widersprüchlich. Diese Gegenüberstellung wird dadurch ermöglicht, dass die semantischen Räume des Romans aus der auktorialen Perspektive geschildert werden. Zumal die Grenze zwischen den semantischen Räumen im gegebenen Roman Titzmanns Modell entsprechend als „vortextuell bzw. kulturell relevant“ bezeichnet werden kann 4, besitzt der auktoriale Erzähler die Möglichkeit, ohne zusätzliche Motivierungen seine Wertungen zum Ausdruck zu bringen. Eine Unterordnung der Figurenperspektive unter die auktoriale Perspektive kann also auf zwei Ebenen des Textes entwickelt werden. Auf der Ebene des Satzes, Absatzes oder Kapitels besteht die Unterordnung in einem Kommentar, der aus der Perspektive des allwissenden und omnipräsenten Erzählers gegeben wird. Dies geschieht auf der räumlichen, zeitlichen, lexikalischen, perzeptiven sowie teilweise auf der ideologischen Ebene der Perspektivierung. In der Makrostruktur des Textes wird die Unterordnung mit der Komposition verbunden und entwickelt sich überwiegend auf der ideologischen Ebene der Perspektivierung. Die vortextuelle Bestimmung aber ist in realistischen Texten nicht die einzige Möglichkeit, einen semantischen Raum zu definieren. Um die realistische Perspektivierung zu skizzieren, sollen solche Texte untersucht werden, in denen die semantischen Räume und ihre Grenzen erst im Text selbst als relevant gesetzt werden. Ein Beispiel ist Turgenevs Roman „Väter und Söhne“.

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Ein Ausdruck dieser vortextuell-kulturell gesetzten Bestimmung der Opposition zwischen den semantischen Räumen ist z. B. das Epigraph des Romans.

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3.2 I. S. Turgenev „Otcy i deti“ Obwohl Turgenevs Poetik sich von jener Tolstojs unterscheidet, folgen die Verhältnisse zwischen den Perspektiven in seinen Werken einem ähnlichen Schema. Die Figurenperspektiven werden einer auktorialen Perspektive untergeordnet. Dies jedoch geschieht auf eine andere Weise als bei Tolstoj. Die erste Figur, die im Roman auftritt, ist Nikolaj Petrovicˇ Kirsanov. Sein Auftritt im Text entspricht den Prinzipien des klassischen realistischen Diskurses. Eine Beschreibung dieses Auftritts wird sowohl aus auktorialer als auch aus einer Figurenperspektive gegeben. Das erste Kapitel beginnt mit Kirsanovs direkter Rede, die nach V. M. Markovicˇ an die letzten Sätze von Turgenevs vorausgegangenen Roman „Vorabend“ anklingt (Markovicˇ 1982, 188). Diese Anspielung gehört zur Perspektive des impliziten Autors und spielt für die Komposition des Romans eine ähnliche Rolle wie etwa das Epigraph für die Komposition von „Anna Karenina“. Bei der ersten auktorialen Erläuterung zur direkten Rede werden aus der auktoriale Perspektive Zeit und Ort der Handlung eingeführt und zugleich die äußeren Beschreibungen der ersten im Roman auftretetenden Figuren gegeben. 3.2.1 Nikolaj Petrovicˇ Kirsanov – Hto, Petr, ne vidatæ ewe? – spraπival 20-go maä 1859 goda, vyxodä bez πapki na nizkoe krylehko postoälogo dvora na *** πosse, barin let soroka s nebolæπim, v zapylennom palæto i klethatyx pantalonax, u svoego slugi, molodogo i wekastogo malogo s belovatym puxom na podborodke i malenækimi tusklymi glazenkami.

Darauf folgt die aus auktorialer Perspektive geschilderte Vorgeschichte Nikolaj Petrovicˇs. Der auktoriale Erzähler des ersten Kapitels ist ein unpersönlicher (exegetischer) Erzähler, der zugleich einige Merkmale eines diegetischen Erzählers besitzt. Seine subjektive Gestalt entwickelt sich in den kurzen Anreden an den Leser, wie sie für die russische Literatur der ersten Hälfte des 19. Jh. (vgl. z. B. „Evgenij Onegin“) charakteristisch sind und welche die Gestalt des Erzählers als einer objektiven auktorialen Instanz nicht in Frage stellen können. Poznakomim s nim hitatelä, poka on sidit, podognuvπi pod sebä noøki i zadumhivo poglädyvaä krugom. (7)

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Der Erzähler in „Väter und Söhne“ ist – wie der Erzähler in „Anna Karenina“ – eine omnipräsente und allwissende Instanz. Er besitzt die Fähigkeit, sich durch Zeit und Raum zu bewegen und in das Bewusstsein der Figuren einzudringen. Der Unterschied zu Tolstojs Erzähler ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen: Die Perspektive des Erzählers bei Turgenev herrscht auf der zeitlichen und räumlichen Ebene vor, ist jedoch auf der ideologischen Ebene abgeschwächt. Im ersten Kapitel des Romans bewegt sich die Narration nicht vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern von der Gegenwart zur Vergangenheit und umgekehrt. Der Erzähler erklärt die zeitlichen und räumlichen Umstände der Handlung, gibt jedoch keine Wertung ab. Erst nachdem die zeitlichen und räumlichen Umstände durch die Beschreibung des Orts gegeben und die Figuren sowie ihre Vorgeschichte aus einer auktorialen Perspektive vorgestellt worden sind, die Narration also zu ihrem zeitlichen Ausgangspunkt zurückgekehrt ist, tritt mit der Perspektive Nikolaj Petrovicˇ Kirsanovs eine eindeutige Figurenperspektive auf: Nikolaj Petrovih ponik golovoj i nahal glädetæ na vetxie stupenæki krylehka: krupnyj pestryj cyplenok stepenno rasxaøival po nim, krepko stuha svoimi bolæπimi øeltymi nogami; zapahkannaä koπka nedruøelübno posmatrivala na nego, øemanno prikornuv na perila. Solnce peklo; iz polutemnyx senej postoälogo dvorika neslo zapaxom teplogo røanogo xleba. Zamehtalsä naπ Nikolaj Petrovih. (10)

Die Figurenperspektive entwickelt sich im angeführten Abschnitt auf der zeitlichen, räumlichen und lexikalischen Ebene, wobei sie auf der lexikalischen Ebene nicht nur durch die Wortwahl, sondern auch durch eine asyndetische Syntax ihren Ausdruck findet. Die Asyndese entspricht dem Zustand eines Menschen, der auf morschen Treppenstufen sitzt und dabei ein stolzierendes Küken und die es verfolgende Katze beobachtet, die sengende Sonne fühlt und den Geruch von warmem Roggenbrot ausmacht. Zumal der Held all diese Objekte gleichzeitig wahrnimmt, besteht für ihn keine zeitliche Relation zwischen diesen Objekten. Weil er an die bevorstehende Begegnung mit seinem Sohn denkt und die ihn umgebenden Objekte nur unbewusst registriert, gibt es für ihn auch keine kausale Relation zwischen den Gegenständen, die er sieht. Insofern, als die zeitlichen und kausalen Relationen durch unterordnende Konjunktionen wiedergegeben werden, bedarf die Perspektive dieses Helden keiner Hypotaxe: Der Erzähler wählt die asyndetische Reihung.

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Die zeitliche und kausale Relation gehören der Perspektive des Erzählers an. Die Figurenperspektive wird also einem System untergeordnet, das von der auktorialen Perspektive bestimmt ist und in dem die Figurenperspektive lediglich eine Komponente darstellt. Kirsanovs Perspektive erscheint im ersten Kapitel zumindest noch zweimal: Tolstyj sizyj golubæ priletel na dorogu i pospeπno otpravilsä pitæ v luøicu vozle kolodca. Nikolaj Petrovih stal glädetæ na nego, a uxo ego uøe lovilo stuk pribliøaüwixsä koles [...](10)

Und kurz darauf: Nikolaj Petrovih vskohil i ustremil glaza vdolæ dorogi. Pokazalsä tarantas, zapräøennyj trojkoj ämskix loπadej; v tarantase melæknul okolyπ studentskoj furaøki, znakomyj oherk dorogogo lica [...] (10)

Im letzten Satz des Kapitels ensteht eine diffuse Perspektive, die eine Verknüpfung der auktorialen Perspektive mit der Perspektive Kirsanovs darstellt. Neskolæko mgnovenij spustä ego guby uøe prilænuli k bezborodoj, zapylennoj i zagoreloj weke molodogo kandidata. (10)

Insgesamt werden im ersten Kapitel des Romans die Zeit, der Ort und die Figuren anfangs aus einer auktorialen Perspektive dargestellt; daraufhin berichtet der Erzähler die Vorgeschichte der Helden, um die Wahl der Zeit und des Ortes zu motivieren; unter Berücksichtigung der Vorgeschichte kehrt er dann zum Ausgangspunkt der Erzählung zurück und zeigt in Großaufnahme wieder eine der Figuren. Um der Charakteristik dieser Figur Genauigkeit zu verleihen, bedarf der Erzähler einer Figurenperspektive, die aus der auktorialen Perspektive hervorgeht und durch sie motiviert wird. Die Welt des Erzählers ist also umfassender als die Welt der Figuren und schließt die Welt der Figuren ein. Die Figurenperspektive wird der auktorialen Perspektive – trotz der Abschwächung der auktorialen Perspektive auf der ideologischen Ebene – auf der zeitlichen und räumlichen Ebene untergeordnet. Für die Figurenperspektive gibt es in Turgenevs Roman zahlreiche Beispiele. Um das Verhältnis zwischen Figurenperspektive und auktorialer Perspektive in „Väter und Söhne“ zu untersuchen, sollen zwei weitere Figuren betrachtet werden.

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3.2.2 Arkadij Kirsanov Arkadij Kirsanovs Auftritt wird aus der Perspektive seines Vaters, Nikolaj Petrovicˇ Kirsanov, beschrieben: [...] v tarantase melæknul okolyπ studentskoj furaøki, znakomyj oherk dorogogo lica [...] (10)

Der fragmentarische Charakter der Beschreibung ist nicht für Arkadij, sondern für Nikolaj Petrovicˇ charakteristisch. Dem Abschnitt folgt eine weitere Beschreibung Arkadijs aus auktorialer Perspektive. Eine äußere Beschreibung Arkadijs gibt es im Roman jedoch nicht. Seine erste auktoriale Charakterisierung besteht aus einer Beschreibung seiner Handlungen und einzelnen Bemerkungen, aus denen sich ein bestimmtes Bild von diesem Helden ergibt. Erst danach tritt Arkadijs eigene Perspektive auf, die sich anfangs lediglich auf die räumliche und die perzeptive Ebene erstreckt: Serdce Arkadiä ponemnogu søimalosæ. Kak narohno, muøihki vstrehalisæ vse obterxannye, na ploxix klähenkax; kak niwie v loxmotæäx, stoäli pridoroønye rakity s obodrannoü koroj i oblomannymi vetvämi; isxudalye, πerπavye, slovno obglodannye, korovy øadno wipali travu po kanavam. (16)

Im folgenden Satz wird Arkadijs Perspektive durch die Ebene der Ideologie erweitert: Kazalosæ, oni tolæko hto vyrvalisæ iz hæix-to groznyx, smertonosnyx kogtej – i, vyzvannyj øalkim vidom obessilennyx øivotnyx, sredi vesennego krasnogo dnä vstaval belyj prizrak bezotradnoj beskonehnoj zimy s ee metelämi, morozami i snegami. (16)

Auf der lexikalischen Ebene herrscht in diesem Abschnitt die auktoriale Perspektive vor. Die Fusion der beiden Perspektiven (der auktorialen und einer Figurenperspektive) zu einer semantischen Ganzheit, bei der die auktoriale Perspektive auf der lexikalischen Ebene ihren Ausdruck findet, ist eines der wichtigsten Verfahren Turgenevs, die Abschwächung der auktorialen Perspektive auf der ideologischen Ebene zu kompensieren. In metaphorischer Sprache wird wiedergegeben, was Arkadij nicht denkt, jedoch in der entsprechenden Situation denken könnte; auf diese Weise entsteht ein eigentümlicher Kommentar zur seinen Gedanken. Arkadijs direkte Rede, die nach diesem Absatz eingeführt wird, steht in Kontrast zu seinen in auktorialer Rede wiedergegebenen Gedanken, wobei der Kontrast nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch die Ideologie bedingt ist.

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„Net, – podumal Arkadij, – nebogatyj kraj qtot, ne poraøaet on ni dovolæstvom, ni trudolübiem; nelæzä, nelæzä emu tak ostatæsä, preobrazovaniä neobxodimy [...] no kak ix ispolnitæ, kak pristupitæ?“ (16)

Die Gegenüberstellung zwischen der direkten und der erlebten Rede Arkadijs wird zur Gegenüberstellung zwischen seinem Bewusstsein und seinem Unterbewusstsein. Ein Bild, das er sieht, ruft bei ihm bestimmte Empfindungen hervor. Diese Empfindungen werden in einer metaphorischen Sprache zum Ausdruck gebracht, also in einer Sprache, in der gewöhnlich der auktoriale Erzähler spricht. Jedoch Arkadij selbst kleidet seine Empfindungen in eine sprachliche Form, die seiner auf soziale und ökonomische Begriffe fundierten Ideologie entspricht. Der Erzähler spricht keine direkte Wertung aus, gibt aber zu verstehen, dass Arkadijs Sprache bzw. Ideologie beschränkt ist. Die Gegenüberstellung zwischen Arkadijs direkter und seiner erlebten Rede offenbart also eine wesentliche Eigenschaft der Figur, die sich in einem Widerspruch befindet zwischen dem, was sie sein will, und dem, was sie wirklich ist. Im Verlauf des Romans entwickelt sich dieser Widerspruch als konstantes Motiv, das eine wesentliche Seite des Romankonzepts darstellt. 3.2.3 Bazarov Die erste Charakterisierung Bazarovs wird nicht aus der auktorialen Perspektive gegeben. Sie ist in Arkadijs direkter Rede enthalten: „– Papaπa, – skazal on; – pozvolæ poznakomitæ tebä s moim dobrym priätelem, Bazarovym, o kotorom ä tebe tak hasto pisal.“ (11)

Auf diese Rede Arkadijs jedoch folgt dierekt eine Charakterisierung Bazarovs aus der Perspektive des Erzählers. Diese Charakterisierung kommentiert die in der direkten Rede bzw. aus der Perspektive Arkadijs gegebene Vorstellung und stellt diese in gewissem Maße in Frage. Die verschiedenen Elemente dieser Charakterisierung sind in einen Dialog zwischen Bazarov und Nikolaj Petrovicˇ eingebettet. Nikolaj Petrovih bystro obernulsä i, podojdä k heloveku vysokogo rosta v dlinnom balaxone s kistämi, tolæko hto vylezπemu iz tarantasa, krepko stisnul ego obnaøennuü krasnuü ruku, kotoruü tot ne srazu emu podal. (11)

Daraufhin beginnt ein Gespräch: – Evgenij Vasilæev, – otvehal Bazarov lenivym, no muøestvennym golosom i, otvernuv vorotnik balaxona, pokazal Nikolaü Petrovihu vsö svoe lico. Dlin-

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noe i xudoe, s πirokim lbom, kverxu ploskim, knizu zaostrennym nosom, bolæπimi zelenovatymi glazami i visähimi bakenbardami pesohnogo cvetu, ono oøivlälosæ spokojnoj ulybkoj i vyraøalo samouverennostæ i um. (11)

Anschließend wird eine kurze Beschreibung aus der Perspektive des Erzählers gegeben: Tonkie guby Bazarova hutæ tronulisæ; no on nihego ne otvehal i tolæko pripodnäl furaøku. Ego temno-belokurye volosy, dlinnye i gustye, ne skryvali krupnyx vypuklostej prostornogo herepa.(11)

Es ist auffällig, dass Bazarovs Vorgeschichte im Roman nicht geschildert wird. Der Leser erfährt von seiner Vergangenheit lediglich mithilfe verschiedener Bemerkungen, die über den Text verstreut und auf verschiedene Perspektiven aufgeteilt sind. Dies unterscheidet die Darstellung Bazarovs von denjenigen anderer Figuren, die im Roman eine wichtige Rolle spielen. Das geschilderte Verfahren ist jedoch nicht nur für die Darstellung seiner Vorgeschichte, sondern auch für seine Charakterisierung insgesamt kennzeichnend. Über viele Seiten hinweg wird Bazarov aus verschiedenen Perspektiven beschrieben, unter denen die Perspektive Arkadijs und Pavel Petrovicˇ Kirsanovs hervorstechen. Dieses Verfahren gewährt der Einbildungskraft des Lesers eine größere Freiheit. Dennoch gibt es neben den aus Figurenperspektiven dargestellten Beschreibungen auch Sätze und Abschnitte, die einer auktorialen Perspektive zuzuordnen sind und durch welche sich die Unterordnung der Figurenperspektive unter die auktoriale Perspektive auf der räumlichen, zeitlichen und perzeptiven Ebene entwickelt. Insofern, als die auktoriale Perspektive auf die ideologische Ebene beschränkt ist, gibt diese Unterordnung keinen Ausschlag für das Romankonzept. Um die Art und Weise zu begreifen, wie die Opposition der semantischen Räume in den Roman eingeführt wird, soll die wichtigste Figurenperspektive, d. h. die Perspektive Bazarovs, untersucht werden. Ebenso wie in „Anna Karenina“ erscheint die Perspektive des Haupthelden erst, nachdem er bereits aus anderen Perspektiven charakterisiert wurde, und zwar im 17. Kapitel, das vom Aufenthalt Bazarovs und Arkadijs in Odincovas Gutshaus handelt. Nastoäweü prihinoj vsej qtoj „novizny“ bylo huvstvo, vnuπennoe Bazarovu Odincovoj, – huvstvo, kotoroe ego muhilo i besilo i ot kotorogo on tothas otkazalsä by s prezritelænym xoxotom i ciniheskoü branæü, esli by kto-nibudæ xotä otdalenno nameknul emu na vozmoønostæ togo, hto v nem proisxodilo. Bazarov byl velikij oxotnik do øenwin i do øenskoj krasoty, no lübovæ v smysle idealænom, ili, kak on vyraøalsä, romantiheskom, nazyval beliberdoj, neprostitelænoü duræü, shital rycarskie huvstva hem-to vrode urodstva

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i ne odnaødy vyraøal svoe udivlenie: pohemu ne posadili v øeltyj dom Toggenburga so vsemi minnezingerami i trubadurami? „Nravitsä tebe øenwina, – govarival on, – starajsä dobitæsä tolku; a nelæzä – nu, ne nado, otvernisæ – zemlä ne klinom soπlasæ.“ Odincova emu nravilasæ: rasprostranennye sluxi o nej, svoboda i nezavisimostæ ee myslej, ee nesomnennoe raspoloøenie k nemu – vsö, kazalosæ, govorilo v ee polæzu, no on skoro ponäl, hto s nej „ne dobæeπæsä tolku“, a otvernutæsä ot nee on, k izumleniü svoemu, ne imel sil. (87)

Die Perspektive Bazarovs entsteht in dem angeführten Abschnitt im Rahmen eines auktorialen Kommentars. Die metanarrativen Ausdrücke (kak on vyrazˇalsja, kazalos’) dienen als Verbindungsglied zwischen der Perspektive Bazarovs und der auktorialen Perspektive. Die beiden Perspektiven werden auf der lexikalischen, perzeptiven und ideologischen Ebene ausgestaltet, wobei auf der lexikalischen und perzeptiven Ebene die Perspektive Bazarovs der auktorialen Perspektive untergeordnet wird. Die Abschwächung der auktorialen Perspektive auf der ideologischen Ebene besteht darin, dass der auktoriale Erzähler lediglich einen Grund für die Gefühle Bazarovs angibt, sie jedoch nicht bewertet. Anschließend wird die Perspektive Bazarovs auf die räumliche Ebene ausgeweitet, wodurch sie auf den ersten Blick von der auktorialen Perspektive unabhängig wird. On vzglänul na nee. Ona zakinula golovu na spinku kresel i skrestila na grudi ruki, obnaøennye do loktej. Ona kazalasæ blednej pri svete odinokoj lampy, zaveπannoj vyreznoü bumaønoü setkoj. ∏irokoe beloe platæe pokryvalo ee vsü svoimi mägkimi skladkami; edva vidnelisæ konhiki ee nog, toøe skrewennyx. (89–90)

Und daraufhin: Bazarov vstal. Lampa tusklo gorela posredi potemnevπej, blagovonnoj, uedinennoj komnaty; skvozæ izredka kolyxavπuüsä storu vlivalasæ razdraøitelænaä sveøestæ nohi, slyπalosæ ee tainstvennoe πeptanie. Odincova ne πevelilasæ ni odnim hlenom, no tajnoe volnenie oxvatyvalo ee ponemnogu [...]. Ono soobwilosæ Bazarovu. On vdrug pohuvstvoval sebä naedine s molodoü, prekrasnoü øenwinoj [...] (92)

Diese Unabhängigkeit der Perspektive Bazarovs von der auktorialen Perspektive ist aber nur Schein. Während die Szene auf der räumlichen und perzeptiven Ebene aus der Perspektive Bazarovs beschrieben wird, wird sie auf der lexikalischen (sprachlichen) Ebene aus der auktorialen Perspektive gestaltet. Die Fusion beider Perspektiven, die bereits am Beispiel Arkadijs betrachtet wurde, findet in der Szene mit Bazarov und Odincova eine weitere Entwicklung. Es ist bereits bekannt, dass Wendungen wie

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razdrazˇitel’naja svezest’ nocˇi, tainstvennoe sˇeptanie, tajnoe volnenie der Sprache Bazarovs fremd sind. Sie sind charakteristisch für die auktoriale Rede, markieren einen auktorialen Einbruch in die Figurenperspektive und bewirken so einen Umbruch im psychologischen Profil der Figur. Die auf der lexikalischen Ebene zum Ausdruck kommende auktoriale Perspektive hat also eine erklärende Funktion, die üblicherweise durch die auktoriale Perspektive auf der Ebene der Ideologie hergestellt wird. Die Sprache, in der Bazarov nicht spricht, in der er aber sprechen könnte und sollte, wird zum Kommentar und zur Wertung seiner Gefühle, die er selbst nur nebelhaft wahrnimmt. Durch sie wird die Unterordnung seiner Perspektive unter die auktoriale Perspektive ausgedrückt. Die auf der lexikalischen Ebene ausgedrückte auktoriale Perspektive erhält somit eine erklärende Funktion, wie sie gewöhnlich der auktorialen Perspektive auf der ideologischen Ebene zukommt. Auf der Ebene der Makrostruktur des Textes werden die Opposition der semantischen Räume sowie das Hauptereignis des Romans durch einen Wechsel der Perspektive bestimmt. Bazarovs Perspektive entsteht in Zusammenhang mit seiner Liebe zu Odincova: Dies bedeutet die Überschreitung der Grenze des ihm zugeordneten semantischen Raums. Als Bazarov die Grenze zwischen seiner ursprünglichen nihilistischen Position und dem Zustand der Verliebtheit, zu der er aufgrund seiner Widersprüchlichkeit fähig ist, überschreitet, wird das Hauptereignis des Romans von einem Zusammenstoß der Prespektive Bazarovs mit der Perspektive des Erzählers begleitet. Das Hauptereignis umfasst nicht nur Bazarovs Verliebtheit, sondern auch seinen Tod, der eine Folge seiner Verliebtheit ist. Erst nachdem diese Ereignisse vonstatten gegangen sind, wird dem Erzähler der Raum für eine belehrende Sentenz zugestanden, die er im letzten, dem 28. Kapitel, ausführt. Es ist markant, dass Turgenevs Roman mit einer belehrenden Sentenz endet, während der Roman Tolstojs mit einer solchen Sentenz beginnt. Dennoch gibt Turgenevs Erzähler in dieser Sentenz keine ethische Wertung ab, sondern stellt nur seine Einschätzung des Geschehens vor. Wenn, wie wir annehmen, die Entwicklung der Perspektive in der russischen Literatur vom Realismus zur Avantgarde als eine konsekutive Abschwächung der auktorialen Perspektive beschrieben werden kann, so stellt Turgenevs Werk einen Schritt in diese Richtung dar. Dies bedeutet aber nicht, dass Turgenevs Erzähler seine führende Rolle im Text verliert. Er dominiert auf der räumlichen und zeitlichen Ebene und bestimmt aus

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einer auktorialen Perspektive nicht nur die kausalen Verhältnisse der Handlung, sondern auch die temporalen und räumlichen Einstellungen. Eine Ähnlichkeit zwischen Turgenevs und Tolstojs Erzählinstanz besteht in Bezug auf die Nebenfiguren, deren Charakterisierungen bei beiden Autoren nach demselben Schema aufgebaut werden. Wenn Tolstojs Erzähler mit einem Richter verglichen werden kann, der über seine Figuren ein Urteil fällt, könnte Turgenevs Erzähler mit einem Psychoanalytiker verglichen werden, der seine Figuren untersucht und ein System schafft, aufgrund dessen der Leser Schlussfolgerungen ziehen kann. Fazit Die durchgeführte Analyse erlaubt folgende Schlüsse: • •





• •



Ein realistischer Text stellt eine Einheit von hierarchisch organisierten Perspektiven dar. Die auktoriale Perspektive besitzt im Text eine erklärende und eine organisierende Funktion und spielt deshalb in der realistischen Narration eine führende Rolle. Die auktoriale Perspektive herrscht auf der räumlichen, zeitlichen und perzeptiven Ebene vor und motiviert letztlich das Geschehen und die Übereinstimmungen zwischen diesen Ebenen in der Mikrostruktur des Textes. Die auktoriale Perspektive herrscht auf der Ebene der Ideologie vor, obgleich ihre Ausdrucksmittel auf dieser Ebene in einigen Fällen nur mittelbar zur Geltung kommen. Die Figurenperspektiven werden einer auktorialen Instanz untergeordnet. Die auktoriale Perspektive umfasst die verschiedenen semantischen Räume eines Textes und bestimmt in der Makrostruktur des Textes eine Opposition bzw. eine Grenze zwischen diesen Räumen. Insofern als eine Figur aufgrund ihres Verhältnisses zur Grenze eines semantischen Raums bestimmt wird, hängt ihr Status von einer auktorialen Perspektive ab.

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4. Übergang zum Modernismus Am Ende des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint in der russischen Literatur eine Prosaform, die bereits keine Entwicklung des realistischen Diskurses mehr darstellt, gleichzeitig aber noch nicht als modernistischer Diskurs gelten kann. Ein wesentliches Merkmal dieser Prosaform ist die Problematisierung des Ereignisses, die ihre stärkste Ausprägung in Cµechovs Werken findet. Der Begriff der „Problematisierung des Ereignisses“ wurde von Wolf Schmid eingeführt und anhand von Cµechovs Prosa untersucht. Schmid schreibt dazu: „Cµechovs postrealistisches Erzählen ist nicht Prosa ohne Sujet, nicht einfach ereignislos, wie man häufig behauptet hat, es problematisiert vielmehr die realistische Ereignishaftigkeit“ (Schmid 1992, 104). Im Folgenden wird diese Frage unter dem Blickwinkel des Verhältnisses zwischen Figur und Perspektive anhand von Cµechovs Erzählung „Der Bischof“ („Archierej“) betrachtet. 4.1 A. P. Cµechov „Archierej“ In Cµechovs späteren Werken, insbesondere in der Erzählung „Der Bischof“, entwickeln sich die ersten Symptome einer bedeutenden Abschwächung der auktorialen Perspektive. Diese Symptome aber sind noch nicht ausreichend markant, um die Wahrnehmung einer kompakten Perspektive zu durchbrechen. Kausale, temporale und räumliche Verhältnisse werden in Cµechovs Text formell aus einer auktorialen Perspektive bestimmt. Das Problem aber besteht darin, dass der Fabel Cµechovs nicht eine Reihe aufeinander folgender Geschehensmomente zugrunde liegt, sondern ein Wechsel der psychischen Zustände des Helden. Dabei erweist sich jede von einem auktorialen Erzähler gegebene Erklärung dieses Wechsels unter Hinweis auf ein vorausgegangenes Geschehen als relativ. Die Relativität der aus der auktorialen Perspektive gegebenen Erklärung wird durch den Wechsel zur Figurenperspektive kompensiert, die häufig mit der auktorialen Perspektive zu einer diffusen Perspektive verknüpft wird und deren Autorität sich der Autorität einer auktorialen Perspektive annähert 5. 5

Die von V. Tjupa aufgestellte These, es gäbe in der Erzählung „Der Bischof“ lediglich eine Figurenperspektive, scheint nicht richtig. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, einen Satz am Anfang der Erzählung heranzuziehen: „Die Tränen erglänzten auf seinem Gesicht, in seinem Bart“ (Sljezy zablesteli u nego na lice, na borode. Cµ., 10, 186), vgl. Tjupa 2001, 51.

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Die Erzählung beginnt mit einer Beschreibung, die mit dem inneren Zustand der Hauptfigur im Zusammenhang steht: Pod verbnoe voskresenæe v Staro-Petrovskom monastyre ‚la vsenownaä. Kogda stali razdavatæ verby, to byl uøe desätyj has na isxode, ogni potuskneli, fitili nagoreli, bylo vse, kak v tumane. V cerkovnyx sumerkax tolpa kolyxalasæ, kak more, i preosvewennomu Petru, kotoryj byl uøe nezdorov tri dnä, kazalosæ, hto vse lica – i starye, i molodye, i muøskie, i øenskie – poxodili odno na drugoe, u vsex, kto podxodil za verboj, odinakovoe vyraøenie glaz.

Im zitierten Abschnitt bildet nicht eine Folge von Geschehensmomenten, sondern der Wechsel der Perspektive den Gegenstand der Narration. Der erste Satz folgt der auktorialen Perspektive. Im zweiten Satz wird diese allmählich zu einer diffusen Perspektive, indem die auktoriale Perspektive mit der Perspektive des Bischofs Petr verknüpft wird (ogni potuskneli,... bylo vse kak v tumane). Der erste Teil des dritten Satzes folgt der Perspektive Petrs, daraufhin kehrt die Erzählung zur auktorialen Perspektive zurück, um aus der Perspektive des Erzählers Petrs Zustand zu erklären, der aus der Figurenperspektive bereits bekannt ist. Der Erzähler erklärt Petrs Wahrnehmung der Umgebung durch die Tatsache, dass Petr krank ist. Dabei entsteht der Eindruck, das Beschriebene bedürfe einer weiteren Erklärung, die jedoch nicht gegeben wird. Das erste Ereignis der Erzählung besteht darin, dass Petr in der Menge seine Mutter erblickt. Die Mutter, wie im Weiteren bestätigt wird, erscheint auch tatsächlich. Die Szene in der Kirche wird aber auf solche Weise beschrieben, dass die Realität der Erscheinung von Petrs Mutter für den impliziten Leser zweifelhaft bleibt. Ob Petr seine Mutter in der Kirche sieht oder ob es ihm nur so scheint, steht zunächst in Frage. Das Geschehen spielt überhaupt eine Nebenrolle. Es ist nur insofern interessant, als es die Gefühle und Empfindungen der Figur veranlasst. Diese sind durch das Geschehen jedoch nicht direkt verursacht, und jede Erklärung, die auf ein dem Gefühl zugrunde liegendes Geschehen verweist, erweist sich als ungenügend. Wenn der Erzähler den inneren Zustand der Hauptfigur jedoch nicht durch den Hinweis auf ein Geschehen, sondern durch ihre Psychologie zu erklären versucht, gelingt es ihm nicht und er demonstriert letztlich seine prinzipielle Unfähigkeit zur Erklärung. Nastroenie peremenilosæ u nego kak-to vdrug. On smotrel na matæ i ne ponimal, otkuda u nee qto pohtitelænoe, robkoe vyraøenie lica i golosa, zahem ono i ne uznaval ee. Stalo grustno, dosadno. A tut ewe golova bolela tak øe, kak vhera, silæno lomilo nogi, i ryba kazalasæ presnoj, nevkusnoj, vse vremä xotelosæ pitæ [...] (192).

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Oder: Veherom monaxi peli strojno, vdoxnovenno, sluøil molodoj ieromonax s hernoj borodoj; i preosväwennyj, sluπaä pro øenixa, gräduwego v polunowi, i pro hertog ukraπennyj, huvstvoval ne raskaänie v grexax, ne skorbæ, a duπevnyj pokoj, tiπinu i unosilsä myslämi v dalekoe proπloe, v detstvo i ünostæ, kogda takøe peli pro øenixa i pro hertog, i teperæ qto proπloe predstavlälosæ øivym, prekrasnym, radostnym, kakim, veroätno nikogda i ne bylo. I bytæ moøet na tom svete, v toj øizni my budem vspominatæ o dalekom proπlom, o naπej zdeπnej øizni s takim øe huvstvom. Kto znaet! (195)

Obwohl die Figurenperspektive äußerlich der auktorialen Perspektive auf der räumlichen, zeitlichen und sogar perzeptiven Ebene untergeordnet wird, kann Cµechovs auktorialer Erzähler nicht als allwissende Instanz gelten. Er weiß nicht mehr als die Figur. Die Fiktivität seiner erklärenden Funktion wird bereits zu Beginn der Erzählung offenbar. I pohemu-to slezy potekli u nego po licu. (186)

Der Ausdruck pocˇemu-to lässt sich als Schlüsselwort für das System der Motivierungen in Cµechovs Prosa auffassen. Es bezeichnet eine suggestive Schicht im Erzählgefüge, die nicht mit Worten zum Ausdruck gebracht wird, sondern lediglich im Subtext auszumachen ist. Diese Suggestivität wird durch Nicht-Übereinstimmungen im System der Motivierungen6 geschaffen. Neben derjenigen Ursache, die aus der auktorialen Perspektive aufgezeigt wird, gibt es noch weitere wichtige Ursachen, die lediglich dem Subtext zu entnehmen sind. Um den Unterschied zwischen einem typisch realistischen Verfahren und demjenigen Cµechovs zu veranschaulichen, sollen zwei Abschnitte aus „Anna Karenina“ und „Der Bischof“ verglichen werden. L. N. Tolstoj. £Anna Karenina“ (h.1, gl.XXVIII) Lübovæ k øenwine on ne tolæko ne mog sebe predstavitæ bez braka, no on preøde predstavläl sebe semæü, a potom uøe tu øenwinu, kotoraä dast emu semæü. Ego ponätiä o øenitæbe poqtomu ne byli poxoøi na ponätiä bolæπinstva ego znakomyx, dlä kotoryx øenitæba byla odnim iz mnogix obweøitejskix del; dlä Levina qto bylo glavnym delom øizni, ot kotorogo zaviselo vse ee shastæe. I teperæ ot qtogo nuøno bylo otkazatæsä! Kogda on voπel v malenækuü gostinuü, gde vsegda pil haj, i uselsä v svoem kresle s knigoü, a Agafæä Mixajlovna prinesla emu haü i so svoim obyhnym: £A ä sädu, batüπka“ – sela na stul u okna, on pohuvstvoval, hto, kak ni stranno qto bylo, on ne rasstalsä so svoimi mehtami i hto bez nix øitæ ne moøet. S

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Zu dem Begriff „Motivierung“ (motivirovka): Tomasˇevskij 1927.

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nej li, s drugoü li, no qto budet. On hital knigu, dumal o tom, hto hital, ostanavlivaäsæ, htoby sluπatæ Agafæü Mixajlovnu, kotoraä bez ustali boltala; i vmeste s tem raznye kartiny xozäjstva i buduwej semejnoj øizni bez sväzi predstavlälisæ ego voobraøeniü. On huvstvoval, hto v glubine ego duπi htoto ustanavlivalosæ, umerälosæ i ukladyvalosæ. (98) A. P.Hexov £Arxierej“ V hetverg sluøil on obednü v sobore, bylo omovenie nog. Kogda v cerkvi konhilasæ sluøba i narod rasxodilsä po domam, to bylo solnehno, teplo, veselo, πumela v kanavax voda, a za gorodom donosilosæ s polej nepreryvnoe penie øavoronkov, neønoe, prizyvaüwee k pokoü. Derevæä uøe prosnulisæ i ulybalisæ, privetlivo, i nad nimi, bog znaet kuda, uxodilo bezdonnoe, neobßätnoe goluboe nebo. Priexav domoj, preosväwennyj Petr napilsä haü, potom pereodelsä, leg v postelæ i prikazal kelejniku zakrytæ stavni na oknax. V spalæne stalo sumrahno. Odnako kakaä ustalostæ, kakaä bolæ v nogax i spine, täøelaä, xolodnaä bolæ, kakoj πum v uπax! On davno ne spal, kak kazalosæ teperæ, ohenæ davno, i meπal emu usnutæ kakoj-to pustäk, kotoryj brezøil v mozgu, kak tolæko zakryvalisæ glaza. Kak i vhera, iz sosednix komnat skvozæ stenu donosilisæ golosa, zvuk stakanov, hajnyx loøek [...] Mariä Timofeevna veselo, s pribautkami rasskazyvala o hem-to otcu Sisoü, a qtot ugrümo, nedovolænym golosom otvehal: £Nu ix! Gde uø! Kuda tam!“ I preosväwennomu opätæ stalo dosadno i potom obidno, hto s huøimi staruxa derøala sebä obyknovenno i prosto, s nim øe, s synom, robela, govorila redko i ne to, hto xotela, i daøe, kak kazalosæ emu, vse qti dni v ego prisutstvii vse iskala predloga, htoby vstatæ, tak kak stesnälasæ sidetæ. (196)

In beiden Abschnitten wird der psychologische Zustand von Figuren abgebildet, der mit ihren Handlungen in Zusammenhang steht. Die Handlungen sind lediglich insofern interessant, als sie mit dem psychologischen Zustand verknüpft werden. Bei Tolstoj figuriert als eine solche Handlung Levins Lektüre eines Buchs, während der er von der Ehe träumt, obgleich seine Hoffnung auf die Ehe mit Kiti gescheitert ist. Auch in dieser Szene wird mit Suggestivität gearbeitet. Der innere Zustand der Figur sowie ihr Zusammenhang mit der Handlung wird jedoch aus der auktorialen Perspektive motiviert, und die Suggestivität entsteht aus einer aus der auktorialen Perspektive geschilderten Situation. Die auktoriale Perspektive und die Figurenperspektive werden deutlich voneinander abgegrenzt. Thema und Rhema können klar bestimmt werden. Die Syntax entspricht einer Unterordnung der Figurenperspektive unter die auktoriale Perspektive: Der aus der auktorialen Perspektive geschriebene Teil enthält mehrere hypotaktische Konstruktionen, die kausale Verbindungen wiedergeben.

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Der zentrale Gegenstand des angeführten Abschnitts aus Cµechovs „Bischof“ ist die schwermütige Stimmung der Hauptfigur, deren Ursache unklar bleibt. Diese Unklarheit wird von der Gleichberechtigung der Geschehensmomente bestimmt. Jedes Geschehensmoment kann zu „irgendeiner Winzigkeit“ werden, „die in seinem Gehirn aufglimmt“ und ihn „am Einschlafen hindert“. Das Verhalten der Mutter Petrs, die „sich Fremden gegenüber natürlich und einfach benimmt, vor ihm, ihrem Sohn, aber schüchtern“, oder „der Klang von Gläsern und Teelöffeln“ oder sogar „der endlose, unermessliche blaue Himmel“ könnten in gleichen Teilen zu Petrs Verstimmung beitragen. In der Makrostruktur eines auf eine solche Weise geschriebenen Textes kann jedes Geschehensmoment zum Ereignis werden. Die Gleichberechtigung der Geschehensmomente findet bei Cµechov ihre Begründung in einer Abschwächung der auktorialen Perspektive, die ihre erklärende Funktion verliert. Der Wechsel der Stimmungen an der Grenze von Freude und Schwermut, den der Held erlebt und welcher der Fabel der Erzählung zugrunde liegt, wird von einem Widerspruch zwischen der Persönlichkeit des Helden und seinem Status als hochgestellte Person in der kirchlichen Hierarchie bedingt. Dennoch wird diese eigentliche Ursache seiner Gefühle im Text nicht ausgesprochen. Der auktoriale Erzähler schlägt aus seiner Perspektive eine andere Ursache vor, die Krankheit des Helden. Das Hauptereignis einer auf solche Weise geschriebenen Erzählung kann nicht faktuell, sondern mental sein und soll nicht von einer auktorialen Perspektive, sondern von einer Perspektive der Figur präsentiert werden. Als das Hauptereignis in der Erzählung „Der Bischof“ kann die Einsicht (prozrenie) des Helden in den Sinn oder eher in die Sinnlosigkeit seines Leben aufgefasst werden, die er gerade vor seinem Tod erlebt. Schmid hebt hervor, dass „einige späte Erzählungen [von Cµµechov], die ein echtes prozrenie gestalten, seine Ereignishaftigkeit relativieren, indem sie die Konsekutivität der neugewonnenen Einsicht streichen“ (Schmid 1992, 112). Hier soll hinzufügt werden, dass die Problematisierung des Ereignisses, die Schmid in der Erzählung „Der Bischof“ als Destruktion der „Konsekutivität der Einsicht“ betrachtet (Schmid 1992, 109, 112–113), nur unter der Bedingung statthaben kann, dass dieses Ereignis aus einer auktorialen Perspektive dargestellt wird. Die auktoriale Perspektive aber ist nicht mehr die allwissende Perspektive im Text.

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Wenn Petrs Einsicht als ein aus einer auktorialen Perspektive präsentiertes Ereignis betrachtet wird, zieht sie keine Konsequenzen für die aus dieser Perspektive dargestellte Welt nach sich: Herez mesäc byl naznahen novyj vikarnyj arxierej, a o preosvewennom Petre uøe nikto ne vspominal.“ (203)

Wenn aber die Einsicht Petrs als ein aus seiner eigenen Perspektive vermitteltes Ereignis aufgefasst wird, stellt sie das Hauptereignis seines Lebens dar. Dies unterscheidet Petrs Einsicht nicht nur von der Einsicht Raskolnikovs oder der Einsicht Bezuchovs, die Schmid erwähnt, sondern auch von der Einsicht des Helden in Tolstojs Erzählung „Smert’ Ivana Il’icˇa“, in der der Held vor seinem Tod Einsicht in den Sinn des Lebens erlangt. Bei Tolstoj wird die Einsicht der Helden aus der auktorialen Perspektive dadurch motiviert, dass sie eine belehrende Bedeutung enthält. Deshalb bestehen keine Zweifel hinsichtlich ihrer Konsekutivität. Der allwissende auktoriale Erzähler Tolstojs besitzt eine ausreichende Autorität, um etwa anhand seines Helden der Menschheit die Möglichkeit der ethischen Besserung aufzuzeigen. In Cµechovs Text gibt es einen solchen Erzähler nicht mehr. Ein Ereignis bei Cµechov ist deshalb nicht mehr ein auktorial, sondern ein aus der Perspektive einer beliebigen vom auktorialen Erzähler unabhängigen Instanz motiviertes Ereignis7. Dennoch spielt der auktoriale Erzähler in Cµechovs Text noch eine wichtige Rolle. Auf der räumlichen und zeitlichen Ebene organisiert er das Geschehen in einer Folge, die nicht als eine kausal motivierte Fabel, sondern als künstlerisches Sujet aufzufassen ist. Er verliert seine erklärende, bewahrt aber eine organisierende Funktion. Und weil er nicht erklärt, sondern die prinzipielle Unfähigkeit zur Erklärung demonstriert, bleibt das Problem der Erklärung in Cµechovs Text aktuell. Der wichtigste Unterschied zwischen dem Diskurs Cµechovs und dem realistischen Diskurs besteht darin, dass die Opposition der semantischen Räume nicht durch eine auktoriale Perspektive und sogar nicht einmal von dem Zusammenstoßen zweier Perspektiven bestimmt wird, sondern von ihrem Dialog, in dem alle Seiten gleichberechtigt sind und keine ein absolutes Wissen besitzt. 7

Vgl. R. Hodel: „Indem sowohl den traditionell auktorialen als auch den personalen Aussagen die Überzeugungskraft der Unmittelbarkeit genommen ist, verlagert sich der Fokus von der expliziten Aussage vollends in den Bereich ihres Zusammenwirkens (implizite Auktoralität).“ (Hodel 2001, 180)

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Fazit







Das Problem der Perspektive ist in Cµechovs Diskurs mit Veränderungen in der Natur des semantischen Raums verbunden. Insofern als der semantische Raum nicht mehr sozial, sondern psychologisch motiviert ist, erweist sich die äußere auktoriale Perspektive für seine Konstitution als problematisch. In der Mikrostruktur des Textes verliert die auktoriale Perspektive ihre erklärende Funktion. Das Wissen einer Figur kommt an das Wissen des auktorialen Erzählers heran, obwohl die auktoriale Perspektive auf der räumlichen und zeitlichen Ebene noch eine organisierende Funktion behält. Die Abschwächung der auktorialen Perspektive in der Mikrostruktur des Textes führt zu ihrer Abschwächung in der Makrostruktur. Die Opposition der semantischen Räume und somit das Ereignis werden nicht mehr von einer auktorialen Perspektive bestimmt. 5. Modernismus

Im Rahmen dieser Arbeit eine Definition der Avantgarde bzw. des Modernismus vorzustellen, die auf ein erschöpfendes Verständnis dieser Kunstrichtung Anspruch hätte, wäre zum Scheitern verurteilt. Allein in der russischen Kultur werden der Moderne solch unterschiedliche Richtungen der Kunst und Literatur zugerechnet wie Symbolismus, Akmeismus, Futurismus, Imaginismus sowie eigenständige Poetiken verschiedener Autoren und Gruppierungen der 1920er Jahre. Wenn der klassische Realismus sich dabei mit der Philosophie des Positivismus verbinden lässt, so stützt sich die Avantgarde auf solch unterschiedliche und gelegentlich kontroverse philosophische Systeme wie die Lehre Vladimir Solov’jevs, die Anthroposophie, den Personalismus, den Intuitivismus, die klassische Psychoanalyse und Varianten des NeoFreudismus oder des Existentialismus. Dennoch zeichnen sich alle diese philosophischen Systeme durch den ihnen gemeinsamen Zweifel an der rationalen Erkenntnis und die Vorstellung von einer „anderen“ irrationalen und nur subjektiv erkennbaren Realität aus. Das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt unterliegt daher in der Kunst der Avantgarde einer Veränderung. Robert Hodel schreibt:

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Dieses ausgewogene Verhältnis zwischen Subjekt- und Objektbereich wird in der Moderne durch die Fokussierung des Subjekts aufgehoben, indem die Grenzen der beiden Bereiche durch das Interesse am Transzendenten und Vor- und Unterbewussten verwischt werden (Hodel 2003, 14).

Das neue Verhältnis von Objekt und Subjekt hat notwendigerweise eine Veränderung in Bereich der Perspektivik des literarischen Textes zur Folge. Insofern als die Avantgarde8 die Vorstellung von einer einheitlichen und objektiv existierenden Realität ablehnt, gehört die Schaffung eines auf kausale Verbindungen gegründeten Modells der Realität nicht mehr zur Aufgabe der modernen Kunst. Die moderne Kunst bedarf deshalb keiner narrativen Instanz, die ein solches Modell umfassen und erläutern könnte. Außerdem erweist sich eine solche Instanz in der modernen Kunst als problematisch, weil sie die Existenz jener höchsten und außer Zweifel stehenden Wahrheit voraussetzte, die die Avantgarde negiert. Insofern als eine umfassende narrative Instanz nicht mehr nötig oder möglich ist, sind eine übergeordnete Perspektive sowie eine Hierarchie der Perspektiven gleichfalls unmöglich. Die auktoriale Perspektive bleibt in der Narration der Moderne bestehen, sie kann aber nicht mehr als allwissend und omnipräsent bezeichnet werden. Im Folgenden soll das neue System der Perspektivierung im Diskurs der Avantgarde und seine Entwicklung anhand von Beispielen aus der russischen Prosa der Moderne unter dem Aspekt der Rolle der Begriffe „Figur“ und „semantischer Raum“ betrachtet werden. 5.1 B. A. Pil'njak „Golyj god“ Im ersten Teil von Pil’njaks Roman entwickelt sich eine Erzählhaltung, die als eine Zerstörung der auktorialen Perspektive bezeichnet werden kann. Diese wird auf unterschiedliche Weise verwirklicht. Die Stadt Ordynin (der Handlungsort des Romans) wird äußerlich realistisch beschrieben. In Wirklichkeit jedoch ist diese Beschreibung nicht ein realistischer, sondern ein pseudorealistischer Text. Durch verschiedene Verfahren zerstört Pil’njak den realistischen Diskurs und schafft einen eigenen Diskurs, in dem der Realismus nicht das Verfahren, sondern das Objekt der Darstellung ist. Die Zerstörung des realistischen Diskurses lässt sich z. B. an der Einführung neuer Figuren nachvollziehen. Die erste im Roman auftretende Figur ist Donat Ratcˇin: 8

Die Begriffe „Modernismus“, „Moderne“ und „Avantgarde“ werden im Rahmen dieser narratologischen Untersuchung als Synonyme benutzt.

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Postanovlenie qto bylo napisano rovno za sto let do roødeniä Donata. Donat øe i naπel ego, kogda gromil Ordyninskij arxiv. Bylo qto postanovlenie na9 pisano na sinej bumage, gusinym perom, s zatejlivymi zavituπkami.

Im zitierten Abschnitt wird der Held aus einer auktorialen Perspektive eingeführt. Dennoch enthält die Einführung keine Erklärung, aus der der implizite Leser entnehmen könnte, wer Donat Ratcˇin eigentlich ist. Wird der Abschnitt als eine Gegenüberstellung zwischen Thema und Rhema betrachtet, so entsteht der Eindruck, Donat sei das Thema und der Beschluss (postanovlenie), der in mehreren Einzelheiten beschrieben wird, das Rhema des Satzes. Die aus einer auktorialen Perspektive gegebene Einführung bedarf also einer zusätzlichen Erklärung, die im Text fehlt, so dass sich die Perspektive nicht als allwissend, sondern als eine von mehreren möglichen Perspektiven erweist. Als zweite Figur wird Ivan Emeljanovicˇ Ratcˇin eingeführt, dessen Auftreten dadurch motiviert wird, dass er Donats Vater ist. Ivan Emelæänovih Rathin, pravnuk Dementiä, otec Donata, sorok let tomu nazad, kudrävym ünoπej stal za prilavok, – s tex por mnogo uπlo: issox, polysel, nadel ohki, stal xoditæ s trostæü, vsegda v vatnnom sürtuke i v vatnoj furaøke. Rodilsä zdesæ øe, v Zarädæi, v svoem dvuxqtaønom dome za vorotami s volkodavami, süda vvel øenu, otsüda vynes grob otca, zdesæ pravil. (7)

Diese Charakterisierung ist insofern nach einem realistischen Schema aufgebaut, als der Abschnitt Informationen über die Herkunft der Figur sowie über ihr Äußeres, ihre Vorgeschichte und ihre soziale Stellung enthält. Im Weiteren kehrt die Erzählung mehrmals zu Ivan Ratcˇin zurück, um zusätzliche Eigenschaften sowie Merkmale seiner Umgebung einzuführen. Ivan Emelæänovih Rathin, vysokij, xudoj, v vatnom kartuze, prixodil v svoü lavku bez päti minut semæ, gremel zamkami i pouhal malæhikov i prikazhikov svoemu remeslu: [...] (11)

oder V dome (za volkodavami u kamennyx gluxix vorot) Ivana Emelæänoviha Rathina bylo bezmolvno, liπæ veherom iz podvala, gde øili prikazhiki s malæhikami, neslosæ pridavlennoe penie psalmov i akafistov. (11)

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Pil’njak, 1994, 7. Im Folgenden beziehen sich alle Angaben der Seitenzahl auf diese Ausgabe.

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Auf den ersten Blick entspricht eine solche Form der Einführung den realistischen Prinzipien der Charakterisierung einer Figur. Im Unterschied zur realistischen Charakterisierung gibt es jedoch keine aus einer auktorialen Perspektive gegebene Erklärung, die auf der räumlichen und zeitlichen Ebene eine Verbindung zwischen den einzelnen Teilen der Beschreibung motivieren könnte. Die Charakterisierung der Figur besteht aus einzelnen Kompositionselementen, die auch aus der auktorialen Perspektive keine Kohärenz erhalten. Die Einführung Ivan Ratcˇins wird außerdem mehrfach von der Schilderung noch unbekannter Figuren unterbrochen, so dass das Erzählen nicht als folgerichtig und einheitlich wahrgenommen werden kann. Probegal s reki s udohkami strastnyj rybolov otec blagohinnyj Levkoev, speπil s klühami v rädy, otkryvatæ eparxialænuü torgovlü: blagohinnyj Levkoev helovekom byl uvaøaemym, i edinstvennym porokom ego bylo to, hto po letam iz karmanov ego polzli hervi, rezulætat rybolovnoj ego strasti (ob qtom daøe donosil episkopu poqt donoshik Varygin). (8)

Der Anklang an eine literarische Tradition, in der die russischen Provinz grotesk und satirisch geschildert wird (Gogol, Saltykov-Sµcˇedrin), ist nicht zu übersehen. Ein Unterschied ist jedoch markant: Der Ausdruck poe˙tdonosˇcˇik (Dichter-Denunziant) bedürfte als Oxymoron einer Erläuterung, die aber nicht gegeben wird. Die Einführung des Lehrers Blanmanzˇov wird von Erläuterungen begleitet. Diese Erläuterungen ergeben zusammen eine Charakterisierung, die auf den ersten Blick realistisch erscheint. Dennoch werden in dieser Charakterisierung solch unterschiedliche und widersprüchliche Details miteinander verbunden, dass ihre Verknüpfung weiterer Erklärungen bedürfte, die wiederum fehlen. A sejhas øe za batüπkoj vyxodil iz svoej kalitki, v kitele, s zontom i v galoπax, uhitelæ Blanmanøov, sledoval za batüπkoj v eparxialænuü torgovlü popitæ hajku i zanätæsä höskoj. ... Blanmanøov byl znamenit geografiej i øenoj, kotoraä v cerkovæ xodila v kokoπnike, doma – golaä, a letom i osenæü frukty iz sada svoego prodavala v okoπko, v odnoj rubaπke. (8)

Da der auktoriale Erzähler auf Erläuterungen verzichtet, verliert die auktoriale Perspektive ihre erklärende Funktion. Indem der Erzähler aus seiner Perspektive zahlreiche anscheinend unzusammenhängende Themen miteinander verbindet, verliert die auktorialen Perspektive auch ihre organisierende Funktion. Der Erzähler ist nicht mehr allwissend und nicht mehr omnipräsent. Seine Anwesenheit kann deshalb die Textkohärenz nicht garantieren.

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Die Narration bedarf also einer anderen Grundlage, die die Abschwächung der auktorialen Perspektive kompensieren und eine erklärende sowie eine organisierende Funktion übernehmen kann. Diese Grundlage besteht in der Entfaltung einer paradigmatischen Achse der Bedeutungen (Lotman 1970, 104–111), die für das so genannte „ornamentale Erzählen“ überhaupt kennzeichnend ist. Dass Pil’njaks Werk ein Beispiel für den Ornamentalismus darstellt, ist in der Literaturwissenschaft bereits erörtert (Jensen 1984). In seiner Arbeit „Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne“ definiert Wolf Schmid die ornamentale Prosa als „das weder gattungstypologisch noch historisch fixierbare Ergebnis der Überdeterminierung narrativer Prosa durch Konstruktionsformen und das ‚Sprachdenken‘ der Poesie“ (Schmid 1992, 17). Dieses Programm hat zur Folge, dass der implizite Leser gar nicht dazu angehalten ist, das Geschehen in seiner kausalen und syntagmatischen Folge nachzuvollziehen, um die Textkohärenz im ersten Kapitel des Romans „Das nackte Jahr“ herzustellen. Vielmehr sollte er die Kompositionselemente unabhängig von dieser Folge einander gegenüberstellen, daraus eigene Schlussfolgerungen ziehen und seine eigenen Motivierungen bilden. Zu dem Kompositionszentrum des ersten Teils des Romans wird die tragische Liebesgeschichte von Donat und Nastja. I v qti øe dni rascvela pervaä lübovæ Donata, prekrasnaä i neobyknovennaä kak vsäkaä pervaä lübovæ. Donat polübil komnatnuü devuπku Nastü, hernookuü i tixuü. Donat prixodil veherami na kuxnü i hital vslux Øitiä sv. otcov. Nastä sadilasæ protiv, opirala ladonämi golovu v hernom platohke, i – pustæ nikto krome nee ne sluπal! – Donat hital sväto, i duπa ego likovala. Iz doma uxoditæ bylo nelæzä, – velikim postom oni goveli i s tex por xodili v cerkovæ kaøduü vehernü. Byl prozrahnyj aprelæ, tekli ruhæi, ustraivalisæ øitæ pticy, sumerki mutneli medlenno, perezvanivali velikopostnye kolokola, i oni v sumerkax, derøasæ za ruki, v vesennem polusne, brodili iz cerkvi v cerkovæ (bylo v Ordynine dvadcatæ semæ cerkvej), ne razgovarivali, huvstvovali, huvstvovali odnu ogromnuü svoü radostæ. No uhitelæ Blanmanøov toøe xodil k kaødoj veherne, primetil Donata s Nastej, soobwil o. Levkoevu, a tot Ivanu Emelæänovihu. Ivan Emelæänovih, prizvav Donata i Nastü i zadrav Nastiny übki, prikazal starπemu prikazhiku (pri Donate) bitæ goloe Nastino telo vologami, zatem (pri Naste), spustiv Donatu πtany, porol ego sobstvennoruhno, Nastü prognal v tot øe veher, otoslal v derevnü, a k Donatu na nohæ prislal Maπuxu. Uhitelæ Blanmanøov zastavil Donata na drugoj denæ puteπestvovatæ herez Tibet k Dalaj-Lame i postavil edinicu, potomu hto k Dalaj-Lame evropejcev ne puskaüt. Tot velikij post, s ego sumerkami, s ego kolokolænym zvonom, tixie Nastiny glaza – navsegda ostalisæ prekrasnejπimi v øizni Donata. (13)

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Obwohl die Geschichte nicht aus einer auktorialen Perspektive vermittelt wird, kommen die Charakterisierungen solcher Figuren wie Ivan Ratcˇin, Blanmanzˇov und Levkoev sowie die Beschreibung der Stadt Ordynin zu ihrem vollendeten Ausdruck. Um dies zu begreifen, muss der implizite Leser jedoch nicht nur die Geschehensmomente, sondern auch ihre im Subtext enthaltenen Deutungen vergleichen. Der oben angeführte Abschnitt über den Lehrer Blanmanzˇov enthält z. B. eine Anspielung auf Cµechovs Erzählung „Cµelovek v futljare“, deren Held jedoch, im Gegensatz zu Blanmanzˇov, nicht verheiratet ist, und deren Fabel auf dem erfolglosen Versuch einer Ehestiftung aufgebaut ist. Durch diese Anspielung und ihre Verbindung mit der Geschichte von Donat und Nastja gewinnt Blanmanzˇov eine besondere Bedeutung, durch welche Pil'njak seine Bewertung des für die’russische Kultur wichtigen Begriffs der „Intelligencija“ zum Ausdruck bringt. Die Art und Weise, in der diese Geschichte erzählt wird, lässt sich Hodels Definition zufolge als objektiv bezeichnen (Hodel 2001, 3–6). Pil’njaks Erzählform stellt in dieser Geschichte gleichzeitig eine Weiterentwicklung und eine Parodie der für Cµechov typischen Erzählform dar. In der für Cµechov typischen Manier schildert Pil’njak ein Ereignis, das Cµechov nicht schildern würde, und zeigt dadurch die Relativität von Cµechovs Kunstwelt. Die Intertextualität kompensiert also die Abschwächung der auktorialen Perspektive und schafft eine paradigmatische Achse der Bedeutungen. Das Wichtigste an der Geschichte von Donat und Nastja jedoch ist, dass Donat ihretwegen zum Revolutionär wird. Wenn das erste Kapitel des Romans „Das nackte Jahr“ als selbstständiger Text aufgefasst wird, stellt dies das Hauptereignis des Textes dar. Der Wechsel der Erzählweise, der in der Mitte des Kapitels geschieht, wird von diesem Hauptereignis bestimmt: Eine pseudorealistische Erzählform, die der alten russischen Lebensweise entspricht, wird durch ein ornamentalistisches Erzählen abgelöst, das seinem Gegenstand, der Verwandlung durch die Revolution, angemessen ist. I pervyj poezd, kotoryj ostanovilsä okolo samogo Ordynina, – qto byl revolücionnyj poezd. S nim vernulsä v Ordynin Donat, polnyj (nedobroj pamäti!) vospominanij ünoπestva, polnyj nenavisti i voli. Novogo Donat ne znal, Donat znal staroe, i staroe on xotel unihtoøitæ. Donat priexal tvoritæ – staroe on nenavidel. V dom k otcu Donat ne poπel. (15)

Betrachtet man den angeführten Abschnitt und die Liebesgeschichte zwischen Donat und Nastja jedoch aus der auktorialen Perspektive, so scheint zwischen beiden keine Verbindung zu bestehen. Der semantische Raum

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wird nicht von einer Reihe einander kausal bedingender und miteinander verbundener Geschehensmomente, sondern von einer ikonischen Gegenüberstellung der paradigmatisch dargestellten Kompositionselemente bestimmt. Der Hauptunterschied zwischen Cµechovs und Pil’njaks Erzählen ist dabei darin zu sehen, dass diese Gegenüberstellung bei Cµechov auf der Ebene der Makrostruktur des Textes stattfindet und aus Elementen besteht, die in der Mikrostruktur des Textes aus einer auktorialen Perspektive geschildert werden. Bei Pil’njak wird hingegen die auktoriale Perspektive auf allen Ebenen in der Makrostruktur wie der Mikrostruktur des Textes abgeschwächt. Das Prinzip der paradigmatischen Textkohärenz wird in Pil’njaks Roman umso markanter, je weiter das Thema der Revolution in der Erzählung entfaltet wird. Dom kupca Rathina byl vzät dlä Krasnoj gvardii. V dome Blanmanøova poselilsä Donat. Donat xodil vsüdu s vintovkoj, kudri Donata vilisæ popreønemu, no v glazax vspyxnul suxoj ogonæ – strasti i nenavisti. (16) Solänye rädy ruπilisæ po prikazu Donata, na ix meste stroilsä Narodnyj Dom. Vot i vse. (16)

Schmid schreibt: Die Poetisierung, Ornamentalisierung der Prosa führt unausweichlich zu einer Schwächung ihrer Narrativität, ihrer Sujetbildung. Diese Schwächung kann so weit gehen, dass sich – wie etwa in Belyjs Symphonien – eine ereignishafte Geschichte gar nicht mehr bildet und der Text lediglich Fragmente einer Fabel denotiert, deren Zusammenhang nicht mehr narrativ-syntagmatisch, sondern nur noch poetisch-paradigmatisch, nach den Prinzipien von Ähnlichkeit und Kontrast hergestellt wird (Schmid 1992, 22).

Mit ebendiesen Mitteln wird im ersten Kapitel von Pil’njaks Roman Donats Vater eingeführt. Dabei wird das letzte dieser Figur gewidmete Element der Komposition auf eine Rekurrenz aufgebaut. Einige Details verlassen entschiedenermaßen die Ebene der realistischen Darstellung und dienen ebenfalls der Schaffung eines poetischen paradigmatischen Sinngefüges: Vot ewe hto (komu ni lenæ, idi, posmotri!): kaødyj denæ v bez päti semæ utra k novoj strojke Narodnogo Doma, kak raz k tomu mestu, gde byla torgovlä £Rathin i Syn“, prixodit kaødyj denæ drevnij starik, v kruglyx ohkax, v vatnom kartuze, s issoxπej spinoj, s trostæü, – kaødyj denæ saditsä okolo na tumbu i sidit zdesæ vesæ denæ, do vehera, do poloviny vosæmogo. Qto – Ivan Emelæänovih Rathin, pravnuk Dementiä. (16)

Die zerrissene Entwicklungslinie der Figur sowie der Wechsel der Erzählform werden zu Ausdrucksmitteln, durch welche die auktoriale Perspekti-

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ve zerstört wird. Der auktoriale Erzähler besitzt nicht mehr die Fähigkeit, in ein fremdes Bewusstsein einzudringen; die Charakterisierung Ivan Ratcˇins wird deshalb nicht mit einer logischen, auf der Untersuchung seines Bewusstseins gegründeten Folgerung abgeschlossen, sondern mit einem Bild, das beim impliziten Leser eine emotionale Anteilnahme evozieren soll. Der letzte Absatz des Kapitels wird von einer optischen und rhythmischen Semantik geprägt, wobei die Syntax und die Wortverbindungen augenscheinlich dem normativen Sprachgebrauch nicht entsprechen. Belye uπli v marte – i zavodu mart. Gorodu øe (gorodu Ordyninu) – iülæ, i selam; i vesäm – vesæ god. Vprohem, – kaødomu – ego glazami, ego instrumentovka i ego mesäc. Gorod Ordynin i Taeøevskie zavody – rädom i za tysähu verst otovsüdu. – Donat Rathin – ubit belymi: o nem vse. (19)

Das erste Kapitel des Romans „Das nackte Jahr“ kann mit einem Satz verglichen werden, in dem der erste pseudorealistische Teil das Thema und der zweite ornamentalistische Teil das Rhema darstellt. Die pseudorealistische Beschreibung der Stadt Ordynin wird also in eine Narration eingebettet, die nicht auf einem syntagmatischen, sondern auf einem paradigmatischen bzw. nicht realistischen Prinzip beruht. Die auktoriale Perspektive spielt dabei die ihr zugedachte Rolle und stellt die auf der syntagmatischen Achse der Bedeutungen situierten Kompositionselemente dar. Sie tritt aber nach Genettes Definition nicht als interne, sondern als externe Fokalisierung auf (Genette 1994, 134– 135) und ist gleichberechtigt mit anderen Perspektiven. Es geht mir dabei nicht um die Frage, was eigentlich als primäre Ursache des neuen Erzähltypus aufzufassen ist – die Abschwächung der auktorialen Perspektive oder die Häufung der paradigmatischen Bedeutungen. Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, dass beide Erscheinungen in einem engen Zusammenhang stehen. Anhand von Pil’njaks Roman konnte die Abschwächung der auktorialen Perspektive in einem modernen Text beobachtet werden, der mit dem Verfahren des objektiven Erzählens operiert. Auf welche Weise sich im Diskurs der Moderne das Verhältnis zwischen auktorialer und Figurenperspektive ändert und in welchem Maße dieses Verhältnis für das subjektive Erzählen der Moderne spezifisch ist, wird im Weiteren anhand von Zamjatins Erzählung „Afrika“ untersucht.

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5.2 E. Zamjatin „Afrika“ Um festzustellen, dass Zamjatins Erzählung „Afrika“ einer bestimmten Art des subjektiven Erzählens (Hodel 2001, 4–6) (skaz) zuzuordnen ist, reicht es, ihre ersten Sätze zu lesen. Kak vsegda, na vzmoræe – k paroxodu – s berega pobeøali karbasa. Hego-nibudä da privez paroxod: muhicy, solæcy, saxarku. Na more begali beläki, korbasa xodili vverx-vniz. Taraxtela lebedka, travila 10 äwiki vniz, na karbasa.

Die folgenden Merkmale, die sich über die ganze Erzählung erstrecken, sind eindeutig für das subjektive Erzählen charakteristisch: a) Verwendung dialektaler Lexik (karbasa, beljaki, travit’). b) Verwendung von Verkleinerungsformen (mucˇicy, sol’cy, sacharku). c) Umgangsintonation, die durch eine Veränderung der Wortstellung geschaffen wird (Cµego-nibud’ da privez parochod: mucˇi cy, sol’cy, sacharku). In den ersten Sätzen können jedoch einige Merkmale ausgemacht werden, die nicht nur für den skaz, sondern auch für die Abschwächung der auktorialen Perspektive charakteristisch sind. Der erste Satz beginnt z. B. mit den Worten kak vsegda („wie immer“). Daraus ergibt sich die Frage: Von welchem Standpunkt aus wird diese Regelmäßigkeit konstatiert? Aus welcher Perspektive wirkt das Geschehen konstant? Der Aufbau des Satzes setzt eine Instanz voraus, die Antworten auf diese Fragen besitzt. Der Leser kann sich als eine solche Instanz nicht angesprochen fühlen, und der auktoriale Erzählter spricht ja auch, als spräche er zu jemand anderem. Dies aber bedeutet, dass der auktoriale Erzähler seine erklärende Funktion für den Leser in gewissem Maße bereits verliert und die Position seiner Perspektive zumindest auf der zeitlichen Ebene abgeschwächt ist. Die Fabel der Erzählung kann wie folgt wiedergegeben werden: In einem kleinen Dorf irgendwo in Nordrussland lebt Fedor Volkov, der Sohn eines Walfängers. Er verliebt sich in ein „edles“ und gebildetes Mädchen, das nur für einen Tag mit Begleitern in sein Dorf kommt, um Fische zu fangen. Als Fedor nach ihrer Herkunft fragt, antwortet einer der Begleiter, sie kämen aus Afrika. 10

Zamjatin 1970, 277. Im Folgenden beziehen sich alle Angaben der Seitenzahl auf diese Ausgabe.

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Obwohl Fedor bald nach der Abfahrt des Mädchens heiratet, erkennt er sofort nach der Hochzeit, dass er seine Frau nicht liebt. Von diesem Moment an wünscht er nur zu erfahren, was Afrika eigentlich sei, wo es liege und wie er es erreichen könne. Dies zu erfahren, erweist sich als ein erhebliches Problem, weil es in Fedors Gebiet fast keine gebildeten Menschen gibt. In seinem Dorf kann nur der Priester etwas über Afrika wissen. Der Priester aber ist zu alt und schläft die ganze Zeit. Wenn Fedor sich an ihn wendet, lacht er nur und schläft dann ein. Fedor aber kennt noch einen Menschen, der in der Lage ist, ihm zu helfen: Dies ist der Kapitän des Walfangschiffes, auf dem Fedors Vater gearbeitet hat. Auf Fedors Frage antwortet der Kapitän, der sogar den Indischen Ozean bereist hat, dass er Afrika kenne, dass es sogar möglich sei, dorthin zu gelangen; man bräuchte dafür nur etwas Geld. Um dieses Geld zu verdienen, schlägt der Kapitän Fedor vor, bei ihm als Walfänger anzufangen. Auf dem Meer verunglückt Fedor beim Walfang tödlich. Obwohl die Fabel in der Erzählung folgerichtig aufgebaut wird, muss der Leser sie rekonstruieren, um sie wiederzugeben: Keines ihrer Kompositionselemente ist dem Text direkt und unmittelbar zu entnehmen. Zunächst wird nicht bestimmt, wer Fedor Volkov ist und wo er lebt. Um sich über den Status der Figur und den Ort der Handlung aufzuklären, muss der Leser verschiedene über den Text verstreute Details zusammenführen. Dass Fedor sich in das Mädchen verliebt, wird gleichfalls nur durch die Gegenüberstellung verschiedener Kompositionselemente klar. Der Beginn dieser Liebe wird auf folgende Weise dargestellt: A devuπka ixnää zasmeälasæ. Hemu zasmeälasæ – nevedomo, a tolæko – xoroπo zasmeälasæ i xoroπo na Fedora Volkova poglädela: na plehi ego straπnye; na golovu-kolguπku, po-rebähæi striøennuü, na malenækie glazki nerpähæi. (277)

Der zitierte Abschnitt ist auf den Wechsel und die gegenseitige Durchdringung der Perspektiven aufgebaut. Die auktoriale Perspektive bestimmt die räumliche und die lexikalische Ebene. Auf der lexikalischen Ebene wird die auktoriale Perspektive insofern mit Fedors Perspektive verknüpft, als der Erzähler Wörter und Wendungen benutzt, die für Fedors Sprache charakteristisch sind. Auf der perzeptiven Ebene geht die Erzählung zu Fedors Perspektive über, das Geschehen wird eindeutig aus seiner Perspektive wiedergegeben: Cµemu zasmejalas’ – nevedomo, a tol’ko chorosˇo zasmejalas’ i chorosˇo na Fedora Volkova pogljadela... Innerhalb der Perspektive Fedors tritt die Perspektive des Mädchens auf: na pleci ego strasˇnye, na golovu-kolgus¬ku, po-rebjac’i strizˇennuju, na ma-

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len’kie glazki nerpjacˇ’i. Auf der Ebene der Ideologie herrscht Fedors Perspektive vor: Zumal Fedor seine Gefühle noch nicht versteht, folgt ihm der Erzähler und gibt keine Wertung ab; Zumal Fedor nicht wissen kann, was das Mädchen fühlt, versucht der Erzähler nicht, die Gefühle des Mädchen zu erklären: Er beschreibt lediglich ihre mutmaßliche Perspektive genau so, wie sich Fedor die Perspektive des Mädchens vorstellen könnte. Der Erzähler beschreibt also ein Geschehen, das aus der Figurenperspektive beobachtet wird. Die äußere Fokalisation wird zu der einzig möglichen Art der Perspektivierung für eine solche Beschreibung. Die äußere Fokalisation wird noch markanter in der Szene, in der Fedors Enttäuschung über seine Frau am Tag nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht geschildert wird. U bobylä v izbe – otkuda porädku bytæ? Paxnet psinoj – vhera tolæko pervuü nohæ ne spal s Fedorom v izbe Ätoπka lgavyj; po uglam – pauki; soru – o, Gospodi, skolæko! Äusta vymyla vse, oskoblila pol dobela, øenka xozäjstvennaä vyjdet iz nej – xlopotuπej xodila xodila po izbe. - Zdravstvuj, Äusta, ax, ty, xozäüπka ty moä... – beøal k Äuste Fedor Volkov: obnäl ee poskoree, kakaä ona teperæ – posle nohi? Beøal po izbe – po skoblenomu belomu polu... - Da ty hto, sbesilsä – ne vyterev nogi, preπæ to? – zagolosila Äusta v golos. - Qtak za toboj, bespelüxoj, razve napritiraissi? So vsego bega stal Fedor Volkov, kak homorom pomrahennyj. Opomnilasæ Äusta, podoπla k Fedoru, guby protänula, a na otlete – ruka s vetoπkoj. Molha otstranilsä Fedor – i poπel za porog: sapogi vytiratæ. S togo dnä opätæ Fedor Volkov stal xoditæ molhaliv. (280–281)

In dem angeführten Abschnitt wird das Geschehen lediglich aus einer äußeren Perspektive beschrieben (externe Fokalisation), und zwar so, wie Fedor selbst diese Ereignisse beschreiben würde. Die Entwicklung von Fedors Gefühlen kann nur durch eine Gegenüberstellung zwischen dem angeführten Abschnitt und einem Satz, der zwei Seiten später auftaucht, nachvollzogen werden: Nu, da qto puskaj: tolæko doexatæ do Afriki, tam uø pojdet po-novomu. (283)

Die Art der Darstellung in der Mikrostruktur wie in der Makrostruktur des Textes entspricht also Fedors Wahrnehmung, der jedoch zu einer Reflexion offensichtlich nicht fähig ist. Dies bedeutet aber nicht, dass es keinen auktorialen Erzähler gäbe oder dass die auktoriale Perspektive beständig mit Fedors Perspektive ver-

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knüpft wäre. In den folgenden Beispielen ist es die auktoriale Perspektive, aus der die Umstände der Handlung beschrieben werden: Kak vsegda, na vzmoræe – k paroxodu – s berega pobeøali karbasa. Hto-nibudæ da privez paroxod: muhicy, solæcy, saxarku. (277) U Pimena, plemäπa dvoedanskogo, sobaki ne øili: godok poøivet kakaä – a tam, glädiπæ, i sbeøala, a to i podoxla. I πel sluπok: ottogo u Pimena sobaki ne øili, hto uø bolæno on byl helovek uedlivyj. (279) Pokojnyj Fedora Volkova otec kitoboem plaval i byl zapivoxa prestraπnyj: mesäca pil. V pæänom vide byla u nego povadka takaä: plavatæ. V luøu, v protalinu, v snegi – uxnet, kuda popalo, i nu – rukami, nogami boltatæ, budto plavaet. (282) Otec Seliverst – starenækij, vesæ usox uø, lihiko v kulahok, i vse bolæπe spal. K haü emu podavali bolæπuü haπku: pomakaet on bulku v haj, vypæet – da i oprokinet haπku, htoby vse kroπki sobratæ. Haπkoj-to prikroetsä qtak, dai poxrapyvaet sebe potixonæku. (283)

Dafür, dass das Geschehen in den angeführten Beispielen aus der auktorialen Perspektive betrachtet wird, spricht die Tatsache, dass sie ein Gesamtbild der Dinge wiedergeben, zu der Fedor selbst nicht fähig wäre. Es gibt einen textlinguistischen Parameter, der für die Darstellung aus einem allgemeinen Blickpunkt kennzeichnend ist: Dies ist die Verwendung von nicht-episodischen Prädikaten, durch die unveränderliche Sachverhalte oder sich wiederholende Handlungen wiedergegeben werden. Diese Prädikate finden in fast allen der angeführten Sätze Verwendung (vgl. Christina Janik „Zur Chronologie. Episodizität, Deflexion und Kontinuität“ in diesem Band). Auch die Hauptfigur der Erzählung, Fedor, beschreibt der Erzähler aus einer auktorialen Perspektive. Sel Fedor Volkov na kamuπke u vorot. (278) No byl nynhe Fedor neobyhen: gruzen sidel, i glaza byli krasnye, krovæü nalitye, vinom neslo – i vse uxmylälsä. (282) Poexal Fedor Volkov v monastyræ s Rufinom, dve nedeli potel tam na poønäx, äruπnikom monastyrskim kormilsä. A herez dve nedeli – na Murmanskom beøal uø k Svätomu Nosu. Vse u borta stoäl, svesiv striøenuü kolguπku svoü nad vodoj, i sam sebe ulybalsä. (284)

Zwei Merkmale aber sind für die auktoriale Perspektive in diesem Text charakteristisch. Erstens kommt durch die auktoriale Perspektive nicht nur die Sicht des persönlichen (autorfernen) Erzählers, sondern auch eine gemeinsame Sicht von Autor und Protagonist zum Ausdruck. Zweitens

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erhebt der auktoriale Erzähler keinen Anspruch darauf, den inneren Zustand Fedors erklären zu können. Glänet Fedor Volkov glazami svoimi nerpähæimi, neobidnymi i golovoj kolguπkoj motnet. A k hemu motnet – da li, net li – nevedomo. (281)

Beide Merkmale stehen in Zusammenhang miteinander. Die gemeinsame Sicht von Autor und Protagonist ist als ein allgemeingültiger Blick auf die Welt zu beschreiben, welche jedoch von den Grenzen des Dorfes, in dem Fedor lebt, und dessen Umgebung beschränkt wird. Der Umstand, dass sich die Umgebung auf Tausende von Kilometern erstreckt, spielt keine Rolle. Das Hauptmerkmal dieser Welt besteht in ihrer Einsamkeit und der Isolierung von einer anderen Welt, in der es irgendwo ein „Afrika“ gibt. Wenn Fedors Dorf ein kosmologisches Zentrum dieser realen Welt darstellt, so ist „Afrika“ ein kosmologisches Zentrum „jener“ anderen Welt. Dies bedeutet, dass die Opposition bzw. Grenze zwischen den semantischen Räumen, die in der Opposition zweier Welten besteht, in der Makrostruktur des Textes aus der auktorialen Perspektive nicht vermittelt werden kann. Die Opposition der semantischen Räume existiert lediglich in Fedors Bewusstsein, wodurch seine Perspektive von der auktorialen Perspektive unabhängig wird. Dieses Verfahren wird auf die Mikrostruktur des Textes übertragen, indem Fedors innerer Zustand lediglich aus seiner eigenen Perspektive beschrieben wird. Fedors Perspektive ist als eine diffuse und gleichzeitig als eine kompakte Perspektive zu beschreiben. Beispiele für die diffuse Perspektive sind: V tiπine sumernoj bylo ävstvenno slyπno, kak oni tam v izbe razgovarivali, to po-naπemu, to po-svoemu opätæ. A potom zaigrala devuπka ixnää pesnü. Da takuü kakuü-to, hto u Fedora inda v grudi zatesnilo, vot kakaä grustæ, a ob hem nevedomo. (278) Kogda πli ot venca Fedor Volkov s Äustoj, starπej Pimenovoj, ewe visel poslednij tonenækij mesäc, ewe zvenel hutæ slyπnym serebränym kolokolæcom. (280) Ne bylo ni nohi, ni dnä: stalo solnce. V beloj meøeni – meødu nohæü i dnem, v tixom tumannom moroke beøali vpered, na sever. Hutæ πurπala voda u bortov, hutß kolotilasæ – kak serdce – maπina v samom nutre πkuny. I tolæko dvoe, Fedor Volkov da indrik, znali, hto s kaødoj minutoj bliøe dalekaä Afrika. (285)

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Die auktoriale Perspektive ist in den angeführten Abschnitten auf der lexikalischen und teilweise auf der perzeptiven Ebene ausgeprägt, während Fedors Perspektive auf der räumlichen und der perzeptiven Ebene dominiert. Ein Beispiel für die kompakte Figurenperspektive ist: Idet mimo Ilædinogo kamnä, a na kamne belaä gaga spit – ne πeloxnetsä, spit – a glaza otkryty, i vse, beloe, spit s glazami otkrytymi: ulica izb ävstvennyx glazu do suhka poslednego; voda v lewinkax meø kamnej; na kamne - belaä gaga. I straπno stupitæ pogromhe: snimetsä belaä gaga, sovæetsä – uletit belaä nohæ, umolknet devuπka petæ. (278)

Die verschärfte Wahrnehmung Fedors ist durch seine Liebe bedingt. Dies aber wird nicht unmittelbar ausgedrückt und ist deshalb lediglich aus dem Kontext zu erschließen. Bliøe podoπel: okno otkryto, to samoe, i v okno – slezami oblitaä, gorækaä Äusta, starπaä Pimenova. (279) I osenilo tut Fedora Volkova: Indrik-kapitan, vot kto skaøet pro Afrikuto. Gospodi Boøe moj, kak øe ne skaøet? S Indrikom – ewe otec Fedora Volkova v okean promyπlätæ xaøival. I byvalo priedet k otcu Indrik – rasskazyvatæ kak nahnet pro okean Indejskij: tolæko sluπaj. (283)

Weil die auktoriale Perspektive auf eine äußere Sichtweise beschränkt ist, kann der Erzähler nicht mehr wissen als seine Figur. Daher wird nicht die Figurenperspektive der auktorialen Perspektive untergeordnet, sondern umgekehrt. Das Geschehen und das Ereignis werden also nicht aus der auktorialen, sondern aus der Figurenperspektive motiviert. Aus dieser Motivierung durch die Figurenperspektive folgt, dass in Zamjatins Erzählung im Unterschied zu Cµechovs Erzählungen die Ereignishaftigkeit nicht problematisiert wird: Ein aus der Perspektive des Helden motiviertes Ereignis entwickelt sich als ein tatsächliches Ereignis, obwohl Fedors Handlungen aus der auktorialen Perspektive kaum ein Ereignis darstellen. Würde Fedors Geschichte lediglich aus der auktorialen Perspektive erzählt, mutete sie als die komische Geschichte eines Mannes an, der sich in einer Reihe sinnloser Handlungen verfängt. Dennoch gibt es in Zamjatins Text einige Verfahren, die die Gefühle der Figur organisieren. Ein solches Verfahren ist die Syntax, insbesondere die nicht normative Verwendung des Doppelpunkts, die nicht nur für „Afrika“, sondern auch für andere Werke der russischen Moderne charakteristisch ist (u. a. Andrej Belyjs „Peterburg“, Zamjatins „Uezdnoe“). Mit

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dem Doppelpunkt werden in der Erzählung z. B. die Übergänge zwischen den Perspektiven markiert. Übergang zur Figurenperspektive: Vse pozabyl – a vot odno Fedoru po sü poru zapomnilosæ: beøit, budto, slon – i v trubu trubit serebränuü, a uø hto qto za truba takaä – Bog vestæ. (283–284)

Übergang zur auktorialen Perspektive: Doløno bytæ, nedaleko byla uø devuπka ta: vse Fedoru Volkovu snilasæ. (285)

Übergang zur Figurenperspektive: Da vo sne izvestno, nihego ne vyxodit: tolæko rukami ona obovæet, kak togda, i ne otryvatæsä by potuda, pokuda ne umreπæ – a tut i okaøetsä, hto vovse ne devuπka ta – a ded Demæän. (285)

Die Hypotaxe wird in der Erzählung fast nie verwendet. Wie Robert Hodel schreibt, ist die Hypotaxe eher für einen realistischen als für einen modernen Text charakteristisch (Hodel 2003, 24–27). Was die Perspektive betrifft, so entspricht die Hypotaxe einer Unterordnung der Figurenperspektive unter die auktoriale Perspektive. Die Asyndese, die insbesondere in den oben erwähnten Konstruktionen mit dem Doppelpunkt auftritt, drückt dagegen ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den Perspektiven aus. Sie wird deshalb zu einem bevorzugten Verfahren in der Organisation des Textes und ersetzt im modernen Diskurs die Hierarchie der Perspektiven. Die Erzählung endet mit der Szene von Fedors Untergang, die aus seiner eigenen Perspektive dargestellt wird. Popal. Afrika. Priniknutæ teperæ – i ne otorvatæsä, pokuda... Kit vertanul bystro v bok. Hutæ nasevπij v xvoste garpun vyskohil, kanat oslabel, povis. - Qka, qka! Leπij sonnyj, voron emu lovitæ. Promazal, tudy-t-t-ego... – beøali, slomä golovu, na nos, gde vozle puπki leøal Fedor Volkov. Spokojnyj, glaza – kak ägoda-golubenæ grustnaä, podoπel Indrik. - Nu hego, hego? Ne vidite, hto li? Berisæ, da razom. Ruku-to podymi u nego, ruka-to po zemle volohitsä... Estæ Afrika. Fedor Volkov doexal. (287)

Das Hauptereignis, das in einer Überschreitung der Grenze zwischen dem semantischen Raum der Realität und dem semantischen Raum des Traums besteht, findet allein im Bewusstsein des Helden statt und kann letztlich nur aus seiner Perspektive bestimmt werden.

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Dies aber bedeutet nicht, dass die Figurenperspektive diejenige Rolle übernähme, die im realistischen Diskurs die auktoriale Perspektive spielt. Vielmehr spielen bei der Bestimmung der Oppositionen zwischen zwei semantischen Räumen, die im modernen Diskurs durch die Gegenüberstellung zweier Kompositionselemente, deren Bedeutungen entlang der paradigmatischen Achse angeordnet sind, geschaffen wird, die aus der Figurenperspektive gegebenen Elemente häufig eine wichtigere Rolle als jene Elemente, die aus der auktorialen Perspektive geschildert werden. Diese These kann durch den Hinweis darauf gestützt werden, dass im gesamten Text der Erzählung „Afrika“ keine Antwort auf die Frage gegeben wird, was Afrika eigentlich ist. 5.3. Babel’: „Kak e˙to delalos' v Odesse“ Eine Abschwächung der auktorialen Perspektive tritt ebenfalls in denjenigen modernistischen Texten auf, die aus der Perspektive eines „IchErzählers“ vermittelt werden. In Babel’s Erzählung Kak e˙to delalos’ v Odesse gibt es zwei IchErzähler. Der eigentliche Erzähler des Textes kommt einem impliziten Autor nahe, der zweite ist Reb Ar’e-Lejb, der eine Fabel erzählt: die Geschichte, wie der odessitische Bandit Benja Krik (von dem auch in Babel's anderen Erzählungen die Rede ist) seinen Beinamen korol’ ("König") erhalten hat. Die Erzählung Babel’s ist ein perfektes Beispiel für die Fokussierung der Erzählerinstanz (Hodel 2001, 3-6); es ist nicht nur das geschilderte Geschehen bedeutsam, sondern insbesondere die Erzählform. Die Erzählform kann durch einige Nicht-Übereinstimmungen charakterisiert werden, deren wichtigste in einem Widerspruch zwischen der Erzählweise und dem Erzählten besteht. Nahal ä. – Reb Aræe-Lejb, – skazal ä stariku, – pogovorim o Bene Krike.Pogovorim o molnienosnom ego nahale i uøasnom konce. Tri teni zagromoødaüt puti moego voobraøeniä. Vot Fraim Grah. Stalæ ego postupkov – razve ne vyderøit ona sravneniä s siloj Korolä? Vot Kolæka Pakovskij. Beπenstvo qtogo heloveka soderøalo v sebe vse, hto nuøno dlä togo, htoby vlastvovatæ. I neuøeli Xaim Drong ne sumel razlihitæ blesk novoj zvezdy? No pohemu øe odin Benä Krik

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vzoπel na verπinu verevohnoj lestnicy, a vse ostalænye povisli vnizu na 11 patkix stupenäx?

Die Inversion im ersten Satz, Metaphern und rhetorische Fragen generieren einen hohen, festlichen Stil, der dem Thema aus der odessitischen kriminellen Welt offenbar nicht entspricht. Diese augenscheinliche NichtÜbereinstimmung besteht jedoch nur, wenn dem Text mit allgemeingültigen Maßstäben gegenübergetreten wird. Im realistischen Erzählen werden diese Maßstäbe jedoch berücksichtigt und jede Abweichung von der erzählerischen Norm wird aus der auktorialen Perspektive motiviert, so dass eine Nicht-Übereinstimmug in der Erzählform auf diese Motivierung zurückzuführen ist. In Babel’s Erzählung wird eine solche Motivierung nicht gegeben. Stattdessen werden einige Details eingeführt, die von einem realistischen Blickpunkt aus betrachtet als unnachvollziehbar und unmotiviert erscheinen. Aræe-Lejb molhal, sidä na kladbiwenskoj stene. Pered nami rasstilalosæ zelenoe spokojstvie mogil. Helovek, øaøduwij otveta doløen zapastisæ terpeniem. Heloveku, obladaüwemu znaniem, prilihestvuet vaønostæ. Poqtomu Aræe-Lejb molhal, sidä na kladbiwenskoj stene. (164)

Die Nicht-Übereinstimmung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten entwickelt sich im Folgenden auf der sprachlichen Ebene durch eine Nicht-Übereinstimmung zwischen rhetorischen Konstruktionen und Wendungen aus der odessitischen Umgangssprache, die Ar’e-Lejb in seiner Rede verwendet. In den folgenden Zitaten sind die rhetorischen Konstruktionen besonders auffällig: Nuøny li tut slova? Byl helovek i net heloveka. Øil sebe nevinnyj xolostäk, kak ptica na vetke, – i vot on pogib herez glupostæ. (168) Teperæ skaøite mne vy, molodoj gospodin, reøuwij kupony na huøix akciäx, kak postupili by vy na meste Beni Krika? Vy ne znaete, kak postupitæ. A on znal. (168) Molhali lüdi, derevæä i kladbiwenskie niwie. (171) Ä pri qtom ne byl. No to, hto ni kantor, ni xor, ni pogrebalænoe bratstvo ne prosili deneg za poxorony, - qto ä videl glazami Aræe-Lejba. Aræe-Lejb – tak zovut menä. I bolæπe ä nihego ne mog videtæ, potomu hto lüdi, tixonæko otojdä ot savkinoj mogily, brosilisæ beøatæ, kak s poøara. Oni leteli v faqtonax, v telegax i peπkom. (172) 11

Babel’ 1966, 164. Im Folgenden beziehen sich alle Angeben der Seitenzahl auf diese Ausgabe.

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Beispiele für die odessitische Umgangssprache sind: £Rabotaj spokojnee, Solomon, – zametil Benä odnomu iz tex, kto krihal gromhe drugix, – ne imej qtu privyhku bytæ nervnym na rabote“. (167) £Gde nahinaetsä policiä, – vopil on, – i gde konhaetsä Benä?“(169) £Xuliganskaä morda, – prokrihal on, uvidä gostä, – bandit, htoby zemlä tebä vybrosila! Xoroπuü modu sebe vzäl – ubivatæ øivyx lüdej...“(169)

Der komische Effekt, der normalerweise durch die Verknüpfung zweier Stilebenen evoziert wird, ensteht in der vorliegenden Erzählung nicht. Der Text scheint einen vielmehr auf die Suche zu schicken nach einem versteckten Sinn, der nur durch eine Gegenüberstellung der Kompositionselemente des Textes sowie durch die Berücksichtigung des Subtextes erfasst werden kann. Wie Jörg Schulte schreibt, enthält die Erzählung eine Reihe von Anspielungen auf die Bibel und die talmudische Literatur (Schulte 2002). Diese Anspielungen schaffen eine zweite, versteckte Fabel, die zu der erzählten Fabel parallel verläuft und teilweise in Opposition zu dieser steht. Das Verfahren der Intertextualität wurde bereits am Beispiel von Pil’njaks „Das nackte Jahr“ erwähnt. In dem ersten Kapitel des Romans spielt die Intertextualität lediglig eine Nebenrolle. In Babel’s Erzählung wird sie zum hauptsächlichen Mittel, mit dem die Abschwächung der auktorialen Perspektive kompensiert wird. 6. Fazit Die Analyse zeigt, dass neben den Klassifizierungen der Perspektive, die in der Narratologie und der Literaturwissenschaft bereits vorliegen, eine weitere Form der Klassifizierung der Perspektive nach dem Prinzip der Positionierung einer auktorialen Perspektive möglich ist. Zumindest zwei Typen von Erzähltexten können auf diese Weise definiert werden. Der erste Typ umfasst die Texte mit einer starken auktorialen Perspektive. Der zweite umfasst jene Texte, in denen unterschiedliche Abschwächungen der auktorialen Perspektive beobachtet werden können. Der erste Typ ist für einen realistischen Diskurs charakteristisch, der zweite ist für den Diskurs der Avantgarde (Moderne) kennzeichnend. Die in dieser Arbeit vorgelegte Definition der verschiedenen Arten der Perspektivierung macht es möglich, das Muster zu analysieren, nach dem die Opposition der semantischen Räume bzw. das Ereignis im literarischen Text gestaltet werden.

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Zumindest zwei Typen dieser Opposition können definiert werden. Im ersten Texttyp wird diese Opposition aus der auktorialen Perspektive bestimmt, wobei zwischen Texten mit vortextuell-kulturell bestimmten semantischen Räumen und Texten mit unmittelbar in der Erzählung bestimmten semantischen Räumen differenziert werden kann. Im zweiten Texttyp wird die Opposition der semantischen Räume unabhängig von der auktorialen Perspektive geschaffen. Die Texte dieses Typs bedürfen einer zusätzlichen Grundlage, um die Textkohärenz zu garantieren, und bedienen sich zu diesem Behelf beispielsweise des Ornamentalismus oder verschiedener Formen der Intertextualität. 7. Literatur Babel’, I.1966. Izbrannoe. Kemerovo. Bachtin, M. 1963. Problemy poe˙tiki Dostoevskogo. Moskva. Bal’, M. 1977. Narration et focalisation: Pour une théorie des instances du récit. Poétique 29, 107–127. Brooks, C., Ware,n R. P. 1943. Understanding Fiction, New York. Cµechov, A. P. 1977. Polnoe sobranie socˇinenij i pisem. T. 10. Moskva. Deutsche Übersetzung: Tschechow, A. 1989. Rotschilds Geige. Leipzig und Weimar, Friedman, N. 1955. Point of View in Fiction. The development of a Critical Concept.. Publication of the Modern Language Assosiation of America. Vol. 70, n. 5, 1160–1184. Genette, G. 1994. Die Erzählung. München. Gukovskij, G. A. 1959. Realizm Gogol'ja. Moskva-Leningrad. Hodel, R. 2001. Erlebte Rede in der russischen Literatur. Vom Sentimentalismus zum Sozialistischen Realismus. (= Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen. B.22). Frankfurt am Main. Hodel, R. 2003. Zum Epochenübergang vom Realismus in die Moderne: Korrelation von Metrisierung und Syntax bei Tolstoj und Belyj. ZfSl 48 (1), 13–28. Jensen, P. A. 1984. The Thing is Such: Boris Pilnjaks Ornamentalismus. Russian Literature 16, 81–100. Lintvelt, J. 1981. Essai de typologie narrative. Le „point de vue“. Paris. Lotman, J. M. 1970. Struktura chudozˇestvennogo teksta. Moskva. Lotman, J. M. 1973. Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt am Main, Markovic,ˇ V. M. 1982. Turgenev i russkaja literatura XIX veka. Leningrad. Pil’njak, B. 1994. Socˇinenija v trech tomach. T. 1, Moskva. Pouillon, J. 1946. Temps et roman. Paris. Rimmon (-Kenan), Sh. 1983. Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London. Schmid, W. 1984. Der Ort der Erzählperspektive in der narrativen Konstitution. Signs of friendship. To Honour A. G. F. van Holk, Slavist, Linguist, Semiotician. Ed. by J. J. van Baak. Amsterdam, 523–552.

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Perspektivierung und Rekurrenz 1. Einführung: die theoretischen Ansätze Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, ist die Abschwächung der auktorialen Perspektive ein wesentlicher Zug des Übergangs vom Realismus zur Avantgarde. Diese Abschwächung bezieht sich auf das Verhältnis der Perspektivierung zur Opposition „syntagmatische / paradigmatische Achse der Bedeutungen“ im Text. In Anlehnung an Lotman (Lotman 1970, 102–104, 111–119) besteht die syntagmatische Achse der Bedeutungen in einer Reihe von Textelementen, die nach einer kausal, räumlich, zeitlich und grammatisch bedingten Folgerichtigkeit angeordnet sind. Daraus resultiert zunächst die Frage: Unter welcher Bedingung bringt eine kausale, eine räumliche, zeitliche oder eine andere vergleichbare Anordnung von Textelementen diese in eine folgerichtige Relation zueinander? Die Beziehung zwischen zwei Elementen eines Textes (z. B. zwischen zwei Geschehnissen in der Entwicklung einer Fabel) kann von einem Standpunkt aus betrachtet als kausal motiviert erscheinen, während dies von einem anderen Standpunkt aus nicht der Fall ist. Es ist also offensichtlich, dass jede syntagmatische Achse der Bedeutungen eines Textes ein für diesen Text gültiges Sicht- und Wertsystem voraussetzt, das seinerseits seinen Ausdruck in einer einheitlichen Perspektive findet. Die auktoriale Perspektive oder die Perspektive einer Figur (z. B. bei der Ich-Erzählung) können die Rolle einer solchen einheitlichen Perspektive übernehmen, wenn alle anderen Perspektiven, die in dem Text auftreten, ihr auf unterschiedliche Weise untergeordnet sind. Mit anderen Worten: Eine syntagmatische Achse der Bedeutungen im Text stellt sich als Reihe von Bedeutungen dar, deren kausale, zeitliche, räumliche oder grammatische Verhältnisse aus einer einzigen Perspektive nachvollziehbar sind. Die paradigmatische Achse der Bedeutungen (Lotman 1970, 104–111) setzt dagegen keine im engeren Sinn des Wortes kausalen Verhältnisse

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voraus und schafft kein einheitliches System, das die kausalen Verhältnisse motivieren könnte. Dies bedeutet, dass die Elemente, welche die paradigmatische Achse konstituieren, aus verschiedenen Perspektiven präsentiert werden können, ohne dass eine Unterordnung unter eine einzelne Perspektive notwendig wäre. Stattdessen tritt eine andere Art der Motivierung auf, die sich als rein semantisch bezeichnen lässt und die durch unterschiedliche, aber in gewisser Hinsicht ähnliche Begriffe (Analogie, Gegenüberstellung, Suggestivität u. a.) beschrieben werden kann. Selbstverständlich ist ein Textaufbau auf der Grundlage nur einer einzigen Achse der Bedeutungen prinzipiell unmöglich: In jedem Text werden Bedeutungen impliziert, die sowohl auf der syntagmatischen als auch auf der paradigmatischen Achse angeordnet sind. Dennoch kann folgende Gesetzmäßigkeit festgestellt werden: Ein Text mit einer starken auktorialen Perspektive beruht bevorzugt auf der syntagmatischen Achse der Bedeutungen, während ein Text mit einer schwachen auktorialen Perspektive vorzugsweise auf der paradigmatischen Achse der Bedeutungen beruht, wobei die Entfaltung der paradigmatischen Achse der Bedeutungen als Mittel zu bewerten ist, mit dem die Abschwächung der auktorialen Perspektive kompensiert werden soll. Bei der vorliegenden Definition zweier Texttypen handelt es sich also lediglich um eine Tendenz, wenn auch eine sehr wesentliche Tendenz. Diese Tendenz hat verschiedene Auswirkungen und ist anhand verschiedener textsemantischer und textlinguistischer Parameter nachzuvollziehen, die im Folgenden genauer dargestellt und vom Standpunkt sowohl der Semiotik (Zeichentheorie) als auch der semantischen Theorie aus betrachtet werden sollen. Der Zeichentheorie zufolge setzt ein Kommunikationsakt eine Bezugnahme auf ein dargestelltes außersprachliches Objekt voraus, das ein dieses Objekt darstellendes Zeichen enthält. When people talk, they generally talk about things, events, and situations in the world. They are able to do this because they represent connections between the expressions of their language and extra-linguistic phenomena in a fully systematic way. The meaning of a sentence in a language is, to a large extent, depending upon the ways in which the words and phrases from which it is constructed can be related to situations in the world. (Lappin 2001, 369)

In der Semiotik gibt es mindestens zwei Auffassungen vom Zeichenprozess. Das von G. Klaus (Klaus 1973) formulierte, von der westlichen Sprachwissenschaft als dialektisch-materialistisch bzw. marxistisch bezeichnete Modell vom Zeichenprozess räumt der Beziehung zwischen Zeichen und Objekt einen besonderen Stellenwert ein. Sie wird zum Ge-

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genstand einer eigenen sprachwissenschaftlichen Disziplin, der Sigmatik (Homberger 2000). Das von Klaus vorgestellte Modell des Zeichenprozesses kann wie folgt veranschaulicht werden: Andere sprachliche Zeichen: Z’

Sprachliche Zeichen: Z

Objekt der Widerspiegelung: O

Menschen als Zeichenbenutzer: M

Gedankliches Abbild: A

Der andere Ansatz schließt eine Referenz auf die „objektive Realität“ aus dem Zeichenprozess aus und beschreibt diesen Prozess ausschließlich auf der Grundlage der Relationen zwischen den einzelnen Zeichen, wobei aus den vorhandenen Relationen der Zeichenbedeutungen neue Bedeutungen entstehen. Diese zweite Auffassung vertritt in erster Linie Umberto Ecos Abhandlung „Einführung in die Semiotik“ (Eco 1994). Ecos Position ist vom Diskurs des Postmodernismus geprägt. Der Zeichenprozess besteht in postmodernistischer Sicht aus drei konstitutiven Faktoren (Objekt – Interpret – Zeichen), wobei der Interpret von seiner kulturellen Erfahrung ausgehend mittels eines Zeichens von einem Objekt Notiz nimmt und die Zeichenbedeutung als „kulturelle Einheit“ verstanden werden soll. Mit anderen Worten: Zeichen erzeugen Zeichen. In jedem Fall aber ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen aktuell. In der semantischen Theorie wird dieses Verhältnis in Bezug gesetzt zu dem sprachlichen Kommunikationsakt:

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We have identified one of the key tasks of a semantic theory as the specification of a systematic correspondence between categories of expressions in a language and types of entities in the world. (Lappin 2001, 371)

Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Problem der narrativen Kompetenz im Vordergrund steht. If one knows how a declarative sentence like (2a, b) stands in relation to the world, then one knows it is true or false. (Lappin 2001, 371)

Dieses one knows kann von einem narratologischen Standpunkt aus als Perspektive gekennzeichnet werden, die einen bestimmten Grad an narrativer Kompetenz besitzt. Es stellt aber nur einen Aspekt der Fragestellung dar, zumal ein Satz in der Praxis immer als Teil eines Diskurses existiert. When we situate sentence meanings in a discourse, they are no longer static objects, but active devices that have the capacity to inherit semantic content from previous sentences, modify it, and pass on the new information to the next sentence in the sequence. (Lappin 2001; 381)

In der formalen Semantik gibt es unterschiedliche Verfahren, dynamische Anaphora zu betrachten (z. B. Kamp 1981, Heim 1982, Groenendijk und Stokhof 1991 oder Evan 1980 u. a.). Die Frage nach der semantischen Kapazität spielt aber bei jedem dieser Verfahren eine wesentliche Rolle. Wenn aber die formale Semantik (Formal Semantics) sich mit einem Kommunikationsakt im allgemeinen Sinne beschäftigt, analysiert die Narratologie besondere Entwicklungen des Kommunikationsaktes in konkreten Texten, um dort entstehende Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen. In Bezug auf die Textkohärenz steht der Referenzakt in Zusammenhang mit der Perspektivierung, und eine Übertragung der Ansätze der formalen Semantik auf die Narratologie evoziert die Frage nach der semantischen Kapazität einer Perspektive. Daraus folgt die These: Je stärker die auktoriale Perspektive in einem konkreten Text ist, desto größer ist ihre Kapazität, verschiedene Texteinheiten in Zusammenhang zu bringen und desto mehr Möglichkeiten sind gegeben, den Text auf einer syntagmatischen Achse der Bedeutungen aufzubauen. Und umgekehrt: Wenn die auktoriale Perspektive auf die eine oder andere Weise abgeschwächt ist, bedarf der Text zusätzlicher Kompositionsverfahren, welche sich Lotmans Definition zufolge auf der paradigmatischen Achse befinden1. Die Anwendung dieser Kompositionsver1

Die Abschwächung einer auktorialen Perspektive entwickelt sich auch durch die Kolloquialisierung der Erzählsprache und teilweise durch die Personifizierung des Sprechers (vgl. Stanzel, F. 1991. Theorie des Erzählens. Göttingen). Insofern eine konkrete Per-

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fahren setzt wiederum einen Wandel der textlinguistischen Parameter voraus, die in den Aufsätzen von Christina Janik (in diesem Band) behandelt werden. Hier betrachten wir das wichtigste Kompositionsverfahren, mithilfe dessen in der russischen modernistischen Prosa die Abschwächung der auktorialen Perspektive kompensiert wird. Dieses Verfahren ist die Rekurrenz (der Parallelismus), die sich auf verschiedenen Ebenen eines Textes entwickeln kann und deren Anwendung die paradigmatische Gegenüberstellung textueller Kompositionseinheiten evoziert2. 2. Die Rekurrenz und der Textaufbau Einen Ansatz zur Beschreibung der Rekurrenz in der modernen bzw. der ornamentalen Prosa hat Schmid formuliert. Schmid sieht das Phänomen der Rekurrenz in Zusammenhang mit der remythisierenden Tendenz der Avantgarde: Der Iterativität des mythischen Weltbildes entspricht in der ornamentalen Prosa die Wiederholung sowohl klangreicher als auch thematischer Motive. (Schmid 1992, 20)

Dabei sind für die Avantgarde zwei einander ausschließende Tendenzen charakteristisch: Einerseits, wie Schmid hervorhebt, tendiert die Moderne „ja in ihrer postrealistischen Skepsis überhaupt dazu, die Autarkie und Resultativität menschlichen Handels durch den Bezug auf mythische Archetypen und Ordnungen zu relativieren“ (Schmid 1992, 25). Anderseits negiert die Avantgarde jedes Weltanschauungssystem, das einen Anspruch auf Allumfassendheit erhebt, und stellt das Prinzip der Subjektivität in den Vordergrund, wobei die mythologischen Kategorien bewusst subjektiv verarbeitet werden und folgendem Prinzip dienen:

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son bzw. eine Figur sich als eine über eingeschränkte Information verfügende Instanz bezeichnen lässt, wird ein Erzähler mit einer eingeschränkten narrativen Kompetenz eher als eine der Figuren denn als eine allwissende, omnipräsente und also depersonifizierte Instanz wahrgenommen. Diese Erscheinung, die insbesondere beim skaz auffällig ist, wird aber in den anderen Kapiteln der vorliegenden Monographie untersucht, weshalb an dieser Stelle nicht näher auf sie eingegangen werden soll Das Problem der Wiederholungen im literarischen Text ist in der Literaturwissenschaft bereits mehrfach untersucht worden (Foster 1927, Brown 1950, Eile 1973, u. a.). Im Mittelpunkt unseres Interesses steht aber die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wiederholungen bzw. Parallelismen im Text und einer Abschwächung der auktorialen Perspektive.

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Afirmem que els sportmen estan més aprop de l'esperit de Grècia que els nostres intel·lectuals. Afegirem que un sportman verge de nocions artistiques i de tota erudició està més a la vora i és apte per a sentir l'art d'avui i la poesia d'avui, que no els intel·lectuals, miops i carregats d'una preparació negativa. (Dali 1928) Wir stellen fest, dass Sportler dem Geist Griechenlands näher stehen, als unsere Intellektuellen. Wir fügen hinzu, dass ein Sportler, der von Kunstbegriffen und Gelehrsamkeit ganz frei ist, der modernen Kunst und der modernen Lyrik näher steht und sie besser empfinden kann, als stumpfsinnige Intellektuelle mit ihrer Last an negativer Erfahrung.

So steht es im Manifest groc („Gelbes Manifest“), einer der programmatischen Schriften der Weltavantgarde (Dali 1928). Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es aber, zu zeigen, welche Rolle die Rekurrenz als ein poetisches Verfahren für die Textkohärenz spielt und warum sie unter diesem Blickwinkel als ein avantgardistisches Verfahren definiert werden muss. Welche Funktion die Rekurrenz für den Textaufbau innehat, soll im Folgenden anhand der Erzählung Celaja zˇizn’ (1915) von Boris Pil’njak veranschaulicht werden. Diese Erzählung handelt von dem Leben zweier Vögel, vermutlich Eulen, einem Männchen und einem Weibchen. Die Handlung umfasst einen Zeitabschnitt, der dreizehn Jahre dauert und den die Vögel in einem wilden Waldesdickicht verbringen. Die Fabel beginnt mit der Begegnung des Männchens und des Weibchens und endet mit dem Tod des Männchens. Rein äußerlich betrachtet mutet die Erzählweise realistisch an, weil die Geschichte von einem auktorialen Erzähler präsentiert wird. Browning hebt hervor, dass der Erzähler in Celaja zˇizn’ auf traditionelle Weise allwissend (traditional omniscient) sei (Browning 1985, 97). Dennoch ist die narrative Kompetenz dieses Erzählers offensichtlich eingeschränkt. Auf der räumlichen, zeitlichen und perzeptiven Ebene der Perspektivierung zeigt sich diese Beschränktheit darin, dass der Horizont der auktorialen Perspektive denjenigen der Figurenperspektiven de facto nicht überschreitet. Der Erzähler kann von seiner Perspektive aus nur das schildern, was die Figuren sehen und spüren können. (1) Kogda nastupali sumerki, on, kak v tumane, ne vedaä zahem, snimalsä s svoego mesta i letel ot poläny k poläne, ot otkosa k otkosu, besπumno dvigaä bolæπimi svoimi krylæämi i zorko vglädyvaäsæ v zelenuü, nastoraøivπuüsä mglu. I kogda odnaødy on uvidal na odnoj iz polän sebe podobnyx i samku sredi nix, on, ne znaä pohemu tak doløno bytæ, brosilsä tuda, pohuvstvoval hrezmernuü silu v sebe i velikuü nenavistæ k tem ostalænym samcam. (Pil’njak 1, 396)

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Noch augenscheinlicher tritt die Beschränktheit der auktorialen Perspektive auf der Ebene der Ideologie in Erscheinung: Der Erzähler gibt keine Kommentare ab und motiviert die Geschehensmomente nicht. Zwar gibt es in dem Text einige Bemerkungen und sogar Erklärungen aus der auktorialen Perspektive, doch sind diese Bemerkungen nicht als Kommentar zu bewerten, sondern als Feststellung von Tatsachen, die der auktorialen Kompetenz unterstehen: (2) Ewe za has do rassveta, kogda uxodila luna i edva-edva podxodil sneg, pticy nahinali huvstvovatæ golod. Vo rtu byl nepriätnyj øelhnyj privkus i ot vremeni do vremeni bolæno søimalsä zob. I kogda utro uøe okonhatelæno serelo, samec uletal za dobyhej. On letel medlenno, raskinuv πiroko krylæä i redko vzmaxivaä imi, zorko vglädyvaäsæ v zemlü pered soboü. Oxotilsä on obyknovenno za zajcami. (Pil’njak 1, 397–398)

Auf den Ebenen des Raums, der Zeit, der Ideologie sowie auf der perzeptiven Ebene ist die auktoriale Perspektive in dieser Erzählung meistens an die Perspektive der Figur gebunden. Deshalb bleibt sie insgesamt diffus. Die Vögel können aber weder sprechen noch in Worten denken, sie bedürfen also einer anderen Instanz, um ihre Gefühle und Empfindungen auszudrücken. Deshalb wird in Celaja zˇizn' die sprachliche Ebene zu der einzigen Ebene der Perspektivierung, auf der die auktoriale Perspektive wirklich vorherrscht. Auf allen anderen Ebenen (Zeit, Raum, Ideologie, Perzeptivität, Kausalität) erscheint sie abgeschwächt. (3) Oni täøelo vorohalisæ v gnezde, menäli mesta, i bolæπie glaza ix byli kruglo otkryty, svetäsæ v svoü oheredæ gniluπkami. Esli by pticy umeli dumatæ, oni bolæπe vsego xoteli by utra. (Pil’njak 1, 397) (4) On øil zimy, htoby øitæ. Vesny i leto on øil, htoby roditæ. On ne umel dumatæ. On delal qto potomu, hto tak velel tot instinkt, kotoryj pravil im. Zimami on øil, htoby estæ, htoby ne umeretæ. Zimy byli xolodny i straπny. Vesnami - on rodil. I togda po øilam ego tekla gorähaä krovæ, svetilo solnce i goreli zvezdy, i emu vse vremä xotelosæ potänutæsä, zakrytæ glaza, bitæ krylæämi vozdux i uxatæ radostno, na vse ovragi srazu. (Pil’njak 1, 401)

Bevor zu zeigen ist, wie diese Abschwächung der auktorialen Perspektive in der Erzählung Pil’njaks kompensiert wird und welche paradigmatischen Mittel dafür verwendet werden, ist zu bestimmen, welcher Aspekt der Geschichte syntagmatisch bzw. von einer auktorialen Perspektive aus dargestellt wird. Dieser Aspekt besteht in der Entwicklung eines Sujets, das sich auf die Verletzung eines Flügels des Männchens bezieht. Das Sujet (wie jedes Sujet) schließt eine Exposition, einen Handlungsknoten, einen Kulmina-

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tionspunkt und eine Lösung des Knotens ein und beginnt mit einer Beschreibung des Waldesdickichts, die im Rahmen dieses Sujets zur Exposition wird. Der Handlungsknoten ist eine Begegnung des Männchens mit dem Weibchen und der Kampf um das Weibchen, den das Männchen besteht, wenngleich sein Flügel durch diesen Kampf verletzt wird: (5) On xodil okolo samki medlenno, silæno ottaptyvaä, raspustiv krylæä i zadrav golovu. On koso i zlobno poglädyval na samcov. Odin iz nix, tot, kotoryj do nego byl pobeditelem, staralsä meπatæ emu, a potom brosilsä na nego s prigotovlennym dlä udara klüvom. I u nix zaväzalasæ draka, dolgaä, molhalivaä i øestokaä. Oni naletali drug na druga, bilisæ klüvami, grudämi, kogtämi, krylæämi, gluxo vskrikivaä i razryvaä drug druga telo. Ego protivnik okazalsä slabee i otstal. On brosilsä snova k samke i xodil vokrug nee, prixramyvaä i voloha na zemle okrovavlennoe svoe levoe krylo. (Pil’njak 1, 396)

Hier, am Anfang der Geschichte, ist der verletzte Flügel ein Zeugnis des Mutes und der männlichen Würde des Männchens, er ruft bei dem Weibchen Mitgefühl hervor und gilt sogar als Gewähr ihrer Liebe: (6) Kogda øe nohæ stala blednetæ, a u vostoka legla zeleno-lilovaä herta vosxoda, ona podoπpla k nemu, pobedivπemu vsex, prislonilasæ k ego grudi, potrogala neøno klüvom ego bolænoe krylo, laskaä i iscelää, i, medlenno, otdelääsæ ot zemli, poletela k ovragu. I on, täøelo dvigaä bolænym krylom, ne zamehaä kryla, pæänyj, pæäno vskrikivaä, poletel za neü. (Pil’njak 1, 396)

Im Verlauf des Sujets, bei dem es um das Leben im Wald, die Suche nach Beute, den Sex und die Geburt der Jungvögel geht, wird das Motiv des Flügels in den Hintergrund gestellt. Zum Schluss rückt es aber wieder in den Vordergrund: (7) V molodosti u nego bylo isporheno krylo, s tex por kak on dralsä za samku. S godami emu vse trudnee i trudnee bylo oxotitæsä za dobyhej, vse dalæπe i dalæπe letal on za nej, a nohami ne mog usnutæ ot bolæπoj i nudnoj boli po vsemu krylu. I qto bylo ohenæ straπno, ibo ranæπe on ne huvstvoval svoego kryla, a teperæ ono stalo vaønym i muhitelænym. Nohami on ne spal, sveπivaä krylo, ottalkivaä ot sebä. A utrami, edva vladeä im, on uletal za dobyhej. (Pil’njak 1, 402)

Die weitere Entwicklung dieses Motivs bildet den Kulminationspunkt des Sujets: (8) I samka brosila ego. Pred-vesnoj, v sumerki ona uletela iz gnezda. Samec iskal ee vsü nohæ i na zare naπel. Ona byla s drugim samcom, molodym i silænym, neøno vsklekotyvaüwim okolo nee. I starik pohuvstvoval, hto vse, dannoe emu v øizni, konheno. On brosilsä dratæsä s molodym, on dralsä

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neuverenno i slabo. A molodoj kinulsä k nemu silæno i strastno, rval i gryz ego telo. Samka øe, kak mnogo let nazad, bezrazlihno sledila za sxvatkoj. Starik byl pobeøden. Okrovavlennyj, izorvannyj, s vytekπim glazom, on uletel k sebe v gnezdo. (Pil’njak 1, 402)

Letztlich determiniert das Motiv des Flügels die Lösung des Knotens im Voraus, die sich in Pil’njaks Erzählung an den Kulminationspunkt anschließen wird: (9) On sel na svoü lapu kornä. I bylo ponätno, hto s øiznæü shety ego konheny. On øil, htoby estæ, htoby roditæ. Teperæ emu ostavalosæ – umeretæ. Verno, on huvstvoval qto instinktom, ibo dva dnä sidel tixo i nepodviøno, na obryve, vtänuv golovu v πeü. A potom spokojno i nezametno dlä sebä umer. (Pil’njak 1, 402)

Die von einer auktorialen Perspektive aus dargestellte Geschichte besteht aus aneinander anknüpfenden und einander motivierenden Geschehensmomenten: Das Männchen gewinnt das Weibchen, weil es stärker als andere Männchen ist und im Kampf gegen sie um das Weibchen siegt, obwohl sein Flügel in diesem Kampf verletzt wird; der verletzte Flügel ist folglich der Preis, den das Männchen für das Weibchen zahlen muss, und gleichzeitig die Ursache, infolge derer das Männchen seine Kraft allmählich verliert. Weil das Männchen seine Kraft verliert, verlässt das Weibchen es für ein anderes Männchen, gegen welches das Männchen schon nicht mehr kämpfen kann; deshalb ist das Männchen endgültig besiegt und einsam und es bleibt ihm nur der Tod. Die auf diese Weise gelesene Geschichte lässt sich als eine Allegorie auf das menschlichen Leben auffassen, die von Liebe und Verrat, Sieg und Niederlage oder auch von Stärke und Schwäche handelt. Diese Auffassung (obwohl sie natürlich möglich ist) erschöpft aber die in der Erzählung dargestellte Geschichte nicht. Um der Geschichte gerecht werden zu können, muss der Leser nicht nur ihren syntagmatischen, sondern auch ihren paradigmatischen Gehalt berücksichtigen. Der paradigmatische Gehalt der Geschichte besteht in der Entfaltung eines impliziten Sujets, das seinen Ausdruck in verschiedenen Wiederholungen bzw. Rekurrenzen findet. Diese Wiederholungen lassen sich verschiedenen sprachlichen Ebenen zuordnen und werden im Weiteren betrachtet. 2.1 Rekurrenzen auf der phonologischen Ebene Wiederholungen auf der Ebene der Phonologie sind in Pil’njaks Erzählung schon im ersten Satz vorhanden:

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(10) Ovrag byl glubok i glux. (Pil’njak 1, 394)

Im zweiten Satz lässt sich zumindest eine phonologische Wiederholung finden: (11) Ego suglinkovye øeltye skaty, porosπie krasnovatymi sosnami, πli krutymi obryvami, po samomomu dnu protekal klüh. (394)

Es gibt auch eine Klangwiederholung im dritten Satz: (12) Nad ovragom, napravo i nalevo, stoäl sosnovyj les, – gluxoj, staryj, zatänutyj mxami i zarosπij olæπanikom. (394)

In seiner Arbeit „Klangwiederholungen in Cµechovs Erzählprosa“ definiert Schmid die Wiederholung auf der phonologischen Ebene (Klangwiederholung bzw. zvukovoj povtor) als phonische Äquivalenz von Textsegmenten (Wörtern oder größeren Einheiten), die nicht notwendig auf der Wiederholung eines oder mehrerer Phoneme berührt, sondern durch die Ähnlichkeit einzelner Laute begründet wird (Schmid 1992, 84). Um diese akustische Ähnlichkeit wahrnehmbar zu machen, müssen die Klangwiederholungen in markierten Einheiten vorkommen und an Verklammerungen auf anderen Ebenen gebunden sein. In diesem Sinne ist der gesamte erste Abschnitt der Erzählung Celaja zˇizn' von Klangwiederholungen geprägt. Neben den obengenanten Wiederholungen in den ersten drei Sätzen lassen sich noch die folgenden Beispiele anführen: (13) Korni ee, poxodivπie na zastyvπego raskorähennogo leπego, zadravπegosä vverx, obrosli uøe kukuπehæim mxom i moøøevelænikom.(394)

Hier fällt die Anhäufung der Zischlaute ins Auge. Sie ist paradigmatisch an einen Satz im Anfang der Erzählung gebunden: (14) A naverxu bylo täøeloe, seroe, nizko spustivπeesä nebo. (394)

Und weiter: (15) Gnezdo pomestilosæ meødu kornej. Pod nim s trex storon padal otves. Nad nim stlalosæ nebo i protägivalosæ neskolæko izlomannyx drevesin kornej. (395) Samec øe gomozilsä na lape kornä, nad obryvom, odinokij, vidäwij svoim täøelym vzglädom daleko krugom i vnizu, – sidel, vtänuv v plehi golovu i täøelo svesiv krylæä. (395)

Die konstanten Wiederholungen der Zischlaute und Sibilanten sowie der scharfen Laute wie r oder l lassen das Waldesdickicht unabhängig von jeglicher auktorialen Vermittlung spürbar werden. Die Verschränkung der

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Klangwiederholungen bildet ein Klanggefüge, das den Wald bzw. die erzählte Welt darstellt. Die im ersten Abschnitt vorherrschende Darstellung des Waldes entfaltet sich im Verlauf der Erzählung durch Wiederholungen auf anderen Ebenen. 2.2 Rekurrenzen auf der lexikalischen Ebene Eine Rekurrenz auf der lexikalischen Ebene besteht erstens in einer Wiederholung derselben Wörter und zweitens im Gebrauch von Wörtern mit derselben Wurzel. In der Erzählung Celaja zˇizn’ können wir mehrere Beispiele für solche Rekurrenzen finden: (16) Gnezdo pomestilosæ meødu kornej. Pod nim s trex storon padal otves. Nad nim stlalosæ nebo i protägivalosæ neskolæko izlomannyx drevesin kornej. Krugom i vnizu leøali kosti, uøe omytye doødämi i belye. A samo gnezdo bylo uloøeno kamnämi i glinoj i ustlano puxom. Samka vsegda sidela v gnezde. Samec øe gomozilsä na lape kornä, nad obryvom, odinokij, vidäπij svoim täøelym vzglädom daleko krugom i vnizu, – sidel, vtänuv v plehi golovu i täøelo svesiv krylæä. (395)

Oder: (17) I on, täøelo dvigaä bolænym krylom, ne zamehaä kryla, pæänyj, pæäno vskrikivaä, poletel za neü. (396)

Bevor wir weitere Beispiele betrachten, müssen wir auf die Fragen eingehen, warum das Phänomen der Rekurrenz und die Abschwächung der auktorialen Perspektive miteinander verbunden sind und warum Wiederholungen auf verschiedenen Ebenen ein von dieser Perspektive unabhängiges semantisches Gefüge schaffen. Zu diesem Zweck werden wir uns noch mal dem Problem der Referenz zuwenden. In den zwei folgenden von Lappin angeführten Sätzen geht es um eine Person, die aber mit verschiedenen Ausdrücken gekennzeichnet wird: a. The former Governor of Arkansas plays the saxophone. b. The President of the United States plays the saxophone.

Lappin hebt hervor, dass diese Sätze, obwohl sie auf dasselbe Objekt (Bill Clinton) referieren, unterschiedliche Informationen beinhalten und unterschiedliche Bedeutungen haben. Der Ausdruck The former Governor of Arkansas bezeichnet einen Menschen, der irgendwann ein Gouverneur des

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Staates Arkansas war und der diesen Posten nicht mehr innehat. Die Wortverbindung The President of the United States charakterisiert eine Person, die gegenwärtig (d. h. zu einem bestimmten Zeitpunkt, der mit dem Zeitpunkt des Sprechens zusammenfällt) der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Zumindest für die Zeit der Wahlkampagne von 1992 sei der Satz (a) richtig und der Satz (b) falsch, weil Bill Clinton damals schon ein ehemaliger Gouverneur des Staates Arkansas war, aber noch nicht Präsident der Vereinigten Staaten (Lappin 2001, 373). Das Problem lässt sich in Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem bringen, das seinerzeit von Frege (Frege, 1862) untersucht wurde. Dieser kommt zu dem Schluss, dass eine veränderte Ausdrucksweise auch die Bedeutung des Bezeichnenden ändere (vgl. auch: Herman 2004, 324). Ausgehend vom Unterschied zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem zieht Frege eine Trennung zwischen Sinn und Bedeutung und kommt zum Schluss, dass eine Änderung der Ausdrucksweise die Bedeutung des Bezeichneten ändere. In Bezug auf das Erzählen bedeutet dies, dass jede Perspektive, von der aus ein Objekt mithilfe verschiedener semantischer Einheiten beschrieben wird, eine genügende narrative Kompetenz besitzen muss, um diese semantischen Einheiten durch eine dynamische Anapher (dynamic anapher) in Zusammenhang zu bringen und die Übereinstimmung in der Referenz mitzuteilen. Das angeführte Beispiel setzt also eine narrative Kompetenz voraus, welche die kausale, räumliche und zeitliche Ebene der Perspektivierung umfasst. Wenn ein Erzähler Bill Clinton in einem Satz mit den Wörtern The President of the United States bezeichnet und im nächsten Satz oder einige Sätze später diese Wörter durch The former Governor of Arkansas ersetzt, um wiederum Bill Clinton zu beschreiben, so muss diesem Erzähler folgende Information zur Verfügung stehen: • Räumliche Information: a) der Staat Arkansas ist einer der Vereinigten Staaten von Amerika • Zeitliche Information: b) Bill Clinton wurde im Jahr 1992 zum Präsidenten gewählt und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Präsident der Vereinigten Staaten

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Kausale Information: c) der Gouverneur eines amerikanischen Staates kann zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika werden d) Bill Clinton war der Gouverneur des Staates Arkansas, bevor er Präsident wurde e) Bill Clinton ist der Präsident der USA, weil er u. a. der Gouverneur des Staates Arkansas war Nur unter Berücksichtigung der vollständigen Informationen kann ein Erzähler von seiner Perspektive aus die beiden semantischen Einheiten so präsentieren, dass ein impliziter Leser verstehen kann, dass mit The President of the United States und The former Governor of Arkansas dieselbe Person gemeint ist. Anderenfalls kann der Erzähler die implizierte Identität dieser beiden semantischen Einheiten nicht vermitteln und die Textkohärenz nicht garantieren. Jeder Informationsmangel führt zu einer Abschwächung der Perspektive, und wenn die auktoriale Perspektive mit mangelnder Information ausgestattet ist, bedarf es zusätzlicher Mittel, um die Textkohärenz aufrecht zu erhalten. Das wichtigste Mittel, diese Textkohärenz zu garantieren, ist gleichzeitig auch das einfachste, nämlich die Wiederholung bzw. Rekurrenz. Jede Wiederholung in einem künstlerischen Text hat aber ihre eigene Bedeutung und schafft deshalb einen neuen Sinn, der sich mit dem durch den Reim in der Lyrik entstehenden Sinn vergleichen lässt. Lotman schreibt dazu Folgendes: Die Wiederholung eines Wortes bedeutet in der Regel nicht eine mechanische Wiederholung des Begriffs, sondern zeugt meist von einem komplexeren, wenn auch einzigen Sinngehalt. (Lotman 1981, 189)

Dies bedeutet, dass eine Abschwächung der Perspektive durch eine Einschränkung ihrer narrativen Kompetenz ein neues Sinngefüge voraussetzt und dieses Sinngefüge unvermeidlich in paradigmatischen Bedeutungsbeziehungen zum Ausdruck kommt. Wenden wir uns der Erzählung Celaja zˇizn’ wieder zu und betrachten einen Abschnitt, der von dem ersten Geschlechtsverkehr zwischen Männchen und Weibchen handelt: (18) Ona opustilasæ kak raz u kornej toj sosny, gde stalo ix gnezdo. Samec sel rädom. On stal nereπitelænym, smuwennym shastæem. Samka oboπla neskolæko raz vokrug samca, snova iscelää ego. Potom, priøimaä grudæ k zemle, opustiv nogi i krylæä, soømuriv glaza, – samka pozvala k sebe samca. Samec brosilsä k nej, xvataä klüvom ee peræä, xlopaä po zemle

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täøelymi svoimi krylæämi, stav derzkim, prikazyvaüwim, – i v ego øilax potekla takaä prekrasnaä muka, takaä krepkaä radostæ, hto on oslep, nihego ne huäl, krome qtoj sladkoj muki, täøelo uxal, naroødaä v ovrage gluxoe qxo i vskolyxivaä pred-utro. Samka byla pokornoj. Na vostoke uøe loøilasæ krasnaä lenta vosxoda, i snega v lowinax stali lilovymi. (396–397)

In diesem Abschnitt werden die Wahrnehmung und Gefühle einer Figur auf der perzeptiven, räumlichen und zeitlichen Ebene von ihrer eigenen Perspektive aus präsentiert. Es gibt in dieser Schilderung nichts, was nicht eine der Figuren wissen oder spüren könnte3. Jedoch werden diese Wahrnehmungen und Gefühle in den Worten des Erzählers vermittelt, wobei dieses Verfahren damit motiviert ist, dass Vögel, wie wir bereits hervorgehoben haben, in Worten weder denken noch sprechen können. Die Bedeutung jedes Wortes entspricht also einem Sinn, der unter Berücksichtigung der narrativen Kompetenz der Figur begriffen wird. Da aber die Figuren sich lediglich als Männchen oder Weibchen identifizieren können, sind sie mit den Wörtern samec, samka oder mit Pronomen bezeichnet, die ihrer Identität entsprechen. Um diese der Wahrnehmung der Figur entsprechende Erzählweise zu fassen, muss ein auktorialer Erzähler immer wieder dieselben Bezeichnungen wiederholen. Die konstante Wiederholung z. B. des Wortes samec evoziert einen eigenen Sinngehalt, der in erster Linie auf dessen Rhythmus basiert und unabhängig von der syntagmatischen Achse der Bedeutungen existiert. Da sich die Wiederholung dieses Wortes über die ganze Erzählung erstreckt, umfasst dieser Rhythmus den ganzen Text. Um diesen Rhythmus aufzuzeigen, vergleichen wir den Abschnitt (18) mit einem anderen Abschnitt aus der Mitte der Erzählung: (19) Vsü dobyhu samec prinosil samke, sam on el malo: tolæko to, hto ostavläla emu samka, – obyknovenno qto byli vnutrennosti, mäso grudnyx myπc, πkura i golova, xotä u golovy samka vsegda sßedala glaza, kak samoe vkusnoe. (399)

Oder: (20) On sam kormil ptencov. Razryval kuski mäsa i daval im. I nablüdal vnimatelæno svoimi kruglymi glazami, kak ptency xvatali qti kuski celikom, 3

In dieser Hinsicht ist es wichtig zu bemerken, dass es über die ganze Erzählung hinweg unklar bleibt, um welche Vogelart es sich handelt: Es sind vermutlich Eulen, insofern aber Eulen sich selbst als Eulen nicht definieren können, werden sie unbestimmt belassen.

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πiroko raskryvaä klüvy, davilisæ imi i, tarawa glaza, pokahivaäsæ ot napräøeniä, glotali. Inogda kto-nibudæ iz ptencov, po gluposti, vyvalivalsä iz gnezda pod otkos. Togda samec pospeπno i zabotlivo letel vniz za nim, xlopotlivo klekotal, vorhal; bral ego ostoroøno i neumelo kogtämi i prinosil ispugannogo i nedoumevaüwego obratno v gnezdo. A v gnezde dolgo gladil ego peræä svoim bolæπim klüvom, xodil vokrug nego, iz ostoroønosti vysoko podnimaä nogi, i ne perestaval klekotatæ ozobohenno. Nohami on ne spal. (401)

Die konstante Wiederholung der Wörter samec und samka entsteht wie von selbst, scheinbar wider Willen des Erzählers: Ihm steht einfach keine andere Bezeichnung zur Verfügung. Gleichzeitig klingt aber das Wort samec im Abschnitt (18), dem Muster des Reims folgend, an seine Wiederholungen in den Abschnitten (19) und (20) an und schafft ein von dem Erzähler unabhängiges paradigmatisches Gefüge. Dieses Gefüge ist aber nur Teil eines größeren Gefüges, das sich durch Wiederholungen auf anderen Ebenen entfaltet und nur in seiner Ganzheit wahrgenommen werden kann. 2.3 Rekurrenzen auf der syntaktischen Ebene Die Syntax der Erzählung ist relativ flach. Diese Art von Syntax ist für die Prosa der russischen Avantgarde überhaupt charakteristisch und ermöglicht dem Leser, „die einzelnen syntaktischen Einheiten weitgehend autonom zu rezipieren“ (Hodel 2003, 21). Außerdem entspricht die flache Syntax einer Abschwächung der Perspektive auf der kausalen Ebene: Die Parataxe wird zum wichtigsten Mittel, um kausale Verhältnisse auszudrücken. Gleichzeitig ermöglicht die flache Syntax eine Gegenüberstellung zwischen autonom rezipierten syntaktischen Einheiten und erleichtert die Schaffung von Rekurrenzen, mit denen eine Abschwächung der auktorialen Perspektive kompensiert werden kann. Die Gegenüberstellung ist eines der wichtigsten Verfahren, mithilfe derer die Erzählung Pil’njaks aufgebaut ist. Wir werden exemplarisch auf eine Art und Weise, wie solche Wiederholungen zustande kommen, eingehen. Die Erzählung beginnt mit einem einfachen Satz, der einen eigenen Absatz darstellt: (21) Ovrag byl glubok i glux. (394)

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Diese syntaktische Konstruktion zieht sich durch den ganzen Text, und der Effekt dieser Wiederholungen kann mit der Wirkung eines Reims in der Lyrik verglichen werden: (22) Tut redko byval helovek. (394) (23) Samka vsegda sidela v gnezde. (395) (24) Oni vstretilisæ na poläne v lesu, v sumerki. (395) (25) Teperæ bylo ne tak. (396) (26) Tak bylo vsü nohæ. (396) (27) Samka byla pokornoj. (397) (28) I pticy ne spali. (397) (29) Podpolzali sumerki. (398) (30) Dnem samec sidel na lape kornä. (399) (31) Tak bylo s nedelü, s poltory. (399) (32) V mae nohi byli sinimi. V iüne - zeleno-belymi. (400) (33) Tak bylo trinadcatæ let ix øizni. (402) (34) Potom samec umer. (402) (35) I samka brosila ego. Pred-vesnoj, v sumerki ona uletela iz gnezda. (402) (36) Ego naπel volk i sßel. (402)

Jeder dieser Sätze stellt einen einzelnen Absatz dar, wobei das Beispiel (33) sogar ein ganzes Kapitel ausmacht. Es ist leicht zu bemerken, dass diese Sätze eine semantische Reihe bilden, deren Bedeutung nicht kausal, sondern eher emotional oder rhythmisch geprägt ist. Statt einer kausalen bzw. einer syntagmatischen Entwicklung der Handlung, die aus einander motivierenden Geschehensmomenten besteht, soll der implizite Leser also eine paradigmatische Entfaltung wahrnehmen. Die konstant wiederholte syntaktische Konstruktion löst eine Empfindung des Rhythmus aus, durch den einzelne und von einer auktorialen Perspektive aus kaum verbundene Bilder und Geschehensmomente in Zusammenhang gebracht werden. 2.4 Rekurrenzen auf der Ebene der Komposition Die Erzählung Celaja zˇizn’ besteht aus zehn kurzen Kapiteln, von denen jedes die Beschreibung eines Zustandes, einer Situation oder eines kleinen Sujets (z. B. von dem Kampf um das Weibchen oder der Geburt der Jungvögel) darstellt. Zu einem Ganzen setzen sich diese Zustände, Situationen und Sujets durch die Anwesenheit der Hauptfiguren und durch das zeitliche Nacheinander zusammen. Diese Voraussetzungen genügen dem Zusammenhalt einer Geschichte jedoch noch nicht. „Das bloße zeitliche Nacheinander begründet allein noch nicht die Kohärenz einer Geschich-

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te,“ hebt Schmid hervor und fügt hinzu, dass jede Geschichte der Kausalität bedarf, diese aber „liegt oft nicht vor oder ist nicht zu erkennen“ (Schmid 1992, 34). Die Abschwächung einer auktorialen Perspektive motiviert in vielen Fällen die Tatsache, dass eine Geschichte keiner kausalen Anordnung folgt oder diese Kausalität nicht erkannt werden kann. Denn es ist die auktoriale Perspektive, welche im Text in erster Linie für kausale Verhältnisse zuständig ist. Die von einer auktorialen Perspektive aus präsentierten kausalen Verhältnisse sind syntagmatischer Natur. Über diese syntagmatischen Verhältnisse hinaus sind im Text jedoch weitere kausale Verhältnisse auszumachen, die nur durch eine Gegenüberstellung verschiedener Kompositionseinheiten wahrgenommen werden können und die also paradigmatischer Natur sind. Schmid sieht diese Kausalverhältnisse als thematische und formale Äquivalenzen an: Die Äquivalenz stellt gegen die Sukzessivität der Geschichte eine unzeitliche Verklammerung, eine Simultaneität von Elementen her, die nicht nur auf der syntagmatischen Achse des Textes, sondern auch auf der Zeitachse der Geschichte oft weit voneinander entfernt sind. Insofern konkurriert die Äquivalenz mit den zeitlichen Verknüpfungen wie Sukzession und Kausalität. Diese lassen sich nicht in Äquivalenz auflösen. Vorher- oder Nachher-Sein, Ursache- oder Folge-Sein sind ontologische Bestimmungen ganz anderer Art als Äquivalent-Sein. Die kategoriale Differenz zwischen der zeitlichen und unzeitlichen Verknüpfung ist unaufhebbar. (Schmid 1992, 39; vgl. auch: Schmid 1998, 213–242)

Man muss jedoch hinzufügen, dass ein wesentlicher Teil der Erscheinungen, die Schmid als „Äquivalenz“ bezeichnet, sich in Bezug auf textlinguistische Parameter als verschiedene Spielarten der Rekurrenz auf der Ebene der Komposition beschreiben lassen. In der Erzählung Celaja zˇizn’ entwickelt sich diese Art der Rekurrenz durch regelmäßige Wiederholungen derselben Motive, die den ganzen Text durchziehen. Jedes dieser Motive kann mit dem russischen Begriff obraz bezeichnet werden. Dieses Wort, das in der russischen Sprache viele Bedeutungen hat, wurde von Potebnja in die literaturwissenschaftliche Sprache eingeführt (Potebnja 1862). Dieser Begriff kennzeichnet eine zumindest dreidimensionale Vorstellung, die beim impliziten Leser mit sprachlichen (oder anderen künstlerischen) Mitteln ausgelöst wird. Obwohl dieser Begriff von Sµklovskij in seinem Aufsatz Iskusstvo kak priem (Sµklovskij 1917) kritisch betrachtet wurde, ist er für die Aufgabe, im Text wiederholte Elemente zu beschreiben, gut geeignet.

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Im Vergleich zu dem von Tomasˇevskij etablierten Begriff motiv hat obraz einen Vorteil: Motiv, so Tomasˇevskij, sei ein Thema des unzerlegbaren Teils eines Werkes (Tomasˇevskij 1925, 662)4. Motiv steht im Zusammenhang mit der Handlung und ist deshalb auch in die Kausalität (motivirovka) mit einbezogen. Obraz (Bild) ist dagegen autonom und im Prinzip von den anderen Textelementen unabhängig. Dies bedeutet, dass motiv sich immer als ein Element der syntagmatischen Achse der Bedeutungen erweist und obraz sich zu sowohl der syntagmatischen als auch der paradigmatischen Achse der Bedeutungen zuordnen lässt. Potebnja schreibt, dass das Verhältnis zwischen dem Bild (obraz) und seinem Inhalt in einem Kunstwerk dem Verhältnis zwischen einer Vorstellung (predstavlenie) und einem Bild oder einem Begriff und einem Wort entspricht (Potebnja 1862, 50). Wenn wir diese These Potebnjas annehmen und in die Sprache der modernen formalen Semantik übersetzen, können wir feststellen, dass auch das Bild (obraz) in die Dimensionen des Bezeichneten (Sinn) und des Bezeichnenden (Bedeutung)5 gespalten ist. Das Verhältnis zwischen Sinn und Bedeutungen beim obraz ist aber im Text davon bestimmt, von welcher Perspektive aus das Bild (obraz) präsentiert wird. Im Weiteren werden wir den in der deutschen Sprache bereits existierenden Begriff „Motiv“ unter Berücksichtigung des Umstandes verwenden, dass seine Auffassung hier eher Potebnjas obraz als Tomasˇevskijs motiv entspricht. Die folgenden Motive wiederholen sich über den gesamten Text hinweg: Der Wechsel der Jahreszeiten Die Kapitel 2, 3, 4, 6, 7 und 8 beginnen mit kurzen Einführungen, die eine Beschreibung der Jahreszeiten darstellen: Kapitel 2: (37) Uøe naroødalasæ vesna. Po otkosam taäl sneg. V lesu i lowinax on stal serym i ryxlym. Täøelym zapaxom kurilisæ sosny. Na dne ovraga prosnulsä

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Es gibt noch andere Bedeutungen des Begriffs motiv, die von Tomasˇevskij erwähnt, aber nicht benutzt werden. Wir gebrauchen den Begriff motiv nur in jenem Sinne, in dem er in Tomasˇevskijs Werk Sjuzˇetnoe postroenie seine Anwendung findet. Nach der Definition Freges.

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klühæ. Dnem prigrevalo solnce. Sumerki byli zelenymi, dolgimi i gulkimi. (395)

Kapitel 3: (38) Zimoü sosny stoäli nepodviønymi, i stvoly ix bureli. Sneg leøal glubokij, smetennyj v nasty, xmuro sklonivπiesä k ovragu. Nebo stlalosæ sero. Dni byli korotki, i iz nix ne uxodili sumerki. (397)

Kapitel 4: (39) V marte vyrastali dni, nahinalo gretæ solnce, burel i taäl sneg, dolgo zeleneli sumerki. (398)

Kapitel 6: (40) Mnogocvetnym kovrom razvertyvalisæ vesna i leto, sgoraä gorähimi ognämi. Sosny ukraπalisæ svehkami i maslänisto paxli. Polyni paxli. Cveli i otcvetali: svirbiga, cikorij, kolokolæhiki, lütiki, räbinki, ivan-da-maræä, hertopoloxi, mnogie drugie travy. V mae nohi byli sinimi. V iüne - zeleno-belymi. (400)

Kapitel 8: (41) Osenæü uletali ptency. Stariki s molodymi prowalisæ navsegda i prowalisæ uøe bezrazlihno. Osenæü πli doødi, voloklisæ tumany, nizko spuskalosæ nebo. Nohi byli tosklivy, mokry, herny. (401)

Obwohl diese Beschreibungen in zeitlicher Reihenfolge präsentiert werden, kann man nicht sagen, dass sie eine zeitliche Sequenz bilden. Dagegen entsteht beim Lesen der Eindruck, dass jede dieser Beschreibungen unabhängig von den anderen ist. Dieser Eindruck geht darauf zurück, dass die Beschreibungen der Jahreszeiten kaum in syntagmatischem Zusammenhang stehen. Der Mangel an syntagmatischer Folgerichtigkeit wirkt wiederum auf die Perspektivierungsweise zurück: Jede Kompositionseinheit wird aus einer Perspektive vorgestellt, deren narrative Kompetenz die Grenze der narrativen Kompetenz der Vögel nicht überschreitet. Die Perspektive der Vögel ist aber zu schwach, um von ihr aus syntagmatische (zeitliche und kausale) Verhältnisse zwischen Kompositionseinheiten zu determinieren. Mit anderen Worten: Vögel können Tatsachen und Empfindungen nur konstatieren, aber nicht analysieren. Die Kompositionseinheit erscheint also als ein autonomes und synchrones Bild. Dafür enthalten die oben angeführten Beschreibungen wiederholte Motive, die durch ihre Gegenüberstellung einen zusätzlichen Sinn hervorrufen und einen paradigmatischen Zusammenhang suggerieren. Dies sind

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in erster Linie das Motiv der Dämmerung und das Motiv des Schnees. Schmid schreibt, dass die Äquivalenz zwei Relationstypen umfasst: Similarität und Opposition (Schmid 1992, 36). Es ist offensichtlich, dass die Wiederholung des Motivs vom Schnee sowohl eine Opposition als auch eine Similarität beinhaltet. Welcher zusätzliche Sinn entsteht aber bei dieser Wiederholung? Die Bedeutung des Wortes sneg im Beispiel (37) wird von der auktorialen Perspektive (die in diesem Fall mit der Perspektive der Figur zusammenfällt) aus gesetzt. Dasselbe gilt für das Wort sneg an sich in den Beispielen (38) oder (39). Die konstante Wiederholung dieses Wortes schafft aber ein anderes Verhältnis zwischen Sinn und Bedeutung: ‚Schnee‘ ist nicht nur der Schnee, sondern ein Zeichen der Nichtumkehrbarkeit der Naturgesetze, das unabhängig von der syntagmatisch aufgefassten Handlung existiert. Ein anderes konstant wiederholtes Motiv in der Erzählung Celaja zˇizn’ ist das Motiv der Wölfe. Es wird jedes Mal scheinbar wie von neuem präsentiert, d. h. ohne Zusammenhang mit seinen vorigen Erscheinungen. Um diesen Zusammenhang nachzuvollziehen ist die auktoriale Perspektive in der Erzählung zu „schwach“. Im ersten Kapitel erscheinen Wölfe als Teil des beschriebenen Waldes: (42) V lesu bylo mnogo volkov. (394)

Im zweiten Kapitel werden Wölfe zu einem Merkmal des Wechsels der Jahreszeiten: (43) Uøe naroødalasæ vesna. [...] Volki pokidali stai, i samki rodili wenät. (395)

Im Weiteren wird das Motiv der Wölfe in Zusammenhang mit dem Leben der Vögel gebracht. Die Folge der verschiedenen Erscheinungen der Wölfe wird im Text eher durch ihre Gegenüberstellung (d. h. paradigmatisch) denn syntagmatisch motiviert: (44) Inogda ego, odinoko sidäwego naverxu, zamehali volki, i kakoj-nibudæ izgolodavπijsä volk nahinal karabkatæsä po otvesu vverx. Samka volnovalasæ i ispuganno klekotala. Samec spokojno glädel vniz svoimi πirokimi, podslepovatymi glazami, sledil za volkom, – kak volk, medlenno, karabkaäsæ, sryvalsä i stremitelæno letel vniz, smetaä soboü komæä snega, kuvyrkaäsæ i vzvizgivaä ot boli. (398)

Es ist auch bemerkenswert, dass das Motiv der Wölfe in einer Metapher seinen Ausdruck findet, die eindeutig von der Perspektive der Vögel aus präsentiert wird:

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(45) Pticy sideli, sbivπisæ v gnezde, priøimaäsæ drug k drugu, htoby sogretæsä, no vse øe moroz probiralsä pod peræä, πaril po telu, zaxolaøival nogi, okolo klüva i spinu. A bluødaüwij svet luny trevoøil, straπil, tohno vsä zemlä sostoit iz odnogo ogromnogo volhæego glaza i poqtomu svetitsä tak straπno. (397)

Der Sinn dieser Metapher ist ebenfalls durch eine Gegenüberstellung der Kompositionseinheiten motiviert, die das Motiv der Wölfe enthalten. Die ganze Erde scheint den Vögeln als ein riesiges Wolfsauge, weil sie Angst vor Wölfen haben, aber dieses kausale Verhältnis ist im Text nicht ausgedrückt. Wölfe werden zu einem Symbol der Natur, dessen Wiederholung zur Entfaltung eines anderen Sujets beiträgt, das unabhängig von der syntagmatischen Entwicklung des oberflächlichen Sujets existiert. Am Ende der Erzählung taucht das Motiv der Wölfe noch einmal auf, um die ganze Geschichte zum Schluss zu bringen: (46) Samec proleøal pätæ dnej na dne ovraga. On uøe nahal razlagatæsä, i goræko, skverno paxnul. Ego naπel volk i sßel. (402)

Auch andere wiederholte Motive sind in der Erzählung zu finden: z. B. das Motiv der Beine oder das Motiv der Tageszeit. Wiederholungen bzw. Rekurrenzen bilden also ein eigenes Sujet, das sich durch die Gegenüberstellung verschiedener phonologischer, lexikalischer, syntaktischer Einheiten sowie Einheiten der Komposition entfaltet. Eine schwache auktoriale Perspektive (d. h. eine Perspektive, deren narrative Kompetenz keine genügende Kapazität besitzt, um diese Einheiten in einen syntagmatischen Zusammenhang zu bringen) bedarf der Rekurrenz als Mittel, ihre Schwäche zu kompensieren. Gleichzeitig wird die Rekurrenz durch die Unfähigkeit dieser schwachen Perspektive, eine Referenz herzustellen, erst ermöglicht. Das zweite („paradigmatische“) Sujet ist ein Sujet über den Wald, die Natur und ein Naturgesetz, das in einem Zyklus aus Geburt und Kampf um Leben und Tod besteht und das keine ethischen Werte kennt. Das erste („syntagmatische“) Sujet ist nur ein konkretes Beispiel, in dem sich dieses Gesetz widerspiegelt. Das syntagmatische Sujet über den verletzten Flügel des Männchens erweist sich also als in ein anderes, ein paradigmatisches Sujet eingebettet. Die auf diese Art und Weise dargestellte und gelesene Geschichte des Männchens und des Weibchens lässt sich nicht als Allegorie auffassen, sondern stellt eine Metapher dar, in der die Nichtumkehrbarkeit des Seins

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und gleichzeitig die Relativität des menschlichen Wissens ihren Ausdruck finden. Es gibt kein Gut und kein Böse, es gibt nur die Natur; es gibt keine ethische Wertung, sondern nur eine Feststellung, aus welcher der implizite Leser selbst Konsequenzen ziehen muss. Dieser „zusätzliche“, weitgehendere Sinn rückt aber nur durch die Abschwächung der auktorialen Perspektive in den Vordergrund, die sich nicht mit einer Person, sondern eher mit einem Weltanschauungssystem assoziieren lässt. 3. Literatur Brown, E. K. 1950. Rhythn in the Novel. Toronto. Browning, G. 1985. Boris Pilnjak: Scythian at a Typewriter. Ann Arbor, Michigan. Dali, S., Montanya, L., Gasch, S. 1928. Manifest Groc. Barcelona. Zit. nach: Manifest Groc. Hrsg. von Fundacio Joan Miro. Barcelona 2004. Eco, U. 1994. Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant. München. Eile, S. 1973. Sπwiatopogla±d powies´i. WrocΩaw. Evan, G. 1980. Pronouns. Linguistic Inquiry 11, 467–536. Forster, E. M. 1927. Aspects of the Novel. London. Groenendijk, J. und Stokhof, M. 1991. Dynamic predicate logic. Linguistics and Philosophy, 14, 39–100. Heim, I. 1982. The Semantics of Definite and Indefinite Noun Phrases. Amherst, MA. Herman, D. 2004. Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative. Lincoln and London. Hodel, R. 2003. Zum Epochenübergang vom Realismus in die Moderne: Korrelation von Metrisierung und Syntax bei Tolstoj und Belyj. ZfSl 48 (1), 13–28. Homberger, D. 2000. Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. Von Dietrich Homberger. Stuttgart. Kamp, H. 1981. A theory of truth and false semantic representation. Formal Methods in the Study of Language. Hrsg. von J. Groenendijk, T. Janssen, M. Stokhof. Amsterdam, 277–322. Klaus, G. 1973. Semiotik und Erkenntnistheorie. München. Lappin, Sh. 2001. An Introduction to Formal Semantics. The Handbook of Linguistics. Ed. by Mark Aronoff and Janie Kees-Miller. Malden, Oxford, 369–393. Lotman, Ju. M. 1981. Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München. Orlickij, Ju. B. 2002. Stich i proza v russkoj literature. Moskva. Potebnja, A. 1862. Poe˙zija. Proza. Sgusˇcˇenie mysli. Poe˙tika. Trudy russkich i sovetskich poe˙ticˇeskich sˇkol. Budapest 1982, 49–60. Sµklovskij, V. 1917. Isskustvo kak priem. Poe˙tika. Trudy russkich i sovetskich poe˙ticˇeskich sˇkol. Budapest 1982, 79–87. Schmid, W. 1992. Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Cµechov - Babel' Zamjatin. Frankfurt am Main u. a.

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VOLKMAR LEHMANN

Der narrative Redetyp und seine Analyse Die Untersuchungen im zweiten Teil der vorliegenden Monographie sind der Ermittlung von mikrostrukturellen Unterschieden zwischen realistischen und modernistischen Erzähltexten von Tolstoj, Turgenev, Belyj und Pil’njak, in geringerem Umfang auch von Cµechov gewidmet. Analysiert wurden die Unterschiede im Rahmen einer allgemeineren Theorie mikrostruktureller Narrativität. Ihr Kern ist das, was hier als narrativer Redetyp bezeichnet wird und sich in narrativen Textpassagen manifestiert. Damit wird eine linguistische Perspektive eingenommen. Der linguistische Gegenstandsbereich der mikrostrukturellen Narrativität sind Textpassagen in den verschiedensten Korpora, von der Kindersprache über Gespräche, Reportagen in schriftlicher und mündlicher Form bis hin zu fiktionalen Erzählungen. Wenn andere Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Psychologie, Theologie oder Pädagogik Erzählungen untersuchen oder produzieren, haben sie ähnliche Gegenstandsbereiche. Demgegenüber wären die Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Narratologie, zumindest idealtypisch, als textuelle Ganzheiten zu bestimmen, die wissenschaftlich in allen ihren Facetten erfasst werden sollen (zur literaturwissenschaftlichen Narratologie vgl. z.B. Sµmid 2003). 1. Der narrative Redetyp 1.1 Das definitorische Merkmal des narrativen Redetyps Unter einem Redetyp verstehen wir die spezifische Verwendung sprachlicher Mittel in einem Textstück, dessen Prädikate eine bestimmte temporale Orientierung besitzen. Die Redetypen sind nicht nur durch ihre temporale Orientierung definiert, die unten genauer erläutert wird, sie tragen auch den Namen der Orientierung: Neben dem narrativen Redetyp unterscheiden wir den sprechzeitorientierten und den omnitemporalen Redetyp. Es wird davon ausgegangen, dass mit dem Kriterium der narrativen Orien-

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Volkmar Lehmann

tierung Textstücke klassifiziert werden können, die intuitiv als typisch für das Erzählen angesehen werden können, und dass außerdem in den Textstücken, die mit diesem Kriterium der narrativen temporalen Orientierung isoliert werden können, weitere Merkmale vorkommen, die als typisch für mikrostrukurelle Narrativität angesehen werden können und nicht zuletzt distinktive narrative Merkmale, d.h. solche, die nur in narrativen Passagen vorkommen. Wenn dies zutrifft, und das wird in Kap. 10 gezeigt, dann würde dies allein schon ausreichen, um den narrativen Redetyp zu konstituieren. Neben diesen Gründen sollen drei weitere genannt werden, die dafür sprechen, einen narrativen Redetyp anhand der temporalen Orientierung zu definieren: 1.) die Tatsache, dass in der Forschung bei der Definition von mikrostruktureller Narrativität, wie immer sie jeweils genannt sein mag, die temporale Orientierung (neben der taxischen Relation) durchweg als spezifisches Kennzeichen für das, was wir den narrativen Redetyp nennen, angesetzt wird, während andere Merkmale wechseln; 2.) die generelle sprachliche und kognitive Relevanz der typologischen Tempusparadigmen; 3.) die fehlende Kumulierung der Grenzen von Textpassagen (s. hierzu die beiden nächsten Abschnitte). Zu 1.) Forschungstradition: Das, was hier mit der narrativen Orientierung erfasst wird, entspricht den in der Literatur verwendeten Begriffen „Vergegenwärtigung“ (Schiller/S. Hamburger 1957, 46), Versetzung in die erzählte Welt, Situationsenthebung u.a. Der damit gemeinte Sachverhalt ist in der Literatur sowohl tempusbezogen als auch bezogen auf Redetypen intensiv behandelt worden (Näheres dazu Weiss 1995 und besonders Wiemer 1997, 1–38). Die stärker auf das Tempus konzentrierte Linie geht zurück auf die Klassiker Reichenbach (1947), mit logischer Orientierung, sowie Hamburger (1957) und Weinrich (1964), die textbezogen arbeiten (zum Russischen vgl. Maslov 1980). Hier und von den Nachfolgern wird, mit verschiedenen Mitteln, das narrative Präteritum (und das Plusquamperfekt) als von der Sprechsituation entfernte zeitliche Lokalisierung konzipiert. Bei den Redetypen werden, wiederum mit unterschiedlicher Terminologie, den sprechzeitorientierten bzw. temporaldeiktischen die narrativ orientierten Textpassagen gegenübergestellt, was letztlich der Dichotomie von Discours und Histoire von Benveniste (1966) verpflichtet ist und Weinrichs besprochener vs. erzählter Welt entspricht.

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Der narrative Redetyp und seine Analyse

In Russland hat in neuerer Zeit Paducˇeva analoge Register postuliert. Sie unterscheidet in der Linie Benvenistes ein deiktisches und ein narratives Register (rezˇim; Paducˇeva 1996, 291ff) analog zu dem, was hier sprechzeitorientierter und narrativer Redetyp genannt wird, mit dem Unterschied, dass bei ihr das Register zur Interpretation (Monosemierung) von sprachlichen Einheiten, vor allem der so genannten Egocentriki (s. Kap. 6), aber auch der Tempora, dient, während hier der Redetyp anhand temporaler Funktion definiert wird. Zu 2.) Typologie: Typologisch gesehen verfügen sehr viele Sprachen über zwei Tempusparadigmen; dabei sind die Tempora mit ihrer jeweiligen Standardfunktion zu betrachten, z.B. das Perfekt mit der Funktion ‚Vorgegenwart’. Diese Aussage beruht vor allem auf Dahls (1985) Untersuchung der Tempus-Aspekt-Systeme von mehr als 60 Sprachen, das in Lehmann (1992a) in ein „allgemeines aktionales Zeitmodell“ umgesetzt wurde. Vgl.: Chronologische Relation:

‚vorzeitig zu tx‘

‚gleichzeitig zu tx‘

‚nachzeitig zu tx‘

Deiktische Tempora:

Perfekt mit ‚Vorgegenwart‘

Präsens mit ‚Gegenwart‘

Futur mit ‚Zukunft‘

Narrative Tempora:

Plusquamperfekt mit ‚Vorvergangenheit‘

Präteritum mit ‚Vergangenheit‘

Tabelle: Die beiden sprachübergreifenden Paradigmen der Tempusfunktionen

In der ersten Zeile der Tabelle ist die chronologische Relation angegeben, die für die Standardfunktion der Tempora der Spalte zutrifft. In der zweiten Zeile befinden sich die Tempora des temporaldeiktischen Paradigmas, in der dritten Zeile die Tempora des narrativen Paradigmas. Für die Funktion ‚narrative Zukunft’ (narrative Nachzeitigkeit, virtuell im Kasten rechts unten) gibt es in den meisten Sprachen keine eigenen Tempusformen, sie wird, wenn überhaupt, meist indirekt ausgedrückt, vgl. im Deutschen: Er bestieg den Zug nach P., wo sich sein Schicksal erfüllen würde. Andererseits gibt es weitere Tempora, wie das für die Vorzukunft, und natürlich viele andere Funktionen zu den genannten Tempora. Da die indogermanischen Sprachen in nahezu allen Sätzen ein Tempus verwenden, muss es sich bei dieser Kategorie um ein ganz zentrales kognitives Ordnungsprinzip handeln. Es erlaubt in der Tat, komplexe Erleb-

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nisse und Erfahrungen zu erfassen, in das Wissen zu integrieren und für andere darzustellen. Dass Tempora in fast jedem Satz vorkommen, hat für die Textanalyse den unschätzbaren Vorteil, fast jedem Satz eine Tempusfunktion und damit einen Redetyp zuordnen zu können. Dieser Zusammenhang zwischen Tempusfunktionen und Redetyp soll nun näher erläutert werden. Der Begriff der temporalen Orientierung besagt, dass unter den temporalen Bezügen, die zwischen der Zeit einer aktionalen Situation (d.h. einer von einem Verb bezeichneten Prädikation) und anderen Zeitintervallen bestehen, ein temporaler Bezug die anderen d o m i n i e r t . Bei den deiktischen Tempusfunktionen dominiert der Bezug zur Sprechzeit. Betrachten wir folgendes Beispiel: (1) Ivan hat Anna vor drei Tagen getroffen und ihrem Mann heute beim Mittagessen mitgeteilt, dass sie nun ihr ganzes Geld abheben will.

Hier gibt es eine ganze Reihe zeitlicher Bezüge des Prädikats hat mitgeteilt. Es ist auf die Sprechzeit bezogen, und daneben gibt es weitere zeitliche Bezüge: zum Treffen vor drei Tagen, zur Mittagszeit des Tages der Sprechzeit, zur Zeit des Geldabhebens, die irgendwann nach der Sprechzeit liegt. Nicht zuletzt aber ist der ganze Sachverhaltskomplex in einen größeren chronologischen Zusammenhang eingebettet, der nicht aus der Äußerung selbst, sondern ihrem Kontext hervorgeht. Der Bezug zur Sprechzeit ist dominant, und zwar deshalb, weil es der Bezug des vom Prädikat hat mitgeteilt getragenen Tempus ist. Wenn wir die Äußerung zu einer narrativen transformieren, ergibt sich auch ein Bezug zur Sprechzeit, nur ist der nicht mehr dominant: (2) Ivan hatte Anna drei Tage zuvor getroffen und teilte ihrem Mann beim Mittagessen mit, dass sie nun ihr ganzes Geld abheben wolle.

Die Sprechzeit ist hier die Zeit, in der der Autor diesen Satz geschrieben hat. Gibt es eine davon unterschiedene Erzählinstanz, so ist es die Zeit, in der diese erzählt. Keines der beiden Zeitintervalle hat im Normalfall für das Verständnis der Erzählung eine Relevanz: Das Präteritum lässt erkennen, dass die Sachverhalte „früher“ stattgefunden haben, aber das kann für den Leser eines Romans ein paar Tage oder ein Jahrhundert zurückliegen. Sind die anderen temporalen Bezüge dominant? Nein, wenn wir ebenfalls von der Funktion des Tempus, des Präteritum, ausgehen. Dominant ist der zeitliche Bezug, der dem entspricht, was in der Literatur als „Vergegenwärtigung“ usw. umschrieben wird. Käte Hamburger (1957, 46) drückt es so aus: „[...] der Gegensatz zu einem Vergangenen verschwindet hinter

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der Bedeutung des Vorstellens“. Wie ein temporaldeiktischer Bezug vom narrativen Kontext überlagert werden kann, zeigt sehr schön das heute in einem aus Thomas Manns „Lotte in Weimar“ zitierten Beispiel von Hamburger (1957, 33): Unter ihren Lidern sah sie noch heute die Mine vor sich. Dominant ist also der Bezug zu dem Zeitintervall, das dem Leser gegenwärtig ist und das ist der bei der Vorstellung der aktionalen Situation ‚Mitteilen‘ aktuelle Jetzt-Intervall. Dieses wiederum ist genau eines aus der im Bewusstsein durchlaufenden Serie von Jetzt-Intervallen im Sinne von Pöppel (u.a. 1987) mit der Dauer von einigen Sekunden, die ich als „Psychisches Jetzt“ bezeichnet und im Zusammenhang mit den narrativen Tempusfunktionen eingehend erörtert habe (Lehmann 1992a). Dass das Psychische Jetzt, als Zeitfenster der inneren Vorstellung einer aktionalen Situation, ein Intervall in einer Serie von gleichartigen Intervallen ist, stellt ein Analogon zur Sprechzeit dar. Auch diese ist ja im Verlaufe eines Gesprächs nicht konstant, sondern bildet eine Serie von Intervallen entsprechend dem Nacheinander der temporaldeiktischen Prädikate. Unter der temporalen Orientierung verstehen wir also den bei der temporalen Lokalisierung einer aktionalen Situation dominanten chronologischen Bezug. Es ist die Funktion, die ein Tempus im Format der Passage hat. Kehren wir zurück zu den Redetypen. Die Gemeinsamkeit der Äußerungen des s p r e c h z e i t o r i e n t i e r t e n R e d e t y p s ist das Merkmal der sprechzeitorientierten Orientierung, der vor-, gleich- und nachzeitige Bezug der aktionalen Situation zur Sprechzeit. Die Relation ‚vor‘, ‚gleichzeitig zu‘ und ‚nach der Sprechzeit‘ impliziert, wie die anderen deiktischen Relationen auch, die Abhängigkeit der zeitlichen Lokalisierung von der Sprechsituation. Das Verständnis per Default einer Äußerung wie Morgen kommt sie missglückt, sobald sie nicht auf den Tag der Sprechzeit bezogen wird. (Dies ist übrigens wichtig im Hinblick auf den omnitemporalen Redetyp.) Vgl.: (3) – Gde Anna? – Ona po‚la k Dolli. Oni, poΩaluj, obsudät povedenie Stepana Arkad´iça. – A gde Dolli? – Ona u sebä, s mal´çikom. „Wo ist Anna?“ „Sie ist zu Dolly gegangen. Sie werden wohl das Verhalten von Stepan Arkad’icˇ besprechen.“ „Und wo ist Dolly?“ „Sie ist in ihrem Zimmer, mit dem Jungen.“

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Die Gemeinsamkeit der Äußerungen des n a r r a t i v e n R e d e t y p s ist das Merkmal, das im vor-, gleich- oder nachzeitigen Bezug der aktionalen Situation zur subjektiven Referenzzeit besteht. Darin besteht die narrative Orientierung (s. Lehmann 2003a). Dazu eine Erläuterung: So vielfältig die Namen für die subjektive Referenzzeit in Grammatiken, in temporallinguistischen oder in narratologischen Theorien auch sein mögen, gemeint ist immer ein Bezugspunkt, der nicht mit der Sprechzeit identisch ist, sondern sich auf die Zeit bezieht, die durch die im Text dargestellten Situationen in der kognitiven Verarbeitung konstituiert wird. Wenn man diese Zeit in der Realität festmachen will, dann ist es der Zeit“punkt“, zu dem das Prädikat mit seinem engeren Kontext rezipiert und verarbeitet wird. Ein Beispiel aus Tolstojs Anna Karenina: (4) Kogda Anna vo‚la v komnatu, Dolli sidela v malen´koj gostinoj s belogolovym puxlym mal´çikom, uΩ teper´ poxoΩim na otca, i slu‚ala ego urok iz francuzskogo çteniä. (AK 1, XIX) ‚Als Anna ins Zimmer trat, saß Dolly mit einem weißköpfigen, molligen, schon jetzt dem Vater ähnlichen Jungen im kleinen Gästeraum und hörte seine Lektion aus dem Französischlesebuch ab.‘

Diese Unterscheidung von zwei Redetypen entlang der Tempusparadigmatik ist weit verbreitet, aber es bleibt das Problem der omnitemporalen Prädikate, z.B. der Anfangssatz von Anna Karenina: (5) Vse sçastlivye sem´i poxoΩi drug na druga, kaΩdaä nesçastlivaä sem´ä nesçastliva po-svoemu. ‚Alle glücklichen Familien sind sich ähnlich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.‘

Hier ist die zeitliche Lokalisierung des Gemeinten nicht abhängig von der Relation zur Sprechzeit. Die Aussage ist als These gemeint, die überhaupt von zeitlichen Bezügen unabhängig ist. Das Präsens hat hier eine Funktion, die nicht unter die Sprechzeitorientierung subsumiert werden kann. Diese Tempusfunktion kann auch nicht zu den narrativen gezählt werden wie das historische Präsens. Zunächst kann dies damit begründet werden, dass dann, wenn das Präsens narrativ aufgefasst wird, eine Übertragung der temporalen Orientierung aus dem Kontext vorliegt. Wäre Tolstojs Behauptung eine These in einem familiensoziologischen Essay, würde man keine Narrativität erwägen. Mathematische Formeln, Gesetze oder Sprichwörter sind ebenfalls temporal nicht lokalisiert und sicher ebenso wenig narrativ. Das eigentliche Argument betrifft aber die temporale Funktion. Das Präsens im Anfang von Anna Karenina ist kein historisches Präsens, das

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ja immer ins Präteritum transformiert werden kann. Und dies führt uns auch zum Kriterium für diese Tempusfunktion, die wir omnitemporal nennen: Omnitemporale Sachverhalte können nicht in zeitlicher Versetzung, aus einer anderen zeitlichen Perspektive, dargestellt werden, da mit ihrer Äußerung der Anspruch erhoben wird, dass sie immer gültig sind. Das ist bei Morgen kommt sie anders. Derselbe Sachverhalt kann zu einer anderen Sprechzeit gefasst werden in Am Dienstag ist sie gekommen. Die narrative Äußerung Erst am Dienstag kam sie nach P. kann bei geändertem Kontext ins Plusquamperfekt gesetzt werden Erst am Dienstag war sie nach P gekommen, und wie erwähnt sind narratives Präteritum und historisches Präsens bei gleich bleibendem Sachverhaltsbezug austauschbar: Alle warteten ungeduldig. Am Dienstag schließlich kommt sie und geht sofort zu K. – Alle warteten ungeduldig. Am Dienstag schließlich kam sie und ging sofort zu K. Wenn das für (5) nicht möglich ist, dann deshalb, weil (5) keine narrative Orientierung besitzt, sondern omnitemporal ist. Da also (5), Definitionen, Gesetze und Gesetzmäßigkeiten usw. weder unter den sprechzeitorientierten, noch unter den narrativen Redetyp fallen, müssen wir als dritten den o m n i t e m p o r a l en R e d e t y p ansetzen. Sein definitorisches Merkmal ist das Fehlen einer bestimmten zeitlichen Lokalisierung des Sachverhalts(komplexes) wie in Pferde sind Säugegtiere oder Zwei mal zwei ergibt vier, d.h. eine omnitemporale Situation ist nur gleichzeitig zu einer beliebig angenommenen Sprech- oder Vorstellungszeit, die Relation der Vor- oder Nachzeitigkeit ist ausgeschlossen. Ein Test für Omnitemporalität ist die Verwendung von Perfekt, Präsens und Futur als nebengeordnete Prädikate mit einem Adverbiale der Funktion ‚immer‘, vgl. Pferde waren immer, sind und werden immer Säugetiere sein. Das Merkmal ‚omnitemporal‘ kann sich auch auf komplexe Äußerungen und Äußerungskomplexe beziehen, die interne zeitliche Relationen aufweisen, z.B. Äußerungen mit interner Sequenzialität wie: Cµto poseesˇ’, to i pozˇnes’. Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Das Tempus omnitemporaler Äußerungen ist prinzipiell das Präsens. Es erscheint, weil das Tempus eine obligatorische Kategorie ist und das Präsens die am wenigsten merkmalhafte Subkategorie. Die temporale Funktionalität omnitemporaler Äußerungen ähnelt der des Singulars für generische Nominalausdrücke. Die genannten temporalen Kriterien gelten für die absolute zeitliche Lokalisierung einer Passage ebenso wie für die kompletive, von einem

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Matrixverb, d.h. von einem Verbum dicendi, cogitandi, sentiendi usw. vorgenommene zeitliche Lokalisierung der Äußerung. Im Falle von Sie sagte: „Morgen komme ich an.“ ist die von sagte denotierte Zeit für den Sachverhalt des kompletiven Satzes relevant, im Falle von Sie erzählte: „... Am nächsten Tag kam ich an und ...“ ist die von erzählte denotierte Zeit für die Zeitlichkeit des erzählten Sachverhalts von nachrangiger Bedeutung, und für die zeitliche Gültigkeit des kompletiv ausgedrückten Sachverhalts in Sie sagte: „Wale sind nun mal Säugetiere.“ ist der Zeitpunkt des Sagens irrelevant.Wir unterscheiden somit drei Redetypen, definiert durch die kontinuierliche Realisierung jeweils einer temporalen Orientierung in einer Textpassage als dem definitorischen Merkmal, erkennbar an bestimmten operativen Kriterien: • den sprechzeitorientierten Redetyp mit der Dominanz der auf die Sprechzeit bezogenen Zeitreferenz, erkennbar an der Änderung des zeitlichen Sachverhalts bei Änderung des Tempus; • den narrativen Redetyp mit der Dominanz der subjektiven („vergegenwärtigenden“, mit der kognitiven Verarbeitung konstituierten) Zeitreferenz und erkennbar an der Austauschbarkeit von historischem Präsens und narrativem Präteritum; • den omnitemporalen Redetyp ohne bestimmte Zeitreferenz, erkennbar an der Möglichkeit, für denselben Sachverhalt Präsens, Perfekt und Futur im gleichen Satz im Skopus eines ‚immer‘Ausdrucks zu verwenden. Das diesen Redetypen entsprechende Format ist die Textpassage. Die temporale Orientierung manifestiert sich in den einzelnen Äußerungen, aus denen die Passage besteht, gegebenenfalls auch in einer isolierten Äußerung. In einer Gesprächs- oder Textpassage wird jeweils genau ein Redetyp realisiert, wobei im aktuellen Gesprächs- oder Textganzen meist ein Redetyp dominiert. Die Beschränkung auf einen definitorischen Parameter für die Redetypen erlaubt eine eindeutige Klassifizierung von Passagen eines Korpus. Bezogen auf den Erzähltext bedeutet dies, dass er aus folgenden Stücken bestehen kann: narrativen Passagen (obligatorisch und überwiegend), sprechzeitorientierten Passagen oder Äußerungen (a. Autoren- oder Erzählerkommentare, b. Redeerwähnungen), omnitemporalen Äußerungen oder Passagen. Der hier vorgelegten Konzeption der Redetypen entsprechen andere Konzeptionen von Texttypen nur teilweise, am ehesten die oben im Zusammenhang mit den narrativen Tempusfunktionen erwähnten von Ben-

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veniste, Weinrich und Paducˇeva. Zolotova (28ff; 398ff) unterscheidet fünf kommunikative Register, die pragmatisch-kognitiv definiert sind (das reproduktive, das informative, das generische, das voluntative und das reaktive), und die bestimmte Aspekt-Tempus-Funktionen präferieren. Daneben nennt sie Varianten, darunter eine narrative und eine deskriptive (33; 440). Diese gelten nicht für das generische Register, das insofern sehr relevant ist, als es ungefähr dem von uns als omnitemporal bezeichneten, in vergleichbaren Konzeptionen nicht angesetzten Redetyp entspricht. Allerdings hatte bereits Necˇaeva (1974) unter ihren drei monologischen Redetypen, dem narrativen, deskriptiven und delibarativen (rassuzˇdenie), letzerem mit der Charakterisierung „atemporal“ das entscheidende Merkmal des omnitemporalen Redetyps zugesprochen. Aspektuelle Funktionen sind, stärker noch als bei Zolotova, die grundlegenden Merkmale der fünf Modes of discourse von Smith (2004): Narrative, Report, Description, Information, Argument mode. Mit der hier vorgelegten Kategorisierung gibt es extensional Parallelen, aber die Klassifizierungsresultate der Passagen sind angesichts der größeren Zahl der Kategorien bei Smith und der zwar benachbarten, aber doch abweichenden Definitonsmerkmale, anders als hier. Die temporale Dichotomie zwischen Sprechzeitorientierung und narrativer Orientierung spielt bei Necˇaeva, Zolotova und Smith eine wichtige, aber nicht mehr die entscheidende Rolle. Dafür ist die Bestimmung der Textkategorien in Richtung auf merkmalshomogene Textpassagen bei diesen Autorinnen ausgeprägt und damit die Übereinstimmung mit unserer, auf nur einer Merkmalskategorie fußenden Definition der Redetypen. Und nur Smith bezieht sich ausdrücklich auf ein bestimmtes Format, das sie ebenfalls Passage nennt.

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1.2 Narrative Passagen Wir beziehen uns bei der theoretischen Erörterung mikrostruktureller Narrativität auf folgende wichtige Formate (Präzisierungen s.u.): • Narrative Äußerungen: Interpunktorische Sätze, deren Prädikat oder Prädikate narrative Orientierung aufweisen. • Narrative Passagen: Textstücke, die aus narrativen Äußerungen bestehen. • Unterbrechung: eine Äußerung mit maximal einem Prädikat, das nichtnarrative Orientierung aufweist, oder ein Textstück, das aus direkter, indirekter oder erlebter Rede im weitesten Sinne besteht. • Erzähltexte: ganze Texte, in denen die narrativen Passagen überwiegen, z.B. Reportagen, Nachrichten, Berichte, Satiren; Biographien, Historiographien, Protokolle; Schilderungen von Tathergängen, z.B. in der Urteilsbegründung; Erlebnisse, Anekdoten, Witze, Lebensläufe. Gehen wir zunächst auf die Eigenschaften von Passagen ein. Textstücke, die im Hinblick auf ein sprachliches Merkmal oder einen Merkmalkomplex homogen sind, bezeichnen wir als P a s s a g e n . So verwendet z.B. auch Smith (2004) wie erwähnt die Passage als Basisformat für ihre „Text-Modes“. Entsprechend der temporalen Orientierung gehen wir von drei Arten von Textpassagen eines bestimmten Redetyps aus: den sprechzeitorientierten, den narrativen und den omnitemporalen. Daneben gibt es andere Arten von Passagen, die durch andere Merkmale, z.B. das Merkmal ‚episodisch‘ oder ‚koreferent‘ definiert sind. Ihnen entsprechen keine Redetypen, sie sind aber für deren Charakterisierung wichtig (s.u.). Ein Vergleich von Erzähltexten verschiedener Epochen unter textlinguistischen Gesichtspunkten setzt die Isolierung vergleichbarer Textstücke voraus. Narrative Prädikate haben die Funktionen ‚Vergangenheit‘, ‚Vorvergangenheit‘ und ‚futurische Vergangenheit‘ und werden im Russischen in der Regel mit dem Tempus Präteritum, daneben mit dem historischen Präsens und Adverbialpartizipien bedient, in anderen Sprachen oder auch im Altrussischen mit den Tempora Aorist, Imperfekt, Plusquamperfekt oder past (narratives Präteritum). Das russische Präteritum ist, anders als z.B. das englische past oder das deutsche Präteritum, extrem multifunktional und bedient u.a. auch die Funktion ‚Vorgegenwart‘, also die Funktion des Tempus Perfekt. Um die narrative Orientierung des Präteritums im Russischen zu ermitteln, braucht es daher zusätzliche kontextuelle Indikatoren, auf die unten ausführlich eingegangen wird.

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Textstücke, in denen die Prädikate narrative Orientierung aufweisen, sind also narrative Passagen. Das Ende einer narrativen Passage ist erreicht, wenn es textorganisatorisch markiert ist, üblicherweise durch das Kapitelende, oder wenn eine nichtnarrative Passage beginnt. In Erzähltexten ist das eine sprechzeitorientierte oder eine omnitemporale Passage, meist im Präsens. Eine narrative Passage kann auch nur unterbrochen sein und nach der Unterbrechung fortgesetzt werden. Dies ist der Fall bei Redeerwähnung im weitesten Sinne, d.h. immer dann, wenn eine kompletive Äußerung einem Matrixverb – einem Verbum dicendi, sentiendi, cogitandi usw. – untergeordnet ist und ein direkter oder indirekter Sprecherwechsel stattfindet. Direkte Rede im engeren Sinne ist die am weitesten verbreitete Erscheinung dieser Art, wobei sie sich zu längeren Dialogen ausweiten kann. Deren Prädikate weisen per Default eine Sprechzeitorientierung auf, d.h. die Funktionen ‚Gegenwart‘, ‚Vorgegenwart‘, ‚Zukunft‘ oder ‚Vorzukunft‘, praktisch immer bedient von Präsens- und Präteritalformen. Die im Rahmen der Redeerwähnung „zitierte“ kompletive Äußerung hat keinen direkt temporaldeiktischen Bezug, d.h. ihr Tempus bezieht sich nicht auf die Zeit der Sprechsituation des Textes, sondern auf die vom Matrixverb bezeichnete Sprechsituation. Wenn die kompletive Äußerung den Bedingungen einer abgeleiteten Deixis entspricht, verwenden wir den Terminus Sprechzeitorientierung als Oberbegriff für diese und die nicht abgeleitete, unmittelbar auf die Sprechzeit des Gesamttextes bezogene, temporaldeiktische Orientierung. Die bei der Redeerwähnung verwendeten Inquit-Formeln (sagte er usw.) führen die narrative Passage weiter. Gleichgültig, ob vom Matrixverb eine einmalige Redeerwähnung, ein Dialog oder ob eine neue, eigene Erzählung eingeführt wird, immer ergibt sich eine Unterbrechung, die Ebene der Rede wird gewechselt, es gelten nicht nur andere Wahrheitsbedingungen, vor allem ändern sich bekanntlich die deiktischen Werte, neben der Raum- und Personendeixis eben auch die temporale Orientierung. Es geht dann prinzipiell um einen anderen Sachverhaltskomplex als es der erzählte ist, in dem diese Äußerung zitiert wird. Wenn eine Unterbrechung durch eine wörtliche Rede aus einer eigenen Erzählung besteht, haben deren Prädikate ihrerseits narrative temporale Orientierung. Wenn dagegen eine Erzählinstanz einen Kommentar abgibt, wird die Unterbrechung schon dadurch indiziert, dass sich die temporale Orientierung ändert. In der Regel hat bei Erzähler- oder Autorenkommentaren das Prädikat dann die Funktion ‚Gegenwart‘ oder eine modale, etwa

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imperativische, Funktion. Das heißt, dass man sich damit auch hier nicht mehr in der narrativen Passage befindet, und eigentlich eine andere, nichtnarrative Passage beginnt. Oft sind solche Kommentare aber sehr kurz, so dass der Begriff Passage gar nicht passt und man einer sprechzeitorientierten Unterbrechung von Erzähler oder Autor gegenübersteht. Wir operationalisieren den Begriff Passage daher in der Weise, dass wir von einer eigenen Passage erst dann sprechen, wenn das Textstück mindestens zwei Prädikate mit gleicher temporaler Orientierung umfasst (näheres unten). Umfasst das Textstück nur ein Prädikat, ist es eine Unterbrechung einer nichtnarrativen Passage, die bei der Analyse ebenso ignoriert wird wie eine Unterbrechung durch eine Redeerwähnung. Das untersuchte Korpus besteht also aus narrativen Passagen in diesem Sinne. Zum Teil enthält es Stücke von Passagen, weil wir Seitenmengen in festem Umfang nach einem willkürlichen Prinzip herangezogen haben, um eine zufällige Auswahl zu erhalten (s. Anhang). 1.3 Narrativität und Sequenzialität Mikrostrukturelle Narrativität ist nicht von Sequenzialität oder Dynamik abhängig. Der folgende Kapitelanfang ist ohne weiteres, zumal die deutsche Übersetzung, als narrativ orientiert zu klassifizieren: (6) Kogda Anna vo‚la v komnatu, Dolli sidela v malen´koj gostinoj s belogolovym puxlym mal´çikom, uΩ teper´ poxoΩim na otca, i slu‚ala ego urok iz francuzskogo çteniä. ‚Als Anna ins Zimmer trat, saß Dolly mit einem weißblonden, molligen, schon jetzt dem Vater ähnlichen Jungen im kleinen Gästeraum und hörte seine Lektion aus der Französischlektüre ab.‘

Die Äußerung enthält keine Sequenz, aber mit der Inzidenz (Eintritt einer Handlung vor episodischem Hintergrund) immerhin eine dynamische Situation. Aber auch wenn der Handlungseintritt weggelassen wird, ist die narrative Klassifizierung immer noch klar: (7) Dolli sidela v malen´koj gostinoj s belogolovym puxlym mal´çikom, uΩ teper´ poxoΩim na otca, i slu‚ala ego urok iz francuzskogo çteniä. ‚Dolly saß mit einem weißblonden, molligen, schon jetzt dem Vater ähnlichen Jungen im kleinen Gästeraum und hörte seine Lektion aus dem Französischlesebuch ab.‘

Faktoren für die Zuerkennung der narrativen Orientierung des Verbs sind hier der aktionale Parallelismus (saß und hörte), der über einen denkbaren Sprechzeitbezug dominiert. Im Deutschen markiert schon das Präteritum die narrative Orientierung. Hinzu kommt vor allem das unmittelbare Ein-

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dringen des Lesers in einen Handlungszusammenhang, bei dem die beiden Hauptprotagonisten, im Unterschied zum kleinen Sohn, nicht eingeführt werden, ebensowenig wie die räumliche Umgebung. Immerhin geben die Prädikate episodische Verläufe wieder. Aber auch stative oder nominale Prädikate können narrative Orientierung vermitteln. Nehmen wir die Beschreibung des Pferdes Fru-Fru von Vronskij: (8) Fru-Fru byla srednego rosta lo‚ad´ i po statäm ne bezukoriznennaä. Ona byla vsä uzka kost´ü; ee grudina xotä i sil´no vydavalas´ vpered, grud´ byla uzka. Zad byl nemnogo svislyj, i v nogax perednix [...] (AK 2, XXI) ‚Fru-Fru war ein Pferd von mittlerer Größe und im Körperbau nicht makellos. Es hatte insgesamt schmale Knochen; obwohl sein Brustkorb stark hervortrat, war die Brust schmal. Das Hinterteil war etwas herabhängend, und an den Vorderbeinen [...]‘ (z.T. wörtliche Übersetzung)

Anders als in den meisten mikrostrukturell ausgerichteten Definitionen von Narrativität ist deshalb in der hier vorgelegten Bestimmung die Sequenzialität weder definitorisches Merkmal mikrostruktureller Narrativität noch ein sonstwie dafür konstitutives Merkmal. Dynamik und Ereignissequenzen sind zwar das typischste und wahrscheinlichste Kennzeichen von Erzähltexten und gehören zu den komplexen Basismerkmalen narrativer Passagen (s. 3.1). Entscheidend für den narrativen Charakter einer Passage ist aber die Dominanz der subjektiven Lokalisierung über die deiktische Lokalisierung der aktionalen Situationen, die mit den Begriffen „Vergegenwärtigung“, „Situationsenthebung“ usw. umschrieben wird. Damit kann erklärt werden, warum der Beginn eines Romans, einer Erzählung, eines Kapitels, der aus einer adynamischen Beschreibung besteht, keineswegs als dem Erzählen fremd, als nichtnarrativ aufgefasst wird. Dass Beschreibungen (auch) Varianten von narrativen Passagen und Erzähltexten sind, soll im folgenden Abschnitt deutlich werden. Trotzdem eignet der mikrostrukturellen Narrativität mit ihrer „epischen“ Perspektive etwas, das der Sprechzeitorientierung und der Omnitemporalität fehlen. Sprechzeitorientierte Äußerungen haben kein Minimalformat, vgl. Komm!; Ja.; Mir egal. Für omnitemporale Äußerungen reicht eine Prädikation, vgl. Der Mensch ist sterblich. Narrative Äußerungen eröffnen dagegen die Perspektive einer mehr oder weniger langen Fortsetzung, die auch Handlungssequenzen enthalten. Und sie sind nicht notwendigerweise sofort in ihrem narrativen Charakter zu erkennen. Im Russischen mit seinem Globalpräteritum, oder wenn das Perfekt auch Erzähltempus ist wie in der süddeutschen oder französischen Umgangsspra-

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che, ist nicht mit jedem beliebigen Satz klar, dass er narrativ orientiert ist. Ohne den Buchkontext könnte ein Satz wie (9) Vsex oficerov skakalo semnadcat´ çelovek. (AK 2, XXV) ‚Es nahmen insgesamt 17 Offiziere am Rennen teil.‘

auch in einer Zeitungsnachricht, die per Default sprechzeitorientiert ist, zu einem Reitwettbewerb erscheinen. Auf der Suche nach solchen Sätzen, die ihre narrative Orientierung nicht selbst zu erkennen geben, habe ich allerdings viele Kapitelanfänge in Anna Karenina angesehen und einige Zeit gebraucht, ehe ich den eben genannten Satz fand. Typisch sind Anfänge wie (10) Odev‚is´, Stepan Arkad´iç prysnul na sebä duxami, vytänul rukava ruba‚ki, [...] (AK 1, III) ‚Als Stepan Arkad’icˇ sich angezogen hatte, parfümierte er sich, zog die Ärmel seines Hemdes straff, [...]‘ (11) Levin vypil svoj bokal, i oni pomolçali. (AK 1, XI). ‚Levin trank sein Weinglas aus, und sie verfielen in Schweigen.‘

Gemeinsam ist fast allen Kapitelanfängen eine durch mehr als ein Verb ausgedrückte zeitliche, sehr oft sequenzielle, Konstellation neben weiteren, oben schon angedeuteten Faktoren, die aber bei Kenntnis des Textes am Ende des oder eines vorangehenden Kapitels so interpretiert werden, dass der Anfangssatz des neuen Kapitels sich als dessen unmarkierte Fortsetzung darstellt. Wir gehen daher davon aus, dass narrative Orientierung ein Mindestformat von zwei Prädikaten erfordert, wobei wir hier sekundäre Prädikate in Form von Adverbialpartizipien mitzählen. Spätestens beim zweiten Prädikat dürfte dann die narrative Orientierung klar sein. Ist dies der – ohnehin eher theoretisch anzunehmende – Fall, hat das erste Prädikat im Globalpräteritum Sprechzeitorientierung und die „Vergegenwärtigung“, die narrative Orientierung, setzt erst mit dem zweiten ein.1 Auf die Identifizierung des Anfangs von narrativen Passagen gehen wir unten noch näher ein.

1

Die Uminterpretation des ersten Prädikats, wenn sich später die narrative Orientierung der Passage herausstellt, wie Appel (1996) es vorschlägt, halte ich nicht für angemessen.

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1.4 Hypothesen zu Passagengrenzen Eine narrative Passage enthält die gemeinsame narrative Orientierung nicht nur als definitorisches Merkmal, sondern auch als Kohärenzfaktor (s. Lehmann 1998). Neben diesem Faktor wirken sich weitere Elemente als Kohärenzfaktoren aus, sei es dadurch, dass sie auf kontextuelle Entitäten verweisen, wie das z.B. anaphorische Pronomina tun, sei es, dass Prädikate die gleiche Funktion einer Kategorie realisieren und so ein Kohärenzeffekt durch funktionale Homogenität entsteht, z.B. durch die episodische Funktion. Wir nennen, wie erwähnt, das Textstück, in dem von Anfang bis Ende eine bestimmte Art der Kohärenz besteht, eine Textpassage, es gibt dann also einerseits narrative oder sprechzeitorientierte Passagen (homogen im Hinblick auf den Redetyp mit der temporalen Orientierung als Kohärenzmerkmal), andererseits episodische Passagen, koreferente Passagen usw. (homogen im Hinblick auf ein anderes Kohärenzmerkmal, solche Passagen können im Hinblick auf die Redetypen heterogen sein). Weitere Parameter, die Passagen fundieren können, sind Chronologie, Skripts und Frames oder Granularität. Die entsprechenden Passagen haben mit ihrem Anfang und Ende Grenzen. Nun können Grenzen mehrerer Passagenarten zusammenfallen, der Anfang eines episodischen Textintervalls kann mit dem Anfang einer narrativen Passage zusammenfallen usw. Die Kumulierung von mehreren Passagengrenzen ergibt eine Art Isoglossenbündel. Je mehr Passagengrenzen zusammenfallen, desto stärker ist die Grenze der Passage markiert. Gelten Anfang und Ende einer Passage für mehrere Arten der Kohärenz, z.B. narrative Orientierung, episodische Lokalisierung und Koreferenz, kann von einer mehrdimensionalen Passage gesprochen werden, im Unterschied zu einer eindimensionalen Passage, die nur durch eine Art der Kohärenz, z.B. die episodische Lokalisierung, zusammengehalten wird. Auch in den Passagen, die durch andere Faktoren als die zeitliche Orientierung zusammengehalten werden, können Unterbrechungen auftreten. Diese enthalten eine Einheit mit alternativem Merkmal und werden in der Analyse ignoriert. Vgl. die Unterbrechung einer episodischen Passage durch ein nichtepisodisches Prädikat: (12) Na tretij den´ posle ssory knäz´ Stepan Arkad´iç Oblonskij – Stiva, kak ego zvali v svete – v obyçnyj ças, to est´ v vosem´ çasov utra, prosnulsä ne v spal´ne Ωeny, a [...] (AK 1, I) ‚Am dritten Tag nach dem Streit erwachte Fürst Stepan Arkad’icˇ Oblonskij – Stiva, wie man ihn in den feinen Kreisen nannte – zur gewohnten Zeit, d.h. um acht Uhr morgens, nicht im Schlafzimmer seiner Frau, sondern [...]‘

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Betrachten wir nun die ersten Textpassagen des 1. Kapitels von Tolstojs Anna Karenina. Links stehen die Parameter der narrativen Kohärenz. Die Passagengrenzen pro Kohärenzmerkmal sind durch fette Vertikalstriche markiert. Deren Kumulierung führt zu mehrdimensionalen Textpassagen. 1. Temporale Orientierung: 2. Koreferenz:

3. Episodizität: 4. Chronologie:

omnitemporal generisch

spezifisch: das Haus Oblonskij nichtepisodisch Ø Sachlage im Haus Oblonskij

5. Skripts / Frames:

Ø

6. Granularität:

Ø (da adjekt. Präd.) + (1. Absatz) 1. Mehrdimension. Textpassage

7. Absatzgrenze:

narrativ spezifisch: Stepan Arkad’icˇ

episodisch Handlungssequenzen Stepan Arkad’icˇ Frame: adliger Aufstehen-Skript Stadt-Haushalt (Teil des Morgen-Skripts) vorwiegend feine Verben

+ (2. Absatz) 2. Mehrdimension. Textpassage

+ (3.-5. Absatz) 3. Mehrdimension. Textpassage

Erläuterung zu den Parametern: 1. Temporale Orientierung: sprechzeit- vs. narrativ vs. omnitemporal orientiert. 2. Koreferenz der Argumente, im weitesten Sinne, also einschließlich aller Arten von partieller Koreferenz. 3. Episodizität: Eine aktionale Situation nennen wir episodisch dann, wenn sie als Bestandteil einer Episode im Sinne eines temporal, lokal und personal unikalen Geschehens aufgefasst wird 2. 4. Chronologie: bezieht sich bei Passagen auf deren temporale Kohärenz und ihre chronologische Einordenbarkeit als ganze.

2

Vgl. z.B. Lehmann (1994), (1999), Hansen (1996). Episoden bestehen im Prinzip aus mehreren verschiedenen Situationen, eine dieser Situationen kann die Sprechsituation sein.

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5. Frame: Die 2. mehrdimensionale Passage ist nur verständlich vor dem Hintergrund des Wissens, woraus ein funktionierender adliger StadtHaushalt besteht. 6. Granularität: Die lexikalische Genauigkeit des verwendeten Verbs. Zusätzlich als typographische Grenze: 7. +: die mehrdimensionale Passagengrenze fällt mit einer Absatzgrenze zusammen. Dies ist die Ausgangslage für die zu Beginn der Untersuchungen gemachten Hypothesen, in denen die Verhältnisse von Kohärenzintervallen auf Erzähltexte verschiedener Epochen bezogen werden. Unter anderem wurden folgende Hypothesen formuliert, die von der allgemeinen Annahme ausgehen, dass der Erzählfluss in realistischen Erzählungen gleichförmiger, „ruhiger“ ist, als in modernistischen: 1. Mehrdimensionale Intervalle sind im Realismus länger als im Modernismus. 2. Mehrdimensionale Intervallgrenzen sind in modernistischen Texten schwächer als in realistischen. 3. Ein modernistisches mehrdimensionales Intervall enthält durchschnittlich mehr Kohärenzintervalle als ein realistisches. Die Untersuchungen an unserem Korpus ergaben keine Bestätigung der Hypothesen 1-3 und generell, dass eine Kumulierung von Passagengrenzen keine unterscheidungsrelevante Eigenschaft der betrachteten Erzähltexte sind. Daraus kann folgender Schluss gezogen werden: Für die Definition von narrativen Passagen sollte nicht versucht werden, neben der narrativen temporalen Orientierung weitere Parameter wie Koreferenz (s. Kap. 8), Episodizität (s. Kap. 9), Granularität (s. Kap. 10) heranzuziehen. Jeder solche Parameter ist geeignet, Eigenschaften narrativer Passagen zu beschreiben, taugt aber nicht als zusätzliches Kriterium neben der temporalen Orientierung, um narrative von nichtnarrativen Passagen abzugrenzen. 2. Distinktive Merkmale des narrativen Redetyps Unter distinktiven Merkmalen von Redetypen verstehen wir formale und funktionale Eigenschaften, die entweder in sprechzeitorientierten oder in narrativen oder in omnitemporalen Passagen vorkommen. Dazu gehört dann definitionsgemäß die temporale Orientierung des Prädikats, darüber hinaus gehören dazu aber auch solche Merkmale, die nur sporadisch vorkommen. Ihr Vorkommen zeigt ebenfalls an, dass der Satz dem jeweiligen

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Redetyp angehört. Sie unterstützen die Einteilung in die Redetypen so wie sie hier vorgenommen wurde. Ein distinktives Merkmal des narrativen Redetyps, das der narratologischen Literatur zu entnehmen ist, besteht in der Darstellung von inneren Situationen, von Ereignissen wie sie erinnerte sich, dass oder von stativen Situationen wie er war sich bewusst, dass ... (s. Hamburger 1957, 39f, sie nennt als Beispiele denken, sinnen, glauben, meinen, fühlen, hoffen; für eine Diskussion s. Janik 2005, Kap 3.4). Nur ein „allwissender Erzähler“ kann derartiges schreiben, und man scheut sich zu sagen, dass er es b e h a u p t e . Für sprechzeitorientierte und omnitemporale Passagen ist diese Redeweise nicht zulässig. In historiographischen Texten markieren sie die Verwendung des narrativen Redetyps (ebd., 81) . Ein syntaktisches distinktives Merkmal für narrative Rede ist der – nach Zolotova et al. (1998, 140) zu deren reproduktiv-narrativen Register gehörige – Infinitivsatz vom Typ Carica — chochotat’ ‚die Zarin – lachen‘ oder Tut on rugat’ menja ‚Da fing er an mich zu beschimpfen‘. Seit langem wird in der Literatur hingewiesen auf die „dramatisierende“ Verwendung von Imperativformen des Typs Titka, kogda my raskulacˇivali, on i n a p a d i na tovarisˇcˇa Davydova; [...] a on v o z ’ m i d a prjamo i p o b e g i (s. Russkaja grammatika, 625). Sie gehören dem narrativen Redetyp an. Die im Folgenden erwähnten distinktiven Merkmale des narrativen Redetyps im Russischen wurden von mir bereits früher im Zusammenhang mit dem Nachweis der deiktisch-narrativen Funktionsopposition des aktiven Präteritums im Polnischen beschrieben (Lehmann 1992b; eine Anwendung auf russische Texte bei Appel 1996). Den distinktiven Merkmalen des narrativen Redetyps fällt im Russischen eine umso größere Aufgabe zu, als dort, wie in den nordslavischen Sprachen überhaupt, die temporale Orientierung im Aktiv nicht formal markiert wird und nur als Tempusfunktion existiert. Denn das so genannte Präteritum bedient neben den Funktionen des narrativen Paradigmas (Vergangenheit, Vorvergangenheit, narrative Zukunft) mit der Vorgegenwart auch eine Funktion des temporaldeiktischen Paradigmas. Zakryl heißt neben ‚schloss‘ und ‚hatte geschlossen‘ auch ‚hat geschlossen‘. Die nichtdefinitorischen distinktiven Merkmale dienen also auch dazu, nachzuweisen, dass diese Funktionen des nordslavischen Präteritums überhaupt im System verankert sind und nicht nur auf unterstellte Interpretationen von außen zurückzuführen sind. (Es sind übrigens Funktionen, die in älteren slavischen Sprachstufen und in südslavischen Sprachen durch die Tempo-

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ra Aorist, Imperfekt und Plusquamperfekt abgedeckt wurden.) Die Parallelen zwischen Funktionen des globalen Präteritums im heutigen Russischen und entsprechenden Tempora in einigen westeuropäischen Sprachen sind in der folgenden Tabelle exemplifiziert, die temporalen Funktionsangaben gelten dabei für Default-Verwendungen in den jeweiligen westlichen Standardsprachen: Russisch

Altruss.

Deutsch

Franz.

‚Vorgegenwart‘:

deiktisches Präteritum nesli

Perfekt nesli sut’

Perfekt haben getragen

passé composé ont porté

‚Vergangenheit‘:

narratives Präteritum nesli

Aorist nesosˇa Imperfekt nesjachu

Präteritum trugen

passé simple portèrent imparfait portaient

Englisch perfect have carried, have been carrying past carried, were carrying

Tabelle: Tempora für ‚Vorgegenwart‘ und ‚Vergangenheit‘ in verschiedenen Sprachen

Für das deiktische Präteritum (Funktion ‚Vorgegenwart‘) ist die isolierte Verwendung der Default, d.h. ohne kontraindizierenden Kontext, insbesondere ohne Bindung an ein anderes präteritales Prädikat, wird ein Präteritum auf die Sprechzeit bezogen. Die Situationen zweier aufeinander bezogener Prädikate werden im Falle der Sprechzeitorientierung nicht als Sequenz usw. verstanden. Ein Beispiel aus der deutschen Standardsprache: A. ist nach Moskau gefahren. Er hat ein Restaurant eröffnet. Hier ist eine bestimmte Reihenfolge der Handlungen nicht erkennbar. Deiktisch sind die Prädikate in (13): (13) – Gde Ωcop Rybakovy? – Oni seli u televizora. – SkaΩi, za kogo boleüt Rybakovy? – Za „Spartak“. – Oni znaüt, çto ”Spartak“ uΩe proigryval v Donecke? „Wo sind die Rybakovs?“ „Sie haben sich vor den Fernseher gesetzt.“ „Von welcher Fußballmanschaft sind sie Fans?“ „Von Spartak.“ „Wissen sie, dass Spartak in Doneck schon einmal verloren hat?“

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Mit der Wortform bolejut ‚sind Fans von’ wird auf eine Situation referiert, die „jetzt“, zur Sprechzeit, zutrifft. Das perfektive Verb seli ‚haben sich gesetzt‘ drückt einen Zustandswechsel aus, es ist deshalb so zu verstehen, dass die Rybakovs jetzt, zur Sprechzeit, vor dem Fernseher sitzen, m.a.W. der neue Zustand nach dem Wechsel besteht noch zur Sprechzeit. Dies ist die Folge der – deiktischen – Bindung dieser Präterita an die Sprechzeit. Auch proigryval ‚hat schon einmal verloren‘ (allgemeinfaktische Funktion) bezieht sich auf die Sprechzeit, da es keine andere chronologische Relation eingeht und entsprechend der oben genannten Bestimmung als Default deiktisch zu interpretieren ist. Deiktische Präterita kommen typischerweise in mündlichen Dialogen bei direkter Anwesenheit von Sprecher und Adressat vor, daneben natürlich auch in schriftlichen Äußerungen, die hiervon abgeleitet sind (wie in Briefen), oder in Texten, die Dialogizität simulieren sollen. Sie werden in der Regel in deiktische Tempora anderer Sprachen übersetzt, ins deutsche Perfekt, englische perfect, französische passé composé usw. Ich betone, dass dies nur eine Korrelation ist und keineswegs immer die Voraussage möglich ist „wenn Dialog, dann deiktisches Präteritum“. Ganz anders das n a r r a t i v e Präteritum. Typisch für das narrative Präteritum ist die Darstellung von Verbkonstellationen im Sinne von Koschmieder (1934), d.h. von Sequenzen (perfektiver + perfektiver Aspekt), von Parallelismen (imperfektiver + imperfektiver Aspekt) und Inzidenzen (Handlungseintritt, perfektiver Aspekt, vor Hintergrund, imperfektiver Aspekt). Im folgenden Textstück sind diese Konfigurationen anhand der Aspekte markiert: (14) Segodnä v dome bolel´wikov cariloipf unynie. „Spartak“ v Donecke proigryvalipf 2 : 0, i Ωenskaä çast´ kollektiva boälas´ ipf daΩe po‚evelit´sä, znaä xarakter glavy semejstva. I tut „Spartak“ zabilpf! Äsnyj golos diktora proiznespf: [...] ‚Heute herrschte im Haus der Fans die Melancholie. Spartak war dabei, in Doneck 2:0 zu verlieren, und der weibliche Teil des Kollektivs fürchtete, sich auch nur zu rühren, da er den Charakter des Familienoberhaupts kannte. Und da schoss (sic!) Spartak ein Tor. Die klare Stimme des Sprechers sprach: [...]‘

Soweit die allgemeinen Hinweise darauf, dass die Funktionen des russischen globalen Präteritums Sprechzeitorientierung und narrative Orientierung haben können. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese funktionale Alternation im System verankert ist. Die dabei angeführten formalen und funktionalen Fakten sind distinktive Merkmale des narrativen Redetyps im Russischen.

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2.1 Formale Merkmale des narrativen vs. sprechzeitorientierten Redetyps Das P a s s i v ist hinsichtlich der Tempora differenzierter als das Aktiv. So können Passivformen auch im Russischen temporale Unterschiede markieren, die im Aktiv morphologisch nicht markiert werden. Der Unterschied deiktisch3 (sprechzeitorientiert) vs. narrativ ist morphologisch markiert, vgl.: (15) (a) Deiktisches Präteritum: 4 Pis´mo spisano. ‚Der Brief ist abgeschrieben (worden).‘ (b) Narratives Präteritum: Pis´mo bylo spisano. ‚Der Brief wurde abgeschrieben.‘

Bei der Konstruktion ohne Kopula wie in (15a) wird die Handlung auf die Sprechzeit bezogen, dabei ergibt sich im Falle des perfektiven Aspekts transformativer Verben ein „Resultativ“: der Nachzustand dieses Ereignisses wird als zur Sprechzeit gegeben verstanden. Dagegen werden die Handlung und der Nachzustand beim narrativen Typ, s. (15b), in einer erzählten Vergangenheit lokalisiert. Deshalb ist die narrative Form, mit Kopula, nicht mit Zeitbestimmungen vereinbar, die eine Erzählung normalerweise ausschließen (neskol’ko minut tomu nazad ‚vor einigen Minuten‘) und die deiktische Form, ohne Kopula, nicht mit narrativen Bestimmungen wie odnazˇdy ‚einst‘. Vgl. (16) und (17) (in der deutschen Übersetzung ergibt sich aus verschiedenen Gründen oft keine Inkompatibilität, u.a. wegen der suppletiven Präterita für das Perfekt bei Hilfsverben und dialektaler Entwicklungen): (16) Deiktischer Kontext: Vot posmotri, ma‚ina dostavlena. (deiktisches Tempus) ‚Sieh mal, das Auto ist geliefert.‘ *Vot posmotri, ma‚ina byla dostavlena. (narratives Tempus) ‚Sieh mal, das Auto wurde geliefert.‘ (17) Narrativer Kontext: (OdnaΩdy zameçatel´naä ma‚ina byla dostavlena v Moskvu. (narrative Tempusform). ‚Einst wurde ein prima Auto nach Moskau geliefert.‘ 3 4

Ich verwende „deiktisch“ bezogen auf Tempusfunktionen, „sprechzeitorientiert“ bezogen auf Äußerungen. Ein russisches deiktisches Präteritum wird im Weiteren mit deutschem Perfekt, ein narratives Präteritum mit deutschem (narrativem) Präteritum übersetzt, auch wenn zwischen beiden Tempora keine vollständige funktionale Äquivalenz besteht.

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*OdnaΩdy zameçatel´naä ma‚ina dostavlena v Moskvu. (deiktische Tempusform) ‚Einst ist ein prima Auto nach Moskau geliefert worden.‘

Der Unterschied zwischen deiktischem und narrativem Tempus äußert sich auch darin, dass zwei benachbarte, kontextuell verbundene Konstruktionen als narrative Sequenz verstanden werden, nicht dagegen zwei deiktische. (18) Ma‚ina byla dostavlena v Moskvu. Ona byla prodana sverx ceny. ‚Das Auto wurde nach Moskau geliefert und über seinen Wert verkauft.‘

Hier wird eine Sequenz von Vorgängen verstanden. Dagegen ist in (19) offen, ob das Auto vor der Überführung oder erst in Moskau verkauft wurde, denn beide Male wird nur die deiktische Retrospektive, die Vorzeitigkeit zur Sprechzeit, ausgedrückt: (19) Ma‚ina dostavlena v Moskvu. Ona prodana sverx ceny. ‚Das Auto ist nach Moskau geliefert (worden). Es ist über seinen Wert verkauft worden.‘

Dass das Passiv-Tempus ohne Kopula und das mit präteritaler Verbform von byt’ sich auf verschiedene Zeitstufen beziehen, zeigt auch die Tatsache, dass sie nicht miteinander kombinierbar sind: (20) *Pis´mo bylo spisano. Potom ono opublikovano v „Literaturke“. ‚Der Brief wurde abgeschrieben. Dann ist er in der „Literaturka“ veröffentlicht worden.‘ (21) *Pis´mo spisano. Potom ono bylo opublikovano v „Literaturke“. ‚Der Brief ist abgeschrieben (worden). Dann wurde er in der „Literaturka“ veröffentlicht.‘

Mit dem kategorialen Unterschied zwischen deiktischem und narrativem Präteritum im Passiv haben wir jeweils auch distinktive Merkmale für den sprechzeitorientierten und den narrativen Redetyp. Die kopulalosen Konstruktionen, das deiktische Präteritum im Passiv, hat mit der kontextbedingten Variante des Zustandspassivs die Funktion ‚Gegenwart‘ und mit der Variante des Vorgangspassivs die Funktion ‚Vorgegenwart‘, als Tempus ist es also ein Präsens-Perfekt. Die Konstruktion mit Hilfsverb hat analog die Funktionen ‚Vergangenheit‘ und ‚Vorvergangenheit‘, das Tempus ist ein Präteritum-Plusquamperfekt. Aus dem Passiv für die Vorgegenwart entwickelt sich gerade im Russischen wie in anderen slavischen Sprachen auf dialektaler Basis ein neues possessives Perfekt (s. Nedjalkov 1983, 53). Vgl.

Der narrative Redetyp und seine Analyse

201

(22) U nas protopleno. ‚Bei uns ist geheizt.‘ (23) U menä rabota napisana. ‚Ich habe die Arbeit geschrieben.‘

Diese den üblichen Pfaden der Grammatikalisierung folgende Herausbildung eines neuen Tempus zeigt wiederum ein Tempus mit bestimmter, deiktischer, Funktion. Auch A d v e r b i a l p a r t i z i p i e n können Merkmale des narrativen Redetyps sein. Für die Standardsprache gilt der Default, dass sie zusammen mit einem Satzprädikat auftreten. Hat dieses die Form des Präteritums, dann ist es in dieser Kombination per Default narrativ orientiert und das Adverbialpartizip mit ihm. Vgl.: (24) Çast´ kollektiva boälas´ daΩe po‚evelit´sä, znaä xarakter glavy semejstva. ‚Ein Teil des Kollektivs fürchtete, sich auch nur zu rühren, da er den Charakter des Familienoberhaupts kannte.‘ (25) Çast´ kollektiva boälas´ daΩe po‚evelit´sä, uznav xarakter glavy semejstva. ‚Ein Teil des Kollektivs fürchtete, sich auch nur zu rühren, da er den Charakter des Familienoberhaupts kennengelernt hatte.‘

Die Adverbialpartizipien znaja ‚wissend’ und uznav ‚erfahren habend‘ sind sekundäre Prädikate, die mit dem primären Prädikat (bojalas’ ‚fürchtete‘) durch den Bezug auf ein gemeinsames Agens (cˇˇast’ kollektiva ‚Teil des Kollektivs’) verbunden sind. Durch diese taxische Verbindung erhalten das primäre, präteritale und das sekundäre Prädikat die narrative Orientierung. Adverbiale sind nicht per se narrativ. Die von ihnen markierte taxische Zeitbeziehung kann auch in Verbindung mit dem deiktischen oder omnitemporalen Präsens auftreten, in Kombination mit dem Präteritum markiert sie an Adverbialpartizip und Hauptprädikat die narrative Orientierung. Explizit nicht narrativ, sondern deiktisch ist aber der Zeitbezug des – im Substandard (Prostorecˇie) absolut verwendeten Adverbialpartizips, z.B. (Zemskaja / Kitajgorodskaja 1984, 85f; die Übersetzungen sind wörtlich): (26) Ty çto raskrym‚i? Xolodno! ‚Wieso bist du geöffnet habend‘ (27) Ä ves´ den´ ne ev‚i// ‚Ich bin den ganzen Tag nicht gegessen habend‘ (28) Ne vidi‚´/ on vypiv‚i// ‚Siehst du nicht/ er ist getrunken habend‘ (29) Ne xodi razdev‚i! ‚Geh nicht ausgezogen habend‘

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Es gibt W o r t s t e l l u n g s t y p e n , die für den narrativen Redetyp stehen und dadurch einem Präteritum narrative Orientierung zuweisen. Distinktives Merkmal des narrativen Redetyps ist die Inversion bei InquitFormeln, dem Satz, der die Redeerwähnung anzeigt: (30) „ ...“ skazal / povtoril / sprosil / kriknul / ... on „ ...“ sagte / wiederholte / fragte / rief / ... er

Sätze mit dem Verb in satzinitialer Position wie (31, 32) mit themaloser aktueller Gliederung (Russkaja Grammatika 1980, 512: nerascˇlenennyj variant) werden als narrativ verstanden, wenn die „expressive“, prinzipiell umgangssprachliche Interpretation ausgeschlossen werden kann: (31) Zazvonil telefon. ‚Das Telefon läutete.‘ (32) Nastupal veçer. ‚Der Abend brach an.‘

Muttersprachler meinen, dass diese Sätze eher in eine Erzählung als ein Gespräch passen, sie erwarten, dass nach diesem Satz weiter erzählt wird: Die genannten formalen Mittel – Passivformen, Adverbialpartizipien, Wortstellung – beweisen, dass es im System des Russischen eine Opposition zwischen sprechzeitbezogener und narrativer Orientierung gibt. Sie lässt sich an formalen Eigenschaften erkennen. Diese formalen Mittel treten jedoch nur sporadisch auf, so dass zu fragen ist, wie es mit den Verwendungen des l-Präteritums steht, bei denen es keine derartigen formalen Anzeiger gibt. Auch hier sind deiktisches und narratives Präteritum deutlich zu unterscheiden, und ich möchte einige operationale und funktionale Fakten anführen, die das zeigen. 2.2 Funktionale Merkmale des narrativen vs. sprechzeitorientierten Redetyps Eine Reihe von Funktionen russischer Präterita sind dem sprechzeitorientierten oder dem narrativen Redetyp zugeordnet. Sie können durch Operationen aufgedeckt werden oder sind direkt in der Äußerung zu beobachten. Ihre Existenz kann als Beweis dafür angesehen werden, dass der Unterschied zwischen deiktischem und narrativem Präteritum auch dort kategorial gegeben ist, wo er nicht formal markiert wird. Sie sind ein Zeichen der Wirksamkeit verdeckter grammatischer Funktionen. T r a n s p o n i e r b a r k e i t : Generell zeigt sich der Unterschied zwischen deiktischem und narrativem Präteritum, wenn wir präteritale Prädikate ins historische Präsens transponieren. Diese Transposition ist nur mit narrativen Präterita, nicht aber mit deiktischen möglich. Wird ein

203

Der narrative Redetyp und seine Analyse

narratives Präteritum durch ein Präsens ersetzt, dann kann das neue Prädikat als historisches Präsens interpretiert werden und es ergibt sich keine Änderung in der temporalen Interpretation. Vgl. z.B.: Narratives Präteritum

≈ Historisches Präsens5

Sem´ä Rybakovyx druΩno sela u ≈ televizora. Vse boleli za «Spartak“. U bolel´wikov carilo unynie. I tut ”Spartak“ zabil! ,Die Familie R. hatte sich friedlich vor den Fernseher gesetzt. Alle hielten den Daumen für Spartak. Bei den Fans herrschte Melancholie. Und da schoss Spartak ein Tor.‘

6

Sem´ä Rybakovyx druΩno sela u televizora. Vse boleüt za Spartak“. U bolel´wikov carit unynie. I tut „Spartak“ zabivaet! ,Die Familie R. hatte sich friedlich vor den Fernseher gesetzt. Alle halten den Daumen für Spartak. Bei den Fans herrscht Melancholie. Und da schießt Spartak ein Tor.‘

Wird dagegen ein deiktisches Präteritum durch ein Präsens ersetzt, dann ändert sich die chronologische Bedeutung nachhaltig: Deiktisches Präteritum

≠ Präsens

Smotri, sem´ä R. sela u televizora. ≠ ,Sieh mal, Familie R. hat sich an den Fernseher gesetzt.‘

Smotri, sem´ä R. saditsä u televizora. ,Sieh mal, Familie R. setzt sich an den Fernseher.‘

Rybakovy boleli za „Spartak“. ≠ ,Die Rybakovs sind Fans von „Spartak“ gewesen.‘

Rybakovy boleüt za „Spartak“. ,Die Rybakovs sind Fans von „Spartak“.‘

Der Unterschied zwischen deiktischem und narrativem Präteritum ist so grundlegend, dass ihm auch andere wohlbekannte Aspektfunktionen zugeordnet werden können. Diese sollen zum Schluss erörtert werden.

5 6

Im Falle der Umwandlung des perfektiven Präteritums ist auch der Aspekt geändert worden, damit sich eine dem historischen Präsens entsprechende Wortform ergibt. Dem Präteritum mit der Funktion ‚Vorvergangenheit‘ (‚hatte sich gesetzt’) entspricht bei dieser Substitution das Präteritum mit der Funktion ‚Vorgegenwart‘, es ist quasi ein historisches Perfekt.

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Chronologische Unbestimmtheit vs. Seq u e n z : Je nach Art der temporalen Orientierung und damit des Redetyps kann einmal – beim deiktischem Präteritum – die Reihenfolge der Prädikate ausgetauscht werden, das andere Mal – bei narrativem Präteritum – nicht: Narratives Präteritum: Dostavili ma‚inu v Moskvu i prodali ee sverx ceny. ‚Man lieferte das Auto nach Moskau und verkaufte es über seinen Wert.‘

Prodali ma‚inu sverx ceny i dostavili ee v Moskvu. ‚Man verkaufte das Auto über seinen Wert und lieferte es nach Moskau.‘

Bei narrativem Präteritum wird im ersten Fall verstanden, dass das Auto n a c h der Lieferung verkauft wurde. Eine Umkehrung der Reihenfolge der Prädikate lässt eine andere Reihenfolge der Handlungen verstehen. Dagegen bleibt bei deiktischem Präteritum offen, ob das Auto vor oder nach der Lieferung verkauft wurde. Zu erkennen ist es daran, dass die Rückfrage, wo das Auto verkauft wurde, bei der sprechzeitorientierten Rede normal erscheint, während mit der narrativen Äußerung die Reihenfolge der Handlungen erschlossen werden kann. Deiktisches Präteritum: – Gde ma‚ina? – Dostavili ee v Moskvu. Prodali ee. – A gde prodali? Zdes´ ili v Moskve?

– Gde ma‚ina? – Prodali ee. Dostavili ee v Moskvu. – A gde prodali? Zdes´ ili v Moskve?

„Wo ist das Auto?“ „Man hat es nach Moskau geliefert. Sie haben es verkauft.“„Wo haben sie es verkauft, hier oder in Moskau?“

‚„Wo ist das Auto?“ „Sie haben es verkauft. Man hat es nach Moskau geliefert.“ „Wo haben sie es verkauft, hier oder in Moskau?“

Der Unterschied ist dadurch bedingt, dass deiktische und narrative Präterita auf verschiedene Weise zeitlich referieren. Im deiktischen Kontext werden die Vorgänge auf die Sprechzeit bezogen und ko-textuell benachbarte perfektive Prädikate nicht im Sinne einer Sequenz interpretiert. Bei narrativem Kontext wird die Abfolge von perfektiven Prädikaten ikonisch als Sequenz interpretiert, entsprechend dem narrativen Default „perfektiver Aspekt + perfektiver Aspekt –> Sequenz“. Diesen Unterschied haben wir bereits im Zusammenhang mit dem Passiv kennen gelernt, dort entsprach dem Funktionsunterschied auch ein morphologischer Unterschied. Hier im Aktiv wird der gleiche Effekt

Der narrative Redetyp und seine Analyse

205

durch den jeweiligen Kontext ausgelöst. Wenn ein solcher Kontext diese verschiedenen Kategorien des Prädikats auslösen kann, dann ist das ein Symptom dafür, dass die kategoriale Unterscheidung deiktisch vs. narrativ unabhängig von der morphologischen Form grammatisch wirksam ist, dass verdeckte Kategorien bestehen. Allgemeinfaktische vs. progressive Aspektf u n k t i o n : Eine ähnlich gravierende funktionale Opposition besteht bei der Verwendung von imperfektiven Verben. Als Funktion der imperfektiven Verben in narrativem Kontext erscheint – neben der iterativen und stativen – die progressive Funktion (‚episodischer Verlauf’), die sich deutlich manifestiert in Parallelismen wie den folgenden: (33) carilo unynie ..., „Spartak“ proigryval ..., Ωenskaä çast´ kollektiva boälas´ ... ‚es herrschte Melancholie ..., „Spartak“ war dabei, zu verlieren ..., der weibliche Teil des Kollektivs fürchtete ...‘

Solche Parallelismen sind (ebenso wie die Sequenzen) im sprechzeitorientierten Redetyp mit seinem deiktischen Präteritum ausgeschlossen. Hier hat der imperfektive Aspekt neben der iterativen und stativen Funktion die so genannte allgemeinfaktische Funktion. Mit ihr wird eine Situation isoliert, außerhalb einer episodischen Relation bezeichnet: (34) „Spartak“ v Donecke uΩe proigryval. ,Spartak hat schon einmal in Doneck verloren.‘ (35) Diktor proiznosil takie slova? ‚Der Sprecher hat derartige Wörter ausgesprochen?‘ (36) Nu, çto s va‚im novym forvardom? On uΩe zabival? ‚Also, was ist mit eurem neuen Stürmer? Hat er schon mal ein Tor geschossen?‘

Der Bedeutungsunterschied ist markant. Während im Falle der progressiven Funktion die Situation zur narrativen Referenzzeit, der Zeit der subjektiven Vorstellung, noch nicht abgeschlossen ist, wird die Situation im deiktischen Präteritum vollständig erfasst. Bezeichnet das Verb einen Zustandswechsel oder den Eintritt eines Effekts, so ist im narrativen Präteritum mit progressiver Funktion der neue Zustand noch nicht eingetreten. Bei „Spartak“ proigryval 2:0 ‚Spartak war dabei, 2:0 zu verlieren‘ hat Spartak noch keineswegs verloren, ist der Effekt der Situation noch nicht eingetreten. Im Falle des deiktischen Präteritums mit der allgemeinfaktischen Funktion in (34) wird gerade zum Ausdruck gebracht, dass das Verlieren von „Spartak“ eine Tatsache ist.

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Auch diese Differenz lässt sich auf den oben erläuterten Unterschied zwischen deiktischer und narrativer Funktion zurückführen. In der Perspektive der Gleichzeitigkeit mit der Referenzzeit, die beim narrativen Präteritum die Zeit der inneren Vorstellung ist, wird der Vorgang als im Verlauf befindlich und damit als noch nicht abgeschlossen vorgestellt. In der Retrospektive des deiktischen Präteritums, also bei Vorzeitigkeit zur Sprechzeit, wird auf den ganzen Vorgang zurückgeblickt, er wurde vor der Sprechzeit abgeschlossen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass in diesem Abschnitt über Funktionen von Prädikaten mit l-Präteritum gesprochen wurde. Die genannten Funktionen treten auch bei anderen Tempora in anderen Konstellationen auf. So gibt es die progressive Funktion natürlich auch in Verbindung mit der Funktion ‚Gegenwart‘ des imperfektiven Präsens. Wir können jedoch als bestätigt ansehen, dass im System des heutigen Russischen der Unterschied zwischen narrativer Orientierung und Sprechzeitorientierung besteht, sei es, dass dies formal dingfest gemacht werden kann, sei es, dass es anhand des Kontextes erschlossen wird. 2.3 Zur Identifizierung narrativer Passagen Oben ist schon darauf hingewiesen worden, dass narrative Passagen nicht unbedingt von Anfang an zu erkennen sind. In den beiden vorangegangenen Abschnitten sollte zunächst nur nachgewiesen werden, dass die narrative Orientierung von aktionalen Situationen auch im Tempussystem und weiteren Bereichen des Russischen strukturell verankert ist. Wie die narrative Orientierung einer Passage in der Textanalyse festzustellen ist, wurde dabei noch nicht vollständig erkennbar. Immerhin können die angeführten sprachlichen Fakten gleichzeitig als Kriterium für die Isolierung narrativer und sprechzeitorientierter Vorkommen im Text genutzt werden. Häufig spielt aber der Kontext die entscheidende Rolle bei der Identifizierung der jeweiligen Funktion des russischen globalen Präteritums. In diesem Abschnitt sollen deshalb einige Vorschläge gemacht werden, wie narrative von sprechzeitorientierten Passagen unterschieden werden können. Auf omnitemporale Passagen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Generell soll der „Kontinuitäts-Default“ gelten. Er lautet: Ist in einer Äußerung eine sprechzeitorientierte, narrative oder omnitemporale Orientierung festgestellt, dann haben die folgenden Sätze per Default die glei-

Der narrative Redetyp und seine Analyse

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che Orientierung. Abgesehen von Unterbrechungen wird der Default erst dann revidiert, wenn eine andere temporale Orientierung indiziert wird und damit ein anderer Redetyp einsetzt. Unterbrechungen z.B. durch wörtliche Rede oder sprechzeitorientierte Kommentare werden dabei nicht berücksichtigt. Wie oben erörtert, werden Äußerungen mit nichtnarrativer Orientierung ignoriert. Der Kontinuitäts-Default verengt das Problem der Identifizierung der Redetyp-Passage somit auf die Bestimmung der Orientierung am Anfang einer Passage. Und darauf konzentrieren sich die Kriterien für die Identifizierung. Letztlich geht es bei der Bestimmung des Redetyps der Passage um einen Abgleich von Defaults. Eine erste, grobe Eingrenzung erfolgt anhand allgemeiner Defaults, vor allem der Defaults der Diskursart und der personalen, lokalen und temporalen Referenz. Für die Diskursart und eine erste referenzbezogene Zuordnung gilt: • Gespräche (Dia- / Polyloge) sind per Default sprechzeitorientiert. • Monologische Texte sind per Default narrativ oder omnitemporal orientiert. • Äußerungen mit spezifischer Referenz sind per Default sprechzeit- oder narrativ orientiert, solche mit generischer Referenz sind per Default omnitemporal orientiert. • Deiktische spezifische Referenz auf Personen und Orte tritt per Default in sprechzeitorientierten Passagen auf. Es handelt sich um relativ schwache Defaults. Sie können leicht durch kontraindizierende Angaben revidiert, aber auch durch weitere Angaben spezifiziert und damit bestätigt werden. Der Default zur monologischen Diskursart z.B. kann durch Hinweise auf Genre bzw. Textsorten wie Roman v trech knigach oder einen Untertitel wie Fel’eton spezifiziert bzw. durch kontraindizierende Angaben wie Nachricht oder Mitteilung auf einer allgemeinen Ebene revidiert werden. Speziellere Merkmale sind z.B. Formeln wie Zµili da byli ... ‚Es war einmal ...‘. Das folgende Originalgespräch enthält eine sprechzeitorientierte Gesprächspassage mit dem kontraindizierenden Prädikat rasskazˇi : (37) (voran geht ein Gespräch in einer Arbeitspause, zunächst über die Kaffemaschine, Kaffeesorten u. ä.; RRRT, 88f) [...] N. Nu-ka, rasskaΩi pro poxod// C. Ugu// Was// Kofe zdorovo sol´ü posypat´// Snaçala mne ne ponravilos´ ... N. (Ras?)skaΩi / na kakoj den´ vy sobralis´? C. Nu vot// Zaçit// Vy‚li my utrom// Nu doexali do Älty na avtobuse.

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A. [...] N. Net / nu na trollejbuse ili na avto...? C. Na avtobuse// Do Älty/ prämo ot Nikitskogo/ my Ωili v Nikitskom sadu// I ot Nikitskogo/ doexali do Älty na avtobuse// Nu tam pozavtrakali/ i seli na avtobus baxçisarajskij// On idet do Baxçisaraä [...] ‚[...] N. Erzähl doch über den Ausflug// C. Ja// gleich// es ist gut, Kaffee mit Salz zu bestreuen// anfänglich gefiel es mir nicht ... N. Erzähl/ an welchem Tage habt ihr euch aufgemacht? C. Also// das heißt// morgens sind wir rausgegangen// also nach Jalta sind wir mit dem Bus gefahren. A. [...] N. Nein/ also mit dem Trolleybus oder Bus ... C. Mit dem Bus// bis Jalta/ direkt zum Nikitskij/ wir haben am Nikitskij Garten gewohnt// und von Nikitskij bis Jalta sind wir mit dem Bus gefahren// also dort haben wir gefrühstückt und uns in den Bachcˇisaraj-Bus gesetzt// Er fährt nach Bachcˇisaraj [...]‘

Die Erzählung wird hier und noch öfters unterbrochen, durch sprechzeitorientierte Gesprächsbeiträge anderer oder der Erzählenden selbst (s. letzter Satz des Ausschnitts). Es ist trotzdem ohne weiteres zu erkennen, welche Äußerungen narrative Passagen des gesamten Erzählstrangs in diesem Gespräch bilden. Grundlage dafür ist die personale, räumliche und zeitliche Koreferenz. Das ‚wir‘ in Vysˇli my utrom bezieht sich nicht auf die Gruppe, die da in der Mittagspause zusammen sitzt, ebenso wenig wie das ‚morgens‘ (utrom) und das ‚gingen raus‘ (vysˇli) auf die Zeit und den Ort des Gesprächs. Alle drei Referenzen verweisen auf eine andere Situation, als auf die des Gespächs. Die Referenzpersonen bleiben auch in den nächsten Abschnitten die gleichen und die Ortswechsel folgen, unterstützt durch die Angabe des Transportmittels, einem geographischen Zusammenhang. Personen, Raum und Zeit indizieren, dass es sich um Sachverhalte handelt, die jenseits der Gesprächssituation anzusiedeln sind, die der Gesprächssituation enthoben sind, die narrative Orientierung haben, da sie als spezifisch und damit per Default als nicht omnitemporal zu erkennen sind und nicht in einem referenziellen Zusammenhang mit der Sprechsituation stehen. Aus der personalen und räumlichen Kohärenz ist auch der zeitliche Zusammenhang der Situationen abzuleiten. Die zeitliche Spezifizierung dieses Zusammenhangs übernimmt eine Reihe von Faktoren, darunter der Aspekt (s. Lehmann / Hamburger Studiengruppe 1993). Die Tempusmarkierung trägt im Russischen nichts dazu bei, sie unterstützt nur – in Verbindung mit dem Kontinuitäts-Default – die temporale Kohärenz der narrativen Passage und sie lokalisiert den gesamten Sachverhaltskomplex in

Der narrative Redetyp und seine Analyse

209

einer Zeit vor der des Gesprächs. Aber diese temporale Lokalisierung vor der Sprechzeit ist nicht dominant, wie es die Lokalisierung der Sachverhalte der sprechzeitorientierten Äußerungen ist: rasskazˇi / ne ponravilos’ ‚erzähl / hat mir nicht gefallen‘. Ihr zeitlicher Bezug ist die Gesprächssituation, andere Referenzzeiten kommen nicht in Frage. Dagegen dominiert in den narrativen Passagen der Bezug zur Zeit der Rezeption, d.h. zur Verarbeitungszeit, dem „Jetzt“ der Vorstellung des Geschehens. „Jetzt“ sind Sprecherin und Hörer mit der Erzählung beim Aufbruch, „jetzt“ sind sie bei der Ankunft in Jalta, usw. Dieser Serie aufeinander folgender kognitiver Momente des psychischen Jetzt entspricht sprachlich jeweils ein implizites ‚und dann‘. (Auch in Direktreportagen dominiert der zeitliche Zusammenhang des dargestellten und vom Hörer verfolgten Geschehens den deiktischen Zeitbezug; eine spätere Ausstrahlung der Reportage ändert an der zeitlichen Verortung nur die Tatsache, dass keine LiveÜbertragung mehr vorliegt, der narrative Charakter der Reportage bleibt unberührt). Die Hauptlast der Identifizierung der Narrativität einer Passage trägt, wie in Lehmann / Hamburger Studiengruppe (1993) gezeigt wurde, eine Kombination verschiedener Faktoren, deren Konfiguration jeweils wechselt, die aber durchaus in die Form allgemeiner Regularitäten gebracht werden kann. Der stärkste Faktor, vor allem bei der Darstellung sequenzieller Dynamik, ist die „natürliche Chronologie“, die auf dem Wissen von Skripts, Sachverhaltslogik, enzyklopädischen Fakten u.ä. beruht. Eine relativ geringe Rolle spielen Tempora und Zeitangaben in der Form von Adverbialen oder Nebensätzen. Gehen wir zum Schluss kurz auf die Rolle von temporalen Adverbialen für die Identifizierung des Redetyps ein. Auch temporaldeiktische Adverbiale wie vcˇera ‚gestern‘, tri goda tomu nazad ‚vor drei Jahren‘, pervogo maja ‚am ersten Mai‘ (ohne Jahresangabe) odnazˇdy ‚einst‘ oder von der Sprechzeit unabhängige zeitliche Lokalisierungen wie pervogo maja 2000 goda ‚am ersten Mai 2000‘ sind nicht per se Indikatoren für den sprechzeitbeogenen oder narrativen Redetyp. Sie mögen im Englischen das narrative Präteritum (past) fordern, im Deutschen können sie auch mit dem Perfekt verbunden sein, vgl. ich bin gestern / vor drei Jahren hierher gekommen. Da im Russischen das Präteritum im Aktiv keinen Hinweis auf die temporale Orientierung gibt, erscheint es am sinnvollsten, einen allgemeinen schwachen Default anzunehmen, der bei deiktischen Zeitangaben Sprechzeitorientierung und bei absoluten Zeitangaben narrative Ori-

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entierung ansetzt. Er kann mit dem Default der Diskursarten kombiniert und von weiteren Faktoren bestätigt oder revidiert werden. Insgesamt gesehen dürfte das Erkennen von sprechzeitorientierten und narrativ orientierten Passagen relativ sicher erfolgen. 3. Basismerkmale und Varianz des narrativen Redetyps 3.1 Basismerkmale des narrativen Redetyps Die definitorischen Merkmale der Redetypen gehören einem sprachlichen Parameter, dem der temporalen Orientierung, an. Ein derartiger sprachlicher Parameter ist eine Variable für mehrere, alternative Werte. Das sind hier die Merkmale der sprechzeitbezogenen, narrativen und omnitemporalen Orientierung des Prädikats. Damit kann prinzipiell jede Äußerung und jede Textpassage einem bestimmten Redetyp zugeordnet werden. Daneben haben die Redetypen und Textpassagen weitere, mehr oder weniger typische Eigenschaften. Neben dem definitorischen Merkmal der temporalen Orientierung und mit den erwähnten distinktiven Merkmalen sind daher weitere Parameter für die Charakterisierung der Redetypen bzw. von Passagen relevant. Deren Merkmale können gegebenenfalls auch distinktiven Charakter haben. Einige dieser Parameter haben grob gesagt eher textorganisatorische Funktion, andere sind eher der Darstellung der Sachverhalte zuzuordnen, weitere Parameter sind nicht auszuschließen, z.B. Assertion (Basismerkmal) und Negation. Zu den textorganisatorischen Parametern zählen wir die Illokutionen, die Informationsstruktur und die Redeerwähnung im weitesten Sinne, zu den Darstellungsparametern v.a. die oben schon erwähnten Parameter der Situationstypen (aktionale Gestalt), Episodizität, Referenzarten, taxische Relationen, Evidentialität einschließlich Perspektive sowie referenzielle Konkretheit und Granularität. Mit diesen Parametern können einerseits Unterschiede zwischen den Redetypen und andererseits bezogen auf einen Redetyp dessen Varianten beschrieben werden. Letzteres soll hier bezogen auf die Darstellungsparameter näher erläutert werden. Wir verwenden dafür den Begriff des Basismerkmals. Ausgehend von einem zu definierenden narrativen Basismodus können Varianten bestimmt werden, die sich bezüglich bestimmter Merkmale vom Basismodus entfernen. Nehmen wir ein Beispiel für eine Äußerung, die dem narrativen Basismodus entspricht und eines, für die dies nicht gilt:

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(38) Ona podala ruku i bystrym, uprugim ‚agom pro‚la mimo ‚vejcara i skrylas´ v karete. (AK, 2, VII) ‚Sie reichte ihm die Hand und eilte mit schnellen, elastischen Schritten am Portier vorbei und verschwand in der Equipage.‘

Die hier dargestellten aktionalen Situationen sind so beschaffen, dass der Leser sie sich konkret, filmartig, vorstellen kann. Es könnte auch die Beschreibung dessen sein, was der Sprecher wahrnimmt, d.h. es besteht Wahrnehmungsäquivalenz. Das folgende Textstück aus dem anschließenden Kapitel entbehrt einer solchen konkreten Vorstellbarkeit: (39) Vsü Ωizn´ svoü A. A. proΩil i prorabotal v sferax sluΩebnyx, imeüwix delo s otraΩeniem Ωizni. I kaΩdyj raz, kogda on stalkivalsä s samoü Ωizn´ü, on otstranälsä ot nee. (AK 2, VIII) ‚Sein ganzes Leben hatte A. A. in dienstlichen Sphären gelebt und gearbeitet und mit der Widerspiegelung des Lebens zu tun gehabt. Und jedes Mal, wenn er auf das Leben selbst stieß, entfernte er sich von ihm.‘

In diesem Beispiel geht die Entfernung vom Basismodus zunächst auf die grobkörnigen Verben (‚lebte und arbeitete in amtlichen Sphären‘) und das Merkmal ‚nichtepisodisch‘ (‚jedesmal wenn‘) zurück. Zum anderen referieren die Argumente auf ideelle Entitäten: Die „Dienstsphären“ sind ideell (in der traditionellen Logik: „rational“; im Unterschied zum Beispiel zu einer konkreten Entität wie dem dienstlichen Schreibtisch, den man wahrnehmen und sich also konkret vorstellen könnte), „das Leben selbst“ bezieht sich ebenfalls auf eine ideelle, nicht beobachtbare Entität. Den Argumenten für diese ideellen Referenzobjekte entsprechen ideelle aktionale Situationen, sei es als Standardbedeutung (‚lebte‘), sei es als semantisch abgeleitete Bedeutung (‚entfernte sich‘), sei es als kontextuell bedingte Variante. Da für die Beschreibung der Varianz des narrativen Redetyps viele, scheinbar disparate Parameter heranzuziehen sind, ist es angebracht, ein gemeinsames, allgemeines Kriterium anzusetzen. Als Kriterium für den narrativen Basismodus soll die „Illusion der Präsenz“ dienen. Die Illusion der Präsenz sehen wir als die Grundlage dessen, was mit Begriffen wie „Vergegenwärtigung“ erfasst werden soll. Dieser Begriff ist zugleich die kognitive Grundlage der narrativen Tempora Präteritum (past), Imperfekt oder Aorist (passé simple) und der entsprechenden Tempusfunktion der slavischen Sprachen. Um die Illusion der Präsenz als Kriterium für den narrativen Basismodus einsetzen zu können, muss dieser Ausdruck wörtlich und damit in einem sehr engen Sinne verstanden werden, und zwar als ein kognitiver

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Prozess, bei dem die Produkte von Wahrnehmungsprozessen reproduziert werden. Dies entspricht dem, was seinerzeit als „innere Vorstellung“ konkreter Sachverhalte diskutiert wurde. Die Bedingung für den narrativen Basismodus ist deshalb die „Wahrnehmungsäquivalenz“. Sie soll als Operationalisierungsprinzip angewendet werden: Der narrative Basismodus ist ein Bündel von Basismerkmalen narrativ relevanter sprachlicher Parameter. Als Basismerkmale bezeichne ich diejenigen Werte eines Parameters, die der direkten Wahrnehmung entsprechen. Es sind Merkmale, die am wenigsten Abstraktionen und Ideationen ausgesetzt waren und daher konkrete innere Vorstellungen von aktionalen Situationen und Eigenschaften am besten unterstützen. Im folgenden Schema wird jeweils das Basismerkmal der Darstellungsparameter aufgeführt. Die Parameter sind z.T. schon erwähnt worden 7 und werden entweder in den Kapiteln dieses Bandes erläutert oder sind als linguistische Kategorien geläufig:

7

Zur Aktionalität vgl. Lehmann (1999), dort weitere Literatur. Eine kurze Erläuterung der Situationstypen, die durch ihre aktionale Gestalt definiert sind (mit Beispielen im Präteritum): E r e i g n i s : einphasige Situation. Die Beschreibung der Prädikatsbedeutung trifft auf genau eine Phase und nur diese zu. Daher kann die Situation nicht verlängert oder verkürzt werden. Ereignisse sind zählbar, episodisch oder nichtepisodisch, Beispiele im Präteritum: He drew a circle. Sie setzte sich. Er sprang in die Luft. Er vergaß zu .... Er kam am Abend. Sie verloren eine Stunde. (Diese Beispiele werden als episodisch verstanden, bei Hinzufügen von oft, jeden Abend usw. würden sie als nichtepisodisch verstanden). V e r l a u f : mehrphasige Situation. Die Beschreibung der Prädikatsbedeutung trifft auf alle Phasen der Situation zu. Daher könnten die Phasen vermehrt oder verringert werden. Verläufe sind zählbar, episodisch oder nichtepisodisch, Beispiele: Sie schlief gerade. She was sleeping. Er hörte dabei Musik. Während sie in der Zeitung las, .... Sie waren am Abwaschen. Sie waren dabei zu gewinnen. (Diese Beispiele werden als episodisch verstanden, bei Hinzufügen von immer wenn, jeden Abend usw. würden sie als nichtepisodisch verstanden). S t a t i v e S i t u a t i o n : Situation ohne Phasen. Die Beschreibung der Prädikatsbedeutung trifft auf die Situation als ganze zu, daher könnte sie verlängert oder verkürzt werden. Stative Situationen sind nicht zählbar und nicht episodisch. Beispiele: Sie liebte Musik. Butter kostete 1 DM. She knew that ..., (*She was knowing that ...). Das Denkmal stand im Zentrum. Zur Konkretheit vgl. Lehmann (2003b), Mende (2003). Zur Kategorienebene vgl. Taylor (1995, 48ff) usw., dort weitere Literatur. Zur Referenz vgl. Lyons (1980,187 ff.)

Der narrative Redetyp und seine Analyse

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Schema: Die Basismerkmale der wichtigsten Parameter im narrativen Redetyp

Bei wahrnehmungungsäquivalenter Situationsdarstellung wie in (38) sind alle Basismerkmale zugleich gegeben. Ein Prädikat im Basismodus ist also ein episodisches, subjektiv gleichzeitiges, konkretes, feinkörniges Ereignis einer basic-level-Kategorie in aletischer Modalität und mit spezifischen Partizipanten. In einem Textstück können jeweils einzelne Merkmale eines Parameters aus dem Bündel herausgenommen und durch alternative Merkmale desselben Parameters ersetzt sein, z.B. kann im Parameter aktionale Gestalt das Merkmal ‚Ereignis‘ (einphasige Situation) durch das Merkmal ‚Verlauf’ (mehrphasige Situation) ersetzt werden. Jede Ersetzung eines Basismerkmals führt zu einer Entfernung vom Basismodus.

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Das Verständnis der Parameter und ihrer Basismerkmale wird erleichtert, wenn die Basismerkmale durch alternative Werte des gleichen Parameters (der gleichen Kategorie) ersetzt sind. In den folgenden Beispielen erscheinen jeweils in mehr oder weniger freien Abwandlungen von Satz (38) alternative Merkmale der Parameter: Prädikate: • Stative Situation (aktionale Gestalt): Sie wusste, wie man die Hand reicht. • Parallel (Chronologie): Sie hielt seine Hand und blickte in die Ferne. • Nicht episodisch (Episodizität): Sie reichte ihm immer die Hand. • Ideell (“rational”) (referenzielle Konkretheit): Sie vergaß ihn augenblicklich. • Grobkörnig (Granularität): Sie machte mit ihm Schluss und zog um nach Tula. • Konditional (Modus): Wenn sie ihm die Hand gereicht hätte, wäre alles gut geworden. • Argumente: • Oberbegriff (Kategorienebene): Sie reichte diesem Menschen die Hand und eilte fort. • Indefinit (Referenz): Eine Frau reichte ihm die Hand. Die genannten Merkmale sind Eigenschaften einzelner Prädikate und insofern einfache Basismerkmale. Von der Illusion der Präsenz können auch komplexe Basismerkmale abgeleitet werden. Die wohl prominentesten sind die ikonische Wortfolge (ein Fall der Ordo naturalis, vgl. er öffnete mit Mühe die Tür und stolperte hinaus gegenüber er stolperte hinaus, nachdem er mit Mühe die Tür geöffnet hatte) und, wie in 1.3 schon angedeutet, die Sequenzialität, wie sie sich z.B. in (38) zeigt. Diese ist per Default eine Inferenz, die aus den Merkmalen ‚episodisch‘, ‚Ereignis‘ und ikonische Wortfolge gezogen wird. Die beiden komplexen Basismerkmale und auch die genannten einfachen können ohne Änderung unseres prinzipiellen Ansatzes durch weitere Basismerkmale ergänzt werden. Der Basismodus dient als Referenzgröße für den narrativen Redetyp und erfasst Merkmale von Prädikaten. Für E r z ä h l t e x t e kann in analoger Funktion als vor allem mikrostrukturelle Referenzgröße ein I d e a l t y p u s („Prototyp“) postuliert werden. Eine allgemeine Be-

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stimmung des Idealtypus besagt dann, dass er jene Merkmale besitzt, die ihn am stärksten von konkurrierenden Idealtypen unterscheiden. Was allerdings im Einzelnen den Idealtypus ausmacht, ist nur als Gegenstand einer umfassenden Forschungsanstrengung vorstellbar und kann im vorliegenden Band nur in einigen Punkten angesprochen werden. Einen zentralen Merkmalskomplex des Idealtypus bildet der narrative Basismodus. Da in Erzähltexten ja nicht nur narrative Passagen vorkommen, sind weitere wichtige Eigenschaften der Einsatz von sprechzeitorientierten Passagen und Äußerungen, damit also die Nutzung situativer Faktoren wie die lokale und personale Deixis sowie nichtrepräsentative illokutive (bzw. performative) Funktionen wie Aufforderungen, Fragen, Ausrufe. Sprechzeitbezogene oder omnitemporale Kommentare einer Erzählinstanz gehören nicht dem narrativen, sondern dem sprechzeitorientierten bzw. omnitemporalen Redetyp an. Situative und sprechzeitbezogene Komponenten sind in Erzähltexten Merkmale der Kolloquialität. Ob und inwieweit ihr Vorkommen idealtypisch ist, ist eine Frage der Quantität, ebenso wie das Verhältnis von deskriptiven und dynamischen Passagen. Quantitative Merkmale idealtypischer Erzähltexte sind auch jene, die Parametern des Basismodus angehören, wie die der Episodizität oder der taxischen Dynamik: Hier scheint es quantitative Konstanten zu geben, die als Kandidaten für einen Idealtypus gelten können. Im folgenden Schema sind die intensionalen Begriffe des Redetyps (idealtypischer Erzähltext, Basismodus und dessen Varianten) ihren extensionalen Partnerbegriffen der textuellen Klassen (Erzähltexte, narrative Passagen, Varianten narrativer Passagen) gegenübergestellt): (A B = A entspricht B; A B = A enthält B)

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extensionale Begriffe Erzähltexte8 narrative Passagen sprechzeitbezog. Pass. omnitemporale Passagen

Idealtypus

Redetyp (sprechzeitbezog., narrativ, omnitemp.) intensionale Begriffe

(Klassen) Passagen im Basismodus deskriptive Passagen ...

Basismodus und andere Varianten des Redetyps (Merkmalkomplexe)

Schema: Begriffe für Merkmalkomplexe und textuelle Klassen im Umkreis des narrativen Redetyps 3.2 Narrative Dynamik Die narrative Dynamik, das Voranschreiten des Geschehens, wie z.B. in (38), äußert sich fast ausschließlich mit Prädikaten für episodische Ereignisse, im Russischen bezeichnet durch perfektive Verben. Deren lineare Abfolge wird per Default als Sequenz rezipiert und bildet die und-dannRelationen der dargestellten Welt ab. Den und-dann-Relationen der wahrgenommenen und dargestellten Welt entsprechen in der kognitiven Verarbeitung die und-dann-Relationen des psychischen Jetzt: Die subjektive Gegenwart besteht in einer Aneinanderreihung von Verarbeitungsintervallen, die normalerweise den Umfang von 3 Sekunden nicht überschreiten (s. Pöppel 1987, Lehmann 1992a). Bei fortschreitendem Hören oder Lesen eines narrativen Textes werden die Prädikate einem dieser Verarbeitungsintervalle zugeordnet und mithilfe temporaler Inferenzen in ein chronologisches Netz eingeordnet. Bei narrativ orientierten episodischen Ereignissen ergibt sich dabei eine Sequenz. Andere Merkmalskonstellationen ergeben andere chronologische Konstellationen, Inzidenzen, Parallelismen, nichtepisodischen Hintergrund (s.u. zur Redetypvariante Beschreibung). Yevseyev (2003) hat für ganze Erzähltexte in Bezug auf die Taxis (den temporalen Bezug von aktionalen Situationen untereinander) nachgewie8

Neben den Erzähltexten enthält diese sehr allgemeine Text-Kategorie die Texte mit der Dominanz sprechzeitorientierter Passagen, darunter nicht zuletzt Gespräche, und die Texte mit der Dominanz omnitemporaler Passagen; inwieweit bei ihrer Beschreibung mit entsprechenden Idealtypen zu arbeiten ist, muss hier offen bleiben.

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sen, dass mit der Länge des Textes die Dynamik abnimmt. Im Kap. 11 hat er diese Beobachtungen ausgeweitet. In Verallgemeinerung dieser Gesetzmäßigkeit ist die folgende Hypothese zum Basismodus nicht gewagt: Je länger eine narrative Passage, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Ersetzung eines Basismerkmals durch ein alternatives Merkmal eines Parameters. Weiterhin können vom Konzept des Basismodus auch empirisch überprüfbare Hypothesen über das Verhältnis von makro- und mikrostrukturellen Parametern und ihre konstitutive Funktion für Erzähltexte abgeleitet werden, z.B. die, dass mit einer bestimmten Konstellation von makrostrukturellen Merkmalen bestimmte mikrostrukturelle Merkmale korrelieren, und nicht zuletzt, dass das Vorkommen alternativer Merkmale eines Parameters (d.h. Nicht-Basis-Merkmale) in einem längeren Text im Prinzip das Vorkommen der entsprechenden Basismerkmale impliziert. Die Analyse der Texte zur Überprüfung unserer Hypothesen hat eine weitere Parameter-Eigenschaft von prinzipieller Bedeutung erkennen lassen. Der Vergleich verschiedener Texte, Autoren oder – wie hier – Epochen in Bezug auf mikrostrukturelle Parameter setzt ja voraus, dass diese sich in verschiedener Weise in den Texten manifestieren können, dass sie überhaupt variieren können. Offenbar muss aber unter den narrativ relevanten, mikrostrukturellen Parametern zwischen quantitativ konstanten und variablen Parametern unterschieden werden. Dabei geht es um die quantitative Verteilung der Merkmale eines Parameters. Bezogen auf eine größere (in ihrer Signifikanzgrenze bisher nicht untersuchte) Menge narrativer Äußerungen ist in verschiedenen Texten bei einigen Parametern die Verteilung der Merkmale konstant, bei anderen Parametern variabel. Bei der Planung unseres Projektes war noch unklar, welche narrativ relevanten Parameter sich für einen Vergleich zwischen realistischen und modernistischen Autoren eignen. Wir hatten nicht einmal damit gerechnet, dass es quantitativ konstante Parameter gibt. Nachdem jedoch z.B. der Parameter Episodizität im Vergleich der Autoren keine bemerkenswerten quantitativen Unterschiede erkennen ließ (s. Kap. 9), lag die Hypothese nahe, dass die Verteilung episodischer und nichtepisodischer Prädikate keiner vom Autor gesteuerten Absicht unterliegt. Natürlich wäre eine bewusste Steuerung der Mengen durch den Autor jederzeit möglich, so dass man nicht von einer „narrativen Naturkonstante“ sprechen kann. Es könnte aber sein, dass der Parameter Episodizität so fundamental für den narrativen Redetyp ist, dass das Verhältnis zwischen episodischen und nichtepisodischen Äußerungen sich, wenn kein bewusster Eingriff des Autors

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erfolgt, bei zunehmendem Textumfang einem konstanten Durchschnittswert annähert. Wie sich die angesprochene Variabilität von narrativen Parametern in den von uns vorgenommenen Untersuchungen ausweist, zeigen die folgenden Kapitel und die Zusammenfassung. 3.3 Beschreibung als Beispiel für Redetypvarianz Die Substitution bestimmter Basismerkmale durch alternative Merkmale führt zu deskriptiven Varianten von narrativen Äußerungen. (Wobei mit dem Ausdruck „Substitution“ die Perspektive eines Gedankenexperiments eingenommen wird). Die Beziehung zwischen Narrativität und Deskriptivität ist eine viel diskutierte Frage, sie wird z.T. als Gegensatz gesehen (vgl. Necˇaeva 1974). Mosher (1991) versucht zwischen beiden zu vermitteln, wie der bereits vor ihm gebrauchte Begriff „descriptized narration“9 schon zeigt, geht aber von einem prinzipiellen Unterschied zwischen beiden Modi aus und versucht deren Beziehung dadurch beizukommen, dass er sie auf die „Funktion“ (das entspricht etwa mentalen Modellen) von Passagen bezieht, im Unterschied zur formalen, „stilistischen“ Oberfläche. In der Hamburger Forschergruppe Narratologie hat sich ein weitgehender Konsens darüber herausgebildet, dass diese Begriffe keinen Gegensatz bilden. Im folgenden Abschnitt soll nun gezeigt werden, dass Beschreibungen Varianten des narrativen Redetyps sind, wenn ihre Prädikate narrative Orientierung aufweisen. Je nach der Art der Abweichung vom narrativen Basismodus ergeben sich verschiedene Arten der Beschreibung. Moshers Textbeispiele können jeweils einer dieser Beschreibungsarten zugewiesen werden, mit dem Vorteil, dass sie dann aber einen bestimmten Platz im System der Redetypen haben. Wenn ein Textstück im Hinblick auf ein bestimmtes deskriptives Merkmal homogen ist, bilden dessen Sätze eine deskriptive Passage oder einfach „eine Beschreibung“. Von einer deskriptiven Passage sprechen wir nur dann, wenn mindestens zwei benachbarte Prädikate über die gleichen deskriptiven Merkmale verfügen. Es handelt sich um Merkmale des Prädikats. Wenn Beschreibungen Varianten narrativer Passagen sind, dann bedeutet dies, dass anstelle der Merkmalskombination ‚episodisches Ereig9

Vgl. auch Jensen (1990), der seinen Aufsatz „Narrative Description or Descriptive Narration“ betitelt, allerdings die beiden Begriffe nicht definiert und ihr Verhältnis nicht analysiert.

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nis‘ des Basismodus die alternativen Merkmale ‚nichtepisodisch‘ bzw. ‚Verlauf‘ oder ‚stative Situation‘ auftreten. N i c h t e p i s o d i s c h e B e s c h r e i b u n g e n : Anstelle des Merkmals ‚episodisches Ereignis‘ erscheint bei Verbprädikaten das Merkmal ‚nichtepisodische Situation‘. Mit nichtepisodischen Beschreibungen können in mehr oder weniger gemischter Form vier Arten aktionaler Situationen dargestellt werden: zwei Arten stativer Situationen, iterative und allgemeinfaktische Situationen. Alle werden per Default oder ausschließlich mit imperfektiven Verben ausgedrückt. Eine wichtige Rolle bei der Versprachlichung nichtepisodischer Sachverhalte spielen aber nominale Prädikate, also Adjektive und Substantive mit Kopula. Sie sind per se deskriptiv. Die oben angeführte Beschreibung des Pferdes Fru-Fru besteht vorwiegend aus nominalen Prädikaten: (40) Fru-Fru byla srednego rosta lo‚ad´ i po statäm ne bezukoriznennaä. Ona byla vsä uzka kost´ü; ee grudina xotä i sil´no vydavalas´ vpered, grud´ byla uzka. Zad byl nemnogo svislyj, i v nogax perednix ... my‚cy ... ne byli osobenno krupny; v podpruge ... byla ‚iroka, kosti kazalis´ ne tolwe pal´ca, no zato ... byli ‚iroki, ... (AK 2, XXI) ‚Fru-Fru war ein Pferd von mittlerer Größe und im Körperbau nicht makellos. Es hatte insgesamt schmale Knochen; obwohl sein Brustkorb stark hervortrat, war die Brust schmal. Das Hinterteil war etwas herabhängend, und an den Vorderbeinen waren die Muskeln nicht besonders kräftig; beim Sattelgurt ... war es breit, die Knochen schienen nicht mehr als fingerdick zu sein, waren aber … dafür breit‘ (z.T. wörtliche Übersetzung)

Die Wortform vydavalas’ ‚trat hervor’ hat stative Funktion, was das Merkmal ‚nichtepisodisch‘ impliziert. Stative Situationen, die nur in einem bestimmten Zustand bestehen, können durch ein entsprechendes statives Lexem wie ljubit’ ‚lieben‘ oder sootvetstvovat’ ‚entsprechen‘, aber auch, wie hier vydavalas’, durch ein Ereignis-Verb in grammatisch stativer Funktion bezeichnet werden (Typ das Tal öffnete sich nach Süden). Stative Situationen können andererseits dynamische Situationen enthalten, dann nämlich, wenn es um die Fähigkeit, die Gewohnheit, die Pflicht, das Recht usw. geht, etwas zu tun, z.B. zu angeln. In solchen Fällen wird das aktionale Gestaltmerkmal – ,Verlauf‘ oder ,Ereignis‘ – durch das Merkmal ‚stative Situation‘ überlagert. Beispiel einer Passage mit solch stativdynamischer Beschreibung: (41) Anna pervoe vremä izbegala, skol´ko mogla, qtogo sveta knägini Tverskoj [...] Ona izbegala nravstvennyx druzej svoix i ezdila v bol´‚oj svet. (AK 2, VI) ‚Anna mied anfänglich, so gut sie konnte, diese Kreise der Fürstin Tverskaja […] Sie mied ihre moralischen Freunde und verkehrte in der großen Welt.‘

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Es war Annas selbstgesetzte Regel, den Kreis der Fürstin Tverskaja zu meiden und zu den hohen Kreisen zu fahren. Dort traf sie Vronskij, und das waren zu diesem Zeipunkt keine Treffen im Rahmen einer Regel der Gewohnheit, es war ein nichtepisodisch wiederholtes (iteratives) Antreffen: (42) Tam ona vstreçala Vronskogo i ispytyvala volnuüwuü radost´ pri qtix vstreçax. Osobenno çasto ona vstreçala Vronskogo u Betsi, [...] (AK 2, IV) ‚Dort traf sie Vronskij an und empfand bei diesen Treffen eine erregende Freude. Besonders häufig traf sie Vronskij bei Betty an, […]‘

Während stativ-dynamische Beschreibungen die Wiederholtheit von Ereignissen oder Verläufen nur implizieren oder erwarten lassen, geht es bei iterativen Situationen um faktische wiederholte Ereignisse oder Verläufe, die nicht von einer stativen Situation überlagert sind. Allgemeinfaktische Situationen werden von imperfektiven Verben dargestellt, mit denen typischerweise eine Person durch eine Handlung – ein Ereignis oder einen Verlauf – charakterisiert wird, in narrativem Kontext in aller Regel mit der Funktion ‚Vorvergangenheit‘ und sehr selten vorkommend (vgl. Beispiel (34) versetzt in narrativen Kontext: ‚Spartak hatte schon einmal in Doneck verloren‘). Die Situation ist insofern zeitlich isoliert, nicht in einen Handlungszusammenhang eingebunden und zeitlich nur über eine Tempusfunktion lokalisiert. E p i s o d i s c h e B e s c h r e i b u n g e n : Anstelle des Merkmals ‚episodisches Ereignis‘ erscheint bei Verbprädikaten das Merkmal ‚episodischer Verlauf‘. Vgl. das oben schon gebrachte Beispiel mit Anna und Dolly in erweiterter Fassung: (43) (Kogda Anna vo‚la v komnatu,) Dolli sidela v malen´koj gostinoj s belogolovym puxlym mal´çikom, uΩ teper´ poxoΩim na otca, i slu‚ala ego urok iz francuzskogo çteniä. Mal´çik çital, vertä v ruke i staraäs´ otorvat´ çut´ derΩav‚uüsä pugovicu kurtoçki. Mat´ neskol´ko raz otnimala ruku, no puxlaä ruçonka opät´ bralas´ za pugovicu. (AK 1, XIX) ‚Als Anna ins Zimmer trat, saß Dolly mit einem weißköpfigen, molligen, schon jetzt dem Vater ähnlichen Jungen im kleinen Gästeraum und hörte seine Lektion aus der Französischlektüre ab. Der Junge las vor, wobei er an einem kaum noch haltenden Knopf drehte und ihn versuchte abzureißen. Die Mutter nahm mehrmals die Hand weg, aber das mollige Händchen griff immer wieder nach dem Knopf.‘

Die Verläufe einer episodischen Beschreibung können dynamisch sein wie Lesen oder Drehen oder adynamisch wie Sitzen. Man kann darüber diskutieren, ob episodische Passagen überhaupt zur Kategorie Beschreibung gerechnet werden sollen. Mosher (1991, 434) gibt jedenfalls ein Bei-

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spiel aus Flauberts Salammbô, das er als deskriptiv ansieht und das der Kategorie der episodischen Beschreibung zuzuordnen ist. Die n o m i n a l e n B e s c h r e i b u n g e n sind ebenso, wie die verbgestützen, in episodische und nichtepisodische unterscheidbar. (40) war ein Beispiel für eine nichtepisodische Beschreibung. Dies ist auch an dem in der Passage enthaltenen stativen, damit nichtepisodischen Prädikat vydavalas’ ‚hervortrat‘ zu erkennen, da episodische und nichtepisodische Äußerungen schwer zu kombinieren wären. (In sie liebte und beschenkte Vronskij z.B. wird die nichtepisodische Funktion von liebte auf beschenkte übernommen, da eine bezüglich der Episodizität homogene Interpretation angestrebt wird.) Analog zu den verbgestützen sind auch die nominal ausgedrückten nichtepisodischen Sachverhalte nicht in einen temporal bestimmten Zusammenhang eingebettet. Eine episodische nominale Prädikation erscheint z.B. in der Äußerung über Vronskijs Reitknecht: (44) On byl, kak i vsegda, spokoen i vaΩen i sam derΩal za oba povoda lo‚ad´, stoä pred neü. (AK 2, XXIV) ‚Er war, wie immer, ruhig und arrogant und hielt das vor ihm stehende Pferd an beiden Zügeln.‘

Die Adjektiv-Prädikate bezeichnen hier Zustände, die der Subjektpartizipant in der geschilderten Episode aufweist (dass er sie auch sonst in solchen Situationen aufweist, ist eine zusätzliche, aber es ist nicht die vom Prädikat gegebene Information). Adjektiv-Prädikate können also, wie das Beispiel zeigt, auch in episodischer Funktion verwendet werden. Es ist eine Funktion, die nicht zuletzt bestimmte russische Adjektive in der Kurzform haben (X bolen ‚X ist gegenwärtig krank‘, im Unterschied zum nichtepisodischen X bol’noj ‚X ist ein kränklicher Mensch‘). Auch nominale Prädikate können also Teil einer episodischen Beschreibung sein, allerdings kommt das selten vor, die nichtepisodische Funktion ist bei nominalen Prädikaten der Default. O m n i t e m p o r a l e B e s c h r e i b u n g : Diese Art der Beschreibung hat anstelle der narrativen die omnitemporale Orientierung. Sie gehört also nicht zu den narrativen Beschreibungstypen und soll hier nicht näher besprochen werden. Omnitemporale Äußerungen können in Erzähltexten erscheinen, wie das unter (5) aufgeführte Beispiel des Anfangs von Anna Karenina zeigt. Omnitemporale Inhalte können auch so gefasst sein, dass nicht mehr von einer Beschreibung gesprochen werden kann. Das zeigt sich in einem Gespräch über erkenntnistheoretische Probleme, zu dem hier ein Ausschnitt wiedergegeben wird:

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(45) Da, no oni, Vurst, i Knaust, i Pripasov, otvetät vam, çto va‚e soznanie bytiä vytekaet iz sovokupnosti vsex owuwenij, çto qto soznanie bytiä est´ rezul´tat owuwenij. (AK 1, VII) ‚Ja, aber sie – Vurst, und Knaust, und Pripasov – würden ihnen antworten, dass ihr Bewusstsein des Seins der Gesamtheit ihrer Empfindungen entstammt, dass dieses Bewusstsein das Resultat der Empfindungen sei.‘

Man kann daraus schließen, dass nicht jede omnitemporale Passage per se deskriptiv ist, auch wenn sie im Indikativ steht. Daraus wiederum kann geschlossen werden, dass weitere Merkmale zur omnitemporalen Orientierung hinzukommen müssen, um von einer omnitemporalen Beschreibung zu sprechen. Ähnliches gilt für allgemeinfaktische Äußerungen. Eine Definition für Beschreibungen aller Art kann hier nicht vorgelegt werden. Wir können aber zusammenfassend sagen, dass nichtepisodische Beschreibungen mit narrativer, omnitemporaler und (hier nicht eigens erwähnt, aber evident) sprechzeitorientierter Orientierung vorkommen. Die nicht narrativen Beschreibungen können als eigene Passagen in Erzähltexten erscheinen. Episodische Beschreibungen (Parallelismen) sind immer narrativ. Der Begriff der narrativen Beschreibung kann in engem Zusammenhang mit der textlinguistischen Unterscheidung von Hinter- und Vordergrund in Erzähltexten gebracht werden. Im Beispiel (43) übermitteln das perfektive Verb vosˇla ‚trat ein‘ für den Eintritt einer Handlung, und die folgenden imperfektiven Verben, für den Hintergrund, eine Inzidenz. Die Verwendung des Begriffs Hintergrund ist in der Textlinguistik jedoch nicht auf die Verteilung von Eintritt und Hintergrund im Rahmen einer Inzidenz, wie es Koschmieder 1934 beschrieben hat, beschränkt. Textlinguistisch können alle Arten von Beschreibungen als Texthintergrund klassifiziert werden. Narrative Beschreibungen sind im Russischen prinzipiell im imperfektiven Aspekt mit narrativem Präteritum (Funktion ‚Vergangenheit‘) gehalten. Episodische Ereignisse und Ereignissequenzen bilden den Vordergrund und werden per Default durch perfektive Verben bezeichnet (zu einem russistisch orientierten Überblick s. Weiss 1995). Diese Aufteilung in Hinter- und Vordergrund, die auf Hopper (1979) zurückgeht, aber schon bei Weinrich (1964) als „Relief“ mit Vorder- und Hintergrund vorgebildet ist, korreliert nur sehr grob mit grammatischen Formen und beruht auf intuitiven Zuordnungen und metaphorischem Denken, dessen Objektivierung in Bezug auf Textstrukturen bisher nicht gelungen ist. Sie wird hier deshalb nicht weiter verfolgt. Es scheint allerdings nichts dagegen zu sprechen, den Begriff der Beschreibung zur diffe-

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renzierteren Verwendung des Begriffs Hintergrund heranzuziehen. Es wäre dann anzusetzen, dass Beschreibungen in Erzähltexten prinzipiell Hintergrund-Status haben, bei hauptsächlich narrativer Orientierung, daneben aber auch bei sprechzeitorientierter oder omnitemporaler Orientierung, mit den Unterarten der episodischen und nichtepisodischen narrativen Beschreibung, unter Verwendung nominaler und verbgestützter Prädikate. Der textlinguistische Begriff Hintergrund wird damit jedoch nicht ausgeschöpft. Z.B. wird die Funktion ‚Vorvergangenheit‘ (bzw. das Tempus Plusquamperfekt) üblicherweise ebenfalls zum Hintergrund gezählt (eine diskussionswürdige Entscheidung). 4. Mikro- und makrostrukturelle Ereignisse Der am Anfang dieses Kapitels angesprochene Unterschied zwischen mikrostrukturellen Beschreibungen, die linguistische Verfahren benutzen und die tendenziell transdisziplinär ausgerichtet sind, und der makrostrukturellen Analyse der literaturwissenschaftlichen Narratologie wird an der Diskussion des für beide Ansätze zentralen Ereignis-Begriffs deutlich. Diese Diskussion wurde in der Forschergruppe Narratologie mehrfach geführt und hat zu einem aus meiner Sicht plausiblen Ergebnis geführt. Es wird hier aus meiner Perspektive noch einmal dargestellt. Eine Reihe von Beiträgen lief darauf hinaus zu unterscheiden, was in einer Zusammenfassung der Diskussion (a) als Ereignis in einem elementaren, fundamentalen Sinne und (b) als Ereignis in einem normativen, interpretativen Sinne (= „unerhörte Begebenheit“) genannt wurde, wofür ich die Ausdrücke „Ereignis 1“ und „Ereignis 2“ benutzt habe, und die im vorliegenden Zusammenhang sinnvollerweise mikrostrukturelle und makrostrukturelle Ereignisse genannt werden sollen. Das mikrostrukturelle Ereignis wurde oben als ein Basis-Merkmal des narrativen Redetyps postuliert. Das makrostrukturelle Ereignis wiederum wurde von der Forschergruppe Narratologie als tentatives definitorisches Merkmal von Narrativität angenommen. Diese Unterscheidung wurde offenbar im Sinne einer Opposition verstanden oder kann zumindest so verstanden werden. Man kann das Verhältnis zwischen den Begriffen aber auch anders sehen, als Implikation: Mit dem makrostrukturellen Ereignis-Begriff wird der mikrostrukturelle impliziert. Das Umgekehrte gilt nicht. Man braucht beide Begriffe. Bei der Verwendung des makrostrukturellen Begriffs benötigt man den mikrostrukturellen für die Interpretation des

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Textes; die Analyse eines Textes kommt nicht aus ohne die Unterscheidung zwischen dem unerhörten Text-Ereignis und allen jenen mikrostrukturellen Ereignissen, die nicht unerhörte Qualitäten haben, aber den Ablauf des Erzählten tragen. Die Verwender des mikrostrukturellen Ereignis-Begriffs brauchen den makrostrukturellen Ereignis-Begriff schon deswegen, weil sie bei der metakommunikativen Verwendung des mikrostrukturellen Ereignis-Begriffs den Unterschied markieren müssen zum Alltagsbegriff „Ereignis“, dem das makrostrukturelle Verständnis ja näher steht als das mikrostrukturelle. Die Diskussion von Fundamentalbegriffen wie mikrostrukturelles Ereignis ist nicht eigentlich eine narratologische, jedenfalls ist sie keinesfalls eine narratologische allein. In der logischen Semantik und Linguistik (Aspektologie) sind die Diskussionen zu den Begriffen dieser Kategorie schon recht weit geführt worden. Ergebnis ist ein ziemlich differenziertes Begriffssystem mit durchaus befriedigenden Definitionen. Wie erwähnt, ist die begriffliche Implikation „makro- –> mikrostrukturelles Ereignis“ nicht umkehrbar. Die Frage ist, ob ein makrostrukturelles Ereignis ein – als unerhört – markiertes mikrostrukturelles Ereignis sein kann, ob es den Umfang einer Episode, bestehend aus mehreren Ereignissen, haben kann, ob es gar nicht explizit erscheinen muss (wie der Ehebruch von Anna Karenina), und wie dies jeweils festzustellen ist. Erzähltexte, wie wir sie anfangs definiert haben, enthalten nicht immer makrostrukturelle Ereignisse. Für Lebensläufe, für viele narrative Passagen in belletristischen Erzählungen, noch mehr in Reportagen, in wissenschaftshistorischen und wohl auch vielen modernen Historiker-Texten mit erzählendem Charakter dürfte der Begriff des makrostrukturellen Ereignisses, seine Definition, Ermittlung, Analyse und Typisierung, keine oder nur eine geringe Bedeutung haben. Ihre Ereignisse sind nur mikrostrukturelle. Es scheint, dass die Klärung der Verhältnisse zwischen mikro- und makrostrukturellen Ereignissen eine gemeinsame Aufgabe von literaturwissenschaftlicher Narratologie und Linguistik ist. 5. Literatur AK = Anna Karenina. In: Lev N. Tolstoj, Sobranie socˇinenij, t. VIII. Moskva 1974-. Appel, D. 1996. Textsortenbedingter Aspekt-Tempus-Gebrauch im Russischen. München. Benveniste, E. 1966. Problèmes de linguistique générale. Paris. Dahl, Ö. 1985. Tense and Aspect Systems. Oxford.

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CHRISTINA JANIK

Vom Realismus zum Modernismus: Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 1. Einleitung „Sprech- und Wahrnehmungspositionen“ steht hier für Teilaspekte dessen, was – bei sehr unterschiedlicher Füllung des Begriffs – in narratologischen Ansätzen unter „Perspektive“ verstanden wird. Bei seiner vergleichenden Analyse russischer Erzähltexte, die den Epochen des Realismus (z.B. Tolstojs Anna Karenina), des Modernismus (z.B. Zamjatin, Pil’njak) bzw. einer Phase des Übergangs (z.B. Cµechov) zugeschrieben werden können, behandelt Bogen (in diesem Band) „Perspektive“ als einen wesentlichen Parameter, durch den epochenspezifische Texteigenschaften erfasst werden können, auf die wiederum Unterschiede in der „Kohärenz“ dieser Texte zurückgeführt werden können. Die Hypothese lautet, dass sich die Rolle des auktorialen Erzählers in der Entwicklung vom Realismus zum Modernismus zunehmend abschwächt: Während die Perspektive des Erzählers im Realismus eine dominierende Position einnimmt, sei sie in den Texten des Modernismus nur noch eine unter vielen möglichen und hebe sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Figurenperspektiven nicht mehr als „allwissend“ und omnipräsent ab. Im Folgenden werden die Ergebnisse eines Versuchs dargestellt, Ausdrucksmittel zu bestimmen, die potentiell zum Ausdruck von „Perspektive“ dienen können und computergestützt quantitativ ausgewertet werden können. Es wurden Aspekte untersucht, die zum einen die Art der Darstellung von Rede, zum anderen die Art der Darstellung von Wahrnehmung bzw. Denken betreffen und Rückschlüsse auf unterschiedliche Sprechbzw. Wahrnehmungspositionen – eines Erzählers oder einer Figur – erlauben. Im Einzelnen wurden untersucht:

• •

Verhältnis von Erzählerrede zu Figurenrede (in Zeichen) Formen der Redeeinleitung (inquit-Formeln vs. Null-Markierung)

228

Christina Janik

• • •

Satzarten (Frage- und Ausrufesätze) auf mentale Zustände referierende Prädikate: Verba sentiendi und cogitandi in der 3. Person („cogitat“-Situationen) Egocentriki: sprachliche Mittel (u. a. Deiktika, Modalwörter und Indefinitpronomen), die ein über Bewusstsein verfügendes Subjekt implizieren, das jedoch nicht notwendigerweise identisch ist mit dem Erzähler.

Die untersuchten Texte stammen aus einem für die Zwecke des Projektes zusammengestellten Untersuchungskorpus, das Ausschnitte aus Texten Tolstojs und Turgenevs für den Realismus, Belyjs, Pil’njaks und Zamjatins für den Modernismus sowie im geringeren Umfang Ausschnitte aus Texten Cµechovs und Pil’njaks für eine Übergangsperiode umfasst 1. Bei der quantitativen Auswertung der jeweiligen Ausdrucksmittel wird deren Anzahl stets auf die Gesamtlänge der untersuchten Texte in Zeichen bezogen. 2. Analysen 2.1 Vorgehensweise In einem ersten Schritt wurden aus den elektronisch vorliegenden Texten alle Passagen direkter Rede herausgeschnitten. Damit beziehen sich alle weiteren Aussagen über Vorkommen bestimmter sprachlicher Mittel allein auf Rede, die nicht explizit als Figurenrede markiert ist und hier zunächst als „Erzählerrede“ bezeichnet wird. Dass darunter auch Passagen in „erlebter Rede“ fallen, die sprachlich und inhaltlich nicht der Erzählinstanz, sondern Protagonisten im Text zuzuordnen wären, bleibt bewusst unberücksichtigt und müsste in einem zweiten Schritt von literaturwissenschaftlicher Seite interpretiert werden. Wie sich direkte und „Erzählerrede“ jeweils auf die einzelnen Texte verteilen, zeigt folgende Grafik: 1

Das Untersuchungskorpus basierte zunächst auf jeweils acht Kapiteln aus den Romanen Anna Karenina von L. Tolstoj und Peterburg von A. Belyj. Die Kapitel wurden zufällig ausgewählt und zwar auf der Grundlage der für den Parameter Granularität zuvor bereits aleatorisch ausgewählten Seiten (s. Marszk, in diesem Band). Dieses Kernkorpus wurde um Ausschnitte aus Texten weiterer Autoren des Realismus, einer Übergangsphase und des Modernismus ergänzt, so dass die Teilkorpora für Realismus und Modernismus in Zeichen bemessen gleich groß sind. Für eine Übersicht und die in den Diagrammen verwendeten Abkürzungen s. Abschnitt 4 Quellen am Ende dieses Kapitels.

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 229 100%

80%

60% Direkte R. Erzähler R.

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 1: Anteile Direkter Rede gegenüber Erzählerrede (zur Auflösung der Abkürzungen s. Kap. 4 „Quellen“)

Es zeichnen sich diesbezüglich keine klaren epochenspezifischen Unterschiede ab. Der Anteil direkter Rede am Gesamttext schwankt zwischen etwa 5 Prozent und 35 Prozent und beträgt im Schnitt etwa 20 Prozent. In den von direkter Rede freien Texten wurden in einem weiteren Schritt die jeweils zu untersuchenden Phänomene elektronisch wieder auffindbar markiert, also mit einfachen „Tags“ versehen (z.B. §, @, &, %) und anschließend automatisch ausgezählt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden im Folgenden dargestellt. 2.2 Redeeinleitung Während sich in der quantitativen Verteilung von direkter gegenüber Erzählerrede keine epochenspezifischen Unterschiede beschreiben lassen, zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede, wenn man vergleicht, in wie vielen Fällen direkte Rede durch eine inquit-Formel (Er sagte: „...“) eingeleitet bzw. auch nachgestellt markiert wird und in wie vielen Fällen die direkte Rede uneingeleitet wiedergegeben wird: a) Redeeinleitung: (1) – Zaçem ä edu? – povtoril on gladä ej prämo v glaza. – Vy znaete, ä edu dlä togo, çtoby byt´ tam gde vy, – skazal on, – ä ne mogu inaçe. (Tolstoj, Anna Karenina) „Wozu ich fahre?“, wiederholte er und sah ihr direkt in die Augen. „Sie wissen, dass 2 ich fahre, um zu sein, wo Sie sind“, sagte er, „ich kann nicht anders.“

2

Alle Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, von mir (C. J.)

230

Christina Janik

b) Keine Redeeinleitung: (2) Na odin ças – v pewere vesna; na odin ças – skidyvalis´ zverinye ‚kury, kogti, klyki, i skvoz´ obledenev‚uü mozgovuü korku probivalis´ zelenye stebel´ki – mysli. – Mart, a ty zabyl, çto ved´ zavtra... Nu, uΩ ä viΩu: zabyl! (Zamjatin, Pesˇcˇera) Für eine Stunde ist in der Höhle Frühling; für eine Stunde – warf man die Tierhäute ab, die Krallen, die Reißzähne, und durch die verblasste Gehirnrinde schlugen sich grüne Halme – die Gedanken. „Mart, du hast doch nicht vergessen, dass morgen... Na, ich seh’ schon: vergessen!“

Während im Realismus im Schnitt zwei Drittel der direkten Rede durch inquit-Formeln eingeleitet werden, dreht sich das Verhältnis eingeleiteter gegenüber uneingeleiteter direkter Rede im Modernismus um: Im Schnitt wird direkte Rede nur noch in rund einem Drittel der Fälle markiert 3: 100%

80%

60% Uneing. R. Eingel. R. 40%

20%

0%

Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 2: Verhältnis von Fällen uneingeleiteter gegenüber eingeleiteter direkter Rede

Damit ist die Figurenrede im Modernismus deutlich seltener syntaktisch in die Erzählerrede eingebettet als im Realismus. Dies lässt sich eventuell auch als Indikator für die sich abschwächende Rolle des Erzählers gegenüber den Figuren des Texts interpretieren: So wie die Figurenrede syntaktisch nicht mehr einem der Erzählerrede zuzuordnenden Satz(teil) / verbum dicendi untergeordnet wird, treten auch die Figuren bzw. Äußerungen der Figuren frei neben die Äußerungen des Erzählers.

3

Hier wäre zudem noch genauer zu betrachten, durch welche Verben die direkte Rede gegebenenfalls eingeleitet wird. Nach erster Durchsicht der Daten zeichnet sich ab, dass in den modernistischen Texten eine größere Vielfalt an redeeinleitenden Verben besteht, während im Realismus vorwiegend verba dicendi im engeren Sinne auftreten (govorit’ / skazat’ ‚sagen‘, sprosit’ ‚fragen‘).

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 231

2.3 Satzarten Geht man davon aus, dass narrative Äußerungen typischerweise durch Assertionen realisiert werden, denen syntaktisch Aussagesätze entsprechen, so stellen Fragen und Ausrufe in der Erzählerrede – nicht natürlich in den Passagen direkter Rede – Abweichungen vom Normalfall dar. Auszählungen der Auftretenshäufigkeit von Fragen bzw. Ausrufe markierenden Satzzeichen (?/!) zeigen, dass diese Art von Abweichungen in den realistischen Texten nur in zu vernachlässigenden Einzelfällen, in den modernistischen Texten jedoch regelmäßig auftreten. Zu vermuten ist, dass dies an Stellen der Fall ist, an denen Gedanken eines Protagonisten in „erlebter Rede“ wiedergegeben werden, es sich dabei also nicht um Äußerungen aus der Sicht des Erzählers handelt. Neben Erzähler-Äußerungen treten demnach vermehrt Äußerungen der Figur, die nicht (wie z.B. in Assertionen des Typs: xy rief empört aus, xy fragte sich verzweifelt) vom Erzähler kommentiert, sondern unmittelbar dargestellt werden. Ausrufe und (rhetorische) Fragen können als Ausdrücke emotionaler Involviertheit eines Sprechers aufgefasst werden. Legt man Bühlers (1934) Funktionen der Sprache zugrunde, so haben diese Sprechakte nicht Darstellungs-, sondern Ausdrucks- bzw. Appell-Funktion. a) Ausruf: (3) Andrej brodil qtu noç´ po otkosam. Drugaä Ωizn´! (Pil’njak, Golyj God) Andrej streifte diese Nacht in den abgemähten Feldern herum. Ein anderes Leben!

b) Frage: (4) Sof´ä Petrovna ves´ veçer provolnovalas´ uΩasno. Kto mog narädit´sä v krasnoe domino? (Belyj, Peterburg) Sof’ja Petrovna war den ganzen Abend furchtbar aufgeregt. Wer konnte sich als roter Domino verkleidet haben?

232

Christina Janik

1,2 1 0,8 ?

0,6

!

0,4 0,2 0 Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 3: Vorkommenshäufigkeit von Ausrufe- und Fragesätzen pro 1000 Zeichen

2.4 Verba sentiendi und cogitandi in der 3. Person Anders als in alltäglichen Kommunikationssituationen kann ein „allwissender“ Erzähler über mentale Zustände dritter Personen berichten, ohne dass diese unbelegte Darstellung eigentlich nicht unmittelbar zugänglichen Wissens beim Leser / Hörer zu Irritationen führen würde. Der Erzähler kann in diesem Fall gleichsam in die Köpfe der von ihm dargestellten Figuren sehen und ohne Angabe von Evidenz beschreiben, was xy dachte, fühlte, sah oder mit Erschrecken zur Kenntnis nahm. Es wird hier daher angenommen, dass das Auftreten von verba sentiendi und cogitandi in der dritten Person als Ausdruck einer Wahrnehmungsposition dient, die auf einen allwissenden Erzähler / Sprecher zurückschließen lässt. Verba sentiendi / cogitandi, 3. Person Sg.: (5) Tak i kazalos´ Vronskomu. I on ne bez vnutrennej gordosti i ne bez osnovaniä dumal, çto vsäkij drugoj davno by zaputalsä i prinuΩden byl by postupat´ nexoro‚o, esli by naxodilsä v takix Ωe trudnyx usloviäx. No Vronskij çuvstvoval, çto imenno teper´ emu neobxodimo uçest´sä i uäsnit´ svoe poloΩenie, dlä togo, çtoby ne zaputat´sä. (Tolstoj, Anna Karenina) So schien es auch Vronskij. Und mit Stolz und nicht ohne Grund dachte er, dass jeder andere schon längst irre geworden und unschön zu handeln gezwungen gewesen wäre, befände er sich in einer derart schwierigen Situation. Aber Vronskij fühlte, dass er gerade jetzt Rechenschaft ablegen und seine Lage klären müsse, um nicht in die Irre zu gehen.

Zählt man aus, wie häufig entsprechende Verben in den vorliegenden Texten auftreten, ergibt sich folgendes Bild:

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 233 6

5 4

3

2 1 0 (Turg1)

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 4: verba sentiendi / cogitandi (3. Person Sg.) pro 1000 Zeichen

Der Text Turgenev1 (Bezˇin Lug) ist hier eingeklammert, da es sich dabei um eine Ich-Erzählung handelt, bei der die Darstellung mentaler Zustände in der ersten Person Sg. erfolgt und damit keine „Allwissenheit“ des Sprechers / Erzählers impliziert. Die Informationen über die eigenen mentalen Zustände sind einem Sprecher natürlicherweise unmittelbar zugänglich. Betrachtet man insbesondere Tolstoj und Belyj, zeigt sich eine deutliche Differenz: In dem modernistischen Text ist die Zahl der Verben für mentale Vorgänge in der 3. Person (im Diagramm auf Seite 255 verkürzt als „cogitat“ bezeichnet) um über die Hälfte geringer als in dem realistischen Text. Und auch wenn man die Texte der einzelnen Epochen zusammenfasst und den Durchschnitt der Vorkommenshäufigkeit dieser Verben pro 1000 Zeichen betrachtet, zeigt sich der Unterschied um den Faktor 2,5 deutlich: 3

2

1

0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 5: Verba sentiendi / cogitandi (3. Person Sg.) pro 1000 Zeichen, epochenweise

234

Christina Janik

Hier wäre in einem nächsten Schritt noch genauer auf Verbtypen einzugehen: Wie auch bei den Sprechaktverben zeichnet sich ab, dass in den modernistischen Texten, insbesondere bei Belyj, die vorkommenden Verben stärker variieren, also auch als nicht „prototypisch“ anzusehende Ausdrücke genutzt werden, um auf mentale Vorgänge zu verweisen wie im folgenden Beispiel: (6) Rasseännost´ proistekala ottogo, çto v sej mig ego osenila glubokaä duma; i totças Ωe, v neuroçnoe vremä, razvernulas´ ona v ubegaüwij myslennyj xod (Apollon Apollonoviç spe‚il v uçreΩdenie). (Belyj, Peterburg) Die Zerstreutheit rührte daher, dass in ihm in diesem Moment ein tiefer Gedanke aufblitzte; und sofort, zu einem nicht gelegenen Moment, entwickelte er sich in einen fortlaufenden Gedankengang (Apollon Apollonovicˇ eilte in die Behörde).

Bei Tolstoj scheinen hingegen in erster Linie häufig gebrauchte Verben wie dumat’, videt’, ponjat’ (‚denken‘, ‚sehen‘, ‚verstehen‘) aufzutreten. 2.5 Egocentriki Paducˇeva bestimmt mit den Egocentriki eine Gruppe lexikalischer Mittel, die in der „kanonischen“ Kommunikationssituation, bei der Sprecher und Hörer kopräsent sind, auf das „Ich-Hier-Jetzt“ des Sprechers verweisen; demgegenüber können sie in der nicht-kanonischen Kommunikationssituation, die schriftlichen literarischen Texten zugrunde liegt, Funktionsveränderungen unterliegen: Das „Ich“, auf das diese Elemente zu beziehen seien, falle dann nicht mehr notwendigerweise mit dem Sprecher (Erzähler) zusammen, vielmehr könne sich der Referenzpunkt auf eine Figur der Erzählung verschieben. Welche sprachlichen Mittel in dieser Weise auf ein „Ego“ verweisen, bestimmt Paducˇeva über unterschiedliche Sprecherrollen, die nur in der „kanonischen Kommunikationssituation“4 4

Bedingungen der „kanonischen Sprechsituation“ formuliert Paducˇeva in Anlehnung an Lyons (1982) folgendermaßen: „I. Sprecher und Hörer sind im Kommunikationskontext anwesend. II. (Einheit der Zeit): Der Moment der Äußerung durch den Sprecher fällt mit dem Moment der Wahrnehmung der Äußerung durch den Hörer zusammen. III. (Einheit des Raumes): Sprecher und Hörer befinden sich am gleichen Ort, für gewöhnlich gilt, dass sie einander sehen und ein gemeinsames Blickfeld haben“ (Paducˇeva 1996, 259, Übers. C. J.). Meines Erachtens greift die Erklärung Paducˇevas für die Besonderheiten des Gebrauchs deiktischer und anderer „egozentrischer“ sprachlicher Mittel über die Kommunikationssituation jedoch nicht weit genug: Eine entsprechende „zerdehnte“ Kommunikationssituation (Ehlich 1983) besteht bei allen schriftlichen Äußerungen, ohne dass notwendigerweise die Frage aufkäme, auf welchen Bezugspunkt deiktische Ausdrücke zu beziehen seien. Dass die „Origo“ vom Sprecher

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 235

alle der Sprecher auf sich vereine. Folgende Sprecherrollen werden von Paducˇeva (1996, 262ff.) unterschieden 5: 1. Govorjasˇcˇij kak sub’’ekt dejksisa: Der „Sprecher als Subjekt der Deixis“ stellt den Orientierungspunkt personaler, räumlicher und zeitlicher Koordinaten (Ich-Hier-JetztOrigo) in einer Sprechsituation dar. 2. Govorjasˇcˇij kak sub’’ekt recˇi: Der „Sprecher als Subjekt der Rede“ ist in der Semantik von Sprechakten impliziert, z.B. als derjenige, der für die Richtigkeit einer behaupteten Proposition die Verantwortung übernimmt und damit einer „epistemischen Verpflichtung“ (e˙pistemicˇeskoe objazatel’stvo) unterliegt. 3. Govorjasˇcˇij kak sub’’ekt soznanija: Auf den „Sprecher als ein über Bewusstsein verfügendes Subjekt“ wird durch lexikalische Mittel und syntaktische Konstruktionen referiert, in denen das Subjekt mentaler, emotionaler oder volitionaler Zustände im Prädikat vorausgesetzt wird, jedoch im Text der Äußerung nicht explizit genannt ist oder genannt werden kann. Hierunter fallen lexikalische Mittel, die im Russischen in der Gruppe der „vvodnye slova“ (Schalt- bzw. Modalwörter) zusammengefasst sind, wie z.B. kazˇetsja, zˇalko, vozmozˇno, (‚es scheint‘, ‚bedauerlicherweise‘, ‚möglicherweise‘) und in unpersönlich gebrauchten Wörtern mit der Bedeutung emotionaler Zustände (grustno, legko; ‚es ist traurig‘, ‚es ist leicht‘), oder mit modalen Bedeutungen (mozˇno, nado, nel’zja; ‚man kann‘, ,muss‘, ‚darf nicht‘). 4. Govorjasˇcˇij kak sub’’ekt vosprijatija („Der Sprecher als Subjekt der Wahrnehmung“): Wahrnehmungen einer Person sind einem außenstehenden Beobachter nicht zugänglich. Daher sind gemeinhin nur Aussagen über eigene Wahrnehmungen möglich, und bei Äußerungen, die Wahrnehmungen wiedergeben, werden diese durch den Hörer natürlicherweise als vom Sprecher gemachte Erfahrungen interpretiert.

Von diesen Sprecherrollen ausgehend bestimmt Paducˇeva mehrere Gruppen auf ein „Ego“ bezogener sprachlicher Mittel (Egocentriki), von denen die folgenden in die hier dargestellten Analysen mit einbezogen wurden: a) Egocentriki, die auf den Sprecher als Subjekt der Deixis (govorjasˇcˇij v roli sub’’ekta dejksisa) verweisen: sprachliche Mittel – üblicherweise als Deiktika beschrieben – die nur indexikalische Funktion haben: wie Temporaladverbien (cejcˇas, ‚jetzt‘) oder Lokaladverbien (zdes’, ‚hier‘).

5

weg auf ein erst in einer Äußerung konstituiertes Subjekt verschoben werden kann, erklärt sich nicht durch die zerdehnte Sprechsituation, sondern dadurch, dass in einer Äußerung ein neuer Bezugspunkt (ein nicht mit dem Sprecher identisches wahrnehmendes Subjekt) eingeführt wird, was in Erzählungen regelmäßig der Fall zu sein scheint. Dies kann jedoch ebenso wie in schriftlich fixierten Texten auch in mündlichen Erzählungen, bei Kopräsenz von Hörer und Sprecher, geschehen. Es sei jedoch von linguistischer Seite nicht zu entscheiden, ob zum Beispiel Bewertungen, die auf eine die Sprecherrolle einnehmende Instanz zurückgehen, dem Autor oder aber dem fiktiven Erzähler zuzuschreiben seien. Diese Unterscheidung zu treffen, sei Sache des Literaturwissenschaftlers (Paducˇeva 1996, 215).

236

Christina Janik

b) Egocentriki, die einen Sprecher als Subjekt der Rede und des Bewusstseins bzw. der Wahrnehmung implizieren (govorjasˇcij v roli sub’’ekta recˇi i soznanija, v tom cˇisle i vosprijatija).

Darunter fallen wiederum eine Reihe von Untergruppen, aus denen folgende in die Analyse mit einbezogen wurden (Paducˇeva 1996, 276ff.)6: a) Prädikate innerer Zustände („predikaty vnutrennogo sostojanija“): z.B. Modalwörter wie: bez somnenija ‚zweifellos‘, verojatno ‚wahrscheinlich‘, vozmozˇno ‚möglicherweise‘, dejstvitel’no ,wirklich‘. b) Ausdrücke von Unerwartetheit („slova so znacˇeniem neozˇidannosti): vdrug ,plötzlich‘, udivitel’nym obrazom ‚überraschenderweise’. c) Unbestimmte Pronomen und Adverbien („neopredelennye mestoimenija i narecˇija“): dlja kogo-to ‚für irgendjemanden‘, pocˇemu-to ‚aus irgendeinem Grund‘.

Der Gebrauch einiger dieser sprachlichen Mittel im Text lässt sich anhand der folgenden Ausschnitte illustrieren: Egocentriki: (7) Vdrug posypalsä pervyj sneg; i takimi Ωivymi almazikami on, tancuä, posverkival v svetovom krugu fonarä; svetlyj krug çut-çut´ ozaräl teper´ i dvorcovyj bok, i kanalik, i kamennyj mostik: v glubinu ubegala Kanavka; bylo pusto: odinokij lixaç posvistyval na uglu, podΩidaä kogo-to; na proletke nebreΩno leΩala seraä nikolaevka. (Belyj, Peterburg) Plötzlich begann der erste Schnee zu fallen, und mit solch lebendigen kleinen Diamanten funkelte er, tanzend, im runden Schein der Laterne; der Lichtkreis erhellte jetzt ein wenig den Palast, den kleinen Kanal und das steinerne Brücklein: in die Tiefe entfloh der Kanal; es war leer: ein einsamer Kutscher pfiff an der Ecke vor sich hin, auf irgendjemanden wartend; in der Droschke lag nachlässig ein grauer Uniformmantel. (8) I neizvestno, kto trubit noç´ü na kamennoj tropinke meΩdu skal i, vynüxivaä tropinku, razduvaet beluü sneΩnuü pyl´; moΩet, seroxobotyj mamont; moΩet byt´, veter; a moΩet byt´ – veter i est´ ledänoj rev kakogo-to mamontej‚ego mamonta. (Zamjatin, Pesˇcˇera) Und es ist unbekannt, wer nachts auf dem steinernen Pfad zwischen den Felsen bläst und, den Weg beschnüffelnd, schneeweißen Staub auseinander pustet; vielleicht ein

6

Weitere, hier jedoch nicht berücksichtigte Gruppen von „Egocentriki“ im Sinne Paducˇevas (1996, 279ff.) sind: Prädikate zur Bezeichnung von Übereinstimmung und Ähnlichkeit („predikaty so znacˇeniem schodstva i podobija“): z.B. napominal, ‚erinnerte an‘; Ausdrücke der Identifikation von Personen („pokazateli identifikacii“): z.B. tot samyj ‚jener selbige‘; metatextuelle Elemente („metatekstovye elementy“): z.B. sledovatel’no ‚folglich‘; verallgemeinernde Wendungen („obobsˇcˇajusˇcˇie vrezki“): kak vsegda ,wie immer‘; Ausdrücke von Wertung („slova s ocenocˇnym znacˇeniem“): z.B. trus ‚Feigling‘.

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 237 grau-rüsseliges Mammut, vielleicht der Wind, doch vielleicht ist der Wind ja auch das eisige Heulen irgendeines mammutösen Mammuts.

Zählt man nun Egocentriki 7 in den Texten des Korpus, so zeigt sich, dass diese in den Texten des Realismus im Gegensatz zu denen des Modernismus kaum vorkommen: 8

6

Deiktika

4

Weitere E.

2

0 (Turg1)

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 6: Auftretenshäufigkeit von Deiktika und weiteren Egocentriki pro 1000 Zeichen

Dieser Unterschied wird in der die Texte epochenweise zusammenfassenden Übersicht (hier für die Egocentriki im weiten, Deiktika mit einschließenden Sinne) sehr deutlich: 6

4

2

0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 7: Auftretenshäufigkeit von Egocentriki pro 1000 Zeichen, epochenweise

Zusätzlich wurde für einzelne Ausdrücke die Verteilung auf die einzelnen Texte untersucht und zwar für Raumdeiktika (zdes’ ,hier‘, tam ,dort‘, tut 7

In der Grafik werden Deiktika und weitere Egocentriki unterschieden.

238

Christina Janik

,da‘), Zeitdeiktika (sejcˇas ,jetzt‘, teper’ ‚jetzt‘, segodnja ,heute‘, vcˇera ,gestern‘, zavtra ,morgen‘) und Unbestimmtheit (,irgend‘-) ausdrückende Morpheme (-to und -nibud’) sowie vdrug ,plötzlich‘. Hier wurde über die Farben und Muster in den Säulen angegeben, welchen Epochen die Token entstammen. Es wird deutlich, dass der überwiegende Teil der jeweiligen Token aus den Texten des Modernismus (Schachmuster) oder des Übergangs (gestreift) stammt und nur in wenigen Fällen, auffällig für -to, auch aus denen des Realismus (ungemustert): 50

40 Zam Belyj Pil2

30

Pil1 Chech 20

Turg2 Tolst (Turg1)

10

0 zdes'

tam

tut

sejchas

teper'

segodnja

vchera

zavtra

-to

-nibud'

vdrug

Abb. 8: Auftretenshäufigkeit ausgewählter Egocentriki bezogen auf Epochen

3. Schluss: Modernismus gegenüber Realismus: Komplementäre Verfahren der Darstellung von Rede und Wahrnehmung Wie stehen diese Ergebnisse nun im Zusammenhang mit der Ausgangshypothese? Sowohl Deiktika im engeren Sinne als auch Egocentriki können auf den Sprecher / Erzähler als auch auf Figuren im Text bezogen sein. Das heißt, das Auftreten von Egocentriki und Deiktika kann nicht unmittelbar als Ausdruck von Figurenpositionen gedeutet werden, sie können ebenfalls auf die Position des Sprechers verweisen. In jedem Falle aber treten mit den Egocentriki in den modernistischen Texten verstärkt sprachliche Mittel auf, die zwar ein sprechendes bzw. wahrnehmendes Subjekt implizieren, dieses jedoch nicht mehr eindeutig – von einer übergeordneten

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 239

Perspektive aus – benennen. Im Realismus sind durch die „cogitat“Prädikate die Subjekte der jeweiligen mentalen Vorgänge demgegenüber eindeutig benannt. Stellt man die Ergebnisse zu „cogitat“-Situationen und Egocentriki einander gegenüber, so zeigt sich eine komplementäre Verteilung, die die Annahme stützt, dass es sich bei diesen Verfahren tatsächlich um alternative – erzähler- / sprecherabhängige vs. erzählerunabhängige – Weisen der Darstellung des Innenlebens von Figuren handelt. Während die Zahl der mentalen Zustände eindeutig einer Figur zuweisenden „cogitat“-Prädikate zum Modernismus hin abnimmt, nimmt die Zahl der das denkende / wahrnehmende Subjekt nicht genau bezeichnenden Egocentriki zu: 5

4

3 cogitat Egoc. 2

1

0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 9: „cogitat“-Prädikat vs. Egocentriki, epochenweise

Besonders interessant ist hinsichtlich des Verhältnisses von Verben für mentale Vorgänge vs. Egocentriki Cµechov. Bei ihm treten Verben für mentale Zustände / Vorgänge (im nächsten Beispiel unterstrichen) zwar zahlreich auf, doch auch die Zahl der Egocentriki (fett) ist hoch. In Cµechovs Text, einem Text des Übergangs, scheinen „alte“ und „neue“ Verfahren tatsächlich nebeneinander zu bestehen 8: (9) Qti slova, takie obyçnye, poçemu-to vdrug vozmutili Gurova, pokazalis´ emu unizitel´nymi, neçistymi. (Cµµechov, Dama s sobacˇkoj) Diese ganz gewöhnlichen Worte empörten Gurov plötzlich aus irgendeinem Grund und erschienen ihm erniedrigend und unrein.

8

Das Gleiche gilt auch für die untersuchten Parameter zur Redewiedergabe: Es treten bei Cµechov sowohl noch zahlreiche inquit-Formeln als auch Frage- und Ausrufesätze auf (s. Abb. 2 und 3).

240

Christina Janik

Folgende Abbildung verdeutlicht dies: 8

6

cogitat

4

Egoc.

2

0 (Turg1)

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 10: Verteilung von Verben für mentale Vorgänge vs. Egocentriki, pro 1000 Zeichen

Karikierend lassen sich die Darstellungsweisen des Innenlebens der Charaktere für die untersuchten Textgruppen folgendermaßen zusammenfassen: Realismus: Unser Held dachte ständig an Anna und daran, wie wunderbar sie war. Übergang: Aus irgendeinem Grund dachte er plötzlich wieder an Anna. Modernismus: Anna! Wie wunderbar sie war. Vielleicht liebte er sie wirklich?

Und auch die Ergebnisse zur Redewiedergabe lassen eine entsprechende Veränderung der Darstellungsweisen im Modernismus gegenüber dem Realismus erkennen: Während im Realismus durch inquit-Formeln in einer Mehrzahl der Fälle eindeutig markiert wird, wer spricht, treten inquitFormeln im Modernismus seltener auf. Dafür treten jedoch fast nur im Modernismus als „erlebte (Figuren-)Rede“9 zu deutende Ausrufe- und Fragesätze auf, in denen das Subjekt der Rede jedoch nicht explizit benannt wird.

9

Natürlich kann „erlebte Rede“ auch die Form von Aussagesätzen annehmen, was vermutlich sogar mehrheitlich der Fall ist. Dieser wurde bei der quantitativen Auswertung jedoch nicht berücksichtigt, da diese Fälle, anders als die Quantifizierung der Satzzeichen, mehr Interpretationsarbeit erfordern und die Quantifizierungen damit unschärfer werden. Daher wird hier auch darauf verzichtet, die Häufigkeit von inquit-Formeln der Häufigkeit von Frage- / Ausrufesätzen gegenüberzustellen, da zwischen diesen Parametern ein Ungleichgewicht besteht.

Sprech- und Wahrnehmungspositionen in russischen Erzähltexten im Vergleich 241

Zusammenfassend ergibt sich, dass Sprech- und Wahrnehmungspositionen im Modernismus anders als im Realismus seltener explizit markiert sind und so dem Leser mehr Interpretationsleistung abverlangt wird. Dies lässt sich zugleich als Bestätigung der aus literaturwissenschaftlicher Sicht formulierten Hypothese der abgeschwächten Perspektive des Erzählers im Modernismus ansehen: Tendenziell sprechen/denken die Figuren in den modernistischen Erzählungen häufiger „für sich selbst“, unabhängiger von der Erzählinstanz. 4. Quellen A Realismus: Turgenev, I. (Turg1). Zapiski Ochotnika: Bezˇin Lug. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Textanfang; 3.475 Zeichen). Tolstoj, L. (Tol). 1999. Anna Karenina. Moskva. (Kapitel 1, I; 1, XXX; 2, XXVII; 3, XIX; 4, XVI; 5, XXI; 6, XVII; 7, XIV; 43.719 Zeichen). Turgenev, I. (Turg2). Otcy i Deti. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; V; VII; IX; 38.163 Zeichen). B Übergang: Cµechov, A. (Chech). Dama s sobacˇkoj, www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; 14136 Zeichen). Pil’njak, B. (Pil1). 1994. Lesnaja Dacˇa. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 461 ff. Moskva. (Textanfang; 3.480 Zeichen). C Modernismus: Pil’njak, B. (Pil2). 1994. Golyj God. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 6 ff. Moskva. (Kapitel III: O svobodach - glazami Andreja; 14.560 Zeichen). Belyj, A. (Bel). 1994. Peterburg. Moskva Respublika. (Kapitel 1: Apollon Apollonovicˇ Ableuchov; 2: Podlost’, podlost’, podlost’; 3: Tatam: tam, tam!; 4: Pis’mo; 6: Vnov’ nasˇcˇupalas’ nit’ ego bytija; 6: Peterburg; 7: Gadina; 8: Cµasiki; 60.360 Zeichen). Zamjatin, E. (Zam). Pesˇcˇera. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (ganz; 15.086 Zeichen).

242

Christina Janik

5. Literatur Bühler, K. 1999. Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. 3. Aufl., ungekürzter Neudruck der Ausg. Jena 1934. Stuttgart. Ehlich, K. 1983. Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von A. Assmann et al. München, 24– 43. Paducˇeva, E.V. 1996. Semanticˇeskie Issledovanija: Semantika vremeni i vida v russkom jazyke; semantika narrativa. Moskva.

CHRISTINA JANIK

Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 1. Einleitung Kohärenz beruht auf den Beziehungen, die Sprecher und Leser zwischen in einem Text sprachlich repräsentierten Sachverhalten herstellen können. Diese Beziehungen sind nur zum Teil an der Textoberfläche explizit gemacht, zu einem weiteren nicht unbedeutenden Teil werden sie unter Rückgriff auf nicht-sprachliches Wissen inferiert1. In diesem Kapitel geht es um sprachliche Mittel, durch die temporale, kausale und lokale Relationen zwischen Sachverhalten an der Textoberfläche explizit markiert sind, und um die Frage, ob in realistischen Texten von diesen sprachlichen Mitteln in anderer Weise Gebrauch gemacht wird als in modernistischen. Untersucht wurden zum einen die Auftretenshäufigkeit von temporalen und kausalen Konjunktionen, zum anderen die von Temporal, Lokal- und Kausaladverbialia. Die genannten sprachlichen Mittel wurden in den Texten des Untersuchungskorpus (s. Abschnitt 5 Quellen 2) durch Tags markiert und in einem zweiten Schritt automatisch ausgezählt (vgl. Kapitel 1 „Sprech- und Wahrnehmungspositionen“, in diesem Band). Für die Adverbialia wurden kausale, temporale und lokale Adverbialia berücksichtigt und zusätzlich die Position der Adverbialia (satzinitial, absatzinitial, „andere“) im interpunktorischen Satz markiert. Folgende Beispiele illustrieren diese Unterscheidungen:

1

2

Zu einem auf kognitive Verarbeitungsprozesse in erster Linie des Lesers bezogenen Kohärenz-Begriff s. Givón (1990, 896ff.), für eine Übersicht s. auch Rickheit/Schade (2000). Zum Aufbau des Korpus vgl. Fußnote 1 in Kapitel 1 „Sprech- und Wahrnehmungspositionen“ (Janik, in diesem Band).

244

Christina Janik

a) Lokaladverbial, satzinitial: (1) Po ulice probegali obydennye obyvateli [...] (Belyj, Peterburg) Die Straße entlang liefen die gewöhnlichen Bürger [ ... ]

b) Temporaladverbial, absatzinitial: (2) Na tretij den´ posle ssory knäz´ Stepan Arkad´iç Oblonskij […] prosnulsä ne v spal´ne Ωeny, a v svoem kabinete, [... ](Tolstoj, Anna Karenina) Am dritten Tag nach dem Streit wachte Fürst Stepan Arkadi’icˇ Oblonskij […] nicht im Schlafzimmer seiner Frau, sondern in seinem Arbeitszimmer auf [...]

c) Kausaladverbial, „andere“ Position: (3) I s oseni do vesny toΩe rabotali, sgoraä ot dyma, [...] (Pil’njak, Golyj God) Und von Herbst bis Frühling arbeiteten sie auch, brennend vom Rauch, [...]

Bei der Untersuchung der Konjunktionen wurde differenziert zwischen subordinierenden und koordinierenden Konjunktionen3. Die subordinierenden wurden weiter unterteilt in temporale, kausale und „andere“ Konjunktionen. Bei den koordinierenden Konjunktionen war in besonderer Weise der Gebrauch des satzinitialen I (‚und‘) von Interesse, da dessen Gebrauch stilistisch markiert ist (Dorgeloh 2004). Dieses wurde unter den zunächst sowohl satz- als auch satzteilverknüpfenden koordinierenden Konjunktionen in einem zweiten Schritt gesondert untersucht. Es folgen diese Untersuchungsgegenstände illustrierende Beispiele: d) Subordinierende kausale Konjunktion: (4) Ona sela v tret´em rädu, i kogda Gurov vzglänul na nee, to serdce u nego sΩalos´, […] (Cˇechov, Dama s sobacˇkoj) Sie setzte sich in die dritte Reihe, und als Gurov sie ansah, zog sich ihm das Herz zusammen [...]

e) Koordinierendes I; satzinitial: (5) I qto xoro‚o. I nuΩno, çtob ne bylo neveroätnogo zavtra, […] (Zamjatin, Pesˇcˇera) Und das ist gut. Und es durfte kein unwahrscheinliches Morgen geben [... ]

3

Zur Orientierung dienten die Kategorisierungen der Grammatik der russischen Sprache, Berlin 2001 von E. G. Kirschbaum.

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 245

2. Adverbialia 2.1 Quantitative Ergebnisse Betrachtet man zunächst die Auftretenshäufigkeit der untersuchten Adverbialklassen, so zeigt sich zwischen den untersuchten Texten auf den ersten Blick eine Übereinstimmung, was das zahlenmäßige Verhältnis der einzelnen Adverbialklassen zueinander betrifft: In allen Texten spielen Kausaladverbialia eine untergeordnete Rolle, unter den beiden weiteren Gruppen überwiegen in allen Texten die Lokaladverbialia vor den Temporaladverbialia: 10 9 8 7 6 Lokal 5

Temporal Kausal

4 3 2 1 0 Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 1: Verteilung der Adverbialtypen auf die einzelnen Texte pro 1000 Zeichen

Sieht man von dem Text Turg1 ab, so zeigt sich, dass die Anzahl der Temporaladverbialia pro 1000 Zeichen in Realismus und Modernismus in etwa vergleichbar ist. Die Zahl der Lokaladverbialia im Modernismus beträgt jedoch fast ein Zweifaches der Zahl der Temporaladverbialia, während der Unterschied im Realismus deutlich geringer ist. Diese Tendenz wird noch deutlicher in folgender, die Texte epochenweise zusammenfassenden Übersicht:

246

Christina Janik

10 8 Lokal

6

Temporal 4

Kausal

2 0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 2: Verteilung der Adverbialtypen pro 1000 Zeichen, epochenweise

Aus dieser Verteilung ist nun nicht unmittelbar der Schluss zu ziehen, dass kausale Beziehungen zwischen Sachverhalten grundsätzlich in narrativen Texte eine untergeordnete Rolle spielen, temporale Verhältnisse wiederum eine geringere Rolle als lokale. Vielmehr sagt diese Verteilung zunächst nur, welche Art von Sachverhaltsbeziehungen häufiger explizit markiert wird. Die Häufigkeit der expliziten Markierung nimmt offenbar mit dem Grad der Abstraktheit, bestimmbar vielleicht über die Wahrnehmbarkeit der betreffenden Informationen, ab: Kausale Beziehungen wären demnach als besonders abstrakt, nicht unmittelbar beobachtbar anzusehen, lokale als vergleichsweise konkret. Damit hängt die Häufigkeit des Auftretens expliziter Markierungen dieser Relationen also möglicherweise zunächst damit zusammen, in welchem Grade sie überhaupt explizit ausdrückbar sind bzw. in welchem Maße sie grundsätzlich inferiert werden müssen. Temporale Beziehungen zwischen Sachverhalten wiederum können auch im Modernismus eine zentrale kohärenzstiftende Funktion spielen, es bleibt jedoch dem Rezipienten stärker überlassen, diese zu inferieren. Die Lokaladverbialia wurden zusätzlich daraufhin untersucht, welchen Anteil anaphorische Pronomen an der jeweiligen Gesamtzahl dieses Adverbials in den einzelnen Texten haben. Dabei handelt es sich um semantisch vergleichsweise leere Proformen, deren Referenzbereich von zuvor im Text eingeführten Größen abhängt, auf die sie zurückverweisen. Anaphorik wird als ein typisches Kohärenzmittel angesehen, das jedoch in größerem Maße auf der Inferenzleistung des Rezipienten beruht (s. Hoffmann 2000). Als anaphorisch wurden Pronomen wie tam ‚dort‘, tut ‚da‘, zdes’ ‚hier‘ gezählt, wenn sie eindeutig eine rückverweisende, konnektive

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 247

Funktion (s. das folgende Beispiel) und keine auf die Origo einer Figur im Text bezogene deiktische Funktion hatten4. (6) Ä dobralsä, nakonec, do ugla lesa, no tam ne bylo nikakoj dorogi [...] (Turgenev, Bezˇin Lug) Ich gelangte schließlich bis zum Waldrand, doch dort gab es keinerlei Weg [...]

Hier zeigt sich eine Tendenz zu geringerer Bedeutung von Anaphorik im Modernismus, wobei Belyj allerdings den Werten der realistischen Texte noch recht nahe kommt, deutlich näher als Pil’njak und Zamjatin: 1

100% 5

27

20

10

28

183

170

108

Turg1

Tolst

Turg

Chech

3

4 45

80%

60%

40%

31

110

Pil1

Pil2

497

114

davon anaph. Lokaladvb.

20%

0% Belyj

Zam

Abb. 3: Prozentualer Anteil anaphorischer Pronomen an den Lokaladverbialia pro Text

Es wäre unter Einbezug weiterer modernistischer Texte zu untersuchen, inwiefern die Verteilung bei Belyj tatsächlich als für die Epoche eher untypisch einzuschätzen ist. In der die Texte epochenweise zusammenfassenden Übersicht ergibt sich nur ein leichter Unterschied zwischen Realismus und Modernismus; dieser wäre deutlicher, könnte man die Ergebnisse für Belyj gesondert behandeln:

4

In dem Falle wären sie als Egocentriki zu betrachten (s. Kapitel 1 Wahrnehmungspositionen).

248

Christina Janik 100% 17

5,5

17

69,5

240

Übergang

Modernismus

80%

60% davon anaph. 127

40%

Lokaladvb.

20%

0% Realismus

Abb. 4: Anteil anaphorischer Pronomen an den Lokaladverbialia, epochenweise

2.2 Positionen der Adverbialia im Satz Es wurde versuchsweise zusätzlich untersucht, ob sich für die verschiedenen Epochen bei der Positionierung der auftretenden Adverbialia im Satz ein Unterschied ergibt. So sind Satz- und Absatzanfänge die Positionen, an denen Adverbialia meistens Diskontinuität, lokale Adverbialia also beispielsweise Raumwechsel markieren (Björklund / Virtanen 1991, 98, vgl. auch Zubin / Hewitt 1995, 145). Für die Lokaladverbialia, die insgesamt im Modernismus mit einem geringeren Anteil auftreten als im Realismus, ergeben sich bei der Verteilung auf die unterschiedlichen Positionen im Satz (satz-, absatzinitial und andere) tendenziell epochenspezifische Unterschiede. So stehen bei Zamjatin und Pil’njak um 20 Prozent der auftretenden Lokaladverbialia an satz- bzw. absatzinitialer Position, im Realismus nur um 5 Prozent. Belyj allerdings zeigt wieder fast die gleiche Verteilung wie Tolstoj: 100%

80%

60%

Rest Absatzinitial Satzinitial

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 5: Verteilung der Lokaladverbialia auf die möglichen Positionen im Satz in Prozent

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 249

In der die Einzeltexte zusammenfassenden Darstellung ist die Tendenz noch ersichtlich, allerdings durch die starke Abweichung Belyjs von den anderen modernistischen Autoren nicht signifikant: 100%

80%

60%

Rest Absatzinit. Satzinitial

40%

20%

0% Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 6: Prozentuale Verteilung der Lokaladverbialia bezogen auf die möglichen Positionen im Satz, epochenweise

Für die Temporaladverbialia zeichnet sich eine ähnliche Tendenz ab wie für die Lokaladverbialia, und wieder scheint sich Belyj gegenüber den beiden anderen Modernisten abweichend zu verhalten. Während im Realismus um 20 Prozent der satz- und absatzinitialen Positionen besetzt werden, sind es bei Pil’njak und Zamjatin im Modernismus um 40 Prozent. 100% 80% Rest

60%

Absatzinit. 40%

Satzinitial

20% 0% Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 7: Prozentuale Verteilung der Temporaladverbialia bezogen auf mögliche Positionen im Satz

250

Christina Janik

In der die Texte epochenweise zusammenfassenden Übersicht wird trotz der größeren Nähe Belyjs zur realistischen Verteilung noch deutlich, dass in den modernistischen Texten doppelt so viele Temporaladverbialia die satz- und absatzinitialen Positionen besetzen wie im Realismus: 100%

80%

60%

Rest Absatzinit. Satzinitial

40%

20%

0% Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 8: Verteilung der Temporaladverbialia bezogen auf die möglichen Positionen im Satz in Prozent, epochenweise

Diese quantitativen Ergebnisse wären in weiteren Schritten durch qualitative Analysen zu ergänzen und es wäre zu überprüfen, ob die Adverbialia an absatz- und satzinitialen Positionen in den Texten tatsächlich mehrheitlich als Diskontinuitätsmarker dienen. Wäre dem so, so ließe sich festhalten, dass die modernistischen Texten tendenziell diskontinuierlicher sind als die realistischen, also mehr Raumwechsel bzw. Brüche in der Chronologie aufweisen, was den subjektiven Lektüre-Eindruck bestätigen würde. Allerdings könnte sich dieses Ergebnis auch als vorschnell erweisen. Tatsächlich wäre zunächst nur festzuhalten, dass in den modernistischen Texten gegenüber den realistischen räumliche und zeitliche Koordinaten tendenziell häufiger explizit markiert werden. Das heißt, es könnte immer noch sein, dass die realistischen Texte gleichermaßen kontinuierlich oder diskontinuierlich sind wie die modernistischen, räumliche und zeitliche Koordinaten jedoch aufgrund anderer textueller Hinweise stärker inferiert werden müssen. 2.3 Durch die Lokaladverbialia bezeichnete Bezugsräume Für die Lokaladverbialia wurde zusätzlich versucht zu bestimmen, um welche Art von im weiteren Sinne räumlichen Angaben es sich dabei im

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 251

Einzelnen handelt. Die Gliederung der Räume lehnt sich an die Granularitätskriterien von Marszk (in diesem Band) an, indem der Mensch als Maßstab für die Differenzierung dient zwischen ihn umgebenden Räumen (Innen- vs. Außenraum), wahrnehmbaren Bezugsgrößen (z. B. andere Menschen, der menschliche Körper) und nicht-wahrnehmbaren Größen. Als mögliche Bezugsräume wurden so probeweise unterschieden:

• • • • • •

Außenraum: alles außerhalb eines Hauses sowie große Gegenstände außerhalb des Hauses; z. B. ‚ins Theater‘, ‚neben dem Denkmal‘, ‚auf dem Pferd‘, ‚neben der Kutsche‘ Innenraum: Räume, aber auch große Gegenstände im Haus; z. B. ‚ins Schlafzimmer‘, ,auf dem Sofa‘ Mensch: z. B. ‚neben ihr‘, ‚zu Alexej‘ Körper: z. B. ‚in die Hand‘, ‚auf der Stirn‘ Abstrakta: Mentale und metaphorische Räume: z. B. ‚in der Seele‘, ‚in dieser Situation‘ Andere: Räume ohne genaue Referenz; ausgedrückt z. B. durch Indefinitpronomen.

Vermutet wurde, dass sich die Texte der einzelnen Epochen in der Größe hergestellter räumlicher Bezüge unterscheiden könnten und so z. B. Lokaladverbialia im Realismus auf Räume im buchstäblichen Sinne verweisen, im Modernismus eher auf Körperteile oder Abstrakta. Das sich ergebende Bild scheint jedoch eher das Gegenteil zu zeigen. In den modernistischen Texten von Pil’njak und Zamjatin finden sich mehr (zwischen 70 % und 80 %) Verweise auf „echte“ Außen- bzw. Innenräume (grau und ungemustert im Diagramm) als in den realistischen Texten (um 50 %). Belyj steht allerdings auch in dieser Hinsicht wieder der Verteilung im Realismus näher als den beiden anderen Modernisten: 100%

80% Andere Abstrakta

60%

Körper Mensch

40%

Innenraum Außenraum

20%

0% Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 9: Prozentuale Verteilung durch Lokaladverbialia ausgedrückter Verweisräume

252

Christina Janik

Noch eine weitere Tendenz zeichnet sich ab: Im Modernismus scheinen weniger räumliche Beziehungen zwischen „Menschen“ hergestellt zu werden. Folgendes Diagramm stellt noch einmal nur diese Bezüge sowie die Verweise auf „echte“ Außen- und Innenräume, jetzt zusammengefasst, den restlichen Lokalangaben gegenüber, um die tendenziellen Unterschiede deutlicher zu machen: 100%

80%

60%

Rest Mensch "Echte" R.

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 10: Prozentuale Verteilung ausgewählter durch Lokaladverbialia ausgedrückter Verweisräume

3. Konjunktionen 3.1 Häufigkeit und Verteilung subordinierender Konjunktionen Die Auftretenshäufigkeit subordinierender Konjunktionen gibt zum einen indirekt Aufschluss über syntaktische Spezifika der Texte. Zum anderen stellen (temporale, kausale) subordinierende Konjunktionen neben den oben untersuchten Adverbialien eine weitere Möglichkeit dar, die entsprechenden (temporalen, kausalen) Relationen zwischen Sachverhalten explizit zu machen. Was die Auftretenshäufigkeit subordinierender Konjunktionen insgesamt betrifft, so wäre vor dem Hintergrund der Ergebnisse der SyntaxUntersuchung (Hodel in diesem Band) zu erwarten, dass in den modernistischen Texten weniger subordinierende Konjunktionen auftreten, da in ihnen die Satztiefe geringer ist und die Parataxe eine größere Rolle spielt als im Realismus. Allerdings zeichnet sich diese Tendenz nur unscharf ab. Allein bei Zamjatin treten auffällig wenig subordinierende Konjunktionen auf:

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 253

5 4 Andere

3

Kausale 2

Temporale

1 0 Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 11: Subordinierende Konjunktionen pro 1000 Zeichen

Zugleich geht aus den Diagrammen hervor, dass kausale Relationen epochenübergreifend sehr viel seltener markiert werden als temporale. Es ergibt sich hier also ein ähnliches Bild wie bei den Adverbialia. Deutliche Unterschiede zwischen den Epochen lassen sich bezüglich der Verteilung auf die einzelnen Konjunktionstypen jedoch nicht feststellen. 3.2 Koordinierende Konjunktionen Für die koordinierenden Konjunktionen lassen sich, betrachtet man alle Texte, ebenfalls keine epochenabhängigen Spezifika feststellen. Vergleicht man allerdings allein Tolstoj und Belyj, so zeigt sich ein deutlicher quantitativer Unterschied: Bei Tolstoj treten fast doppelt so viele koordinierende Konjunktionen auf wie bei Belyj. Da hier jedoch noch nicht zwischen unterschiedlichen Arten koordinierender Konjunktionen differenziert wurde (satz-verknüpfende vs. satzteil-verknüpfende), ist dieser Unterschied zunächst auch vor dem Hintergrund, dass er sich nur auf die beiden Autoren bezieht, weniger interessant:

254

Christina Janik

14 12 10 8 6 4 2 0 Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 12: Koordinierende Konjunktionen pro 1000 Zeichen

Ein deutlicher auf die jeweiligen Epochen als ganze zu beziehender Unterschied ergibt sich jedoch beim stilistisch markierten Gebrauch von I (‚und‘) in satzinitialer Position. Es tritt in allen modernistischen, jedoch in nur einem der realistischen Texte (Tolstoj) auf. Interessanterweise ist die Zahl der Fälle pro 1000 Zeichen für Tolstoj und Belyj erneut gleich, während sie in den beiden anderen modernistischen Texten (Pil’njak2 und Zamjatin) um ein Drittel bzw. um die Hälfte größer ist: 0,8 0,6 0,4

Satzinit. I

0,2 0 Turg1

Tolst

Turg

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 13: Auftretenshäufigkeit des satzinitialen I pro 1000 Zeichen

Fasst man die Texte epochenweise zusammen, wird dieser Unterschied noch deutlicher ersichtlich:

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 255 0,6 0,5 0,4 0,3

Satzinit. I

0,2 0,1 0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 14: Satzinitiales I pro 1000 Zeichen, epochenweise

Es ist zu vermuten, dass diese Entwicklung insgesamt mit einer zunehmenden Kolloquialisierung einhergeht. Faktoren, die diese bedingt haben mögen, müssten für das Russische anhand eines größeren Korpus jedoch noch genauer untersucht werden (vgl. Dorgeloh 2004 für das Englische). 4. Schluss Für die untersuchten Ausdrücke temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten haben sich – neben einzelnen deutlichen Übereinstimmungen – auf verschiedenen Ebenen Tendenzen zu einem unterschiedlichen Gebrauch im Modernismus gegenüber dem Realismus ergeben. Als epochenübergreifend gültig hat sich erwiesen, dass sowohl durch Adverbialia als auch durch (subordinierende) Konjunktionen markierte temporale Verknüpfungen von Sachverhalten weit häufiger auftreten als kausale. Durch Adverbialia markierte lokale Sachverhaltsverknüpfungen überwiegen wiederum vor temporalen und lokalen. Bei diesen Merkmalen scheint es sich also, ähnlich wie bei einzelnen in Kapitel 4 („Chronologie”) beschriebenen Realisationsformen aktionaler Situationen, um für narrative Texte konstitutive Charakteristika zu handeln. Weitere Ergebnisse stützen die Annahme einer zum Modernismus hin zunehmenden Kolloquialisierung, wofür zum einen das Vorherrschen parataktischer Konstruktionen spricht, die einerseits mit einer geringeren Zahl subordinierender Konjunktionen in den modernistischen Texten einhergeht, und andererseits mit einem deutlich häufigeren Vorkommen von satzinitialem ‚und‘ das Ausdrucksmittel einer der einfachsten Formen der – rein sequentiellen – Verknüpfung von Situationen in einem narrativen Text ist. Zudem zeigt sich, exemplarisch anhand der Lokaladverbialia untersucht, eventuell eine Tendenz zu einer selteneren anaphorischen Verwen-

256

Christina Janik

dung von Lokaladverbialia in den modernistischen Texten gegenüber den realistischen. Im Zusammenhang mit der sich ebenfalls abzeichnenden Tendenz, dass in den modernistischen Texten Satzadverbialia häufiger satzinitiale und absatzinitiale als andere Positionen im Satz einnehmen, lässt sich die Hypothese formulieren, dass zur Verknüpfung zwischen Sachverhalten im Modernismus häufiger Verfahren gewählt werden, die weniger Inferenzleistung vom Rezipienten verlangen. Dieses steht im Einklang mit den Ergebnissen zum Gebrauch sprachlicher Mittel zum Ausdruck von Koreferenz (Kapitel 3), für die ebenfalls eine Entwicklungstendenz zu mehr Explizitheit im Modernismus gegenüber dem Realismus festgestellt wurde. 5. Quellen A Realismus: Turgenev, I. (Turg1). Zapiski Ochotnika: Bezˇin Lug. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Textanfang; 3.475 Zeichen). Tol’stoj, L. (Tol). 1999. Anna Karenina. Moskva. (Kapitel 1, I; 1, XXX; 2, XXVII; 3, XIX; 4, XVI; 5, XXI; 6, XVII; 7, XIV; 43.719 Zeichen). Turgenev, I. (Turg2). Otcy i Deti. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; V; VII; IX; 38.163 Zeichen). B Übergang: Cµechov, A. (Chech). Dama s sobacˇkoj, www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; 14.136 Zeichen). Pil’njak, B. (Pil1) 1994. Lesnaja Dacˇa. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 461 ff. Moskva. (Textanfang; 3.480 Zeichen). C Modernismus: Pil’njak, B. (Pil2) 1994. Golyj God. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 6 ff. Moskva. (Kapitel III: O svobodach - glazami Andreja; 14.560 Zeichen). Belyj, A. (Bel) 1994. Peterburg. Moskva. (Kapitel 1: Apollon Apollonovicˇ Ableuchov; 2: Podlost’, podlost’, podlost’; 3: Tatam: tam, tam!; 4: Pis’mo; 6: Vnov’ nasˇcˇupalas’ nit’ ego bytija, 6: Peterburg; 7: Gadina; 8: Cµasiki; 60.360 Zeichen). Zamjatin, E. (Zam). Pesˇcˇera. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (ganz; 15.086 Zeichen).

6. Literatur Björklund, M. / Virtanen, T. 1991. Variation in narrative structure. A simple text vs. an innovative work of art. Approaches to the analysis of literary discourse. Hrsg. von E. Ventola. Åbo, 95–118.

Explizitzeit kausaler, temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten 257 Dorgeloh, H. 2004. Conjunction in sentence and discourse: sentence-inital and and discourse structure. Journal of Pragmatics 36, 1761–1779. Halliday, M. A. K., Hasan, R. 1976. Cohesion in Spoken and Written Englisch. London. Hoffmann, L. 2000. Anapher im Text. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 16: Text- und Gesprächslinguistik. 1. Halbband. Hrsg. von K. Brinker et al. Berlin, 295–304. Rickheit, G., Schade, U. 2000. Kohärenz und Kohäsion. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 16: Text- und Gesprächslinguistik. 1. Halbband. Hrsg. von K. Brinker. Berlin, 275–282. Vater, H. 1992. Einführung in die Textlinguistik: Struktur, Thema und Referenz in Texten. München. Zubin, D. A., Hewitt, L. E. 1995. The Deictic Center: A Theory of Deixis in Narrative. Deixis in Narrative. A Cognitive Science Perspective. Hrsg. von J.F. Duchan et al. Hillsdale, New Jersey / Hove, UK, 129–158.

CHRISTINA JANIK

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus 1. Einleitung Der Begriff Koreferenz erfasst das Verweisen mehrerer in einem Text auftretender sprachlicher Mittel auf den gleichen (außertextuellen) Gegenstand bzw. Referenten. Er kann als eines der zentralen Phänomene angesehen werden, durch die Kohärenz entsteht (vgl. Linke / Nussbaumer 2000). Einer von mehreren Aspekten von Kohärenz eines Textes ergibt sich demzufolge dadurch, dass sich für den Leser nachvollziehbar dargestellte Situationen in einem Text auf dieselben Partizipanten beziehen. Untersucht wird hier, ob und inwiefern in ausgewählten Texten des Realismus und des Modernismus die möglichen Verfahren zum Ausdruck von Koreferenz in unterschiedlicher Weise genutzt werden. Die der Untersuchung zugrunde gelegten Texte von Tolstoj, Turgenev, Cµechov, Pil’njak, Belyj und Zamjatin stammen aus dem Untersuchungskorpus (s. Abschnitt 4 Quellen 1). Je nach Ansatz (z. B. Halliday / Hasan 1976, Vater 1992) wird Koreferenz im Zusammenhang mit Kohärenz oder Kohäsion bestimmt. Während Halliday / Hasan (1976) nicht zwischen Kohärenz und Kohäsion unterscheiden, fasst Vater (1992) Kohärenz als semantisch-pragmatische Relation, Kohäsion demgegenüber als „grammatische Relation zwischen Einheiten des Textes“ auf. Kohäsion wäre damit ein Phänomen der Textoberfläche, Kohärenz eines der psychologisch-kognitiven Tiefenstruktur (Vater 1992, 32). Lehmann (1998) weist jedoch auf die Schwierigkeit hin, die Begriffe Kohärenz und Kohäsion in solcher Weise voneinander abzugrenzen. Kohäsion könne nicht rein auf die Relation zwischen sprachlichen Einheiten auf der Textoberfläche reduziert betrachtet werden, da der Bezug auf eine andere sprachliche Einheit für die Interpretati1

Zum Aufbau des Korpus vgl. Fußnote 1 in Kapitel 1 „Sprech- und Wahrnehmungspositionen“ (Janik, in diesem Band).

260

Christina Janik

on einer sprachlichen Einheit oft gerade nicht ausreiche. Vielmehr bekomme eine sprachliche Einheit ihre Funktion erst bei Ausschöpfung aller Wissensquellen, könne also erst im Rahmen eines „Situationsmodells“ repräsentiert werden, was wiederum mit rein linguistischen Mitteln nicht möglich ist. Bei seiner Bestimmung von Kohärenz geht Lehmann von Textverstehensmodellen von van Dijk / Kintsch (1983) und Johnson-Laird (1993) aus, nach denen beim Lesen durch den Text vermittelte Informationen auf drei verschiedenen Ebenen mental repräsentiert werden: auf der Ebene eines „Textmodells“, das nochmals unterteilt ist, indem es einerseits die sprachliche Struktur der Textoberfläche, andererseits in Form von Propositionen die Texttiefenstruktur repräsentiert, sowie eines „Situationsmodells“: Dieses Situationsmodell enthält „die Informationen eines Textes unabhängig von ihrer sprachlichen Einformung, es ist eine zweite, durch die Lektüre oder das Hören des Textes auf- bzw. ständig ausgebaute mentale Welt“ (Lehmann 1998, 102). Es wird einmal auf der Grundlage der im Text enthaltenen sprachlichen Einheiten erstellt, speist sich zum anderen jedoch aus Inferenzen aufgrund des „Weltwissens“. Lehmann bestimmt es als „die aktuelle Repräsentation eines Textstücks nach der Verarbeitung der sprachlichen Informationen“. Es ist „unabhängig von der einzelsprachlichen Struktur und enthält auf Welt- und Textkenntnis beruhende Inferenzen“ (Lehmann 1998, 103). Verschiedene Formen an der Oberfläche, verschiedene Textmodelle, können dasselbe Situationsmodell ausdrücken. Das Situationsmodell entspricht dabei der „neutralen Perspektive […] und diese entspricht der Art, wie die Realität wahrgenommen wird“ (Lehmann 1998, 102). In entsprechender Weise lassen sich auch Koreferenzphänomene (beispielsweise Pronominalisierungen) nicht allein über die Oberflächenbeziehung zwischen zwei sprachlichen Einheiten, sondern nur unter Einbezug von Weltund Textwissen erklären. Dabei muss bei unterschiedlichen Formen der Koreferenz in unterschiedlichem Maße auf die einzelnen Wissensbestände zurückgegriffen werden. Die hier berücksichtigten Realisationsformen sollen im Folgenden dargestellt werden.

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus

261

2. Analysen 2.1 Berücksichtigte Formen der Koreferenz Koreferenzrelationen können unter anderem ausgedrückt werden durch Rekurrenz (Wiederholung einer bestimmten Bezeichnung für einen Partizipanten) und durch Substitution (pronominale, andere Umschreibungen). Hier wurden nur Referenzformen in Bezug auf belebte Aktanten, in der Regel die Protagonisten der Erzählungen, berücksichtigt und quantitativ ausgewertet. Berücksichtigt wurden im Einzelnen: a) Rekurrenz von Eigennamen: (1) Apollon Apollonoviç Ableuxov pro‚estvoval v kabinet. LeΩawij na stole karanda‚ porazil vnimanie Apollona Apollonoviça. Apollon Apol2 lonoviç prinäl namerenie [...] (Belyj, Peterburg) Appollon Apollonovicˇ Ableuchov schritt ins Arbeitszimmer. Der auf dem Tisch liegende Bleisift fesselte die Aufmerksamkeit Apollon Apollonovicˇs. Apollon Apollonovicˇ fasste einen Entschluss [...]

Auf den Aktanten Apollon Apollonovicˇ wird hier in allen Fällen sprachlich in derselben Weise, nämlich durch den Eigennamen, verwiesen. Diese Form der Referenz ist eindeutig und erfordert vermutlich beim Rezipienten weniger Verarbeitungsaufwand 3 als die folgenden Formen der Substitution: b) Pronominale Substitution: (2) Dmitrij Dmitriç Gurov, […], toΩe stal interesovat´sä novymi licami. Sidä v pavil´one u Verne, on videl, kak po nabereΩnoj pro‚la molodaä dama, […] (Cµechov, Dama s sobacˇkoj) Dmitirj Dmitricˇ Gurov, […], begann ebenfalls sich für neue Gesichter zu interessieren. Im Pavillon bei Verne sitzend sah er auf der Promenade eine junge Dame vorbeigehen, […]

Auf den über den Eigennamen eingeführten Aktanten Gurov wird im Folgesatz durch das Personalpronomen on referiert. Dass dieses in der Tat den Eigennamen substituiert und mit Gurov koreferent ist, muss ausgehend von den durch das Pronomen vermittelten Informationen (3. Pers. Sg. mask.) unter Zuhilfename von Textwissen erschlossen werden. 2 3

Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir (C. J). Dies wäre im Einzelnen empirisch zu überprüfen. Zum Zusammenhang von Kohärenz und kognitiven Verarbeitungsprozessen auf Rezipientenseite (s. Givón 1990, 896ff.).

262

Christina Janik

c) Umschreibungen: (3) MeΩdu tem Nikolaj Petroviç toΩe prosnulsä i otpravilsä k Arkadiü, kotorogo zastal odetym. Otec i syn vy‚li na terrasu, [...] (Turgenev, Otcy i deti) Während dessen wachte auch Nikolaj Petrovicˇ auf und machte sich zu Arkadij auf, den er angezogen antraf. Vater und Sohn gingen auf die Terrasse, [...]

In diesem Fall werden Nikolaj Petrovicˇ und Arkadij im Folgesatz durch otec i syn substituiert. Hier eine Koreferenzbeziehung zu erschließen, erfordert insbesondere den Rückgriff auf im Text eingeführte Informationen über die familiäre Beziehung zwischen den Aktanten. Die einzelnen Formen können versuchsweise auf einer Skala mit den Polen „eindeutige, wenig Inferenz-Leistung erfordernde Referenz“ durch Eigennamen und „starke Inferenz-Leistung erfordernde Referenz“ durch Pronomen angesiedelt werden, um die Veränderungen vom Realismus zum Modernismus hin im Folgenden zu beschreiben. Zusätzlich zu den genannten potentiell Koreferenz ausdrückenden Formen wurden Wiederholungen ganzer Konstituenten auf der Textoberfläche mit berücksichtigt, die nicht nur die Aktanten, sondern zum Teil ganze Situationen erfassen und in einzelnen Ansätzen ebenfalls als Rekurrenz bezeichnet werden (Vater 1992, 35, Linke / Nussbaumer 2000, 307). Da diese Wiederholungen auf der Textoberfläche jedoch nicht automatisch mit Koreferenz auf der Ebene der Situationsmodelle einhergehen, werden sie hier weiter nur als Wiederholungen bezeichnet, so dass der Begriff Rekurrenz eindeutig für Koreferenzphänomene reserviert bleibt. 2.2 Vorgehensweise Die in die Analyse einbezogenen belebten Aktanten (z. B. ‚Anna Karenina‘, ‚Apollon Apollonovic¬‘) wurden wie in der Untersuchung zu „Sprecher- und Wahrnehmungspositionen“ (siehe Janik / Lehmann, in diesem Band) durch einfache „Tags“ markiert (z.B. @, §), um sie in weiteren Arbeitsschritten automatisch auflisten und auszählen zu können. Anders als die obigen Beispiele implizieren, wurden auch solche Referenzformen berücksichtigt, die nicht auf eine im unmittelbar vorhergehenden Satz, sondern auf möglicherweise deutlich früher im Text erwähnte Aktanten verweisen. Beim „Taggen“ wurde nicht nur differenziert zwischen der Referenz durch Eigennamen, durch Personalpronomen und durch Umschreibungen, sondern auch markiert, ob die Aktanten an der Textoberfläche syntaktisch als Subjekt oder als Objekt auftreten. Unterschieden wurden die Aktanten

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus

263

durch Nummern, die die relative Position ihres erstmaligen Auftretens innerhalb eines Kapitels wiedergeben. Außerdem wurden alle markierten Einheiten durchnummeriert, so dass auch die relative Position der unterschiedlichen Verweisformen zueinander festgehalten ist. Zum Beispiel steht der Tag „§-1-S-1“ für: Referenz durch Eigenname, Auftretensposition 1, Subjektfunktion, erstmaliges Auftreten eines belebten Aktanten innerhalb des untersuchten Kapitels überhaupt. Für die quantitative Auswertung wurde die Anzahl der zu zählenden Einheiten auf die Textlänge in Zeichen bezogen. Textgrundlage waren dabei allein die Passagen der Erzählerrede, direkte Rede wurde nicht berücksichtigt. 2.3 Quantitative Ergebnisse Die Daten zeigen quantitative Unterschiede in zweierlei Hinsicht. Zum einen ergibt sich, dass in den modernistischen Texten tendenziell weniger auf belebte Aktanten verwiesen wird als in den realistischen. Dies zeigt folgende Grafik, in der die unterschiedlichen Referenzformen pro 1000 Zeichen aufgeführt sind:

30 25 20 Eigenname 15

Umschreibung Pronomen

10 5 0 Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 1: Formen der Koreferenz pro 1000 Zeichen in den einzelnen Texten

Der Text „Turg1“ muss allerdings gesondert betrachtet werden, da es sich bei ihm um eine Ich-Erzählung handelt und darin, zumal am Textanfang, in erster Linie auf den Erzähler verwiesen wird, folglich vor allem Pronomen in der 1. Person Singular auftreten. In der folgenden epochenweisen Zusammenfassung der Texte zeigt sich noch deutlicher, dass in den modernistischen Texten im Schnitt weniger Referenz auf belebte Aktanten auftritt:

264

Christina Janik

25

20 5 15

Eigenname

3,5 5

10

5

5

Umschreibung

5

Pronomen

5,7

10

7,5 3

0 Realismus (ohne Turg1)

Übergang

Modernismus

Abb. 2: Formen der Koreferenz pro 1000 Zeichen, epochenweise (ohne Turg1)

Das zweite Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass sich die möglichen Formen der Referenz in unterschiedlicher, zum Teil komplementärer Weise auf die einzelnen Epochen verteilen. Dies zeigt sich in den folgenden Übersichten, in denen die prozentuale Verteilung der einzelnen Formen auf die Gesamtzahl der Verweisformen dargestellt ist. Während in den realistischen Texten über 50 Prozent der Referenzfälle durch Pronomen realisiert werden, sind es in den modernistischen Texten unter 40 Prozent, wobei Belyj diesbezüglich in größerer Nähe zum Realismus steht als Pil’njak und Zamjatin, wie deutlich in folgender Grafik zu sehen ist: 100%

80%

60%

Eigenname Umschreibung Pronomen

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 3: Prozentuale Verteilung der einzelnen Verweisformen

Auch hierzu folgt die epochenweise Zusammenfassung, wobei „Turg1“ aufgrund seines Sonderstatus wieder unberücksichtigt bleibt:

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus

265

100%

80%

60% Eigennamen Umschreibung Pronomen 40%

20%

0% Realismus (ohne Turg1)

Übergang

Modernismus

Abb. 4: Epochenweise Verteilung der einzelnen Referenzformen in Prozent

Diese Übersichten zeigen deutliche Unterschiede in der Verteilung von Pronomen und Umschreibungen, wobei zu berücksichtigen ist, dass beides Formen der Substitution sind. Die Referenz durch Eigennamen wird offenbar epochenübergreifend in vergleichbarer Weise genutzt. Hier wurde zunächst jedoch pro Text die Referenz auf alle in den untersuchten Textstellen auftretenden Aktanten berücksichtigt. Zusätzlich dazu wurde versuchsweise auch für jeden Text jeweils nur der erste im Text bzw. in dem jeweiligen Kapitel auftretende Aktant („S1“ bzw. „O1“) untersucht. Dazu wurde ausgezählt, wie oft auf diese Aktanten im Verlaufe des Textes bzw. des Kapitels in welcher Form referiert wird. Hier ergibt sich ein weniger homogenes Bild. Es deutet sich an, dass nicht für alle Aktanten innerhalb eines Textes alle der genannten möglichen Referenzformen genutzt werden; in dem Text „Turg1“ zum Beispiel handelte es sich bei „S1“ um den Ich-Erzähler, auf den folglich durchgängig nur pronominal referiert wird. Bei Cµechov wiederum lässt sich das vergleichsweise seltene Vorkommen von Eigennamen gegenüber dem größeren Anteil an Umschreibungen dadurch erklären, dass es sich dort bei „S1“ um die der Erzählung auch den Titel gebende „Dama s sobacˇkoj“ handelt, auf die im Text weiterhin in erster Linie durch diese Umschreibung verwiesen wird.

266

Christina Janik 100%

80%

60%

Eigenname Umschreibung Pronomen

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 5: Verteilung der einzelnen Referenzformen für jeweils zuerst auftretende Subjekte / Objekte (S1 / O1)

Deutlich wird jedoch auch hier die starke Abnahme des Anteils der pronominalen Referenz im Modernismus im Vergleich zum Realismus. Komplementär dazu zeigt sich für die ausgewählten Aktanten eine deutliche Zunahme der Referenz durch Eigennamen, und nicht, wie bei der alle Aktanten berücksichtigenden Analyse, der Umschreibungen. Damit lässt sich jedoch aus beiden Untersuchungen die gleiche Entwicklungstendenz ableiten: von mehr Inferenz erfordernden Referenz-Mitteln (Pronomen) im Realismus zu von Text- und Weltwissen unabhängigeren Formen im Modernismus (Eigennamen bzw. Umschreibungen). 3. Formen der Referenz und syntaktische Funktionen Ein weiterer Teil der Untersuchung widmete sich der Frage, ob bestimmte Formen der Referenz eher in Subjekt- oder in Objektfunktion auftreten und ob sich auch in dieser Hinsicht epochenspezifische Unterschiede andeuten. Betrachtet man noch unabhängig von den einzelnen Referenzformen, wie häufig auf belebte Aktanten syntaktisch in Subjekt- bzw. in Objektfunktion verwiesen wird, so ergibt sich ein für alle Epochen recht einheitliches Bild, wonach regelmäßig zwischen 60 und 70 Prozent der Aktanten syntaktisch als Subjekte und zwischen 30 und 40 Prozent als Objekte auftreten:

267

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus 100%

80%

60% O S 40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 6: Verweise auf belebte Aktanten syntaktisch in Subjekt- bzw. Objektfunktion

Und auch für die einzelnen Referenzformen ergibt sich in Bezug auf die Epochen ein weitgehend einheitliches Bild, jedoch unterscheiden sich die einzelnen Formen offenbar epochenunabhängig darin, wie häufig sie jeweils in Subjekt- bzw. Objektfunktion genutzt werden, was ein interessantes Nebenergebnis ist: So ist der Anteil der Personalpronomina in syntaktischer Objektfunktion im Verhältnis zu denen in Subjektfunktion mit 40 bis 50 Prozent besonders groß: 100%

80%

60%

O S

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 7: Verhältnis von syntaktischer Objekt- zu Subjektfunktion bei Referenz durch Pronomen

Der Anteil der Eigennamen in Objektfunktion gegnüber denen in Subjektfunktion liegt hingegen epochenunabhängig nur bei 20 bis 30 Prozent4: 4

Für „Turg1“ liegen keine Daten vor, da Eigennamen in dem untersuchten Abschnitt nicht auftreten.

268

Christina Janik 100%

80%

60% O S

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 8: Verhältnis von syntaktischer Objekt- zu Subjektfunktion bei Referenz durch Eigennamen

Zur Erklärung dieser Verteilungen wäre in einer eigenen Untersuchung genauer auf die Realisationsmöglichkeiten von Thema und Rhema im Russischen einzugehen. Es scheint plausibel anzunehmen, dass neu auftretende Aktanten im Regelfall mit ihrem Eigennamen eingeführt werden statt durch eine semantisch unterspezifizierte Pro-Form und dass belebte Aktanten häufiger als handelnde Subjekte auftreten, folglich auch sprachlich eher als syntaktische Subjekte repräsentiert werden. Umgekehrt kann vermutet werden, dass Aktanten, die Objekt einer Handlung sind und dementsprechend auch syntaktisch in Objektfunktion repräsentiert sind, zuvor bereits in den Text eingeführt wurden und auf sie daher in syntaktischer Objektfunktion häufiger durch Pronomen als durch Eigennamen referiert wird. Bei Referenz durch Umschreibungen zeigen sich, anders als für die beiden anderen Formen der Referenz, leichte epochenabhängige Unterschiede: Während im Realismus (wiederum abgesehen von Turg1) um 50 Prozent der Fälle in syntaktischer Objektfunktion realisiert sind, sind es im Modernismus nur um 30 Prozent:

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus

269

100%

80%

60% O S 40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 9: Verhältnis von syntaktischer Objekt- zu Subjektfunktion bei Referenz durch Umschreibungen

Die hier bestehenden Unterschiede zeigen sich in der Zusammenfassung der Texte nach Epochen noch deutlicher: 100%

80%

60% O S 40%

20%

0% Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 10: Verhältnis von syntaktischer Objekt- zu Subjektfunktion bei Referenz durch Umschreibungen, epochenweise

Es ließe sich vermuten, dass es, anders als bei der Referenz durch Eigennamen und Pronomen, keine systematischen Gründe (wie etwa Regeln der Thema-Rhema-Realisation) für eine bestimmte, daher epochenübergreifend ähnliche typische Repräsentation von Subjekt- und Objektfunktionen gibt und daher epochenstilistische Faktoren den Ausschlag geben können. Es wäre allerdings an einem erweiterten Korpus zu überprüfen, ob es sich bei der hier ablesbaren Tendenz nicht um eine Zufallserscheinung handelt.

270

Christina Janik

4. Wiederholungen von Konstituenten Bei der hier untersuchten Form von Wiederholungen handelt es sich nicht bzw. nicht notwendigerweise um ein Phänomen der Koreferenz, sondern um Wiederholungen ganzer Konstituenten auf der Textoberfläche. In einer genaueren Betrachtung müsste in einem zweiten Schritt entschieden werden, ob durch gleiche Formen auch auf dieselben oder aber auf unterschiedliche Situationen verwiesen wird. Untersucht wurde wieder anhand der bekannten Textausschnitte mithilfe eines Konkordanzprogrammes („Conc“), wie oft sich Gruppen von mindestens drei Wörtern innerhalb der einzelnen Textausschnitte wiederholen. Dabei treten natürlich auch für die Zwecke dieser Untersuchung uninteressante Wiederholungen von Wortfolgen von Funktionswörtern auf wie iz za togo, cˇto. Berücksichtigt wurden in diesem Zusammenhang nur Wiederholungen von Konstituenten, die nicht allein aus Funktionswörtern bestehen und nicht innerhalb desselben interpunktorischen Satzes oder in zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Sätzen auftreten. Dies ist vor allem bei Belyj häufig der Fall und, wie sich zeigt, im Realismus in vergleichbarer Weise nicht zu finden. Die Beispiele stammen daher auch allein aus modernistischen Texten: a) Pil’njak, Golyj God: (4) Po zemle xodili çernaä ospa i golodnyj tif. Über die Erde zogen schwarze Pocken und hungriger Typhus. (5) I Agan´ka umerla v iüle – po zemle xodili çernaä ospa i tif. Und Agan’ka starb im Juli – über die Erde zogen schwarze Pocken und Typhus.

b) Belyj, Peterburg: (6) […] i snäl s sebä çasiki; rasseänno na nix posmotrel: tri çasa. [...] und nahm sein Ührchen ab; zerstreut schaute er darauf: drei Uhr. (7) […] tikaüt [...] çasiki; rasseänno na nix posmotrel: çetyre çasa. [...] tickt [...] das Ührchen; zerstreut schaute er darauf: vier Uhr.

Die folgende Übersicht verdeutlicht die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Realismus und Modernismus. Während bei Tolstoj in dem untersuchten Textabschnitt nur zwei Fälle auftraten, in denen sich Konstituenten in mehr als drei Wortformen glichen, sind es bei Belyj 20. Für die folgende Übersicht wurde die Zahl der Wiederholungsfälle wieder auf die Textlänge in Zeichen bezogen:

271

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus 0,4

0,3

0,2

0,1

0 Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 11: Anzahl der Wiederholungsfälle pro 1000 Zeichen

5. Schluss Als epochenbezogener Unterschied hat sich für den Parameter Koreferenz ergeben, dass im Realismus der Gebrauch von Pronomen eine stärkere Rolle spielt als im Modernismus, in dem Umschreibungen bzw. in Abhängigkeit von Aktant und Textausschnitt auch Eigennamen eine weit größere Rolle spielen. Dieser Unterschied kann anhand einer angenommenen Skala von „eindeutiger, wenig Inferenz-Leistung erfordernder Referenz“ durch Eigennamen und „starke Inferenz-Leistung erfordernder Referenz“ durch Pronomen illustriert werden. Die Epochenspezifika sind jedoch nicht eindeutig auf die äußersten Pole dieser Skala verteilt, da auch Umschreibungen (als eine Form der Substitution) vom Leser den Rückgriff auf Welt- und Textwissen verlangen. Da Umschreibungen jedoch als weniger kontextabhängig bestimmbar sind als Pronomen, wäre für den Modernismus immerhin eine leichte Verschiebung hin zu weniger Abhängigkeit von textwissensbasierten Inferenzleistungen anzunehmen, wie sich etwa folgendermaßen darstellen lässt: Substitution

Rekurrenz

Pronominale Referenz Umschreibung Eigennamen starke Inferenzleistung schwache Inferenzleistung

Diese Ergebnisse lassen sich im Lichte der aus literaturwissenschaftlicher Sicht formulierten Hypothese der „Abschwächung der auktorialen Perspektive“, die sich im Verlauf der Entwicklung vom Realismus zum Mo-

272

Christina Janik

dernismus vollziehe (s. Bogen „Perspektivierung und Rekurrenz“, in diesem Band) betrachten. Mit dieser Entwicklung gehe die geringere Rolle syntagmatischer Beziehungen gegenüber paradigmatischen einher. Übertragen auf den Bereich der Referenz ließe sich insbesondere die Beziehung zwischen Pronomen und Antezedenten als typische syntagmatische Beziehung annehmen, Rekurrenz ebenso wie die untersuchten Wiederholungen von Konstituenten wären hingegen Ausdrücke paradigmatischer Beziehungen. Dass sich letztere tatsächlich in den modernistischen Texten häufiger finden als in den realistischen, ließe sich als Bestätigung der literaturwissenschaftlichen Hypothese ansehen. 6. Quellen A Realismus: Turgenev, I. (Turg1). Zapiski Ochotnika: Bezˇin Lug. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Textanfang; 3.475 Zeichen). Tol’stoj, L. (Tol). 1999. Anna Karenina. Moskva. (Kapitel 1, I; 1, XXX; 2, XXVII; 3, XIX; 4, XVI; 5, XXI; 6, XVII; 7, XIV; 43.719 Zeichen). Turgenev, I. (Turg2). Otcy i Deti. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; V; VII; IX; 38.163 Zeichen). B Übergang: Cµechov, A. (Chech). Dama s sobacˇkoj, www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; 14.136 Zeichen). Pil’njak, B. (Pil1) 1994. Lesnaja Dacˇa. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 461 ff. Moskva. (Textanfang; 3.480 Zeichen). C Modernismus: Pil’njak, B. (Pil2) 1994. Golyj God. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 6 ff. Moskva. (Kapitel III: O svobodach - glazami Andreja; 14.560 Zeichen). Belyj, A. (Bel) 1994. Peterburg. Moskva. (Kapitel 1: Apollon Apollonovicˇ Ableuchov; 2: Podlost’, podlost’, podlost’; 3: Tatam: tam, tam!; 4: Pis’mo; 6: Vnov’ nasˇcˇupalas’ nit’ ego bytija, 6: Peterburg; 7: Gadina; 8: Cµasiki; 60.360 Zeichen). Zamjatin, E. (Zam). Pesˇcˇera. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (ganz; 15.086 Zeichen).

Koreferenz in russischen Erzähltexten des Realismus und Modernismus

273

7. Literatur Givón, T. 1990. Syntax. A functional-typological introduction. Vol. II. Amsterdam / Philadelphia. Halliday, M. A. K., Hasan, R. 1976. Cohesion in Spoken and Written English. London. Johnson-Laird, P. N. 1993. Mental models. Cambridge et al. Lehmann, V. 1998. Zeitliche Kohärenz. Slavistische Linguistik 1997. Referate des XXIII. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens Blaubeuren, 26.-28.8.1997. Hrsg. von T. Berger und J. Raecke. München, 101–123. Linke, A., Nussbaumer, M. 2000. Rekurrenz. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 16: Text- und Gesprächslinguistik. Halbband I. Hrsg. von K. Brinker et al. Berlin, 305–315. Vater, H. 1992. Einführung in die Textlinguistik: Struktur, Thema und Referenz in Texten. München. van Dijk, T. A., Kintsch, W. 1983. Strategies of Discourse Comprehension. New York.

CHRISTINA JANIK

Zur Chronologie Episodizität, Deflexion und Kontinuität 1. Einleitung Fasst man eine Erzählung grob als rekonstruierende sprachliche Verknüpfung von sprachlich repräsentierten, in der Regel nicht-wiederholten Situationen auf, so stellt sich die Frage nach der Kohärenz von Erzählungen folgendermaßen: In welcher Weise werden diese Situationen miteinander verknüpft und welcher Art müssen die hergestellten Relationen sein, so dass ein Rezipient das durch die Verknüpfung entstehende Ganze als sinnvoll, als kohärent wahrnehmen kann? Für Erzählungen sind chronologische Relationen zentrale Verknüpfungen zwischen Sachverhalten. Dabei können, ausgehend von Lehmanns „narrativem Basismodus“ (s. Janik / Lehmann, in diesem Band), sequentielle Abfolgen einmaliger Ereignisse als Normalfall narrativer Darstellungsverfahren angenommen werden. In diesem Kapitel geht es um Funktionen des Verbs, die an der Konstituierung chronologischer Relationen zwischen aktionalen Situationen1 beteiligt sind: Episodizität (Kap. 2) ist eine im Wesentlichen vom Aspekt gesteuerte Funktion. Episodisch ist eine aktionale Situation, wenn sie Bestandteil eines bestimmten temporal und lokal unikalen dynamischen Sachverhaltszusammenhangs (einer Episode) ist. Die Funktion wirkt sich auf die Lokalisiertheit von Situationen aus, zum Beispiel darauf, ob eine Situation in Bezug auf eine andere als gleichzeitig oder nachfolgend vorzustellen ist, aber auch auf die aktionale Häufigkeit, also die Frage, ob eine Situation einmalig ist oder wiederholt stattfindet. Bei Deflexion (Kap. 3) handelt es sich um eine lexiko-semantische Kategorie des Verbs, durch die die potentielle Eigenschaft bestimmter Ver1

Diese werden auch als „Sachverhalt“ bezeichnet. Sie umfassen die Situation im engeren Sinne (ausgedrückt durch ein Verb) und die Partizipanten (ausgedrückt durch Substantive), die im Satz als Prädikator und Argumente fungieren.

276

Christina Janik

ben erfasst wird, zusätzlich zur Bezeichnung einer aktionalen Situation, ihrer Hauptbedeutung, auch chronologische Relationen mit anderen aktionalen Situationen auszudrücken. Für beide Kategorien geht es darum zu untersuchen, ob sie in modernistischen gegenüber realistischen Texten in unterschiedlicher Weise realisiert werden. Analysiert wurden dafür je acht nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Kapitel aus den Romanen Anna Karenina von Lev Tolstoj und Peterburg von Andrej Belyj, die zunächst den Kern des Untersuchungskorpus bildeten2. Zusätzlich wurde versucht, für diese Texte interpretatorisch zu erfassen, ob es in den modernistischen Texten häufiger zu Unterbrechungen in der Chronologie der Darstellung kommt (z.B. durch Rückblicke) als in den realistischen Texten (Kap. 4). Abschließend wird ein Seitenblick auf die quantitative Verteilung der unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten der Kategorien Aspekt und Tempus in diesen und den weiteren Texten des Untersuchungskorpus (s. Abschnitt 6 Quellen) geworfen, um zu überprüfen, ob sich auf dieser untersten Ebene der grammatischen Kategorien epochenspezifische Unterschiede in der Häufigkeit des Gebrauchs bestimmter Formen feststellen lassen (Kap. 5). 2. Episodizität Im Folgenden sollen zunächst der Begriff der Episodizität erläutert und die sprachlichen Realisationsmöglichkeiten sowie Analysekriterien aufgezeigt werden. Anschließend werden die Analyseergebnisse dargestellt. Diese betreffen im Einzelnen folgende Fragen: • Wie ist die quantitative Verteilung episodischer vs. nichtepisodischer Prädikate auf die analyisierten Texte in absoluten Zahlen? • Wie lang sind episodische Passagen vs. nicht-episodische Passagen in den Texten, gemessen in Zeichen?

2

Zum Aufbau des Korpus vgl. Fußnote 1 in Kapitel 1 „Sprech- und Wahrnehmungspositionen“ (Janik, in diesem Band).

Zur Chronologie

277

2.1 Begriffsbestimmung Episodizität Episodizität / Nicht-Episodizität sind Termini, mit Hilfe derer Lehmann (1994) spezifische Eigenschaften von Situationen beschreibt, deren Träger in erster Linie das Prädikat einer Äußerung ist. Er erfasst dadurch Funktionsoppositionen3, die sich an den Formen Er raucht / Er rauchte illustrieren lassen (Beispiele aus Lehmann 1994, 153). Die aktionalen Situationen in (1), (3) und (4) sind dabei jeweils episodisch, die in (2) und (5) nichtepisodisch: (1) Er raucht gerade. (2) Er raucht. (= Er ist Raucher) (3) Er öffnete das Fenster, rauchte dann eine Zigarette und setzte sich an den Schreibtisch. (4) Er rauchte gerade. (5) Er rauchte stets nach dem Abendessen.

Zwischen Episodizität und aktionaler Häufigkeit bestehen also implikative Beziehungen, die den quantitativen Unterschied semelfaktiv (1, 3, 4) gegenüber iterativ (2, 5) betreffen. Wenn der Kontext nichts anderes besagt (Sonderfälle s. 3.2) impliziert episodisch Semelfaktivität, also das genau einmalige Auftreten einer Situation. Iterativität, also wiederholtes Auftreten von Situationen, die durch imperfektive Prädikate ausgedrückt werden, impliziert per Default Nicht-Episodizität. Als inhärent nichtepisodisch sieht Lehmann außerdem stative Situationen wie in (6) bis (8) und die allgemeinfaktische Funktion des russischen imperfektiven Aspekts wie in (9) an: (6) Sie weiß, dass... (7) A sootvetstvuet B. ‚A entspricht B.‘ (8) Maslo stoit 2 rublä. ‚Butter kostet 2 Rubel.‘ (9) Ona uΩe çitala stat´ü. ‚Sie hat den Artikel schon einmal (= irgendwann) gelesen.‘

Zur Explikation der Kategorie Episodizität legt Lehmann, anders als das in vergleichbaren Ansätzen (zur Lokalisiertheit etc.; s.o.) getan wird, nicht die Zeitachse als Referenzgröße zugrunde, sondern das „Psychische 3

Diese werden traditionell auch als „aktuell vs. nicht-aktuell“ bzw. „zeitlich lokalisiert“ vs. „nicht lokalisiert“ beschrieben. Für einen Überblick hierzu siehe Hansen (1996).

278

Christina Janik

Jetzt“. Als Psychisches Jetzt bezeichnet er ausgehend von kognitionspsychologischen Untersuchungen 4 ein Intervall von maximal drei Sekunden, innerhalb dessen Rahmen wahrgenommene oder erlebte Einheiten sowie auch beim Lesen „vorgestellte“ als eine gegenwärtige Situation aufgefasst werden. Episodische Situationen unterscheiden sich definitorisch von nichtepisodischen dadurch, dass sie über eine Phase oder einen Vor- oder Nachzustand verfügen, die / der gleichzeitig zum Psychischen Jetzt liegt. Bei Ereignissen, d.h. einphasigen Situationen, ist die eine Phase gleichzeitig zum Psychischen Jetzt (sie öffnete die Tür; gestern kommt er plötzlich herein und öffnet das Fenster) oder das Vor- oder Nachstadium ist subjektiv gleichzeitig und bindet die Situation subjektiv an eine andere Situation an (sie atmete durch, als sie das Fenster endlich geöffnet hatte). Bei Verläufen, d.h. mehrphasigen Situationen, ist eine innere Phase gleichzeitig zum Psychischen Jetzt, der Zeit der Vergegenwärtigung (während sie spazieren ging / die Straße überquerte, blitzte ein Kameralicht auf). Stative Situationen haben keine Phasenstruktur und damit entfällt die Möglichkeit eines episodischen Bezugs. 2.2 Sprachliche Realisierungen im Russischen Die Frage ist nun, wie die episodischen und nicht-episodischen Situationen sprachlich realisiert werden. Im Russischen bestehen für die konkreten Textanalysen insofern günstige Bedingungen, als die „Kategorien episodische und nichtepisodische Situation […] im Russischen grammatischen Status“ haben (Lehmann 1994, 154) und über den Aspekt realisiert werden. Allerdings sind die Funktionen episodisch vs. nichtepisodisch nicht symmetrisch auf die Aspekte verteilt: Während „zu den grammatischen Bedeutungen des ipf. Aspekts sowohl die Funktion ‚episodisch‘ als auch die Funktion ‚nichtepisodisch‘ gehört, hat der pf. Aspekt per Default die Funktion ‚episodisch‘, nur spezifische Kontexte können das ändern“ (Lehmann 1994, 153). Episodische Situationen können im Russischen also auf zweierlei Arten realisiert werden: a) durch imperfektive Verben in progressiver (konkret ablaufender) Funktion: (10) Ona çitala i kurila. ‚Sie las [ipf.] und rauchte [ipf.] dabei.‘

b) durch perfektive Verben, die für Ereignisse stehen: 4

U. a. Pöppel (1987).

Zur Chronologie

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(11) Ona otkryla okno i vykurila sigaretu. ‚Sie öffnete [pf.] das Fenster und rauchte [pf.] eine Zigarette.‘

Episodische Ereignisse und Verläufe sind insofern grundlegend, als nur bei ihrem Vorliegen in einem Text von Narrativität gesprochen werden kann (s. Lehmann „ Der narrative Redetyp und seine Analyse“, in diesem Band). Dabei geht Lehmann davon aus, dass Narrativität graduierbar ist: Narrativ notwendig sind an erster Stelle Sequenzen episodischer Ereignisse, die im Russischen durch perfektive Verben realisiert werden, doch auch bei Inzidenzen (ipf. + pf.) und Parallelismen (ipf. + ipf.) kann von typischer Narrativität gesprochen werden. Nicht-episodische Situationen werden in der Regel allein durch den ipf. Aspekt ausgedrückt. Dazu gehören die genannten iterativen und stativen Funktionen sowie die allgemeinfaktische Funktion des russischen Imperfekts. Es ergibt sich folgende Übersicht an Grundtypen, die durch Beispiele aus den Analysetexten illustriert werden: a) pf. – episodisches Ereignis / pf. – pf. Sequenz: (12) I, zametiv polosu sveta, […], on veselo skinul nogi s divana, otyskal imi […], tufli i […] potänulsä rukoj k tomu mestu, gde v spal´ne u nego visel xalat. (Tolstoj, Anna Karenina) Und, als er den Lichtstreif bemerkt hatte [pf.], [...], schwang [pf.] er heiter die Beine vom Divan, suchte [pf.] mit ihnen nach den […] Pantoffeln, [...], und […] langte [pf.] mit der Hand nach der Stelle, an der bei ihm im Schlafzimmer der Morgenmantel 5 hing .

b) ipf. – episodischer Verlauf / ipf. – ipf. Parallelismus: (13) Stra‚naä burä rvalas´ i svistela meΩdu kolesami vagonov po stolbam izza ugla stancii. (Tolstoj, Anna Karenina) Ein schrecklicher Sturm tobte [ipf.] und pfiff [ipf.] zwischen den Rädern der Wagons von der Ecke der Station her die Masten entlang.

c) ipf. – nicht-episodische iterative Situation: (14) Ne raz govorila ona sebe qti poslednie dni i sejças tol´ko, çto Vronskij dlä nee odin iz soten veçno odnix i tex Ωe, povsüdu vstreçaemyx molodyx lüdej, [...] (Tolstoj, Anna Karenina) Nicht nur einmal sagte [ipf.] sie sich in den letzten Tagen und auch jetzt, dass Vronskij für sie einer von hundert ewig gleichen, überall anzutreffenden jungen Männern sei, [...]

5

Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir (C. J.).

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Christina Janik

d) ipf .– nicht-episodische stative Situation: (15) [...] dalee Nikolaj Apollonoviç ne mog proçitat´, potomu çto tam stoälo imä otca - [...] (Belyj, Peterburg) [...] weiter konnte Nikolaj Apollonovicˇ [den Brief] nicht lesen, weil dort der Name des Vaters stand [ipf.].

e) ipf. – nicht-episodische allgemeinfaktische Situation (16)[…] vencenosec proΩival v stenax tex; ne teper´ qto bylo; vencenosca togo uΩe net. (Belyj, Peterburg) [...] ein Gekrönter hatte in diesen Mauern gewohnt [ipf.]; das war nicht heutzutage; dieser Gekrönte ist schon nicht mehr.

Neben den genannten Standardfunktionen gibt es in bestimmten Kontexten alternative Aspektfunktionen. So können perfektive Verben in bestimmten Kontexten auch in nicht-episodischer Funktion auftreten: (17) Tropinka konçilas´ okolo ozera. Der Weg endete [pf.] an einem See.

Hier tritt ein perfektives Verb auf, das auf die konkrete einmalige Wahrnehmung des Beobachters verweist, die Situation ist jedoch unabhängig vom Beobachter als stativ zu interpretieren, da sie eine dauernde Eigenschaft des Weges betrifft. Hierzu ein weiteres Beispiel aus Peterburg: f) pf. Verb bei nicht-episodischer stativer Situation: (18) Zakoulok beΩal v zakoulok: zakoulki vyveli k ulice. (Belyj, Peterburg) Die Gässchen führten [pf.] auf die Straße hinaus.

Im folgenden Fall liegt eine episodische Situation vor, obwohl es sich auf den ersten Blick um Wiederholung (neskol’ko raz ‚mehrmals‘ handelt. Hier liegt jedoch der pf. Aspekt (vstuknut’ ‚klopfen‘) abweichend von den Standardfunktionen (episodisch -> einmalig) in „summarischer Funktion“ vor (s. Lehmann 1999, 222). Die wiederholten Einzelbewegungen werden zusammengenommen als eine episodische Situation aufgefasst: (19) On neskol´ko raz vstuknul v dver´. Er klopfte [pf.] mehrmals an die Tür.

Ähnliches gilt für die „exemplarische Funktion“ (ebd.) des pf. Aspekts, die hier mit „nichtepisodisch, mehrmalig“ ebenfalls der Standardfunktion des perfektiven Aspekts widerspricht: (20) On, byvalo, pridet i otkroet okno. Manchmal kommt [pf.] er und öffnet [pf.] das Fenster.

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281

Ein weiterer Sonderfall tritt auf bei Charakterisierungen von im Text zuvor beschriebenen oder folgenden Sachverhalten, die als nicht-episodisch zu werten sind, auch wenn sie durch perfektive Verben realisiert sind: (21) V pis´me bylo napisano. Im Brief war geschrieben [pf.].

Die Funktion des (perfektiven) Partizips Passiv entspricht hier der des deutschen „Zustandspassivs“, durch das der Nachzustand einer Handlung, also nicht der Prozess des Schreibens selbst, sondern dessen Resultat, fokussiert wird. Im folgenden Textausschnitt ließe sich vse e˙to ona govorila veselo ‚All das sprach [ipf.] sie fröhlich‘ ebenfalls als Charakterisierung zweier zuvor im Text dargestellter Sachverhalte (s.o.) auffassen: g) ipf. Verb in als nicht-episodisch zu interpretierender Situation (Charakterisierung im Text zuvor dargestellter Sachverhalte): (22) Ona spra‚ivala ego o zdorov´e i zanätiäx, ugovarivala ego otdoxnut´ i pereexat´ k nej. Vse qto ona govorila veselo, bystro i s osobennym bleskom v glazax; no Aleksej Aleksandroviç teper´ ne pripisyval qtomu tonu ee nikakogo znaçeniä. (Tolstoj, Anna Karenina) Sie erkundigte sich nach seiner Gesundheit und der Arbeit, versuchte ihn zu überreden, sich zu erholen und zu ihr [aufs Land] zu ziehen. All das sprach [ipf.] sie fröhlich, schnell und mit einem besonderen Glanz in den Augen; Aleksej Aleksandrovicˇ jedoch maß [ipf.] ihrem Ton gerade keinerlei Bedeutung bei.

Was hier als (nicht-episodische) Charakterisierung eines zuvor im Text dargestellten Sachverhalts interpretiert wurde, ließe sich allerdings auch als taxische Koinzidenz („Sachverhaltseinheit“; vgl. Lehmann 2005) zu sprasˇivala und ugovarivala und damit als episodisch auffassen. Ein scharfes Kriterium für eine endgültige Festlegung gibt es hier nicht. Wie dieses Beispiel illustriert, betreffen Fragen, die sich bei den Analyse stellen, in erster Linie die Abgrenzung von (episodischen) Verläufen und (nicht-episodischen) Zuständen, da sie beide durch ipf. Verben ausgedrückt werden. Daher ist bei ipf. Verben stets der Kontext mitzubefragen. So sind Indikatoren für Nicht-Episodizität z.B. Adverbialia, die Gewohnheit (obycˇno, kak vsegda ‚gewöhnlich‘, ‚wie gewöhnlich‘) oder Wiederholtheit (ne raz ‚nicht nur einmal‘) ausdrücken. Oft genug sind jedoch keine solcher expliziten Episodizitätsindikatoren anzutreffen. Hansen (1996, 51f.) weist für die Analyse der Episodizität ebenfalls auf die Schwierigkeit hin, am konkreten sprachlichen Material zu entscheiden, ob sich eine Situation innerhalb oder in Überschneidung des „Fensters“ des Psychischen Jetzt befindet oder nicht. Eine gewisse Hilfe

282

Christina Janik

kann jedoch ein Test leisten, den er vorschlägt: Hansen greift auf Ergebnisse der Gedächtnisforschung zurück und nimmt mit Tulving (1983) an, dass ein Sprecher, wenn er eine Episode im Gedächtnis aktiviert, dabei gewöhnlich das Verb sich erinnern verwendet. Daraus leitet er einen Testsatz ab, durch den eine auf Episodizität zu prüfende Situation wieder aufgenommen wird (Hansen 1996, 54): Episodizitäts-Test: (23) X pomnit qtot sluçaj / qti sluçai. X erinnert sich an diesen Fall / diese Fälle.

Dieser Satz lässt sich nur zu Sätzen, die episodische Situationen (24) ausdrücken, sinnvoll ergänzen, nicht jedoch bezogen auf nicht-episodische (25) oder stative (26) Situationen (Beispiele aus Hansen 1996, 54): (24) Lev u‚el v dΩungli. Ä pomnü qtot sluçaj. Der Löwe verschwand im Dschungel. Ich erinnere mich an diesen Fall. (25) Sa‚a kaΩdyj den´ zaxodil. *Ä pomnü qtot sluçaj. Sasˇa kam jeden Tag vorbei. *Ich erinnere mich an diesen Fall. (26) Cement tverdeet, esli ego zalit´ vodoj. *Ä pomnü qtot sluçaj. Zement erhärtet, wenn man ihn mit Wasser begießt. *Ich erinnere mich an diesen Fall.

Zur Abgrenzung speziell von Stativa und Verläufen gibt es weitere morphologisch-syntaktischen Tests6. Trotz dieser Hilfen zur Desambiguierung ist jedoch bei der Textanalyse nicht in allen Fällen eindeutig über die Episodizität zu entscheiden gewesen. Dabei können die Fälle, in denen Schwierigkeiten auftreten, jedoch einerseits für die linguistische Begriffsbildung fruchtbar gemacht werden und andererseits als Hinweise auf autoren-, wenn nicht epochenspezifische Besonderheiten – etwa auf eine tendenziell größere Diffusität in modernistischen Texten – weiter verfolgt werden. 2.3 Auswertungsverfahren Bei der Analyse wurden grundsätzlich die aktionalen Situationen der ausgewählten Kapitel berücksichtigt, die durch finite Verbformen in Haupt-

6

Auf Stativa ist die progressive Funktion nicht anwendbar, es ist keine delimitative poForm bildbar, Stativa sind anders als Verläufe nicht mit nicht-inklusiven Zeitadvebialen (nekotoroe vremja, ‚eine Weile’) verbindbar; stative Situationen sind nicht iterierbar, sie sind schlechter mit Phasenverben verbindbar (Anstatt 2002: unveröffentlichtes Arbeitspapier).

Zur Chronologie

283

und Nebensätzen sowie durch Adverbialpartizipien realisiert wurden 7. Dabei wurden auch solche Formen miteinbezogen, die im Skopus einer Negation stehen. Nicht miteinbezogen wurden Attribut- und Objektsätze8. Nicht berücksichtigt wurden außerdem modalisierte Prädikate (Umschreibungen mit by, z.B. in irrealen Bedingunsgefügen), Modalauxiliare, Formen von byt’ (‚sein‘) in Kopula-Funktion sowie parenthetisch eingeschobene Sprecherkommentare, die sogenannten vvodnye slova bzw. vvodnye predlozˇenija (‚Schaltwörter‘ bzw. ‚Schaltsätze‘, z.B. kak kazalos’ ‚wie es schien‘). Prädikate innerhalb von Figurenrede wurden ebenfalls grundsätzlich ausgeschlossen. Bei den Analysen wurde folgendermaßen vorgegangen: Zunächst wurden für die ausgewählten Kapitel die in Frage kommenden aktionalen Situationen als episodische Ereignisse (EE), episodische Verläufe (EV) oder nicht-episodische Situationen (N) bestimmt. Anschließend wurde ausgezählt, wie oft in Folge Situationen des gleichen Typs (E (EE/EV) vs. N) auftreten und so eine Passage bilden. Ein Passagenwechsel (z.B. N (nicht-episodisch) zu E (episodisch)) wurde dabei erst dann angenommen, wenn die abweichende neue Größe (z.B. E) mindestens zwei Mal hintereinander auftritt. Bei einmaligem Auftreten wird die abweichende Größe zur laufenden hinzugezählt (z.B. E, E, E, N, E, E, N, N wird berechnet als EE = 6, dann Wechsel zu NN = 2 etc.). Die Länge der Passagen wurde auf zwei Weisen berechnet: einmal ausgehend von der Anzahl der Prädikate pro Passage, zum Zweiten ausgehend von der Zeichenzahl9 aller weiteren Lexeme, die im Kontext der eine Passage bildenden Prädikate stehen. 7 8

9

Julia Kukla und Lena Kühn danke ich für die Unterstützung bei der Erstellung und Auswertung des Korpus zur Episodizität. Eine Schwierigkeit bei Matrixkonstruktionen mit eingebetteten Objektsätzen (z.B. Ona videla, çto on vy‚el. – Sie sah, dass er hinausging.) besteht darin, dass der Erzählstrang durch den Objektsatz zwar fortgesetzt wird, dass diese Objektsätze allerdings in Transformationsbeziehung zu Nominalgruppen stehen (Ona videla ego vyxod. – Sie sah sein Hinausgehen.), was heißt, dass entsprechende Nominalgruppen gleichermaßen mit in die Analyse aufgenommen werden müssten. Um hier jedoch Abgrenzungsprobleme zu vermeiden, werden Objektsätze ausgeschlossen. Eine ähnliche Problematik ergibt sich bei Attributsätzen in Bezug auf Adjektive und Partizipien. Dafür war anhand von je drei Seiten für beide Romane die durchschnittliche Zeichenzahl pro Zeile ausgezählt worden (Belyj: 57; Tolstoj: 40), die dann den weiteren Berechnungen zugrunde gelegt wurde. Daher und weil nur in halben und ganzen Zeilen gerechnet wurde, handelt es sich bei den sich ergebenden Zeichen-Zahlen nur um ungefähre Hochrechnungen.

284

Christina Janik

Die ausgeschlossenen Prädikate gingen in die Berechnungen in absoluten Zahlen (Anzahl der Prädikate N oder E) nicht ein. Sie fallen letztlich jedoch bei der Berechnung der Passagenlänge in Zeichen insofern mit ins Gewicht, als die Zahl der Zeichen, die auf sie entfällt, mitgezählt und dem Wert des zuletzt bewerteten Prädikats zugerechnet wurde. Abschließend konnte auch berechnet werden, wie groß jeweils der Anteil der drei Situationstypen (EE, EV, N) an der Gesamtsumme der analysierten Prädikate in den beiden Texten ist. Die Ergebnisse werden nun im Einzelnen dargestellt. 2.4 Gesamtverteilung der Situationstypen Insgesamt wurden in den acht ausgewählten Kapitel von Tolstoj 827 aktionale Situationen analysiert, für die von Belyj 1084. Da für Belyj mehr Prädikate berücksichtigt wurden, wurde die Verteilung von episodischen Ereignissen, episodischen Verläufen und nicht-episodischen Situationen auf die jeweilige Gesamtsumme der Prädikate bezogen und in Prozent berechnet, um die Angaben vergleichbar zu machen. Es ergibt sich folgendes Bild: 100% 80% N

60%

EV

40%

EE

20% 0% Tolstoj

Belyj

Abb. 1: Auftreten der verschiedenen Situationstypen in Prädikaten gezählt. E = episodische Ereignisse, EV = episodische Verläufe, N = nicht-episodische Situationen

Auf die Gesamtmenge der in je acht Kapiteln analysierten Prädikate bezogen ergibt sich eine überraschend einheitliche Verteilung: In beiden Texten beträgt der Anteil der episodischen Prädikate (EE und EV) über 80 Prozent, der der nicht-episodischen (N) um 17 Prozent. Von den episo-

285

Zur Chronologie

dischen Prädikaten wiederum treten jeweils fast zwei Drittel in EreignisFunktion auf. Damit hat sich, zunächst nur in der Gesamtsumme, die Annahme Lehmanns bestätigt, dass episodische Ereignisse, die durch perfektive Prädikate realisiert werden, für narrative Texte den Normalfall darstellen. Erstaunlich bleibt dennoch, dass hier keine autoren- oder epochenspezifischen Unterschiede festzustellen sind. Ein entsprechendes Bild ergibt sich auch, wenn man die Zeichensummen aller Passagen eines Typs addiert und auf die Gesamtsumme der Zeichen der für die beiden Texte jeweils berücksichtigten Passagen bezieht: 100% 80% 60%

8663

11425

10715

15637

EV

40% 20%

N

23424

32077

Tolstoj

Belyj

EE

0%

Abb. 2: Summe der Zeichen, die auf die jeweiligen Passagen insgesamt entfällt: EE = Passagen episodischer Ereignisse, EV = Passagen episodischer Verläufe, N = Passagen nichtepisodischer Situationen

Auch in Zeichen berechnet ergibt sich für beide Texte äußerst übereinstimmend, dass der Anteil von auf episodischen Ereignissen basierenden Passagen mit einem Wert um 55 Prozent überwiegt und die auf nichtepisodischen Situationen basierenden Passagen mit einem Wert um 20 Prozent jeweils die geringste Größe ausmachen. Die Frage ist nun, ob sich bei der Verteilung episodischer vs. nichtepisodischer Passagen auf die einzelnen Kapitel für die beiden Autoren nicht dennoch unterschiedliche Abstufungen ergeben.

286

Christina Janik

2.5 Verteilung episodischer und nicht-episodischer Passagen auf die einzelnen Kapitel Hier werden nun episodische Ereignisse (EE) und episodische Verläufe (EV) zusammen als episodische Passagen (E) den nicht episodischen Passagen gegenübergestellt und deren Abfolge für die einzelnen Kapitel gezeigt. Die Grafiken zeigen je Text die Abfolgen für alle acht Kapitel sowie jeweils ganz rechts die Durchschnittswerte aus allen acht Kapiteln: 140

120

100

80

60

40

20

0

Abb. 3: Tolstoj, Abfolge episodischer (E = dunkel) und nicht-episodischer Passagen (N = hell) in den acht Kapiteln in Prädikaten berechnet, ganz rechts die Durchschnittswerte für E (dunkel) und N (hell)

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140 120 100 80 60 40 20 0

Abb. 4: Belyj, Abfolge episodischer (E = dunkel) und nicht-episodischer Passagen (N = hell) in den acht Kapiteln in Prädikaten berechnet, ganz rechts die Durchschnittswerte für E (dunkel) und N (hell)

Auch hier bestehen bei Tolstoj wie Belyj auf den ersten Blick etwa gleich starke Schwankungen. Wiederum sind auch die Durchschnittswerte der Summe aller episodischen und aller nicht-episodischen Prädikate fast übereinstimmend. Bei Belyj allerdings, bei dem auch die Summe der Prädikate größer war, finden sich durchschnittlich pro Kapitel mehr Passagen (insgesamt 64; im Durchschnitt 8) als bei Tolstoj (insgesamt 51; im Durchschnitt 6,4). Da aber die Kapitel bei Belyj im Schnitt auch länger sind als die von Tolstoj, ist ein solches Ergebnis nicht überraschend. Wenn man betrachtet, wie stark die einzelnen Passagen um den Durchschnittswert schwanken, lässt sich ebenfalls keine deutliche Tendenz etwa dahingehend erkennen, dass die Schwankungen bei dem modernistischen Text stärker wären. Bei Belyj gibt es in einem Fall einen extremen Ausschlag nach oben, bei Tolstoj zwei nicht ganz so extreme. Näher betrachtet weichen bei Tolstoj 18 Prozent (5 von 28) der episodischen Passagen und 9 Prozent (2 von 23) der nicht-episodischen Passagen um 100 Prozent oder mehr vom jeweiligen Durchschnittswert nach oben ab. Bei Belyj sind es nur 15 Prozent (5 von 33) der episodischen Passagen, aber 19 Prozent (6 von 31) der nicht-episodischen Passagen. Bei den episodischen Passagen wären hier also die Schwankungen bei Tolstoj etwas größer, bei den nicht-episodischen Passagen die von Belyj. Es ergibt sich jedoch bezüglich einer für den modernistischen Text vermuteten stärkeren Heterogenität kein klares Bild.

288

Christina Janik

Die zweite Auswertung betrifft die Länge der episodischen bzw. nichtepisodischen Passagen in Zeichen gemessen. Wiederum sind die Abfolge der Passagen für die jeweils insgesamt acht Kapitel sowie ganz rechts die Durchschnittswerte dargestellt: 12000

10000

8000

6000

4000

2000

0

Abb. 5: Tolstoj, Abfolge episodischer (E = dunkel) und nicht-episodischer Passagen (N = hell) in Zeichen gemessen in den acht Kapiteln, ganz rechts die Durchschnittswerte für E (hell) und N (dunkel)

Zur Chronologie

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12000

10000

8000

6000

4000

2000

0

Abb. 6: Belyj, Abfolge episodischer (E = dunkel) und nicht-episodischer Passagen (N = hell) in Zeichen gemessen in den acht Kapiteln, ganz rechts die Durchschnittswerte für E (dunkel) und N (hell)

Die Schwankungen, die sich hier ergeben, weichen kaum von denen ab, die sich bei den auf den Prädikatszahlen beruhenden Angaben ergeben. Bei beiden Texten ergeben sich wieder fast übereinstimmende Durchschnittswerte. Deutlich erkennbar ist, dass der eine auffällige Ausschlag bei Belyj in dieser Darstellung sich noch extremer von den anderen Werten abhebt, während sich die beiden stärkeren Ausschläge bei Tolstoj den anderen Werten stärker angeglichen haben. Weitere leichte Veränderungen ergeben sich bei den Schwankungen der nicht-episodischen Passagen um den Durchschnittswert. Bei Tolstoj weichen 18 Prozent (5 von 28; zuvor ebenfalls 18 Prozent) der episodischen Passagen und 17 Prozent (4 von 23) (zuvor 9 Prozent) der nichtepisodischen Passagen vom jeweiligen Durchschnittswert um mindestens 100 Prozent nach oben ab. Bei Belyj sind es 12 Prozent (4 von 33) (zuvor 15 Prozent) der episodischen Passagen und 10 Prozent (3 von 31) (zuvor 19 Prozent) der nicht-episodischen Passagen. Das heißt, bei Belyj sind die Schwankungen hier wiederum geringer als bei Tolstoj. Dieses Bild lässt meines Erachtens jedoch keine zu verallgemeinernden Schlüsse über grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Texten zu.

290

Christina Janik

2.6 Verhältnis von Passagen und Zeichenzahl Abschließend soll die Verteilung der episodischen und nicht-episodischen Passagen auf die Gesamttexte illustriert werden. Die Gesamtzahl berücksichtigter Passagen beträgt für Tolstoj 51, für Belyj 64. Darunter sind 23 nicht-episodische Passagen bei Tolstoj und 31 bei Belyj. Die folgende Abbildung zeigt, wie sich episodische und nicht-episodische Passagen prozentual jeweils auf die Texte verteilen: 100%

80%

23

31

60%

N E

40% 28

33

Tolstoj

Belyj

20%

0%

Abb. 7: Verteilung der Passagentypen (N = hell; E = Dunkel) auf die Gesamtzahl der Passagen für Tolstoj und Belyj in Prozent

Es ergibt sich also, dass der Anteil episodischer und nicht-episodischer Passagen fast identisch ist, und zwar in beiden Texten gleichermaßen. Die Länge der beiden Passagen-Typen in Zeichen gemessen unterscheidet sich jedoch deutlich, wiederum fast in gleicher Weise in beiden Texten. Die Gesamtzeichenzahl der jeweils berücksichtigten Textpassagen beträgt für Tolstoj 43.719 Zeichen und für Belyj 60.360 Zeichen (s. auch die Angaben in Abschnitt 6 Quellen). In beiden Fällen ist der Anteil der nichtepisodischen Passagen um ein Vielfaches geringer als der der episodischen Passagen. In beiden Texten entfällt nur rund ein Fünftel der Zeichen auf die nicht-episodischen Passagen: bei Tolstoj 8.663 Zeichen, bei Belyj 11.425 Zeichen. Umgekehrt ergibt sich, dass eine nicht-episodische Passage sowohl bei Tolstoj als auch bei Belyj im Durchschnitt um ein Vielfaches kürzer ist als eine episodische Passage im Durchschnitt. Dies verdeutlicht folgende Abbildung:

291

Zur Chronologie 2000 1800 368

1600 1400

377

1200 N

1000

E

800 600

1446 1219

400 200 0 Tolstoj

Belyj

Abb. 8: Anzahl der Zeichen pro Passage im Durchschnitt bei Tolstoj und Belyj, episodische vs. nicht-episodische Passagen

Abbildung 8 zeigt zudem, dass die episodischen Passagen bei Tolstoj in Zeichen gemessen im Schnitt sogar geringfügig kürzer sind als bei Belyj, also umgekehrt als erwartet. Damit bestätigt sich, was sich auch schon in den anderen Einzelergebnissen abgezeichnet hat: Für den Parameter Episodizität lässt sich, zumindest auf der Grundlage der hier dargestellten Vorgehensweise, die Hypothese, dass Passagen in realistischen Texten im Schnitt länger sein müssten als in modernistischen, nicht bestätigen. Vielmehr zeigen die beiden untersuchten Texte überraschend stark übereinstimmende Ergebnisse: In beiden Texten sind die episodischen Passagen deutlich länger als die nicht-episodischen, um rund ein Dreifaches bei Tolstoj und ein Vierfaches bei Belyj (s. o.; Abb. 8). Und in beiden Texten werden die episodischen Passagen in zwei Dritteln der Fälle durch perfektive Prädikate in der Funktion episodischer Ereignisse und nur zu etwa einem Drittel durch imperfektive Prädikate in der Funktion episodischer Verläufe realisiert (s. o.; Abb. 1).

292

Christina Janik

3. Deflexion 3.1 Der Begriff Während es sich bei Episodizität um eine Funktion der Verbalkategorie Aspekt handelt, haben wir es bei Deflexion mit einer lexikalischsemantischen Kategorie des Verbs zu tun. Als deflexiv bezeichnet Rauchenecker (2001, 3) die in der Semantik von Verben liegende Kraft, der durch ein Verb ausgedrückten Situation vorausgehende oder folgende Situationen „mitzusagen“. Zum Beispiel wecke die folgende Äußerung bedingt durch die deflexive Funktion des Verbs obidet’ (‚beleidigen‘) beim Sprecher gleich mehrere Fragen: (27) Sa‚ku Ermolaeva obideli. Sasˇku Ermolaev hat man beleidigt.

Dem Leser stelle sich unmittelbar die Frage, durch wen und durch welche Handlung Sasˇka beleidigt worden sein könnte, also danach, welche Situation dem aktuellen Beleidigtsein Sasˇkas vorausgegangen ist. Diese Informationslücke sei nicht allein durch die unbestimmt-unpersönliche Form des Prädikats, sondern auch durch die Semantik des Verbs bedingt. Und so wie obidet’ in diesem Beispiel enthalten nach Rauchenecker eine ganze Reihe von Verben in ihrer Bedeutung den Verweis auf eine andere Situation, also eine Bedeutungskomponente, durch die chronologische Verhältnisse ausgedrückt werden können. Dabei kann es sich um ganz unterschiedliche temporale Relationen handeln. Zu den häufig ausgedrückten Relationen rechnet Rauchenecker (2001, 46) folgende: a) Distante Sequenz: (28) Petr vstal i otkryl okno. Petr stand auf und öffnete das Fenster.

b) Inklusion: (29) Nikolaj Werbackij [...] sidel […] na skamejke i, uvidav Levina, zakriçal emu: […]. – Nikolaj Sµcˇerbackij […] saß […] auf der Bank und, als er Levin erblickte, rief er ihm zu: […].

c) Simultaneität: (30) On sidel na äwike i ku‚al xleb s maslom, […]. Er saß auf einer Kiste und aß ein Butterbrot. (Beispiele nach Rauchenecker, 2001, 46)

Für deflexive Verben gilt nun, dass sie diese Relationen mitausdrücken, ohne dass die Bezugssituation ebenfalls explizit durch ein Prädikat genannt sein müsste. Deflexion erfasst damit implizite temporale Funktionen (Rauchenecker 2001, 129), Phänomene, die beim Verstehen chronologi-

Zur Chronologie

293

scher Relationen von Situationen in Texten mit eine Rolle spielen. Den typischerweise genannten (expliziten) Temporalitätsträgern (Konjunktionen mit temporaler Bedeutung, temporale Adverbien, Substantive und Adjektive mit temporaler Bedeutung) wird so ein weiterer hinzugefügt (für einen Überblick siehe Jachnow 1995). Daher soll diese Kategorie versuchsweise mit in die kontrastiven Analysen russischer Erzähltexte mit einbezogen werden. Die übergeordnete Frage dabei ist, ob in den modernistischen Texten in anderer Weise von deflexiven Verben Gebrauch gemacht wird als in den realistischen. Im Einzelnen wurden folgende Fragen untersucht: • Wieviele potentiell deflexive Verben treten in den einzelnen Texten auf? • Welchen semantischen Gruppen gehören die auftretenden Verben in den einzelnen Texten vorwiegend an? • Welches Verhältnis besteht zwischen Types und Token in den einzelnen Texten? Wie stark wird also beim Gebrauch deflexiver Verben variiert? 3.2 Analyse Es wurden die 140 von Rauchenecker (2001, 192f.) bestimmten deflexiven Verblexeme in den Texten durch Tags markiert und computergestützt ausgezählt. In einem zweiten Schritt wurde mit einem Konkordanzprogramm (Conc) die Zahl der unterschiedlichen Typen der auftretenden deflexiven Verben ermittelt. Schließlich wurde versucht, die Verben, die in den Texten je mehr als einmal auftreten, den wiederum von Rauchenecker bestimmten am häufigsten auftretenden semantischen Gruppen zuzuordnen.10

10

Für die zuverlässige Durchführung dieser Arbeitsschritte danke ich Frederieke Körber.

294

Christina Janik

3.3 Ergebnisse Bei der Auswertung zeigt sich als Tendenz, dass in den modernistischen Texten weniger deflexive Verben auftreten als in den realistischen. Eindeutig ist dabei der Unterschied zwischen Belyj und Tolstoj. Die Anzahl der deflexiven Verben ist bei Belyj um ein 2,5faches geringer als bei Tolstoj: 7 6 5 4 Defl. Verben

3 2 1 0 Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 9: Anzahl deflexiver Verben pro 1000 Zeichen in den einzelnen Texten

Allerdings relativiert die vergleichsweise große Zahl deflexiver Verben bei Pil’njak2 die angenommene Tendenz, so dass sich bei der die Texte zusammenfassenden epochenbezogenen Übersicht keine deutlichen Unterschiede von Modernismus gegenüber dem Realismus zeigen: 5 4 3 Defl. Verben 2 1 0 Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 10: Anzahl deflexiver Verben pro 1000 Zeichen, epochenweise

295

Zur Chronologie

Auch die Variation in der Nutzung der deflexiven Verben scheint in allen Texten etwa gleich groß zu sein. So liegt der Anteil unterschiedlicher Verben (types) bezogen auf die Gesamtzahl aller auftretenden deflexiven Verben in den einzelnen Texten um 30 Prozent11, was folgende epochenübergreifende Darstellung illustriert: 100% 80% 60%

Tokens Types

40% 20% 0% Realismus

Übergang

Modernismus

Abb. 11: Deflexive Verben: Type / Token Verhältnis in den untersuchten Texten, epochenübergreifend

Bleibt noch die Frage, ob die auftretenden Verben sich für die einzelnen Texte in unterschiedlicher Weise auf die berücksichtigten semantischen Gruppen verteilen. Da nur Verben berücksichtigt wurden, die mehr als einmal auftreten, ergibt sich hier ein Bild, das durchaus epochenspezifische Unterschiede andeutet: Semant. SprechRaum/ aktverben Autor Turg1 Tolstoj

Soziale Aktverben

Mentale Verben

Emotionsverben

Auffor- Verben derungs- Ziel verben

mit Wahrnehmungsverben

Govorit’ 20 Pomocˇ’ 2

Pomnit’ 3

Bojat’sja 2 Pozvat’

Nabljudat’ 2

Gljadet’ 6

Kricˇat’ 2

Poprosit’ 5

Ponjat’ 7

Prostit’ 10

Ostanovit’sja 8

Molcˇat’ 4

Prostit’ 4

Resˇit’ 3

Smotret' 6 Videt’ 14

Ostanovit’sja 2 2 Velet’ 3

Podojti 7

Otvetit’ 4

Vspomnit’

Prijti 3

Soglasit’sja

6

Pytat’sja 3

2 Sprosit’ 5

Chotet’ 5

Starat’sja 3

Zametit’ 8 Zµelat’ 7

11

Die Ausschläge bei Turg1 und Pil1 für die Types nach oben lassen sich dadurch erklären, dass es sich bei diesen Texten um besonders kurze Ausschnitte handelt und dadurch die Wahrscheinlichkeit von Mehrfachnennungen für die einzelnen Verben geringer ist, somit also mehr (unterschiedliche) Types pro Gesamtzahl der Verben auftreten.

296 Turg2

Christina Janik Govorit’ 3

Uspet’ 2

Cµuvstvo-

Molcˇat’ 2

Chotet’ 4 Zametit’ 14

vat’ 3

Otvetit’ 3 Povtorit’ 3

Ostanovit’sja 4 Starat’sja 2

Gljadet’ 9

Iskat’ 2 Podojti 2 Ujti 3

Gljadet’ 5

Prijti 10 Ujti 9

Smotret’ 6 Videt’ 3

Iskat’ 5

Gljadet’ 7 Videt’ 7

Slusˇat’ 3

Sprosit’ 15 Chech

Govorit’ 15 Molcˇat’ 3

Pil1 Pil2

Vspomnit’ 6

Slysˇat’ 3 Smotret’ 3 Videt’ 5

Otvetit’ 2 Govorit’ 4

Pomnit’ 2

Otkazat’sja 4 Otvetit’ 2 Belyj

Bojat’sja 3

Govorit’ 4

Pomnit’ 2

Molcˇat’ 2 Otvetit’ 4

Ponjat’2

Ostanovit’sja 2

Vspomnit’

Pisat’ 2

9

Pytat’sja 2

Chotet’ 7

Starat’sja 7

Zabyt’ 2 Zametit’ 6 Zam

Govorit’ 2 Molcˇat’ 4

Prijti 2

Slusˇat’ 3 Videt’ 3

Abb. 12: Realisation der Verbtypen in den einzelnen Texten

Da auf Tolstoj und Belyj die größte Textmenge entfällt, treten bei ihnen pro semantischer Gruppe natürlich auch mehr Types (daneben die Zahl der Token) auf, als bei den anderen Texten. Betrachtet man speziell diese beiden, dann zeigt sich, dass bei Belyj gegenüber Tolstoj durch die auftretenden Types weniger semantische Gruppen 12 abgedeckt sind als bei Tolstoj. Nicht realisiert sind die Gruppen der sozialen Aktverben und die Aufforderungsverben. Auffällig ist zudem, dass die Zahl der deflexiven Sprechaktverben (Types) bei Belyj geringer ist als bei Tolstoj. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass in den modernistischen Texten direkte Rede seltener durch inquit-Formeln eingeleitet wird.

12

Die Zuordnung zu diesen Gruppen erfolgte zunächst intuitiv. Da dabei jedoch für alle Texte auf die gleiche Weise vorgegangen wurde, können die Ergebnisse dennoch als aussagekräftig angesehen werden.

Zur Chronologie

297

Es wäre sicherlich fruchtbar, in qualitativen Einzelanalysen am Text den genauen Gebrauch der hier nur quantitativ erfassten deflexiven Verben genauer zu untersuchen. Da hier von den häufigsten semantischen Gruppen und den am häufigsten auftretenden Verben ausgegangen wurde, bedeutet die geringere Zahl deflexiver Verben und deren Verteilung auf weniger semantische Gruppen bei Belyj gegenüber Tolstoj nicht unbedingt, dass Belyj weniger Gebrauch von deflexiven Verben macht. Vielmehr wäre in Bezug auf Deflexion auch möglich, was die GranularitätsUntersuchung (s. Marszk, in diesem Band) ergeben hat; nämlich dass Belyj stärker Gebrauch macht von seltener auftretenden, vom „Default“ gerade abweichenden Verben. 4. Chronologische Kontinuität Bei folgenden Ergebnissen handelt es sich um den Versuch, den zunächst subjektiven Eindruck zu überprüfen, dass Belyj gegenüber Tolstoj in Bezug auf die Chronologie diskontinuierlicher sei. Die Ausgangshypothese lautete also, dass in der Chronologie der Darstellung in dem modernistischen Text häufiger Sprünge auftreten als in dem realistischen Text. Aus analysetechnischen Gründen wurde der Absatz als Orientierungseinheit angenommen und überprüft, ob mit einem neuen Absatz eine Unterbrechung der Chronologie eintritt (beispielsweise der Einsatz eines Rückblicks) und ob dieser Wechsel in der Chronologie mit einem Raumwechsel einhergeht. Dazu wurde in einer Tabelle für die genannten Kapitel die Zeichenzahl der einzelnen Absätze festgehalten und ab dem jeweils zweiten Absatz innerhalb eines Kapitels markiert, ob sich die in dem neuen Absatz einsetzenden zeitlichen und räumlichen Koordinaten verändern oder aber ob die zuvor bestehenden fortgesetzt werden. Für den Raum bedeutet dies, dass er unverändert bestehen bleibt (oder aber, dass er weiterhin keine Rolle spielt, also nicht explizit eingeführt wird, was ebenfalls vorkommt) und für die Chronologie, dass „die“ Zeit in ungefähr gleichen Intervallen (Minuten, Stunden, Tagen etc.) weiter fortschreitet, ohne dass es zu einem Sprung in die Zukunft oder Vergangenheit käme. Folgender Abschnitt illustriert, was als chronologischer Bruch (Einsatz eines Rückblicks) gezählt wurde: (31) V qtom-to vsä drama, – dumal on. – Ax, ax, ax! – prigovarival on s otçaäniem, vspominaä samye täΩelye dlä sebä vpeçatleniä iz qtoj ssory.

298

Christina Janik

„Das ist ja das Drama“, dachte er. „Ach, ach, ach“, sprach er mit Verzweiflung, als er an die für ihn bittersten Eindrücke aus diesem Streit zurückdachte. [Absatzwechsel, Chronologiewechsel, Raumwechsel] Nepriätnee vsego byla ta pervaä minuta, kogda on, vernuv‚is´ iz teatra, veselym i dovol´nym, s ogromnoü gru‚eü dlä Ωeny v ruke, ne na‚el Ωeny v gostinoj; k udivleniü ne na‚el ee i v kabinete i, [...] (Tolstoj, Anna Karenina) Am unerfreulichsten war jene erste Minute, als er aus dem Theater zurück kam, heiter und zufrieden, mit einer großen Birne für die Gattin in der Hand, und die Gattin nicht im Salon vorfand; zu seiner Überraschung fand er sie auch nicht im Arbeitszimmer und, [...]

Dass innerhalb einzelner, längerer Absätze Unterbrechungen in der Chronologie auftreten können, wurde vorläufig nicht berücksichtigt. Die durchschnittliche Zahl der Absätze pro 1000 Zeichen erwies sich bei den Texten als fast gleich. Dass bei Belyj die entsprechende Zahl minimal höher ist, deutet darauf hin, dass seine Absätze im Schnitt etwas kürzer sind als die Tolstojs: 5 4 3 2 1 0 Tolstoj

Belyj

Abb. 13: Absatzzahl pro 1000 Zeichen

Die Zahl chronologischer Brüche wurde pro 100 Absätze berechnet, wobei wiederum vorläufig unberücksichtigt blieb, dass die Absätze unterschiedlicher Länge sein können. Das Ergebnis ist in folgender Grafik zusammengefasst:

299

Zur Chronologie

25 20 15 Chron- mit Raumwechsel Chron- ohne Raumwechsel

10 5 0 Tolstoj

Belyj

Abb. 14: Chronologische Brüche pro 1000 Absätze

Anders als erwartet finden sich bei Tolstoj pro 100 Absätze um fast 25 Prozent mehr Einschnitte in der Chronologie als bei Belyj. Interessant ist jedoch, dass diese in der Mehrheit der Fälle (rund 90 Prozent) mit Raumwechseln einhergehen, wohingegen bei Belyj nur rund 50 Prozent mit einem Raumwechsel zusammenfallen. Als Bruch in der Chronologie ohne Raumwechsel wurde bei Belyj zum Beispiel folgender Übergang gewertet: (32) Konnaä statuä vyçernälas´ neäsno s otumanennoj plowadi; proezΩie posetiteli Peterburga qtoj statue ne udeläüt vnimaniä; ä vsegda podolgu prostaivaü pered nej: velikolepnaä statuä! ˇalko tol´ko, çto kakoj-to ubogij nasme‚nik pri poslednem proezde moem zolotil ee sokol´. Eine Reiterstatue hob sich undeutlich ab vom umnebelten Platz; durchreisende Besucher Petersburgs schenken dieser Statue keine Beachtung; ich stehe jedes Mal lange davor: eine herrliche Statue! Schade nur, dass irgendein törichter Spötter bei meinem letzten Besuch ihr den Sockel vergoldet hat. [Absatzwechel, Chronologiewechsel, kein Raumwechsel] Svoemu velikomu pradedu soorudil qtu statuü samoderΩec i pravnuk, samoderΩec proΩival v qtom zamke; zdes´ Ωe konçilis´ ego nesçastlivye dni - v rozovokamennom zamke; on ne dolgo tomilsä zdes´; on ne mog zdes´ tomit´sä; meΩ samodurnoü suetoj i poryvami blagorodstva razryvalas´ du‚a ego; iz razorvannoj qtoj du‚i otletel mladençeskij dux. (Belyj, Peterburg) […] Seinem großen Urahn errichtete diese Statue der Selbstherrscher und Urenkel, der Selbstherrscher wohnte in diesem Schloß; hier auch endeten seine unglücklichen Tage – im rosasteinernen Schloß; er hat hier nicht lange geschwelgt; er konnte nicht schwel-

300

Christina Janik

gen hier; zwischen launischer Unrast und Anwandlungen von Edelmut zerriß es seine 13 Seele; aus dieser zerrissenen Seele entflog ein kindlicher Geist.

Hier lässt sich dieses Phänomen dadurch erklären, dass aus der Sicht einer Person erzählt wird, die sich offenbar an dem beschriebenen Ort befindet und einmal einen „Jetzt“-Zustand, dann aber einen historischen Zustand dieses Ortes beschreibt. Es wird also der temporale, nicht aber der lokale Referenzrahmen verändert. Es wäre sicherlich fruchtbar, weiter zu untersuchen, ob die Frage nach der Kontinuität der Darstellungsweisen sich nicht insgesamt eher am Konzept der Perspektive festmachen ließe. Möglicherweise lässt sich der Eindruck größerer Diskontinuität bei Belyj gegenüber Tolstoj eher durch häufigere Perspektivwechsel als durch Brüche in der Chronologie der Darstellung erklären. 5. Aspekt-Tempus-Formen Bei den bisher dargestellten Ergebnissen handelte es sich um Funktionen der grammatischen Verbalkategorien Aspekt und Tempus, bei deren Auswertung immer bereits ein auf Kontextwissen basierendes interpretatives Element enthalten war. Ausgehend von den für die Texte Belyjs und Tolstojs ohnehin mit erfassten Informationen zu diesen grammatischen Kategorien wurde zusätzlich auch in den elektronischen Versionen der weiteren Texte des Modernismus, Realismus und Übergangs (s. Abschnitt 6 Quellen) markiert und ausgewertet. Ziel war es zu überprüfen, was die Ergebnisse zur Episodizität nahelegen: dass nämlich die an der Konstituierung chronologischer Relationen zwischen Situationen beteiligten Aspekt-Tempus-Formen epochenübergreifend quantitativ in ähnlicher Weise verteilt sind. Ausgehend von Lehmanns Konzept eines „narrativen Defaults“ folgen Übersichten zur Realisierung des Aspekts (ipf. vs. pf.) und zu den in Erzähltexten vorherrschenden Tempora (Präteritum und Präsens) sowie zur Kombination des Präteritums mit perfektivem bzw. imperfektivem Aspekt. Für die Aspekte ergibt sich wie vermutet ein relativ einheitliches Bild:

13

Übersetzung aus: Belyj, A. 2001. Peterburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Frankfurt/Main; Leipzig 2001, S. 530.

301

Zur Chronologie 100%

80%

60%

ipf pf

40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 15: Prozentuale Verteilung der Aspekte

Es lässt sich offenbar für Erzähltexte als Regelfall annehmen, dass der Anteil der perfektiven Verben an der Gesamtzahl aller untersuchten Prädikate über dem der imperfektiven liegt und zwar im Schnitt bei 60 Prozent. Dass sich für einzelne Texte des Korpus (insbesondere Turg1 und Chech) eine umgekehrte Verteilung ergibt, lässt sich dadurch erklären, dass bei relativ geringem Textumfang die Textanfänge mit überwiegend nicht-episodischen bzw. stativen Situationsdarstellungen, die durch imperfektive Verben realisiert werden, stärker ins Gewicht fallen. Diese Vermutung wird auch durch die weiteren Ergebnisse gestützt. So ergibt sich für den Gebrauch potentiell narrativer Tempora (Präteritum und Präsens) allein für Turg1 eine deutliche Abweichung vom Gesamtbild, die ebenfalls bedingt ist durch die große Zahl stativer Situationen, die durch Prädikate im Präsens realisiert werden und die daher im Russischen notwendigerweise den imperfektiven Aspekt erfordern: 100%

80%

60% Präs Prät 40%

20%

0% Turg1

Tolstoj

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Abb. 16: Prozentuale Verteilung von Präsens- und Präteritalformen

Zam

302

Christina Janik

Zusätzlich zeigt sich jedoch auch eine leichte Tendenz hin zu mehr Präsensformen im Modernismus, deutlich vor allem bei Zamjatin. Diese Präsensformen wären noch genauer zu untersuchen, es handelt sich dabei auf den ersten Blick mehrheitlich nicht um historisches Präsens in der Erzählerrede, sondern um in erlebter Rede auftretende, also auf Figuren als Referenzgröße verweisende deiktisch-präsentische Formen. Diese Annahme ließe sich dadurch stützen, dass auch die größere Zahl von Egocentriki in den modernistischen gegenüber den realistischen Texten (s. Kapitel 1) für eine Zunahme der Verschiebung der per Default beim Erzähler anzunehmenden Origo auf Figuren im Text spricht. Die folgende Grafik erfasst wiederum, wie die Aspekte auf die vorkommenden Prädikate im Präteritum verteilt sind. Da die Mehrheit der insgesamt untersuchten Prädikate im Präteritum steht, ergibt sich, außer für Turg1, der einen hohen Anteil an Präsensformen aufweist, ein sehr ähnliches Bild wie für die Übersicht zum Aspekt (s. Abb. 15). Die für Erzähltexte als idealtypisch angenommenen Prädikate im Präteritum, die durch perfektive Verben gebildet werden, machen in der Mehrheit der Texte mehr als 50 Prozent, und zwar zwischen 59 Prozent und 78 Prozent aus. Auffälligerweise treten unter den realistischen, anders als bei den modernistischen und den Texten des Übergangs, keine größeren Schwankungen um die 60 Prozent herum auf. Auffällig ist auch, dass Belyj einmal mehr unter den modernistischen Texten den realistischen Texten am nächsten kommt: 100%

80%

60% PRÄT-UV PRÄT-V 40%

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 17: Prozentuale Verteilung der Aspekte auf die Prädikate im Präteritum

Abschließend wurde erfasst, auf welche unterschiedlichen Weisen aktionale Situationen in den Texten bevorzugtermaßen realisiert werden. Er-

303

Zur Chronologie

fasst wurden finite Vollverben (VOLL), infinite Formen wie Adverbialpartizipien und Partizipien (ADP bzw. PART) sowie „andere“ Realisationsformen (A) wie Prädikate mit Kopula (byt’) und Ellipsen. Hier zeigen sich insgesamt nur wenige Unterschiede: Bemerkenswert ist vor allem Zamjatin, bei dem die „anderen“ Realisationsformen aktionaler Situationen über 30 Prozent ausmachen, während diese in keinem der anderen Texte mehr als 20 Prozent betragen. Aufgrund der angenommenen Kolloquialisierung im Verlauf vom Realismus zum Modernismus war vermutet worden, dass die realistischen Texte mehr Adverbialpartizipien aufweisen als die modernistischen Texte. Unter den realistischen Texten entspricht nur Tolstoj dieser Erwartung, bei dem der Anteil der Adverbialpartizipien rund 20 Prozent ausmacht. Tolstoj unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich von Belyj, aber eben auch von allen anderen Texten, bei denen die Adverbialpartizipien nicht mehr als 10 Prozent ausmachen. Außerdem war erwartet worden, dass in den realistischen Texten mehr Partizipien in attributiver Verwendung aufträten als in den modernistischen Texten; doch diese Vermutung hat sich nicht bestätigt: 100%

80%

A

60%

PART ADP 40%

VOLL

20%

0% Turg1

Tolst

Turg2

Chech

Pil1

Pil2

Belyj

Zam

Abb. 18: Realisationsformen aktionaler Situationen, quantitative Verteilung

Abschließend bleibt festzuhalten, dass offenbar für die Kategorien des Verbs, die für das Verständnis chronologischer Relationen von Sachverhalten relevant sind, keine als epochenspezifisch erklärbaren Verwendungsweisen bestehen. Es scheint, dass diese Kategorien tatsächlich für die Konstitution narrativer Texte so grundlegend sind, dass sich Schwankungen um bestimmte Durchschnittswerte eher durch im einzelnen Text

304

Christina Janik

liegende (inhaltliche) Faktoren erklären lassen als als epochenabhängiges Stilmittel. 6. Quellen A Realismus: Turgenev, I. (Turg1). Zapiski Ochotnika: Bezˇin Lug. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Textanfang; 3.475 Zeichen). Tol’stoj, L. (Tol). 1999. Anna Karenina. Moskva. (Kapitel 1, I; 1, XXX; 2, XXVII; 3, XIX; 4, XVI; 5, XXI; 6, XVII; 7, XIV; 43.719 Zeichen). Turgenev, I. (Turg2). Otcy i Deti. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; V; VII; IX; 38.163 Zeichen). B Übergang: Cµechov, A. (Chech). Dama s sobacˇkoj, www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (Kapitel I; III; 14.136 Zeichen). Pil’njak, B. (Pil1) 1994. Lesnaja Dacˇa. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 461 ff. Moskva. (Textanfang; 3.480 Zeichen). C Modernismus: Pil’njak, B. (Pil2) 1994. Golyj God. Socˇinenija v trech tomach. Tom 1, S. 6 ff. Moskva. (Kapitel III: O svobodach - glazami Andreja; 14.560 Zeichen). Belyj, A. (Bel) 1994. Peterburg. Moskva. (Kapitel 1: Apollon Apollonovicˇ Ableuchov; 2: Podlost’, podlost’, podlost’; 3: Tatam: tam, tam!; 4: Pis’mo; 6: Vnov’ nasˇcˇupalas’ nit’ ego bytija, 6: Peterburg; 7: Gadina; 8: Cµasiki; 60.360 Zeichen). Zamjatin, E. (Zam). Pesˇcˇera. www.pronet.ru/library/lat/; download am 26.8.2003. (ganz; 15.086 Zeichen).

7. Literatur Appel, D. 1996. Textsortenbedingter Aspekt-Tempus-Gebrauch im Russischen. München. Jachnow, H. 1995. Möglichkeiten der Klassifikation von Temporalitätsträgern. Temporalität und Tempus. Studien zu allgemeinen und slavistischen Fragen. Hrsg. von H. Jachnow und M. Wingender. Wiesbaden, 112–128. Hansen, B. 1996. Zur Grammatik von Referenz und Episodizität. München. Lehmann, V. 1993 Aspekt und Zeit. Untersuchungen zur Funktion russischer Verben. Unredigierter Ausdruck. Hamburg. Lehmann, V., Hamburger Studiengruppe. 1993. Interaktion chronologischer Faktoren beim Verstehen von Erzähltexten. (Zur Wirkungsweise aspektueller und anderer Defaults). Slavistische Linguistik 1992. Hrsg. von S. Kempgen. München, 157196. Lehmann, V. 1994. Episodizität. Slavistische Linguistik 1993. Hrsg. von H. R. Mehlig. München, 153–179.

Zur Chronologie

305

Lehmann, V. 1999. Aspekt. Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Hrsg. von H. Jachnow. Wiesbaden, 214–242. Lehmann, V., Rauchenecker, E. 1995. Temporale Implikationen nichttemporaler Kategorien. Temporalität und Tempus. Studien zu allgemeinen und slavistischen Fragen. Hrsg. von H. Jachnow und M. Wingender. Wiesbaden, 199–223. Lehmann, V. 2005: Zur Beschreibung von Aspektfunktionen: Beispiel Sachverhaltskoinzidenz. Slavistische Linguistik 2003. Hrsg. von S. Kempgen. München. Mehlig, H. R. 1981. Satzsemantik und Aspektsemantik im Russischen. Zur Verbalklassifikation von Z. Vendler. Slavistische Linguistik 1980. Hrsg. von P. Hill und V. Lehmann. München, 95–151. Pöppel, E. 1987. Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung. München. Rauchenecker, E. 2001. Temporale Verbsemantik und Kohärenz im Russischen. München. Tulving, E. 1983. Elements of episodic memory. Oxford. Yevseyev, V. 2003. Ikonizität und Taxis. Ein Beitrag zur Natürlichkeitstheorie am Beispiel des Deutschen und Russischen. Frankfurt am Main.

DORIS MARSZK

Granularitätsphänomene als Parameter zur Unterscheidung von Realismus und Moderne 1. Einleitung: Was ist Granularität? 1.1 Beschreibung des Phänomens Wenn jemand zum Beispiel von seinen Erlebnissen der letzten Woche oder des letzten Jahres oder von seinen Kinderjahren berichten soll, kann er kurz darüber hinweggehen oder in aller epischen Breite davon erzählen. Für eine Erzählung am Telefon eignete sich etwa diese Variante: (1) Das letzte Jahr war ziemlich stressig. Im Frühjahr wurde ich am Knie operiert. Ich hatte mich davon kaum richtig erholt, da musste ich auch schon unsere Sommerschule vorbereiten. Im Herbst hat dann mein Sohn geheiratet, und das in Australien, weil seine Frau daher stammt. Meine Tochter, die jetzt beim Alfred-Wegener-Institut arbeitet, hat zur gleichen Zeit ihre erste Antarktis-Expedition ausgerüstet. Und wir waren immer mitten drin. Schließlich muss man den jungen Leuten doch ein bisschen helfen.

An einem gemütlichen „Klön-Abend“ kann man auch anders erzählen: (2) Es war im Vorfrühling des letzten Jahres und es war schon bemerkenswert warm. Deshalb bin ich eines Tages in kurzen Hosen joggen gegangen. Da ich nur ein paar Kilometer drehen wollte, habe ich auch die Knieschoner zu Hause gelassen. Ich lief so vor mich hin, und plötzlich stolperte ich über eine dicke Baumwurzel, und das so unglücklich, dass der Versuch aufzustehen mir ungeheure Schmerzen bereitete. Glücklicherweise kamen bald Spaziergänger vorbei, die über Handy einen Krankenwagen riefen. Im Krankenhaus betasteten sie erst mein Knie, dann röntgten sie es und teilten mir schließlich mit, dass sie es operieren müssten.

Man erzählt aber normalerweise nicht so: *(3) Am Sonntagmorgen zog ich mich an, um joggen zu gehen. Ich lief meine üblichen Pfade, als ich plötzlich über eine Baumwurzel stolperte. Dann wurde ich am Knie operiert.

Auch ein Erzähler oder eine Erzählerin ohne besondere literarische Kenntnisse weiß offenbar, mit welchen Mitteln er/sie die Geschichte rafft oder dehnt, auch wenn er oder sie das nicht explizieren könnte. Das kön-

308

Doris Marszk

nen viele Literaturwissenschaftler und andere Textwissenschaftler übrigens auch nicht, obwohl ihnen das Phänomen durchaus geläufig ist. Gerald Prince zum Beispiel hat einmal bemerkt, dass man nicht sagen kann: *(4) The water boiled and then World War II started.

Er führte dies darauf zurück, dass das kochende Wasser und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nichts miteinander zu tun haben, und damit war für ihn das Problem geklärt. Auch viele andere Wissenschaftler, etwa Linguisten, Philosophen haben das Phänomen schnell abgetan, wenn sie es bemerkten. Das ist umso erstaunlicher als sich hinter diesem Phänomen eine bemerkenswerte kognitive Leistung verbirgt. Bei Kompatibilitätstests mit Sätzen, in denen zwei Prädikate miteinander verbunden waren, zeigte sich, dass Menschen auch ohne jegliche philologische Vorbildung genau wissen, welche Prädikate zusammen „harmonieren“ und welche nicht. Ich habe dies getestet und habe – um der Begründung von Prince nicht zu begegnen – auch bei der Zusammenstellung der Prädikate darauf geachtet, dass sie alle aus dem gleichen Bereich kamen, zum Beispiel aus dem Bereich Landwirtschaft. Es zeigte sich, dass man auch innerhalb eines bestimmten Lebensbereiches – etwa Landwirtschaft – nicht so etwas sagen kann wie: *(5) Er mästete das Schwein und sattelte das Pferd.

Es liegt also nicht an den verschiedenen Lebensbereichen, sondern es liegt im Wesentlichen am Verb. Das Verb hat offenbar eine inhärente Feinheit oder Grobheit oder etwas dazwischen. Die Gerafftheit bzw. Ausführlichkeit eines Textes nenne ich Grobkörnigkeit oder Feinkörnigkeit, zusammengefasst Granularität. Wenn, wie in (3), etwas nicht harmoniert, dann liegt dies daran, dass Grob- und Feinkörnigkeit zu stark aufeinander stoßen. Das, was im Wesentlichen die Granularität eines Textes ausmacht, wird vom Verb transportiert (genauer gesagt vom Verblexem). Darum spreche ich auch von der Granularität der Verben. Es gibt mehr oder weniger feine Verben und mehr oder weniger grobe Verben.1 Feine Verben 1

So wie nicht ein einzelnes Korn, sondern nur ein Haufen Körner eine Körnigkeit hat, so darf man streng genommen auch nicht von einer Granularität des Verbs sprechen. Wenn in diesem Aufsatz dennoch von der „Granularität des Verbs“ die Rede ist, dann deshalb, um sich den sperrigen Bindestrich-Oberbegriff „Fein- bzw. Grobheit des Verbs“ zu ersparen.

Granularitätsphänomene

309

sind sich von der Art her ähnlich; sie beschreiben Handlungen, die der Mensch mit sich selbst oder mit seinen Sachen vornimmt (wie etwa öffnen, wischen, binden, heben, kratzen usw.). Es zeigt sich, dass diese Verben die durch sie bezeichnete Handlung sehr deutlich, durchaus im sensumotorischen Sinne, in unserem kognitiven Verarbeitungsapparat wachrufen. Grobe Verben fassen oft mehrere einzelne Handlungen zusammen (ohne aber im klassischen Sinne Oberbegriffe zu sein) oder können eine Handlung seltsam diffus erscheinen lassen. Beispiele sind: studieren, emigrieren, gründen, züchten, mästen, erziehen, heilen, helfen, unterstützen, retten usw. (vgl. Marszk 1996). Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass grobe Verben eine sehr viel uneinheitlichere Klasse bilden als feine Verben. In Marszk 1997 habe ich einige Klassen grober Verben zusammengestellt:



Verben, die ein Szenario andeuten, wie etwa heilen oder ausrüsten (Schiff; Expedition),



Verben, bei denen Gegenstandsklassen eine Rolle spielen, wie beispielsweise sammeln oder züchten (Sammel-Verben),



Verben, die „eigentlich“ nur einen Sprechakt bezeichnen, der aber seinerseits eine materielle Basis hat, ohne die er kaum vorstellbar wäre; dies sind biplane (o2 der auch: Doppeldecker-) Verben wie gründen oder heiraten,



Verben, die jeweils eine bestimmte Situation als eine So-und-so-Situation auslegen, etwa retten: Tausende von Situationen können als Rettung vor etwas ausgelegt werden (Auslegungsverben).

Was alle diese Klassen grober Verben (die nur eine Auswahl darstellen) gemeinsam haben, ist, dass zum bezeichneten Vorgang Partizipanten oder Handlungsbausteine gehören, die erst dann genauer bestimmt werden können, wenn die näheren Umstände bekannt sind. Von manchen der durch die Verben bezeichneten Handlungen, so ließe sich jetzt formulieren, müssten jedoch weniger die näheren Umstände, sondern das Script bekannt sein. Vergleichen wir beispielsweise zwei biplane Verben, gründen und heiraten. In beiden Handlungen muss ein Akt vollzogen werden. Beim Gründen kann dieser Akt auf unterschiedliche, wenn auch nicht beliebige Weise ausfallen. Das hängt zunächst davon ab, was gegründet wird (Firma, Universität, Club, Verein usw.). Bei Firmengründungen spielt dann z.B. noch die Gesellschaftsform eine Rolle (hiervon hängt es 2

Die Einsicht in das Wesen der biplanen Verben verdanke ich den Diskussionen mit Julia Mende, die diesen Verben auch einen ausführlichen Aufsatz gewidmet hat (vgl. Mende 2003).

310

Doris Marszk

etwa ab, ob die Firma einen Eintrag ins Handelsregister erhält und dadurch gegründet wird). Bei anderen Gründungen bildet eine konstitutive Sitzung den Gründungsakt. Neben dem Gründungsakt spielen dann noch zahlreiche materielle Elemente eine Rolle, die auch je nach Gründungsobjekt variieren. Anders ist es beim Heiraten. Hier geht es im Prinzip immer um das Gleiche: Zwei Menschen wollen ihre Beziehung institutionalisieren. Dazu gehört auf jeden Fall ein Akt, und wie dieser vor sich geht und was sonst noch eine Rolle spielt, ist in Scripts gespeichert, die vor allem von Kultur zu Kultur unterschiedlich sind. Das bedeutet, dass manche groben Verben gleichsam als Script-Header im Sinne von Schank & Abelson (1977) fungieren, während andere grobe Verben Handlungsbausteine in sich bergen, die stark variieren können und die dafür sorgen, dass die feinkörnige Geschichte hinter einer grobkörnigen Geschichte immer wieder auch ganz anders erzählt werden kann. 1.2 Bestimmung der Granularität Wie bereits gesagt, wird die Granularität vom Verb transportiert. Es gibt also feine, mittelfeine, mittelgrobe und grobe Verben, und man kann die Unterteilung vermutlich auch noch kleiner machen. Granularität ist also nicht als Dichotomie zu verstehen, sondern als Kontinuum. Um die Granularität eines Verbs zu bestimmen, habe ich einige Testverfahren entwickelt, die darauf abstellen, wie deutlich oder verschwommen eine von einem bestimmten Verb bezeichnete Handlung ist. Dabei zeigte sich schon, dass die Granularität ein Phänomen ist, das auf Verarbeitungen unserer Wahrnehmungen und motorischen Erfahrungen zurückzuführen ist. Ein Test, der sehr feine Verben von nicht-feinen Verben trennt, ist der Deutlichkeitstest. Hier wird – metasprachlich – die Bedeutung eines Verbs gegeben und anschließend die Frage gestellt: „Wie geht das vor sich?“ oder „Wie macht man das?“ In jenen Fällen, wo die Antwort lautet: „Genau so [wie in der Bedeutungsbeschreibung angegeben]“, handelt es sich um ein feines Verb. Wenn z.B. die Bedeutung des Verbs brit’ (‚rasieren‘) angegeben wird mit mit der Bewegung eines scharfen Instruments unmittelbar an der Oberfläche des Gegenstands entlangfahren (nach Apresjan 1974, 101)

kann auf die Frage „Wie rasiert man (sich/jemanden)?“ nur geantwortet werden: „Genau so.“ Dieser Test hat jedoch den Nachteil, dass durch ihn nur die ganz feinen Verben herausgefiltert werden können. Um eine Skala der Granularität aufstellen zu können, habe ich drei empirische Tests ent-

Granularitätsphänomene

311

wickelt, die auf die Unterbrechbarkeit der Handlung, die Rolle der Hand bei der Ausführung und die Sichtbarkeit der Handlung abstellen. Dabei zeigte sich, dass der Unterbrechungstest (U-Test) der schärfste dieser drei Tests ist: Nur von sehr feinen Verben denotierte Handlungen sind unterbrechbar. Der weichste Test ist der Augentest (A-Test). Man muss sich vergegenwärtigen, dass man wirklich viele Entitäten sehen kann, seien sie nun in Bezug auf die menschliche Körpergröße überdimensional groß oder klein. Der Mensch kann sowohl ein Gebirgspanorama überblicken als auch einen Schmetterling im Gras beobachten. Es gibt also viele Situationen, die man prinzipiell sehen kann. Dennoch könnte man, wenn man über so eine Situation spricht, nicht unbedingt sagen, wie sie sich abspielen oder was dazu gehört. Man denke etwa an Situationen wie Spielen oder Backen. Diese Handlungen sind zwar beobachtbar, doch lässt sich bei der Verbbeschreibung nur schwer angeben, was zu diesen Handlungen dazugehört. Ist das Hervorholen der Rührschüssel aus dem Schrank schon der Anfang des Backens, oder erst das Kneten des Teigs und sein Ausrollen auf dem Kuchenblech, oder gar erst das In-den-Backofen-Schieben? Entgegen dem ersten Gefühl hinsichtlich der Körnigkeit von Verben wie spielen oder backen zeigt sich, dass sie doch zu den gröberen Verben gehören – obwohl man die Handlung sehen bzw. beobachten kann. Je unmittelbarer der Mensch in einen Vorgang involviert ist, je näher ihm die Gegenstände sind, die für den Vorgang eine Rolle spielen, desto feiner ist das Verb, das die Handlung bezeichnet. Diese Annahme legen die empirischen Verfahren des Augen-, Hand- und Unterbrechungstests nahe. Gestützt wird die Annahme von dem metasprachlichen Verfahren der Menschenmaße. Wenn der Mensch seine Umwelt umso mehr mit den Händen begreifen kann und sein Augenmerk auf sie richten kann, je menschengemäßer die Objekte sind, mit denen er zu tun hat, kann folgendermaßen eine Abstufung von Menschenmaßen 3 vorgenommen werden:

• • • 3

Mensch mit sich selbst (sitzen, sich bücken, sich hinlegen, aufstehen u.ä.) Mensch mit seinen Sachen (Sachen = kleine Gegenstände) Mensch und 1 anderer Mensch (z.B. füttern, Kontrolle nimmt ab)

Der Begriff der Menschenmaße ist entstanden in Anlehnung an George Lakoffs Bezeichnung „human sized“ für Handlungen, die auf die physische Größe des Menschen und seine körperlichen Gegebenheiten abgestimmt sind.

312

Doris Marszk



Mensch und andere Menschen (z.B. leiten, vertreiben; Kontrolle nimmt noch mehr ab)

• • • •

Mensch und große Entitäten (z.B. bauen große Dinge wie Häuser, Bäume, Seen) Mensch und abstrakte oder biplane Entitäten (z.B. gründen) Non-Menschenmaße (z.B. regnen) Neutrale Menschenmaße (z.B. fallen)

Diese Menschenmaße werden, anders als der Augen-, Hand- und Unterbrechungstest, nicht durch Befragung von Sprechern ermittelt, sondern durch die Überlegung, wer etwas mit wem oder was tut und wie sehr das Subjekt der Handlung Kontrolle über die Handlung hat. Die Menschenmaße stellen darauf ab, wie gut eine Handlung ausgemessen ist (oft durchaus wörtlich zu verstehen). Gut ausmessen wiederum kann man eine Handlung nur, wenn der Mensch viel Kontrolle über die Handlung hat. Tatsächlich ergab sich eine mehr als zufällige Korrelation zwischen einem kleineren Menschenmaß einer Handlung und der Feinheit des Verbs und umgekehrt zwischen dem großen Menschenmaß und der Grobheit eines Verbs. Als Definition von Granularität ergibt sich: Die Granularität eines Verbs ist die zu einem Teil der Verbbedeutung erstarrte Ausmessung eines Vorgangs. 2. Einsatz der Granularität in der Narratologie 2.1 Lev Tolstoj und Andrej Belyj In dieser Untersuchung werden ganz bewusst die Schreibweisen von Lev Tolstoj und Andrej Belyj gegenübergestellt. Die beiden Autoren stehen stellvertretend für zwei literarische Epochen, den Realismus und den Modernismus, die Moderne im engeren Sinne. Mit Hodel (vgl. seinen Beitrag „Textkohärenz und Narration in realistischer und modernistischer russischer Literatur“, in diesem Band) wird hier Moderne als Oberbegriff für „Modernismus“ und „Avantgarde“ verwendet, also für die Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 1920er Jahre. Der Realismus hingegen, der in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt, erreicht in den 1860er und 1870er Jahren seinen Höhepunkt. Die beiden Werke, die hier miteinander verglichen werden, Tolstojs „Anna Karenina“

Granularitätsphänomene

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und Belyjs „Peterburg“, gehören jeweils in die Blütezeit ihrer Epochen und können darum als typisch gelten. Die beiden Autoren können darüber hinaus exemplarisch für Normalität und Deviation stehen: Wie Hodel in seinem Beitrag „Textkohärenz und Narration [...]“ (in diesem Band) ausführt, erscheint der Realismus gegenüber dem Modernismus als Primärstil. Auch in nachrealistischer Zeit, also nach 1900, so Hodel, werde weiter realistisch geschrieben, weil die realistische Schreibweise auch jene ist, deren „Verfahren mit nichtfiktionalen Texten identifiziert werden“. Darum könne der Realismus als Primärstil betrachtet werden (wie auch die Romanik, die Renaissanc und der Klassizismus). In so einem hierarchischen Verständnis der Epochenabfolge erscheint die Moderne „als Deviation des Default Realismus“. Der Realismus als Default lässt sich auch linguistisch begründen. Wie Volkmar Lehmann in seinem Beitrag „Der narrative Redetyp und seine Analyse“ (in diesem Band) sagt, sind die „dargestellten aktionalen Situationen [...] so beschaffen, dass der Leser sie sich konkret, filmartig, vorstellen kann. Es könnte auch die Beschreibung dessen sein, was der Sprecher wahrnimmt, d.h. es besteht Wahrnehmungsäquivalenz“. Lehmann nennt diesen Redetyp den Basismodus. 2.2 Analyse-Verfahren in diesem Projekt Um quantitativ eine ungefähre Vergleichbarkeit der beiden Autoren zu gewährleisten, habe ich in beiden Romanen immer im Abstand von 50 Seiten jeweils eine Seite Satz für Satz analysiert. Dabei habe ich drei Fragestellungen berücksichtigt:



Untersuchung der einzelnen Sätze auf ihre Granularität mit den mir zur Verfügung stehenden Testverfahren oder Ableitungen daraus (Textebene),

• •

Analyse des Menschenmaßes des betreffenden Verbs (Systemebene), Bestimmung der vorkommenden Subjekte und Objekte nach der Art der bezeichneten Personen und Gegenstände.

Bei den Subjekten und Objekten unterscheide ich folgende Arten:

• • • • • •

Mensch Tier Körperteil Kleiner Gegenstand Großer Gegenstand Abstrakter Gegenstand

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Doris Marszk

Diese Fragestellungen sollen zum einen Aufschluss geben über die Granularitätstextur ganzer Absätze. Als Ergänzung dazu kann die Ermittlung der Menschenmaße der Verben in ihrer Grundbedeutung dienen sowie die Ermittlung der Art der Subjekte und Objekte. Durch die Bestimmung und Auszählung von Personen und Gegenständen in der Subjekt- oder Objektstelle gewinnt man Aufschluss darüber, wer oder was eigentlich die „Geschehensbeteiligten“ eines Romans bewegt. Die Menschenmaße habe ich bewusst in der Grundbedeutung des Verbs analysiert und nicht auf der Textebene. So können sich Auffälligkeiten manifestieren etwa in der Art, dass in einem Text zwar wenig Menschen agieren, sondern eher Gegenstände, diese Gegenstände aber durch Verben mit Menschenmaßen vermenschlicht werden. 3. Exemplarische Unterschiede zwischen Belyj und Tolstoj 3.1 Granularität bei Belyj und Tolstoj an einem Beispiel Liest man Texte oder Textausschnitte von Lev Tolstoj und Andrej Belyj kurz hintereinander, sticht sofort ins Auge, dass der Text von Belyj „irgendwie anders“ ist. Abgesehen davon, dass es bei beiden Autoren um jeweils andere Themen und Aussagen geht, manifestiert sich das Andere, das Neue bei Belyj in einer Schreibweise, die von der vor ihm, aber auch nach ihm herkömmlichen Art, zu erzählen deutlich abweicht. Betrachten wir jeweils eine Seite aus Tolstojs „Anna Karenina“ und Belyjs „Peterburg“. Tolstoj, 455 Veselo bylo pit´ iz ploskoj haπi teploe krasnoe vino s vodoj, i stalo ewe veselee, kogda sväwennik, otkinuv rizu i vzäv ix obe ruki v svoü, povel ix pri poryvax basa, vyvodivπego «Isaje likuj», vokrug analoä. Werbackij i Çirikov, podderøivavπie vency, putaäs´ v πlejfe nevesty, toøe ulybaäs´ i raduäs´ hemu-to, to otstavali, to natykalis´ na venhaemyx pri ostanovkax sväwen-

Belyj, 347 Ispuganno oziraäs´, kak-to øalko dopolz on do pätna fonarä; pod pätnom lepetala struä trotuara, na pätne proneslas´ apel´sinnaä korohka. Nikolaj Apollonovih opät´ prinälsä za zapisohku. Stai myslej sleteli ot centra soznanij, budto stai ogoltelyx, burej spugnutyx ptic, no i centra soznaniä ne bylo: mrahnaä tam prosiäla dyra, pred kotoroj stoäl rasterännyj Nikolaj Apollonovih, kak

Granularitätsphänomene

nika. Iskra radosti, zaøegπaäsä v Kiti, kazalos´, soobwilas´ vsem byvπim v cerkvi. Levinu kazalos´, hto i sväwenniku i d´äkonu, tak øe kak i emu, xotelos´ ulybat´sä. Snäv vency s golov ix, sväwennik prohel poslednüü molitvu i pozdravil molodyx. Levin vzglänul na Kiti, i nikogda on ne vidal ee do six por takoü. Ona byla prelestna tem novym siäniem shastiä, kotoroe bylo na ee lice. Levinu xotelos´ skazat´ ej hto-nibud´, no on ne znal, konhilos´ li. Sväwen-nik vyvel ego iz zatrudneniä. On ulybnulsä svoim dobrym rtom i tixo skazal: — Pocelujte enu, i vy pocelujte muøa, — i vzäl u nix iz ruk svehi. Levin poceloval s ostoroønost´ü ee ulybavπiesä guby, podal ej ruku i, owuwaä novuü, strannuü blizost´, po‚el iz cerkvi. On ne veril, ne mog verit´, hto qto byla pravda. Tol´ko kogda vstrehalis´ ix udivlennye i robkie vzglädy, on veril qtomu, potomu hto huvstvoval, hto oni uøe byli odno. Posle uøina v tu øe noh´ molodye uexali v derevnü. VII Vronskij s Annoü tri mesäca uøe puteπestvovali vmeste po Evrope. Oni obßezdili Veneciü, Rim, Neapol´ i tol´ko hto priexali v nebol´πoj ital´änskij gorod, gde xo-

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pred mrahnym kolodcem. Gde i kogda on stoäl podobnym øe obrazom? Nikolaj Apollonovih sililsä vspomnit´; i vspomnit´ ne mog. I opät´ prinälsä za zapisohku: stai myslej, kak pticy, nizverglis´ stremitel´no v tu pustuü dyru; i teper´ kopowilis´ tam kakie-to dräblye mysliπki. «Pomnä vaπe letnee predloøenie», perehityval Nikolaj Apollonovih i staralsä k hemu-to pridrat´sä. I pridrat´sä ne mog. «Pomnä vaπe letnee predloøenie»... Predloøenie dejstvitel´no bylo, no o nem on zabyl: on odnaødy kak-to i vspomnil, da potom naxlynuli qti sobytiä tol´ko hto minovavπego proπlogo, naxlynulo domino; Nikolaj Apollonovih s izumleniem okinul nedavnee proπloe i naπel ego prosto neinteresnym; tam byla kakaä-to dama s xoroπen´kim lihikom; vprohem, tak sebe, — dama, dama i dama! Stai myslej vtorihno sleteli ot centra sosnaniä; no centra soznaniä ne bylo; pred glazami byla podvorotnä, a v duπe — pustaä dyra; nad pustoü dyroj zadumalsä Nikolaj Apollonovih. Gde i kogda on stoäl podobnym øe obrazom?

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teli poselit´sä na nekotoroe vremä. Krasavec ober-kel´ner s nahinavπimsä ot πei proborom v gustyx napomaøennyx volosax, vo frake i πirokoü beloü batistovoü grud´ü rubaπki, so sväskoj brelok nad okruglennym brüπkom, zaloøiv ruki v karmany, prezritel´no priwurivπis´, strogo otvehal hto-to ostanovivπemusä gospodinu. Uslyxav s drugoj storony podßezda πagi, vsxodivπie na lestnicu, ober-kel´ner obernulsä i, uvidav russkogo grafa, zanimavπego u nix luhπie komnaty, pohtitel´no vynul ruki iz karmanov i, nakloniv‚is´, obßäsnil, hto kur´er byl i hto delo s najmom palacco sostoälos´. Glavnyj upravläüwij gotov podpisat´ uslovie.

Die Prädikate der Hauptsätze habe ich jeweils, sofern es sich nicht um Kopulae oder Modalverben handelte, mit Hilfe der oben beschriebenen Verfahren analysiert und einer Granularitätsstufe zugeordnet. Die Granularitätsstrukturen lassen sich grafisch wie folgt darstellen. Dabei stehen eng zusammen stehende Striche für feine Prädikate und dickere sowie weiter auseinander stehende für gröbere Prädikate. Schwarze Kreise bezeichnen Auslegungsverben, während schwarze Kreise mit weißer Innenmarkierung Kopulae oder Modalverben erfassen. Der Darstellung liegen die Analyseergebnisse zugrunde; die Darstellung selbst dient nur zur Visualisierung.

Granularitätsphänomene

Tolstoj, 455

317

Belyj, 347

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass nicht nur bei Belyj, sondern auch bei Tolstoj die Granularität bunt gemischt sei. Doch der Eindruck täuscht. Die ersten zwei Drittel der Buchseite bilden den Schluss jenes Kapitels, in dem Levin seine Kitty heiratet. Die Hochzeitszeremonie

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wird durchweg fein beschrieben. Ein Auslegungsprädikat („vyvel ego iz zatrudnenija“) wird von vier feinen Prädikaten umrahmt. Doch Auslegungsverben können, wie bereits an anderer Stelle festgestellt (Marszk 1997, 188), im Gegensatz zu echten groben Verben auch in sehr feinkörnigen Textpassagen auftreten. Außer diesem Auslegungsprädikat und einer Kopula („Ona byla prelestna [...]“) kommt in den ersten zwei Dritteln nur ein mittelgrobes Prädikat vor, nämlich „soobs¬c¬ilas’“ (‚teilte sich mit‘). Das Verb „soobs¬c¬it’“ allein wäre nicht unbedingt mittelgrob, doch durch das Subjekt „iskra“ (‚Funke‘) wird das Verb metaphorisch verwendet. Metaphern können per se nicht fein sein.4 Von diesen drei Fällen abgesehen, ist der Inhalt der ersten zwei Drittel der Seite feinkörnig beschrieben. Dann ist in der Grafik ein Bruch zu erkennen. Nach einem mittelgroben Prädikat folgen drei grobe. Danach geht es fein weiter. Was ist hier geschehen? Am Ende des Kapitels heißt es „[...]molodye uechali v derevnju.“ Diese Abreise ins Dorf ist mittelgrob. Danach beginnt ein neues Kapitel, das auch bei einem realistischen Autor in einer anderen Körnigkeit beginnen darf, ohne dass es markiert wirkt. Die Prädikate „putes¬c¬estvovali“ (‚reisen‘) und „ob’’ezdili“ (‚bereisen‘) sind grob, ebenso muss das Prädikat „priechali“ (‚ankommen‘) in Verbindung mit „nebol’s¬oj italjanskij gorod“ als grob betrachtet werden. Dann folgt ein Absatz, der zur unmittelbaren Gegenwart der Handlung überleitet. Und hier ist die Beschreibung wieder feinkörnig. Auf der dargestellten Seite aus Belyjs „Peterburg“ entsteht die Heterogenität nicht dadurch, dass ein neues Kapitel oder eine ganz neue Szene aufgerufen wird. Auf dieser Seite wird beschreiben, wie der Protagonist Nikolaj Apollonovic¬ sich einen Zettel vornimmt und ihn liest. Es wird dabei sowohl beschrieben, was er tut, als auch was seine Gedanken („Schwärme von Gedanken“) tun (Subjekt: abstrakte Gegenstände). Von den Gedanken wird etwa gesagt, dass sie „vom Zentrum des Bewusstseins wegfliegen“. Solche metaphorischen Wendungen habe ich immer als grob oder mittelgrob angesehen, weil das, was dabei beschrieben wird, nicht nur nicht sichtbar ist, sondern in der Vorstellung nur partiell deutlich ist. Vor allem durch diesen Wechsel in der Beschreibung dessen, was die Gedanken tun und dem, was Nikolaj Apollonovic¬ tut, entsteht eine heterogene Granularitätstextur.

4

Näheres zur Metaphernfrage im Zusammenhang mit der Granularität in Kapitel 3.2.

319

Granularitätsphänomene

3.2 Untersuchung der Granularitätsstruktur bei Tolstoj und Belyj anhand von Stichproben In der exemplarischen Gegenüberstellung im vorigen Kapitel hatte sich gezeigt, dass Belyjs Text in seiner Granularitätsstruktur heterogener ist als der von Tolstoj. Doch handelt es sich hier um zwei besonders ausgewählte Seiten oder lassen sich Homogenität und Heterogenität der Granularitätsstruktur bei den beiden Autoren auch über weitere Strecken nachweisen? In Ermangelung eines inhaltlich bestimmten Passagenbegriffs habe ich als Betrachtungsmenge jeweils eine ganze Seite genommen, immer im Abstand von etwa 50 Seiten. Die Prädikate in den Sätzen dieser Seiten habe ich nach den in Kapitel 1.2 beschriebenen Verfahren auf ihre Grobheit oder Feinheit untersucht. Anschließend habe ich die formalen Absätze auf jeder Seite einzeln auf die Homogenität ihrer Prädikate in jedem Absatz prozentual bestimmt. Davon ausgenommen wurden Dialogsequenzen ohne „inquit“-Formel sowie Absätze, in denen nur Kopulae oder Auslegungsverben vorkamen. In den verbleibenden Absätzen wurden Kopulae oder Auslegungsverben von den insgesamt vorhandenen Prädikaten abgezogen. Die restlichen wurden in ihrer Homogenität prozentual bestimmt, d.h. es wurde der Anteil der meisten Verben gleicher Feinheitsoder Grobheitsstufe an der Gesamtheit aller gewerteten Prädikate dieses Absatzes berechnet. Für die Bewertung des Grades der Homogenität habe ich folgende Skala aufgestellt. ≥ 90% der Prädikate gleich in Feinheit/Grobheit

⇒ sehr homogen

≥ 80 bis ≤ 89%

⇒ homogen

≥ 60 bis ≤ 79%

⇒ eher heterogen

≥ 50 bis ≤ 59%

⇒ gemischt

≤ 49

⇒ sehr heterogen

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Doris Marszk

Vorkommnisse Summe

8,77% 10,86%

sehr heterogen

57,89% 45,65%

gemischt

Tolstoj Belyj

eher heterogen

sehr homogen

homogen

Es ergab sich folgende Verteilung in Prozent:

21,05% 30,43%

10,52% 13,04%

1% 0%

n = 57 n = 46

Grafisch sieht dies so aus: sehr homogen homogen eher heterogen gemischt sehr heterogen

Tolstoj

Belyj

Fasst man die Anteile der sehr homogenen und der homogenen Absätze zusammen, zeigt sich, dass bei Belyj etwas mehr als die Hälfte der Absätze sich im homogenen Bereich bewegen. Bei Tolstoj hingegen sind es schon zwei Drittel. Gleichwohl erlebt man beim Lesen des Textes von Belyj nicht ständig klassische Granularitätsbrüche, die eine komische Wirkung entfalten. Dies könnte daran liegen, dass oft Metaphern daran „schuld“ sind, dass ein Prädikat als grob klassifiziert worden ist. Die Überlegung, die hinter dieser Einordnung steht, ist folgende: Prädikate in metaphorischer Verwendung sind grundsätzlich als grob aufzufassen, weil in der Metapher eine eventuelle Beziehung „Bedeutung gleich Beschreibung“, wie sie ja gerade für die feinen Verben typisch ist, verloren geht und nun allein die Tertium-comparationis-Bedeutung zählt. Wenn gilt „Bedeutung ist ungleich Beschreibung“, kann das Prädikat in

Granularitätsphänomene

321

metaphorischer Verwendung nicht einmal dann als fein betrachtet werden, wenn die Metapher ursprünglich aus einem feinen Verb besteht. Wenngleich Prädikate in metaphorischer Verwendung als grob aufzufassen sind, so können sie aber auch, wie andere Klassen von groben Verben (vgl. Marszk 1997), auf ihre ganz eigene Weise grob sein und in manchen Fällen mit feineren Prädikaten zusammen auftreten, ohne dass dies markiert wirken würde. Ob und wie Prädikate zusammen passen, könnte auch damit zusammenhängen, was jeweils an den Subjekt- oder Objektstellen steht. 4. Geschehensbeteiligte bei Belyj und Tolstoj Granularität ist eine lexikalische Kategorie des Verbs. Ihre Analyse verweist darauf, wie detailliert, deutlich, undeutlich, gerafft die Handlungen, die in einem Text beschrieben werden, dem Leser erscheinen. Ergänzend dazu können auch die Geschehensbeteiligten betrachtet werden, d.h. diejenigen, die als Handelnde oder Behandelte in den Oberflächenkasus auftreten. Diese Geschehensbeteiligten sind gewissermaßen komplementär zur Granularität des Verbs. In Anlehnung an die Menschenmaße lassen sich Geschehensbeteiligte danach klassifizieren, was sie für den Menschen sind: Mensch, Tier, (menschlicher) Körperteil, (beliebiger) kleiner Gegenstand, (beliebiger) großer Gegenstand, abstrakter Gegenstand. Tauchen etwa kleine Gegenstände oder Körperteile oft in der Subjektstelle auf, weist dies darauf hin, dass die geschilderten Vorgänge nicht das typische Menschenmaß haben, sondern eher Dinge unterhalb des Menschenmaßes „herangezoomt“ werden. Umgekehrt verweisen sehr große Gegenstände darauf, dass mit Abstand auf ein komplexes Geschehen gesehen wird. Auf den ersten Blick bestimmen bei beiden Autoren Menschen und Gegenstände den Fortgang der Geschichte (und nicht etwa Fischschwärme oder Kaninchen, was ja auch möglich wäre). Sieht man sich aber die vorkommenden Subjekte und Objekte genauer an, ergibt sich schon hier bei Belyj ein anderes Bild als bei Tolstoj. Ich habe alle analysierten Sätze auch im Hinblick darauf betrachtet, welche Arten von Subjekten und Objekten vorkommen. Insgesamt gibt es auf den von mir analysierten Seiten von Tolstoj 269 Subjekte und 259 Objekte. Bei Belyj gibt es 249 Subjekte und 124 Objekte. Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, müssen die genannten Zahlen also in ein prozentuales Verhältnis gesetzt werden. Es lässt sich die

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grobe Feststellung treffen, dass bei Tolstoj etwa doppelt so häufig wie bei Belyj das Subjekt ein Mensch ist. Dafür kommen bei Belyj etwa fünf Mal so häufig wie bei Tolstoj Körperteile und kleine Gegenstände als Subjekt vor. Die wichtigsten Unterschiede sind in folgender Aufstellung festgehalten.5 Tolstoj 269 259

Belyj 249 124

Subjekt Mensch Subjekt Körperteil Subjekt kleiner Gegenstand

78,81% 1,86% 2,23%

52,61% 10,04% 13,25%

Objekt Mensch Objekt Körperteil Objekt kleiner Gegenstand Objekt großer Gegenstand

23,17% 5,79% 9,65% 11,2%

16,94% 12,90% 22,58% 4,84%

Subjekte insgesamt Objekte insgesamt

Obgleich die Zahlen in einigen Bereichen eine deutliche Sprache sprechen und auf eklatante Unterschiede bei den beiden Autoren hinweisen, sollen im Folgenden einige Beispiele für die Unterschiede im Vorkommen der Subjekte und Objekte präsentiert werden.6 1. Körperteil als Subjekt bei Tolstoj und Belyj Tolstoj Belyj NepodviΩnye, tusklye glaza Kaçut´ vzdragivala guba i posasyrenina ustremilis´ na lico vala vozdux. (97) Vronskogo. (355) eine Spur zuckte die Lippe und zog

5

6

Es wurden folgende Geschehensbeteiligten analysiert: Subjekt Mensch, Subjekt Tier, Subjekt Körperteil, Subjekt kleiner Gegenstand, Subjekt großer Gegenstand, Subjekt Abstraktum, Objekt Mensch, Objekt Tier, Objekt Körperteil, Objekt kleiner Gegenstand, Objekt großer Gegenstand, Objekt Abstraktum. Bei den in der Tabelle nicht aufgeführten Geschehensbeteiligten haben sich entweder keine nennenswerten Unterschiede ergeben, oder die Vorkommen waren bei beiden Autoren nur gering. Die angegebene deutsche Übersetzung dient nur zur groben Orientierung, maßgeblich ist natürlich das russische Original.

Granularitätsphänomene

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Die starren, trüben Augen blieben saugend Luft ein. (54) auf Wronskijs Gesicht haften. (447) Brovi ego byli naxmureny, i glagluboko sidäwie glazki ustalo za blesteli zlym i gordym bleskom. ustavilis´ v stekla. (497) (355) die tiefliegenden Äuglein starrten Seine Brauen waren finster zusam- müde auf die Scheiben. (404) mengezogen, und in seinen Augen lag ein hoffärtiger Glanz. (447) täΩeloe, pyxtäwee telo vydaKrasivaä golova ee s vy- valos´ nad stulom; (697) biv‚imisä çernymi volosami iz-pod der schwere, keuchende Körper vysokoj ‚läpy, ee polnye pleçi, ragte jetzt über dem Stuhl; (578) tonkaä taliä v çernoj amazonke i vsä spokojnaä gracioznaä posadka poralopalis´ ot usiliä sosudy, zili Dolli. (605) naprúΩilis´ muskuly; (697) Ihr schöner Kopf mit dem schwarzen von der Anstrengung platzten GeHaar, das unter dem hohen Hute hervor- fäße, die Muskeln spannten sich; (578) quoll, ihre vollen Schultern, die schlanke Taille in dem schwarzen Reitkleid und die ganze ruhige, graziöse Haltung machten auf Dolly einen überraschenden Eindruck. (758)

Während bei Tolstoj fast nur solche Körperteile als Subjekt vorkommen, die gleichsam eine Botschaft senden – wie etwa die Augen, die einen bestimmten Ausdruck haben – , erscheinen bei Belyj sogar nicht sichtbare und sehr kleine Körperteile wie die platzenden Gefäße oder sich spannenden Muskeln. Daneben gibt es auch bei ihm die traditionelle Verwendung von Körperteilen als Subjekt, wie zum Beispiel in dem Satz mit den „tiefliegenden Äuglein“. 2. Kleiner Gegenstand als Subjekt bei Tolstoj und Belyj Tolstoj Belyj Poslednee ee pis´mo, poluçennoe v otkrytuü dver´ zaglänul kolim nakanune, tem v osobennosti pak povara. (47) razdraΩilo ego, çto v nem byli nadurch die offene Tür sah die Haube meki na to, çto ona gotova byla po- des Kochs herein. (9) mogat´ emu dlä uspexa v svete i na

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sluΩbe, a ne dlä Ωizni, kotoraä skandalizirovala vse xoro‚ee obwestvo. (304) Ihr letzter Brief, den er tags zuvor erhalten, war ihm arg auf die Nerven gefallen, insbesondere hatte ihn eine Bemerkung gekränkt, daß sie zwar bereit sei, ihn zu unterstützen, um seine Erfolge in der großen Welt und im Dienste zu fördern, nicht jedoch, um, eine Lebensführung zu ermöglichen, die von der guten Gesellschaft geradezu als ein Skandal angesehen wurde. (379)

obnaruΩilis´ sli‚kom znakomye svetlo-zelenye pantalonnye ‚tripki, i uΩasnyj ‚ut stal ‚utom prosto Ωalkim. (247) und zum Vorschein kamen ihr allzu bekannte hellgrüne Hosenstege, und der entsetzliche Narr wurde nur noch zum kläglichen Narren; (186)

Dver´ otvorilas´, i ‚vejcar s pledom na ruke podozval karetu. (355) Diese [Tür] öffnete sich, und der Pförtner trat mit einem Plaid auf dem Arme heraus und rief den Wagen heran. (446/447)

pod pätnom lepetala struä trotuara, na pätne proneslas´ apel´sinaä koroçka. (347) unterm Fleck plapperte ein TrottoirRinnsal, auf dem Fleck trieb eine Apfelsinenschale. (273)

v tu minutu kalo‚a skol´znula na kamennoj vypuklosti: (247) hier rutschte die Galosche aus auf einem buckligen Stein: (186)

RoΩok gaza prämo osvewal beskrovnoe, osunuv‚eesä lico pod çernoü ‚läpoj i belyj galstuk, blestev‚ij iz-za bobra pal´to. (355) Das Licht der Gasflamme fiel auf das blutleere, eingefallene Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Krawatte, die unter dem Biberkragen des Paletots hervorschimmerte. (447)

Bei Tolstoj sind es meist jene kleinen Gegenstände, die auch in literarisch unambitionierten Alltagserzählungen in der Subjektstelle auftreten können, etwa „der Brief hat mich aufgeregt“, „die Tür öffnete sich“ u.ä. In den Geschehensräumen von Belyj dagegen scheint kaum ein Gegenstand zu weit hergeholt, um die Subjektstelle einnehmen zu können: „die Haube

Granularitätsphänomene

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des Kochs“, „hellgrüne Hosenstege“ oder „eine Apfelsinenschale“. Man könnte sagen, dass es sich oft buchstäblich um Marginalien handelt. 3. Kleine Gegenstände als Objekte Tolstoj Ewe poslednie koscy doxodili rädy, kak perednie zaxvatili kaftany na pleçi i po‚li çerez dorogu k Ma‚kinu Verxu. (255) Und als die letzten der Schnitter noch ihre Streifen zu Ende mähten, hatten die vordersten bereits ihre Röcke um die Schultern gehängt und sich über die Straße hinweg nach Maschkas Höhe begeben. (319)

Belyj Kak, byvalo, na lob pripodnimet oçki, stanet sux, nepriäten, derevänen, budto vyrezan iz belogo kiparisa, kiparisovym kulakom prostuçit po stolu; (147) Er schob die Brille auf die Stirn, wurde trocken, unangenehm und hölzern, wie aus weißer Zypresse geschnitzt, und schlug die Zypressenfaust auf den Tisch; (97)

Re‚iv qto, on totças Ωe napisal zapisku Rolandaki, posylav‚emu k nemu ne raz s predloΩeniem kupit´ u nego lo‚adej. (304) Sobald er mit diesen Entschlüssen im reinen war, schrieb er sogleich einen Brief an Rolandaki, der ihm bereits mehrfach hatte sagen lassen, er wolle ihm seine Rennpferde abkaufen. (380)

Nikolaj Apollonoviç opät´ prinälsä za zapisoçku. (347) Nikolaj Apollonowitsch machte sich wieder an das Billett. (273)

Potom poslal za angliçaninom i za rostovwikom i razloΩil po sçetam te den´gi, kotorye u nego byli. (304) Dann bestellte er den Geldverleiher und den Engländer zu sich, verteilte das Geld, das er noch besaß, auf die dringendsten Rechnungen. (380)

Podporuçik Lixutin, soskoçiv‚ij na trotuar, brosil den´gi izvozçiku i teper´ stoäl pred proletkoj, oΩidaä senatorskogo synka; (646) Leutnant Lichutin, aufs Trottoir gesprungen, warf dem Kutscher das Geld zu, er stand jetzt vor der Kutsche und wartete auf das Senatorssöhnchen; (535)

gluboko sidäwie glazki ustalo ustavilis´ v stekla. (497) die tiefliegenden Äuglein starrten müde auf die Scheiben. (404)

„Çto za vzdor!“ – podumal Vot i tak uΩe podporuçik LixuVronskij i vzglänul na çasy. (355) tin (vot be‚enyj!) svobodnoü uxvaWas für unsinniges Zeug! dachte tilsä rukoü za vorot ital´änskoj Wronskij und sah auf die Uhr.

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nakidki; i Nikolaj Apollonoviç stal blednej polotna. (646) Und schon griff nun Leutnant Lichutin (dieser Rasende!) mit der freien Hand nach dem Kragen des italienischen Umhangs; und Nikolaj Apollonowitsch wurde bleicher als Leinwand. (536) Na pol on postavil sveçu; (697) Er stellte die Kerze am Boden ab; (578)

Die kleinen Gegenstände in der Objektposition ähneln sich mehr als die anderen bei den beiden Autoren vorkommenden Dinge in der Subjektoder Objektposition. Dennoch bleibt festzustellen, dass die kleinen Gegenstände als Objekt bei Belyj doppelt so häufig vertreten sind wie bei Tolstoj. Als große Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren kann festgehalten werden, dass es bei beiden jeweils im überwiegenden Teil der Texte um Menschen geht, die handeln oder behandelt werden. Eine Untersuchungsmethode, die den Menschen und seinen Zugriff auf die Welt in den Mittelpunkt stellt, kann also auch für einen Autor der Moderne wie Belyj als angemessen betrachtet werden. Gleichzeitig gibt es, das Subjekt betreffend, große Unterschiede zwischen Tolstoj und Belyj. Während bei Tolstoj fast 80 Prozent aller Vorgänge vom Menschen ausgehen, sind es bei Belyj nur etwa 53 Prozent. In über 20 Prozent aller Vorgänge sind bei Belyj Körperteile oder kleine Gegenstände die „Handelnden“. Die Prädikate, die mit ihnen verbunden werden, sind für diese Subjekte jedoch nicht unangemessen. Sie passen auch in Bezug auf ihre Grobheit bzw. Feinheit zueinander. Doch wenn ungewöhnlich häufig „Äderchen platzen“, „Lippen zucken“ oder „Galoschen rutschen“, dann verschieben sich bei Belyj gleichsam die Nahaufnahmen, die bei Tolstoj überwiegend von Menschen gemacht werden, zwischendurch immer wieder zu kleinen Dingen, die ihrerseits eine Mikrowelt etablieren. Während also Tolstoj im Großen und Ganzen den Basismodus beibehält, weicht Belyj immer wieder davon ab.

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sluΩbe, a ne dlä Ωizni, kotoraä skandalizirovala vse xoro‚ee obwestvo. (304) Ihr letzter Brief, den er tags zuvor erhalten, war ihm arg auf die Nerven gefallen, insbesondere hatte ihn eine Bemerkung gekränkt, daß sie zwar bereit sei, ihn zu unterstützen, um seine Erfolge in der großen Welt und im Dienste zu fördern, nicht jedoch, um, eine Lebensführung zu ermöglichen, die von der guten Gesellschaft geradezu als ein Skandal angesehen wurde. (379)

obnaruΩilis´ sli‚kom znakomye svetlo-zelenye pantalonnye ‚tripki, i uΩasnyj ‚ut stal ‚utom prosto Ωalkim. (247) und zum Vorschein kamen ihr allzu bekannte hellgrüne Hosenstege, und der entsetzliche Narr wurde nur noch zum kläglichen Narren; (186)

Dver´ otvorilas´, i ‚vejcar s pledom na ruke podozval karetu. (355) Diese [Tür] öffnete sich, und der Pförtner trat mit einem Plaid auf dem Arme heraus und rief den Wagen heran. (446/447)

pod pätnom lepetala struä trotuara, na pätne proneslas´ apel´sinaä koroçka. (347) unterm Fleck plapperte ein TrottoirRinnsal, auf dem Fleck trieb eine Apfelsinenschale. (273)

v tu minutu kalo‚a skol´znula na kamennoj vypuklosti: (247) hier rutschte die Galosche aus auf einem buckligen Stein: (186)

RoΩok gaza prämo osvewal beskrovnoe, osunuv‚eesä lico pod çernoü ‚läpoj i belyj galstuk, blestev‚ij iz-za bobra pal´to. (355) Das Licht der Gasflamme fiel auf das blutleere, eingefallene Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Krawatte, die unter dem Biberkragen des Paletots hervorschimmerte. (447)

Bei Tolstoj sind es meist jene kleinen Gegenstände, die auch in literarisch unambitionierten Alltagserzählungen in der Subjektstelle auftreten können, etwa „der Brief hat mich aufgeregt“, „die Tür öffnete sich“ u.ä. In den Geschehensräumen von Belyj dagegen scheint kaum ein Gegenstand zu weit hergeholt, um die Subjektstelle einnehmen zu können: „die Haube

328

Doris Marszk

Weder im Tolstoj-Text noch im Belyj-Text geht es darum, ob die vorkommenden Gegenstände typische oder untypische Vertreter ihrer Klasse sind. Eher könnte die Prototypentheorie in ihrer so genannten vertikalen Dimension herangezogen werden. Hier wird darauf abgestellt, dass einige Bezeichnungen von Objekten ein genau ausgewogenes Verhältnis von Präzision und Verallgemeinerung aufweisen (basic level), während andere Bezeichnungen so viele oder so wenige Details mitverstehen lassen, dass sie über- oder unterbestimmt sind (superordinate/subordinate level). So wäre etwa „Auto“ auf dem basic level anzusiedeln, „Fahrzeug“ auf dem superordinate level und „Alfa Romeo“ auf dem subordinate level. Natürlich wäre es markiert, wenn in literarischen Texten Gegenstände vorwiegend auf dem superordinate level benannt würden, also „Fahrzeug“, „Obst“, „Möbel“, „Werkzeug“ und nicht „Kutsche“, „Apfel“, „Stuhl“ oder „Hammer“. Aber Deviation dieser Art ist bisher nicht aufgefallen. Der Versuch hingegen, die von Verben denotierten Handlungen oder Vorgänge in so eine Prototypensemantik der vertikalen Dimension einzuordnen, scheitert schlichtweg daran, dass sich für die allermeisten Verben kaum Ordnungen nach super-/basic-/subordinate level etablieren lassen. Selbst für viele der vorkommenden Gegenstände wäre dies schwierig. Was wären denn die jeweils anderen Ebenen von „Rad“, „Brett“ oder „Zettel“? Eine weiter reichende Antwort auf die Frage, warum Texte von Tolstoj eher einem Default entsprechen und Texte von Belyj eher nicht, geben die hier vorgestellten Verfahren der Analyse von Granularität und Geschehensbeteiligten. Sie eröffnen die Möglichkeit eines prinzipiell offenen Kontinuums, das bisher nur durch die Anzahl der bisherigen Granularitätstests beschränkt ist. 6. Literatur Quellen Belyj, A. 1999. Peterburg. Roman v vos’mi glavach s prologom i e˙pilogom. Sankt Peterburg (Biblioteka mirovoj literatury). Belyj, A. 2001. Petersburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Frankfurt / Main. Tolstoi, L. N. o. J. Anna Karenina. Übersetzt von August Scholz. Gütersloh. Tolstoj, L. N. 1985. Anna Karenina. Roman v vos’mi c˘astjach. Char’kov.

Granularitätsphänomene

329

Sekundärliteratur Apresjan, Ju. D. 1974. Leksic˘eskaja semantika. Sinonimic˘eskie sredstva jazyka. Moskva. Hodel, R. 2006. Textkohärenz und Narration in realistischer und modernistischer russischer Literatur (einführende Betrachtungen). In diesem Band. Kleiber, G. 1993. Prototypensematik: Eine Einführung. Tübingen. Lehmann, V. 2006. Der narrative Redetyp und seine Analyse. In diesem Band. Marszk, D. 1996. Russische Verben und Granularität. München. Marszk, D. 1997. Grobe Verben und verborgene Geschichten, Slavistische Linguistik 1996. Referate des XXII. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens in Potsdam. Hrsg. von Peter Kosta und Elke Mann. (=Slavistische Beiträge 354) München, 179–197. Mende, J. 2003. Biplanität. Entwicklungen in slavischen Sprachen 2. Hrsg. von T. Anstatt und B. Hansen. München, 281–297. Prince, G. 1982. Narratology. The Form and Functioning of Narrative. Berlin New York Amsterdam Rosch, E., Mervis, C. B., Gray, W. D., Johnson, D. M., Boyes-Braem, P. 1976. Basic Objects in Natural Categories. Cognitive Psychology 8, 382–439. Schank, R., Abelson, R. 1977. Scripts, Plans, Goals, and Understanding: An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale. Stender-Petersen, A. 31978. Geschichte der russischen Literatur. München.

VYACHESLAV YEVSEYEV (Eurasische Universität Astana / Kasachstan)

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften russischer Texte des Realismus und des Modernismus 1. Einleitung Dieser Beitrag stellt die Ergebnisse der Untersuchung russischer realistischer und modernistischer Texte im Hinblick auf einige Parameter vor, die mit „Taxis“ als einem spezifischen Phänomen zu tun haben. Roman Jakobson, der diesen Terminus in dessen linguistischer Bedeutung geprägt hat, führte ihn mit folgender Definition ein: ,[t]axis characterizes the narrated event in relation to another narrated event and without reference to the speech event‘ (1971, 135). Unter Taxis verstand Jakobson in Bezug auf das Russische vor allem die sich aus der Verbindung eines Adverbialpartizips (deepricˇastie) mit dem Hauptverb ergebende temporale Relation. Die Sankt-Petersburger Funktionalisten haben den Begriff Taxis auf alle zusammenhängenden syntaktischen Strukturen ausgedehnt: Als Taxis gilt die temporale und handlungslogische Relation zweier oder mehrerer Situationen, die sich auf syntaktischer Ebene im Rahmen eines temporalen Satzgefüges, einer Satzreihe oder eines Asyndetons manifestiert (Bondarko 1984, 77–78, Bondarko 1987, 240). Unter die Taxiskategorie subsumieren Jakobson und Bondarko sowohl Gleichzeitigkeit als auch Nichtgleichzeitigkeit. Wenn jedoch die Gleichzeitigkeit als temporale Eigenschaft der Deskription von der Betrachtung ausgeschlossen und der Blickwinkel auf sequenzielle Relationen beschränkt wird, tut sich eine neue Perspektive für die narratologische Forschung auf. Zwei aufeinanderfolgende Ereignisse1, die auf der Textoberfläche so nah beieinander platziert sind, dass ihre temporale Verbindung vom Leser unmittelbar wahrgenommen werden kann, repräsentieren mi1

„Ereignis“ wird hier im aspektologischen Sinne als Situationsänderung verstanden, und zwar ungeachtet seiner ästhetischen Valenz im Sinne Lotmans.

332

Vyacheslav Yevseyev

nimal den Plot (sjuzˇet), denn sie stellen aufs Anschaulichste die temporale Progression der Erzählung dar. Im Falle einzeln stehender Ereignisse, die durch längere deskriptive Passagen oder Dialoge voneinander getrennt sind, bleibt der temporale Zusammenhang der Erzählung verdeckt. Identifizierung und anschließende quantitative Erfassung der „Taxisfälle“ (i.e. solcher koordinierenden oder subordinierenden polyprädikativen syntaktischen Strukturen, in denen sich mindestens zwei nichtgleichzeitige episodische Sachverhalte manifestieren) erlauben es dem Forscher, die temporale Dimension der Erzählung „unter die Lupe“ zu nehmen und verschiedene narrative Texte im Hinblick auf ihre mikrostrukturelle Beschaffenheit zu charakterisieren. „Taxis“ soll hier als terminus technicus verwendet werden. „Chronologie“ (Lehmann 2003) scheint dagegen ein globalerer Begriff zu sein. Die besonderen Merkmale, an denen im Rahmen dieses Projekts „Taxisfälle“ (weiter TFs) identifiziert werden, sind die folgenden2: • Es werden nur sequenzielle Relationen untersucht (teilweise zeitliche Überlappung gilt ebenfalls als Sequenzialität), Gleichzeitigkeit wird von der Analyse ausgeschlossen; • Die Prädikationen müssen im Text benachbart sein: Liegt zwischen zwei Sätzen, die jeweils eine episodische Situation wiedergeben, ein Satz, der eine nicht-episodische Situation oder direkte Rede ausdrückt, wird kein TF konstatiert; • Die Ereignisse sollen durch eine Voll- (finites Verb) oder eine Halbprädikation (in unserem Fall: deepricˇastie soversˇennogo vida) zum Ausdruck kommen, nicht jedoch durch deverbale Substantive: Sätze wie Posle okonçaniä universiteta on poexal v Moskvu wurden nicht berücksichtigt3;

2 3

S. beispielgestützte Beschreibung der Analyseprinzipien in Yevseyev (2003, 53–65). Unter Berufung auf Jakobson (1971) plädiert Poljanskij (2001) dafür, dass der Begriff Taxis auf Strukturen mit finiten Verbformen und Adverbialpartizipien beschränkt bleiben soll, die als zentrale Komponenten der Kategorie „Taxis“ gelten (s. Bondarko 1984 und 1987).

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften

333



An einer Taxissequenz sind per Default zwei Ereignisse beteiligt, liegt eine Sequenz von drei Ereignissen vor, wird nur ein TF dokumentiert, bei vier gereihten Ereignissen werden zwei TFs registriert4; • Es wird nur Vergangenheitskontext analysiert, Sätze mit Formen des Präsens historicum werden dennoch berücksichtigt; • TFs werden in koordinierenden polyprädikativen syntaktischen Strukturen, in denen temporale Relationen erkennbar sind, sowie in temporalen Satzgefügen identifiziert, andere Typen subordinierender Strukturen werden nicht beachtet5. Als Material dienten die meisten Texte der Forschergruppe Narratologie6, zum Zwecke eines Vergleichs traten deutsche, englische sowie weitere russische Texte hinzu, die z.T. beim Ausführen des Projekts Yevseyev (2003) herangezogen wurden. Aus Platzgründen können hier nicht alle gut 200 analysierten Texte aufgelistet werden. Wie in Yevseyev (2003, 67) erläutert, handelt es sich bei längeren Texten, vor allem Romanen, um Stichproben: Z.B. werden aus einem Buch von ca. 500 Seiten Länge die Seiten 50–51, 100–101, 150–151, 200–201 usw. fotokopiert und der Analyse zugeführt, was eine 4-prozentige Deckung des Textes ergibt. Diese Methode muss die Zufälligkeit der Wahl und somit die Repräsentativität der Stichprobe gewährleistet haben. 2. Dichte der paarweise kodierten Ereignisse und die Narrativität Den Anstoß zur Erforschung dieses Parameters gab die Beobachtung, dass einige kurze Texte sehr viele TFs enthalten, während in einigen längeren Texten nur wenige TFs identifiziert werden können. Das liegt zum einen daran, dass bestimmte Textsorten tendenziell mehr Deskription und weniger Narration enthalten als andere, zum anderen aber daran, dass bei etwa gleicher Zahl episodischer Prädikationen diese entweder häufig paarweise auftreten oder auf der Textoberfläche verstreut werden. 4 5

6

S. Beispiele in Yevseyev (2005, 116). Keine TFs werden in folgenden Satztypen dokumentiert: Relativsätze (mit Konjunktionen kotoryj usw.), Objektsätze (mit verba dicendi und verba sentiendi wie in On skazal/pocˇu vstvoval, cˇto...), Konditional-, Kausal-, Final-, Konsekutivsätze u.a.m. S. die genaue Liste mit bibliographischen Angaben am Ende dieses Beitrags.

334

Vyacheslav Yevseyev

Die Formel zur Berechnung dieser Größe ist wie folgt7: Dichte der TFs =

Anzahl der TFs Textlänge in 1000 Zeichen

Hier ist das Analyseergebnis für das Korpus realistischer und modernistischer Texte:

Realismus Moderne

Gesamtzahl der TFs 670 595

Gesamtlänge des Teilkorpus’ in 1000 Zeichen8 588,9 492,6

Dichte der TFs pro 1000 Zeichen 1,1 1,2

Wie aus der Tabelle folgt, gibt es keine erhebliche Differenz zwischen realistischen und modernistischen Texten im Hinblick auf die Vorkommensfrequenz der TFs. Das Fehlen eines wesentlichen Unterschiedes lässt schließen, dass Texte des Realismus und der Moderne in unserer Terminologie ungefähr gleich narrativ sind. Das liegt quer zu den Erwartungen an modernistische Texte, denn diesen wird gewöhnlich weniger Narrativität zugeschrieben. Es lässt sich lediglich die Tatsache unterstreichen, dass realistische und modernistische Autoren ungefähr gleich oft dazu kommen, Ereignisse in zusammenhängenden syntaktischen Strukturen zu kodieren. Eine Differenz scheint nur hinsichtlich der nichtnarrativen Elemente zu bestehen, die den restlichen Textumfang einnehmen: Bei realistischen Autoren mag es Beschreibung und Dialog, bei modernistischen Autoren Reflexion, innerer Monolog usw. sein; diese Frage wird allerdings den Literaturwissenschaftlern überlassen. Der Vergleich von A. Belyjs Peterburg (1,0) und L. Tolstojs Anna Karenina (1,1) zeigt, dass diese zwei Romane, die als repräsentativ für ihre Epochen gelten können, keine große Differenz im untersuchten Parameter zeigen 9. Der niedrigste Wert des realistischen Korpus’ wurde in 7

8 9

Die vorläufigen Ergebnisse zu diesem Parameter sind in Yevseyev (2003) dokumentiert. Für den vorliegenden Beitrag wurden die Längen der Texte nach einer genaueren Methode neu berechnet, daher können die Werte für Texte aus dem Projekt Yevseyev (2003) abweichen (um maximal 20 Prozent, im Durchschnitt jedoch um 7 Prozent). Zu beachten wäre die Tatsache, dass längere Texte nur stichprobenweise analysiert wurden. Ein anderes Werk von A. Belyj, Kotik Letaev, ist ein ziemlich untypischer Text: Von 7 identifizierten Fällen stützen sich 3 auf Formen des Präsens historicum und 1 auf im-

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften

335

Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie (0,63), der höchste in Leskovs Soborjane (1,9) beobachtet. Im modernistischen Korpus ist die Streuung größer: von 0,19 in Leonovs Evgenia Ivanovna bis 3,3 in Zosˇcˇenkos Ispoved’. Der etwas höhere Wert für Texte der Moderne (1,2 gegenüber 1,1 für realistische Texte) mag dadurch bedingt sein, dass das entsprechende Korpus einige Erzählungen enthält, wogegen das Korpus der realistischen Texte fast ausschließlich aus Romanen besteht (s. Abschnitt „Quellen“). Unter Berücksichtigung eines erweiterten Korpus’ lassen sich nämlich gattungsspezifische Unterschiede postulieren, die einen epochenübergreifenden Charakter haben. Das liegt z.T. daran, dass Erzählungen Werte von über 4,0 annehmen können, wogegen die maximalen Werte in Romanen selten über die Grenze von 2,0 hinausgehen. Eine andere Regelmäßigkeit lässt sich in der Abhängigkeit der Dichte der TFs von der Länge des Textes beobachten. In Yevseyev (2005, 118) wurde die Feststellung gemacht, dass die Dichte der TFs umgekehrt proportional zur Textlänge ist; hier sind die präzisierten Ergebnisse anhand des erweiterten Korpus: Länge des Textes 0-9.999 Zeichen 10.000 – 99.999 Zeichen 10.0000 – 999.999 Zeichen über 1.000.000 Zeichen

Durchschnittliche Dichte der TFs 2,1 1,3 1,2 0,84

Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen ganz kurzen und ganz langen Texten, d.h. zwischen Kurzgeschichten und „großen“ Romanen. Die Werte für Werke mittlerer Länge (von 10.000 bis 1.000.000 Zeichen ≈ von ca. 5 bis ca. 500 Seiten) sind – abgesehen von einigen Ausnahmen – zwischen 0,2 und 2,0 verteilt. Hier ist das Diagramm, auf dem diese Konstellation zum Ausdruck kommt (die X-Achse stellt die Gesamtlänge des Textes (nicht die Länge der Stichprobe!) in 1000 Zeichen, die YAchse die Dichte der TFs pro 1000 Zeichen dar):

perfektive Vergangenheitsformen. Trotz Berücksichtigung der vom narrativen Default abweichenden Fälle ist die Dichte in diesem Werk eine der niedrigsten im ganzen Korpus: 0,33 TFs pro 1000 Zeichen.

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Vyacheslav Yevseyev

7 6 5 4 3 2 1 0 0

500

1000

1500

2000

2500

3000

Die höchsten Werte der Rangliste haben sich für Zosˇcˇenkos Sobacˇij njuch (6,1), Bichsels San Salvador (5,1), das Bikini Atoll von Grass (3,9) und Das Fenster-Theater von Aichinger (3,6) ergeben. Es fällt auf, dass diese Texte sehr kurz sind (unter 5.000 Zeichen) und, wie aus der Betrachtung des Erzähltempos und der Granularität der Verben folgt, auf den Effekt der Illusion der Präsenz (Lehmann 2003) abzielen. Weitere Analysen sollen zeigen, in welchem Verhältnis die Narrativität im Sinne „Dichte der TFs“ und die Illusion der Präsenz stehen. Die Analyse von 98 deutschen, russischen und englischen Romanen lässt das entsprechende Teilkorpus in drei ungefähr gleich große Teile aufteilen: • Romane, in denen die temporale Progression der Narration hervorgehoben wird (Dichte der TFs liegt im Bereich von 1,3 bis 2,9), z.B. im Russischen: Sµuksˇin, Ljubaviny (2,9) (!), Bulgakov, Master i Margarita (2,3), Il’f & Petrov, Dvenadcat’ stul’ev (2,1), Bulgakov, Belaja gvardija (1,9), Sµolochov, Tichij Don (1,9), im Deutschen: Lenz, Der Mann im Strom (2,5), Remarque, Drei Kameraden (1,5), Brückner, Jauche und Levkojen (1,3), im Englischen: Steinbeck, The Grapes of Wrath (2,0), Wells, The Invisible Man (1,9), Twain, Adventures of Tom Sawyer (1,9), Henry, Heart of the West (1,6), Hemingway, A Farewell to Arms (1,4); • Romane, in denen der Parameter „Dichte der TFs“ durchschnittliche Werte hat (0,76 bis 1,2), z.B. im Russischen: Goncˇarov, Oblomov (1,1), Pil’njak, Golyj god (1,0), Zamjatin, My (0,92), Platonov, Cµevengur (0,9), Dostoevskij, Brat’ja Karamazovy (0,87), im Deutschen: May, In den Schluchten des Balkan (1,0),

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften



337

Feuchtwanger, Die hässliche Herzogin Margarete Maultasch (0,97), im Englischen: Dickens, The Posthumous Papers of the Pickwick Club (1,1), London, The Iron Heel (0,91); Romane, in denen die zeitliche Fortbewegung der Narration auf der Mikroebene relativ schwach ausgeprägt ist und Beschreibungen, (nichterzählende) Dialoge, Reflexionen sehr viel Platz einnehmen (Dichte der TFs von 0,23 bis 0,75), z.B. im Russischen: Dostoevskij, Prestuplenie i nakazanie (0,63), Saltykov-Sµcˇedrin, Posˇechonskaja starina (0,58), Solzˇenicyn, Rakovyj korpus (0,39), im Deutschen: Goethe, Die Wahlverwandtschaften (0,69), Grass, Die Blechtrommel (0,5), Döblin, Berlin Alexanderplatz (0,43),

Feuchtwanger, Die Füchse im Weinberg (0,23), im Englischen: Cooper, The Deerslayer (0,67), Joyce, Ulysses (0,49), Dreiser, The Financier (0,28). Zur Frage nach dem Verhältnis von Narration und Deskription lassen sich zwei Gattungen als Beispiel nennen, die jeweils relativ einheitliche Werte im untersuchten Parameter zeigen: das Volksmärchen und die Reisebeschreibung. Sowohl russische als auch deutsche Volksmärchen haben bisher eine hohe Dichte der TFs demonstriert (3,4 bzw. 3,3). Reisebeschreibungen weisen dagegen einheitlich eine ziemlich niedrige Dichte auf: Heines Die Harzreise (0,42), Goncˇarovs Fregat „Pallada“ (0,63), Radisˇcˇevs Putesˇestvie iz Peterburga v Moskvu (0,45), Afanasij Nikitins Chozˇdenie za tri morja aus dem 15. Jahrhundert (0,71), Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag (0,44). Analysen weiterer Texte sollen zeigen, ob in Volksmärchen und Reisebeschreibungen die Dichte der TFs jeweils eine Konstante ist. Eine weitere Regelmäßigkeit besteht darin, dass Texte einiger Autoren einheitlich eine hohe oder eine niedrige Dichte der TFs demonstrieren. Als Autoren, die in allen ihren Texten episodische Sachverhalte häufig paarweise kodieren und somit den temporalen Zusammenhang des sjuzˇet besonders unterstreichen, seien Bulgakov, Zosˇcˇenko und Pusˇkin genannt; Autoren, die sich durch ihre „Abneigung“ gegen mikrostrukturelle Wiedergabe temporaler Relationen von den anderen abheben, sind Dostoevskij, Goethe, Dreiser. Die Erweiterung des Korpus’ um Werke ausgewählter Autoren soll in dieser Frage mehr Klarheit schaffen. Fazit: In modernistischen und realistischen Texten kommen Sequenzen

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Vyacheslav Yevseyev

der paarweise kodierten episodischen Sachverhalte ungefähr gleich oft vor, was quer zu den Erwartungen an die Narrativität der Texte aus den beiden Epochen liegt. Die Häufigkeit der paarweise kodierten Ereignisse hängt vielmehr von der Gattung und der Textlänge ab. Texte mit den Spitzenwerten in diesem Parameter arbeiten gezielt auf die „Illusion der Präsenz“ hin. 3. Redundante Kodierung sequenzieller Zeitrelationen und die Explizitheit der Schriftsprache Ein wichtiger Aspekt, der die Beschaffenheit narrativer Texte zu charakterisieren scheint, ist der Gebrauch überschüssiger temporal relevanter lexikalisch-grammatischer Mittel beim Ausdruck von Taxisrelationen. Eine Taxisrelation wird im Russischen prototypisch von zwei perfektiven Vergangenheitsformen des Verbs wiedergegeben, die im Rahmen einer Satzreihe, eines Asyndetons oder einer satzübergreifenden Einheit (sverchfrazovoe edinstvo) auftreten: (1) Tibul pere‚agnul çerez bar´er i stal na karnize. (Olesˇa, Tri tolstjaka, 520) – Tibul trat über die Barriere und machte auf dem Gesims Halt; (2) Ä nagnulsä, pogladil dlinnuü, xolodnuü trubu dvigatelä. (Zamjatin, My, 650) – Ich bückte mich, streichelte das lange, kalte Rohr des Triebwerks; (3) [On laskovo pomanil k sebe ‚pica i, kogda tot podo‚el, pogrozil emu pal´cem.] Ípic zavorçal. Gurov opät´ pogrozil. (Cµechov, Dama s sobacˇkoj, 174) – [Er lockte den Spitz zärtlich an, und als dieser sich näherte, drohte er ihm mit dem Finger.] Der Spitz knurrte. Gurov drohte ihm noch einmal.

Manchmal werden statt perfektiver Vergangenheitsformen Formen des Präsens historicum verwendet, die nicht als redundante Mittel betrachtet werden: (4) Vskore knäz´ Boris vozvrawaetsä k sebe, stanovitsä k peçke, priΩimaet k mertvomu ee peçnomu xolodu – grud´, Ωivot, koleni i tak stoit nepodviΩno. (Pil’njak, Golyj god, 380) – Bald kehrt Fürst Boris in seine Wohnung zurück, stellt sich an den Ofen, drückt an dessen tote Kälte seine Brust, Bauch, Knie und steht so unbeweglich.

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften

339

Unter „redundanter Kodierung“ wird der Gebrauch einer Temporalkonjunktion, eines Adverbs mit sequenzieller Bedeutung wie uzˇe, potom oder einer komplexeren Verbform statt einer einfacheren 10 verstanden. Zum Zwecke der Ausdrucksvariierung kann der Textproduzent einen Teil der polyprädikativen Struktur als abhängig darstellen, indem er eine temporale Konjunktion verwendet: (5) Kogda konçilas´ osen´, nastupila zima (Leonov, Bubnovyj valet) – Als der Herbst zu Ende war, brach der Winter herein; (6) Kak uvidel Indrika, çernuü ego barxatnuü ‚apoçku i vse lico v volosax sedyx, kak vo mxu, – tak Fedor Volkov i vspomnil: nikogda ne ulybalsä Indrik, moΩno emu pro vse rasskazat´ – ne zasmeetsä. (Zamjatin, Afrika, 247) – Als er Indrik [den Kapitän des Walfangschiffes], seine schwarze samtene Mütze und das mit grauen Haaren wie mit Moos bedecktes Gesicht sah, da erinnerte sich Fedor Volkov (an Folgendes): Niemals lächelte Indrik, alles kann man ihm erzählen – er wird nicht lachen; (7) Posle togo kak on uvidel glaza Assol´, rasseälas´ vsä kosnost´ Mennersova rasskaza. (Grin, Alye parusa, 51) – Nachdem er die Augen von Assol [eines jungen Mädchens] erblickt hatte, verschwand die ganze Trägheit der Erzählung von Menners.

Die andere Möglichkeit, einen Teil der syntaktischen Struktur als abhängig darzustellen, ist der Gebrauch des perfektiven Adverbialpartizips: (8) […] vojdä v tualetnuü komnatu, Apollon Apollonoviç iz ‚kapçika vynul […] svoi krasnogo laka koroboçki […]. (Belyj, Peterburg, 75) – […] ins Toilettenzimmer eingetreten, nahm Apollon Apollonovicˇ aus dem Schrank […] seine rot lackierten Kästchen […].

Manchmal können Adverbien mit temporal ordnender Bedeutung als redundante Mittel auftreten: (9) UΩe opusteli sosednie stoliki; vdrug pogaslo i qlektriçestvo […]. (Belyj, Peterburg, 150). – Die benachbarten Tische waren schon leer geworden; plötzlich ging das elektrische Licht aus. (10) Kopenkin i Dvanov podoΩdali, a potom rasserdilis´. (Platonov, Cµevengur, 150) – Kopenkin und Dvanov warteten (eine Weile), dann wurden sie ärgerlich.

Hier ist die genaue Statistik zum Gebrauch redundanter Mittel:

10

Im Russischen handelt es sich dabei um die Ersetzung einer der zwei perfektiven Vergangenheitsformen durch das perfektive Adverbialpartizip – deepricˇastie soversˇennogo vida.

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Realismus Moderne

Vyacheslav Yevseyev

Adverbialpartizip Konjunktion 176 (83,4 %) 33 (15,6 %) 90 (84,1 %) 13 (12,1 %)

Adverb 2 (1,0 %) 4 (3,8 %)

Gesamt 211 (100 %) 107 (100 %)

Wenn der Textautor bei der Wiedergabe zeitlicher Relationen redundante sprachliche Mittel benutzt, dann verwendet er in 5 von 6 Fällen ein Adverbialpartizip; das Verhältnis von ca. fünf Sechsteln (83,4 Prozent bzw. 84,1 Prozent) kann provisorisch als eine epochenübergreifende Konstante gelten. Die Palette der verwendeten Konjunktionen ist in realistischen Texten etwas breiter: Von den 33 Fällen in den Texten des Realismus entfallen 27 auf kogda, 2 auf kak, je einmal kommen posle togo kak, prezˇde cˇem, edva kak, tol’ko cˇto kak vor. In den modernistischen Texten kommt kogda 11 Mal, kak und edva kak je einmal vor. Bei redundant verwendeten Adverbien handelt es sich um potom, uzˇe und um Kombinationen wie uzˇe ... kogda und kogda uzˇ ... Signifikant ist, dass in russischen Volksmärchen alle 9 redundanten TFs von Konjunktionen repräsentiert sind (kogda, kak, tol’ko, kak tol’ko); das bedeutet, dass einer typisch mündlichen Gattung das Adverbialpartizip – zumindest in der Funktion des temporalen Markers – fremd ist. Da laut Grice’scher Quantitätsmaxime ein Konversationsbeitrag nicht informativer als nötig sein sollte, ist zu erwarten, dass TFs mit redundanten Elementen seltener vorkommen als TFs ohne Redundanz. Die Auswertung des Korpus’ bestätigt diese Hypothese:

Realismus Moderne

Anzahl der redundanten TFs 211 107

Gesamtzahl der TFs 670 595

Anteil der redundanten TFs 31,5 % 18,0 %

Tabelle 1 Anteil der red. TFs in realistischen und modernistischen Texten

Wie aus der Tabelle folgt, kommen redundante TFs im Allgemeinen seltener vor als TFs ohne Redundanz. Der Vergleich realistischer und modernistischer Texte ergibt eine deutliche Tendenz zum häufigeren Gebrauch redundanter Mittel in realistischen Texten. Der Hinweis auf die Zusammensetzung des Korpus’ (im realistischen Teilkorpus gibt es fast ausschließlich Romane, im modernistischen neben Romanen auch Novellen und Erzählungen) kann diesen Befund nicht relativieren: Einige Romane der Moderne demonstrieren niedrige Werte in diesem Parameter (z.B. Zamjatins My 6,3 Prozent, Platonovs Cµevengur 4,2 Prozent, Pil’njaks Golyj god 0 Prozent), während einige modernistische Erzählun-

Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften

341

gen hohe Werte aufweisen (z.B. Leonovs Evgenia Ivanovna 50 Prozent, Chlebnikovs Zµiteli gor 15,8 Prozent). Auch vorherige Analysen (Yevseyev 2003) ließen keinen klaren Unterschied zwischen Romanen und Erzählungen hinsichtlich des Parameters „Redundanz der Taxiskodierung“ erkennen. Was die zwei für die jeweilige Epoche typischen Romane betrifft, so wird die Tendenz zur größeren Taxis-Redundanz in der realistischen Prosa auch an diesen Werken deutlich, obwohl sie Werte demonstrieren, die wesentlich über dem jeweiligen Durchschnitt liegen: Belyjs Peterburg weist den Wert 27,8 Prozent, Tolstojs Anna Karenina den Wert 51,6 Prozent auf. Auffallend ist, dass in keinem der realistischen Romane der Anteil redundanter TFs unter 10 Prozent liegt. Wenn der unter 10 Prozent liegende Anteil redundanter Fälle als ein Hinweis auf die Kolloquialität des entsprechenden Textes gedeutet wird, dann muss fast die Hälfte des modernistischen Korpus’ als kolloquial gelten, z.B. Texte von Zamjatin (Afrika – 4,8 Prozent, Mamaj – 0 Prozent, Uezdnoe – 3,2 Prozent, My – 6,3 Prozent), die meisten Kurzgeschichten von Zosˇcˇenko, Leonovs Bubnovyj valet – 7,7 Prozent, Platonovs Cµevengur – 4,2 Prozent. Die Evidenz aus der Analyse russischer Volksmärchen, die ebenfalls relativ wenige red. TFs enthalten (4,5 Prozent), ist ein statistisches Argument dafür, dass ein geringer Anteil redundanter TFs in einem Text seinen kolloquialen Status nachweist; der häufige Gebrauch redundanter Mittel bei der Taxiskodierung dürfte dagegen die für die Schriftsprache typische Explizitheit und „Elaboriertheit“ (Roberts & Street 1997, 168ff.) exemplarisch repräsentieren. Da der schriftliche Usus üblicherweise mehr markierte morphologische und syntaktische Elemente enthält als der mündliche, ist es nicht verwunderlich, dass genau in realistischen Texten viele redundante Taxisfälle (also markierte Strukturen) vorkommen. Fazit: In realistischen Texten ist die Häufigkeit der Fälle, in denen bei der Wiedergabe sequenzieller Zeitrelationen redundante sprachliche Mittel wie markierte Verbformen, Konjunktionen und Adverbien verwendet werden, fast doppelt so hoch wie in modernistischen Texten. Die Variation der Konjunktionen ist in realistischen Texten größer als in modernistischen. Von diesen Tatsachen lässt sich auf die sprachlichen Besonderheiten der beiden Epochen schließen: Die häufige Verwendung überschüssiger Mittel bei der Kodierung sequenzieller Relationen in realistischen Texten ist ein Einzelfall der für die Schriftsprache typischen Explizitheit des Ausdrucks. Der seltene Gebrauch redundanter temporaler

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Marker in modernistischen Texten zeugt dagegen von einem niedrigeren Grad an Explizitheit und von der Nähe zum mündlichen Usus. Der Vergleich modernistischer Texte mit russischen Volksmärchen (einer typisch kolloquialen Gattung), die einen niedrigen Anteil redundanter Fälle haben, liefert den Nachweis dafür, dass modernistische Texte im Allgemeinen kolloquialer sind als realistische Texte. 4. Nicht-ikonische Kodierung sequenzieller Zeitrelationen und die schriftliche Erzähltradition Gegenstand der vorigen Abschnitte waren TFs, in denen die temporale Relation ikonisch11 kodiert wird, d.h. die Abfolge der Prädikate in der Redekette mit der Abfolge der Ereignisse in der realen Zeit übereinstimmt. In diesem Abschnitt werden TFs mit umgekehrter Reihenfolge der Prädikate thematisiert. Dass die tatsächliche Reihenfolge der Ereignisse anders ist als die Reihenfolge der Prädikate, wird üblicherweise explizit angezeigt (von einer markierten Verbform oder einer Konjunktion): (11) – Ax, sorvalsä, aziätec! – pribavil on vdrug, dernuv udoçkoj. (Turgenev, Zapiski ochotnika, 51) – „Ach, der ist losgekommen, der Schuft, “ fügte er plötzlich hinzu, die Angel hochgezogen habend; (12) – Ä vot çto, – skazal Dolgu‚ov, kogda my podßexali, – konçus´… Ponätno? (Babel’, Konarmija, 40) – „Ich…“ sagte Dolgusˇov, als wir näher kamen, „…krepiere… Ist das klar?“; (13) On Ωenilsä na nej, kak tol´ko minul srok traura […]. (Turgenev, Otcy i deti, 150) ) – Er heiratete sie, sobald die Trauerfrist vorbei war [...].

Manchmal wird die Abweichung vom ikonischen Muster sogar mehrfach markiert (mit einer Konjunktion und einem Adverb):

11

Bei der Kodierung zeitlicher Abläufe handelt es sich streng genommen um Diagrammatizität als Untertyp der Ikonizität (Nöth 2000, 290).

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(14) Po sluçaü volneniä na more paroxod pri‚el pozdno, kogda uΩe selo soln12 ce. (Cµechov, Dama s sobacˇkoj, 176) – Wegen des rauen Meeres lief der Dampfer spät ein, als die Sonne schon untergegangen war.

In wenigen Fällen ist die Umkehrung der Zeitrelation nur aus der Situation ersichtlich: (15) Tak otoropel Baryba – uvidel Çebotarixu samoe – çto i vyryvat´sä perestal, tol´ko glaza, kak my‚i, metalis´ po vsem uglam (Zamjatin, Uezdnoe, 51) – So sehr war Baryba verdutzt – er erblickte die Cµebotaricha (… hatte … erblickt) – dass er ganz aufhörte, sich loszureißen, nur seine Blicke huschten wie Mäuse von einer Ecke zu der anderen; (16) Nazanskij umolk. Vidimo, ego utomil neprivyçnyj nervnyj podßem. (Kuprin, Poedinok, 301) – Nazanskij verstummte. Offensichtlich ermüdete ihn die ungewohnte Gemütsregung (… hatte … ermüdet); (17) Ona ulybnulas´; kompliment ej oçen´ ponravilsä. (Dostoevskij, Prestuplenie i nakazanie, 150) – Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr sehr gut (… hatte … gefallen).

Hier ist die Statistik zum Gebrauch sprachlicher Mittel, die die Abweichung vom ikonischen Muster markieren:

Realismus Moderne

Adverbialpartizip 46 6

Konjunktion

keine Markierung

Gesamt

17 7

2 2

65 15

Bemerkenswert ist, dass Texte des Realismus eine viel größere Variation im Gebrauch der Konjunktionen demonstrieren als Texte der Moderne: Modernistische Autoren verwenden ausschließlich kogda als Marker der Nicht-Ikonizität, während realistische Autoren neben kogda auch andere Konjunktionen benutzen (von 17 Fällen entfallen 11 auf kogda, 3 auf kak tol’ko, 1 auf kak, 1 auf prezˇde cˇem und 1 auf pokuda – ne). Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass nicht-ikonische Wiedergabe von Ereignissequenzen relativ selten vorkommt, denn die Narration 12

Sehr wichtig scheint die Anmerkung zu sein, dass unter nicht-ikonischen Fällen nur solche als redundant betrachtet werden, in denen wie in diesem mehr als ein Mittel die Umkehrung der ikonischen Reihenfolge anzeigt. Die Zahl solcher Fälle ist gering: In den analysierten russischen Texten der Moderne und des Realismus (s. Abschnitt „Quellen“) kommen solche Fälle überhaupt nicht vor.

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folgt im Großen und Ganzen dem ikonischen Prinzip (z.B. in Givón 1990, 971). In Yevseyev (2003, 205f.) werden konkrete statistische Daten zur Diskussion gestellt. Ein wichtiges Ergebnis ist beispielsweise, dass etwa jeder vierte Text „absolut ikonisch“ ist, d.h. überhaupt keine nichtikonischen (weiter n.-ik.) TFs enthält13. Eine weitere Beobachtung lautet, dass Gattungen, die der mündlichen Tradition näher stehen (deutsche und russische Volksmärchen und Heldenlieder, viele Kurzgeschichten), tendenziell weniger n.-ik. TFs enthalten als Texte, die dem schriftlichen Erzähltypus zuzurechnen sind (vor allem Romane, s. Yevseyev 2003, 218ff.). So demonstrieren russische Volksmärchen einen Anteil der n.-ik. TFs von 3,0 Prozent, deutsche Volksmärchen 2,3 Prozent, die mittelalterlichen Werke Slovo o polku Igoreve und Hildebrandslied jeweils 0 Prozent. Dagegen weisen Romane Werte von 0 Prozent bis etwa 20 Prozent auf, z.B. Solzˇenicyns Rakovyj korpus (0 Prozent), Tolstojs Vojna i mir (5,7 Prozent), Gogols Mertvye dusˇi (9,6 Prozent), Die Blechtrommel von Grass (14,8 Prozent), Tolstojs Anna Karenina (17,2 Prozent), Goncˇarovs Oblomov (21,1 Prozent). Es bietet sich also die Gelegenheit, diese Ergebnisse anhand des Korpus’ realistischer und modernistischer Texte zu überprüfen und zu ergänzen. Hier ist die Zusammenfassung der Analyseergebnisse:

Realismus Moderne

Anzahl der n.-ik. TFs 65 15

Gesamtzahl der TFs 670 595

Anteil der n.-ik. TFs 9,7% 2,5%

Wie aus der Tabelle ersichtlich ist, weisen Texte der Moderne einen deutlich geringeren Anteil der n.-ik. TFs auf als Texte des Realismus (2,5 Prozent gegen 9,7 Prozent). Die Hälfte der modernistischen Texte sind „absolut ikonisch“, wogegen diese Beobachtung auf keinen der im Korpus enthaltenen realistischen Texte zutrifft. Diese Differenz ist auch nicht darauf zurückzuführen, dass das realistische Teilkorpus hauptsächlich aus Romanen besteht, während zum modernistischen Korpus neben Romanen 13

Bei längeren Texten, die stichprobenartig analysiert wurden, kann diese Behauptung eigentlich nur für die Seiten der Stichprobe gelten, da aber der zufällig gewählte und an sich relativ lange Textabschnitt (die Stichproben für Romane enthielten mindestens 20.000 Druckzeichen) keine n.-ik. TFs aufweist, muss der Anteil der n.-ik. TFs in diesen Texten verschwindend gering sein.

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auch Novellen und Kurzgeschichten gehören; eine nähere Betrachtung zeigt nämlich, dass viele modernistische Romane sehr niedrige Werte in diesem Parameter demonstrieren14, während viele realistische Kurzformen der Prosa einen hohen Anteil der n.-ik. TFs aufweisen, z.B. SaltykovSµcˇedrins Märchen Povest’ o tom, kak odin muzˇik dvuch generalov prokormil (12,9 Prozent)15. Das erlaubt folgenden Schluss zu ziehen: Modernistische Autoren kommen viel seltener dazu, von der natürlichen Ereignisreihenfolge auf der Mikroebene abzuweichen. Dieses Ergebnis ist ein Argument dafür, dass Texte der Moderne generell kolloquialer sind als Texte des Realismus. Gérard Genette meinte, dass sich die volkstümliche Erzählung tendenziell an die chronologische Reihenfolge der Ereignisse hält, während die westliche literarische Tradition oft gezielt den Anachronie-Effekt – d.i. in unserer Terminologie die n.-ik. Taxiskodierung – anwendet: Il semble que le récit folklorique ait pour habitude de se conformer, dans ses grandes articulations de moins, à l’ordre chronologique, mais notre tradition littéraire (occidentale) s’inaugure au contraire par un effet d’anachronie […]. (Genette 1972, 79).

Zwar verstand Genette unter „Anachronie“ solche Abweichungen von der natürlichen Reihenfolge der Ereignisse, die nur makrostrukturell bemerkbar werden, d.h. die Umstellung größerer Textabschnitte; seine Beobachtung lässt sich jedoch auch mikrostrukturell nutzbar machen und auf die Ereignisreihenfolge in konkreten syntaktischen Strukturen projizieren. Texte, die wenige oder keine n.-ik. TFs enthalten, sind also entweder ursprünglich mündlich, d.h. stellen das Resultat einer bloßen Fixierung des gesprochenen Textes im schriftlichen Medium dar (z.B. russische Volksmärchen), oder sind etwa das Ergebnis der Kolloquialisierungsbemühungen modernistischer Autoren. Eine Tendenz zur „absoluten Ikonizität“ der Narration weisen folgende Autoren auf: • Bulgakov: Sobacˇ’e serdce (0 Prozent), Belaja gvardija (0 Prozent), Master i Margarita (1,5 Prozent); • Platonov: Kotlovan (1,7 Prozent), Cµevengur (0 Prozent); 14

15

Das sind z.B. Bulgakovs Belaja gvardija, Pil’njaks Golyj god und Platonovs Cµevengur, die „absolut ikonisch“ sind, und Bulgakovs Master i Margarita (1,5 Prozent n.-ik. TFs). Eine Ausnahme ist Belyjs Novelle Kotik Letaev, die den Wert 14,3 Prozent der n.-ik. TFs zeigt (s. Beobachtungen zur Besonderheit der TFs in diesem Werk in der Fußnote).

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Zosˇcˇenko: Ispoved’ (0 Prozent), Istorija bolezni (12,5 Prozent – Ausnahme!), Kocˇerga (0 Prozent), Kosˇka i ljudi (0 Prozent), Velikosvetskaja istorija (0 Prozent), Sobacˇij njuch (0 Prozent); • Zamjatin: Mamaj (0 Prozent), Afrika (0 Prozent), Uezdnoe (3,2 Prozent), My (4,0 Prozent); • Cµechov: Cµelovek v futljare (0 Prozent), Dama s sobacˇkoj (4,5 Prozent), Kasˇtanka (0 Prozent), Losˇadinaja familija (0 Prozent); • Lenz: Das Feuerschiff (2,2 Prozent), Der Amüsierdoktor (0 Prozent), Der Mann im Strom (3,3 Prozent), Deutschstunde (2,4 Prozent), So zärtlich war Suleyken (0 Prozent); • Bichsel: Der Mann mit dem Gedächtnis (0 Prozent), Der Milchmann (0 Prozent), Herr Gigon (0 Prozent), San Salvador (0 Prozent); • Steinbeck: Cannery Row – 0 Prozent, Of Men and Mice – 0 Prozent, The Grapes of Wrath (0 Prozent), The Moon Is Down (0 Prozent), The Pastures of Heaven (3,4 Prozent), Tortilla Flat (7,1 Prozent – Ausnahme!), Travels with Charley in Search of America (0 Prozent). • Dagegen zeigen Texte folgender Autoren eine größere Abweichung von der natürlichen Reihenfolge der Ereignisse auf der Mikroebene (über 10 Prozent n.-ik. TFs): • Goncˇarov: Oblomov (21,1 Prozent), Fregat „Pallada“ (12,5 Prozent); • Böll: Ansichten eines Clowns (12,8 Prozent), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (10,5 Prozent), Wanderer, kommst du nach Spa… (12,5 Prozent); • Feuchtwanger: Füchse im Weinberg (12,5 Prozent), Die Geschwister Oppermann (18,8 Prozent), Die hässliche Herzogin Margarete Maultasch (10,0 Prozent); • Goethe: Die Leiden des jungen Werther (13,3 Prozent), Die Wahlverwandtschaften (14,2 Prozent), Wilhelm Meisters Lehrjahre (13,8 Prozent). Aus der Analyse einer großen Zahl der Romane und Kurzgeschichten hat sich eine interessante Gesetzmäßigkeit ergeben: Der Anteil der „absolut ikonischen“ Texte ist gattungsspezifisch und epochenübergreifend konstant (15 Prozent bis 20 Prozent bei Romanen und 52 Prozent bis 68 Prozent bei Kurzgeschichten). Das bedeutet konkret, dass die Hälfte bis zwei Drittel der untersuchten Kurzgeschichten keine Abweichungen von der natürlichen Reihenfolge der Ereignisse auf der Mikroebene aufweisen,



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während diese Beobachtung nur auf jeden fünften oder sechsten Roman zutrifft. Fazit: Realistische Texte demonstrieren einen fast viermal so hohen Anteil der n.-ik. TFs wie modernistische Texte (9,7 Prozent gegen 2,5 Prozent). Da Abweichungen von der natürlichen Reihenfolge der Ereignisse – sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene – ein Charakteristikum der schriftlichen Erzähltradition sind, müssten realistische Werke als typisch schriftliche Texte anerkannt werden. Da andererseits modernistische Werke etwa denselben Anteil der n.-ik. TFs zeigen wie russische Volksmärchen (eine typisch mündliche Gattung), kann diese Tatsache als Indiz für den kolloquialen Status modernistischer Texte gedeutet werden. 5. Redundante und nicht-ikonische Taxisfälle und die Frage nach der Nähe eines Textes zum mündlichen/schriftlichen Usus Die erhobenen statistischen Daten sollen uns nun helfen, eine zusammenfassende Charakterisierung der Texte nach ihrem Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsstatus zu unternehmen. Russische realistische Romane, die als „typisch schriftliche“ Texte gelten können, zeigen meistens hohe Werte in den beiden Parametern „Anteil der red. TFs“ und „Anteil der n.-ik. TFs“. Andererseits weisen z.B. russische Volksmärchen aus dem 19. Jh. niedrige Werte in beiden Parametern auf, denn sie stellen offensichtlich das Resultat einer (fast) wörtlichen Fixierung der mündlichen Vorlage dar. Ebenfalls niedrige Werte in den beiden Parametern werden in Texten beobachtet, die das Resultat einer gekonnten Nachahmung der mündlichen Erzählung sind, z.B. die meisten Erzählungen von Zosˇcˇenko. Diesen stehen in derselben Hinsicht deutsche und russische Heldenlieder nahe (Hildebrandslied, 0 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.-ik. TFs; Slovo o polku Igoreve, 7,7 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.-ik. TFs). Vielen modernistischen Werken, in denen die zwei Parameter ebenfalls niedrige Werte haben (vor allem Pil’njaks Golyj god und den vier Texten von Zamjatin), müsste der kolloquiale Status zuerkannt werden. Dem „kolloquialen“ Muster entsprechen auch Werke von S. Lenz, P. Bichsel, E. Hemingway, O. Henry, J. Steinbeck sowie Ulysses von J. Joyce. Um so interessanter sind Texte, in denen sich eine Diskrepanz zwischen den Werten beider Parameter beobachten lässt, wobei es meist um

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einen hohen Anteil der red. TFs und um einen niedrigen Anteil der n.-ik. TFs geht, z.B. Deutsche Volksmärchen 16 (23,0 Prozent red. TFs, 2,3 Prozent n.-ik. TFs) und Dil Ulenspiegel von Hermann Bote aus dem 16. Jh. (22,4 Prozent red. TFs, 0,8 Prozent n.-ik. TFs). Eine plausible Erklärung ist, dass diese Texte das Ergebnis einer tiefgreifenden Bearbeitung des mündlichen Erzählguts sind (s. Röhrich 1989, 49f.). Der Autor strebt die für die Schriftsprache typische Variation morphologisch-syntaktischer Mittel an, indem er bei der Wiedergabe von Ereignissequenzen temporale Konjunktionen und markierte Verbformen häufig verwendet. Obwohl die analysierten deutschen Märchen unter der Bezeichnung „Volksmärchen“ firmieren, unterscheiden sie sich wenig von Märchen der Romantik, z.B. den „Märchenalmanachen“ von W. Hauff (26,1 Prozent red. TFs, 3,4 Prozent n.-ik. TFs), Cµernaja kurica, ili Podzemnye zˇiteli von A. Pogorel’skij (20 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.-ik. TFs), und Märchen der Moderne, z.B. Tri tolstjaka von Ju. Olesˇa (16,7 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.-ik. TFs). Die besagten Veränderungen betreffen offensichtlich nicht den Plot, weder auf der Makro- noch auf der Mikroebene, so dass es zu (fast) keinen Abweichungen von der natürlichen Ereignisfolge kommt. Am Beispiel der Deutschen Volksmärchen wird deutlich, dass die Quantifizierung von TFs hilft, die genaue Gattungszugehörigkeit eines Textes festzustellen. Die Kombination „viele red. TFs und wenige n.-ik. TFs“ zeigen die meisten altrussischen Vitae, z.B. Skazanie o Borise i Glebe (12. Jh.; 75 Prozent red. TFs, 1,9 Prozent n.-ik. TFs), und eine mittelhochdeutsche Vita (das Annolied aus dem 11. / 12. Jh.; 31,3 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.ik. TFs), Chroniken, z.B. Povest’ vremennych let (12. Jh.; 56 Prozent red. TFs, 2,6 n.-ik. TFs), und Biographien, z.B. Zµitie Avvakuma (17. Jh.; 50,2 Prozent red. TFs, 2,1 Prozent n.-ik. TFs). Dagegen ist der chronikalische Bericht Povest’ o razorenii Rjazani Batyem (13. Jh.; 7,1 Prozent red. TFs, 0 Prozent n.-ik. TFs) ein Werk, dessen Autor sich nicht an der Schriftsprache zu orientieren scheint, denn dieser Text zeigt niedrige Werte in beiden Parametern und nähert sich so den oben genannten kolloquialen bzw. kolloquialisierten Texten. Denkbar sind Fälle, in denen ein Text einen niedrigen Wert im Parameter „Anteil redundanter TFs“ und einen hohen Wert im Parameter „Anteil der n.-ik. TFs“ demonstriert. Der Textproduzent scheint Methoden 16

S. Abschnitt „Sonstige Quellen“.

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„okzidentaler Literatur“, darunter Abweichung von der ikonischen Ereignisabfolge auf der Mikroebene, anzuwenden, dabei bleibt er in puncto Explizitheit und Ausdrucksvariation eher dem mündlichen Usus verpflichtet. An dieser Stelle seien folgende Texte genannt, ohne dass eine plausible Erklärung vorgeschlagen wird: V. Woolf, The Years (2,7 Prozent red. TFs, 10,8 Prozent n.-ik. TFs); V. Woolf, Between the Acts (6,7 Prozent red. TFs, 13,3 Prozent n.-ik. TFs); M. Twain, How I Edited an Agricultural Paper (5,9 Prozent red. TFs, 17,6 Prozent n.-ik. TFs). Weitere Analysen sollen zeigen, welchen Stellenwert diese Texte im System der konzeptionell mündlichen vs. konzeptionell schriftlichen Genres (s. Koch & Oesterreicher 1985, 18–23) haben. Diese Beobachtungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

hoch (elaborierte Ausdrucksweise) niedrig (einfache Ausdrucksweise)

Anteil der red. TFs (charakterisiert die Sprache)

Anteil der n.-ik. TFs (charakterisiert das literarische Konzept) hoch niedrig (Affinität zur „okzidentalen“ (Affinität zur volkstümlichen Erzähltradition) Erzähltradition)

Der Text ist par excellence schriftlich (viele realistische Romane)

(Auswahl der Texte noch nicht repräsentativ)

Der Text stellt das Ergebnis einer tiefgreifenden Bearbeitung der ursprünglich mündlichen Vorlage dar (Märchen der Romantik; altrussische Vitae) Der Text ist das Ergebnis einer bloßen Fixierung der mündlichen Vorlage (Russische Volksmärchen) oder einer konsequenten Kolloquialisierung (einige modernistische Werke)

Fazit: Im Hinblick auf die Parameter „Anteil der red. TFs“ und „Anteil der n.-ik. TFs“ lassen sich zwei gegenüberstehende Texttypen erkennen: erstens Texte mit vielen red. und vielen n.-ik. TFs, zweitens Texte mit wenigen red. und wenigen n.-ik. TFs. Die ersteren können als Prototyp der konzeptionell schriftlichen Erzähltexte in der „okzidentalen“ Tradition, die letzteren als Prototyp der volkstümlichen, kolloquialen Erzähltexte

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gelten. Der dritte Typus, der von Texten mit vielen red. TFs und wenigen n.-ik. TFs vertreten ist, resultiert aus der Anpassung mündlichen Erzählguts an die Normen der Schriftsprache, z.B. einige Märchen, die als „Volksmärchen“ bekannt sind, Märchen aus der Zeit der Romantik usw. 6. Ergebnisse Die Untersuchung hat keine beträchtliche Differenz zwischen den realistischen und modernistischen Texten hinsichtlich des Parameters „Dichte der Taxisfälle“ ergeben, d.h. hinsichtlich der Vorkommensfrequenz zusammenhängender syntaktischer Strukturen, in denen episodische Sachverhalte paarweise kodiert werden. Das bedeutet, dass modernistische und realistische Autoren die temporale Progression der Erzählung ungefähr gleich oft hervorheben. Es soll weiterhin untersucht werden, ob der Parameter „Dichte der Taxisfälle“ als das mikrostrukturelle Pendant zum makrostrukturellen Kriterium „Narrativität“ gelten kann; den modernistischen Texten wird ja generell weniger Narrativität zugeschrieben. Ein weiteres Ergebnis ist die Bestätigung der bereits getroffenen Feststellung, dass kleinere Erzählformen wie Kurzgeschichten im Durchschnitt eine höhere Dichte der TFs haben als größere Erzählformen wie Romane. Längere Texte können hohe Werte im Parameter „Dichte der Taxisfälle“ in der Regel nicht erreichen. Die Texte mit den Spitzenwerten im untersuchten Parameter arbeiten dezidiert auf den Effekt der Illusion der Präsenz hin. Die beiden Kriterien „Häufigkeit der Taxisfälle mit redundanten sprachlichen Mitteln“ und „Häufigkeit der nicht-ikonischen Taxisfälle“ scheinen Aufschluss über den Status des Textes als konzeptionell schriftlich (der „okzidentalen“ Erzähltradition im Sinne Genettes angehörend) oder konzeptionell mündlich (kolloquial) zu geben. Die Analyse legt zum einen nahe, dass der häufige Gebrauch redundanter Elemente bei der Wiedergabe temporaler Relationen ein Einzelfall der für die Schriftsprache typischen Explizitheit ist. Zum anderen werden die für die okzidentale Erzähltradition charakteristischen Abweichungen von der natürlichen Ereignisreihenfolge nicht nur auf der Makroebene sichtbar (als Genette’sche Anachronien), sondern sie lassen sich auch auf der Mikroebene des Textes als Fälle der nicht-ikonischen Taxiskodierung erkennen. Texten, die hohe Werte in beiden Parametern demonstrieren, z.B. realistischen Romanen, müsste eine Affinität zur schriftlichen Tradition zuerkannt werden. Dagegen haben viele modernistische Texte, z.B. Werke von Zosˇcˇenko, Zamjatin und Pil’njak, niedrige Werte in beiden Parame-

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tern; der Vergleich mit konzeptionell mündlichen Texten wie den Volksmärchen und Heldenliedern, die ebenfalls niedrige Werte in den genannten Parametern haben, spricht dafür, dass diese modernistischen Texte als kolloquial gelten müssten. Eine deutliche Diskrepanz zwischen den Werten für „Häufigkeit der Taxisfälle mit redundanten sprachlichen Mitteln“ und „Häufigkeit der nicht-ikonischen Taxisfälle“ kann darauf hinweisen, dass der Text teils dem mündlichen, teils dem schriftlichen Usus angehört. So zeigen einige Texte, die unter der Bezeichnung „Volkserzählungen“, „Sagen“ usw. bekannt sind, Merkmale eines tiefgreifenden Eingriffs ihrer Autoren / Bearbeiter, der eine Anpassung der mündlichen Erzählvorlage an die schriftliche Tradition zum Ziel gehabt hat. Dieser Eingriff wird zum Teil am häufigeren Gebrauch überschüssiger sprachlicher Mittel bei der Wiedergabe temporaler Relationen deutlich. Bei einer derartigen Überarbeitung des Textes wird jedoch die mikrostrukturelle Ereignisreihenfolge wenig betroffen, so dass in diesen Texten der Anteil der Fälle der nichtikonischen Wiedergabe sequentieller Relationen auf der Mikroebene gering bleibt. 7. Quellen Realistische Texte des 19. Jhs. Dostoevskij, F. M. 1976. Brat’ja Karamazovy. Polnoe sobranie socˇinenij v 30-ti tomach. Toma 14-15. Leningrad. (Seiten 50–51, 100–101, 150–151, 200–201 usw. analysiert). Dostoevskij, F. M. 1983. Prestuplenie i nakazanie. Moskva. (Seiten 50–51, 100–101, 150–151 … 500–501 analysiert). Gogol’, N. V. 1994. Mertvye dusˇi. Sobranie socˇinenij v 9-ti tomach. Tom 5. Moskva. (Seiten 20–21, 40–41, 60–61 … 220–221 analysiert). Gogol’, N. V. 1984. Sµinel’. Izbrannye socˇinenija v 2-ch tomach. Tom 1. Moskva, Seiten 475–499 (alle Seiten analysiert). Goncˇarov, I. A. 1996. Oblomov. Izbrannoe (v 2-ch tomach). Tom 1. Moskva. (Seiten 50– 51, 100–101, 150–151 … 450–451 analysiert). Lermontov, M. Ju. 1990. Geroj nasˇego vremeni. Socˇinenija (v 2-ch tomach). Tom 2. Moskva, Seiten 455–589 (Seiten 460–461, 480–481, 500–501 … 580–581 analysiert). Leskov, N. S. 1956. Nekuda. Sobranie socˇinenij v 11-ti tomach. Tom 2. Moskva. (Seiten 100–101, 200–201, 300–301 … 700–701 analysiert).

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Leskov, N. S. 1957. Soborjane. Sobranie socˇinenij v 11-ti tomach. Tom 4. Moskva. (Seiten 50–51, 100–101, 150–151 … 300–301 analysiert). Saltykov-Sµcˇedrin, M. E. 1980. Gospoda Golovlevy. Gospoda Golovlevy. Skazki. Moskva, Seiten 3–292 (Seiten 50–51, 100–101, 150–151, 200–201, 250–251 analysiert). Tolstoj, L. N. 1972. Anna Karenina. Polnoe sobranie socˇinenij v 90-ta tomach. Toma 1819. Moskva. (Seiten 50–51, 100–101, 150–151, 200–201 usw. analysiert). Tolstoj, L. N. 1972. Vojna i mir. Polnoe sobranie socˇinenij v 90-ta tomach. Toma 9-12. Moskva (Seiten 50–51, 100–101, 150–151, 200–201 usw. analysiert). Turgenev, I. S. 1980. Otcy i deti. Nakanune. Otcy i deti. Moskva, Seiten 148–334 (Seiten 150–151, 174–175, 200–201, 224–225 … 324–325 analysiert). Turgenev, I. S. 1979. Zapiski ochotnika. Zapiski ochotnika. Povesti i rasskazy. Moskva, Seiten 27–324. (Seiten 50–51, 74–75, 100–101 … 300–301, 324 analysiert).

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Kodierung von Taxisrelationen und narrative Eigenschaften

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VOLKMAR LEHMANN / CHRISTINA JANIK

Zusammenfassung und Diskussion der linguistischen Untersuchungsergebnisse 1. Einleitung Die textlinguistische Untersuchung russischer realistischer und modernistischer Texte hat einerseits die Hypothese bestätigt, dass sich Epochenunterschiede anhand linguistisch fassbarer Kriterien unter quantitativen Aspekten zeigen lassen. Andererseits hat die Untersuchung jedoch auch Übereinstimmungen in der Realisierung einzelner untersuchter Parameter zu Tage gebracht, die weder gesucht noch erwartet waren, letztlich jedoch ebenfalls weiterführenden Aufschluss über den Bau narrativer Texte geben können. Hier sollen abschließend die Ergebnisse zu den einzelnen Untersuchungsaspekten zueinander in Bezug gesetzt und diskutiert werden sowie lohnende Aspekte für weitere Forschung im literaturwissenschaftlich-linguistischen Grenzbereich aufgezeigt werden. Dabei werden nicht die einzelnen Ergebnisse noch einmal anhand der einzelnen übergeordneten Untersuchungsaspekte präsentiert. Vielmehr versuchen wir, die epochenspezifischen Unterschiede bzw. epochenübergreifend gültigen Merkmale zusammenfassend anhand der in der Einleitung eingeführten Begriffe Situativität/Narrativität, Kolloquialisierung und „narrativer Basismodus“ zu diskutieren. Literaturwissenschaftlern bleibt es vorbehalten, die aus linguistischer Sicht sich anbietenden Erklärungsansätze für die aufgezeigten Entwicklungstendenzen um die kultur- bzw. literaturhistorische Perspektive zu erweitern. Im Verlaufe der Projektarbeit hat sich herausgestellt, dass es angebracht ist, den engen Begriff des Basismodus und seiner Varianten durch einen weiteren Begriff zur mikrostrukturellen Narrativität zu ergänzen. Daher haben wir neben den Basismerkmalen zusätzliche Parameter eines idealtypischen Erzähltextes berücksichtigt. Eine allgemeine Bestimmung des narrativen Idealtyps („Prototyps“) besagt dann, dass er jene Merkmale besitzt, die ihn am stärksten mit konkurrierenden Idealtypen kontrastieren. Aber eine Charakterisierung dessen, was diesen Idealtypus ausmacht,

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kann vorläufig nicht geliefert werden. Als negative Bestimmung wären jene Merkmale zu nennen, die typisch für sprechzeitorientierte Passagen sind, also situative Faktoren wie die lokale und personale Deixis sowie nichtrepräsentative illokutive (bzw. performative) Funktionen wie Aufforderungen, Fragen, Ausrufe. Damit ist der Ich-Erzähler nicht idealtypisch für Erzähltexte, sprechzeitbezogene oder omnitemporale Kommentare einer Erzählinstanz sind ohnehin nicht-narrativ. Merkmale der Kolloquialität sind prinzipiell typisch für sprechzeitorientierte Rede und stehen im Gegensatz zum Idealtypus des Erähltextes. Wir hatten für die Untersuchung mikrostrukturelle Text-Parameter wie temporale Definitheit (Episodizität), Koreferenz, (deiktische vs. konnektive) Orientierung gewählt, um festzustellen, ob sich narrative Rede in Texten des Realismus und in solchen des Modernismus hinsichtlich der Häufigkeit bei der Realisierung der Werte dieser Parameter unterscheidet. Im Verlaufe der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Häufigkeit der Werte bestimmter Parameter sich in den Texten nicht signifikant unterscheiden (ebenso im Parameter „Dichte der Taxisfälle“, s. Yevseyev in diesem Band), so dass wir solche, von den beiden Epochen unabhängigen, Merkmale als Kandidaten für Konstanten narrativer Rede betrachten, während diejenigen Merkmale, in denen sich Realismus und Modernismus unterscheiden, eher als Variablen dieses Redetyps anzusehen wären. Die historische Reichweite dieser Hypothese kann freilich nur durch weitere Untersuchungen festgestellt werden. Wie ist nun die textlinguistische Version der Leitthese des Projekts an den untersuchten variablen narrativen Verfahren zu überprüfen? Die These besagt, dass in modernistischen Romanen die Sprecherrolle profiliert ist, während sie in realistischen zum Verschwinden gebracht wird, deprofiliert ist. Mit Letzterem wird ein essentielles Merkmal idealtypischer narrativer Rede eingelöst: die Illusion des Rezipienten, „dabei“ zu sein, sich in der erzählten Welt zu befinden. Gemeint ist damit auch die Abwesenheit von Äußerungselementen, mit denen auf die Personen, den Raum und die Zeit der Sprechsituation Bezug genommen wird, letztlich die Abwesenheit aller Faktoren, die mit der konkreten, mündlichen Sprechsituation korrelieren. Die Deiktika und anderes sprecherbezogenes Vokabular („Egocentriki“) stehen im Zentrum dieser Faktoren, es korrelieren damit weitere Elemente mit situativer Orientierung, vor allem Äußerungen mit manipulativen (nichtdeklarativen illokutiven) Funktionen (Ausrufe, Aufforderungen, Fragen usw.; s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus...“, vgl. S. 364 in diesem Band). Die nächste Stufe bilden sti-

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listisch markierte Elemente mündlicher Rede, neben Lexik vor allem Syntax. Diese Elemente können in ihrer Gestuftheit – 1. deiktische Referenz, 2. situative Orientierung, 3. Mündlichkeit – als „kolloquial“, und im Zusammenhang mit narrativer Rede als „antinarrativ“ bezeichnet werden. Wenn die idealtypische, den Sprecher verbergende, narrative Rede eher realistisch ist, dann ist die Verwendung kolloquialer Elemente mit der Profilierung der Sprecherrolle antirealistisch. Dass dieser Effekt von den modernistischen Autoren gewollt war, können wir ihrer programmatischen Literatur entnehmen (s. Hodel „Textkohärenz und Narration...“, vgl. S. 364 in diesem Band ). Diese Nutzung kolloquialer Mittel verläuft nun parallel zu einer Entwicklung in den europäischen Sprachen im 20. Jh., die als „Kolloquialisierung der Standardsprachen“ bezeichnet wird, in den sozialistischen Ländern als „Demokratisierung“. Gemeint ist damit das Eindringen von, vor allem lexikalischen und syntaktischen, Mitteln der Umgangssprache, also einer durch Mündlichkeit geprägten Varietät, in die schriftlich geprägten Varietäten der Standardsprache. Hat die modernistische Literatur die Kolloquialisierung eingeleitet bzw. befördert? Oder war es nicht eher so, dass die modernistischen Autoren diese allgemeine standardsprachliche Tendenz (s. Gutschmidt 1995) auf ihre Weise und für ihre „antirealistischen“ Zwecke eingesetzt haben? Die Tendenz zur Kolloquialisierung in den modernistischen Romanen ist das auffälligste Ergebnis unserer Untersuchung, aber sie ist nicht die einzige „antirealistische“ sprachliche Tendenz. Als ein weiterer Faktor bei der Profilierung des Autors ist sein selbstherrlicher Umgang mit sprachlichem Usus festzuhalten. Nicht durch grammatische oder lexikalische Normverletzung, d.h. die Nichterfüllung von Erwartungen bezüglich systemischer Formen und ihrer Kombination, wird die Aufmerksamkeit vom Erzählten auf das Erzählen und damit auf den Erzählenden gelenkt. Wird bei Koreferenz statt eines Pronomens er der Personenname Ivan Sergeevicˇ genannt, dann wird nicht gegen eine „harte“, qualitative Norm verstoßen, aber es wird das übliche koreferenzielle Verfahren verschmäht (s. Janik „ Koreferenz in russischen Erzähltexten...“, vgl. S. 364 in diesem Band). Wenn sich eine derartige Abweichung von textlinguistischem Usus häuft, kann man von einem Verstoß gegen stochastische Normen sprechen. Einzelfälle mögen irrelevant sein, aber unsere quantitativen Untersuchungen zeigen, dass es sich um stilistisch bedeutsame Phänomene handelt.

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Derartige Abweichungen von textlinguistischem bzw. narrativem Usus, die wir als „textpragmatische Profilierung“ bezeichnen, sind nicht unter Kolloquialisierung zu subsumieren. Als eines der Spezifika direkter mündlicher Kommunikation gilt Implizitheit, das Vertrauen auf gemeinsames, nicht nur situatives, Wissen. Deshalb ist etwa eine überschießende und damit irreguläre Explizitheit in modernistischen Romanen (mit der gegen die Quantitäts-Maxime von Grice verstoßen wird) nicht „kolloquial“. Vielleicht können derartige textpragmatische Profilierungen wieder der antirealistischen Tendenz im Modernismus zugeschrieben werden, keinem Zweifel aber unterliegt, dass damit wiederum die sprachliche Produktion selbst und der Produzent in den Vordergrund geschoben werden; nicht mit den Mitteln der konventionellen Rhetorik, und wenn diese doch Anwendung finden, z.B. mit Metonymien, dann nicht im Rahmen des entsprechenden Usus. Allgemeines Fazit unserer Untersuchung ist die Erkenntnis, dass hinsichtlich der elementaren Parameter narrativer Rede variable und konstante zu unterscheiden sind. Im Folgenden werden dementsprechend einige auffällige Epochenspezifika und epochenübergreifende Phänomene in den untersuchten realistischen und modernistischen Romanen genannt – dass textlinguistische Epochenspezifika der modernistischen Romane zum einen in Kolloquialisierungen (die im vorliegenden Kapitel im Vordergrund stehen) und zum anderen in textpragmatischen Profilierungen bestehen, und dass diese Texte sich dadurch von den realistischen Romanen mit ihrer Bindung an die idealtypische narrative Rede unterscheiden. 2. Epochenspezifika Textlinguistisch beschreibbare Unterschiede zwischen den untersuchten Texten, die als epochenspezifisch gedeutet werden können, haben sich vor allem für die Darstellungsweisen von Sprecher- und Wahrnehmungspositionen, die Koreferenz und für die Markierung temporaler, lokaler und kausaler Relationen zwischen Sachverhalten ergeben. Teilergebnisse aus diesen Einzeluntersuchungen deuten, betrachtet man sie gemeinsam, auf eine tendentielle Kolloquialisierung bzw. eine Tendenz zu stärker mündlichen Darstellungsverfahren im Verlauf der Entwicklung vom Realismus zum Modernismus hin. Givón (1990, 949; Abb. 1) nennt als Parameter, die Aufschluss über mündliche vs. schriftliche Diskursformen geben: „syntactic complexity, grammatical morphology, word order, processing speed, context dependence“. Aus den vorliegenden Ergebnis-

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sen können zunächst nur in Bezug auf den Parameter Syntax Aussagen abgeleitet werden. Hinzu kommt jedoch eine feststellbare Tendenz zu häufigerer Verwendung von Ausdrucksmitteln in situativer Funktion (Lehmann 2003), die zum sprechzeitorientierten Redetyp gehören, was ebenfalls einem eher mündlich geprägten Darstellungsstil nahe kommt. Zudem sind die Unterschiede in der Positionierung von Adverbialia zu diskutieren, die eventuell ebenfalls auf einen weniger idealtypischen Darstellungsstil in den modernistischen Texten schließen lassen. 2.1 Koordination vs. Subordination Der deutlich seltenere Gebrauch subordinierender Konjunktionen (s. Janik „Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten“, in diesem Band) deutet auf eine geringere Zahl subordinierender Konstruktionen in den modernistischen Texten gegenüber den realistischen Texten hin. Laut Givón ist die quantitative Verteilung von koordinierten vs. subordinierten Sätzen wiederum zum Teil genreabhängig: Oral, informal face-to-face communication tends to have a higher proportion of conjoined clauses [conjoined 86 %; 14 % subordinate] while formal, written, academic discourse tends to have a higher proportion of subordinate clauses [conjoined 36 %; subordinate 64 %] (Givón 1990, 953).

Das heißt, die hier untersuchten modernistischen Texte kämen einem mündlichen Darstellungsstil näher als die realistischen Texte. Weniger Subordination besteht in den modernistischen Texten auch in spezieller Hinsicht auf die Repräsentation direkter Rede: Diese tritt in den realistischen Texten in der Mehrzahl der Fälle in syntaktisch subordinierter Form, eingebettet in eine Konstruktion mit einem Verb des Sagens, auf. In den modernistischen Texten hingegen steht direkte Figurenrede zu einem deutlich größeren Anteil syntaktisch unabhängig, uneingeleitet (s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus...“, in diesem Band). Schließlich steht auch der gegenüber den realistischen Texten auffällig häufige Gebrauch des satzinitialen I (‚und‘) im Einklang mit der für die modernistischen Texte festgestellten Kolloquialisierung. Parzellierungen dieser Art entstammen der mündlichen Syntax.

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2.2 Manipulative vs. deklarative Satztypen In dem Versuch, linguistisch fassbare Ausdrucksmittel zur Markierung von Sprecher- und Wahrnehmungspositionen zu bestimmen, wurde unter anderem die Anzahl von Frage- und Ausrufesätzen bestimmt, die potentiell auf „Erlebte Rede“ verweisen, also als unmittelbarer Ausdruck von Gedanken der Protagonisten aufgefasst werden können. Diese Satzarten kamen fast ausschließlich in den modernistischen, in sehr geringer Zahl auch in den realistischen Texten vor (s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus: Vom Realismus zum Modernismus...“, in diesem Band). Auch hierin zeigt sich die Tendenz zu einem stärkeren Gebrauch mündlicher Darstellungsformen im Modernismus: Zwar kann davon ausgegangen werden, dass deklarative Sätze in narrativen Texten den Normalfall ausmachen: “In both oral and written narrative centered on everyday human affairs, declarative clauses predominate” (Givón 1990, 955), wie auch für die hier untersuchten Texte gilt. Doch kann ein höherer Anteil „manipulativer“ Sätze, zu denen Ausrufe- und Fragesätze gehören (s. Givón 1990, 954), als ein Hinweis dafür aufgefasst werden, dass vom Default schriftlicher narrativer Texte in Richtung stärkererer Mündlichkeit abgewichen wird: In informal oral conversation or in the embedded dialogue within written narrative, the percent of non-declarative clauses is higher than in narrative, but still not predominant (Givón 1990, 955).

2.3 Situativität vs. Konnektivität Für die modernistischen Texte wurde bei der Untersuchung der Markierung von Sprecher- und Wahrnehmungspositionen ein deutlich häufigerer Gebrauch ausgewählter Lokal- und Temporal-Deiktika sowie ein häufigerer Gebrauch von „Egocentriki“ festgestellt (s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus...“, in diesem Band). Bei diesen Ausdrücken handelt es sich um Mittel, die überwiegend bzw. zusätzlich zu ihrer lexikalischen eine deiktische bzw. situative Orientierung (indexikalische Funktion) aufweisen; d.h. ihre Referenz ist in besonderem Maße situationsabhängig. Dabei handelt es sich allerdings, anders als bei face-to-face Kommunikation, in der Regel nicht um eine von Sprecher (Verfasser) und Hörer (Leser) geteilte Kommunikationssituation, sondern um die Situation der dargestellten Figuren: hier und jetzt verweisen dann auf situative Gegebenheiten, die erst im Text selbst aufgebaut werden.

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Diese Tendenz zum Ausdruck von Konnektivität mit deiktischen bzw. situativen Sprachmitteln in den modernistischen Texten geht einher mit einer Tendenz zu weniger originaler, nicht auf Ableitungen von Deiktika beruhender „Konnektivität“, die sich aus den Ergebnissen der Untersuchung zur Referenz ableiten lässt (s. Janik „Koreferenz in russischen Erzähltexten...“, in diesem Band): Hier wurde für die modernistischen Texte ein deutlich geringerer Gebrauch von Personalpronomen zur Personenreferenz zugunsten eines verstärkten Gebrauchs von Umschreibungen und Eigennamen festgestellt. Anaphorisch gebrauchte Pronomen wirken stärker konnektiv als Eigennamen und sind ein typisches Kohärenz-Mittel. Die realistischen Texte benutzen also stärker konventionelle Mittel der Konnektivität als die modernistischen. 2.4. Satzinitiale Positionierung von Adverbialia Die Untersuchung von Ausdrucksmitteln zur Markierung temporaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten (s. Janik „Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten“, in diesem Band) hat als ein Teilergebnis ergeben, dass in den modernistischen Texten Adverbialia, die diese Informationen ausdrücken, häufiger als in den realistischen Texten in satz- oder absatzinitialer Position auftreten. An diesen Positionen dienen Adverbialia häufig dazu, einen Wechsel hinsichtlich des betreffenden zeitlichen oder lokalen Rahmens zu markieren, wie eine Untersuchung Björklunds/Virtanens (1991) anhand russischer narrativer Texte speziell für temporale Adverbien bestätigt: Initial placement of temporal adverbials at crucial points of the text often functions as a necessary clue to the text-producer's text strategy. When these elements appear initially in the clause, sentence, or paragraph, they usually indicate a major or minor textual shift […]. (Bjöklund/Virtanen 1991, 98f)

Adverbiale würden wiederum nicht satz- oder absatz-initial platziert, wenn kein Wechsel stattfinde oder aber diese Funktion durch andere sprachliche Mittel bereits realisiert worden sei. Björklund/Virtanen (1991) gehen weiterhin davon aus, dass eine systematische und den LeserErwartungen gemäße Markierung der “text-strategy”, bei der also zum Beispiel Unterbrechungen räumlicher oder zeitlicher Kontinuität explizit gemacht werden, die Textverarbeitung auf Seiten des Lesers erleichtere. Insofern scheint die Tatsache, dass sich in den modernistischen Texten mehr Adverbiale an den entscheidenden satz- bzw. absatzinitialen Stellen finden, zunächst einmal überraschend, da vor allem Belyj bezüglich chro-

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nologischer Zusammenhänge weniger verständlich erscheint als Tolstoj. Dieser scheinbare Widerspruch wird jedoch auflösbar, wenn man Björklund/Virtanen (1991) in der Annahme folgt, dass mehr Informationen (zu zeitlichen und räumlichen Bezügen) gerade Folge eines insgesamt weniger idealtypischen narrativen Textaufbaus sein können: A systematic and expected marking of text-strategic continuity thus contributes to the ease of text processing. At the same time, however, a story that conforms to a prototypical narrative design, of course, contains less information than a text full of surprises, which, in terms of information theory, carries a lot of information. (Björklund/Virtanen 1991, 102)

Damit ließe sich die größere Häufigkeit satzinitialer Positionierungen von Adverbialia in den modernistischen Texten auch als Reflex auf eine insgesamt weniger durchsichtige, von einem narrativen Idealtypus stärker abweichenden Textstruktur erklären, die zusätzliche Informationen für den Leser nötig macht. 2.5 Granularität Zu den Epochenspezifika, die bei der linguistischen Untersuchung russischer realistischer und modernistischer Texte nicht fehlen dürfen, gehört auch die Granularität. Mittels dieser Kategorie wird erfasst, dass manche Verben eine bestimmte Handlung sehr deutlich, durchaus im sensumotorischen Sinne, in unserem kognitiven Verarbeitungsapparat wachrufen, während andere Verben eine Handlung seltsam diffus erscheinen lassen. Verben der ersteren Art heißen nach Marszk (1996) „feine Verben“, Verben der zweiten Art „grobe Verben“. Mästen zum Beispiel ist ein grobes Verb, satteln ein feines. Granularität ist jedoch nicht als eine Dichotomie zu verstehen, sondern als ein Kontinuum mit feinen, mittelfeinen, mittelgroben und groben Verben. Bei einem Vergleich des dem Realismus zuzurechnenden Romans „Anna Karenina“ von Lev Tolstoj und dem symbolistischen Roman „Peterburg“ von Andrej Belyj zeigte sich, dass in Anna Karenina eine insgesamt homogenere Granularität vorherrscht als in Peterburg. Während in Anna Karenina die in einer Textpassage beschriebenen Vorgänge von einer – meist feinen – Körnigkeit sind, können in Peterburg sehr feine Verben neben mittelgroben oder sehr groben stehen. In Anna Karenina werden Wechsel der Granularität durch bestimmte, schon als konventionell zu betrachtende Mittel wie Absatzeinfügung oder Beginn eines neuen

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Kapitels vorgenommen, in Peterburg hingegen können Granularitätswechsel auch relativ unvermittelt eintreten. 2.6 Taxis Die Untersuchung der beiden Kriterien „Häufigkeit der Taxisfälle mit redundanten sprachlichen Mitteln“ und „Häufigkeit der nicht-ikonischen Taxisfälle“ (s. Yevseyev, in diesem Band) vermittelt Erkenntnisse über den Status des Textes als k o n z e p t i o n e l l s c h r i f t l i c h oder k o n z e p t i o n e l l m ü n d l i c h (kolloquial). Sie legt nahe, dass der häufige Gebrauch redundanter Elemente bei der Wiedergabe temporaler Relationen ein Einzelfall der für die Schriftsprache typischen Explizitheit ist. Die Abweichungen von der natürlichen Ereignisreihenfolge werden nicht nur auf der Makroebene sichtbar, sie lassen sich auch auf der Mikroebene des Textes als nicht-ikonische Realisierung der Taxis erkennen. Realistische Romane, mit hohen Werten in beiden Parametern, zeigen damit Affinität zur schriftlichen Kommunikation. Dagegen haben viele modernistische Texte, z.B. Werke von Zosˇcˇenko, Zamjatin, Pil’njak, niedrige Werte in beiden Parametern. Konzeptionell mündliche Texte wie Volksmärchen und Heldenlieder haben ebenfalls niedrige Werte in den genannten Parametern. Das spricht dafür, diesen modernistischen Texten hinsichtlich der genannten Taxis-Parameter das Merkmal Kolloquialität zuzuweisen. 3. Epochenübergreifende Phänomene Neben den dargestellten Unterschieden in den Realisationen einzelner Parameter in den Texten der unterschiedlichen Epochen haben sich, anders als vermutet, für einzelne untersuchte Parameter epochenunabhängig recht stabile Resultate ergeben. Diese betreffen in erster Linie die Formen der Versprachlichung darzustellender Situationen und damit das Grundgerüst narrativer Texte (s. Yevseyev, in diesem Band), weiterhin die Korrelation von Referenzformen für belebte Aktanten und syntaktischer Funktion, in der diese Aktanten im Satz repräsentiert werden (s. Janik „Koreferenz in russischen Erzähltexten...“, in diesem Band), sowie die Verteilung verschiedener Adverbialtypen (s. Janik „Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten“, in diesem Band) und das Verhältnis von Passagen in direkter Rede zu solchen in Er-

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zählerrede (s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus...“, in diesem Band). 3.1 Narrativer Basismodus In den untersuchten modernistischen und realistischen Texten überwiegen gleichermaßen perfektiv-prätertitale, und damit die Aspekt-TempusFormen, die als einen „narrativen Basismodus“ (s. Lehmann, in diesem Band) realisierend aufgefasst werden können. Dabei handelt es sich um diejenigen Formen, die beim Ausdruck temporaler Kohärenz die zentrale Rolle spielen: “Temporal coherence – or event sequentiality – within the thematic paragraph [...] is coded grammatically by the less-marked sequential-preterit aspect” (Givón 1990, 965; kursiv i. O.). Givón kommt in seinem auf Markiertheitsoppositionen basierenden Ansatz zu dem gleichen Schluss wie Lehmann, indem er die Kombination der Modus- und Aspekt-Tempus-Formen “realis”, “perfective”, “preterit” als prototypisch für Narration ansieht: “This norm for tense-aspect-modality is in fact the transitive clause prototype, which predominates human action-oriented narrative” (Givón 1990, 963). Offenbar ist jedoch nicht nur die Verteilung der grammatischen Formen relativ epochenunabhängig stabil, sondern auch die für narrative Texte ebenfalls relevante Funktion der temporalen Definitheit („Episodizität“), wie sich im Vergleich von Textausschnitten aus Tolstojs Anna Karenina und Belyjs Peterburg überraschend deutlich abgezeichnet hat: Das Verhältnis episodischer Ereignisse, die im Russischen in narrativer Rede in der Regel durch perfektiv-präteritale Prädikate versprachlicht werden, zu episodischen Verläufen einerseits und stativen Situationen andererseits ist in den Texten fast identisch, wobei rund zwei Viertel auf die episodischen Ereignisse entfallen und je ein Viertel auf die beiden anderen genannten Gruppen (s. Janik „Zur Chronologie, Episodizität, Deflexion und Kontinuität“, in diesem Band).

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3.2 Adverbialtypen Epochenübergreifend stabile quantitative Verteilungen haben sich auch im Gebrauch von Adverbialia gezeigt (s. Janik „Markierungen temporaler, kausaler und lokaler Relationen zwischen Sachverhalten“, in diesem Band): So überwiegen in allen Texten Lokaladverbialia vor Temporaladverbialia und beide mit großem Abstand wiederum vor Kausaladverbialia. Auch wenn innerhalb der einzelnen Gruppen durchaus funktionale Varianz besteht (s. o.), so lässt sich diese Verteilung möglicherweise ebenfalls als Reflex auf allgemein gültige Konstituierungsbedingungen narrativer Texte auffassen, die wiederum rückführbar sein könnten auf aus kognitivlinguistischer Perspektive formulierte Prinzipien: So lässt sich vermuten, dass Temporaladverbialia und Kausaladverbialia deshalb in relativ geringerer Zahl auftreten, weil temporale und kausale Relationen zwischen Sachverhalten auch inferiert werden können, wohingegen lokale Relationen tendentiell eher explizit gemacht werden müssen. Dieser Schluss ließe sich zumindest aus dem von Givón formulierten “linear order principle” ziehen, das auf einem allgemeineren, auf kognitiv-linguistischen Erklärungsansätzen beruhenden „Ikonizitäts-Prinzip“ (einem Fall von Ordo naturalis) basiert: The linear order principle: The order of clauses in coherent discourse will tend to correspond to the temporal order of the occurrence of the depicted events. (Givón 1990, 971)

Das heißt, Sequentialität kann bereits aus der Anordnung von Situationsrepräsentationen im Satz erschlossen werden, worauf auch Björklund/Virtanen (1991) hinweisen: Signals of temporal text strategies differ in one important respect from signals of other stragies: the iconic temporal succession characteristic of the narrative – the ‘then‘ relation between the different actions and events of a story – may be left implicit on the textual surface. Explicit temporal markers are, strictly speaking, only needed when they signal a deviation from an iconic temporal sequentiality (cf. e.g., previously; meanwhile) or temporal adjacency (e.g., two weeks later) or when they have important textual functions such as the marking of a textual shift […]. (Björklund/Virtanen 1991, 99)

Auf entsprechende Weise werden zum Teil auch kausale Relationen erschließbar: [There is a] strong tendency to place the subordinate clause that codes the cause before the one that codes the effect, and the one that codes the condition before the one that codes its entailment. (Givón 1990, 971)

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Der Verweis auf diese Prinzipien ist jedoch nur eine indirekte Erklärung für die vorliegende stabile quantitative Verteilung der unterschiedlichen Adverbialtypen. Um diese, in erster Linie linguistisch interessante Frage nach den Gründen für diese Verteilung zu klären, wären weiterführende Untersuchungen auch an Texten anderer Sprachen nötig. 3.3 Korrelation von Satzgliedfunktionen und Referenzformen Bei der Untersuchung von Referenzformen hat sich ein epochenübergreifend tendentiell stabiles Verhältnis zwischen Form der Referenz (pronominal vs. Eigenname) und Satzgliedfunktion ergeben (s. Janik „Koreferenz in russischen Erzähltexten...“). Insgesamt, noch referenzformunabhängig, werden belebte Aktanten zu 60 % – 70 % in Subjektfunktion repräsentiert. Für die Aktanten, auf die durch Personalpronomina verwiesen wird, verschiebt sich dieses Verhältnis epochenübergreifend zugunsten der Objektfunktion: 40 % – 50 % der Personalpronomina, die auf belebte Aktanten verweisen, treten syntaktisch in Objektfunktion auf. Im Vergleich dazu treten nur 20 % – 30 % der durch Eigennamen repräsentierten belebten Aktanten in Objektfunktion auf. Es ist zu vermuten, dass sich diese spezifische Verteilung über nicht nur epochen- sondern sprachübergreifende Prinzipien der Markierung von thematischer Kontinuität (“topicality”, Givón 1990, 900ff.) in Texten und Diskursen erklären lässt. “Topicality” in diesem Sinne ist wiederum ein Kohärenzphänomen: Thematic coherence across a multi-clause chain means continuity (,recurrence‘) of the sub-elements of coherence, chief among which are the referents/topics. (Givón 1990, 902; Hervorhebg. i.O.)

Dabei können gerade (anaphorische) Pronomen neben Null-Markierungen aufgefasst werden als “cognitively the least-marked – default – referentcoding device” (Givón 1990, 961). Gerade kontinuierliche (vorerwähnte) thematische Referenten würden in der Regel durch Pronomen realisiert. Pronomen fungieren also tendentiell als Kontinuitätsmarker, wohingegen volle Nominalphrasen, zu denen auch Eigennamen gehören, per Default Diskontinuität anzeigen (Givón 1990, 937; 961). Auf diese Grundannahme bezogen lassen sich obige Ergebnisse, dass als Pronomen realisierte Referenten häufiger in Objektfunktion auftreten als durch Eigennamen realisierte, tentativ damit erklären, dass die Realisierung eines Referenten in grammatischer Objektfunktion typischerweise mit Vorerwähntheit („thematischer Kontinuität“) korreliert. Diese Vermutung wäre jedoch an den Daten erneut zu überprüfen.

Zusammenfassung und Diskussion

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3.4 Erzählerrede und Figurenrede Interessant ist schließlich auch, dass das Verhältnis der Passagen direkter Rede zu Erzählerrede (in Zeichen bemessen) textübergreifend tendenziell konstant ist (s. Janik „Vom Realismus zum Modernismus...“). Zwar bestehen Unterschiede in der Art der Präsentation direkter Rede (s. o.); doch lässt der relativ gleich bleibende Anteil direkter Rede in den Texten den Schluss zu, dass es lohnend wäre, anhand eines größeren Korpus zu untersuchen, ob diesbezüglich tatsächlich eine Art „natürliches“ Gleichgewicht für narrative Texte angenommen werden kann. Ein besonders großer Anteil direkter Rede ließe die Frage aufkommen, um welche Gattung es sich bei dem betreffenden Gesamttext handelt. 4. Ausblick Die linguistische Untersuchung russischer realistischer und modernistischer Erzähltexte hat vielfältige Aspekte abgedeckt, die in einzelnen Fällen deutliche, in anderen Fällen tendentielle Unterschiede zwischen den Epochen zugeordneten Texten gezeigt haben. Die Ausgangshypothese, dass sich mit textlinguistischen Mitteln epochenspezifische Stile zum Teil quantifizieren lassen, hat sich damit im Ansatz bestätigt. Die unternommenen Untersuchungen ließen sich jedoch in verschiedene Richtungen ausweiten. Zum einen wäre es interessant, anhand eines größeren Korpus diejenigen Parameter zu untersuchen, die quantitativ stabile Ergebnisse gezeigt haben (Aspekt-Tempus-Formen, Aspekt-Funktionen). Aufgrund einer noch größeren Textbasis ließe sich im Einzelnen begründeter von epochenunabhängigen, möglicherweise auch universell für narrative Texte gültigen Prinzipien sprechen. Entsprechendes gilt für die Parameter (Koreferenz, Syntax, Sprech- und Wahrnehmungspositionen), die Unterschiede zwischen den Texten ergeben haben, die als epochenspezifisch angesehen werden können. Abgesehen von einer Ausweitung der Datengrundlage wäre es für die Parameter lohnenswert, qualitative Analysen anzuschließen, um die Bedingungen für sich abzeichnende Unterschiede bzw. Übereinstimmungen genauer zu fassen. Dies betrifft zum Beispiel die Frage nach der Funktion unterschiedlicher Referenzformen als Marker für “topicality” sowie die Funktionen der satzinitial positionierten Adverbialia. Lohnenswert scheint nach wie vor, weitere linguistische Parameter hisichtlich ihres Beitrags zum Ausdruck von „Perspektive“ zu untersuchen, was hier zum Beispiel für Aspekt-Tempus-Formen noch nicht un-

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Christina Janik / Volkmar Lehmann

ternommen wurde, jedoch vor dem Hintergrund anderer linguistischer Untersuchungen zu narrativen Texten lohnenswert scheint (Fleischman 1990). Auch wäre die Frage weiter zu verfolgen, wie TextgattungsSpezifika und Epochen-Spezifika in Bezug zueinander stehen. Die Untersuchung von Yevseyev (2003) deutet darauf hin, dass durch eine bestimmte Gattung bedingte Merkmale quer zu Erwartungen an einen Text aufgrund seiner Epochenzugehörigkeit liegen. Insgesamt scheint es fruchtbar, (korpus-)linguistische Methoden im Schnittfeld von Literatur- und Sprachwissenschaft zum Einsatz zu bringen. 5. Literatur Björklund, M., Virtanen, T. 1991. Variation in narrative structure. A simple text vs. an innovative work of art. Approaches to the analysis of literary discourse. Hrsg. von E. Ventola. Åbo, 95–118. Fleischman, S. 1990. Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction. Austin. Givón, T. 1990. Syntax. A functional-typological introduction. Vol. II. Amsterdam/Philadelphia. Gutschmidt, K. 1995. Der Begriff der Tendenz in der Slawischen Sprachwissenschaft. Das Russische in seiner Geschichte, Gegenwart und Literatur. Hrsg. von W. Gladrow. München, 52–69. Lehmann, V. 2003. Alternationen der situativen und konnektiven / narrativen Orientierung. Slavistische Linguistik 2001. Hrsg. von G. Freidhof. München, 169–187. Marszk, D. 1996. Russische Verben und Granularität. München. Yevseyev, V. 2003. Ikonizität und Taxis: Ein Beitrag zur Natürlichkeitstheorie am Beispiel des Deutschen und Russischen. Frankfurt am Main u. a. Wiemer, B. 1997. Diskursreferenz im Polnischen und Deutschen (aufgezeigt an der Rede ein- und zweisprachiger Schüler). München.