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German Pages 341 [344] Year 1972
Harald Burger Zeit und Ewigkeit
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Studia Linguistica Germanica Herausgegeben von Ludwig Erich Schmitt und Stefan Sonderegger
6
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972
Harald Burger
Zeit und Ewigkeit Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
© I S B N 3 11 003995 8 Library of Congress Catalog Card Number: 74—174177 C o p y r i g h t 1972 b y W a l t e r de G r u y t e r & C o . , v o r m a l s G . J . GÖschen'sche V e r l a g s h a n d l u n g — J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung — G e o r g R e i m e r — K a r l J . T r ü b n e r — V e i t ÖC C o m p . , B e r l i n 3 0 — P r i n t e d in G e r m a n y — A l l e R e c h t e der U b e r s e t z u n g , des Nachdrucks, der photomechanischen W i e d e r g a b e und der A n f e r t i g u n g von M i k r o f i l m e n — audi auszugsweise — v o r b e h a l t e n S a t z : Hagedornsatz, Berlin * Druck: Saladruck, Berlin
Für den Igel
Vorbemerkung Die vorliegende Abhandlung, im Sommer 1969 abgeschlossen, wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen. Zu danken habe idi insbesondere meinem Lehrer Stefan Sonderegger für seine persönliche und wissenschaftliche Anteilnahme am Gelingen der Arbeit, sodann meinem Freund Rolf Grüner, dessen Dissertation über den Zeit-Wortschatz des Altenglischen sich im Druck befindet, für viele anregende Diskussionen. Frl. cand. phil. Rea Brunner und Herrn Dr. Werner Koller danke ich für das Mitlesen der Korrekturen. Die Arbeit hätte in diesem Rahmen nicht erscheinen können ohne den großzügigen finanziellen Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung. Den Herausgebern der „Studia Linguistica Germanica" bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe zu Dank verpflichtet.
Inhalt Einleitung 1. AIthodideutsche Texte außer Notker
1 18
1.1. Die Zeit-Termini 1.1.1. frist 1.1.2. hwila 1.1.3. stunta 1.1.4. zit
18 18 37 44 55
1.2. Übersidit über den Gebrauch der vier Zeit-Substantive 1.2.1. Glossen 1.2.2. Lateinisdie Äquivalente der Übersetzungstexte 1.2.3. Bedeutungszonen in Otfrids Evangelienbuch 1.2.4. Wortgeographie 1.2.5. Syntaktische Verwendbarkeit 1.2.6. Numerusgebrauch 1.2.7. Die temporale Deixis und ihre Sonderstellung
88 88 89 90 91 92 93 94
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag 1.3.1. weralt 1.3.2. tag
98 98 122
1.4. Ewigkeit in der Sprache der Bibel
130
1.5. Die Ewigkeitstermini 135 1.5.1. emazzig 135 1.5.2. ewig 144 1.5.3. ebanewig 152 1.5.4. ewin (Adjektiv und Substantiv) 153 1.5.5. ewinig 156 1.5.6. simblig 161 1.5.6.1. simblig in den Murbadier Hymnen 161 1.5.6.2. Vergleich mit den konkurrierenden Adjektiven/Adverben 162 1.5.7. ewa/ewo 164 1.5.8. ewida 177 1.5.9. ewinigi 179
X
Inhalt 1.6. Übersicht über die Ewigkeitsterminologie
179
1.7. io/iomer
182
1.8. Die Brot-Bitte des Vaterunsers
187
2. Notker der Deutsche
198
2.1. Die Zeit-Termini 2.1.1. frist 2.1.2. wila 2.1.3. stunta 2.1.4. zit
199 199 201 202 202
2.2. Der Zwischenbereich 2.2.1. werlt 2.2.2. tag
209 209 219
2.3. Die Ewigkeitstermini 2.3.1. emezig 2.3.2. ewig 2.3.3. ebenewig 2.3.4. ewa 2.3.5. ewigheit
226 226 227 233 234 240
2.4. io/iomer
244
2.5. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie 252 2.5.1. Philosophiegeschichtlicher Exkurs 252 2.5.2. Notkers Begrifilichkeit im ,Psalter' und im .Boethius' 265 3. Williram von Ebersberg
269
4. Geistliche Texte der frühmhd. Zeit
273
4.1. Die Zeit-Wörter 4.1.1. frist 4.1.2. wile 4.1.3. stunde 4.1.4. zit
275 275 276 278 280
4.2. Übersicht über den Gebrauch der vier Zeit-Substantive
282
4.3. Der Zwischenbereich 4.3.1. werlt 4.3.2. tac
284 284 286
Inhalt
XI
4.4. Die Ewigkeitstermini 4.4.1. ewic 4.4.2. ewe 4.4.3. ewicheit
289 289 296 298
4.5. iemer
299
5. Die beiden Aeonen
303
6. Ausbiidt
314
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
324
Einleitung Die Zeit und Ewigkeit Du sprichst: Versetze dich aus Zeit in Ewigkeit! Ist denn an Ewigkeit und Zeit ein Unterscheid? (Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann I 188) Wenn Angelus Silesius seine sprachmystischen Paradoxe nicht zuletzt aus dem Spiel mit den Begriffen Zeit und Ewigkeit bezieht, so ist ihm durch die Sprache bereits ein Vokabular mitgegeben, das eine unmittelbare Entgegensetzung der beiden Wörter erlaubt. In den ersten Jahrhunderten deutscher Oberlieferung wäre ein solches Sprachspiel kaum möglich gewesen, weil es statt des e i n e n Gegensatzes eine ganze Reihe von terminologischen Versuchen gab, die beiden Begriffe der christlichen Theologie sprachlich zu fassen. Erst am Ende der ahd. Zeit, mit Notker dem Deutschen, kristallisieren sich zit und ewigheit als die beiden zentralen Termini im Bereich theologisch-philosophischer Zeit-Spekulation heraus, und noch in mhd. Texten ist das Paar Zeit und Ewigkeit keineswegs zur verfügbaren Formel geworden. Die Religion der Germanen kennt eine solche Zweiteilung nicht. Für den Germanen ist auch die Welt der Götter zeit-immanent, eine zeitlose Ewigkeit bleibt gänzlich außerhalb des Horizontes germanischer Religion und Mythologie 1 . Erst mit der Adaptation christlicher Texte, mit Bibelübersetzung und vor allem mit Bibeldeutung, geschieht etwas wie eine ,Polarisierung 1 der überkommenen germanischen Temporalbegriffe und neuer, durch das Bedürfnis des Obersetzens notwendig gewordener Termini. Ohne den sprachgeschichtlichen Befund vorwegzunehmen, wird man eine gewisse Teleologie der Entwicklung in diesem
1
Vgl. Werner Betz, Die altgermanische Religion, in: Deutsche Philologie im A u f riß I I I , 1547—1646, Berlin 1967 (unveränderter Nachdruck der 2. Aufl. 1962), besonders 1640: „Eine der Hauptschwächen der spätgerm. Religion bestand in ihrer metaphysischen Ausweglosigkeit. U n d z w a r galt das sowohl f ü r den Einzelnen wie f ü r die Welt im ganzen. Die Welt ging in den R a g n a r ö k mitsamt den Göttern, mitsamt Walhall u n d den Einherjern unter. Danach k a m n i c h t s . . ; H e l m u t de Boor, Die religiöse Sprache der Völospä u n d v e r w a n d t e r D e n k m ä l e r , Deutsche Islandforschung 1930; Ladislaus Mittner, Sein u n d W e r d e n in der Gotenbibel, Schicksal u n d W e r d e n im Altgerm., W ö r t e r u n d Sachen N . F . 2 (1939) 193—215, 253—280; J a n de Vries, D e r heutige Stand der germ. Religionsforschung, G R M 33 (1951) 1—11.
1
Burger, Zeit
Einleitung
2
Wortbereich vermuten dürfen. Damit ist einem methodischen Mißgriff bereits vorgebeugt: Die erste Frage ist nicht: w o und in welcher Gestalt begegnen uns deutsche Entsprechungen für lat. a e t e r n i t a s und t e m p u s ? Vielmehr ist der auslösende Gedanke der Studie eine naive sprachgeschichtliche Feststellung: zwei lexikalische Zustände der deutschen Sprache mit einem Abstand v o n einigen hundert Jahren bieten sich als strukturell total verschieden dar. Die simple Frage stellt sich: Wie kam es zu dieser auffälligen Verschiebung? Wie bei allen einfachen wissenschaftlichen Fragen enthüllt sich auch hier das eigentliche Problem als ein Komplex v o n Fragen, und möglicherweise gar als falsch gestellte Frage. Wer die sprachwissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte überschaut, wird unsere Fragestellung nicht mehr unbefangen als sinnvoll hinnehmen können. Alles, was zum Problem des Wortfeldes gesagt wurde, wäre hier noch einmal zu sagen. Doch ersparen wir uns eine solche Diskussion — zum einen, weil wir glauben, daß der Sinn einer Frage und die Richtigkeit des Weges am Ergebnis zu messen sind, zum andern, weil in jüngster Zeit eine Reihe ausgezeichneter zusammenfassender und kritischer Darstellungen der Wortfeldtheorie erschienen sind 2 . Anstatt das dort Referierte und Erarbeitete zu wiederholen, seien nur einige Punkte skizziert, die für die Methode und den Rahmen der folgenden Untersuchung richtungweisend sein sollen: 1. Es scheint uns an der Zeit, den Faden, den Jost Trier nach der heftigen Kritik an seinem epochemachenden Frühwerk aus der H a n d ließ, wieder auf2
Vor allem: K u r t Gabka, Theorien zur Darstellung eines Wortschatzes. Mit einer Kritik der Wortfeldtheorie, Halle (Saale) 1967; Stephen Ullmann, Grundzüge der Semantik (Deutsche Fassung von Susanne Koopmann), Berlin 1967, 144 ff.; H a n s Schwarz, Leitmerkmale sprachlicher Felder. Ein Beitrag zur Verfahrensweise der Gliederungsforschung, in: Sprache, Schlüssel zur Welt, Festschrift f ü r Leo Weisgerber, Düsseldorf 1959, 245—255; Helmut Gipper / H a n s Schwarz, Bibliographisches Handbuch zur Sprachinhaltsforschung, Köln 1961, Einleitung; Suzanne ö h mann, Wortinhalt und Weltbild. Vergleichende und methodologische Studien zu Bedeutungslehre und Wortfeldtheorie, Stockholm 1951, Einleitung. Eine ganz ausgezeichnete Auseinandersetzung auch mit der angelsächsischen Literatur zu Feld-Problemen bietet Leslie Seiffert, Wortfeldtheorie und Strukturalismus. Studien zum Sprachgebrauch Freidanks (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 4) Stuttgart 1968. Auch in jüngeren lexikologischen Arbeiten zum Deutschen sind die theoretischen Probleme teilweise ausführlich erörtert, z . B . : Gertraud Becker, Geist und Seele im Altsächsischen und im Althochdeutschen, Heidelberg 1964; Eis Oksaar, Semantische Studien im Sinnbereich der Schnelligkeit (Stockholmer Germanistische Forschungen 2), Stockholm 1958; Inger Rosengren, Inhalt und Struktur. M i h i und seine Sinnverwandten im Althochdeutschen, Lund 1968. Immer noch lesenswert wegen der treffenden Argumente gegen die feldartigen Studien Paul Wahmanns (Gnade — Der althochdeutsche Wortschatz im Bereich der Gnade, Gunst und Liebe, Berlin 1937) ist die Rezension von H e r m a n n Kunisch, A f d A 57 (1938) 148—155.
Einleitung
3
zunehmen 3 . Dies kann nur sinnvoll sein, wenn die Trierschen Postulate in derjenigen Metamorphose erscheinen, die durch den "Wandel linguistischer WortTheorie bedingt ist. Die Fragestellung ist nur dann sprachgerecht, wenn sie durch die Sprache selbst, nicht aber durch anachronistische Begrifflichkeit oder durch sprachfremde Problematik gegeben ist. Ein scholastisches Begriffsschema kann daher für unsere Untersuchung keinesfalls Ausgangspunkt sein, ebensowenig wie etwa die Frage nach einem ,Zeiterlebnis' in der ahd. Literatur. Dann bleibt die schwierige Frage, wie der Bereich des zu Untersuchenden einzugrenzen sei. Die Antwort kann nicht mehr theoretischer Art sein, soll sie sich nicht in einem Zirkel verfangen. Ebenso pragmatisch wie vorläufig ist zu sagen, daß der Rahmen der Untersuchung, der Umkreis beobachteter Wörter sich aus — so hoffen wir — unvoreingenommener Lektüre ergab. Nicht weiter ableitbar ist natürlich der Gesichtspunkt, unter dem die Texte gelesen wurden: die Frage nach Wörtern, die etwas wie unser neuhochdeutsches ,Zeit' bezeichnen, und die Frage nach etwaigen Gegensätzen oder Korrelationen. Aus diesem hermeneutischen Zirkel gibt es keinen Ausweg. Aber über die möglichen Strukturen des Bereiches sollte möglichst wenig präjudiziert werden. So werden im folgenden für die jeweilige Etappe einzelne Wörter monographisch abgehandelt, wobei ein Wort auf das andere verweist. Diese sprachimmanenten Verweise werden nach den Einzeldarstellungen gruppenweise zusammengefaßt, damit ein Überblick möglich ist. Das ,Sich-von-der-Spracheleiten-lassen' bedeutet aber auch eine Offenheit in Hinsicht der einzubeziehenden Wortarten. Während Wortschatzuntersuchungen zum älteren Deutsch sich vorwiegend mit e i n e r Wortart beschäftigen, sollen hier Substantive, Adjektive und auch Adverbien, soweit es sprachliche Korrelationen erfordern, einbezogen werden. Verben dagegen können nur insofern in den Blick treten, als sie in ,typischen Kollokationen' (s. u.) mit den untersuchten Nomina auftreten. Um den Bereich der in Frage kommenden Wörter in überschaubaren Grenzen zu halten, wurde eine Vorentscheidung getroffen, die aus rein innersprachlichen Abgrenzungen nur schwer zu begründen wäre: Nur solche Wörter sind berücksichtigt, die nicht Zeit im konkreten Sinn der Zeitmessung, der Tages-, Wochen-, Jahreseinteilung bezeichnen, sondern sich auf weniger gebundene Zeitvorstellungen beziehen. Selbstverständlich ist hier der Ubergang vom Kon3
l»
Jost Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes. Bd. I, Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. J a h r hunderts, Heidelberg 1931. Spätere Arbeiten Triers zeigen eine deutliche Tendenz zu mehr etymologisch gerichteter Forschung, die sich stärker an den ,Sachen' als an sprachimmanenten Strukturen orientiert: Zaun und Mannring, P B B 66 (1942) 2 3 2 — 2 6 4 Lehm. Etymologien zum Fachwerk, Marburg 1951 Wonne, in: Sprache, Schlüssel zur Welt, Festschrift Leo Weisgerber, Düsseldorf 1959, 2 2 9 — 2 4 4 Nemus. W W 3. Sonderheft, Festgabe für H . Brinkmann, 1961, 2 5 — 2 9 Venus. Etymologien um das Futterlaub, Marburg 1963
Einleitung
4
kreten zum Abstrakten fließend, ein und dasselbe W o r t kann in verschiedenen Kontexten einmal einen chronometrischen Begriff, ein andermal eine nicht genau begrenzte Zeitspanne oder auch einen Zeitpunkt benennen, so wie es noch heute etwa beim W o r t Stunde mehr oder weniger gängig ist. Solche Wörter, die über die konkrete Zeiteinteilung hinaus auf abstraktere Zeit-Vorstellungen übergreifen, sind in den Rahmen der Untersuchung einbezogen. In diesen Fällen richtet sich der Blick v o r allem auf den Punkt des Ubergangs in den abstrakten Bereich, genauer: auf die Bedingungen, unter denen das W o r t im abstrakten Sinn verwendbar ist. Konkret/abstrakt sind in sprachlichen U n tersuchungen nur behelfsmäßige Termini, da sie aus logischer Begrifflichkeit stammen, die der sprachlichen Realität selten gerecht wird. (Über diese Begriffe werden im Laufe der Studie einige kritische Bemerkungen zu machen sein, wie sie sich aus den semantischen Befunden ergeben) 4 . Vorläufig sollen sie nur dazu dienen, dem beobachteten Wortbereich einen Titel zu geben. Für den k o n kreten' Wortschatz des Deutschen, f ü r sprachliche Tageseinteilung, Wochentagsbezeichnungen usw., liegen eine Reihe vorzüglicher Arbeiten vor, die z w a r von den heutigen Mundartverhältnissen ausgehen, aber meist auch einen Rückblick auf die ältere Sprache bieten 5 . Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden beigezogen, soweit sie f ü r unsere Fragestellung relevant sind.
4
5
Zum Abstraktum in der Sprache vgl. Walter Porzig, Die Leistung der Abstrakta in der Sprache, in: Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik (Wege der Forschung X X V ) , Darmstadt 1962, 255—268 (zuerst erschienen in: Blätter für deutsche Philosophie 4, 1930/31, 66—77); vgl. neuerdings auch Herbert Kolb, Pluralisierung des Abstraktums. Ueber Rekonkretisierungstendenzen im Abstraktwortschatz des Deutschen. ZfdSpr. 25 (1969) 21—36. Dietmar Wünschmann, Die Tageszeiten — Ihre Bezeichnung im Deutschen (Marburger Beiträge zur Germanistik 16), Marburg 1966, mit reicher Bibliographie; Georg Stötzel, Die Bezeichnungen zeitlicher Nähe in der deutschen Wortgeographie von ,dies Jahr' und ,voriges Jahr' (Marburger Beiträge zur Germanistik 5), Marburg 1963; Maria Tallen, Wortgeographie der Jahreszeitnamen in den germanischen Sprachen, DWF II Gießen 1963,159—222; Arthur D.Avedisian, Zur Wortgeographie und Geschichte von Samstag/Sonnabend, DWF II, Gießen 1963, 232 ff.; Zdenek Masarik, Zur spätmittelalterlichen Wortgeographie. Die Wochentagsnamen der deutschen Kanzleisprache des 14.—16. Jahrhunderts in Mähren, ZfMf. 34 (1967), 281—289. Von älterer Literatur sei genannt: Valentin Hintner, Einige bemerkenswerte Ausdrücke in mhd. Urkunden bei Bezeichnung der Zeit, des Tages und der Feste, ZfdW 10 (1908/09) 38—44; Oskar Weise, Stundenbezeichnungen in den deutschen Mundarten, ZfdMaa. 1910, 260 ff. Zur kulturgeschichtlichen Entwicklung der Zeitrechnung und Zeiteinteilung verweise ich auf: Gustav Bilfinger, Untersuchungen über die Zeitrechnung der alten Germanen. I. Das altnordische Jahr, in: Programm des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums in Stuttgart, Stuttgart 1899, 1—97; derselbe, Der bürgerliche Tag, Untersuchungen über den Beginn des Kalendertages im classischen Altertum und im christlichen Mittelalter, Stuttgart 1888; ders., Die mittelalterlichen Hören und die modernen Stunden. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Stuttgart 1892; K.Dienst, E. Hertzsdi, E. Jammers, Stundengebet, in: Religion in Geschichte und Gegenwart,
Einleitung
5
Ausgeklammert bleiben in dieser Arbeit Wörter im Sinnbereich von Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, die einer eigenen Studie bedürfen. Nach einer Analyse der in Frage kommenden Wörter im ,abstrakten' Zeitbereich sollen Bezeichnungen für ,endlose Dauer', ,Ewigkeit' untersucht werden, wobei sich begriffliche Differenzierungen und eventuell philosophische Gedankengänge anhand der semantischen Einzelbeobachtungen ergeben. Dabei sind, neben den eigentlichen Neubildungen, vor allem die Fälle interessant, wo durch bestimmte sprachliche Strategien mit Hilfe von Zeit-Wörtern die Vorstellung endloser Dauer evoziert wird. 2. Nun kann sich die Frage nach dem Wortschatz für Zeit und Ewigkeit nicht in innersprachlichen Analysen erschöpfen. Mit dem linguistischen wird zugleich ein theologisch-philosophisches Problem akut, das auch von unserer Arbeit nicht fernzuhalten ist. Ohne ein gewisses Verständnis der geistesgeschichtlichen Hintergründe lassen sich für diesen sprachlichen Bereich keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Der Grund liegt — abgesehen von allgemein sprachtheoretischen Implikationen — in der besonderen Überlieferungslage und geschichtlichen Bedingtheit der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Vor allem für die ersten Jahrhunderte springt ein Faktum in die Augen: Deutsche Literatur ist fast ausnahmslos in unmittelbarer Abhängigkeit von lat. Vorbildern entstanden, und im Rahmen des ungeheuer reichen lat. Schrifttums stellen die deutschen Denkmäler nicht mehr als eine winzige Insel dar. Die erhaltenen deutschen Texte der ahd. Periode sind zudem nach ihrer literarischen Gattung unter wenigen Stichwörtern zu fassen. Strenge Theologie wird dabei selten geboten, und auch für die mhd. Zeit ist im engeren Sinne Theologisches nur in Ubersetzungen aus dem Lateinischen überliefert, während die weltliche Literatur — durch französischen Anstoß — seit dem 12./13. Jahrhundert rasch Eigenständigkeit und Vielfalt der Ausdrucksformen gewinnt. Philosophie in deutscher Sprache vollends — falls wir überhaupt das Recht haben, sie in dieser Zeit von der Theologie zu trennen — begegnet, abgesehen von der einsamen Übersetzungsleistung Notkers I I I . von St. Gallen, erst wieder im Spätmittelalter. Bei dieser Lage der mittelalterlichen deutschen Literatur fragt es sich, ob Bd. VI, 4 3 1 — 4 3 7 , Tübingen 1 9 6 2 ; Corbinian Gindele, Die Struktur der N o k t u r nen vor und um St. Benedikt, Revue Bénédictine 6 4 (1954) 9 — 2 7 ; ders., Gestalt und Dauer des vorbenediktinischen O r d o Officii, Revue Bénédictine 66 (1956) 3 — 1 3 ; H . und O. Grotefend, Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 8 1 9 4 1 ; Franz Lehner, Die mittelalterliche Tageseinteilung in den österreichischen Ländern, Innsbruck 1911. Ueber die Zeitrechnung der Primitiven: Ewald Fettweis, Orientierung und Messung von Raum und Zeit bei Naturvölkern, Studium Generale 11 ( 1 9 5 8 ) 1 — 1 2 ; Walter Hirschberg, Die Zeitrechnung der Buschmänner und Hottentotten, in: Die Wiener Schule der Völkerkunde, Horn-Wien 1956, 2 1 8 — 2 3 6 ; Martin P. Nilsson, Primitive Time-Redtoning. A Study in the Origins and First Development of the Act of Counting Time Among the Primitive and E a r l y Culture Peoples, Skrifter utgivna av humanistiska vetenskapssamfundet I, Lund 1920.
6
Einleitung
überhaupt eine selbständige Darstellung dieses Schrifttums auf das Problem der Zeit hin möglich und sinnvoll ist. Wir haben daher unsere Fragestellung zu präzisieren. Untersucht werden soll, (1) wie sich im Ahd. ein Wortschatz für den Problembereich von Zeit und Ewigkeit aufbaut; (2) welche Ideen über Zeit und Ewigkeit in der Abfolge der deutschen Texte begegnen. Die beiden Fragen bedingen sich gegenseitig: die Wortschatzuntersuchung kann nur dann geistesgeschichtliche Ergebnisse zeitigen, wenn der geistige Raum eröffnet wird, aus dem die einzelnen Texte und ihre Terminologie erwachsen; wie umgekehrt der geistesgeschichtliche Standort eines Textes nur im genauen Rekurs auf den Sinn des jeweiligen Terminus zu erfassen ist. Da mit dem Einsetzen der weltlichen, zumal höfischen Literatur des Hochmittelalters ein literarischer Bereich ans Licht tritt, der unter dem Eigengesetz seiner Gattung steht und mit anderen literarkritischen und ideengeschichtlichen Methoden beschrieben werden muß als die Literatur der vorangehenden Zeit, empfiehlt sich vorerst eine Beschränkung der Untersuchung auf die geistliche Literatur der ahd. und frühmhd. Zeit. Da nun die geistlichen Texte in deutscher Sprache in ideengeschichtlicher Hinsicht nur geringe Eigenständigkeit besitzen, ist ein Rückgang zur frühchristlichen und mittelalterlichen lat. Theologie unerläßlich. Die Skizzierung dieser Hintergründe soll aber nur so weit stattfinden, als es die Problematik der d e u t s c h e n Texte erfordert. Somit zielen unsere Studien nicht auf eine Geschichte der mittelalterlichen philosophisch-theologischen Deutung von Zeit und Ewigkeit ab, sondern auf eine Geschichte der Uebernahme dieser Ideen in deutsche Sprachform. Ideengeschichte und Ueberlieferungsgeschichte aber laufen im deutschsprachigen Schrifttum des Mittelalters keineswegs synchron, da die deutsche Sprache nur zögernd für fähig und würdig befunden wird, Theologisches auszusagen. Darzustellen ist also das blockhaft und unkontinuierlich sich vollziehende Eintreten bestimmter Ideenkomplexe in deutsche Texte, sodann die daraus resultierende Neugewinnung innersprachlicher Möglichkeiten für das Deutsche6. Die ideengeschichtlichen Probleme stellen sich vorwiegend im zweiten unter-
6
Ingeborg Schröbler, N o t k e r III. von St. Gallen als Uebersetzer und Kommentator von Boethius' De Consolatione Philosophiae (Hermaea 2), Tübingen 1953, 131, weist darauf hin, daß f ü r die ahd. theologische Literatur überhaupt nur ganz bestimmte, leicht überschaubare Komplexe der christlichen lat. Literatur relevant werden: Symbola, Psalmen, Bibel, kleine Bereiche der Patristik. Ueber das Christliche hinaus eine bescheidene Aneignung antiker philosophischer Texte. Im hohen Mittelalter dann treten auch scholastische Autoren und in zunehmendem Maße Mystiker, damit auch neuplatonisch-spätantike Gedankengänge in den Bereich der deutschen Sprache. Diese ,Schübe' lateinischer Einflüsse gilt es sorgfältig zu scheiden und in ihrer geschichtlichen Reihenfolge aufzuweisen.
Einleitung
7
suchten Wortbereich, den Termini für ,Ewigkeit', da die Zeit in allen diesen Texten immer nur im Hinblick auf die Ewigkeit verstanden ist. So geht es bei der Darstellung des ersten lexikalischen Bereiches primär um intern-linguistische Fragen, die erst sekundär auch ideengeschichtlich relevant werden. Eine Beschränkung auf geistliche Texte wird nicht nur durch die literarische Situation des frühen deutschen Mittelalters, auch nicht nur durch die mit dem Problem der ,Ewigkeit' gegebene theologische Fragestellung, sondern nicht zuletzt durch die grundlegende Tatsache gerechtfertigt, daß der Abstraktwortschatz des älteren Deutsch vor allem durch die Sprache der Religion geprägt wird. Und innerhalb der Sprache der Religion ist es wiederum der Wortschatz, der — mehr als andere linguistische Bereiche — Aussagen über sprach- und geistesgeschichtliche Vorgänge erlaubt. Eine Stilistik der religiösen Sprache, die sich auch auf syntaktische Phänomene erstreckt, wäre zwar ein Desiderat der sprachhistorischen Forschung, doch fehlen dafür vorläufig noch die angemessenen Kategorien'. Wenn die ahd. Literatur ein Konglomerat von fast zufälligen Einzelleistungen darstellt, so sollte man annehmen, daß es vermessen wäre, von ,der religiösen Sprache' der Epoche zu sprechen. Doch bei aller Resignation gegenüber der Überlieferung lassen sich Wege finden, über das Einzelne zu allgemeineren Beobachtungen vorzudringen: Einmal sind die Ergebnisse nach literarischen Gattungen (Bibelübersetzung, Bibeldichtung, Katechetik usw.) zu scheiden und gesondert zu prüfen. Dabei wird sich zeigen, daß bestimmte Gattungen einheitlichere Wortverteilungen aufweisen, die möglicherweise auf andere Gattungen einwirken usw. Zum andern ermöglicht ein Hinüberführen der Untersuchung über das Ahd. hinaus in den Raum frühmhd. Dichtung die Identifizierung deutlicher sprachlicher Tendenzen. In einem zusammenschauenden Kapitel über ,Die beiden Aeonen' lassen sich Schlüsse ziehen auf eine durchschnittliche (um nicht zu sagen volkssprachliche) Redeweise im Bereich der Religion. Selbst innerhalb eines separaten literarischen Komplexes, wie ihn das Werk Notkers darstellt, sind aus dem größeren geschichtlichen Überblick mehr volkssprachige und mehr gelehrt-vereinzelte lexikologische Bestände zu scheiden. Damit ist zugleich die
7
Als eine erste, inhaltsbezogene Uebersidit über die Probleme der religiösen Sprache, besonders im Bereich des deutschen Wortschatzes, kann die Arbeit von H u g o Moser gelten: Sprache und Religion — Zur muttersprachlichen Erschließung des religiösen Bereiches, W Beiheft 7, Düsseldorf 1964. Moser schreibt zum Vorrang lexikalischer Probleme in diesem Bereich: „Wir stellen den Wortschatz in den Vordergrund und müssen Fragen des Satzbaus, vor allem des Sprachstils, hier ausklammern; am Wortschatz lassen sich im übrigen auch die Wesenszüge wie die Entwicklung der Sprache der Religion am besten ablesen" (8). U n d zur Relevanz der religiösen Sprache für die Genese von Sprache überhaupt bemerkt er: „Die Religion ist nicht nur ein beliebiger oder auch wichtiger von der Sprache zu bewältigender Bezirk, sondern ein zentraler, ursprünglich der zentrale, von dem aus die Gliederung der anderen Bereiche bestimmt oder mitbestimmt w u r d e " (8 f.).
Einleitung
8
Wirkungsgeschichte einzelner ahd. T e x t e mit ihren Neubildungen angesprochen 8 . 3. Ansatzpunkt der Untersuchung ist ohne Frage das einzelne W o r t an der jeweiligen Textstelle. Welches aber sind die Verfahrensweisen, die ein Erfassen der ,Bedeutung' des Wortes ermöglichen? H a t das W o r t eine Bedeutung ,an sich', die sich am jeweiligen O r t aktualisiert? Nach den Erkenntnissen neuerer Semantik ist es prinzipiell zwecklos, wenn nicht überhaupt sprachwidrig, die ,eigentliche' Bedeutung eines Wortes eruieren zu wollen. Dies ist in doppelter Richtung zu verstehen: Eigentliche' Bedeutung war für die ältere Forschung die etymologische Bedeutung, also der älteste faßbare oder auch nur zu erschließende Sinn eines Wortes®. D a ß man damit die .wahre' Bedeutung eines Wortes ans Licht zu bringen glaubte, beruht auf einer langen geistesgeschichtlichen
Tradition des Wort-Verständnisses.
Diese
Tradition ist für uns bereits Geschichte geworden, die Auseinandersetzung ist endgültig geleistet. Das E t y m o n kann für unsere Untersuchung nur den W e r t einer historischen Abgrenzung ,nach unten' bzw. einer bedeutungsgeschichtlichen Hypothese haben. Uns interessieren die semantischen Befunde in konkreten gegebenen Texten, also synchrone Tatbestände, die erst durch Vergleich zu einer diadironen
Kette
verknüpft
werden
können.
Etymologische
Betrachtungen
werden also nur am R a n d e unserer Untersuchung begegnen. In einer zweiten Hinsicht scheint uns das Suchen nach .eigentlichen' Bedeutungen nutzlos: Die V i e l f a l t der Bedeutungsabschattungen
eines Wortes ist
gegeben durch die V i e l f a l t seiner Verwendungsmöglichkeiten
in bestimmten
Kontexten. Dabei von .Bedeutungskern' und .Nebenbedeutungen'
(Konnota-
tionen u. ä.) 1 0 zu sprechen, hat — mindestens in historischen Untersuchungen — 8
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Vgl. Moser, a. a. O., 7: „Die ,Durchschnittssprache' der Religion soll uns beschäftigen, d. h. das, was den genannten besonderen Ausprägungen gemeinsam ist." Für die ältere Auffassung von Etymologie vgl. Rudolf Thurneysen, Die Etymologie, Freiburg i. Br. 1904. Neuere Kritik am Etymologie-Begriff: Jules Gilliéron, Généalogie des mots qui désignent l'abeille, Paris 1918; Kurt Baldinger, L'étymologie hier et aujourd'hui, Cahiers de l'Association des Etudes Françaises 11 (1959) 2 3 3 — 264; A. S. C. Ross, Etymology. With Especial Reference to English, London 1958. Weitere Literatur bei Walther von Wartburg, Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, zweite, unter Mitwirkung von Stephen Ullmann verbesserte und erweiterte Aufl., Tübingen 1962, 114 ff. Eine knappe Uebersicht über die älteren Gliederungsprinzipien (Begrifflicher Inhalt / Nebensinn / Gefühlswert; Allgemeinbegriff / Nebenvorstellung / Gefühlston / okkasionelle Bedeutung; okkasionell / usuell; individuell / lexikalisch; actual / lexical; denotative / connotative meaning; external / internal meaning; generell / aktuell usw. usw.) gibt Eis Oksaar, a. a. O., 4 f. Eine systematischere Analyse des ,Wortes' und seines semantischen Aufbaus versucht Ullmann, a. a. O., vor allem S. 90 ff. Die wichtigste ältere Literatur: Karl Otto Erdmann, Die Bedeutung des Wortes. Aufsätze aus dem Gebiet der Sprachpsychologie und Logik, Leipzig 4 1925 (besonders 107); Erik Wellander, Studien zum Bedeutungswandel im Deutschen. I — I I I ( = Uppsala Universitetets Ärsskrift), Uppsala 1917, 1923, 1928 (besonders I 12 ff. u. 4 0 — 4 4 ) ; Hermann Güntert, Grundfragen der Sprachwissenschaft, 2. Aufl., bearb. v. A. Sdierer, Heidelberg 1956 (besonders 5 1 — 5 6 ) ; Gustaf
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nicht mehr als praktischen Wert. Immerhin sollen diese Begriffe nicht ganz ausgeschaltet werden, weil damit nicht selten die Gewichtsverteilungen von Bedeutungsbereichen bequem benannt werden können. (Ihren eigentlichen Ort hätten die Termini in einer Theorie des Bedeutungswandels, die mir der Komplexheit des Phänomens nicht gerecht zu werden scheint.) Der h i s t o r i s c h e n Wortforschung bleibt wohl keine andere Wahl, als den von Wittgenstein vorgezeichneten Weg weiterzuschreiten und die Weisen des ,Gebrauchs' für das einzelne Wort und Gruppen von Wörtern zu studieren — wie es E. Leisi für Bestände der Gegenwartssprache richtungweisend vorgeführt hat". Wenn aber für eine lebende Sprache das Studium des Wort-Gebrauchs durch die Fiktion des ,native speakers' oder durch immense Text-Corpora eine zureichende Materialgrundlage besitzt, so liegen die Verhältnisse in historischen Epochen weit weniger günstig. Da hier die ,Intuition' im eigentlichen Sinne vollständig ausfällt, sind wir total auf diejenigen Determinanten verwiesen, die den Gebrauch des Wortes festlegen. D. h. in jedem Einzelfall ist der unmittelbare Kontext zu berücksichtigen, soweit er für die Determination des fraglichen Wortes relevant ist. Ein solcher Kontext kann ein Attribut sein, eine größere Phrase, ein Satz, unter Umständen ein längerer Textabschnitt (bzw. Verweise im weiteren Umkreis der Stelle). Solche ,relevanten Kontexte' wollen wir — mit einem Terminus der angelsächsischen Semantik, allerdings nicht durchgehend in ihrem Sinne — .Kollokationen' nennen12. Wenn solche Kontexte usuell zu sein scheinen, seien sie als ,typische Kontexte' oder ,typische Kollokationen' bezeichnet. Durch die Kollokationen wird der Spiel-Raum des Wortes (im Sinne des Wittgensteinschen Spiel-Begriffes) umgrenzt. Damit soll sprachtheoretisch nichts über die Bedeutungssubstanz eines Wortes präjudiziert sein. Daß Wörter auch losgelöst von Kontexten, ,an sich' eine Bedeutung haben, sei keineswegs bestritten 13 . Doch
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Stern, Meaning and diange of meaning. Wich special reference to the Englisl. language (Göteborgs Högskolas Ärsskrift 38), Göteborg 1931 (vor allem 63 f., 68 ff.). Vgl. Ernst Leisi, Der Wortinhalt — Seine Struktur im Deutschen und Englischen, 2., erweiterte Auflage, Heidelberg 1961, vor allem 13 ff.; John Lyons, Introduction to theoretical linguistics, Cambridge 1968, 410 f., auch 412 ff. und 424 ff.; neuerdings Elisabeth Leinfellner, Zur nominalistischen Begründung von Linguistik und Sprachphilosophie: Frith Mauthner und Ludwig Wittgenstein, Studium Generale 22 (1969) 209—251. Zu den semantischen Theorien und Experimenten der englischen (Londoner) Linguistik vgl. Angus Mclntosh und M. A. K. Halliday, Patterns of Language, Papers in General, Descriptive and Applied Linguistics, London 1966, darin besonders: Halliday, General linguistics and its application to language teaching, 1—41; Mclntosh, Patterns and ranges, 183—199. Ferner: M. A. K. Halliday, Categories of the theory of grammar, Word 17 (1961) 241—292; J. M. Sinclair, Beginning the study of lexis, in: In Memory of J. R. Firth, London 1966, 410—430. Eine gute Uebersidit über diesen Forschungszweig gibt Leslie Seiffert, a. a. O., 47 ff., 64 ff. Harald Weinridi sucht einen Ausweg aus der Sackgasse uferloser Diskussionen um den Bedeutungsbegriff mit der zwischen kontextfreier und kontextbezogener ,Be-
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Einleitung
scheint dies f ü r historisch-lexikalische Arbeit eine unnötige A b s t r a k t i o n . Gleichfalls bleibe unbestritten, d a ß selbst durch A u f z ä h l u n g aller möglichen K o l l o k a tionen (was theoretisch gar nicht erreichbar ist) der Sinn des Wortes noch nicht getroffen wäre. O h n e ein gewisses M a ß vorgängiger Intuition (zit ist ein W o r t , das irgendwie mit ,Zeit' zu t u n hat, u. ä.), deren Gültigkeit d a n n in der Analyse bestätigt, korrigiert oder v e r w o r f e n w e r d e n k a n n , w ä r e Bedeutungsbestimmung f ü r vergangene Sprachepochen nicht möglich. D a m i t gelangen w i r zu einem zentralen H i l f s m i t t e l lexikalischer Untersuchung in a h d . u n d m h d . Zeit: Einen gewissen Ersatz der unmittelbaren I n t u i t i o n bieten hier die lateinischen V o r lagen, die das linguistische Suchen nach der Bedeutung des deutschen Wortes mindestens schon in eine bestimmte Richtung lenken, ohne natürlich klare I d e n t i t ä t e n herzustellen. D e r Vergleich mit dem Lateinischen w i r d f ü r jedes D e n k m a l einzeln d u r c h z u f ü h r e n sein, bevor Vergleiche in größerem R a h m e n sinnvoll sind. K o m p l e m e n t ä r z u r (syntagmatischen) Beobachtung v o n K o l l o k a t i o n e n verhält sich die paradigmatisch operierende, aber in historischen Untersuchungen wegen fehlender , I n t u i t i o n ' wenig ergiebige ,Austauschprobe'. Wie Seiffert 1 4 treffend a u s f ü h r t , k a n n dieses V e r f a h r e n n u r hervorheben, in welchen K o n texten W ö r t e r austauschbar sind, in welchen nicht. (Der Fall totaler Synonymie d ü r f t e k a u m je in Betracht kommen.) G e r a d e die K o n t e x t t y p e n , in denen Austauschbarkeit n i c h t möglich ist, k ö n n e n z u r Differenzierung des Sinnes dienen. Wenn schließlich der Begriff der T r a n s f o r m a t i o n ' ins Spiel gebracht wird, so ist er n u r analog zu der v o n der T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k konstituierten Terminologie verwendet 1 5 . W i r meinen d a m i t ausschließlich Äquivalenzen im Bereich der W o r t a r t e n ( T y p u s : ,Das W o r t X läßt sich als T r a n s f o r m a t i o n des A d j e k t i v s Y in den adverbialen Bereich auffassen') 1 6 . Alle die genannten Verfahrensweisen sind a d hoc zu v e r w e n d e n d e M e t h o d e n der Bedeutungsanalysen;
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deutung' vermittelnden Formulierung: „Die Bedeutung eines W o r t e s . . . ist wesentlich eine bestimmte Determinationserwartung." (Semantik der Metapher, Folia Linguistica I [1967] 3—17, hier 6.) Seiffert, a. a. O., 61. Zur Stellung der Semantik innerhalb der Transformationsgrammatik vgl. Jerrold J. Katz / Jerry A. Fodor, The structure of a semantic theory, Language 39 (1963) 170—210, jetzt in: J. A. Fodor / J. J. Katz, The Structure of Language. Readings in the Philosophy of Language, Englewood Cliffs, N . J . 1963, 479—528; Jerrold J. K a t z / Paul M. Postal, An integrated theory of linguistic descriptions, Cambridge, Mass. 1964; neuerdings polemisch Charles F. Hockett, The State of the Art, Janua Linguarum, Series Minor L X X I I I , The Hague-Paris 1968; zum Verhältnis von Semantik und Tiefenstruktur jetzt Lyons, a. a. O., 269 und 421 ff. Das gleiche Phänomen wird verschiedentlich auch mit dem Terminus ,Transposition' benannt, vgl. etwa K : Richard Bausch, Die Transposition, Versuch einer neuen Klassifikation, Linguistica Antverpiensia 2 (1968) 29—50. Einen interessanten Versuch, Probleme der Wortbildung in transformationeilen Kategorien zu analysieren, hat Peter von Polenz vorgelegt: Wortbildung als Wortsoziologie, in: Wortgeographie und Gesellschaft, Festgabe f ü r Ludwig Erich Schmitt, Berlin 1968, 10—27.
Einleitung
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d. h. der zu untersuchende Gegenstand entscheidet darüber, welche der Methoden jeweils mit Vorteil anzuwenden ist. Es sei nicht versäumt, darauf hinzuweisen, daß f ü r gewisse lexikalische Bereiche bereits ,typische Kollokationen' erarbeitet wurden (bei Porzig etwa unter dem Titel ,wesenhafte Bedeutungsbeziehungen', bei Coseriu als l e x i k a lische Solidaritäten', bei Leisi als Spezialfall der weiterreichenden Kategorie der ,Wortbedingungen') 1 7 . All diesen Untersuchungen sind wir d a n k b a r verpflichtet. 4. Die Determination durch die beschriebene A r t von Kontext ist aber nicht die einzige, die den Wert eines Wortes in einem Textzusammenhang bestimmt. Wo die Linguistik an die Grenzen ihres engeren Fachbereiches stößt, dort tut sich zunächst der R a u m der Stilistik auf. Stilistische Valenzen, die letztlich nur aus der literarischen bzw. poetischen Absicht des jeweiligen Werkes zu deuten sind, dürfen als eine zweite Art von ,Kontext' gelten — wenn es gestattet ist, den Begriff ,Kontext' in diesem analogen Sinne zu verwenden —, der f ü r die Semantik des Wortes von nicht geringerer Wichtigkeit ist. Hier ergibt sich eine weitere Begründung, w a r u m die Texte getrennt nach Gattungen zu untersuchen sind: Die Gattung ist das oberste einheitstiftende Prinzip des Stils, zumal in mittelalterlicher Literatur' 8 , und insofern letzte Instanz f ü r stilistische Problemstellungen. U n d noch eine dritte Ebene von ,Kontext' ist zu berücksichtigen — womit der Begriff ,Kontext' auf eben noch zulässige Weise expandiert w i r d : der kultur- und geistesgeschichtliche Horizont, aus dem die Texte, und über die Einzeltexte hinaus: der geschichtliche Prozeß, begreiflich werden. Die Adäquatheit der Interpretation des gesamten Beobachtungsbereiches entscheidet sich wohl letztlich an der angemessenen Einbeziehung dieser dritten Stufe von Kontext. Ein mögliches Mißverständnis sei aber zum voraus aus dem Wege geräumt: Wir sind keineswegs der Ansicht, daß Sprachgeschichte nur soweit der Beschreibung wert ist, als sie einen Wandel des geistigen Weltbildes spiegelt 19 . 17
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Walter Porzig, Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen, PBB 58 (1934) 70—97; Eugenio Coseriu, Lexikalische Solidaritäten, Poética 1 (1967) 293—303. Für die Gattungsproblematik der deutschen Literatur des Mittelalters vgl. etwa Hugo Kuhn, Gattungsprobleme der mhd. Literatur, in: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, 41—61. Eine solche Position vertrat Jost Trier mehr oder weniger deutlich in verschiedenen Aufsätzen: Sprachliche Felder, ZfdBildung 8 (1932) 417—427; Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung. Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 10 (1934) 428—449; Deutsche Bedeutungsforschung, in: Germanische Philologie. Ergebnisse und Aufgaben, Festschrift für Behaghel, Heidelberg 1934, 173—200; Ueber die Erforschung des menschenkundlichen Wortschatzes. Actes du IV« Congrés international de linguistes ä Copenhague 1936, Copenhague 1938, 94—97. Ich zitiere nur den berühmten und viel angefeindeten Satz Triers aus ,Deutsche Bedeutungsforschung...', 186: „Sprachinhaltliche Aenderungen — und das will heißen: die wahrhaß geschichtlichen Vorgänge in der Sprachgeschichte — müssen zuletzt begriffen werden aus dem Willen einer Gemeinschaft, näher zur Wahrheit hinzukommen, aus einem Ringen um die Ordnung." Gegen diese These
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Einleitung
Doch sind Wortbereiche wie der zur Untersuchung anstehende selbstverständlich eingebettet in einen geistesgeschichtlichen Horizont und großenteils nur in diesem Horizont verstehbar. Mit der dreifachen Staffelung v o n Kontext-Ebenen 2 0 dürfte hinreichende Sauberkeit der Methodik gewährleistet sein. Vielfalt der Methoden heißt nicht Methodensynkretismus, und nur erstere bietet einen legitimen Zugang zur Lexikologie. Die dreischichtige Betrachtungsweise soll nun nicht in jedem Einzelfall durchexerziert werden, sondern nur den Rahmen der möglichen Zugriffe abstecken. 5. Mit dem methodischen Aufgebot aller dieser Verfahrensweisen zur semantischen Bestimmung von Wörtern und Wortgruppen in konkreten Texten soll aber schließlich nicht eine synchronische Deskription, sondern die Beschreibung eines sprachlichen Vorgangs erreicht werden, den man traditionell als ,Bedeutungswandel' bezeichnet 21 . Bedeutungswandel aber nicht eines einzelnen Wortes, sondern einer ganzen zusammengehörigen Wortgruppe. Ob und in welchem Sinne von ,Feldern' und der Verschiebung und Veränderung von ,Feldern' gesprochen werden kann, w i r d die Untersuchung selbst zeigen müssen. Jedenfalls scheint es mir — im Gegensatz zur zünftigen Sprachinhaltsforschung
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wandte sich schon Walther v. Wartburg, Betrachtungen über die Gliederung des Wortschatzes und die Gestaltung des Wörterbuchs, ZfrPh. 57 (1937) 296—312. Seine Kritik findet sich zusammengefaßt in Einführung in Problematik . . . , a. a. O., 163 ff. Vgl. auch Gabka, a. a. O., 13; Seiffert, a. a. O., 45. In seiner Arbeit von 1931 (Der deutsche W o r t s c h a t z . . . ) hatte Trier selbst nodi zur Vorsicht gemahnt: „Nicht Sprachgeschichte als Spiegel der Geistesgeschichte, sondern Geistesgeschichte nur in der Sprachgeschichte ist das Ziel" (20). In der praktischen Durchführung hielt er das Prinzip allerdings nicht ein. Eis Oksaar, a. a. O., 10 ff., erörtert die Rolle des Kontextes für semantische Studien und verweist auf die wesentlichen strukturalistischen Arbeiten, die sich mit einer Theorie des Kontextes befassen (Nida, Pike, Fries, Haugen u. a.). Unsere Dreiteilung von Kontextebenen deckt sich mit keiner der dort vorgelegten Analysen. Sie ist aus der Arbeit an den frühdeutschen Texten und den hierbei sich ergebenden Bedürfnissen entstanden und begründet, beansprucht aber keine Anwendbarkeit auf lexikalische Untersuchungen überhaupt. Das heißt im besonderen: Die hier probeweise vorgelegte Gliederung in (a) unmittelbarer Kontext, (b) Kontext der Gattung und des Stils, (c) kultur- und geistesgeschichtlicher Horizont, hat nichts mit der ,ethnolinguistischen' Scheidung von ,linguistic' und ,nonlinguistic context' zu tun, da wir den Bereich des intern Linguistischen viel weiter fassen als etwa Eugene A. Nida (A System for the Description of Semantic Elements, Word 7, 1951, 1 ff.). Unser Kontext (a) begreift noch weite Ausschnitte aus dem ,nonlinguistic context' in sich. Einen Ueberblick über die bisherigen Theorien des Bedeutungswandels gibt Ullmann, a . a . O . , 159 ff., vor allem 177 ff. Den Forschungsstand der dreißiger Jahre referiert sehr luzide Leonard Bloomfield, Language (1933), Nachdruck London 1967, 425 ff. ,Semantic Change'. Neuerdings gibt Hockett, a. a. O., eine pointierte Stellungnahme zum Problem des Bedeutungswandels, das in der amerikanischen Linguistik der Nachkriegszeit total ad acta gelegt war.
Einleitung
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— geboten, nur dann den umkämpften Terminus ,Feld' zu verwenden, wenn die immanenten lexikalischen Verhältnisse klare Strukturen aufweisen. Ziel unserer Untersuchung ist es, Tendenzen aufzuweisen, die nicht nur die Entwicklung des Einzelwortes, sondern die Umgestaltung der ganzen G r u p p e steuern und einer Art von .Teleologie' unterwerfen. Hierfür scheint mir ein Terminus erhellend, den J . Schwietering 22 in einer bahnbrechenden Rezension zu semantischen Schriften prägte: ,dominierende Sinnrichtung'. Schon Sperber 2 3 hatte von ,Expansion' und ,Attraktion' affektstarker Vorstellungsbereiche gesprochen, doch Schwietering befreit Sperbers Theorie von den psychologistisdien Verzerrungen und macht sie für die Sprachwissenschaft erst eigentlich fruchtbar: „,Expansion' oder ,attraction' sind also a u s d e m d o m i n i e r e n einer s i n n r i c h t u n g und nicht aus affecten oder gefühlsbetonten associationen abzuleiten, der religiösen sinnrichtung als höchster menschlicher wertbezogenheit gelingt die Unterordnung anderer sinnrichtungen am vollkommensten, woraus wir die beispiellose einwürkung der in der mittelalterlichen mystik zum ersten mal volkstümlich gewordenen christlichen religion auf sprachliche bedeutung zu verstehn haben 2 4 ." Solche Sinngerichtetheit wird sich im Wortschatz von Zeit und Ewigkeit exemplarisch vorführen lassen 25 . 6. An diese methodologischen Ueberlegungen sind noch einige mehr praktische Erwägungen anzuknüpfen: 6.1. Bei Untersuchungen zum ahd. Wortschatz stellt sich immer wieder die Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß die ahd. Glossen zu berücksichtigen sind. Sicherlich wird man die Glossen der Beleggruppe nicht einfach übergehen dürfen. Schon in quantitativer Hinsicht können sie aufschlußreich sein, wenn etwa ein Wort in literarischen Texten kaum, in Glossen aber häufig belegt ist. Schwieriger wird das Problem bei der semantischen Identifizierung des mit der Glosse Gemeinten. Die methodischen Verfahrensweisen, die wir zur Einkreisung des Wortsinnes angegeben haben, versagen hier teilweise oder gar völlig, da wir es in der Vielzahl der Fälle mit isolierten deutschen Wörtern zu tun haben, die nicht im lebendigen Sprach-Gebrauch erscheinen. O b als Ersatz für einen deutschen Kontext die lat. Umgebung des Lemmas beigezogen werden darf, ist nicht immer klar. N u r selten ist eine Entscheidung darüber möglich, ob der Glossator aus dem Verständnis des Kontextes heraus das Einzelwort verdeutscht oder ob er mechanisch für das lat. Lemma eine ihm geläufige ,Vokabelübersetzung' einsetzt (die
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Julius Schwietering, Schriften zur Bedeutungslehre (über Erik Wellander, Hans Sperber, Gustav Bally), A f d A 55 (1925) 154—163. Vgl. dazu Ullmann, a . a . O . , 183 ff. Hans Sperber, Einführung in die Bedeutungslehre, Bonn u. Leipzig 1923 (Nachdruck 1930). Schwietering, a. a. O., 163. Vgl. u. S. 303 ff.
Einleitung
14 Termini
,Kontextübersetzung'
und ,Vokabelübersetzung'
definiert
Götz26
im Hinblick a u f die Glossen a n h a n d einer R e i h e einleuchtender Beispiele). Z u m a l bei feineren semantischen Differenzen zwischen benachbarten W ö r t e r n k a n n die Glosse k a u m je als Z e u g e für eine b e w u ß t e W o r t w a h 1 gew e r t e t w e r d e n . I n unserem untersuchten Wortbereich, w o es sich meist u m n u a n c i e r t e Unterschiede handelt, sind die Glossen höchstens als G e s a m t k o m p l e x — m e h r q u a n t i t a t i v als q u a l i t a t i v — r e l e v a n t . N u r in aufschlußreichen F ä l l e n brauchen w i r somit den jeweiligen K o n t e x t z u diskutieren. Daß
Glossen aus W ö r t e r l i s t e n
(Glossaren)
noch geringeren
semantischen
W e r t haben als Textglossen, ist selbstverständlich. H i e r spielen z u d e m noch die P r o b l e m e der Ueberlieferungsverflechtung hinein, die einen Schluß a u f den lebendigen W o r t g e b r a u c h vollends verunmöglichen 2 7 .
Einen
weiteren
Unsicherheitsfaktor stellt die D a t i e r u n g der Glossen d a r . H i e r bleibt uns vorerst
nur
der
Rekurs
auf
Steinmeyers
Handschriftenbeschreibung
im
V I . B a n d seiner Glossen-Ausgabe 2 8 . Soweit sich d o r t k l a r e A n g a b e n über die D a t i e r u n g finden, w e r d e n sie den Glossen-Belegen beigegeben.
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Heinrich Götz, Kontextübersetzung und Vokabelübersetzung in ahd. Glossen, P B B 82 (Sonderband), Halle 1961, 139—152. Bei aller Vorsicht gegenüber der semantischen Auswertung von Glossen braucht man doch nicht so radikal zu urteilen, wie es Eis Oksaar tut (a. a. O., 2 7 6 ) : „Moderne Uebersetzungen aus verschiedenen Sprachen zeigen zur Genüge, wie verschiedene Auffassungen man von einem Zusammenhang haben kann; es liegt daher auf der Hand, daß ein Glossenbeleg ohne jeglichen deutschen Kontext in vielen Fällen unzuverlässig sein muß. Mit der Heranziehung derartigen Materials für semantische Zwecke wird in der T a t leider nur immer bewiesen, daß nicht die Vorsicht, sondern vielmehr die Sicherheit in sprachlichen Fragen zuzunehmen scheint, je weiter rückwärts wir in der Geschichte gehen, also je weniger sichere Kriterien zur Verfügung stehen. D a ß hier ein methodischer Mangel vorliegen muß, ist offenbar. Die Glossenbelege werden in dieser Arbeit daher lediglich angeführt, um das Vorkommen des betreffenden Wortes und der betreffenden Wortsippe zu belegen." Angemessener scheint mir die abgewogene Stellungnahme bei Götz, a. a. O., 149 f . : „In den weitaus meisten Fällen ist eine absolut sichere Entscheidung (über den semantischen Wert der Glosse) kaum möglich. Der Bearbeiter von Glossen, die einem Textzusammenhang entstammen, wird aber mit etlicher Berechtigung zunächst davon ausgehen können, daß der Glossator den Kontext kannte, wenn zwischen der Bedeutung des lat. Lemmas im Kontext und der des deutschen Uebersetzungswortes kein Widerspruch klafft. Der Wert der sicher nachgewiesenen Kontextübersetzung für den Bedeutungsansatz des deutschen Wortes besteht m. E . darin, daß der Bearbeiter hier berechtigt ist, auch feinere Bedeutungsnuancen sowie Besonderheiten des Gebrauchs, wie sie durch den Kontext nahegelegt werden können, zu berücksichtigen. Wirksamer für den Bedeutungsansatz werden dagegen die sicher nachgewiesenen Vokabelübersetzungen. Hier muß der Bearbeiter j a unter Umständen für das deutsche Wort eine Bedeutung ansetzen, die von der des lat. Lemmas im Kontext weit abliegt." Die althochdeutschen Glossen gesammelt und bearbeitet von Elias von Steinmeyer und Eduard Sievers, 5 Bde, Berlin 1879—1922. Wir zitieren die Glossen-Belege nach Band, Seite und Zeile dieser Ausgabe. Für die Aufschlüsselung der Angaben
Einleitung
15
6.2. U m zwecklose terminologische Diskussionen z u vermeiden, seien v o r a b einige Sprachregelungen getroffen: D e n Begriff , W o r t ' v e r w e n d e n w i r im gängigen Sinn der Lexikologie, v o n ,Lexem' sprechen w i r d a n n , w e n n w i r den lexikalischen , K e r n ' gegen morphologische u n d syntaktische Elemente abheben wollen. ,Ausdruck' oder , W e n d u n g ' sollen eng v e r k n ü p f t e W o r t komplexe bezeichnen, w ä h r e n d ,Formel' eine fest gewordene , W e n d u n g ' darstellt. ,Bedeutung' u n d ,Sinn' w e r d e n ohne philosophische Präzision s y n o n y m v e r w e n d e t . I m Gegensatz zu weiten Bereichen der Feldforschung konstruieren w i r keinen Gegensatz v o n ,Begriff' u n d ,Bedeutung' 2 8 a . I m Sinne einer praktischen terminologischen V e r e i n b a r u n g aber wollen w i r ,Begriff' v o r w i e g e n d in onomasiologischen Formulierungen v e r w e n d e n , etwa v o m T y p „ D e r Begriff der , D a u e r ' w i r d bei O t f r i d durch die W ö r t e r x, y, z ausgedrückt". ( D a ß ausschließlich onomasiologische Fragestellungen f ü r abstrakte Wort-Bereiche streng genommen unzulässig sind, h a t sich gerade in der K r i t i k an Triers Wortfeldbegriff gezeigt. O f t aber liefert auch eine nicht ganz gegenstandsgerechte Frage brauchbare Gesichtspunkte, sofern m a n sich n u r über die Fehlerquelle im k l a r e n ist.) U m eine G r u p p e solcher ,Begriffe' u n t e r einem weiteren Terminus zusammenfassen z u können, bedienen w i r uns der umstrittenen Termini ,Sinnbezirk' u n d ,Sinnbereich' u n d behandeln sie als absolute Synonyme. Ein Ausschnitt aus einem ,Sinnbezirk' oder ,Sinnbereich' soll ,Zone' heißen. 6.3. Ein D i l e m m a aller historischen Bedeutungsstudien ist die Weise der Bedeutungsparaphrasierung. Ältere Wörterbücher glaubten, durch Verw e n d u n g lateinischer Äquivalente eine A r t , O b j e k t i v i t ä t ' der Definition zu erreichen. Uns ist der naive Glaube an die A d ä q u a t h e i t des Lateinischen oder auch irgendeiner künstlichen Sprache f ü r die Beschreibung semantischer Bestände in natürlichen Sprachen genommen. Bedeutungsangaben in Ausdrücken unserer heutigen Sprache sind somit nicht mehr als behelfsmäßige Annäherungen. V o n ,Definition' zu sprechen, ist ohnehin nicht mehr statthaft, seitdem m a n sich über die prinzipielle ,Unschärfe' natürlicher W ö r t e r k l a r geworden ist 29 . Unseren methodischen Prinzipien entsprechend, tritt in den zusammenfassenden Darstellungen an die Stelle der Bedeutungs-
nach H e r k u n f t und Aufbewahrungsort der Handschriften verweisen wir auf den 4. Band der Ausgabe und auf den Katalog im Althochdeutschen Wörterbuch von Theodor Frings u. Elisabeth Karg-Gasterstädt, I, X X I I ff. Auch die lateinischen Vorlagen der Glossen sind dort ( X I V ff.) aufgeschlüsselt. Die Nachträge zu Steinmeyer/Sievers wurden gemäß der Zusammenstellung im Althochdeutschen Wörterbuch, S. I X f., durchgangen. 28a Während des Drucks der vorliegenden Arbeit erschien: H e r b e r t Ernst Wiegand, Syndironische Onomasiologie und Semasiologie, Germanistische Linguistik 3 (1970). Die Untersuchung versucht, die Termini Begriff, Noem, Sem usw. schärfer gegeneinander abzugrenzen, als dies in der Forschung bisher üblich war. 20 Vgl. A d a m Schaff, Unscharfe Ausdrücke und die Grenzen ihrer Präzisierung, in: Essays über die Philosophie der Sprache, Frankfurt—Wien 1968, 65 ff.
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Einleitung Umschreibung eine Liste der Bedeutungskomponenten 30 , ergänzt durch relevante morphologische oder syntaktische Merkmale. 6.4. Was die Dichte des dargestellten Materials betrifft, so haben wir uns von folgenden Überlegungen leiten lassen: Vollständigkeit der Belege kann für die untersuchten Texte und Wörter nur in engen Grenzen angestrebt werden: Fürs Althochdeutsche sollen bei den zentralen Wörtern möglichst alle Belegstellen — sofern es sich nicht um zwecklose Aufreihung derselben Befunde handelt — angeführt werden, da in der dünnen ahd. Überlieferung ein einzelner Beleg das Gesamtbild verschieben kann. Bei den mhd. Texten kommt ein solch genaues Verfahren nicht mehr in Frage, weil für einzelne Wörter die Materialfülle erdrückend wäre; es drängt sich für diese Zeit auch nicht mehr auf, da die lexikalischen Verhältnisse bereits gefestigter sind als im Frühstadium der Überlieferung. Hier genügt teilweise ein exemplarisches Herausgreifen typischer Belege mit Angabe vergleichbarer Stellen und der Hinweis auf auffällige Abweichungen v o m Normalbild. Die Untersuchung stützt sich primär auf eigene Sammlungen und Exzerpte, sekundär auch auf die gängigen ahd. und mhd. Wörterbücher. Von besonderem Nutzen waren die für einige ahd. Texte bereits erstellten Spezialwörterbücher mit deutsch-lat. und lat.-deutschen Indizes und das neue Wörterbuch von R. Schützeichel, das allerdings nur noch zur Kontrolle der
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Dies Verfahren ist nur von ferne vergleichbar mit der strukturalistischen ,componential analysis'. Das Gemeinsame beider Methoden liegt in der Auflösung des Bedeutungsganzen eines Wortes in ,Komponenten', mit dem Ziel, eine Liste solcher Komponenten aufzustellen, die verschiedenen Wörtern gemeinsam sein können. Während aber die ,componential analysis' eine Art begrifflich-hierarchisches Schema konstituiert (Lebewesen — männlich — erwachsen . . . ) , versuchen wir, aus der Analyse der Textstellen zu einem Netz gleichgeordneter Sinnuancen in unserem Wortbereich zu gelangen (Zeitpunkt, Termin, Dauer usw.). Zur componential analysis vgl. Lyons, a . a . O . , 470 if.; E. H. Bendix, Componential Analysis of General Vocabulary: The Semantic Structure of a set of Verbs in English, . . . (Part 2 of Intern. Journal of American Linguistics 32), Bloomington/The Hague 1966; Manfred Bierwisch, Eine Hierarchie syntaktisch-semantischer Merkmale, Studia Grammatica 5, Berlin 1965; Dwight L. Bolinger, The atomization of meaning, Language 41 (1965) 555—573; C. L. Ebeling, Linguistic Units, Janua Linguarum, Series Minor 12, The Hague 1960; Ward H. Goodenough, Componential analysis and the study of meaning, Language 32 (1956) 195—216; F. Kiefer, Some semantic relations in natural languages, Foundations of Language 2 (1966) 228—240; Sydney M. Lamb, The sememic approach to structural semantics, American Anthropologist 66 (1964) 57—78; Floyd G. Lounsbury, The Structural analysis of Kinship semantics, in: Proceedings of the Ninth International Congress of Linguists, The Hague 1964, 1073—1093. Ähnliches auch von glossematischer Seite: Louis Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language, Bloomington, Ind. 1953 (translated from the Danish 1943, by F. J. Whitfield). Auch das Begriffssystem von Hallig u. v. Wartburg (Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie, Abh. der dt. Akad. der Wiss. zu Berlin 4, Berlin 1952) wäre hier zu nennen.
Einleitung
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Belegsammlungen benutzt werden konnte 51 . Das Schützeicheische Wörterbuch erlaubt erstmals einen raschen Oberblick über die Verteilung der Wörter in den literarischen Denkmälern des Ahd., womit künftige Arbeiten zur Lexikologie des Ahd. bedeutend erleichtert werden. Das große ahd. Wörterbuch von Frings/Karg-Gasterstädt konnte für unseren Wortbereich nur selten nutzbar gemacht werden, weil keines der zentralen Temporalwörter in den Bereich der bisher erschienenen Artikel fällt. Am wenigsten vollständig dürften die Glossenbelege erfaßt sein, da bei Auszügen aus der großen Steinmeyer-Sieversschen Sammlung die Wahrscheinlichkeit des Verlesens oder Uberlesens recht groß und die Möglichkeit der Kontrolle sehr gering ist. Etwaige Auslassungen in diesem Belegkomplex dürften aber das Gesamtbild kaum beeinträchtigen. Die Durchsicht der Nachträge zu Stemmeyer/Sievers ergab nur wenige zusätzliche Belege. 6.5. Die Anordnung der Belege erfolgt in den monographischen Abschnitten nach Umfang und Chronologie der Texte 32 : Zunächst die größeren Denkmäler der Reichenau-Murbacher Gruppe, dann die Isidorgruppe, Tatian und Otfrid. Danach jeweils die .Kleineren Denkmäler'. Nachnotkersche katechetische Texte werden hier schon mitberücksichtigt, sofern sie thematisch und gattungsmäßig an die ahd. Texte anschließen (hierin folgen wir dem Prinzip der Steinmeyerschen Edition). Einen zweiten Abschnitt bildet Notker, mit genauerem Studium des Psalters, sowie die für unsere Fragestellung wenig ergiebige Hoheliedparaphrass Willirams. Den dritten Komplex stellen geistliche Denkmäler des 11. und 12. Jahrhunderts dar, im Rahmen des durch die Maurersche Edition (Bd. I und II) vorliegenden Corpus 33 . Ein knapper Ausblick auf mhd. Predigten und mystische Texte beschließt die Arbeit. Innerhalb jedes Abschnitts sind die monographischen Darstellungen in drei Gruppen gegliedert: (1) Wörter im Sinnbereich ,Zeit' (es sei gestattet, diese Wörter als ,Zeit-Wörter' zu benennen), (2) Wörter am Rande des temporalen Bereiches oder im Zwischen-Bereich zwischen Zeit und Ewigkeit (weralt und tag), (3) Wörter im Sinnbereich .Ewigkeit'.
Textausgaben und Wörterbücher werden im folgenden gemäß dem Abkürzungsverzeichnis zitiert. Zahlenangaben bei den Belegen beziehen sich in der ganzen Arbeit stets auf den Vers oder die Zeile, in der das fragliche Wort vorkommt, auch wenn das Zitat mehrere Verse/Zeilen umfaßt. Der III. Band der Maurersdien Edition, der während der Drucklegung der vorliegenden Arbeit erschien, konnte und brauchte nicht mehr berücksichtigt zu werden, da es uns für die mhd. Zeit ohnehin nur auf ein exemplarisches Text-Corpus ankam. Burger, Zeit
1. Althochdeutsche Texte außer Notker 1.1. D i e
Zeit-Termini 1.1.1. frist
Isidor, die Monseer Fragmente, die Murbacher Hymnen und Tatian kennen das Wort nicht. In der Benediktinerregel steht es für lat. occasio, materia, scrupulositas, mit auffallend einheitlichen Kollokationen: (92) (102) (120) (131)
non detur occasio — min si kikeban frist datur occasio maligno — ist kekeban frist demu farfluahhanin ut non detur occasio diabulo — . . . f r i s t . . . quia numquam per subiectam personam quolibet modo ei aliquando aliquid dant aut tribuunt occasionem habendi — . . . frist za habenne (145) quia ab ipso initio ordinationis materia ei datur superbiendi — fona demu seibin anakinne kesezzida kezimbri frist k e z i u c . . . ist kekeban ze ubarmuatonne (95) ideo cum aliqua scrupolositate a nobis mensura victus aliorum constituitur — pidiu . . . eddeslihchemu fristeo . . . mez libleiti... si kesezzit Keiner dieser Belege erfordert eine zeitliche Bedeutung von frist. Und wenn U. Daab 1 als Verdeutschung .Zeit, Gelegenheit (Ängstlichkeit)' vorschlägt, so ist die erste Uebersetzung eher der Kenntnis sonstiger ahd. Belege des Wortes als den genannten Stellen entnommen. Der Kommentar Ibachs2 versucht, den Zusammenhang mit den sonst fürs Ahd. bekannten Verwendungen des Wortes herzustellen: „occasio bedeutet in der Benediktinerregel .Gelegenheit', und zwar in der Weise, daß es einmal die Zeit bezeichnet, in der etwas möglich ist, dann aber auch die Möglichkeit auf Grund äußerer Umstände. Im ersten Falle wird es zu Recht mit frist übersetzt, im zweiten ist diese Wiedergabe mechanisch angewandt, occasio hat in der Benediktinerregel den Nebensinn ,Gelegenheit zur Sünde', ,böse Gelegenheit', welche Bedeutung dann auch auf frist w i r k t . . . Das mit occasio bedeutungsgleiche materia wird ebenfalls mit frist übersetzt." Mir scheint, daß keiner der Belege eine Bedeutung von occasio wie ,Zeit, in der etwas möglich ist' nahelegt. Das unzeitliche .Gelegenheit wozu' dürfte für den Sinn der Stellen ausreichen. Das muß 1 2
Glossar zur Ausgabe der Benediktinerregel, 139. Helmut Ibach, Zu Wortschatz und Begriffswelt der althochdeutsdien Benediktinerregel, PBB (Halle) 78 (1956) 1—111, 79 (1957) 1—106, hier 79 f.
1.1.
Die
Zeit-Termini
19
natürlich nicht in gleicher Weise f ü r das deutsche W o r t gelten. Eine Entscheidung über den semantischen W e r t der deutschen Ubersetzung ist n u r möglich im Vergleich mit anderen ahd. Texten. Unbestreitbar ist immerhin, d a ß in frist ein teleologisches M o m e n t enthalten ist (,auf etwas hin', , . . . w o z u ' ) . A n der v o n Steinmeyer 3 als unverständlich deklarierten Stelle (95) k ö n n t e dieser ZielC h a r a k t e r des Wortinhaltes eine besondere Rolle spielen, insofern hier offensichtlich die Vorstellung des Maßes, bis z u dem hin . . . , über das hinaus n i c h t . . . mit der deutschen Ubersetzung intendiert ist. M e r k w ü r d i g ist die Dreifachübersetzung in (145), die o f f e n b a r den speziellen Sinn von materia an dieser Stelle einkreisen soll, kezimbri u n d keziuc, beide w o h l am ehesten mit ,Stoff' wiederzugeben, treffen die gängige .Lexikon'-Bedeutung v o n materia, w ä h r e n d frist genauer dem Sinn des Wortes im vorliegenden K o n t e x t gerecht w i r d . Sicher aber enthält w e d e r kezimbri n o d i keziuc ein temporales M o m e n t , das d a n n auch f ü r frist z u erschließen w ä r e . Für die Gesamtbeurteilung der semantischen Entwicklung v o n frist u n d f ü r das Verständnis unserer Textstellen ist von besonderem Gewicht, d a ß die K o l l o k a t i o n e n aller Belege der Benediktinerregel einen geschlossenen semantischen Bezirk abstecken: viermal geht es u m frist geban u n d einmal um frist haben. U n d der K o n t e x t der umstrittenen Stelle (95) weist als H a u p t v e r b das W o r t constituere auf, das gleichfalls zu dieser K o l l o k a t i o n e n - G r u p p e passen w ü r d e . D a s Subjekt z u constituere: mensura h a t ganz ähnliche semantische Bedingungen wie frist, so d a ß das deutsche W o r t in adverbialer Position vielleicht durch die semantische U m g e b u n g mensura . . . constituere „angezogen" w u r d e . D a ß m a n frist ,geben', infolgedessen auch ,haben' k a n n , kennzeichnet auch im übrigen A h d . die V e r w e n d u n g des Wortes. In O T F R I D S Evangelienbuch ist das W o r t in zahlreichen Belegen u n d mit unterschiedlichsten Verwendungsweisen anzutreffen. W e n n sich einerseits gewisse T e n d e n z e n zu festen K o l l o k a t i o n e n abzeichnen, so begegnet frist anderseits durchaus noch in freiem Gebrauch. Die besondere stilistische Situation des Otfridschen Textes erschwert in vielen Fällen eine genaue semantische Situier u n g des Wortes, w e n n sie nicht ü b e r h a u p t verunmöglicht w i r d : T e m p o r a l e W e n d u n g e n aus mehreren W ö r t e r n b z w . ganzen Ausdrücken — v o r allem in adverbialer Position — bieten sich in ihrer relativen Vagheit häufig als bequeme Versfüllung an. Fast immer erscheint dabei frist (mit seinen obliquen Kasus) in R e i m Stellung. D a m i t sei natürlich nicht behauptet, das W o r t sei jeweils n u r aus verstechnischen G r ü n d e n gesetzt. Doch mag der Reim des öfteren die W a h l gerade d i e s e s T e m p o r a l w o r t e s begünstigt haben. Die häufige K o m b i n a t i o n v o n frist mit Zeitadverbien verschiedener Provenienz schließlich f ü h r t zu einer gewissen F o r m e l h a f t i g k e i t der Ausdrücke. N u r selten
3
2»
Steinmeyer, Die Kleineren ahd. Denkmäler . . . , 228, Anm. 6.
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1.
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
dient hier die H ä u f u n g von temporalen Termini der Präzisierung des zeitlichen Sinns der ganzen Gruppe. Maskuline und feminine Verwendung des Wortes wechseln willkürlich, wobei wiederum der Verdacht auf Beeinflussung durch das entsprechende Reimwort naheliegt. Allerdings überwiegen bei weitem die femininen Formen. Ein Stilistikum, das O t f r i d mit der germanischen Dichtungstradition verbindet, ist die V a r i a t i o n 4 . Gerade Variation temporaler Ausdrücke ist bei O t f r i d häufig anzutreffen, wobei es im Einzelfall schwierig ist zu entscheiden, welche neue Nuance das variierende Glied beiträgt. Bei der Zuordnung der Belege zu bestimmten Bedeutungszonen soll den verbalen Kollokationen besondere Beachtung geschenkt werden. Bereits in der Benediktinerregel konnten wir beobachten, daß frist deutliche Affinität zu bestimmten Verben besitzt. Diese Beziehung spielt im syntaktischen Verhältnis Verbum — Objekt und stellt einen f ü r das Wort frist spezifischen (,idiomatischen') Kollokationenkomplex dar. In einem allgemeineren Sinn aber sind verbale Kollokationen f ü r die semantische Bestimmung von Zeit-Ausdrücken relevant, sofern diese in adverbieller Funktion auftreten. U m dies zu erläutern, ist eine Überlegung bezüglich der Aktionsarten und Aspekte des Verbums nötig: Die Verben der germanischen Sprachen sind grundsätzlich zu scheiden in solche mit durativer und nichtdurativer Aktionsart (sitzen, schlafen gegenüber finden, bringen). Die durativen Verben wiederum können durch verschiedenste Mittel der Wortbildung (oder auch durch adverbielle Zusätze usw.) ,perfektiviert', d. h. mit perfektivischem ,Aspekt* versehen werden. D a im Germanischen imperfektiver Aspekt und nichtdurative Aktionsart stets zusammenfallen, könnte man f ü r unseren Zweck einfacher formulieren (ohne etwaige Unterschiede von Aktionsart und Aspekt zu berücksichtigen): Der Gegensatz durativ (imperfektiv) / perfektiv kann im Germanischen lexikalisiert sein, er kann aber auch durch freie grammatische und syntaktische Mittel jederzeit hergestellt werden 5 . (Nicht sinnvoll jedenfalls scheint es mir, Aktionsarten als ,objektive'
4
5
Zu Problematik und Begriff der Variation sowie zu ihren Erscheinungsformen im lexikalischen, grammatischen, syntaktischen Bereich, in Wortstellung und Vers vgl. neuerdings Stefan Sonderegger, Erscheinungsformen der Variation im Germanischen, in: Festschrift für Konstantin Reichardt, Bern—München 1969, 13—29. Die besondere Ausformung des variierenden Stils bei Otfrid, der mehr an Muster der lat. Rhetorik als an den germ. Dichtungsstil anknüpft, untersucht Klaus Schulz, Art und Herkunft des variierenden Stils in Otfrids Evangeliendichtung, München 1968 ( = Medium Aevum 15). Einen guten Ueberblick über die Problematik von Aspekt und Aktionsart im Germanischen, speziell hinsichtlich des Gotischen, gibt Wolfgang Krause, Handbuch des Gotischen, dritte, neubearbeitete Aufl., München 1968, §§ 203 ff. (mit reichen Literaturangaben zur Theorie von Aktionsart und Aspekt).
1.1.
Die
21
Zeit-Termini
Charakteristika des Vorgangs, Aspekte aber als subjektive' Sehweisen zu beschreiben. Letzten Endes sind Aussagen über Vorgänge, Handlungen usw. immer subjektiv, einschlafen — nach üblicher Terminologie mit ,perfektivem Aspekt' — ist nicht subjektiver formuliert als schlafen, dem die ,durative Aktionsart' zukäme; und got. hausjan nicht objektiver als ga-hausjan. Umgekehrt gesagt: Das Verhältnis suchen : finden ist genau das gleiche wie hören : hinhören u. ä.) Durative und perfektive Verben nun lassen sich am einfachsten durch das bekannte Experiment der Beifügung temporaler Bestimmungen auseinanderhalten. Für die Kollokationen von adverbialen Zusätzen mit den beiden Verbgruppen ergibt sich folgende Verteilung: Bestimmung der Dauer
Bestimmung des Zeitpunkts
durativ
+
+
perfektiv
+
—
Nur das Merkmal ,adverbieller Zusatz der Dauer' ist also für die Opposition durativ/perfektiv von distinktiver Relevanz. Beispielsätze: (1) In diesem Augenblick schlief er. (2) In diesem Augenblick schlief er ein. (3) Er schlief einige Zeit, aber: * (4) Er schlief einige Zeit ein. Für unsere Fragestellung bedeutet dies: Ist das Verbum perfektiv, so kann in der Adverbialgruppe nur ein Ausdruck des ,Zeitpunkts', nicht aber der .Dauer' erscheinen. Das gilt nur für den Fall, daß ein Zeit-Wort als adverbiale Bestimmung auftritt. Wenn das Wort aber als Subjekt oder Objekt des Satzes fungiert, ist die Beziehung zum Verbum nicht mehr durch universal-syntaktische, sondern intern-semantische Bedingungen geregelt (wie sie für das Verhältnis von frist und geben/haben in der Benediktinerregel vorzuliegen scheinen). Beispielsätze: (5) In diesem Augenblick kam er. * (6) Er kam zwei Stunden lang, aber: (7) Der Augenblick kam, da . . . (8) Die Zeiten werden kommen, da . . . (7) und (8) sind beides korrekte deutsche Sätze. Hier bezeichnet das Temporalwort nicht eine Qualität des Vorgangs ,kommen', vielmehr sind ,Augenblick' und ,Zeiten' Subjekte einer Prädikation, wobei der Inhalt der Prädikation völlig ,frei', d. h. nur an die Wahl des Sprechenden gebunden ist. Bei unserer Untersuchung wird somit jeweils die syntaktische Position des fraglichen Wortes zu beachten sein, wenn es um eine Scheidung der Werte ,Zeitpunkt'/Dauer' geht. Hier zeigt sich der Ansatzpunkt zu einem Stück struktureller' Semantik: Substantiv und Verbum können durdi lexikalisch-
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
22
semantische Beziehungen verschiedener Stufe verknüpft sein. Darüber hinaus aber haben Zeit-Wörter im Germanischen ein enges Verhältnis zum Verbum, sofern das Verbum immer auch ein (obligatorisches) temporales Moment enthält, das oft erst in adverbiellen Zusätzen entfaltet wird". Mit dem syntaktischen Verhältnis von Substantiv und Verbum ist demnach prinzipiell eine semantische Korrelation gegeben, die in distributionellen Kategorien faßbar ist: Die Beziehung Adverbialgruppe — Verbum ist durch das oben gegebene Distributionsschema geregelt, während Subjekt/Objekt und Verbum im Verhältnis freier Wahl zueinander stehen (sofern nicht intern-lexikalische Beschränkungen vorhanden sind). Für den Zusammenhang der vorliegenden Studie hat dieser Gesichtspunkt nur heuristischen Wert, da er f ü r die semantische Bestimmung von Textstellen aufschlußreich sein kann. Wenn wir im folgenden die Bedeutungszonen ,Zeitpunkt' und ,Zeitdauer' unterscheiden, so ist mit ,Zeitpunkt' folglich nicht die kleinste denkbare Zeitdauer gemeint. ,Zeitpunkt' soll nicht eine quantitativ temporale Größe benennen, sondern den punktuellen Hinblick auf ein Geschehen, einen Vorgang usw. Wenn es in der St. Galler Schularbeit (26.2) heißt in só langero uiríste, só man einin stúpf ketüon mag, dann fällt die Verwendung von frist hier nicht unter die Kategorie .Zeitpunkt', sondern unter .Zeitdauer'. In
OTFRIDS
Evangelienbuch weist frist die folgenden Bedeutungszonen auf:
1. .Zeitpunkt': Nie bedeutet alleinstehendes oder nur mit Artikel versehenes frist einen bestimmten Zeitpunkt; nur Ausdrücke, in denen frist durch andere Zeit-Substantive determiniert oder mit Adverbien kombiniert ist, gewinnen diesen Sinn. Unproblematisch sind die Verbindungen mit sar, nu, tho; schwieriger aber die Wendungen, in denen io zu der Gruppe hinzutritt. H i e r sollte man einen Ausdruck erwarten, der die Dauer eines Vorgangs bezeichnen würde. Doch ist die Verwendung von io im Ahd. und besonders bei O t f r i d sehr labil und schwankt zwischen den Bedeutungen ,immer', ,je', ,einst', eventuell sogar ,damals' (vgl. unten 182 ff.). So verwundert es nicht, daß sar — das meist den punktuellen Aspekt eines Vorgangs anzeigt — und io zusammen stehen können, ohne sich gegenseitig aufzuheben 7 . 6
7
So möchte ich vorsichtig formulieren, im Gegensatz zur radikalen These des Buches v o n H a r a l d Weinrich, Tempus — Besprochene u n d erzählte Welt, S t u t t g a r t 1964. Wahrscheinlich sind Ausdrücke wie s a r i o bereits als Komposita aufzufassen, in denen i o nur noch den C h a r a k t e r eines vage temporalen Elementes h a t . Vgl. dazu die Bemerkungen über den Gebrauch von i o / i o m e r im Ahd. u. S. 185. Eis O k s a a r , a. a. O., 308 f., bemerkt zu s a r i o : „Die durch i o verstärkten F o r men finden sich häufig bei O t f r i d . . . Das Verhältnis zwischen s a r u n d s a r i o scheint dasselbe zu sein, wie das zwischen got. s u n s u n d s u n s a i w , die beide f ü r gr. eüdécoc; stehen. S u n s a i w hat . . . wahrscheinlich stärkeren Inhalt, denn das angefügte - a i w findet sich als Verstärkung auch bei a 1 i s a i w u n d der N e g a t i o n n i a i w , u n d auch sprachpsychologisch gesehen steht d e m stärkeren,
1.1.
Die
Zeit-Termini
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1.1. frist als Subjekt: Thoh quimit noh thera ziti frist (Joh 4, 23 venit hora) I I 14, 67. Durch die attributive Verbindung mit dem anscheinend allgemeineren zit könnte frist als bestimmter Punkt in der nicht näher begrenzten zit auszugrenzen sein. Doch fragt es sich, ob in einer solchen syntaktischen Verbindung zweier Zeit-Begriffe überhaupt ein bestimmtes semantisches Verhältnis auszumachen ist. Im heutigen Sprachgebrauch wäre ein solcher Satz, soweit ich sehe, kaum mehr denkbar: *Es wird noch der Augenblick der Zeit kommen, d a ß . . . Daher scheint es ratsam, derartige ,tautologische' Attributivgruppen in ihrer semantischen Unbestimmtheit zu belassen und die beiden Wörter nicht als ,determinans' und ,determinatum' voneinander abzugrenzen. Es mag geradezu ein Charakteristikum des älteren Sprachgebrauchs sein, daß tautologische Fügungen nicht als störend empfunden werden. (,Tautologie' kann hier natürlich nur heißen, daß das Attribut nichts über den Wortinhalt des Grundwortes Hinausgehendes aussagt.) 1.2. in adverbialer Position, auf die Frage ,seit wann?': Fori thesses dages fristi so was in thaz sid festi . . . thäz man nan irslüagi (,von diesem Tag an') I I I 25, 37 Durch die Präposition ,von . . . (an)' und das Adverb sid ist die Bedeutung ,Zeitpunkt' gesichert. 1.3. in adverbialer Position, auf die Frage ,wann?', in Verbindung mit Adverbien: !h . . auer sägen iu, ther wib biscöwot zi thiu thaz sar in themo friste zi thiu nan es giluste I I 19, 4 er sar zi thera fristi quad es wiht ni westi I I I 4, 40 und I I I 20, 52 Er ekrodi thaz westi sar ze thera fristi I I I 23, 17 Iz (das Gute) ruarit sino brüsti sar zi thera fristi mit mihilen riuon, so er iz beginnit scouon. V 25, 59 (.sogleich, im gleichen Augenblick, da . . . ' ) wir eigun zuei suert hiar nu zi therera fristi in thina föllusti. I V 1 4 , 1 4 Gibot thaz sie firnamin, ouh wiht mit in ni namin, tho zi themo friste in zi wegeneste I I I 14, 90 bi fruma thia si thar firstal, tho mithont in theru fristi... I I I 14, 40 {mithont heißt sonst soviel wie ,soeben', in dieser Häufung von temporalen Bestimmungen aber ist eine Abgrenzung der einzelnen Wörter gegeneinander kaum möglich und sinnvoll) Er was io in thera fristi zi sinen fuazon festi I I I 9, 19 intensiveren Inhalt nichts entgegen, da die Ausdrücke für ,sofort' ja gern affektisch gestaltet werden."
24
1-
Althochdeutsche
Texte außer
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{er, d. i. ther selbo se, über den Jesus geschritten ist. Hier ist io möglicherweise noch als semantisch selbständiges Adverb des Sinnes ,immer' zu fassen, wie die Fortsetzung des Satzes vermuten läßt: nintweih imo iowanne zi sines selbes gange, in thera fristi meint dann undifferenziertes .damals' oder aber ,in dieser ganzen Zeit [als er über den See schritt]'. Im letzten Falle wäre der Beleg in die Bedeutungszone 2 einzuordnen.) Sie sliumo thes sar zilotun, thaz grab gizeinotun sar io in theru fristi mit mihileru festi IV 36, 18 sar io in thera fristi tho ruartun se angusti V 10, 20 Thaz sies wialtin filu främ, so gotes theganon gizam, joh sar io in theru fristi iz wäri filu festi V 11,18 (Die Stelle bezieht sich aufs Sündenvergeben, das ,sogleich', unmittelbar' geschieht und das ,im gleichen Augenblick' Gültigkeit gewinnt. Die temporale Wendung ist jedoch nicht eindeutig, weil der Kontext iz wari ... festi eher eine temporale Bestimmung der Zukunft oder der Dauer erwarten ließe. Vielleicht ist der Ausdruck auch ähnlich zu verstehen wie die unter (4) behandelte Stelle V 25, 91.) Alle diese Ausdrücke sind d e i k t i s c h 8 : die Adverbien und Demonstrativpronomina zeigen auf den Zeitpunkt hin, an dem ein Vorgang gesdiieht oder beginnt bzw. an dem er in den Blick gerät. (Es ist wohl sinnvoller, bei den besprochenen Wendungen von ,Demonstrativpronomen' statt von g e stimmter Artikel' zu sprechen, da die demonstrative Funktion gerade hier noch deutlich ausgeprägt ist.) Durch die perfektiven verbalen Kollokationen ist der Sinn ,Zeitpunkt' in folgenden Fällen zusätzlich gesichert: III 4, 40 quad III 20, 52 quad III 14, 90 mit in ni namin III 14, 40 firstal IV 36, 18 gizeinotun (zilotun) V 10, 20 ruarten V 25, 59 ruarit (der perfektive Charakter besonders deutlich durch den mit 50 . . anschließenden Nebensatz) Die Kollokationen mit quad gehören eindeutig hierher, da quedan an beiden Stellen (wie allgemein im Ahd.) nicht meint ,eine Rede halten', sondern .sprechen' (wie lat. inquit).
8
Ueber die Grundlagen der .Deixis' in den idg. Sprachen, über die Typen der dieser/ jener-Deixis handelt zusammenfassend und wegweisend Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 2., unveränderte Auflage, Stuttgart 1965, vor allem Kapitel II .Das Zeigfeld der Sprache und die Zeigwörter' (79 ff.).
1.1.
Die
Zeit-Termini
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Auch der Vers II 19, 4 ist beweiskräftig, da gilusten als ,Lust, Begierde bekommen', nicht als ,Lust haben' zu verstehen ist (das alte Perfektivierungsmittel gi- ist hier noch funktionstüchtig). 2. Bestimmte, umgrenzte ,Zeitdauer': 2.1. durch Attribut determiniert: in thrio dago fristi II 11,34 (,innerhalb von drei Tagen' [will Jesus den Tempel wieder aufbauen]). Wenige Verse später steht in einer völlig synonymen Wendung das Wort zit: thaz thu thaz irrihtes, s a r i n t h e r u n o t i in thrio
dago ziti
I I 11, 4 0
alles mines libes frist V 23, 226 (,meine ganze Lebenszeit hindurch', ,während meines ganzen Lebens') Thie (die Engel) io thaz irwellent thaz sie thaz gizellent, sar in horsglicha
frist
so w a z so i n g i b ö t a n ist V 8, 10
(,in eiliger [kurzer] Zeit [spanne]', d. h. ,rasch', ,unverzüglich') 2 2. durch den Kontext determiniert: joh imo in thera fristi thes gisiunes gibrüsti III 20, 84 (,in diesem Zeitraum', d. h. von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Heilung) Quad after thera fristi in niamer sin ni brusti IV 15, 57 (,nach dieser Zeitspanne' [nämlich nach der bis zur Auferstehung dauernden Zeit; vgl. Joh 16, 7 si autem abiero, mittam eum, i. e. paraclitum]) Die folgenden beiden Beispiele bilden bereits eine Übergangszone zu (3): wio kürt in was thes libes frist II 3, 28 (,die Zeit zu leben' [in der bibl. Erzählung vom Kindermord]) Thie andere (die Bösen) alle filu frua sero grünzent (murren) tharzua, sero düit in thiu frist theiz (das Gute) bithekitaz nist. V 25, 86 (,die Zeit, die Frist, während der das Gute nicht verborgen ist') 3. Unbestimmte oder bestimmte Zeitdauer, mit den besonderen Bedeutungsnuancen ,Zeit der Ruhe, Schonung; Aufschub': Hier begegnet frist als Objekt mit dem Typ von verbalen Kollokationen, den wir bereits in der Benediktinerregel vorfanden: ni lazent thie ärabeit es frist II 14, 4 (,Zeit zu etwas' [hier: zum Ausruhen] ) thio argun gilusti gebent thir furdir fristi III 7, 84 (,lassen dich weiterhin in Ruhe, quälen dich nicht mehr, verschonen dich') Frost ther umblider ist, ther ni gibit thir thia frist, hizza ginöto suärlichero dato V 23,135 (wie III 7, 84) Irgeit iz zi ängusti, oba wir mes duen thie fristi, thaz er in themo müaze then liutin sih gisüaze. III 25, 11 Die beiden Wörter frist und muazi ergänzen sich in ihrer Bedeutung gegenseitig: .wenn wir ihm dazu die nötige Zeit, Gelegenheit geben, daß er in dieser
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1.
Althochdeutsche
Texte
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Notker
Zeit, F r i s t . . M i t dieser Stelle besitzen wir einen ganz deutlichen Anknüpfungspunkt an die Fälle der Benediktinerregel. Doch ist hier das temporale Moment des Wortes deutlicher als in den Beispielen der Interlinearversion. Charakteristisch f ü r die Kollokationen frist lazan, frist geban, frist tuon9 ist die semantische ,Offenheit' der Gruppen. D. h. explizit oder implizit ist zu ergänzen, w o z u die frist dienen soll bzw. w o v o n sie befreien, w o m i t sie verschonen soll. Das zweimalige genitivische Pronomen es ist syntaktischer Ausdruck dieser Offenheit. Aus den genannten Kollokationen wird auch der folgende Ausdruck verständlich, der als Äquivalent einer Formulierung wie frist tuon gelten kann: Ö b ir mih irknatit, ir selbon thaz instuantit ana langlicha frist, wiolih ouh min fater ist. I V 15, 24 (,ohne langen Aufschub, ohne lange Verzögerung', d. h. ,sogleich' [das Äquivalent wäre etwa ein Infinitivsatz mit einem der typischen Verben]) 4. unbestimmte Dauer: in der summativen Formel alla frist: ir betot alla frist thaz iu unkundaz ist II 14, 64 (.ständig, stets' [ J o h 4, 22 ohne temporale Bestimmung: vos adoratis quod nescitis; die generalisierende Formulierung des biblischen Textes meint aber das gleiche wie die explizite temporale Bestimmung der Otfridschen Fassung]) In diese Bedeutungszone gehört wohl auch die Stelle V 25,91, die allerdings durch ihre H ä u f u n g zeitlicher Termini präziser semantischer Erklärung widerstrebt: T h a z thie selbun smähi min in gihugti muazin iro (der Gottesmänner) sin, mit w6rton mih ginüagen zi druhtine gifuagen; Io sar in themo friste zi waltantemo Kriste, zi waltanteru henti ana theheinig enti. Wenn wir den zweiten Temporalausdruck als Variation des ersten betrachten dürfen, dann müssen beide Ausdrücke auf die immerwährende bzw. immer neue Verbindung ( g i f u a g e n ) mit dem H e r r n abzielen. O b in themo friste über den Gesamtsinn des temporalen Ausdrucks hinaus noch einen speziellen Sinn hat, ob damit vielleicht die Zeit des irdischen Lebens intendiert ist, bleibt schwer zu entscheiden. Ausgeschlossen wäre es nicht, wie die folgende Beleggruppe zeigt. Jedenfalls sind die Kombinationen von frist mit den Adverbien sar und io semantisch labil, wie auch einige der oben besprochenen Belege vermuten lassen. 9
Schützeichel schlägt als Uebersetzungen v o r : frist lazen ,jemanden in R u h e lassen' frist geben J e m a n d e n verschonen' frist tuon .Aufschub gewähren'
1.1. Die Zeit-Termini
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5. ,Zeit auf Erden',,irdische Zeit überhaupt': In muate was in (den Märtyrern) génaz mer thanne thaz mànagfalta ser, thanne in théra fristi thes lichamen quisti (Qual). V 23, 68 Das ganze Kapitel V 23 handelt vom Gegensatz des Irdischen und H i m m lischen (De Qualitate Caelestis Regni Et Inaequalitate Terreni), entsprechend zielt unsere Stelle auf den Gegensatz der irdischen Zeit mit ihrer Qual zur ewigen Freude des Himmelreiches, frist ist somit deutlich weltanschaulich akzentuiert als ,diese Zeit' auf Erden. Die Zuordnung zum irdischen Bereich leistet das Demonstrativpronomen der unmittelbaren Deixis. D a ß diese signalisierende Funktion des bloßen Demonstrativpronomens, die die Leistung des situationsgebundenen Hin-Zeigens übersteigt, in einen weitreichenden geistesgeschichtlichen Prozeß hineingehört, wird später zu erörtern sein (s. u.). 6. ,ewige' Zeit: Während frist sonst als Terminus der Dauer mehr oder weniger bestimmte, jedenfalls aber begrenzte Zeitspannen bezeichnet, wird an einer Stelle gerade diese Begrenztheit durch das Attribut ewinig negiert: Ih bin i r s t ä n t n i s s i . . . bin Hb ouh filu fésti zi éwinigeru fristi. I I I 24, 28 (Joh. 11,25 ego sum resurrectio et vita; qui credit in me, etiam si mortuus fuerit vivet. Et omnis qui vivit, et credit in me, non morietur in aeternum. O t f r i d nimmt die temporale Bestimmung in aeternum bereits f ü r den ersten Teil der Aussage, der das Leben Christi betrifft, in Anspruch; vom Leben des Gläubigen sagt er dann in Vers 32: nirstirbit er in ewon. Die beiden parallelen Ausdrücke zi ewinigeru fristi und in ewon meinen offenbar dasselbe: ,bis in alle Ewigkeit', ,für alle Ewigkeit'. Man wird sich fragen dürfen, ob nicht auch hier die Reimposition die Wahl gerade d i e s e s Temporalwortes begünstigt hat, das nach seinem sonstigen semantischen Habitus nicht geeignet scheint f ü r eine Ewigkeitsaussage. Überblickt man das Spektrum der Verwendungsweisen von frist in Otfrids Evangelienharmonie, so läßt sich schwer ein einheitlicher Nenner f ü r die Vielfalt der Bedeutungen finden. Das Wort ist syntaktisch frei verfügbar, mit verschiedensten Temporalausdrücken kombinierbar, nur in Objektstellung an feste Kollokationen gebunden und reicht von konkret-situationsbezogenen Sinnnuancen bis in den Bereich ,ewiger' Zeit. Bei solcher Weite des Anwendungsbereiches ist es auffällig, d a ß frist an keiner Stelle mit qualifizierenden Determinanten vorkommt, wenn wir nicht die Kontextdetermination bei den Belegen der Gruppe (3) als qualifizierend betrachten wollen. Zweimal begegnet frist in Otfrids Evangelienbuch als G r u n d w o r t eines K o m p o s i t u m s : in daga-frist und worolt- frist. alle dagafristi,
thi er uns ist lihenti I 10,18
28
1.
Althochdeutsche Texte außer
Notker
(,alle Lebenszeit, die ganze Zeit des Lebens' [,Tage* ist hier gemäß biblischem Sprachgebrauch (s. u. 124) v e r w e n d e t im Sinne v o n ,Lebenszeit']; durch daga- w i r d der Blick auf die L e b e n s zeit gerichtet, w ä h r e n d mit frist der Gesichtspunkt des q u a n t i t a t i v Begrenzten ins Spiel k o m m t . ) O u h m a n nihein ni löugnit, t h a z giscrib iu t h a r giquit, niz allo wöroltfristi si io filu festi I I I 22, 54 (,alle Weltzeit, die ganze irdische Zeit' [vgl. J o h . 1 0 , 3 5 non potest solvi scriptura, w o w i e d e r u m eine generalisierende Aussage der deutschen temporalen W e n d u n g entspricht — vgl. I I 14, 64], Durch das variierende A d v e r b io w i r d der zusammenfassende C h a r a k t e r des Ausdrucks noch verdeutlicht.) . . . t h a z ouh ni bimiden, mit uns sich saman bliden In ewon zi guate mit heilemo muate, m i t rehten hügulustin in allen woroltfristin. I V 37, 38 Die Variation der beiden Temporalausdrücke l ä ß t vermuten, d a ß auch mit dem zweiten eine unendliche Zeiterstreckung gemeint ist. D a s D e t e r m i n a n s worolt- z w a r scheint den Wortsinn auf ,irdische Zeit' z u begrenzen; doch ist darüber erst ein Urteil möglich, w e n n w i r die a h d . Belege f ü r worolt geprüft haben. D e r gesamte D u k t u s des Kontextes aber deutet darauf hin, d a ß ein Gegensatz v o n ewiger u n d irdischer Zeit an dieser Stelle keinesfalls beabsichtigt ist. D e n n nicht n u r die Zeit-Ausdrücke, sondern auch die übrigen a d v e r bialen G r u p p e n stehen deutlich in V a r i a t i o n : mit heilemo muate — mit rehten hugulustin. Theiz hiar in wöroltfristi min nihein ni westi. . . V 17, 7 (,in dieser irdischen Zeit'; das zusätzliche Signal hiar zeigt auf das irdisch-Begrenzte der gemeinten Zeitspanne hin [s. u. 303 ff.]). In allen diesen K o m p o s i t a meint frist eine .gewisse Zeitspanne, Zeitdauer', die in ihrer Erstreckung durch das Bestimmungswort genauer begrenzt oder in zusammenfassenden Formeln kumuliert w e r d e n k a n n . Die summierenden Ausdrücke v e r w e n d e n das K o m p o s i t u m jeweils im Plural, w o m i t vielleicht der C h a r a k t e r des allzu K o n k r e t e n , der allzu situationsbezogenen Zeitspanne a u f gehoben w e r d e n soll. Möglicherweise ist d a n n auch die Stelle I I I 22, 54 nicht nur auf ,irdische' Zeit, sondern auf Zeit ü b e r h a u p t bezogen (wie I V 37, 38). U m s t r i t t e n ist der Sinn des Kompositums *frist-frang (?), in dem frist das Bestimmungswort darstellt; das W o r t ist nur bei O t f r i d u n d nur an einer Stelle belegt: Zellu ih a n a bäga bi t h i s a selbun f r a g a (nämlich die Frage des H o h e n priesters: bist du Gottes Sohn?), irkenni in themo m u a t e : ni det er iz bi güate; D e t er iz then m ä n n o n zi einen fristfrangon, t h a z sie n a n . . . mohtin gianabrechon (verurteilen). I V 19, 63
1.1.
Die
Zeit-Termini
29
Kelle übersetzt mit ,Gelegenheit, Veranlassung', E r d m a n n 1 0 interpretiert „zum Abschneiden weiterer Frist, d. h. z u m schnellen Abschlüsse der V e r h a n d l u n g " . Obgleich auch E r d m a n n s D e u t u n g nicht voll befriedigt, w ü ß t e ich ihr nichts Besseres entgegenzusetzen 1 1 , z u m a l H e i n e r t z 1 2 eine v e r n ü n f t i g e f o r m a l e E r k l ä r u n g f ü r diese A u f f a s s u n g anbietet: „Der letzte teil von f r i s t f r a n g o n läßt sich schwerlich von der Glosse francta = urgebat (II 392,39) trennen, die zur Pass. Calagurr. 43 des Prudenz gehört: Liberam succincta ferro pestis urgebat fidem. Der sinn ist klar: f r a n c t a steht hier = ,bedrängte'. Als infinitiv setze ich dafür * f r e n g e n an (vgl. g i 1 a n c t a von g i l e n g e n z.b. I 749,8; g i h a n c t a von g i h e n g e n z. b. II 432,11), dem im got. ein * f r a - a g g w j a n hätte entsprechen müssen (vgl. got. g a a g g w j a n ,bedrängen', g a - a g g w e i ,einsdiränkung' und für die vokalelision got. f r a - i t a n , ahd. f r e z z a n sowie ahd. f r a v a 1 i , nhd. f r e v e l , das KLUGE auf * f r a - a f l s zurückführt). Der sinn von z i e i n e n fristf r a n g o n muß demnach etwa ,zur einschränkung der frist' sein." O b der N o m . S g . mit Schade u n d H e i n e r t z als *fristfranga oder m i t Kelle u n d Schützeichel als * frist f rang anzusetzen ist, m u ß bei der b e k a n n t e n Labilität der ö - S t ä m m e ( s t u n t a j s t u n t usw.) offen bleiben 13 . Für die semantische Beurteilung v o n frist ergibt sich — falls die Erdmannsche D e u t u n g zutrifft — , d a ß frist eine Zeitspanne meint, die eingeschränkt, v e r k ü r z t , ü b e r h a u p t quantifiziert w e r d e n k a n n . Die Belege der K L E I N E R E N D E N K M Ä L E R 1 4 gehen nicht über das aus O t f r i d Bekannte hinaus. Aus dem d o r t ausgebreiteten V e r w e n d u n g s s p e k t r u m sind n u r die Bedeutungszonen (2) u n d (3) v e r t r e t e n : (2) St. Galler Schularbeit (26.2): des kestirnis chraft fergät u n d e uirloufit in so langero uiriste, so m a n einin stupf ketüon m a g (wir m ü ß t e n eher übersetzen ,in einer so k u r z e n Zeitspanne . . . ' , weil lang in unserem Sprachgebrauch stärker auf die Opposition z u kurz festgelegt ist, als dies anscheinend in ahd. Zeit der Fall w a r ) Süddt. Glaube 56 (346) 29: ich gloube, d a z er . . . hie en erde wonete driu u n d e drizzich iar unde mere, unde geloube, daz er inner der urist getouffet w a r t (,innerhalb dieser [ g e n a n n t e n ] Zeitspanne') (3) Wessobr. Beichte 28 (142) 3: f o n e diu ferlazi ih uone herzen in d a z selbe gedinge, n a h diu so du, got almahtiger, mir frist gelazest, allen minen scolaren . . . (,die [nötige] Zeit, d a m i t . . . ' ) 10 11
12
13 14
Erdmann, 452. Vgl. auch Deutsches Rechtswörterbuch, bearbeitet von Eberhard Freiherrn von Künßberg, ,Fristfrang', III (1935—1938) Sp. 957, wo die Otfrid-Stelle aufgeführt und das Wort mit ,Fristverkürzung' übersetzt ist. Otto Heinertz, Wortstudien II, 3. frist. Studier i modern sprakvetenskap X, Uppsala 1928, 1—24, hier 18. Vgl. Braune, Ahd. Gr., § 207, Anm. 2. Die kleineren Denkmäler werden zitiert nach Steinmeyer, wobei sich die Zahlenangaben auf Nummer und Vers- bzw. Zeilenzahl in dieser Ausgabe beziehen. Bei größeren Stücken wird (als zweite Zahl) noch die Seite angegeben.
1.
30
Althochdeutsche Texte außer
Notker
St. Galler Beichte I I I . 28 (353) 20: u n d bite libe unde sele urist samint, unz ich mine sunde geboze (.Frist, b i s . . . ; die nötige Zeit, bis . . . ' ) Beide Belege weisen die f ü r diese Bedeutungszone typische O b j e k t Stellung v o n frist auf, im ersten Fall darüberhinaus die b e k a n n t e verbale K o l l o k a t i o n . D e r folgende Beleg aber, aus einem späten nachnotkerschen Stück, ist nicht ganz eindeutig zu fassen, k ö n n t e aber syntaktisch u n d semantisch z u r O t f r i d - S t e l l e I V 15,24 stimmen: H i m m e l u n d H ö l l e 29 (154) 47 (innerhalb einer A u f z ä h l u n g der Schredken der H ö l l e ) : kala ane uriste ( Q u a l ,ohne Aufschub, ohne Schonung', vielleicht auch allgemeiner ,ohne zeitliche Begrenzung, ohne Ende') Die altsüdmittelfränkischen P s a l m e n f r a g m e n t e haben einen Beleg f ü r frist Sinne einer durch ein quantifizierendes A d j e k t i v begrenzten ,Zeitspanne':
im
Ps. 2 , 1 3 (v. H e l t e n S. 93) C u m exarserit in breui ira eius, beati omnes qui c o n f i d u n t in eo. — . . . in k u r t u r o uriste . . . (Handschrift: k u r tuurste) Die G L O S S E N B E L E G E f ü r frist weisen eine m e r k w ü r d i g e Verteilung auf, die a u f f a l l e n d z u m Sprachgebrauch der Benediktinerregel stimmt, nicht aber z u r V e r w e n d u n g in den jüngeren literarischen Texten. Einer großen G r u p p e v o n Glossen liegen die gleichen L e m m a t a wie in der Benediktinerregel z u g r u n d e : occasio:
occasio — frist I 794, 7 ff. (1 J o h Prol.) [10. 11. J h . ] occasio — urist I I 171, 7 (Gregor C u r a Past. 3 , 1 7 ) [9. J h . ] occasio — frist I I 271, 42 f. (Gregor H o r n . I, 3, p. 1447) [10./ll.Jh.] occasionem — vrist I I 48, 30 (Beda, D e R a t . T e m p . p. 322) [11. Jh.] occasione — fristi II 614, 18 (Sedul. Dedicatio p. 539) [12. J h . ] u n d I I 106, 23 f. ( C a n . apost. X L ) [ 1 0 . 1 1 . J h . ] occasione — friste I 756, 44 (Rom. 7, 8) [11. J h . ] occasione — uristi I I 109, 29 (Con. A n c y r . X X V ) [11. J h . ] occasiones — fristi I 286, 6 (Deut. 2 2 , 1 4 ) [9. J h . ]
Alle diese Belege e r f o r d e r n — wie in der Benediktinerregel — f ü r die lat. Vorlage keine t e m p o r a l e Bedeutung. D a s Gleiche gilt f ü r materia:
m a t e r i a m — f r k s t ( = frist) I I 5 9 , 1 9 (Boet. 2, 7) [10. J h . ] u n d I I 6 4 , 1 7 (Boet. 2, 7) [11. J h . ]
I n den Bedeutungskreis,Möglichkeit, Gelegenheit' gehört a u d i
1.1. Die Zeit-Termini copiais:
31
copia — frist I 486, 8 (Judith 12, 5) [9. Jh.] und II 714, 44 (Vergil A I X 484) [11. Jh.] copia — frkst ( = frist) I I 715, 34 (Vergil A IX, 720) [11. Jh.] (Die beiden Vergilglossen haben als Parallelglossierung Stada, das bei Notker auch im Sinne von ,Gelegenheit' belegt ist)
Die Nachbarschaft von frist und Stada zeigt sich auch in Glossen mit dem Lemma locus:
locus — f r i s t / s t a t a ( b z w . Stada) I I 62, 28 ff. (Boet. 4, 4)
und II 68, 69 f. (Boet. 4, 5) [10. 11. Jh.] Ein Obergangsstadium zur temporalen Bedeutung von frist, wie wir sie aus dem sonstigen Ahd. kennen, bilden die folgenden Beleggruppen: induciae: (,Waffenfrist, Waffenstillstand, Verhandlung, Bedenkzeit'): inducias — frist IV 215, 30 [12. Jh.] inducias — frist/thinc II 49, 15 (Sei. Ben. Regula Prol.) [9. Jh.] in Komposita: inducias — fristmal IV 72,10 (Gl. sal.) [12. Jh.] inducias — fristmali/tagadinch II 53, 3 (Sei. Ben. Reg. Prol.) [11-JM inducias — fristmale/tagedinch IV 146, 42 (Gl. Sal.) und II 20, 17 (Aldhelm 170, 28) [11. Jh.] inducias — frismale II 16, 33 (Aldhelm 170, 28) [10./11. Jh.] interstitium:
interstitium •— frist II 147, 37 (Conc. Laod. C X X ) [9. Jh.] Heinertz 1 6 bringt diese Glosse in semantischen Zusammenh a n g m i t frist =
spatium in J u d . 16, 16 (s. u . ) : „ E b e n s o d i e
Canones-glosse . . . frist = interstitium in der Überschrift zum Conc. Laodic. kap. 17: Quod interstitium psalmorum debeat in sabbatis fieri: heutzutage würde an diesen stellen i m deutschen e t w a ,pause, Z w i s c h e n r a u m ' als
Übersetzung
passen." 15
16
Vgl. Heinertz, a. a. O., 5, Anm. 1: „Im sinne von Gelegenheit' kommt f r i s t vor in ein p a a r (fränkischen oder altsächsischen?) glossen: Stada, frist = copia . . . zu Virgils Aeneis I X 484, w o die mutter des Euryalus ihren gefallenen söhn betrauert: nec te, sub tanta pericula missum, a d f a r i extremum miserae data copia matri? Dieselben glossierungen kehren Ahd. gl. II 715,34 wieder, wo sie sich auf Virgil IX, 720 beziehen." Heinertz, a. a. O., 4.
32
1.
spatium:
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
spatium/spacium — frist I 386, 48 (Jud 16,16) [10./11. Jh.] II 81, 38 (Caes. X X I X p. 849) [9. Jh.] II 380, 9 (Prosperi Epigr. 4, 4) II 697, 21 (Vergil A IV 433) [12. Jh.] In Jud 16, 16 und Vergil A IV 433 liegt genau jene Bedeutungsnuance vor, die wir bei Otfrid (in Gruppe 3) antrafen:
Judices 16, 16: Cumque molesta esset (Delila) ei (Samson), et per multos dies jugiter adhaereret, spatium ad quietem non tribuens, defecit anima ejus. Vergil Aeneis IV 433: tempus inane peto, requiem spatiumque furori (,Ruhe, Schonung vom Schmerz') 17 . Bezeichnend sind in beiden Fällen die parallelen Ausdrücke: quies, requies, im ersten Beispiel als ,Inhalt' des spatium gekennzeichnet, im zweiten als direktes ,Synonym' von spatium. Einmal steht virst f ü r spacium (I 614, 9 ff. — Es. 49, 20), und zwar in eindeutig räumlichem Sinne. Sonst aber ist die Beleggruppe first nach ihren Lemmata klar von den /mi-Belegen geschieden (first steht f ü r cacumen, culmen, cupla, iugum, pinna, pis, tolus u. ä.). Der Bedeutungsbereich von induciae, interstitium, spatium ist schwer zu umschreiben: neben lokalen und temporalen Momenten umfaßt er auch den Sinnbezirk von .Gelegenheit, Möglichkeit', auch ,Ruhe, Schonung' usw. Die folgenden drei Belege fallen aber auch aus diesem Rahmen und passen kaum mehr zu der gewohnten Verwendung des Wortes. Heinertz 1 8 bemerkt dazu: „Ahd. Gl. I 752, 59 steht vristi = obtentu, welche glosse sich auf die Apostelgeschichte 2 7 , 3 0 bezieht: nautis vero quaerentibus fugere de navi, cum misissent scapham in mare sub obtentu quasi ineiperent a p r o r a anchoras extendere. U n t e r den Canonesglossen findet sich I I 105, 13 dieselbe glosse zu den C a n . Apost. kap. 6: Episcopus, a u t presbyter uxorem p r o p r i a m n e q u a q u a m sub obtentu religionis abiieiat. Die handschriften, worin diese glossen v o r k o m m e n , sind f ü r das erste beispiel C l m 19 440, Wien 2723 und die damit nahe übereinstimmende 2732, Clm 18 140 und G o t w . 103, f ü r das zweite die erstgenannten drei handschriften u n d daneben Wien 361. Sämtliche handschriften stammen aus dem X . — X I . jahrh., diese bedeutung muß aber viel älter sein. D e r dritte beleg findet sich in zwei handschriften C o d . Floriani I I I 222 B und Wien 949, beide aus dem I X . — X . jahrh.: k a f o r i vel frist = pretextu (II 228,39) zur C u r a pastoralis 3 , 1 6 p. 57: alia est ira quae sub aemulationis specie subripit, alia quae t u r b a t u m cor et sine justitiae praetextu c o n f u n d i t . Im modernen deutsch w ä r e die f ü r diese drei stellen auf der h a n d liegende Übersetzung des Wortes , v o r w a n d , deckmantel'."
Eine Übersicht über die Glossenbelege vermittelt den Eindruck, daß das Wort sehr stark im r e c h t s s p r a c h l i c h e n Bereich verankert ist. Auch wo es temporal verwendet wird, haftet den Lemmata ein Rest des raum-zeitlichen ,dazwischen' an. Weit stärker als in den literarischen Texten also ist frist in den Glossen auf Bedeutungszonen außerhalb oder am Rande des temporalen Bereiches ausgerichtet. 17 18
Für Judices 16, 16 n i m m t H e i n e r t z , 4, temporalen Sinn an (.Pause'). H e i n e r t z , a. a. O., 6.
1.1.
Die
Zeit-Termini
33
Zusammenfassung mit Ausblick auf die Etymologie Die Verwendungsweise v o n frist ist deutlich nach Texten b z w . T e x t g r u p p e n differenziert. In den Glossen liegt das W o r t noch in einer Sinnstreuung vor, die von rein rechtssprachlichen Vorstellungen ohne temporalen Sinn bis a n den R a n d des temporalen Bezirkes reicht. Aber auch dort, w o der temporale C h a r a k t e r h e r v o r t r i t t , bleibt meist eine N u a n c e rechtssprachlicher ,Präzision' erhalten, die dem W o r t seinen teleologischen A k z e n t verleiht 1 9 . Die sehr alte Reichenauer oder St. Galler 2 0 Interlinearversion der Benediktinerregel k e n n t das W o r t nur in der Bindung an bestimmte verbale Kollokationen, deren Bedeutungsrahmen aber dem der Glossen weitgehend entspricht. O t f r i d s E v a n gelienharmonie schließlich weist den klaren O b e r t r i t t des Wortes in rein temporale Bereiche auf, wobei allerdings auch die aus Glossen u n d Benediktinerregel b e k a n n t e n Bedeutungszonen gut belegt sind. Charakteristisch f ü r O t f r i d s Verw e n d u n g des Wortes ist durchweg eine starke Ausrichtung auf quantifizierte b z w . quantifizierbare Zeit(dauer), wobei sich der Blick auf die Grenzen der Zeitspanne richten k a n n . W e n n w i r n u n abschließend nach der Etymologie des Wortes f r a g e n , so geschieht dies nicht, u m die ,eigentliche Bedeutung' z u eruieren. Vielmehr soll die Etymologie der L e i t f a d e n sein, der die scheinbar heterogenen Bedeutungen des Wortes in genetischen Z u s a m m e n h a n g bringt. Dies scheint mir in der Studie von N . O . Heinertz 2 1 weitgehend geleistet, wenngleich H e i n e r t z den letzten Schritt der A b s t r a k t i o n (die rein temporale V e r w e n d u n g bei O t f r i d , v o r allem O t f r i d s .ewige* frist) nicht mehr z u deuten w a g t . D e r G e d a n k e n g a n g der Untersuchung sei k u r z skizziert: Als ursprüngliche' Bedeutung setzt H e i n e r t z ,Schutz' an 22 . Die weitere semantische E n t f a l t u n g von frist deutet er aus dem R a h m e n germanischer Rechtsverhältnisse 2 3 , w o r a u s sich der U b e r g a n g z u m temporalen Sinn zwanglos ergibt: „der angeklagte genoß noch seine frist bis z u der gerichtszusammenkunft . . . u n d obendrein noch eine kürzere oder längere zeit nach der Verurteilung. Es ist d a n n leicht einzusehen, d a ß frist in ausdrücken wie ,er h a t noch einen tag (eine woche, einen m o n a t , ein jähr usw.) frist' von dem ursprünglichen sinn ,schütz' in den von f r e i g e g e b e n e zeit, nach deren ablauf ein anderes Verhältnis eintritt', Aufschub' hinübergleiten konnte 2 4 ." Aus 18
20
21 22 23 24
3
Für die rechtssprachliche Verwendung des Wortes, vor allem in mhd. und f r ü h m h d . Zeit, vgl. den Artikel ,Frist' in: Deutsches Rechtswörterbuch, bearbeitet von Eberhard Freiherrn von Künßberg, III (1935—1938), Sp. 951—955. Für St. Galler H e r k u n f t der Benediktinerregel plädiert neuerdings Stefan Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen. Ergebnisse u n d Probleme der althochdeutschen Sprachüberlieferung in St. Gallen vom 8. bis 12. Jahrhundert, St. Gallen 1970, S. 66. Heinertz, a. a. O. A. a. O., 12. A . a . O . , 13 ff. A. a. O., 15. Burger, Zeit
34
1.
Althochdeutsche Texte außer
Notker
der beschriebenen Rechtssituation erklärt sich auch die Bedeutung .Gelegenheit', die in Ausdrücken wie ,er hat jetzt frist zum fliehen' 25 erwachsen sein kann. Schwieriger ist es mit den Glossenbelegen für sub obtentu und praetextu: „ . . . hier bietet lat. occasio eine interessante parallele, indem e s . . . auch im sinne von ,eine schickliche art, sich aus etwas herauszuhelfen, ein anständiger vorwand' begegnet. Ist dieselbe entwicklung auch für das deutsche wort anzunehmen? Oder soll man eher von dem ursprünglichen sinn ,schütz' ausgehen, also für sub obtentu religionis etwa an die bedeutung .unter dem schütz oder deckmantel der religion' denken 28 ?" Bei diesen isolierten Belegen von einer .Entwicklung' zu sprechen, scheint mir fragwürdig. Höchstens ließe sich an eine okkasionelle Übertragung der ,Nebenbedeutung' des lat. Lemmas auch auf das deutsche Wort denken. Doch hat wohl Heinertz' zweite Erklärung mehr für sich. Die Heinertzsche Darstellung der Bedeutungsgeschichte des Wortes scheint in der Forschung tale quäle akzeptiert worden zu sein. Kluge-Mitzka 27 übernimmt die Hauptetappen des Vorgangs. Nur Jost Trier 28 geht über die ältere Studie hinaus. Zwar will er das Wort gleichfalls in der rechtlichen Sphäre verankert finden, doch stellt er über die Geschichte des Einzelwortes hinaus einen Zusammenhang mit first her: „In Frist klingt noch heute (in älterer Sprache stärker) der Gedanke des Schonens und Schützens mit, und daß der Beziehungen zum Zaun hat, ist einleuchtend . . . Frist ist kein reiner, abgezogener und deshalb leerer Zeitbegriii. Frist ist stark lebensverbunden, mit dem Gefühl einer bestimmten inneren Lage, nämlich der des (noch) Geschütztseins, durchwärmt und durchtönt. Auf irgend eine Weise ist jede Frist eine Gnadenfrist. Selbst Aufschub trifft nicht ganz das, was in Frist ausgedrückt wird. Das was aufgeschoben wird, ist etwas Peinliches oder zum mindesten bedrückend Entscheidendes. Die Frist ist eine vergleichsweise ruhige, ungestörte Zeitspanne vor dem Eintritt jenes Peinlichen, eine Zeit noch geschützten, .gehegten' Daseins 29 ." Es sei dahingestellt, ob der etymologische Zusammenhang tatsächlich schlüssig ist — von der Bedeutungsgeschichte her spricht nichts dagegen. Doch ist die Triersche Betrachtungsweise in mancher Hinsicht ein merkwürdiger
25 26 27
28
29
A . a . O . , 15. A. a. O., 16. Et. Wörterbuch 2 2 0 : „Frist f. Mhd. vrist f. m. n. ,freigegebene Zeit, nach deren Ablauf ein anderes Verhältnis eintritt, Aufschub', ahd. asächs. frist ,mora spatium, limes temporis', mnd. verst, mnl. verste, afries. ags. frist, first, anord. frest, ferst n., dän. schwed. frist ,Zeit(raum)', dazu toch. prast .Zeit'. Zu germ. *fri + Abstraktsuffix -st. vgl. Frieden. Ursprüngliche Bedeutung: ,Schonung, Schutz'." Auch Ibach, a. a. O., 79 f., schließt sich der Heinertzschen Theorie an. Jost Trier, First — Ueber die Stellung des Zauns im Denken der Vorzeit (Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philolog.-hist. Kl., Fachgruppe IV, N . F. Bd. III, N r . 4), 5 5 — 1 3 7 . Trier, a. a. O., 124.
1.1.
Die
Zeit-Termini
35
Rückfall in überholte Denkschemata: Trier strebt in einem einfühlenden, sich einlebenden Kreisen um den Wortsinn wieder nach einer eigentlichen' Bedeutung im strengsten Sinne (sogar für den heutigen Sprachgebrauch!). Dies erinnert eher an den Umgang mit Sprache bei Philosophen Heideggerscher Prägung als an sprachwissenschaftliche Nüchternheit. Auch die Tatsachen stimmen nicht ganz zu Triers Darstellung. Wenn es in unnötig genauer Definition des eigentlichen Sinnes heißt ,die Frist ist e i n e . . . Zeitspanne vor dem Eintritt jenes Peinlichen . . . ' , so trifft dies nur auf e i n e Beleggruppe selbst der ,älteren Sprache 1 zu. Abgesehen davon, daß bei Otfrid das Wort einen höheren Abstraktionsgrad erreicht, belegt gerade seine Evangelienharmonie einen entgegengesetzten Sachverhalt: In den Versen I I 1 4 , 4 ; I I I 7 , 8 4 und V 23, 135 ist frist nicht die Schonzeit b i s zu einem bestimmten Ereignis, sondern die ruhige, gehegte Zeit n a c h einer Periode der Bedrängnis, bzw. überhaupt das Ablassen, die Schonung von etwas Unangenehmen, frist ist also — nach den Belegen bei Otfrid (und auch nach manchen Glossenstellen) — ebenso sehr von etwas weg, wie auf etwas hin gerichtet, während das Wort im heutigen Gebrauch nur noch einsinnig vektoriell bestimmt ist. Man wird daher im Überblick über die tatsächlichen semantischen Bestände sagen müssen, daß frist in den ersten Jahrhunderten deutscher Uberlieferung sich in vielen Kontexten aus dem engsten rechtssprachlichen Bereich loslöst und gelegentlich gar zu einem reinen Zeit-Begriff wird, der zu den anderen ahd. Zeit-Wörtern in Konkurrenz tritt. Offenbar machen sich die verschiedenen semantischen Komponenten, die das Wort wohl von allem Anfang an besessen hat, in den einzelnen Texten okkasionell selbständig: So überwiegt einmal die Vorstellung der ,Gelegenheit zu . . . ' , ein andermal die des Schonens (unabhängig vom teleologischen oder finalen Aspekt), schließlich die der ¡Zeitspanne, b i s . . . ' oder die allgemeinere Vorstellung einer beliebig determinierbaren Zeitspanne überhaupt usw. Diese Freiheit und Offenheit des Wortsinns ist Charakteristikum einer Zeit des lexikalischen Experiments, wie man die Anfänge deutschsprachiger Überlieferung betiteln könnte. In späterer (bereits in mhd.) Zeit geht diese Weite der Entfaltungsmöglichkeiten wieder verloren, bis das Wort auf den heutigen, eng beschreibbaren Sinn eingegrenzt ist, der merkwürdigerweise wieder nahe an die etymologisch erschlossene ,Urbedeutung' heranreicht. D a ß hinter diesem lexikalischen Experiment' nicht nur eine dialektale Auseinanderentwicklung steht, daß wir also nicht einer Art optischer Täuschung erlegen sind, beweist das weite Bedeutungsspektrum des Wortes bei Otfrid. Dort sind alle Nuancen beieinander, von der nicht oder kaum temporalen Schattierung bis zum abstrakt-temporalen Gebrauch. Wenn wir nach diesem Überblick noch einmal auf die Belege der Benediktinerregel zurückschauen, so können wir unsere anfängliche Vermutung aufrechterhalten: Wie die Glossenbelege zeigen, k a n n frist ohne temporalen Sinn verwendet werden. Nichts berechtigt also zu der Annahme, daß in der 3»
1.
36
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Benediktinerregel über den vordergründigen Sinn von occasio und hinaus noch ein temporales Moment in frist intendiert sei.
materia
Die semantischen Verhältnisse scheinen auch auf die Morphologie des Wortes Einfluß genommen zu haben, wenngleich sich dies erst in Belegen aus dem Mhd. niederschlägt. Wir konnten beobachten, daß frist nicht nur in femininer, sondern auch in maskuliner Flexion begegnet. Heinertz 3 0 verweist f ü r diesen gängigen Genuswechsel der -ti-Abstrakta auf eine Reihe von Parallelen. In mhd. Zeit ist das Wort dann auch in neutralem Geschlecht vertreten (vgl. die Belege bei Lexer). Dieser Übergang d ü r f t e wohl semantischen Motiven zuzuschreiben sein. Heinertz vermutet: „Für das mhd. ließe sich das neutrale geschlecht durch anlehnung an zil n. festgesetzter, abschließender oder abgegrenzter Zeitpunkt, ende, frist, termin' erklären. Aber auch einfluß von seiten des Wortes zit, das im mhd. bekanntlich auch neutrum sein kann, ist möglich. Dies ist um so weniger ausgeschlossen, als die Genesis, woraus der eine beleg Lexers stammt, auch zit als neutrum verwendet 3 1 ." Die letztere Annahme scheint mir die wahrscheinlichere, zumal zit nicht erst in mhd. Zeit, sondern bereits in den ältesten ahd. Texten auch als N e u t r u m auftaucht. Wir werden beobachten können, daß in sehr häufig verwendeten Kollokationen zit und frist in Konkurrenz treten, wobei zit gerade in diesen Fällen oft als N e u trum begegnet (vgl. u. 83 u. 87). Überschneidung der semantischen Verwendung aber f ü h r t leicht zu grammatischem Synkretismus. Im Hinblick auf einen späteren Vergleich mit den anderen Temporalwörtern des Ahd. ist es von Interesse, daß frist in fast allen Verwendungsweisen ausschließlich im Singular erscheint. Aufschlußreich ist vor allem die Formel alla frist, in der die Vorstellung der Totalität nicht durch Summierung aller ,Fristen', sondern durch den Überblick über die ,ganze' Frist hervorgerufen wird. Ausnahmen vom singularischen Gebrauch sind nur in den festen Kollokationen des Typus frist geban und in Komposita zu bemerken. In der Gruppe frist geban stehen Belege f ü r Singular und Plural nebeneinander, ohne daß eine semantische Differenzierung beabsichtigt scheint. Bei den Komposita überwiegen die pluralischen Formen. Diese Abweichungen vom üblichen Bild erklären sich unschwer aus dem besonderen Charakter der beiden G r u p p e n : In festen Kollokationen, die schon als idiomatische Wendungen zu betrachten sind, und in Komposita ist der Sinn des Lexems weitgehend gebunden, nicht mehr frei verfügbar, so daß sich leicht Verschiebungen gegenüber dem sonst zu beobachtenden Gebrauch des Einzelwortes ergeben. Dies ist eine aus der Sprachgeschichte bestens bekannte Erscheinung, die nicht weiter belegt zu werden braucht.
30 31
A.a.O., 17. A.a.O., 17.
1.1.
Die
Zeit-Termini
37
1.1.2. hwila Die gängige Form des Wortes in den ahd. Texten ist hwila, wila. Daneben begegnet (selten) die kürzere Form huuil. Ein solcher Wechsel ist bei den femininen ö-Stämmen nichts Außergewöhnliches 32 . Die IsiDOR-Übersetzung hat die Form huuil mit einem Beleg: Ego primus et ego nouissimus... a principio in abscondito locutus sum, ex tempore antequam fieret, ibi eram. — ioh fona eristin uuas ih chiholono sprehhendi fona ziidi, endi aer huuil uurdi, ih uuas dhar. (18.7, 8). Zu dieser Stelle bemerkt Eggers: „In 18.7, 8 ist tempus doppelt und in zwei verschiedenen syntaktischen Funktionen übersetzt. Dem Komma hinter ziidi entspricht in der Hs. ein Interpunktionszeichen; der Übersetzer verfuhr also, als habe er zu übersetzen: locutus sum de tempore, et antequam tempus f i e r e t . . . " Jedenfalls bedeutet hier huuil ,irdische Zeit überhaupt', synonym mit ziidh. Sonst wird bei Isidor tempus mit ziidh wiedergegeben. Die M O N S E E R FRAGMENTE kennen das Substantiv nur als Dat.pl. in adverbialer Verwendung: huilom f ü r modo — modo (viermal in 39,1—3). Daneben begegnen das Adverb odohwila — forte und das Adjektiv [huuijlin (erschlossen) f ü r temporalis ,vergänglich' (9.14 = Mt. 13, 21). In der BENEDIKTINERREGEL übersetzt hwila das lat. hora, wenn es die Stunde (Höre) im kirchlichen Sinne meint 38 : (62) prima hora — erista uuila (52) octaua hora noctis — ahtodun uuilu (62) de his horis — fona dem uuilom hora wird sonst auch durch zit wiedergegeben. Uber die Distribution von hwila und zit in der Benediktinerregel soll unter zit gehandelt werden. In den (hora):
MURBACHER H Y M N E N
steht wila ebenfalls nur im Sinne von ,Hore'
disiu uuila stunta rehtem heili ist — Haec hora iustis salus est. I 4 ' 2 Vgl. Braune, Ahd. Gr., § 207, A n m . 2. Für den chronometrischen Sinn der ,Stunde' im Mittelalter vgl. Grotefend, a. a. O., 22 f.: „Die römische Einteilung v o n T a g und Nacht nach den Erscheinungen der N a t u r und den darauf beruhenden Lebensäußerungen . . . hat auch das Mittelalter auf seinen v o l l e n Tag (dies naturalis, dies integer) übertragen . . . D i e Teile des l i c h t e n Tages (dies artificialis, usualis) v o m A u f g a n g zum Untergang der Sonne wurden im Mittelalter meist nach den gottesdienstlichen Verrichtungen benannt, die z u den bestimmten Tageszeiten vorgenommen wurden. Man unterschied 7 Kanonische Stunden . . . Die u n g l e i c h e n Stunden der Römer (höre inequales, temporales, höre diei et noctis) kamen auch im Mittelalter zur A n wendung. D i e Bezeichnung der kanonischen Stunden beruhen zum Teil auf ihnen, ohne sich aber ihrem Zeitmaß strenge anzuschließen . . . "
ss
1. Althochdeutsche
38
Texte außer
Notker
Beachtenswert ist die Doppelübersetzung, in der stunta als Synonym auftritt. (Die Verteilung von uuila und stunta in den Murbacher Hymnen w i r d unter stunta erörtert.) Das lat. nona (ergänze: hora) wird ebenfalls durch uuila präzisiert: nonam — niunta uuila X I I I 1 Die S T . P A U L E R LUKASGLOSSEN kennen das Wort in weniger chronometrischem Sinn: seruiens (Anna) nocte et ac die et haec ipsa hora — deononti (ta)kes enti nahtes disu dra (= dera) selbun uuilu. (,zu eben diesem Zeitpunkt in eben diesem Augenblick' [gemeint ist die Darstellung Jesu, L k 2 , 38]). In O T F R I D S Evangelienharmonie ist das Wort weniger dicht belegt als frist. Noch konsequenter als frist steht wila in Reimposition, und wie frist kommt es häufig in Kollokation mit bestimmten Adverbien vor (sar io, sario wie bei frist, darüberhinaus nur thanne). Diese Ausdrücke füllen des öfteren einen ganzen Kurzvers, so daß die gleiche stilistische Situation wie in der Beleggruppe von frist gegeben ist. Entsprechend der Gliederung der Bedeutungszonen im vorigen Abschnitt seien die Belege für wila angeordnet: 1. Zeitpunkt: Wie bei frist ist zu beobachten, daß der Sinn ,Zeitpunkt' nur mit Adverbien kombinierten Ausdrücken bzw. präpositionalen Wendungen zukommt: Tho ward sar thia wila mihil erdbiba V 4, 21 (,sogleich in diesem Augenblick') wölt er sar then wüon gerno iz firdilon V 25, 62 Siu wuntun ernustin, mit grozen angustin sar io thia wila; hebig was in thiu ila. I 22, 28 (nämlich als Maria und Joseph bemerken, daß Jesus auf der Reise verloren gegangen ist) Der momentane Charakter des Vorgangs wird durch den Kontext noch explizit herausgestellt. Giwan mit ägaleize, mit mihilemo flize sar io thia wila thia heilida ana duala. III 11, 30 Daß die ganze temporale Gruppe den Sinn ,unmittelbar, sogleich, im gleichen Augenblick noch' hat, wird durch das variierende ana duala überdeutlich. Im übrigen bezieht sich der Satz auf die gleiche biblische Situation wie III 10, 45 (s. u.), hier nur auf die Ebene der spirituellen Deutung erhoben. Dort ist gerade das Unmittelbare, Unverzügliche der Heilung Zentrum des Gedankens. Sar io thia wila so liaz er sela sina in sines selben fater hant IV 33, 25 (,im gleichen Augenblick'; vgl. Lk 23, 46, wo die Gleichzeitigkeit syntaktisch — durch das Verhältnis von Part.Prs. zum Hauptverb — ausgedrückt ist: et haec dicens exspiravit;
1.1.
Die
Zeit-Termini
39
auch Mt 27, 50, Joh 19, 30) mit then (Steinen) io then wilon so w61tun sie nan pinon III 19, 24 Die folgende präpositionale Wendung ist eine genaue Entsprechung der lat. Vorlage: Tho ward bi theru wilu thiu dohter sar io heilu III 10, 45. Vgl. Mt 15, 28 et sanata est filia ejus ex illa hora. Die deiktische Wendung mit wila und die temporalen Adverbien des zweiten Halbverses ergeben insgesamt das Äquivalent zur lat. Vorlage. Überblickt man die (nicht präpositionalen) Adverbialausdrücke, so fällt auf, daß Akk.sg. und Dat.pl. synonym verwendet werden. Allerdings ist die Zuordnung Akk.sg. anfechtbar, da bei Otfrid gelegentlich thia anstelle des üblicheren thio im Akk.pl. auftritt 34 . Jedenfalls ist keine semantische Differenz von sar thia wila (V 4, 21) und sar then wilon (V 25, 62) auszumachen. Durch die Kollokation mit perfektiven Verben wird der Sinn ,Zeitpunkt' an den meisten der aufgeführten Stellen bestätigt: I 22, 28 wuntun (,machten kehrt') III 11, 30 giwan IV 33, 25 liaz (hier etwa ,gab auf', vgl. lat. expiravit) III 10,45 und V 4, 21 ward wohl auch V 25, 62 wolt er firdilon (im gleichen Gedankengang steht wenige Verse vorher der Satz Iz ruarit sino brusti sar zi thera fristi, mit einem synonymen Zeitausdruck und ebenfalls perfektivem Verb). 2. Zeitdauer, begrenzt: in präpositionalen Ausdrücken: (Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt:) Oba er in thia wila firliusit sina sela (III 13, 33) (.während dieser Zeit, dieses Zeitraums'; in thia wila fungiert hier als Signal der Gleichzeitigkeit der beiden Vorgänge, wobei der Blick aber mehr auf der Dauer, dem Sich-Vollziehen der Vorgänge liegt, als auf punktueller Gleichzeitigkeit.) ni hilfit iuih thiu ila thanne in thia wila IV 13, 6 (,dann in jener Zeit'; nämlich: wenn ich nicht mehr da bin). Nur aufgrund des Kontextes läßt sich vermuten, daß ein Zeit-Abschnitt (die ganze Zeit nach dem Erdenleben Jesu) gemeint ist. Im Rahmen der deiktischen Wendung (mit demonstrativem Adverb und Pronomen) könnte wila ebenso gut den Sinn ,Zeitpunkt' haben. Doch deutet wohl auch die Verbindung in + Akk. auf Zeitdauer hin. mit quantitativem Adjektivattribut: theih bin mit iu in wära lüzila wila IV 13, 4 (,kurze Zeit, eine kleine Weile' [Joh. 13, 33 modicum]). 34
Vgl. Braune, Ahd. Gr., § 287, Anm. 1 h.
1.
40
Althochdeutsche Texte außer
Notker
Es sei bereits hier d a r a u f verwiesen, d a ß die T a t i a n - Ü b e r s e t z u n g den zentralen biblischen Begriff der ,kleinen Weile' mit einem anderen Terminus formuliert (s. u. 45). Die weiteren Bedeutungszonen, die w i r f ü r frist feststellen k o n n t e n , fehlen bei wila. D a f ü r ist aber eine gegenüber frist neue Verwendungsweise zu konstatieren: 3. alleinstehendes wila, im Sinne v o n ,Zeitdauer': thia selbun k r a f t sina, t h a z gihiaz er in ju wila V 11, 10 (,die er ihnen schon lange verheißen hatte'), wila ohne Artikel, mit dem A k k . der D a u e r , gerät somit in den Bereich des A d v e r b i a l e n — wie auch aus der K o m b i n a t i o n mit d e m A d v e r b ju ersichtlich w i r d . Schon in den Monseer F r a g m e n t e n w a r zu beobachten, d a ß wila n u r in adverbialer V e r w e n d u n g (mit freistehendem Dat.pl.) v o r k o m m t , u n d in späteren alt- u n d mittelhochdt. Texten w i r d sich die Isolierung bestimmter Kasus des Wortes im adverbialen R a u m definitiv vollziehen. Einen Sonderfall der adverbialen V e r w e n d u n g v o n wila stellt das K o m p o situm odowila d a r : E r t h ä h t a odowila thäz, t h a z er ther d ü r i w a r t was, er ingang therera worolti bisperrit selbo habeti. I I 4, 7. E r d m a n n 3 5 f a ß t die W e n d u n g als K o m p o s i t u m mit adverbialem Sinn auf (,vielleicht'), w ä h r e n d Kelle die Glieder einzeln übersetzt (,der S a t a n dachte vielleicht längst, d a ß er den Eingang z u r Welt versperrt hätte'). Angesichts der sonstigen Belege des Wortes im A h d . (Mons.Fragm. s. o., Altalemannischer Psalter 2 9 5 , 3 0 ; 33; 2 9 6 , 2 f ü r forte, forsitan; Benediktinerregel odhwila f ü r forte, fortuitu, öfters) w i r d m a n aber annehmen d ü r f e n , d a ß der temporale Sinn des zweiten Bestandteils v o n odo-wila bereits v e r b l a ß t ist u n d der ganze Ausdruck die Bedeutung ,vielleicht' angenommen hat. Die K L E I N E R E N D E N K M Ä L E R bieten ein etwas weiteres Verwendungsspekt r u m des Wortes als die größeren T e x t e : 1. Z e i t p u n k t : O t l o h s Gebet ( 3 5 , 6 2 ) : u o n n a anaginna minas libes unzi an desa (ab initio uit? me^ usque in hanc
uuila
horam36)
V o r allem in Beichtformularen: Benediktbeurer Beichte II (52, 9): . . . aller dere sunton, die ich ie gef r u m e t o uone anegenge mines libis unz an dise wile ..; a m E n d e des gleichen Stückes ( 5 2 , 4 3 ) : sider anegenge mines libes unz an dise wile Süddt. Beichte (56, 54): aller miner sunden, die ich ie gefrumete, sid ich alrest sunden mohte, unze ane dise wile 35 36
Erdmann, 388. Zum lat. Text vgl. Steinmeyer, 189.
1.1.
Die
Zeit-Termini
41
Benediktbeurer Beichte I I I ( 6 0 , 9 1 ) : aller der sunden, die ich gevrumt h a n v o n kindes peine unz an dise wile. Die Bedeutung , Z e i t p u n k t ' begegnet v o r allem in den zusammenfassenden Formeln der A r t ,von A n f a n g meines Lebens bis z u m jetzigen Augenblick'. D a s Beichtformular scheint hier dem W o r t wila einen festen P l a t z gesichert zu haben. Solche konservierende F u n k t i o n eines relativ feststehenden Formulars ist f ü r die Beurteilung eines lexikalischen Beleges v o n eben so großer Relevanz wie etwa die V e r w e n d u n g eines Wortes im Reim. 2. ,gewisse Zeitdauer', mit unbestimmtem A r t i k e l : Physiologus ( 2 7 , 1 0 6 ) : Denez so eine vuile g e d ü o t . . . [cum diu fecerit talia, nämlich: die Federn aufrichten usw.] (,eine Zeitlang'). Physiologus ( 2 7 , 1 1 1 ) : diu serra bizeichenet den, der dir ist unstädes muodes, der dir eine uuile schinet annen rehden uuerchan u n d e aber a n dien nieht neuollestet [temporaliter; der lat. T e x t entspricht aber nicht genau dem deutschen; der dir ist unstades muodes k ö n n t e verdeutlichender Zusatz sein, vorausgesetzt d a ß nicht eine bisher u n b e k a n n t e lat. Version den gleichen Passus enthielte 3 7 ]. (,eine Zeitlang, n u r eine gewisse Zeit'; der K o n t e x t , der von der Unbeständigkeit handelt, verdeutlicht den Sinn der Zeitbestimmung). Predigtsammlung A ( 3 0 , 3 , 6 ) : U n d e sit uuir hie f u r h t o n ze einere uuile d a z zekentlicho fiur, u u a n d a n e f u r h t e n uuir o u h d a n n e d a z euuige fiur? (,in einer [im Vergleich z u r Ewigkeit k u r z e n ] Z e i t ' ; durch den unbestimmten Artikel w i r d der Gegensatz z u r Ewigkeit v o r allem evoziert. Vielleicht h a t hier ein noch den präziseren Sinn des Zahlwortes, womit das Begrenzte, Abgeschlossene gegenüber dem Unbegrenzten, Unendlichen abgehoben wäre.) 3. Zeitabschnitt ( a b z ä h l b a r ) : P r e d i g t s a m m l u n g B (32, 2, 25): Die uinf uuile, in den dir der huosherro l a d o t e die uuerhliuti in sinan u u i n k a r t e n , die pizeichinent die uinf uuerlti... Wie mit uuerlti die großen Weltepochen, Weltalter gemeint sind, so bezeichnen die uuile die kürzeren Abschnitte des Tages, Tageszeiten. ebenso 32, 2, 44 Die uinf uuila . . . 4. unbestimmte Zeitdauer (in summativer Formel): Predigtsammlung B ( 3 2 , 3 , 1 8 ) : . . . s o d a z si alla
uuila
uuilliclichen
vuurchent siniu uuerh. (,alle Zeit, i m m e r d a r auf E r d e n ' ) ; ebda ( 3 2 , 3 , 2 7 ) : die gotes iruueliten magide, d i e . . . imo
flizziclichen
dienont alla
uuila.
D a ß der kollektive Sinn der Formel nicht als A d d i t i o n v o n Z e i t a b s c h n i t ten' zu verstehen ist, ergibt sich aus der singularischen V e r w e n d u n g , al heißt ja p r i m ä r ,ganz, unversehrt' u n d zielt auf eine (nicht näher charakterisierte) 37
Zum lat. Text vgl. Steinmeyer, 133.
42
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
Totalität des betroffenen Substantivs. Das gleiche gilt auch f ü r die synonyme Formel alla frist (s. o. 26). Aus den beiden Belegen läßt sich allerdings erschließen, daß mit alla wila nicht nur eine gleichförmige Totalität einer Zeitdauer, sondern die ununterbrochene, kontinuierliche Dauer eines Vorgangs bezeichnet werden soll (vgl. das Adverb der Intensität flizziclichen im Kontext des zweiten Beispiels). Somit ist alla wila nicht eine Formel f ü r eine abstrakte Vorstellung temporaler Ganzheit, sondern bleibt stets situationsbezogen und an konkrete Vorgangsvorstellungen gebunden. In den G L O S S E N steht wila häufiger f ü r lat. Adverbien als f ü r Substantive. N u r einmal ist wila als Interpretament f ü r bora bezeugt: ipsa hora — d(e)ra selbun uuilu I 735, 49 (Lk 2, 38). Zweimal gibt wila lat. momentum wieder: momenta — uuilo I 284, 38 (Lev. 15, 3) [8. 9. Jh.] momentum — uuila I 284, 64 (1 Reg. 4, 20) [8. 9. Jh.] Der Sinn der lat. Lemmata ist ,Zeitabschnitt' bzw. ,Zeitpunkt' (Lev. 15, 3 Vir, qui patitur fluxum seminis, immundus erit. Et tunc judicabitur huic vitio subjacere, cum per singula momenta adhaeserit carni e j u s . . . ; 1 Reg. 4,20 In ipso autem momento mortis e j u s . . . ) Im übrigen begegnet wila als isolierter Dat.pl. in adverbialer Funktion bzw. in der Wendung huuil eina, jeweils aber als Übersetzung lat. Adverbien: paulatim — uuilon II 231, 34 (Gregor Cura Past. 3, 33) [9. 10. Jh.] quondam — uuilon II 693, 32 (Vergil A II 416) [12. Jh.] nunc — uuilon II 510, 63 (Prud. 940) [11. Jh.] nunc — uuilun II 77, 36 (Boet. 3, 4 p. 60, 44) [10. 11. Jh.] confestim — huuil eina (aina) I 74/75, 25 (Abr.) [8. Jh.] Der letzte Beleg ist bedeutsam, da er das literarisch nur einmal (bei Isidor) bezeugte Wort huuil sichert. Da das Wort nur in diesen beiden sehr alten Denkmälern anzutreffen ist, dürfte es sich um eine alte Nebenform zu huuila handeln, die dem lebenskräftigeren Wort im späteren Ahd. Platz macht. Literarisch nicht bezeugt ist das Kompositum untaruuila — intervallum I 282, 54 (1 Reg. 26,13) [9. Jh.] und II 249, 6 (Gregor Dialog. 2, 21) [9. Jh.] Dieses Kompositum ist offensichtlich eine Lehnbildung nach lat. intervallum wie das in der Benediktinerregel belegte untarstunta (s. u. 53). Beide ahd. Wörter sind Versuche, den Begriff ,Pause' sprachlich zu fassen. Trotz fehlender sonstiger Belege dürfte untaruuila eine gewisse Verbreitung besessen haben, da es ,mechanisch', als ,Vokabelglossierung' ohne Rücksicht auf den Sinn des Kontextes verwendet werden kann. Dies zeigt einleuchtend der erste Beleg: in 1 Reg. 26, 13 ist ohne Zweifel von einem räumlichen intervallum die Rede: Cumque transisset David ex adverso, et stetisset in vertice montis de longe, et esset grande intervallum inter eos, clamavit David ad populum . . .
1.1. Die Zeit-Termini
43
Als a d j e k t i v i s c h e Ableitungen von hwila sind bezeugt: huuilin — temporalis I I I 5, 18 (Voc. Sei. Galli) lanesä zit uuilagiu — diuturnitas II 49,18 (Sei. Ben. Reg. Prol.) [9. Jh.] manuduuiliger — lunaticus II 740,24 f. (Abdia Act. Ap. De Barth, p. 674) [10.11. Jh.] uuilin kennen wir sonst aus den Monseer Fragmenten (s. o.) und Tatian. In Tatian 75, 2 übersetzt es lat. temporalis und bedeutet soviel wie ,vergänglich, nur zeitlich, nicht beständig': Thie thar ubar steinahi gisauuit ist, thaz ist ther thie uuort gihorit inti sliumo mit giuehen inphahit iz; ni habet in imo selbemo vvurzalun, ouh ist uuilin (sed est temporalis). Dieser eine Beleg deutet auf eine weltanschaulich akzentuierende (pejorative) Verwendung. uuilag ist literarisch nicht belegt, ebenso wie das Kompositum manuduuilig (Tatian hat f ü r lunaticus ,mondsüchtig' das verdeutlichende Kompositum manod-sioh, 92, 2 und 22, 2). Bei uuilin wie uuilag handelt es sich wohl wiederum um alte Ableitungen, die nur von kurzer Lebensdauer waren.
Zusammenfassung wila ist in den ahd. Texten viel seltener belegt als frist. Bestimmte Formen des Wortes sind bereits aus der freien syntaktischen Verwendung abgedrängt in adverbiale Funktion. (Diese Situation spiegelt sich besonders deutlich in den Glossen.) Während frist mit einer großen Gruppe von Belegen nur am Rande den temporalen Bereich betrifft, ist der Gebrauch von wila durchgehend und eindeutig temporal. Daher erklärt es sich wohl, daß bloße oblique Formen des Wortes als Adverb der Zeitdauer erscheinen können und daß die Determination durch den unbestimmten Artikel genügt, um eine Vorstellung von ,Dauer', einer .gewissen Zeitdauer' zu erzeugen. In den Ausdrücken unbest. Artikel + wila ist noch am stärksten dasjenige präsent, was man als Etymologie des Wortes ermittelt hat. Kluge/Mitzka notiert unter ,Weile': „Ein idg. Verbalstamm :f kui erscheint in lat. quies ,Ruhe', quiescere ,ruhen', quietus ,ruhig', wird mit 1 (wie lat. tranquillus aus *trans-qilnos) erweitert zu got. hveila, ahd. asächs. hwll(a), afries. (h)wile, ags. hwil, engl, while, anord. hvlla ,Bett', hvlld ,Ruhe', aind. kälah ,Zeit, Zeitpunkt, Schicksal, Tod'. Die Bildungsweise kehrt in Seele wieder." Von seiner Herkunft her ist das Wort prädestiniert für die Vorstellung der Dauer, des Beharrenden, Verweilenden, wobei der Temporalbegriff eng an konkrete Situationen gebunden ist. Bezeichnenderweise reicht der Wortgebrauch in unseren Texten nie in abstrakte Bereiche, mit Ausnahme der einen Stelle aus der Isidor-Ubersetzung, wo ziidh und huuil ohne deutliche Abgrenzung nebeneinanderstehen zur Bezeichnung der irdischen Zeit überhaupt.
44
1,
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
In Anbetracht der Etymologie, die den Rahmen des zu Erwartenden absteckt, ist es überraschend zu sehen, daß auch wila in bestimmten Kollokationen zur Bezeichnung des Zeitpunkts von Vorgängen eingesetzt werden kann. Über diese merkwürdige semantische Verschiebung wird in einer Gesamtbetrachtung der vier Zeit-Termini frist, wila, stunta, zit Genaueres zu sagen sein (s. u. 94 ff.). Schließlich bleibt festzuhalten, daß wila — wie auch frist — mit quantitativen, nicht aber mit qualifizierenden Determinanten auftritt. Der Numerusgebrauch des Wortes ist nicht so einheitlich wie derjenige von frist. Zwar begegnet in der Bedeutungszone ,Zeitdauer' nur der Singular — so heißt es charakteristischerweise alla wila —, doch sind in den adverbialen Ausdrücken für die Bestimmung des ,Zeitpunkts' Singular- und Pluralformen bereits gleich stark vertreten.
1.1.3. s t u n t a Wie das vorangehende Wort ist auch dieses in einer endungslosen Form vertreten, die aber nur in der Bedeutung ,Mal' in adverbialen Formeln vorkommt. Die Belege von stuntajstunt, die in diese isolierte Gruppe fallen, werden im folgenden nicht berücksichtigt. (In allen größeren und vielen kleineren Denkmälern des Ahd. sind solche Ausdrücke vertreten.) Während die IsiDOR-Übersetzung nur den flektierten Dat.pl. (sibun stundom .septies' 2 6 , 1 8 ) in der Bedeutung ,Mal' verwendet, setzen die MONSEER FRAGMENTE stunta f ü r lat. hora: quia nescitis diem neque horam — . . . noh stunta (20, 22 = Mt 25, 13) hora hat hier den Sinn von .Stunde' (Uhrzeit), nicht aber als genau begrenzte Dauer verstanden, sondern als durch die Tageszeit bestimmter Termin. (Auch die Monseer Fragmente kennen außerdem die flektierte Form des Wortes in der Bedeutung ,Mal': sibun stunta 11, 26/7.) Die BENEDIKTINERREGEL kennt nur die adverbiale Kurzform stunt und die Komposita stunthwila bzw. undarstunta (s. u. 52 f.). In den MURBACHER HYMNEN steht stunta nur f ü r lat. hora im Sinne von ,Hore' bzw. in allgemein chronometrischer Bedeutung. D a aber hora nicht immer durch stunta, sondern in gleicher Bedeutung auch durch hwila wiedergegeben wird, darf man von synonymer Verwendung der beiden Wörter sprechen. Dies wird bestätigt durch die Auswahlübersetzung in I 4: Haec hora (Mitternacht) iustis salus est — disiu uuila stunta rehtem heili ist. Weitere Belege: X 2 ora tertia — stunta drittun X I 1 hora diei tertia — stunta takes dritta X I 2 hac hora — deseru stuntu
1.1.
Die
Zeit-Termini
45
X I I 1 hora uoluta sexies — stunta kiuualdaniu sehstuntom (hier steht das W o r t in freiem lexikalischen Gebrauch neben der adverbial erstarrten Form) X I I I 1 ternis horarum terminis — drisgem stuntono marchom X V I I I 1 Sic ter quaternis t r a h i t u r so d r i r o r feorim k a z o k a n ist horis dies a d uesperum stunton t a k za h a b a n d e In X I I I folgen stunta u n d huuila k u r z a u f e i n a n d e r : Perfectum trinum numerum d u r u h n o h t drisca r u a u a ternis horarum terminis laudes canentes debitas nonam dicentes psallimus.
drisgem stuntono marchom lob singante sculdigiu niunta uuila chuedente singames.
Ein deutlicher G r u n d , w a r u m die deutsche Übersetzung terminologisch variiert, ist nicht erkennbar. Natürlich ist auch bei nona im lat. T e x t das Substantiv hora mitgedacht, so d a ß in der Vorlage keine semantische Differenz anzusetzen ist. So bleibt n u r die (vage) V e r m u t u n g , der Ubersetzer habe die Wiederholung des gleichen Wortes vermeiden wollen u n d deshalb das Angebot des Synonyms ausgenützt. (In X I I 1 allerdings v e r w e n d e t er in der gleichen Zeile z w e i m a l stunta, z u d e m in verschiedenem Sinn!) Keines der beiden W ö r t e r ist Glied einer Stabstilisierung. I m m e r h i n ist z u bemerken, d a ß der Ü b e r setzer im allgemeinen dem W o r t stunta deutlich den V o r z u g gibt (auf 6 Belege f ü r stunta in freier V e r w e n d u n g k o m m e n n u r 2 Belege f ü r hwila). Die Belege im 1.
TATIAN
seien nach ihren lat. Äquivalenten a u f g e f ü h r t :
tempus:
D e m lat. tempus entspricht im ^ T a t i a n überwiegend ahd. zit, aber an einigen Stellen steht stunta (über die semantische Distribution der beiden W ö r ter s. u. 71 f.): 92,4
Q u a n t u m temporis est ex quo hoc ei accidit? A t ille ait: ab i n f a n t i a . — v v u o michil stunta . . .
129, 3 a d h u c modicum tempus vobiscum sum — noh nu luzila stunta ähnlich die folgenden Stellen: 160, 5: a d h u c modicum 174, 1 Modicum u n d 3)
...
(ergänze: tempus) vobiscum sum — luzzila stunta
et iam non videbitis m e — luzzila stunta (ebenso 1 7 4 , 2
stunta meint hier eine gewisse Zeitdauer, die e n t w e d e r durch ein A d j e k t i v a t t r i b u t als ,klein, k u r z ' präzisiert oder nach deren Erstreckung gefragt w i r d . Für die spätere Distributionsanalyse ist v o n Bedeutung, d a ß der Begriff der ,kleinen Weile' im T a t i ä n einheitlich f o r m u l i e r t ist u n d d a ß auch f ü r die abgek ü r z t e Redeweise des Lat. (modicum) im Deutschen die volle Formel (luzzila stunta) beibehalten w i r d .
1.
46
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
2. spatium: Nur an einer Stelle steht stunta für das Lemma spatium, Wort eindeutig temporal gemeint ist: 66, 3 nec manducandi spatium
wobei das lat.
habebant — noh zi ezanne habetun
stunta
(,und sie hatten nicht einmal die nötige Zeit zum Essen')
3. hora: Außer an der folgenden Stelle wird hora
im Tatian immer durch zit wie-
dergegeben: 139, 5 Pater, salvifica me ex hac hora! Sed propterea veni in horam hatte. — Fater, giheili mih fon theru stuntu. Thurah thaz quam ih in thesa
cit. ,Diese Stunde' meint hier mehr als den bloßen leeren Zeitpunkt eines Geschehens; hora/stunta ist vielmehr im biblischen Kontext für Jesus die Stunde der Entscheidung, und das Demonstrativpronomen hat hier nicht bloß deiktische Funktion, sondern deutet auf das Außergewöhnliche gerade d i e s e r Stunde hin. Auffällig ist die variierende Übersetzung stuntu/cit. Möglicherweise ist hierin der Versuch einer Interpretation bzw. einer interpretierenden Übersetzung erkennbar. D a bibellat. hora einen relativ weiten temporalen Sinnbereich umfaßt, könnte der Übersetzer das erste hora als ,diesen Zeitpunkt', das zweite als ¡diese (irdische) Zeit überhaupt' verstanden haben. Den präzisen Sinn des entscheidenden Augenblickes' hätte der Übersetzer kaum einer stilistischen Absicht (Vermeidung der Wortwiederholung) geopfert. Somit ist die Annahme einer deutenden Übersetzung nicht von der Hand zu weisen. Als Bedeutungszonen von stunta ergeben sich für den Tatian: — Zeitpunkt, mit qualitativer Nuance — die nötige Zeit für . . . (als Objekt zu habere/haben) — Zeitdauer, begrenzt durch Adjektiv bzw. Fragepronomen In O T F R I D S Evangelienbuch ist stunta weniger als frist und wila an die Reimstelle gebunden, wenngleich es in den typischen Kollokationen mit Adverbien in der beschriebenen stilistischen Situation auftreten kann. Dem entspricht ein relativ breites Spektrum der syntaktischen und semantischen Verwendungsmöglichkeiten. Besonders auffällig sind die zahlreichen Variationen mit zit, die auf eine relative Nähe der beiden Wörter hindeuten. Gelegentlich ist als unmittelbare lat. Entsprechung hora auszumachen, was durchaus dem Bild in den ahd. Ubersetzungstexten entspricht. Die Bedeutungsbereiche sind: 1. Zeitpunkt: Im Gegensatz zu frist
und wila
kann stunta
in bloßen
präpositional-
deiktischen Wendungen zum Ausdruck des,Zeitpunkts' erscheinen: T h o santun in then stunton
thie richun läntwalton I 27, 9
(,zu diesem Zeitpunkt' oder audi .alsbald, sogleich')
1.1.
Die
T h o q u a m si in thesen stunton
Zeit-Termini
47
thi ih zalta bi then alton I 1 6 , 1 5
(Lk 2, 38 et haec ipsa hora superveniens confitebatur d o m i n o . . .) in den b e k a n n t e n Kollokationen mit A d v e r b i e n : F a h a n sia n a n w ö l t u n , t h o sinu w o r t thiz h a i t u n : er giang sar then stunton ü z a r iro h a n t o n I I I 22, 66 sie sar io then stuntun widerortes w ü n t u n V 10, 31 (Lk 24, 33 et surgentes eadem hora regressi s u n t . . . ) In den meisten dieser Fälle spielt auch der Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit mit, wie aus den lat. V o r b i l d e r n ersichtlich ist. D a s heißt der Blick richtet sich nicht nur p u n k t u e l l auf e i n e H a n d l u n g , sondern auf die Simultaneität, das Ü b e r l a p p e n zweier Vorgänge. Dies w i r d im Deutschen durch das bloße D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n b z w . durch K o p p e l u n g v o n A d v e r b u n d P r o n o m e n geleistet, w ä h r e n d das Lat. eigentliche identifizierende P r o n o m i n a v e r w e n d e t (ipsa, eadem). In allen vier Belegen w i r d die Bedeutung , Z e i t p u n k t ' durch die verbalen K o l l o k a t i o n e n gestützt: s a n t u n ; q u a m ; giang . . . u z a r iro h a n t u n ( = ,ging weg'); w u n t u n Interessant f ü r den Kasusgebrauch in diesem Stadium des A h d . ist das synon y m e N e b e n e i n a n d e r von adverbialem D a t i v ( I I I 22, 66 u n d V 10, 31) u n d entsprechenden präpositionalen W e n d u n g e n (I 26, 9 u n d I 16, 15). Bei den vergleichbaren Ausdrücken m i t wila (s. o. 38) w a r der Zusatz einer Präposition noch die A u s n a h m e ( I I I 1 0 , 4 5 , w o die deutsche Formulierung offensichtlich u n m i t t e l b a r durch die lat. Vorlage beeinflußt ist). Diese Differenz k ö n n t e darauf hindeuten, d a ß wila ,an sich' eine stärkere A f f i n i t ä t z u m Verbalkomplex besitzt als stunta — auch die isolierten Kasusadverbien von wila weisen ja in diese Richtung. Einen Sonderfall stellt die V e r w e n d u n g der K u r z f o r m v o n stunta in I I I 11, 17 dar, die ja sonst auf die Bedeutung ,Mal' beschränkt bleibt: H a b e t a siu ouh in thia stünt filu mihila thult, thultigaz herza u b a r ira smerza. I I I 11, 17 (Es handelt sich u m die kanaanitische Frau, die Jesus u m die H e i l u n g ihrer Tochter anfleht — zunächst erfolglos) E r d m a n n 3 8 weist auf Parallelfälle im Otfridschen T e x t hin, w o in Reimstellung Flexionsendungen wegfallen. Möglicherweise liegt in unserem Beispiel eine Zwischenstufe zwischen substantivischem stunta u n d adverbialem stunt v o r ; der Kasus stimmt ja auch nicht z u den übrigen Fällen. Ein weiterer Sonderfall ist die Stelle V 2 3 , 1 3 9 : In der Beschreibung der Leiden des irdischen Daseins heißt es: N i w i r t h i t ouh innan thes (zi stunton brest imo thes), ni in jüngistemo thinge t h o h elti n a n githuinge . . . »8 Erdmann, 389.
1.
48
Althochdeutsche Texte außer
Notker
Kelle übersetzt: „es geschieht auch nicht, d a ß ihn zuletzt nicht doch die Altersschwäche bezwinge, w e n n er auch a u g e n b l i c k l i c h d a v o n noch frei sein sollte." zi stunton ist anscheinend im gleichen Sinne verwendet, wie wir den Ausdruck heute noch einsetzen k ö n n e n ; er stellt die unmittelbare Beziehung auf die Jetztzeit des Erzählers oder des E r z ä h l t e n (in unserem Fall k a n n beides vorliegen) her. 2. Z e i t d a u e r : Eine Zwischenstufe zwischen (1) u n d (2) stellt der folgende Ausdrude d a r : T h a z thült er in then stunton
bi unseren sunton I V 19, 75.
Gemeint ist die Passion Christi, die er ,in dieser Zeit', ,damals' erduldete. D a s A d v e r b ,damals' ist indifferent gegenüber der Unterscheidung Z e i t p u n k t / Zeitdauer, es verweist n u r auf das Vergangensein der betreffenden H a n d lung o. ä. Ebenso d ü r f t e auch die adverbiale W e n d u n g in then stunton an dieser Stelle zu verstehen sein. D e r Satz steht a m E n d e eines Abschnittes, der v o n den A n f ä n g e n des Leidensweges Christi handelt, als Zusammenfassung des E r zählten u n d V o r a u s d e u t u n g des K o m m e n d e n . O b der temporale Ausdruck sich nun auf die D a u e r des Vorgangs der Passion oder speziell auf den Z e i t p u n k t der u n m i t t e l b a r erzählten Situation bezieht, ist k a u m auszumachen; ja mehr noch: ein solches M a ß an Genauigkeit des Erzählens ist wohl gar nicht beabsichtigt, so d a ß eine weitergehende I n t e r p r e t a t i o n überzogen wäre. Auf diese Beobachtung, die wichtige methodische Fragen a u f w i r f t , werden w i r in allgemeinerem Z u s a m m e n h a n g noch k u r z z u r ü c k z u k o m m e n haben (94 ff.). Möglicherweise gilt solche semantische Indifferenz bei vielen temporalen A d v e r b i a l g r u p pen, die auf die Frage , w a n n ? ' a n t w o r t e n . U n z w e i f e l h a f t auf Zeit d a u e r aber zielen die folgenden Beispiele: Si allo stunta betota unablässig')
joh filu ouh fasteta I 16, 11 (,alle Zeit, beständig,
H ö h e m o g i m ü a t o io allo ziti guato, er allo stunta f r e w e sih! L 8 (,alle Zeit, alle Lebenszeit') Die beiden Zeittermini, die hier ohne semantische Differenzierung gebraucht sind, stehen nicht in direkter Variation, d a ziti A k k u s a t i v o b j e k t z u hohe ist, w ä h r e n d stunta als adverbialer A k k u s a t i v der Zeiterstrekkung zu betrachten ist. Beide Belege zeigen stunta im Plural, w ä h r e n d die vergleichbare W e n d u n g mit wila singularisch w a r (s. o. 41 f.). Dieser Unterschied d ü r f t e k a u m auf Z u f a l l beruhen: allo stunta m u ß als Summierung von .Zeitabschnitten' verstanden werden, w ä h r e n d in alla wila (und w o h l auch in alla frist) das G a n z e der D a u e r auf einmal e r f a ß t w i r d . Entsprechend ist in allo stunta die Vorstellung des ,immer wieder', der Iteration u n d K o n t i n u i t ä t stärker realisiert als in den anderen Ausdrücken. O b der , W o r t i n h a l t ' v o n stunta singularische Formulierung zeitlicher T o t a l i t ä t verbietet, läßt sich erst mit der Kenntnis aller V e r w e n dungsweisen des Wortes entscheiden.
1.1. Die Zeit-Termini
49
Die summative Weise der Formulierung wird besonders klar im folgenden Kontext: Wuntorota sih tho härto thiu in allen then stuntun
thiu müater thero worto, gisprochanu wurtun I 15, 22
Die Verse beziehen sich wohl nicht nur auf die unmittelbar vorangehende Lobpreisung Simeons, sondern auf alles, was vorher je über Jesus prophezeit worden war. Entsprechend ist die temporale Formel zu interpretieren als ,in all dieser Zeit, dieser ganzen Zeit' oder auch ,bei all diesen Gelegenheiten, Malen'. Wenn die zweite Deutung zuträfe, würde der Beleg eher in die Bedeutungszone (1) fallen. In diese Richtung weist auch das Verbum sprechan: nur dann wäre sprechan eindeutig durativ aufzufassen, wenn sich die Verse ausschließlich auf das soeben Erzählte bezögen (nämlich auf das .Sprechen', die ,Rede' Simeons). Die Frage ist kaum definitiv zu entscheiden. Wie aber auch der Zeit-Ausdrude gemeint sein mag, e i n e s ist sicher: die Totalität, die formuliert werden soll, ist eine solche der Addition, der Summierung, nicht aber der umgreifenden Zusammenschau. In diesem Beleg weist stunta die denkbar größte N ä h e zum isoliert-adverbialen Gebrauch der Kurzform auf, und von hier aus ist wohl auch die Absonderung der adverbialen Form zu begreifen. 3. ,Stunde' im Sinne der Zeitmessung: Thia zit er eiscota tho . . . thia stünta ouh mit giwurti wanne imo bäz wurti I I I 2, 30 (Joh 4, 52 interrogabat ergo horam ab eis, in qua melius habuerit) In der Variation zit/stunta läßt sich nicht ausmachen, ob die Begriffe synonym oder differenziert gebraucht sind. Vielleicht meint zit ,Zeitpunkt' im allgemeineren, stunta aber ,Stunde' im engeren Sinne. Dies wäre zu vermuten aufgrund der sonstigen Distribution der beiden Wörter (s. u. 88 ff.). Ja s i n t . . . zuelif dägo ziti, thio iro stünta werbent joh themo däge folgent III 23, 34 Gemeint sind zweifellos die 12 Stunden des Tages (vgl. Joh 11,9: respondit Jesus: nonne X I I horae sunt diei? si quis ambulaverit in die . . . ) . Ob aber zit oder stunta hier der allgemeinere Begriff ist, welcher von beiden ,Zeitabschnitt' im allgemeineren und ,Stunde' im engeren Sinne bedeutet, läßt sich aus der Stelle allein wiederum nicht entscheiden. D a ß stunta und zit in diesen konkreten Kontexten (der Zeitmessung) miteinander in Variation stehen, wirft auch ein Licht auf die Verwendung von zit. Das ahd. zit reicht offenbar weit stärker als unser nhd. ,Zeit' in den Bedeutungsbereich von .Zeitabschnitt' hinein. 4. Gewertete Zeit: durch Adjektiv determiniert: H i a r ist io wewo joh ällo ziti sero joh stünta filu suaro V 23, 92 4
Burger, Zeit
50
1.
Althochdeutsche
Texte außer
'Notker
Hier handelt es sich wohl um eine regelrechte Variation. Wenn die bei Otfrid sehr labilen Endungen nicht täuschen, sind wewo, ziti und stunta die Subjekte (mit der ,unlogischen' Singularform der Kopula), wobei sero und suaro parallel geschaltete Adjektivattribute zu den Substantiven wären, zit wie stunta sind hier Ausdrücke der erlebten, mit Erfahrungen erfüllten Zeit, nicht leere Temporalbegriffe (vgl. noch Th. Manns Erzählung ,Schwere Stunde'). durch Possessivpronomen individualisiert: Öba ih thaz irw£llu theih sinaz lob zellu, zi thiu due stunta mino, theih scribe däti sino L 10 (,meine Zeit', ,die mir zur Verfügung stehende Zeit') Die dieser Wendung zugrunde liegende Auffassung, daß die Zeit etwas ist, was mir zur Verfügung und Verwendung überantwortet ist, wird sich in späteren Texten explizit nachweisen lassen. Das Possessivpronomen leistet hier die Einbeziehung der Zeitvorstellung in den Bereich des Subjektiven, stunta mino: das ist mein Leben, das ich zu verwalten und zu gestalten habe. Es sei gestattet, Ausdrücke dieser Art unter dem Titel ,gewertete Zeit' einzugliedern, da sie die Zeit nicht als quantitative Größe, sondern als ein qualitatives Phänomen begreifen. In den K L E I N E R E N D E N K M Ä L E R N ist stunta nur einmal belegt, und zwar im späten Bamberger Blutsegen (69, 9): taz was ein file gote stunte (gemeint ist der Zeitpunkt der Verwundung Christi durch Judas — gemäß apokrypher Uberlieferung; diese Verwundung gilt als heilbringendes Vorbild f ü r jede Wunde, womit sie Eingang in den ,Blutsegen' erlangt), stunte ist hier als gewerteter ,Zeitpunkt' zu verstehen. In den altsüdmittelfränkischen Psalmenfragmenten steht stunta (schw. fem.) einmal f ü r tempus, individualisiert durch das Possessivpronomen, im Sinne von ,rechte Zeit', y.aiQÖg: Ps. 1, 3 (v. Helten S. 91) Et erit tanquam lignum quod plantatum est secus decursus aquarum, quod fructum suum dabit in tempore suo. — . . . in stunden sinro . . . Die GLOSSENbelege f ü r stunta entsprechen durchaus der Verteilung in den literarischen Denkmälern: Für mehrere Belege gilt das Lemma hora: hora — stunta II 630, 24 (Vergil G I, 426) [11. Jh.] hora — stunta I I I 241, 68 [12. Jh.] horis — stuntun II 456, 30 (Prud. 129) [11. Jh.] horas — stunta II 721, 53 (Vergil E X 73) [9.10. Jh.] Einmal steht stunta f ü r dies, in einer individualisierenden Wendung, wie sie uns aus Otfrid bekannt ist: cede dies — gelaz dine stunda II 771, 8 [10.11. Jh.]
1.1.
Die
Zeit-Termini
51
An zwei Stellen entspricht das Wort dem lat. adverbialen vice: H a c uicae non ante — zi derru stundv non es er I 718, 62 ff. Uersa uic? — kiuuantalonteru stunto I 493, 32 (Esther 9, 1) [8. 9. J h . ] Im ersten Fall ist vice temporal (,Mal') zu verstehen, somit treffend durch das deutsche Wort wiedergegeben. Im zweiten Beleg aber dürfte schematische ,Vokabelübersetzung' vorliegen, da die Formel versa vice an dieser Stelle keinerlei temporalen Sinn zuläßt: Esther 9, 1 Igitur duodecimi mensis ... tertia decima die, quando cunctis Judaeis interfectio parabatur, et hostes eorum inhiabant sanguini, versa vice Judaei superiores esse coeperunt, et se de adversariis vindicare (,1m zwölften M o n a t . . . am dreizehnten Tage, als alle Juden vernichtet werden s o l l t e n . . . , w a n d t e s i c h d a s B l a t t , und die Juden überwanden die Feinde'). Es steht demnach zu vermuten, daß stunta ein gängiges Interpretament von lat. vice gewesen ist, das schließlich auch mechanisch auf untemporale Verwendungsweisen des Lemmas angewandt werden konnte. Darüberhinaus begegnet stunta/stunt in freien syntaktischen Fügungen wie auch in erstarrten Adverbformen, die lat. Adverbien entsprechen: (post) pusillum — lucikerv stundu I V 299, 50 f. (Lk 22, 58) Dies ist der Musterfall einer ,Kontextübersetzung': der Glossator übersetzt nicht mechanisch das bloße isolierte Lemma; vielmehr liest er die lat. Präposition mit und überträgt das deutsche Substantiv in d e n Kasus, den die entsprechende deutsche Präposition ( a f t e r o. ä.) erfordern würde. Mit diesem Beleg ist auch für den Bereich der Glossen eine quantitativ-determinierte Verwendung von stunta bezeugt. passim — stontü I I 85, 36 (Conc. Chal. X X ) [9. J h . ] aliquotiens — sumastunta, sumistunt, sumstuntun I 695, 28 ff. (Macc I 16,2) [10.11. Jh.] interdum — sumestunt I I 767, 31 (Walahfr. 14) [9. J h . ] interdum — symcstyntc ( = sumastunta) I I 7 5 2 , 4 1 (Vita Martini 1, 15 p. 168, 4) [11. J h . ] quaterdecies — uiorzehanstunta I I 289, 23 (Gregor Horn. I 16, p. 1495) [10.11. Jh.] deinceps — stundthannan I 242, 25 (Abrogans) [8. J h . ] Die Belege für stunt{a) ,Mal' zeigen sehr schön den fluktuierenden Übergang von freien Fügungen Adj. + Subst. (suma stunta) zu adverbiellen Komposita (sumestunt, stundthannan). In den Glossen lassen sich also zwei Hauptgruppen von Belegen für stunta/ stunt erkennen: (1) stunta in freier syntaktischer Verwendung, für lat. hora und gelegentlich andere Lemmata, (2) stunta bzw. die Kurzform in adverbiellen Ausdrücken, mehr oder weniger erstarrt. Während in den literarischen Denkmälern des Ahd. keinerlei A d j e k t i v a b l e i t u n g e n zu stunta belegt sind, weisen die Glossen einige solcher Bildungen auf: 4»
52
1• Althochdeutsche Texte außer Notker
stunlihe — momentáneos IV 332, 11 (Gregor Homiliae II 25) stuntunlichan — momentaneum I 766, 31 (2 K o r 4 , 1 7 ) [8. J h . ] In diesem Bibelvers steht momentaneus im Sinne von ,augenblicklich, vergänglich' als Gegensatz zum Ewigen: quod in praesenti est momentaneum et leve tribulationis nostrae, supra modum in sublimitate aeternum gloriae pondus operatur in nobis. manotstuntigero — menstru? I 349, 15 ff. (Lev. 12, 2) [10. 11. J h . ] In diesem Kompositum verweist stuntig als zweites Glied auf die Vorstellung des Zeitabschnitts', vielleicht aber auch auf das monatlich, regelmäßig , Wiederkehrende'. Schließlich steht stunt- als erstes Kompositionsglied in einer Ableitung von wila: stuntwiliger — momentaneus I V 151, 32 (Gl. Sal.) [13. J h . ] In den drei Adjektivbelegen f ü r das Lemma momentaneus ist die Bedeutung .Zeitpunkt' als semantischer Kern der Ableitung anzusehen. S u b s t a n t i v k o m p o s i t a , die mit stunta gebildet sind, finden sich sehr selten. Die einzigen in Frage kommenden Wörter sind stunthwila und untarstunta, von denen das erste in der Benediktinerregel und in Glossen 3 ', das zweite nur in der Benediktinerregel belegt ist. stunthwila würde seinem G r u n d w o r t nach eher in die Gruppe um hwila gehören. Wir behandeln das Wort aber an dieser Stelle, weil stunt- als Bestimmungswort dem Kompositum seinen besonderen Akzent verleiht. 1.
stunthwila: (35): Et veluti uno momento et praedicta magistri iussio et perfecta discipuli opera in velocitate timoris dei ambae res communiter citius explicantur . . . — eineru stunthuuilu . . . GLOSSEN: articulum — stuntuuila I I 743, 2 (Passio Caeciliae 188) [10. J h . ]
BENEDIKTINERREGEL
propagationis articulum — fram. zuhti/stuntuuila II 230, 7 f. (Gregor Cura Past. 3, 27) [9. 10. J h . ] in puncto — in einero stuntvuilo u. ä. I 658, 9 ff. (Dan. Prol.) [10. 11. J h . ] Ex parte — stuntvuila I 757, 23 (Rom 15, 24) [11. J h . ] (,einigermaßen' oder ,eine Zeitlang'?) momentum — stuntuuila I V 331, 19 (Gregor Horn.) momenta — stuntvuila I V 191, 14 f. (Gregor Cura Past. 3, 18) [14. J h . ] 39
stunthwila dürfte nicht zu den Bildungen des frühen Ahd. gehören, die ad hoc geschaffen sind und spurlos wieder aus der Wortgesdiichte verschwinden; im Frühmhd. begegnet es wieder im Memento Mori (s. u. 279).
1.1. Die Zeit-Termtni
53
(interuallo) — untar stuntuuilon IV 331, 25 [9. Jh.] (Gregor Epistolae, 1191) 2.
untarstunta: ( 5 2 ) : A pascha autem usque ad supradictas kalendas novembres sie temperetur hora ut vigiliarum agenda parvissimo intervallo, quo fratres ad necessaria naturae exeant. — dera skemmistun untarstuntu...
BENEDIKTINERREGEL
ebda (99) Si autem ieiunii dies fuerint, dicta vespera parvo intervallo mox accedant ad lectionem . . . — luzzileru untarstunta ... Ibach40 bemerkt zu den beiden Wörtern: „Die Grundbedeutung von stunt .stehender Punkt im Zeitverlauf' (vielleicht zu stantan gehörig) haben wir schön in folgendem Fall: [Beleg für stunthwila aus der Ben. Regel]. Gl 1, 658, 9 steht stuntuuila für punctum horae. Die Zusammensetzung will andeuten, daß ein ganz kleiner Teil {stunt) der Zeit (uuila) gemeint ist. Ähnlich bezeichnet undarstunta einen ganz kleinen Zeitraum, eine ,Pause' zwischen den Zeiten." Wenn für den ersten Fall diese Interpretation der semantischen Funktion der Kompositionsglieder zutreffend sein dürfte — dafür sprechen auch die übrigen Glossenbelege sowie das Adjektiv stuntwilig —, so ist die Deutung von untarstunta weder logisch noch sprachlich vertretbar. Entweder heißt untarstunta ,zwischen den Zeiten, das was zwischen bestimmten Zeitpunkten oder -abschnitten liegt' = .Pause'. Dann ist über die Dauer dieser Pause im Wortinhalt nichts präjudiziert. Oder es bedeutet ,die Zwischen-Zeit; Zeit, die dazwischen ist', wobei über die Grenzen und damit die Ausdehnung dieses Zwischenraums gleichfalls nichts gesagt ist. Die Kürze der ,Pause' ist in beiden Belegen der Benediktinerregel durch das Adjektiv hervorgehoben. Wenn untarstunta für sich selbst schon eine Minimalzeit bedeuten würde, wäre die Adjektiv-Bestimmung überflüssig, untarstunta ist — wie untaruuila — eine Lehnbildung nach lat. intervallum. Dieses seinerseits hat eine klare etymologische Struktur, sofern es ursprünglich den Abstand zwischen zwei Zaunpfosten, dann auch den Zeitraum zwischen zwei Zeitpunkten meint. Das deutsche Wort ist allerdings von vornherein eine Bildung mit temporalem Lexem und der ambivalenten Präposition, während das lat. Wort aus ursprünglich rein lokalen Elementen komponiert ist. Das Beispiel macht sehr deutlich, wie gefährlich es ist, von etymologischen Hypothesen auf synchronisch-semantisdie Tatbestände zu schließen. Nur das erste der beiden Komposita ist noch als einigermaßen deutlicher Zeuge für die etymologische Herkunft (darüber im folgenden) von stuntajstunt heranzuziehen, während stunta in der zweiten Zusammensetzung je nach Interpretation der Wortbildungsstruktur anders aufzufassen ist und demnach als beweiskräftiger Beleg dahinfällt.
"
I b a c h , a . a. O . , 7 9 .
54
1.
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Zusammenfassung stunta hat im ganzen ein ähnliches Bedeutungsspektrum wie wila. Doch zeichnen sich eine Reihe von Besonderheiten ab: 1. stunta ist nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ determinierbar. Damit rückt das Wort enger als frist und wila in den Bereich des Zeit e r 1 e b e n s , der subjektiven Zeiterfahrung. 2. Außer in der Bedeutung hora (und einmal ,tempus') wird stunta immer pluralisch gebraucht (Dat. pl. für .Zeitpunkt', Dat. und Akk. pl. für Zeitdauer'). Der Ausgangspunkt für diese eingeschränkte Verwendung ist möglicherweise bei Ausdrücken wie allo stunta zu suchen, die durch Summierung zur Vorstellung einer Totalität zu gelangen suchen. Von hier aus könnte die pluralische Verwendung auch auf die adverbialen Ausdrücke zur Bestimmung des »Zeitpunkts' übergegriffen haben. Für die Singularform des Wortes läßt sich daraus schließen: stunta ist als syntaktisch freies Lexem im Singular auf die Bedeutung ,eng begrenzter Zeitabschnitt' oder auch ,Zeitpunkt' festgelegt (die Distribution dieser beiden Möglichkeiten ist durch Kollokationen oder auch den weiteren Kontext geregelt). Noch ein zweiter Weg läßt sich aufweisen, auf dem die pluralisch-deiktischen Wendungen entstanden sein könnten: Wir konnten beobachten, daß in gewissen Kontexten (auf die Frage ,wann?') die Opposition Zeitpunkt/Dauer irrelevant wird. Eine solche ,Neutralisierung' dürfte geleistet sein durch Transponierung des Wortes in den Plural. Ohne diese These näher zu begründen, sei vorläufig festgehalten, daß es eine Möglichkeit zu geben scheint, wie die ,lexikalische' Bedeutung eines Wortes neutralisiert werden kann. 3. Die Kurzform stunt und bestimmte Kasus von stunta sind mehr oder weniger vollständig in den Adverb-Bereich übergetreten, wo sie die Funktion punktueller Zeit-Determinanten besitzen. 4. Damit sind wir in den Stand gesetzt, die E t y m o l o g i e in unsere Betrachtungen einzubeziehen:
des Wortes
Nach Kluge/Mitzka läßt sich über die Herkunft des Wortes folgendes aussagen: „mhd. stunde, stunt f. .Zeitabschnitt, Zeitpunkt, Zeit; Gelegenheit, Mal', mnd. afries. stunde ,Stunde, Zeit; Mal', ahd. stunta, stunda ,Zeitpunkt, Zeit, Stunde'; asächs. stunda ,Stunde, Zeit Werk', mnl. stonde, stont, ags. stund f. ,kurzer Zeitraum, Zeitpunkt, Augenblick; Zeit, Stunde; Stundenglocke', anord. stund f. ,Weile, Zeit, Stunde'. Got. *stunda wird in roman. Entlehnungen g r e i f b a r . . . Alle führen auf germ. *stundö- als ablautende Bildung zu germ. ^ s t a n d a n . . . Als Grundbedeutung ergibt sich ,stehender Punkt (im Zeitverlauf)'..." Diese älteste Bedeutung des Wortes ist offenbar am besten bewahrt in den adverbiell isolierten Formen des Wortes und in den adjektivischen Ableitungen. Das trifft in gleicher Weise für die literarischen Denkmäler wie für die Glossen zu. Nur insofern spiegeln die Glossen einen älteren Zustand, als sie allein die
1.1.
Die Zeit-Termini
55
adjektivischen Ableitungen (und die meisten Belege für das Kompositum stunthuuila) überliefern.
1.1.4. zit zit ist schon in ahd. Zeit das verbreitetste Wort aus dem temporalen Bereich. Seine Bedeutung bzw. sein Bedeutungsspektrum ist weniger schwer zu fassen als das von stunta oder frist. Es reicht von konkretester bis zu abstraktester Verwendung. Die etymologische Herleitung kann bei diesem Wort nur noch wenig zur Deutung der synchronen semantischen Befunde beitragen, während doch bei den anderen drei Wörtern durch die Etymologie bestimmte Akzente gesetzt wurden. Daß ahd. zit zu ai. dayate schneidet ab, teilt' gehört, und ursprünglich ,Abschnitt' bedeutete41, ist für die ahd. Verhältnisse — mit Ausnahme vielleicht einer Bedeutungszone des Wortes — kaum mehr signifikant. In der IsiDOR-Übersetzung liegt allen Belegen von zit lat. tempus zugrunde (das Umgekehrte gilt nicht, da tempus einmal auch durch huuil wiedergegeben wird). 1. zit steht auf die Frage ,wann?' bzw. ,seit wann? von wann an?': 26.10 26.20-22
a tempore danielis — fona daniheles zide A tempore itaque danihelis prophete usque ad presens tempus — Fona daniheles ziide auur dhes forasagin untazs dhiu selbun Christes chumfti ziidh Zu dieser Übersetzung bemerkt Eggers (unter .praesens'): „Die ahd. Übersetzung ist schwer zu beurteilen. Der lat. Isidor stellt eine Zeitberechnung an: Die Geburt des Heilandes sollte nach einem Prophetenwort 70 Jahreswochen (70 mal 7 Jahre) nadi Daniel erfolgen. Seit Daniel u s q u e a d p r a e s e n s t e m p u s , d. h. bis zur Zeit Isidors von Sevilla, sind aber schon mehr als 140 Jahreswochen vergangen; die Juden sind also im Unrecht, wenn sie die Geburt des Messias immer noch erwarten. Der Übersetzer scheint diese Beweisführung richtig verstanden zu haben. Berücksichtigt man dabei, dass nur in dieser Stelle der Plural von z i i d h verwendet wird . . . , darf man hier die Bedeutung ,Verlauf der Zeit' annehmen und kann übersetzen: ,bis zu diesen (heutigen) Zeiten der christlichen Aera'."
Ob der Isidor-Übersetzer seine Vorlage richtig verstanden hat, scheint mir zweifelhaft. Wie schon bei den übrigen Zeit-Wörtern, besonders aber bei stunta zu beobachten war, hat der Plural eines temporalen Terminus keineswegs primär die Funktion, die Dauer, den Verlauf eines Geschehens zu bezeichnen. Die Opposition Zeitpunkt/Zeitdauer wird im allgemeinen eher durch andere Mittel als die Numerusdifferenzierung realisiert. 41
Vgl. Heinz Kronasser, Handbuch der Semasiologie, Heidelberg 2 1968, § 118, S. 159; ferner Kluge/Mitzka, .Zeit'.
1.
56
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Das bleibt für die Verwendung von zit allerdings vorerst noch Behauptung. Abgesehen davon, dürfte mit Christes chumfti ziidh kaum die ,christliche Ära' gemeint sein, da chumft eindeutig das ,Kommen', die .Ankunft' Christi bezeichnet. Für beide genannten Belege habe ich weder die Bedeutung .Zeitpunkt' noch .Zeitdauer' angesetzt. Zwar ist danielis tempus zweifellos ein Zeitabschnitt von bestimmter Dauer. Doch in der Formulierung a tempore danielis liegt der Blick nicht auf dem Verlauf dieses Zeitabschnittes, sondern auf der Epoche als Ganzer, sofern sie als Ausgangspunkt, als untere Grenze einer Handlung bzw. einer Zeitberechnung betrachtet wird. Entsprechendes gilt für Christes chumfti ziidh, womit der Endpunkt der' berechneten Zeitstrecke fixiert wird. Audi hier könnte man von einer Neutralisierung der Opposition Zeitpunkt/Zeitdauer sprechen (was wiederum gegen die Eggerssche Deutung spräche). Eine Gebrauchsweise sui generis bilden die aus biblischem Sprachgebrauch stammenden Ausdrücke wie die Zeit erfüllt sich. Das Entscheidende dieser Verwendung ist der teleologische Aspekt, der durch das Verbum an den ZeitTerminus herangetragen wird: 2. Zeit, die sich erfüllt, vollendet: 35.10
nondum esse hoc tempus expletum — dhazs noh ni sii dhazs ziidh arfullit
3. Zeitpunkt für . . . , rechte Zeit: M 33.12
antequam tempus virginis parturiendi venieret — [de]ra magadi ziit biquami za . . .
4. Zeitpunkt, nicht als temporale Bestimmung eines Verbs, sondern als Begriff der Zeitrechnung: 25.8
quaeramus
tempus
nativitatis
Christi
—
suohhemes
ziidh
dhera
Christes chiburd 5. Zeit überhaupt, im abstrakten Sinne: M 33.13
genuit eum sine tempore pater — ano einigero ziteo bigin
Diese Stelle ist symptomatisch für die sprachlichen Abstraktionsmöglichkeiten zu Anfang der ahd. Überlieferung: Der sehr abstrakte lat. Ausdruck sine tempore, den man im Sinne einer negativen Formulierung der Ewigkeit übersetzen müßte mit .außerhalb der Zeit' (d. h. in der Ewigkeit, jenseits aller geschaffenen Zeit) bietet dem Übersetzer gedankliche wie sprachliche Schwierigkeiten. Der Gegensatz Zeit/Ewigkeit ist begrifflich noch nicht so präsent, daß etwas wie ,Zeitlosigkeit' abstrakt formuliert werden könnte. Vielleicht hat man sich den Gedankengang des Ubersetzers so zu denken: .zeugen' heißt einen Anfang setzen; Gott aber zeugte seinen Sohn, ohne daß dies gleichbedeutend wäre mit einem zeitlichen Anfang. Das Uber-der-Zeit-sein der Trinität interpretiert er somit als Fehlen jeglichen Anfangs. Damit erklärt sich auch der zunächst überraschende Plural einigero ziteo: Gott zeugte seinen Sohn .ohne
1.1. Die Zeit-Termini
57
den Beginn irgendwelcher Zeiten, Zeitabschnitte', ohne daß mit diesem Akt irgendwelche Zeiten entstünden (Zeit ist ja das, was beginnt und aufhört). 18.7, 8 N a m principio in abscondito locutus sum, ex tempore antequam fieret ibi eram — joh fona eristin uuas ih diiholono spehhendi forta ziidi, endi aer huuil uurdi, ih uuas dhar. (vgl. die unter ,huuil' zitierte Deutung von Eggers) Diese Stelle bietet schon vom Lat. her einige Komplikationen. Es handelt sich dabei um ein Zitat von Isaias 48,16, das aber aus dem Zusammenhang des biblisdien Textes genommen und leicht verändert an Is. 12/13 angehängt ist. Zur Kontrolle sei der ganze Zusammenhang der Isaias-Stelle angeführt: 48,12—16: 12 Audi me, Jacob, et Israel quem ego voco; ego ipse, ego primus, et ego novissimus. 13 Manus quoque mea fundavit terram, et dextera mea mensa est caelos; ego vocabo eos, et stabunt simul. 14 Congregamini, omnes vos, et audite: quis de eis annuntiavit haec? Dominus dilexit eum, faciet voluntatem suam in Babylone, et brachium suum in Chaldaeis. 15 Ego, ego locutus sum, et vocavi eum; adduxi eum, et directa est via ejus. 16 Accedite ad me, et audite hoc: Non a principio in abscondito locutus sum, ex tempore antequam fieret, ibi eram; et nunc Dominus Deus misit me, et spiritus ejus. Nach dem Wortlaut der Vulgata spricht in 16 der Prophet. Dadurch aber, daß in Isidors Text der Satz nicht durch Non, sondern durch Nam eingeleitet wird, kann Vers 16 unmittelbar an Vers 12 anknüpfen. Auf diese Weise werden die Worte des Propheten umgedeutet in Worte Gottes, womit sich gleichzeitig die alltäglich-temporale Redeweise in eine metaphysische Aussage über das vor-zeitliche Sein Gottes wandelt. So lautet der ganze Zusammenhang bei Isidor: In esaia quoque sub propria cuiusque persona distinctio trinitatis dicente eodem filio ita ostenditur: ,Ego primus et ego nouissimus. Manus quoque mea fundauit terram et dextera mea mensa est c?los. Nam a principio in abscondito locutus sum, ex tempore antequam fieret, ibi eram.' Daß schon der lat. Text Schwierigkeiten bot, beweisen die abweichenden Redaktionen. Nach dem bei Eggers gebotenen Apparat gehen gerade an der entscheidenden Stelle die Lesungen auseinander 42 : Nam (Par. Eins.) Non B (Ausgabe von Jacobus du Breul 1601) A (Ausgabe des Faustino Arevalo 1802); 48
Zu den verschiedenen R e d a k t i o n e n des lat. Textes vgl. Eggers, S. X V .
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
58
a BA (fehlt Par. Eins.). Solange eine kritische Ausgabe des textgeschichtlich komplizierten Stückes fehlt, ist die Entscheidung über den echten Wortlaut unmöglich. Fest steht aber, daß die deutsche Übersetzung auf einer Vorlage basiert, die Nam (statt Non) und wahrscheinlich a hatte (so auch die konjizierte Fassung bei Eggers). Der Obersetzer faßte den Passus als Beschreibung des geheimnisvollen vor- und unzeitlichen Seins Gottes auf und versuchte diesen Gedanken noch zu verdeutlichen. Ungeklärt bleibt allerdings, warum er es f ü r nötig hielt, tempus mit verschiedenen deutschen Wörtern wiederzugeben. Vielleicht mußte er die Formulierung locutus sum ex tempore antequam fieret als Paradox verstehen „Ich sprach aus der Zeit, bevor sie entstand", wobei im ersten Fall (,aus der Zeit') eigentlich gemeint wäre ,aus der Ewigkeit', im zweiten Falle (,bevor sie entstand') die irdische Zeit. D a ß fona als Übersetzung von ex fungiert in der Bedeutung ,heraus aus, von her', widerspricht keineswegs dem Wortgebraudi des Isidor-Übersetzers. Daher sdieint mir die sonst zutreffende Anmerkung Eggers' „der Übersetzer verfuhr also, als habe er zu übersetzen: locutus sum de tempore, et antequam tempus fieret" in einem Punkte unnötig vom lat. Text abzuweichen; der Übersetzer meinte wohl nidit ,von der Zeit' sprechen, sondern ,aus der Zeit' sprechen, also ex tempore, nicht de tempore. Die M O N S E E R FRAGMENTE verwenden zit f ü r lat. tempus in der deiktischen Wendung (auf die Frage ,wann?'): in illo tempore — In deru ziti. 4.1 In der BENEDIKTINERREGEL steht zit in Konkurrenz mit wila bei der Wiedergabe des lat. hora. Allerdings kann von einer ständigen Konkurrenz nicht die Rede sein, da den 52 Belegen f ü r zit nur 3 f ü r wila gegenüberstehen. Die Zusammenstellung bei Ibach 43 und die dort aufgeführten Bedeutungsgruppen genügen für unsere Zwecke nicht, da sie nichts über die Übersetzungstechnik der Interlinearversion aussagen. Die groben EntsprechungsVerhältnisse stellen sich wie folgt dar: zit
wila
tempus
+
—
hora
+
+
zit deckt demnach weite Bereiche von lat. hora und den ganzen Bereich von tempus. A.
43
Wir gliedern die Belege für zit nach den lat. Entsprechungen: tempus: (1) Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt auf die Frage ,wann?': in deiktischen Ausdrücken: 44 in hoc tempore — in deseru citi (die Ibach, a. a. O., 77.
1.1.
Die
Zeit-Termini
59
Wendung meint zweifellos einen bestimmten Zeitpunkt oder eine bestimmte Zeitspanne, da sie in Gegensatz gestellt ist zu cottidie: Et parcendo nobis in hoc tempore, quia pius est, deus exspectat nos cottidie converti in melius...) die entsprechende Relativkonstruktion: quo tempore deru cid 62 präzisiert durch Possessivpronomen (das hier aber nicht individualisierend wirkt, sondern die Funktion der Ich-Deixis erfüllt): 96 nostris temporibus — unserem citim (,in unseren jetzigen Zeiten') präzisiert durch Attribut: 96 hiemis tempore — uuintarciti 108 certis temporibus — kauuissem citim (zu ,bestimmten Zeiten' sollen die Brüder occupari in labore manuum) (2) Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt, als Subjekt oder Objekt: 98 Si tempus fuerit p r a n d i i . . . — cit 138 conversionis tempus (Akk.) — dera kihuuorauannissa cit 108 tempora ordinäre — citi (3) Zeitdauer, auf die Frage ,wann?' bzw. ,wie lange?': determiniert durch Adjektiv (Pronomen): 134 quanto tempore — so manakera citi in Kollektivausdrücken (ohne genaue temporale Begrenzung), zur Bezeichnung von Kontinuität bzw. Iteration: omni tempore — eocouueliheru citi u. ä. 11, 57, 98, 112 (4) gewertete Zeit: 24 miscens temporibus tempora — miskenti citum citi (,je nach Zeit und Umständen' verbinde der Abt Strenge mit Milde) Gemeint ist hier nicht die Zeit als Quantum oder Eigenschaft eines Vorganges, sondern als ,erfüllte' Zeit, als so und so beschaffene Zeit. Hierher gehören wohl auch die Stellen 30 iracundiae tempus — abulkii ciit und der bereits unter (2) aufgeführte Beleg 138 conversionis tempus B. hora: Die Bedeutung ,Zeitpunkt' ist meist nicht zu trennen von der speziellen Bedeutung ,Hore' (wohl weil mit dem Hinweis auf eine bestimmte Höre der Zeitpunkt jeweils genügend genau fixiert ist): (1) Zeitpunkt/Hore (auf die Frage ,wann?') Zeitpunkt eines Geschehens, das durch einen Nebensatz umschrieben wird: 103 hora, qua desideravit hoc — c i t i . . . 111 horis, quibus vacant fratres lectioni in deiktischem Ausdruck: 99 illa hora — dera citi mit indefinitem Pronomen: 44 aliqua hora (,zu irgendeinem Zeitpunkt') — eddeshuuelihhera citi präzisiert durch Attribut: 98 nocturnis horis — nahtlihhem citim
60
1.
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
(2) Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt, als Subj. bzw. Attribut: Die einzige Stelle, an der hora wohl nicht als ,Hore' zu verstehen ist, ist ein Bibelzitat: hora est iam surgere — ciit i s t . . . (12) Gleichfalls als Subjekt als ,die zur Verfügung stehende Zeit' fungiert hora in der folgenden Stelle: 99 quantum hora permittit — c i t . . . als Genitiv-Attribut mit deiktisch-identifizierendem Pronomen: 62 (ähnlich 64) hymnum eiusdem horae — lob deru selbun citi Einen Sonderfall von (1) und (2) stellen die Ausdrücke dar, in denen durch Angaben des monastischen Tageslaufs, der liturgischen Dienste bzw. durch zahlenmäßige Bestimmung die jeweilige Höre genau bezeichnet wird: 88 ante unam horam refectionis — einera citi 100 ad horam divini officii — ze citi... 107 hora operis dei — cit des uuerahches 108 prima hora — fona eriston ziti 109 octava hora — ahtodun citi 109 usque ad horam secundam — citi 109 hora secunda — citi andrera 110 horae nonae — citi niuntun 139 secunda hora — der andera citi 139 prima hora — der erirun citi zusammenfassend: 91 horas canonicas — citi rehtlihhiu 62 nunc de sequentibus horis videamus — folgentem citim (3) Zeitdauer, auf die Frage ,wann?' bzw. ,wie lange?': — in Kollektivausdrücken, die die Kontinuität oder auch die ständige Iteration einer Handlung anzeigen: omni hora — eocouuelihhera citi (mit orthographischen Varianten) (31, 41 zweimal, 44, 50) In 31 und 41 hat der Kontext jeweils noch die entsprechende lokale Formel in omni loco — in eocouuelihheru steti u. ä.; in 50 steht in der unmittelbaren Umgebung, syntaktisch parallel, das Adverb semper. Durdi diese Kontextparallelen wird der zusammenfassende Charakter der Formel noch unterstrichen. — in Ausdrücken, die weniger die ununterbrochene Dauer als die Iteration einer Handlung anzeigen: 65 u. 66 per easdem horas — duruh dea selbun citi 66 diversis horis — missilihchem citum 64 hymnum uniuscuiusque horae — einera eocouuelihera citi (die Differenzierung dieser Wendung gegenüber der vorangehenden geschieht im Deutschen durch den Artikel einera) 102 diurnis horis — tagalihhem citim
1.1.
Die
Zeit-Termini
61
(4) Gewertete Zeit: Des öfteren verwendet die Regel Ausdrücke für ,passende' bzw. ,unpassende' Zeit einer Handlung: 83 horis conpetentibus et dentur, quae danda sunt, et petantur, quae petenda sunt — citim kelimfanteem . . . ebenso 107; das Gegenstück in 111: horis inconpetentibus — citim unkalimfantem Vergleicht man die Bedeutungszonen, die in beiden Belegreihen auftreten, so stellt sich heraus, daß die lat. Regel die Wörter tempus und hora erstaunlich parallel verwendet. Besonders in Zone (3) liegt geradezu Synonymität vor (omni tempore/omni hora usw.). Nur die Spezialbedeutung ,Hore' bleibt auf hora beschränkt. In allgemeinere — man kann nicht einmal sagen: abstraktere — Zonen greift tempus nur an den beiden Stellen aus, wo vom ,Mischen' bzw. ,Anordnen' der tempora die Rede ist (24, 108). Doch auch hora ist einer gewissen Abstraktion fähig, wie die Belege der Zone (4) und die Stelle (99) quantum hora permittit beweisen. Der Ubersetzer trägt diesem Sprachgebrauch fast konsequent Rechnung, indem er die beiden lat. Wörter mit dem gleichen deutschen Wort wiedergibt. Die Spezialbedeutung ,Hore' allerdings wird dadurch in vielen Fällen vernachlässigt. Zu erklären bleiben nun noch die 3 Stellen, an denen hora durch wila repräsentiert ist. In allen 3 Fällen steht wila in einem Kontext, der noch weitere Belege von hörajtempus aufweist: 1. (52) Hiemis tempore . . . uuintardij... iuxta considerationem rationis octava hora noctis surgendum est. ahtodun uuilu . . . A pascha autem usque ad . . . kalendas novembres sie temperetur . . . so si katemprot hora u t . . . cit Hier ist der Grund für die abweichende Wortwahl ersichtlich: Wo von allgemeinen Zeit-Begriffen die Rede ist, verwendet der Übersetzer cit, wo aber die ,Hore' im speziellen Sinne gemeint ist, setzt er uuila. Damit folgt er keineswegs dem lat. Vorbild, das an letzter Stelle auch hora verwendet. Dies ist der einzige eindeutige Fall in der ganzen Regel, wo die Übersetzung den Begriff der ,Hore' terminologisch abhebt gegen allgemeinere Zeitbegriffe. 2. (62) quo tempore nostrae deru cid... servitutis officia persolvamus, quia de his horis dixit. .. fona dem uuilom .. . Ergo in his temporibus referamus . . . in desem citum laudes c r e a t o r i . . . ... Hier könnte man das gleiche Motiv der Wortwahl vermuten wie in (52), zumal an dieser Stelle die Verteilung von wila/zit derjenigen von hora/tempus parallelläuft. Doch scheint gerade in diesem Textzusammenhang im Lat. keine
1.
62
Althochdeutsche
Texte außer
Notker
semantische Differenz von tempus und hora beabsichtigt zu sein (horis wie temporibus meint die im Kontext genannten einzelnen Hören). Somit liegt im Deutschen nur eine Art mechanisch-äußerlicher Differenzierung vor, hervorgerufen durch eine semantisch irrelevante lexikalische Unterscheidung der lat. Vorlage. 3. (ebenfalls 62, aber nach einem neuen Kapitelbeginn): Nunc de sequentibus horis videamus. fona folgentem citim ... Prima hora dicantur psalmi tres Erista uuila ... singillatim et non sub una gloria, hymnum eiusdem horae post versum: deru selbun citi... „Deus, in adiutorium intende!" Für diesen Text bietet sich weder ein semantisches Motiv noch eine Beeinflussung durch die Wortwahl der Vorlage als Erklärung für die deutsche Differenzierung an. Wenn der Übersetzer nicht nur der Abwechslung halber das andere Wort einsetzt (wie es sonst nicht seine Art ist), so könnte man nur noch vermuten, daß die präzise Ordinalzahl die Vorstellung der ,Hore' deutlicher evoziert als die beiden anderen Ausdrücke. Doch das ist nicht mehr als Spekulation. In den MURBACHER H Y M N E N ist die Verwendung von zit identisch mit der von tempus im lat. Text. Als Bedeutungszonen lassen sich abheben: (1) Zeitbestimmung auf die Frage ,wann?': — präzisiert durch Adjektiv: X X I V 15 Tu es qui certo tempore!daturus finem seculi — kiuuissemu zite X X I V 12 nocturno tempore — nahtlichemo zite — determiniert durch Attribut: I I Mediae noctis tempore — Mittera nahti zite I I I Noctisque medie tempore — ioh dera naht mittera zite X V 2 Te noctis inter orride dih dera naht egislihera tempus precamur zit pittemes (2) Zeitabschnitt: — als Subjekt: X X I I I 1 Tempus noctis — cit thera naht I 3 Terrorem tempus hoc habet (nämlich die Mitternacht) — zit daz I 7 Ipsum profecto tempus est (Mitternacht) — selbaz kiuuisso zit ist — in anderen syntaktischen Positionen, gemäß dem Lat. in pluralischer Form für Zeitabschnitte, Epochen' u. ä.: X V I I I 1 occasum sol pronuntians noctem redire temporum X X V 1 noctem diemque qui regis et temporum dans tempora
sedalcanc sunna fora cundenti naht uueruan ziteo inti ziteo kepanti ziti
1.1. Die Zeit-Termini
63
(3) Gewertete Zeit: In den Stellen X V 2 und I 3 (in geringerem Maße auch in X X I V 12; I 1, I 11; X X I I I 1) wird tempuslzit durch den unmittelbaren Kontext eine bestimmte Qualität zugeschrieben — über die bloße temporale Bestimmung hinaus. Nirgends aber weicht die deutsche Obersetzung (außer durch Setzung des Artikels) von der lat. Vorlage ab. Die Übersetzungstechnik ist (an den von uns untersuchten Stellen) m e c h a n i s c h , wie besonders aus dem Vergleich von I 4 und I 7 hervorgeht: In I 4 wird der gleiche Inhalt wie in I 7 im Lat. mit hora ausgedrückt (I 7 hat tempus, s. o.). Die deutsche Übersetzung weicht entsprechend in den anderen Wortbereich aus und bietet uuila/stunta zur Auswahl an (vgl. unter wila und stunta). Im TATIAN ist zit gegenüber den anderen Zeit-Wörtern außerordentlich dicht verbreitet. Und zwar steht es für lat. hora und tempus. hora wird sonst nur einmal durch stunta, tempus zweimal durch stunta wiedergegeben, so daß die überwiegende Menge der Belege auf zit entfällt. Bibellat. hora" bedeutet ,Stunde' im Sinne der antiken Zeitmessung, vor allem aber auch ,Zeitpunkt' (dieser letzte Sinn ist bedeutend häufiger vertreten, nicht selten allerdings lassen sich die beiden Bedeutungen nicht scheiden, wie wir schon des öfteren beobachten konnten). Die Bedeutung ,Stunde' kann entweder den Verlauf der zeitlichen Einheit, ihre Dauer meinen, oder auch in deiktischen Zusammenhängen die Zeiteinheit in ihrem numerischen Gegensatz zu den übrigen Zeiteinheiten des Tagesverlaufes (also etwa ,zur vierten Stunde geschah es . . . ' , wo nicht der Verlauf dieser Stunde gemeint ist, sondern nur ihr Stellenwert in der Abgrenzung der Zeitabschnitte). A. hora: (1) Stunde (im Sinne der Zeitmessung) Für diese unproblematische Bedeutung seien nur wenige Beispiele aufgeführt: 181, 4 sie non potuistis una hora vigilare mecum — eina zit (,während der Dauer einer Stunde, eine Stunde lang') Die Vorstellung der bestimmten Dauer ist hier durch die Kardinalzahl evoziert. Ganz ähnlich in 188, 4: post pusillum quasi höre unius — after thiu luzilu samaso eineru ziti In 135, 5 liegt der Akzent auf der numerischen Einteilung des gesamten (Licht-)Tages, ohne daß eine Festlegung auf .Zeitpunkt' oder ,Dauer' beabsichtigt wäre: nonne X I I höre sunt diei? — zuelif citi thes tages ,Stunde' als engere Zeitbestimmung gegenüber ,Tag' als weiterer Benennung: 44
Vgl. W a l t e r Bauer, Griechisch-deutsches W ö r t e r b u c h zu den Schriften des N e u e n T e s t a m e n t s . . . , Berlin 1963 ( N a d i d r u c k d e r 5. Aufl.), fiSpa, 1771 f.
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
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146, 6 De die illo et hora nemo seit — fon theme tage inti ziti... 148, 8 nescitis diem neque hör am — then tag noh thia zit Weitere Belege für die Bedeutung ,Stunde': 2, 3; 55, 7 (zweimal); 16, 2; 87,1; 109,1/2; 125, 2; 147,12; 198, 3; 207, 1/2. In 88,11 (Joh 5,35) scheint die Wendung ad horam — ziziti den Sinn ,eine Zeitlang' zu haben, wobei horalzit also ,unbestimmte Dauer' ohne Festlegung auf ,Stunde' bedeuten würde. Ob allerdings der Übersetzer die idiomatische Wendung des Lat. richtig verstanden bzw. sie mit einem semantisch äquivalenten deutschen Ausdruck wiedergegeben hat, scheint mir zweifelhaft. (2) Zeitpunkt: Im Sprachgebrauch der Bibel begegnet hora sehr häufig in Wendungen wie venit hora u. ä.; dabei ist hora sozusagen die zeitliche Leerstelle, die in ihrem Geschehensinhalt durch den folgenden Nebensatz ausgefüllt wird: 139, 2 venit hora ut glorificetur filius hominis 155, 1 venit hora ut transeat ex hoc mundo ad patrem 171, 3 sed venit hora ut omnis qui interficit vos arbitretur obsequium prestare deo — mit anderen Konjunktionen: 87, 5 quia venit hora, quando neque in monte hoc neque in Hierosolymis adorabitis patrem 175, 3 venit hora cum iam non in proverbiis loquar 88, 9 venit hora in qua ... — mit weiterer temporaler Bestimmung (die hora wird kommen und ist bereits da) vom Typus: sed venit hora et nunc est, quando ... 87, 5 (ferner 88, 8; 176, 3) In allen genannten Belegen — mit einer Ausnahme — folgt die Übersetzung genau dem lat. Vorbild. Die Konjunktionen sind genau nach dem üblichen Sprachgebrauch der Tatian-Obersetzung wiedergegeben: ut — thaz, quando — danna, cum — mit thiu, in qua — in deru. N u r an einer Stelle weicht die Übersetzung von der Vorlage ab: 139, 2 cumit cit in theru gidiurit uuirdit (lat. ut...) Hier hat sich der Übersetzer offensichtlich an der volkssprachlich-,unlogischen' Verknüpfung eines Temporalbegriffs mit der Konjunktion ut... gestoßen. Konsequent füllt er die zeitliche ,Leerstelle' durch einen Relativsatz. Bei O t f r i d und im späteren Ahd. werden wir sehen, daß die Wendung quimit zit thaz durchaus gängig ist. Ob dies dem Einfluß biblischer Syntax zuzuschreiben oder ob es von Anfang an eine Möglichkeit auch des Deutschen ist, läßt sich aus unseren Belegen nicht entscheiden. Der Inhalt der Leerstelle wird gelegentlich auch durch einen Imperativ oder einen neuen Hauptsatz formuliert, wobei die Übersetzung genau der Vorlage entspricht:
1.1. Die Zeit-Termini
65
177, 1 venit hora, clarifica filium tuum 182, 7 adpropinquavit hora, et filius hominis traditur in manus peccatorum Vergleichbar ist auch der Satz: 55, 8 cognovit ergo pater quod illa hora erat in qua — thiu zit... Äußerst zahlreich sind auch a d v e r b i a l - d e i k t i s c h e Ausdrücke verschiedenster Art, in denen der chronometrische Sinn gelegentlich mehr oder weniger deutlich mitschwingt. Ich nenne nur die Typen: in illa hora — in thero ziti (47, 8; 94, 1; 185, 7; 44, 13) ipsa hora — in thero selbun ziti (7, 10) in ipsa hora — in thero selbun ziti (64, 2; 67, 7) eadem hora — in theru selbun ziti (229, 2) ex illa hora — fon dero ziti (85, 4; 92, 7; 206, 3) (3) Gewertete Zeit: Durch das Possessivpronomen in den Bereich des Subjektiven hineingenommen, wird hora zum Ausdruck eines bestimmten, für ein Individuum entscheidenden Augenblickes, des Kairos, der aus dem gleichgültigen Fluß der Zeit herausragt: 45, 104, 171, 185,
2 9 4 8
nondum venit hora mea — min zit quia nondum venerat hora eius — sin zit cum venerit hora eorum — therro zit sed h^c est hora vestra — iuuuer zit f ü r die Frau besonders der Zeitpunkt der Geburt: 174, 5 Mulier cum parit tristitiam habet, quia venit ora eius — ira zit Eine Art von Wertung kann auch durch das bloße Demonstrativpronomen geleistet werden; so in der unter ,stunta' ausführlich besprochenen Stelle, wo Jesus von der f ü r ihn entscheidenden Stunde spricht: 139, 5 Pater, salvifica me ex hac hora! Sed propterea veni in horam hanc — fon theru stuntu. . . . in thesa cit Ähnliches gilt von der Stelle 181, 1: orabat, ut, si fieri posset, transiret ab eo ora — erfuori fon imo thiu zit Die (schwere) Stunde ist im Deutschen durch Demonstrativpronomen hervorgehoben, gegen die lat. Vorlage. O b allerdings dahinter mehr zu suchen ist als die allgemeine Tendenz der Tatian-Übersetzung, bei bestimmter Vorstellung das Demonstrativpronomen (Artikel) zu setzen, muß offen bleiben. B.
tempus:
Bibellat. tempus kann wie hora einen zeitlichen Verlauf oder einen Zeitpunkt meinen, allerdings ohne Einordnung in ein chronometrisches System. Typisch f ü r die Sprache der Bibel sind die Wendungen, die vom Sich-erfüllen, vom Erfülltwerden der Zeit sprechen (vgl. auch die Isidor-Stellen, oben 56). Diese Redeweise geht auf hebräischen Sprachgebrauch zurück; wohl wegen ihrer Anschaulichkeit und Plastizität wird sie auch im Deutschen — mindestens in 5
Burger, Zeit
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
66
der religiösen Sprache — heimisch, so daß sie sich bis in moderne Bibelübersetzungen halten konnte. Was die ,Fülle' der Zeit für das biblische Verständnis der Heilsgeschichte bedeutet, das muß der Interpretation der Theologen überlassen werden. Wir können nur den Vorgang der Eindeutschung verfolgen. Die Bedeutungszonen von tempus/zit sind ganz ähnlich aufgefächert wie die von hora, wobei nur der Bezug auf die konkrete Zeiteinteilung fehlt: (1) Zeitpunkt; Zeitabschnitt (auf die Frage ,wann?'): in deiktischen Ausdrücken: 79, 1 In illo tempore Herodes . . . misit ac tenuit Iohannem et vinxit eum in carcerem . . . — In thero ziti... 102,1 Aderant autem quidam ipso in tempore nuntiantes i l l i . . . Uuarun thar sume az in theru ziti, sagetun imo . . .
—
In beiden Fällen ist nicht der genaue Zeitpunkt eines Ereignisses gemeint, sondern nur ein ungefährer temporaler Verweis. Die perfektiven Verben des ersten Satzes sagen nichts über den semantischen Wert der temporalen Bestimmung aus, da diese sich nicht auf ein bestimmtes dieser Verben, sondern auf den in Einzelschritten beschriebenen Vorgang als ganzen richtet. Und im zweiten Beispiel ist die deutsche Übersetzung noch deutlicher als die lat. Vorlage, dadurch daß sie das lat. Partizip in einen zweiten Hauptsatz auflöst: Der erste Halbsatz gibt den allgemeinen zeitlichen Rahmen an, innerhalb dessen sich dann das konkrete Geschehen (sagetun) vollzieht. Wenn ein ,Zeitpunkt' im strengen Sinne des punktuellen Aspekts intendiert ist, verwendet das Lat. Ausdrücke mit dem Wort hora (vgl. Bedeutungszone 2 von hora). Diese bereits aufgeführten Wendungen sind entweder durch die Art der Präposition punktuell determiniert (ex illa hora), oder die Kollokation mit eindeutig perfektiven Verben sichert den Sinn ,Zeitpunkt* (z. B. 47, 8 sanatus est; 185,7 dixit; 4 4 , 1 3 dahitur vobis usw.); besonders prägnant schließlich wird durch das Pronomen idem (229, 2 eadem hora) darauf verwiesen, daß ein n e u e r Vorgang im Anschluß an bereits Erzähltes einsetzt (das gleiche gilt für den Ausdruck ipsa hora). Auffällig ist, daß der Obersetzer bei den Wendungen ipsa hora und eadem hora den verstärkt-punktuellen Aspekt auch im Deutschen hervorzurufen sucht (in thero selbun ziti für beide lat. Ausdrücke), während in den obigen beiden Belegen für tempus die differierenden Pronomina des Lat. in der Ubersetzung unterschiedslos wiedergegeben werden. Ob man dem Ubersetzer soviel sprachliches Feingefühl zutrauen darf, daß er die geringere temporale Präzision dieser Ausdrücke durchschaute, bleibe dahingestellt. (2) Zeitdauer: Für Begriffe wie .lange Zeit' verwendet die Übersetzung teils den Singular, teils den Plural von zit, wobei vor allem die Abweichungen von der lat. Vorlage aufschlußreich sind:
1.1. Die Zeit-Termini
67
(a) Singular im Deutschen: 196, 4 erat enim cupiens ex multo tempore videre eum — fon manageru ziti (,seit langem') 163, 2 tanto tempore vobiscum sum, et non cognovistis me — so mihila zit (,so lange schon') 146, 5 Vigilate itaque omni tempore orantes — in ziti giuuelihha (,alle Zeit, immerfort, ständig') Diese Fälle sind unproblematisch, da sie genau der Vorlage entsprechen. Es sei daran erinnert, daß die Benediktinerregel die zuletzt genannte lat. Wendung in ganz ähnlicher Weise übersetzt (eocouueliheru citi u. ä., s. o. 59), mit e i n e m charakteristischen Unterschied: Während die Benediktinerregel den bloßen Dativ in adverbialer Funktion verwendet — entsprechend dem lat. Ablativ, fügt die Tatian-Übersetzung bereits die Präposition in hinzu und erweist sich damit als ein Stück moderner. (b) Plural im Deutschen: 53, 3 Unus enim habebat demonia iam temporibus multis — giu managa ziti (,schon lange Zeit') 45 Dem lat. Plural entspricht im Deutschen der gleiche Numerus; der Kasus der Vorlage ist dagegen in der Ubersetzung in den üblichen Akk. der Zeiterstreckung verändert. In den folgenden Beispielen ist der lat. Singular im Deutschen durch pluralische Wendungen wiedergegeben: 149, 3 post multum vero temporis venit dominus servorum — after managen zitin 122, 2 Vidua autem quaedam erat in civitate illa, et veniebat ad eum dicens: vindica me de adversario meo. Et nolebat per multum tempus — in managen zitin 8 8 , 2 H u n c cum vidisset Ihesus iacentem et cognovisset quia iam multum tempus habet — iu manege ziti (,daß er schon lange Zeit krank war') Diese Fälle, die von der lat. Vorlage abweichen, sind vermutlich kennzeichnender f ü r den genuin deutschen Sprachgebrauch als die dem Lat. konformen Beispiele. D a f ü r spricht vor allem, daß die beiden differierenden Ausdrücke (post) multum temporis und (per) multum tempus im Deutschen durch die — bis auf die Präpositionen — gleiche Wendung (after¡in) managen zitin repräsentiert sind. Dieser Befund legt die folgende Deutung nahe: Das deutsche Wort zit ist — stärker als das lat. tempus — auf die Bedeutung Zeitabschnitt' konzentriert. Während tempus die Vorstellung irgendeiner Dauer bezeichnet (die durch mannigfache Determinanten eingegrenzt werden kann), hat zit von 45
5*
Für die Form manag« als Akk. pl. fem. des st. Adjektivs vgl. Braune, Ahd. Gr., § 248, Anm. 9.
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1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
vornherein eine Sinnriditung auf Begrenztheit hin. Eine .lange' Dauer wird dann am leichtesten als Häufung von Zeitabschnitten, von ziti formuliert, wie es in unseren Beispielen der Fall ist. (Damit sei nicht gesagt, der Plural als solcher impliziere die Vorstellung einer Zeit d a u e r ; nur in Verbindung mit quantifizierenden Determinanten erhält der Plural diese semantische Funktion.) In diesem Stadium der ahd. Sprache ist zit anscheinend auf dem Wege der Abstraktionsfähigkeit noch nicht so weit vorgeschritten, daß es alle Verwendungsweisen von lat. tempus ohne Zwang nachvollziehen könnte. Es wird von Interesse sein zu verfolgen, wie sich der Numerusgebrauch von zit im späteren Ahd. entwickelt. Im Rückblick auf die älteren Übersetzungstexte der ahd. Epoche läßt sich feststellen, daß in den Interlinearversionen der Numerusgebrauch durchgehend der lat. Vorlage folgt. Einzig in der dem Lat. gegenüber sehr freien Isidor-Übersetzung war eine Abweichung zu beobachten (s. o. S. 55). Der dort für tempus verwendete Plural von zit ist aber nicht durch eine quantitative Determinante als .Dauer' ausgewiesen; vielmehr deutet das Attribut Christes chumfti ohne Zweifel auf ein punktuelles Verständnis, womit der Beleg für unseren Zusammenhang irrelevant wird. Welche Funktion der Plural im Bedeutungsbereich ,Zeitpunkt' annehmen kann, wird noch gesondert zu erörtern sein. Einen Sonderfall stellt die idiomatische Wendung des Bibellat. in 15, 6 dar: tunc reliquit eum diabolus usque ad tempus — zi sihuueliheru ziti Der lat. Ausdruck hat etwa den Sinn .eine gewisse Zeitlang'. Die deutsche Übersetzung nun ist keineswegs mechanisch, sondern versucht dem spezifischen Sinn der Wendung gerecht zu werden, indem sie das ,Unbestimmte' der gemeinten Dauer durch das indefinite Pronomen sihuuelih ,irgend ein' (ohne unmittelbares lat. Vorbild) herausstellt. Die folgenden drei Bedeutungszonen entsprechen typischen Verwendungsweisen des Wortes im biblischen Sprachgebrauch: (3) Zeit, die sich erfüllt: 4, 9 a Elisabeth autem impletum est tempus pariendi — zit zi beranne. Hier wird der lat. Genitiv des Gerundiums im Deutschen durch eine präpositionale Fügung wiedergegeben, womit sich das finale Element, das in dieser Wendung enthalten ist, noch deutlicher entfaltet. 18,5
impletum est tempus, poenitentiam a g i t e . . . — gifullit ist zit...
145, 13 donec impleantur tempora nationum — unz gifulto uuerdent ziti thiotono In beiden Fällen folgt die Ubersetzung getreu der Vorlage, auch hinsichtlich des Numerusgebrauches. (4) rechte Zeit für . . . , mit und ohne Determinanten: ohne unmittelbare Determinanten:
1.1. Die Zeit-Termini
69
146, 6 Nescitis enim quando tempus sit. De die autem illo et hora nemo s e i t . . . Ir ni uuizzut uuanne zit si: fon themo tage inti ziti nioman ni uueiz. Das erste tempus/zit meint den ,rechten Zeitpunkt', den Zeitpunkt der heilsgeschichtlichen Entscheidung, während die beiden folgenden Zeit-Ausdrücke den Termin dieser Entscheidung benennen. Indiz für diese Differenz der Verwendungsweisen ist (schon im Lat.) das Fehlen bzw. Vorhandensein des Demonstrativpronomens. Die ,rechte Zeit' steht ohne deiktische Determinante, während auf den Zeitpunkt explizit verwiesen wird. Bei der deutschen Übersetzung fällt ins Auge, daß zit unterschiedslos für lat. tempus und hora eingesetzt ist. zit muß offenbar für den allgemeineren wie für den konkreten lat. Terminus eintreten. Dem Tatian-Ubersetzer ist — wie es scheint — kein anderes Wort geläufig, das den konkreten Zeitabschnitt im Tagesverlauf, die ,Stunde' der Zeitmessung bezeichnen könnte. Das nur einmal für hora auftretende ¡tunta (139, 5, s. o. 46) steht in einem schwer zu deutenden Kontext. (Über die sonstige Distribution von stunta und zit s. u. 88 ff.). ,rechte Zeit' in weniger theologischen Zusammenhängen: 10, 1
secundum tempus quod exquisierat a magis — after thero ziti... (,gemäß dem genauen, rechten Zeitpunkt') 53, 6 venisti ante tempus torquere nos — er ziti... (,vor der rechten Zeit') 88, 1 Angelus autem domini secundum tempus descendebat in piscinam et movebat aquam — after ziti... (,gemäß dem jeweiligen rechten Zeitpunkt, in dem dafür bestimmten Augenblick') 147, 10 ut det illis eibum in tempore — in ziti (,zur rechten Zeit') In der Stelle 10,1 schwingt deutlich der Sinn ,Termin', genauer .Zeitpunkt' mit, so daß die deutsche Ubersetzung durchaus adäquat das Demonstrativpronomen (Artikel) setzt, während in den übrigen Fällen die präpositionale Wendung artikellos wiedergegeben ist. An solchen feinen Differenzierungen macht sich ein ausgeprägtes Gefühl des Übersetzers für semantische Nuancen bemerkbar. In der vergleichbaren Stelle 8, 4 hat der deutsche Text ebenfalls den best. Artikel: Tune Herodes clam vocatis magis diligenter didicit ab eis stell§ — thie zit thes sterren . . .
tempus
Dieser Satz leitet über zur Beleggruppe mit unmittelbaren Determinanten: 116, 6 quod non cognoveris tempus visitationis tuae — thia zit thinera uuisungu Neben dieser theologischen Bestimmung der ,rechten Zeit' begegnen auch Ausdrücke, in denen von der ,rechten Zeit', dem Kairos etwa der Früchte gesprochen wird: 121, 1 nondum enim erat tempus ficorum — zit thero figono
70
1. Althochdeutsche Texte außer Notker 124,2 Cum autem tempus thero uuahsmono
fructuum a d p r o p i n q u a s s e t . . . — thiu zit
(5) individualisierte Zeit: Von zentraler theologischer Bedeutung ist die Stelle 104, 2: tempus meum nondum advenit, tempus autem vestrum semper est p a r a t u m . . . quia meum tempus nondum inpletum est — min zit ni quam noh nu, iuuar zit simblon ist g a r o . . . bithiu uuante min zit nist noh nu erfullit. Die f ü r den Menschen entscheidende Zeit, der Kairos des Menschen ist immer ,bereit', immer verfügbar, während der Kairos Christi in der Heilsgeschichte verankert ist. Die Zeit wird hier unter doppeltem Aspekt gewertet: einmal ist sie die dem Menschen zur Entscheidung und zur geschichtlichen Verwendung überantwortete Zeit, ein andermal die durch Gott als Heilsgeschichte ausgezeichnete Zeit, deren entscheidende Momente (kairoi) die Kernpunkte genuin c h r i s t l i c h e n Geschichtsverständnisses darstellen. Es sei hier auf die theologische Interpretation der Stelle bei O. Cullmann 46 verwiesen: „Nirgends kommt das, was das Neue Testament unter Kairos versteht, besser zum Ausdrude als an der in dieser Hinsicht geradezu klassischen Stelle des Johannesevangeliums Kap. 7, 3 ff., w o Jesus zu seinen ungläubigen Brüdern sagt: , m e i n Kairos (nach Jerusalem hinaufzuziehen) ist nodi nicht da, e u e r Kairos ist immer bereit' (Vers 6). Das will heißen: für euch gibt es keinen Kairos im neutestamentlich heilsgeschichtlichen Sinn, keine von Gott in seiner Vollmacht im H i n blick auf seinen Heilsplan festgesetzte und besonders ausgezeichnete Zeitpunkte. Für die andern gilt eben bloss der profane Gebrauch des Wortes Kairos, w o alles nur auf die menschliche Entscheidung darüber ankommt, ob ein Kairos günstig ist oder nicht. Sie können jederzeit nach Jerusalem hinaufziehen, Christus nicht, denn er steht mitten drin in dem göttlichen Heilsplan, dessen Kairoi genau von Gott bestimmt sind."
Auch in 157,3 ist der Kairos Christi in diesem heilsgeschichtlichen Sinne gemeint: 157, 3 tempus meum prope est — min zit nah ist. Wenn wir bei diesen biblischen Ausdrücken den Titel individualisierend' verwenden, so kann dies nun nicht mehr eine Hineinnahme in den Bereich des Subjektiven, der ganz persönlichen Zeiterfahrung bedeuten. Vielmehr sind diese Ausdrücke im höchsten Sinne ,objektiv' zu verstehen, sofern sie eine bestimmte, aus dem göttlichen Heilsplan resultierende Zuordnung von Mensch und Zeit signalisieren, die jenseits aller privaten Erfahrung realisiert ist. Nicht nur vom Menschen oder vom Gottessohn kann der .individualisierende' Ausdruck verwendet werden, sondern auch von den .Worten' Christi, die in abgeleitetem Sinne ihren Kairos haben: 2, 9 verbis meis, quae implebuntur in tempore suo — in iro ziti 49
Oskar Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristlithe Zeit- und Geschichtsauffassung, dritte, durchgesehene Aufl., Zürich 1962, 53.
1.1. Die
Zeit-Termini
71
D i e drei letzten Bedeutungszonen ließen sich zusammenfassen unter dem Titel ,gewertete Zeit'. Die behandelten Ausdrücke sind im Grunde nichts anderes als verschiedene Ausfaltungen des biblischen Kairos-Begriffes. Sprachlich stellen sie den Übersetzer vor keine Probleme, so daß sie bruchlos in deutsche Sprachgestalt übertreten können. (6) irdische/künftige Z e i t : An einer Stelle steht tempusjzit
in der Gegenüberstellung von irdischer und
künftiger (jenseitig-ewiger) Z e i t : 1 0 6 , 6 ...nunc
in hoc
tempore
domos et fratres et sorores et matres
et filios et agros cum persecutionibus, et in juturo
vitam aeter-
nam possidebunt. — nu in therra ziti . . . inti in zuouuarti . . . D i e Differenzierung der beiden .Zeiten' wird im L a t . wie im Deutschen geleistet durch die Opposition der unmittelbaren deiktischen und temporalen Determinanten.
Die sprachliche Realisierung
der Opposition ist
,logisch' korrekt, sofern das Demonstrativpronomen zum Z e i t - A d j e k t i v futurus
keineswegs
in direktem
Gegensatz
steht (über den Hintergrund dieser scheinbaren
Inkorrektheit s. u. 3 0 3 ff.). D i e deutsche Ubersetzung weicht in keiner Hinsicht von der Vorlage ab. D a wir bereits feststellen konnten, daß sich zit im T a t i a n nur mit Mühe einer abstrakten Verwendung fügt, läßt auch diese Stelle in ihrer engen Vorlagegebundenheit keine weitreichenden Schlüsse auf etwaigen
ab-
strakten Gebrauch des Wortes zu. N u n ist noch die Frage offen, ob sich für die Distribution von stunta
und
zit im T a t i a n sinnvolle Motive aufweisen lassen. D i e große Menge der Belege entfällt auf zit,
während stunta
nur gelegentlich auftaucht. Zu erklären ist
demnach das als Abweichung vom , N o r m a l e n ' zu betrachtende von stunta.
Vorkommen
Die lat. Entsprechungen decken sich nahezu:
tempus
hora
stunta
+
+
zit
+
+
spatium
+ —
Kontexteinflüsse — etwa anderer Z e i t - W ö r t e r in der näheren Umgebung scheiden für alle Belege von stunta
—
aus. Auch die Möglichkeit, die jeweilige
W o r t w a h l auf differierende Tendenzen der verschiedenen Übersetzer zurückzuführen, fällt dahin, da die Belege für stunta
relativ gleichmäßig auf den
ganzen T e x t verteilt sind. D a m i t bleiben nur noch innere semantische Bedingungen der beiden W ö r t e r zur Erklärung der Differenzierung. Die problematische Stelle 139, 5 wurde bereits diskutiert. Eine Beschränkung von stunta
auf den Bereich der Zeiteinteilung, wie sie
am ehesten zu erwarten wäre, liegt nicht v o r (s. o. 46). Gerade die Stellen, an
72
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
denew hora als .Stunde' im Sinne der Zeitmessung zu gelten hat, werden nicht durch stunta, sondern durch zit wiedergegeben. Für 4 der 5 restlichen Belege (ohne 139, 5) scheint aber eine andere Deutung möglich zu sein: In 3 Fällen handelt es sich um die ,kleine Weile', die in unseren modernen Bibelübersetzungen in deutlicher Formelhaftigkeit als Relikt erhalten ist. Die Tatian-Übersetzung kennt keine Alternativverdeutschung für den Ausdruck modicum (tempus), zit kommt hier offenbar nicht in Frage. Wenn wir nun bedenken, daß bei Otfrid die ,kleine Weile' als luzila wila erscheint, und wenn wir weiterhin an die enge semantische Nachbarschaft von stunta und wila in anderen ahd. Texten erinnern, dann dürfen wir die luzzila stunta als den in Fulda gängigen Ausdruck für den zentralen biblischen Begriff der .kleinen Weile' ansehen. stunta scheint auch in Fulda als die kleinere Zeiteinheit im Vergleich mit zit gegolten zu haben. Bezeichnenderweise sind alle biblischen Ausdrücke, in denen von ,langer Zeit' die Rede ist, mit zit wiedergegeben (allerdings mit den besprochenen charakteristischen Abweidlungen im Numerus). Damit erklärt sich auch der eine Beleg für stunta = spatium. spatium liegt im Tatian nur an dieser Stelle in zeitlichem Sinne vor (der zweite Beleg für das in diesem Text seltene Wort ist eindeutig lokal gemeint und mit stuki übersetzt: 224, 1). Der Sinn des Satzes erfordert ein Wort für ,nötige Zeit, Zeitspanne' — sonst im Ahd. oft durch frist repräsentiert. Da frist — aus welchem Grunde auch immer — im Tatian nicht vertreten ist, mag stunta an diese Stelle gerückt sein. Damit wären 4 der fraglichen 5 Belege mit einiger Wahrscheinlichkeit sinnvoll gedeutet. Am letzten Fall aber (129, 3) scheitern alle Interpretationskünste. Das Faktum ist als , Abweichung' vom normalen Bild hinzunehmen. In OTFRIDS Evangelienbuch hat zit ein außerordentlich breites Bedeutungsspektrum, das alle bisher vorgefundenen Schattierungen umgreift. Aufgrund der großen Belegdichte ist es sinnvoll, nur exemplarische Fälle zu erörtern (die übrigen Belege sind ohne Kommentar aufgeführt). Besonderes Interesse verdienen die Fälle, in denen die lat. Entsprechung unmittelbar aufgewiesen werden kann, die also einen Vergleich mit den Ubersetzungstexten ermöglichen. Aufschlußreich dürften weiterhin die Stellen sein, wo zit in Variation mit anderen Temporalausdrücken steht. (1) Zeitpunkt: Sehr häufig sind die Stellen, an denen zit im Anschluß an biblischen Sprachgebrauch die zeitliche .Leerstelle' für ein Geschehen angibt: quement noh thio ziti mennisgon bi nöti, thaz . . . I I 14, 62 (Joh 4, 21 quia venit hora, quando . . . ) wanta quimit noh thiu zit thaz wibilih fon iru quit (Lk 23, 29 venient dies, in quibus . . . ) I V 26, 35 Iu quement noh thie ziti thera wenegh£iti I V 26, 39 Zweimal setzt Otfrid den Plural, einmal den Singular von zit — gerade an der letzteren Stelle aber im Gegensatz zum pluralischen dies der lat. Vorlage (wobei allerdings dies und zit semantisch nicht auf einer Ebene liegen).
1.1. Die
Zeit-Termini
73
Der Beleg II 14, 67 wurde bereits unter ,frist' (oben 23) besprochen: Thoh quimit noh thera ziti frist joh 6uh nu geginwertig Ist/thaz . . . weitere Belege für zit in Subjektstellung: Warun tho thie ziti thaz ther häno krati IV 18, 33 Thes öpheres ziti warun entonti I 4, 81 Sih nähtun eino ziti thaz man tho firoti III 15, 5 Die letzte Stelle ist auffällig wegen des pluralischen Gebrauchs des unbestimmten Artikels. Dies entspricht aber durchaus dem Sprachgebrauch Otfrids; man vergleiche die folgende Stelle, wo von der Hochzeit in Kana die Rede ist: uaptun thar thie liuti eino brutloufti II 8, 4 Eine Parallelstelle zu III 15, 5, in der zit mit dem gleichen Verbum in Kollokation steht, verwendet den Singular des Wortes: So er thära iz tho bibrähta
thaz sih thiu zit nähta IV 2, 3
zit in anderen syntaktischen Positionen: — als Objekt: Iz wirdit tho irfullit, so got gisazta thia zit I 4, 69 (indirekte lat. Parallele Lk. 1, 20: verbis meis, quae implebuntur in tempore suo) Duet ir ouh so so ther duit,
wanta ir ni wizut thia zit. IV 7, 61
(Mt 24, 44 qua nescitis hora filius hominis venturus est.) ferner: thia zit I 17, 43; III 15, 4 (beide Male nicht in Reimstellung) — als Genitivobjekt: Yrhogt er tho ginöto
thero selbun zito IV 18, 37"
— in Adverbialausdrücken: Nur in zwei Fällen steht zit in jenen Kollokationen mit Adverbien, die für die anderen Temporalbegriffe in Otfrids Evangelienbuch typisch waren: Wil thu thaz richi, druhtin, mit thines selbes mahtin ersezen thesen liutin nu sar in thesen zitin? V 17, 4 Es handelt sich um die Frage der Jünger an Jesus, Apg. 1, 6: in tempore hoc restitues regnum Israel? Jesus antwortet darauf: Euch kommt es nicht zu, Zeit und Stunde zu kennen ... in tempore hoc meint demnach ,noch in dieser Zeit, in nächster Zeit', während die Antwort Jesu auf den genauen Termin anspielt. Entsprechend darf die temporale Bestimmung in Otfrids Wiedergabe des Bibelverses wohl genauer beim Wort genommen werden, als dies bei vergleichbaren Formeln mit frist u. ä. möglich war. „Willst du das Reich ,jetzt noch, sogleich in dieser Zeit' wieder aufrichten?" Dadurch daß Otfrid zit pluralisch verwendet (im Gegensatz zum lat. Singular!), wird der Charakter des Ausdrucks offener, weniger präzise, so daß die beiden Adverbien ,entschärft' werden. Hier scheint 47
Zur schwachen Gen.pl.-Form v o n selbun vgl. Braune, Ahd. Gr., 5 255, A n m . 1: „Im G. PI. aller Geschlechter hat O statt - o n o regelmäßig . . . die verkürzte Endung -un."
1. Althochdeutsche
74
der Plural eine Zwischen-Bedeutung
Texte außer zwischen
Notker ,Zeitpunkt'
und
,Zeitdauer,
Zeitverlauf' zu evozieren. E r wacheti bi noti
thanne in theru ziti I V 7, 5 7
(nämlich: wenn der Dieb kommen würde). Das durative Verbum präjudiziert nichts für den semantischen Wert der Zeitbestimmung. Ob der ganze Verlauf des .Wachseins' gemeint ist, oder nur der Augenblick, da der Dieb eintrifft, läßt sich aus dem K o n t e x t nicht entscheiden. Der temporale Ausdruck ist allgemein deiktisch, ohne Differenzierung hinsichtlich ,Zeitpunkt' oder ,Zeitdauer'. T h o thisu wörolt ellu ouh zi theru ziti, Das W o r t stullafstulli
quam zi theru
stullu,
thaz Krist sich iru ir6ugti. I 23, 2 ist nur bei Otfrid belegt, und z w a r in der Bedeutung
,Augenblick, Zeitpunkt' 4 8 . Wenn auch im allgemeinen variierende Glieder nicht total synonym verwendet sind, so ist doch der Spielraum der semantischen Abweichung nicht allzu groß. Somit dürfte zit in ähnlich punktuellem Sinne gebraucht sein wie stulla.
(Die Kollokation mit dem perfektiven Verb ist in
diesem Fall kein semantisches Kriterium, da die temporale Bestimmung hier nichts über den Verlauf des Vorgangs, sondern nur etwas über das Z i e l
des
,Kommens' aussagt.) Sonderfälle stellen die Ausdrücke dar, in denen zit mit unmittelbaren Determinanten zur Bezeichnung von ,Festtag' eingesetzt ist. Hier wechselt
zit/ziti
mit dem selteneren giziti, z. B. I 22, 2 / 3 . . . zen hohen gizitin.
48
Das Substantiv s t u l l a / s t u l l i (die beiden Flexionsweisen stehen semantisch gleichberechtigt nebeneinander) wird im folgenden nicht weiter behandelt, da es außer an dieser Stelle nur noch in adverbialen Ausdrücken des Sinnes ,plötzlich', ,auf einmal', ,mit einem Mal' vorkommt und somit als selbständiges Lexem kaum faßbar ist: In thaz skif er giang tho zi in, ni forahtun sie in thes thiu min; tho ward in theru stulli thaz wetar filu stilli. I I I 8, 48 After imo gengit, oba man thiz gihengit, bi einera stullu thisu worolt ellu. IV 4, 76 Thia sunnun joh then manon so ubarfuar er gahon, ... Sar zi theru stullu thiu zuelif zeichan ellu. V 17, 27 (Besonders im letzten Beispiel wird der adverbiale Sinn verdeutlicht und intensiviert durch die parallelen Adverbien g a h o n und s a r.) Immerhin ist zu bemerken, daß auch in den adverbialen Ausdrücken noch feine temporale Differenzierungen mit Hilfe des Pronomens/Artikels möglich sind ( b i e i n e r a s t u l l u deutet auf einen noch künftigen, jenseits des Erzählten liegenden Zeitpunkt, während z i t h e r u s t u l l u auf den Zeitpunkt des gerade Erzählten hinweist), s t u l l a / s t u l l i scheint somit auf die Bedeutung .Zeitpunkt', .Augenblick' (nicht aber im Sinne des quantitativen Zeit-Minimums, sondern funktionell an den punktuellen Verbalaspekt gebunden) festgelegt zu sein. Umso auffälliger ist es, daß Otfrid in verwandten Kontexten meist nicht dieses ,präzise' Wort verwendet, sondern eines der vielseitigeren Zeit-Wörter mit entsprechenden Determinanten.
1.1. Die
Zeit-Termini
75
Thie ziti sint so heilag . . . Hier könnte man noch annehmen, daß giziti das eigentliche Fest meint, während thie ziti nur allgemein rückweisende Funktion auf den Zeitpunkt des Festes hätte. Doch in anderen Text steht zit(i) in genau den gleichen Kollokationen wie giziti im obigen Beispiel: thio silbun hoho ziti firotun thie liuti I I I 22, 2 zen wihen zitin füarun I I I 15, 34 Zen wihin zitin . . . I 22, 5 An einer Stelle bieten die Hss. beide Varianten: I I 1 1 , 5 9 zi then östrigen gizitin aber F: zi then ostrigen zitin. Nur einmal steht in solchen Kollokationen der Singular von zit: Was iz ouh giwisso fora einen ostoron so, th£so selbun däti, fora theru wihun ziti. I I I 6 , 1 4 Die beiden Ausdrücke — der Name des Festes und die Appellativumschreibung — stehen in Variation. Vielleicht ist die Erklärung für den Singular darin zu suchen, daß der zweite Ausdruck auf den ersten zurückweist als auf etwas Bekanntes, Vorausgesetztes und daß damit die ,präzisere' Form des Singulars hervorgerufen wird. Eine interessante Abfolge von Singular- und Pluralformen des Wortes findet sich im 7. Kapitel des IV. Buches, wo vom endidago, dem Jüngsten Tag die Rede ist; audi dies ein Spezialfall: 7 27 28 30
Säge uns, meistar, thanne, wio thiu zit gigänge Säget in ouh zi wäre fon themo endidagen thäre, giwuag in ouh gin6to thes äntikristen zito . . . theist zitin allen ungilih (theist bezieht sich wohl nicht unmittelbar auf zito V. 30, sondern faßt den ganzen vorangehenden Abschnitt zusammen)
Der Singular in V. 7 und der (Gen.) Plural in V. 28 dürften semantisch kaum differenziert sein. Nur der Plural in V. 30 hat einen offenbaren Sinn: gemeint sind ja nicht leere Zeitabschnitte, gemeint ist nicht ,Zeit überhaupt', sondern irgendwie qualifizierte Zeiten, die in ihrer Qualität vergleichbar sind dem Jüngsten Tag. Überblickt man die hier ausgebreiteten Belege für die Bedeutung ,Zeitpunkt', .Termin' u. ä., so fallen drei Punkte in die Augen: 1. Syntaktische Fügungen des Typus quim.it thiu zit thaz ... sind in Otfrids Sprachgebrauch durchaus gängig. Sogar gegen die lat. Vorlage setzt Otfrid die Konjunktion thaz ( z . B . 1 1 1 4 , 6 2 quando; I V 2 6 , 35 in quibus). Was für das syntaktische Empfinden der Tatian-Ubersetzer noch anstößig schien, ist nun bereits ein übliches Mittel der deutschen Sprache geworden. 2. Im Vergleich zu den anderen Zeit-Wörtern findet sich zit sehr selten in adverbialen Gruppen. Dafür ist die Belegdichte in Subjekt- und Objektstellung
76
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
ungewöhnlich stark. Die semantische Kontrollinstanz der verbalen Kollokationen fällt somit weitgehend aus. 3. Die Verteilung der Numeri ist in semantischer Hinsicht schwer zu beurteilen. In wenigen Fällen schienen Singular und Plural durchaus parallel und undifferenziert verwendet zu sein. Für andere Beispiele ließ sich vermutungsweise eine semantische Deutung angeben. Hier ist nun noch einmal nach der Position des Wortes im Vers zu fragen, die bei den anderen temporalen Termini von Belang zu sein schien: In vielen, aber nicht in allen Fällen steht zit im Reim. Die Reimposition kann aber nur dann für die Beurteilung einer Form relevant sein, wenn das korrespondierende Reimwort eine einigermaßen gewichtige Stellung im Satz besitzt. In einem Vers wie II 14, 62 wird man kaum behaupten, die Morphologie von zit richte sich nach dem Reimwort (hi) noti; ist dodi bi noti wenig mehr als eine versfüllende Formel. Gerade die Ausdrücke des Typs ,die Zeit kommt, daß . . z e i g e n einen willkürlichen Wechsel von Singular- und Pluralformen, der in einigen Fällen reimbedingt sein mag (besonders die Stelle III 15, 5 dürfte dahin zu rechnen sein). Zahlenmäßig sind die pluralischen Belege ein wenig im Übergewicht (13 : 11). Dieses annähernde Gleichgewicht verschiebt sich aber, sobald man die syntaktischen Positionen berücksichtigt: Als Akkusativobjekt kommt zit nur im Singular vor, während in allen anderen syntaktischen Funktionen die pluralischen Belege deutlich überwiegen. Der Singular in Objekt-Position ist ohne Zweifel durch die übergeordneten Verben bedingt: festsetzen' (I 4, 69), (nicht) ,wissen' (IV 7, 61), e r fragen' (I 17, 43 eisgota), .wollen' (III 15, 4 wolta) zielen auf eine präzise Zeitangabe, auf einen genauen Termin. Und dies scheint durch den Singular adäquater ausdrückbar zu sein als durch den Plural. Wenn aber ein solches Maß an Genauigkeit nicht erfordert ist, ist die Wahl des Numerus ins Ermessen des Dichters gestellt. (2) ,Stunde' (im Sinne der Zeitmessung = lat. hora) : Für einige Stellen ist die chronometrische Bedeutung durch den unmittelbaren Kontext bzw. die lat. Vorlage gesichert. In zwei Fällen steht zit in Variation mit stunta, wodurch eine semantische Abgrenzung der Wörter erschwert wird. — eindeutige Belege für ,Stunde': er fasteta unnoto thar niun hunt zito, séhszug ouh tharmiti in war II 4, 3 (vgl. Mt 4, 2 et cum jejunasset quadraginta diebus; 40 Tage = 960 Stunden!) séxta zit II 14, 9 (Joh 4, 6 bora quasi sexta) tho slbunta zit des däges was III 2, 31 (Joh 4, 52 bora septima) rückweisend auf diese Zeitangabe: Yrkänta tho ther fater sär theiz thiu zit was in war III 2, 35 (Joh 4, 53 quia illa bora erat) . . . thrio däges ziti, / Thaz was . . . fon séxtu unz in nòna IV 33, 8
1.1. Die
Zeit-Termini
77
(Mt 27, 45 a sexta . . . hora tenebrae factae sunt super universam terram usque in horam nonam) — zit in Variation mit stunta: Thia zit er éiscota tho . . . thia stünta ouh mit giwdrti wanne imo bäz wurti III 2, 29 Joh 4, 52 interrogabat ergo horam ab e i s . . . ) Die Stelle wurde bereits unter,stunta' (s. o. 49) diskutiert. Ja s i n t . . . bi nòti zuelif dägo ziti thio iro stünta werbent joh themo däge folgent III 23, 33 (Joh 11,9 nonne XII horae sunt diei?) Vgl. unter,stunta' (49). Über die genaueren Distributionsverhältnisse von zit und stunta läßt sich erst in einem größeren Überblick über die Verwendung der Zeit-Termini bei Otfrid Definitives sagen. Hier aber sei auf den merkwürdigen Befund hingewiesen, daß stunta nur an den beiden Stellen, da es mit zit in Variation steht, im Sinne der chronometrischen Stunde verwendet ist. Die übrigen Fälle, die eine genaue Zeitangabe erfordern, verwenden sämtlich Formen von zit. Damit ergäbe sich eine — für diesen engen Bereich — ähnliche Situation, wie wir sie im Tatian antrafen; dort war der gesamte Bereich der Stundeneinteilung durch zit gedeckt (wobei stunta ohnehin nur sehr spärlich belegt ist). Angesichts dieser Tatsache fragt es sich, ob man sinnvollerweise den chronometrischen Begriff der Stunde als eigentliche' Bedeutung von stunta in Otfrids Sprachgebrauch deklarieren darf (wie es Kelle in seinem Glossar tut). (3) Zeitdauer, mit verschiedenen Determinanten: — durch eine genaue temporale Angabe (Attribut) eingegrenzt: sar in théru noti
in thrio dägo ziti innerhalb von drei Tagen' II 11, 40
Wenige Zeilen vorher (11,34) steht im gleichen Zusammenhang und in gleicher Weise der Formulierung statt zit frist; s. o. 25. — determiniert durch Adjektiv : So mànagfalto ziti ih mit iu bin hiar in wórolti IV 15, 31 (Joh 14, 9 tanto tempore vobiscum sum) Thie langun ziti Krist gisäh . . . III 4, 19 ju mdnageru ziti ist daga léitenti I 5, 60 Irkanta ih thino guati ju mdnageru ziti II 7, 65 — in zeitlich zusammenfassenden Ausdrücken (,alle Zeit') : Allo ziti guato so léb er io gimüato L 33; ähnlich Allo ziti guato léb er thar gimüato L 95 Während aber die erste Stelle (L 33) sich — wie der Kontext zeigt — nur auf das irdische Leben des Fürsten bezieht, meint allo ziti im zweiten Falle thiu ewinigun gotes jar (Vers 92). Bezeichnend, daß der adverbial-temporale Ausdruck allo ziti für die Totalität der irdischen (Lebens-)Zeit wie für die Ewigkeit zur Verwendung gelangt. Es sei festgehalten, daß diese semantische
78
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Indifferenz gegenüber Zeit/Ewigkeit in a d v e r b i a l e r Position zu konstatieren ist. Wenn in der Tatian-Übersetzung eine Tendenz zu beobaditen war, die zu einem Uberwiegen pluralischer Formen von zit bei der Vorstellung von Zeitd a u e r führte, ist in Otfrids Bibeldichtung nichts dergleichen zu bemerken. Die Frage nach der Stellung des Wortes im Vers ist hier irrelevant, da Dat.sg. und Akk.pl. gleich lauten. Auffällig aber ist, wie in adverbialer Funktion der Dativ des Singular und der Akkusativ des Plural alternieren. Für den Gegensatz Sg./Pl. sind kaum die entsprechenden adjektivischen Determinanten verantwortlich zu machen. Denn managfalto meint an dieser Stelle gerade n i c h t ,mannigfaltig, verschiedenartig', da es das rein quantitative tanto der lat. Vorlage wiedergibt (auch der Kontext spricht für eine bloß quantitative Bestimmung). Ein Motiv für die Wahl des Numerus ist hier also in keinem Fall auszumachen. (4) Gewertete Zeit: — in der biblischen Wendung des Typus ,die Zeit erfüllt sich': tho ward irfullit thiu zit, j thaz . . . I 9, 1 (impletum autem est tempus pariendi. Lk 1, 57) Unz siu tho thar gistültun, thio ziti sih irvultun, thaz si dn'nd b a r i . . . I 11, 29 (Lk 2, 6 impleti sunt dies, ut pareret) Es mag sein, daß der Numerusunterschied in den beiden Belegen durch die lat. Vorlage insinuiert wurde (vgl. aber IV 26, 35, wo für lat. dies pl. im Deutschen der Singular von zit steht). Eine entsprechende Wendung, mit einem semantisch verwandten Verbum, liegt vor in den folgenden Belegen: Wio er sih thara nähta, tho sih thiu zit bibrahta thär er thaz tho w61ta . . . IV 1,7 (bibringan ,vollbringen, vollenden') Thio ziti sih bibrahtun thaz östoron tho nahtun III 4, 1 Singular und Plural stehen hier vollständig synonym nebeneinander. — in den individualisierenden Ausdrücken der Bibelsprache: ni quam min zit noh so främ II 8,18 (Joh 2, 4 nondum venit hora mea) in thiu sin zit wari I 20, 32 bi thiu sin zit noh tho ni was III 8, 4 sin zit... noh ni quämi III 15,27 (Joh 7,6 tempus meum nondum advenit) bi thiu sin zit noh ni quam III 16, 68 (Joh 7, 30 quia nondum venerat hora ejus) unz sino ziti quamin III 22, 68 . . . joh iro zitiz warin III 15, 33 (Joh 7, 6 tempus vestrum Semper est paratum) Der Wechsel des Numerus ist in keinem Fall durch die lat. Entsprechung bedingt. Der Bibelvers Joh 7, 30 tempus meum nondum advenit, tempus autem
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Zeit-Termini
79
vestrum Semper est paratum ist in Otfrids Version auseinandergerissen, so daß der Gegensatz meumjvestrum mehr oder weniger verlorengeht. Was Otfrid unter sin zit (nämlich: die Zeit Jesu) versteht, entfaltet der Nachsatz: ... sin zit, quad, noh ni quämi, er sih mit gualliche iróugti in themo riche. I I I 15, 27 f. Die Zeit der Jünger (irò ziti) wird dann ganz situationsbezogen gedeutet: Quad thaz sie thara fuarin, joh iro zitiz warin. I I I 15, 33 Daß tempus vestrum im Deutschen durch den Plural irò ziti wiedergegeben wird, könnte auf eine interpretatorische Absicht des Dichters deuten: während Christi Zeit vorausbestimmt und singulär ist, sind die ,Zeiten' der Menschen immer da; für sie gibt es nicht e i n e n Kairos, sondern viele — je nach den Gegebenheiten der Situation. Doch ist damit der Bewußtheit des Dichters vielleicht zu viel zugemutet, zumal ja der Plural von zit auch für Christus selbst Anwendung findet (unz sino ziti quamin I I I 22, 68). — erlebte Zeit: Qualitativ verstandene Zeit ohne nähere Determination, aber mit deutlicher Explikation im weiteren Kontext, begegnete bereits in der Stelle I V 7, 30, wo es vom Jüngsten Tag heißt: theist zitin allen ungilih. Stärker aber wird der Erlebnisgehalt der Zeit betont in Ausdrücken, die durch qualitative Determinanten bestimmt sind (hier ausschließlich durch Adjektive) : Hiar ist io wewo joh allo ziti séro joh stünta filu sudro V 23, 91 (vgl. die Erläuterung unter ,stunta', S. 50) Nu niazen wir thio guati joh fridosamo ziti sines selben werken . . . L 29 . . . eigun ziti guato. L 81 uaptun thar thie liuti eino brutloufti themo wirte joh theru bruti in sdligeru ziti. 1 1 8 , 4 Gibót in thaz sie giiltin zi then selben sconen zitin V 16, 7 joh thulten hiar nu nòti bittero ziti 1 1 8 , 20 Thie selbun gótes liuti thar (im Himmel) niazent liohto ziti V 22, 5 ziti meint hier keineswegs ,Ewigkeit' in einem theologischen Sinne, sondern ist in anthropomorpher Redeweise verwendet: ,helle, freundliche, angenehme Zeiten' im Gegensatz zum Elend des Irdischen. Für diese Beleggruppe überwiegt zwar der pluralisdie Gebrauch des Wortes, doch ist ebenfalls der Singular vertreten. Immerhin scheint die Pluralform in ihrer relativen temporalen Unbestimmtheit eher geeignet, in Verbindung mit qualitativen Determinanten den Erlebnisgehalt der Zeit auszudrücken. Wenn in unserem heutigen Sprachgebrauch noch von ,ruhigen', .stürmischen Zeiten' die Rede ist, so ist mit diesem Ausdruck nichts primär Temporales, nicht ein genau bestimmter Zeitabschnitt intendiert, sondern der affektive ,Wert' einer Periode, Epoche usw. — ,rechte' Zeit:
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Notker
Manche der in Bedeutungszone (1) aufgeführten Belege ließen sich mit einigem Recht auch hier einordnen. Doch nur an einer Stelle liegt eine Verwendung von zit vor, die der aus der Bibelsprache (Tatian) bekannten Bedeutung ,rechte Zeit' in etwa entspricht: Zit ward tho gireisot (angebrochen), thaz er giangi furi göt I 4 , 1 1 Bezeichnend f ü r diesen Gebrauch des Wortes ist wohl das Fehlen des Artikels; das gleiche Charakteristikum kennzeichnete die Tatian-Belege in dieser Zone. (5) Zeitabschnitt, Epoche, Zeitalter, Weltalter: Alle einschlägigen Ausdrücke sind durch adjektivische oder substantivische Attribute determiniert: — Tageszeit: Wanu iagilih tho ilti thuruh thio spatun ziti V 4 , 1 1 — J a h r e s z e i t : . . . theiz wari in wintiriga zit. I I I 22, 3 — Epoche; mit sehr unbestimmtem rückweisenden Attribut: klägont thanne noti thio ererun ziti V 6, 70 fon alten zitin hina forn so sint thie buah al theses fol H 126 (,von alten Zeiten, welche lange, weit von hier liegen') — Epoche, durch Namen näher eingegrenzt: . . . bi alten Nöes zitin. IV 7, 50 — Weltalter: thie sehs ziti worolti I I 10,5 (vgl. Alcuin in Joh. p. 483: sex mundi aetates) Die Stelle I 3, 35, die im Anschluß an Mt. 1, 1 eine Berechnung der Generationen vor Christi Geburt bietet, läßt sich direkt vergleichen mit der strittigen Isidor-Stelle 26.20—22: Fon änagenge worolti unz anan ira (Marias) ziti zeli thu thaz kunni, so ist einlif stunton sibini. (vgl. H r a b . zu Mt. 1,1: in eo numero, qui est penes Lucam, et ipse Christus, a quo incipit enumeratio, et deus, ad quem pervenit, connumerantur; et fit numerus septuaginta Septem. Bzw. Beda zu Lk 3, 38: undecies Septem vel septies undeni septuaginta Septem fiunt.) Hier gilt das Gleiche, was zu Isidors ziid zu bemerken w a r : Im Rahmen dieser Zeitrechnung (nach Geschlechtern) bildet ira ziti den einen Grenzpunkt. Keinesfalls also ist der ,Verlauf' der Epoche Marias gemeint, sondern die Gesamtheit dieser Generation, punktuell gesehen. (ziti ist mit Sicherheit als Akk.pl. zu werten, da anan im Sinne von ,bis an, bis zu' mit Akk., nur im lokalen Sinne ,an, auf' mit Dat. konstruiert wird.) (6) Zeit überhaupt, in spekulativen Kontexten: So was io wört wonanti er allen zitin worolti II 1, 5 (,vor aller Weltzeit überhaupt'; vgl. Joh 1, 1 in principio erat verbum . . . ) Durch das kollektive Adjektiv 4- Plural des Substantivs sowie durch das genauer determinierende Attribut worolti (das hier selbst wohl keinen zeit-
1.1. Die
Zeit-Termini
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liehen Sinn hat) wird die Totalität der gemeinten Zeitvorstellung hervorgerufen. Mit auffallender Umständlichkeit und Einläßlichkeit ist die Stelle Joh 8, 58 wiedergegeben: antequam Abraham fieret, ego sum. Otfrid benötigt für die Umschreibung dieser Aussage vier Zeilen: Ih sagen . . . iu in war min: er imo so ist thaz wesan min; ih bin mit giwürti er thanne £r io wurti. Warun ziti mino er würtin io thio s'mo; min w£san, wizit ir thaz, er imo filu rümaz. I I I 18, 61 ff. (rutni = ,weit abliegend', auch temporal verwendbar) Zunächst fallen die zahlreichen adverbialen und nominalen Zeitbestimmungen auf, vor allem auch das pauschal in die Vergangenheit ausgreifende io. Die offensichtliche gedankliche Schwierigkeit der Stelle besteht darin, daß in den Worten Christi Gegenwart und Vergangenheit koinzidieren. Mit anderen Worten: sum ist nicht eigentlich zeitlich (präsentisch), sondern überzeitlich zu verstehen (das Präsens in seiner generalisierenden Aussagefunktion), so daß diese Existentialaussage mit einer temporalen Bestimmung der Vergangenheit ohne Widerspruch vereinbar ist. An diesem Ort bzw. an vergleichbaren biblischen Formulierungen kann sich denn auch eine eigentliche Ewigkeitsspekulation entzünden (s. u. 160). Otfrid aber denkt durchaus in zeitlichen, vorphilosophischen Kategorien, ohne die spekulativ-temporalen Möglichkeiten der Stelle voll zu entfalten. Auf andere Weise aber wird er gleichwohl der Tiefe der Aussage gerecht: In der ersten und vierten Zeile ist die Existentialaussage sum in eine ontologische Formulierung aufgelöst, die den unmittelbaren (wenngleich nur scheinbaren) temporalen Widerspruch mildert (ist als blasse Kopula präjudiziert von vornherein weniger Zeitliches als das existential verwendete sum). In den mittleren Versen aber (zumal in Vers 2) bleibt das zeitliche Paradox schroff bestehen, wenngleich durch die Opposition ,sein'/,werden' in beiden Fällen (entsprechend dem lat. Vorbild) das prinzipiell verschiedene zeitliche Sein Christi und Abrahams angedeutet ist. Durch den stilistischen Aufbau des Passus wird das Gemeinte vollends evident: Die beiden parallel gegliederten mittleren Verse sind eingefaßt durch zwei Sätze, die inhaltlich identisch, in der Wortfolge aber chiastisch angeordnet sind. So wird die temporale Paradoxie umklammert durch das wesan Christi, womit auf sehr schlichte Weise die ontologische Priorität des Seins Christi herausgehoben ist 49 . Lexikalisch sind hier ausschließlich temporale Wörter vorzufinden, die weder in sich noch durch Summierung zeitliche Unendlichkeit intendieren. Die ge49
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z i t i m i n o / z i t i s i n o hat zwar äußerlich die Struktur der oben besprochenen Wendungen mit Possessivpronomen, die meist die ,Lebenszeit' eines Individuums anzeigen. Wenn Kelle auch an dieser Stelle die Bedeutung ,Lebenszeit' ansetzt, so trifft das streng genommen aber nur für Abraham zu, da ja eben nicht die Lebenszeit' Christi, die Zeit seines Lebens auf Erden gemeint ist, sondern sein immer schon ,früheres' Sein. Burger, Zeit
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1. Althochdeutsche
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Notker
meinte Spannung zwischen Endlichem und Unendlichem entspringt vielmehr aus der syntaktisch-grammatikalischen Fügung (schon des lat.) Satzes. Inhalt lieh vergleichbar ist die Stelle Joh 1 , 2 7 : ipse est qui post me venit, qui ante me factus est. O t f r i d macht daraus: A f t e r mir so quimit er, inti alio ziti was er ér. I 27, 55 Hier entsteht (wenigstens formal) kein temporales Paradox, da die zeitliche Unendlichkeit bzw. Uberzeitlichkeit durch zwei getrennte temporale Aussagen umschrieben ist, die sich formal-grammatisch nicht widerstreiten, allo ziti f u n giert dabei als summative Umschreibung einer regressiven zeitlichen Unendlichkeit. Im folgenden Passus, der allegorisch von der Kraft der caritas (bzw. fides und spes) spricht, ist — wie der Kontext nahelegt — die Unvergänglichkeit dieser ,Tugenden', ihr ewiges Sein in Gott gemeint. Der sprachliche Ausdruck bedient sich aber durchaus (inner-)zeitlicher Termini, wenngleich in ungewöhnlicher Häufung: Nist wiht so r é d i h a f t e s . . . so thaz káritas giduat; Si líuzit iz al thanana uz zi themo drúhtines hus, si ist álla zit iowánne símbolon tharínne. Súmenes farent thánana thio iro suéster zuá (Marg. fides et spes) a f u r thísu in min w á r ist émmizigert ío thar. I V 29, 53 ff. (fides und spes verlassen also bisweilen des druhtines hus, während caritas immer darin bleibt.) H i e r stoßen wir auf ein sprachliches Verfahren, das in vergleichbarer Weise bei Ausdrücken mit worolt zu beobachten sein w i r d : Summierung temporaler Ausdrücke zur Bezeichnung zeitlicher Unendlichkeit. Während es sich dort (bei worolt) aber um primär syntaktische Praktiken handelt, haben wir es hier mit einer H ä u f u n g lexikalischer Einheiten zu tun. (Über simbolon und emmizigen s. u. 164 u. 138 ff.) (7) Einen Sonderfall stellt die Verwendung von zit innerhalb der programmatischen Bemerkungen O t f r i d s zur Metrik in I 1 d a r : Joh állo thio ziti so záltun sie bi nóti 11, 25 (ähnlich 42, 45, 49) zit ist hier prosodischer Terminus im Sinne von ,Quantität'. Diese Fälle braudien uns nicht weiter zu beschäftigen. (Ob auch in V. 45 ff. die prosodische Bedeutung vorliegt oder — als stilistischer Effekt, der nicht weit vom Wortspiel mit H o m o n y m e n entfernt wäre — der übliche temporale Sinn, wage ich nicht zu entscheiden 50 .) 50
Z u m metrischen , P r o g r a m m ' O t f r i d s u n d zur D e u t u n g seiner Terminologie vgl. vor allem Siegfried Gutenbrunner, O t f r i d s regula u n d ziti, Archiv 192 (1955) 159 bis 162; Peter von Polenz, O t f r i d s Wortspiel mit Versbegriffen als literarisches Bekenntnis, Festschrift f ü r Ludwig Wolff, N e u m ü n s t e r 1962, 121—134. Mir scheint, d a ß O t f r i d den Litteralsinn ( = metrische Bedeutung) und den allegorischen Sinn von ziti b e w u ß t h a t ineinander schwingen lassen, u n d so d ü r f t e die einseitig auf die allegorische D e u t u n g abzielende I n t e r p r e t a t i o n v. Polenz' wenig f ü r sich haben.
1.1. Die
Zeit-Termini
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Wenn wir abschließend noch einmal die Frage stellen, wie weit und in welchem Sinne der Vers f ü r die Wahl des Numerus eine Rolle spielt, so läßt sich nur resignierend feststellen: Zwar steht zit (mit seinen obliquen Formen) oft in Reimposition; doch bietet sich gerade für die Fälle {ziti ,Zeitpunkt' und besonders ,Zeitdauer'), die hätten aufschlußreich sein können, keine morphologische Alternative an. Somit kann der Reim seine (mögliche) selektive Funktion nicht ausüben. Das semantische Spektrum des Wortes ist so breit, daß die Besonderheiten der Verwendung von zit am deutlichsten durch einen Vergleich mit den Spektren der anderen temporalen Termini erhellt werden können (u. 90 ff.). Die Belege f ü r zit in den KLEINEREN A H D . D E N K M Ä L E R N sind sämtlich spät, meist erst nachnotkerisch. Fast ausschließlich handelt es sich um adverbiale Ausdrücke auf die Frage ,wann?': — zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge oder Handlungen: Predigtsammlung A (30, 5 a 12): . . . sit tu in demo zite riuuesotost, in demo du kesundon mahtost (Augustinus: quia egisti poenitentiam eo tempore, quo et peccare potuisti). Trierer Capitulare (40, 9): ce demo cide — eo tempore 14: themo seluemo cide — eodem tempore (in beiden Fällen ist eine juristisch strenge Gleichzeitigkeit gemeint) — (Tages-)Zeit bzw. Termin: Predigtsammlung B ( 3 2 , 2 , 8 ) : (der H e r r lädt die Arbeiter in seinen Weinberg:) sumeliche ana demo abanda oder in suelihemo cite si imo zuo chomen — Zeitpunkt (einer Sünde): Jüng. bair. Beichte (43,8): in suelichero steti odo in suelichemo zite ih si gefrumeta Benediktb. Beichte II (52, 9): swie getaneme zite ich die sunte ie kefrumete — Epoche, durch Namen präzisiert: Predigtsammlung A (30,1, 2): in demo zite Heli? (in diebus Eliae) in den jungesten ziten begegnet mehrfach f ü r Jüngstes Gericht' 51 , aber auch
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Sinnvoller scheint mir Rupps vermittelnde Stellungnahme (Forsdiung zur ahd. Literatur, a. a. O., 52): „Der Sinn der Symbolzahlen liegt ja gerade darin, daß sie die Ineinssetzung v o n Verschiedenstem in einer höheren Ordnung erlauben; weshalb sollte dann in I 1 , 6 nicht auch der H i n w e i s auf das geheiligte Versmaß mitklingen?" D i e Terminologie für das J ü n g s t e Gericht' kann in unserer Arbeit ausgespart werden, zum einen weil es sich um einen konkreten ,Termin' der Heilsgeschichte handelt, z u m andern weil bereits eine gründliche Studie zu diesem lexikalischen Bereich vorliegt: Rosemarie Schnerrer, Altdeutsche Bezeichnungen für das Jüngste Gericht, PBB (Halle) 85 (1963) 2 4 8 — 3 1 2 .
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1. Althochdeutsche
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für das .Lebensende' des Menschen — in diesen Fällen individualisiert durch Poss. Pronomen: Münchner Glaube (56,12): daz iu der heilige gotis lichename werden muozze arte iwern iungisten ziten (Niederdeutscher Glauben 61, 31: te minen iungesten tiden) Einmal steht zit im Rahmen eines Sündenbekenntnisses wohl im speziellen Sinn von ,Fastenzeit' Lorscher Beichte (46, 6): zitio forlazanero Nur an einer Stelle kommt zit in abstrakt-temporalem Kontext vor, und zwar am Ende des nachnotkerschen Stückes ,Himmel und Hölle*. Dort heißt es in einer Formel, die in Häufung von Zeit-Wörtern die Endlosigkeit der Höllenqual auszusprechen sucht: ane cites ende iemer in ewa (vgl. unter ,ewa' 166). Hier ist zit in äußerster Abstraktion verwendet als ,Zeit überhaupt', ohne Situationsbindung oder Beschränkung auf irdische Zeit. zit ist in den GLOSSEN — seltener Glücksfall der Überlieferung — nicht nur als Einzelinterpretament, sondern meist in ganzen Ausdrücken vertreten, die Aussagen über den Wort g e b r a u c h zulassen: In den meisten Belegen steht zit für lat. tempus, einmal für aevum, gelegentlich für lat. Adverbien. tempus — zit III 261, 48 (Summ. Heinr.) [12. Jh.] aetas uel tempus — alti edo ciit I 30/31, 18 [8. Jh.] temporis — zidi I 203, 21 (Abr.) [8. Jh.] tempus — ziit III 5, 36 (Voc.) [8. Jh.] ex tempore — in zite II 279, 27 f. (Gregor Horn. I 8, p. 1461) [10. 11. Jh.] zit mit Determinanten: — quantitativ vorgestellte Zeit: (a) nicht näher bestimmte Dauer (mit unbest. Artikel): ad tempus — zieinemo stuche / zieni zite ,eine Zeitlang' I 748, 55 ff. (Apg. 19, 22) [10.11. Jh.]; vgl. Tatian 15, 6, wo die Unbestimmtheit der gemeinten Dauer durch ein indefinites Pronomen angezeigt wird. Hier wie dort aber ist der idiomatische Charakter des lat. Ausdrucks erkannt und kontextbezogen wiedergegeben. (b) durch Adjektiv determiniert: multi temporis — cuncti temporis — — —
manakero citeo I 106 f., 18 (Abr.) [8. Jh.] allero citeo Pa. allero ziti Gl.K. allera ziti R I 90 f., 33 (Abr.) [8. Jh.]
Beide lat. Wendungen sind im Deutschen durch den Plural, in zwei Handschriften auch durch den Singular von zit repräsentiert.
1.1. Die
Zeit-Termini
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(c) durch Genitivattribut eingegrenzt: tempus bienni — zit zuueio iaro I 426,59 (Regum II, 13,23) [8. 9. J h . ] — durch verschiedene Determinanten als bestimmter Zeitpunkt oder auch gewertete Zeit charakterisiert: inductabile (tempus) unuparuuntanlih" zit II 649, 32 f. [11. J h . ] (Vergil A II 324) placiti tempus — dinc zit I 300, 21 und 301, 40 (Gen. 30, 33) [10. J h . ] tempus putacionis — snita zit I 553, 16 (Canticum Cantic. 2, 12) [9. J h . ] per incrementa temporum — uuahsamon ziteo II 264,9 f. (Gregor Horn. II 29) [9. 10. J h . ] Intempesta noctis — in dero unvuerchparigvn ziti u. ä. I 433, 16 ff. (Regum III, 3, 20) [10. 11. J h . ] Intempesta — Ivnvuerhparigun ziti I 814, 26 ff. (Reg. III, 3, 20) [10. 11. J h . ] verno tempore — lanzigim citi IV 172, 59 (Gl. Sal.) ,zur Frühlingszeit' [10. 11. J h . ] propter temporum notam — turch tiea ermärida sinero cito II 760, 8 ff. (Vita Martini Dial. 3,11, p. 208,12) [9. J h . ] — für lat. Adverbialausdrücke, auf die Frage ,wann'? bzw. ,seit wann?': ex antiquis — uon altin ziten u. ä. I 531, 45 ff. und I 807, 64 f. (Parab. 8, 23) [ 1 0 . 1 1 . 1 2 . J h . ] antiquitus — pi alten zitin / in alten ziten / in den alten ziten u. ä. I 594,11 ff. (Es. 1, 26) [10.11. J h . ] — als temporale Definition eines lat./dt. Zeitadverbs: pridem. erorintages. kilitanaz cit IV 13, 57 ff. (Gl. Affatim) [9. J h . ] — für lat. aevum, in spekulativ-temporalem Kontext (Eccl. 1,1) — ein in den Glossen höchst seltener Fund: — ante ?uum — er ziti / e zitis u. ä. I 564, 5 ff. [10. 11. Jh.] Der Text spricht von der ewigen Weisheit, die vor der Zeit w a r : Omnis sapientia a Domino Deo est, et cum illo fuit Semper, et est ante aevum. zit ist hier also im generellsten und abstraktesten Sinne verwendet. Für zit bieten die Glossen somit eine dichte Beleggruppe mit zahlreichen Kollokationen, die das breite Verwendungsspektrum des Wortes spiegeln, wie wir es in den literarischen Texten angetroffen haben — von der quantifizierten über die bewertete Zeit bis zu ,Zeit überhaupt'. Daneben begegnet zit noch in wenigen K o m p o s i t a , Wort immer konkrete Zeitvorstellungen meint: menstruatam — manodzitim 52 IV 220, 31 52
Vgl. Graff 5, 638, w o der Nom. ,manodziti (?)' angesetzt ist.
in denen das
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Notker
cronicon — z i t p u o h u. ä. I 395, 33 (Reg. I, Prol.) u. I V 265, 15 [11.12. Jh.] crónica — z i t h b u d i I V 168, 36 (Gl. Sal.) [12. J h . ] Besonders zahlreich sind die A d j e k t i v a b l e i t u n g e n v o n zit, bei denen w i r n u r die v o r k o m m e n d e n V a r i a n t e n u n d die lat. L e m m a t a a u f z ä h l e n wollen: ziter giziter gizito/iligo (adv.) kazito gizitor zitiger
zitlih
zitlichere unzitig
unzitlidi
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
maturus antelucanus maturus mature tempestiue temperius ( K o m p a r a t i v ) maturus temporaneus serotinus precoquus tempestiuus momentaneus tempestivus temporalis maturius (Komp.) intempesta, p r o f u n d a inmatura intempestivae inportuna immaturus
Diese verschiedenen Bildungen — mit A u s n a h m e von ziter — sind in literarischen Texten gleichfalls belegt, doch zitig, zitigo, zitlih erst bei N o t k e r , zitlihho (adv.) in der Benediktinerregel u n d d a n n erst wieder bei N o t k e r . Aus dem Vergleich der t e m p o r a l e n A d j e k t i v e in den Glossen mit denen in literarischen Texten lassen sich k a u m konkrete Schlüsse ziehen, da eine realistische E i n o r d n u n g der Glossenbelege in den chronologischen R a h m e n des A h d . mangels Vorarbeiten noch nicht möglich ist. I m m e r h i n aber zeigt sich, d a ß Bildungen mit wila u n d stunta in den Glossen stärker vertreten sind als in literarischen Texten u n d d a m i t w o h l einen älteren lexikalischen Z u s t a n d spiegeln (wie ja auch huuilin n u r in den älteren Texten v o r k o m m t ) , w ä h r e n d die Ableitungen von zit im L a u f e des A h d . immer p r o d u k t i v e r w e r d e n . Typisch f ü r die ,experimentellen' Bildungen ist das weite Bedeutungsspekt r u m u n d die schwache semantische A b g r e n z u n g der einzelnen Ableitungsweisen. zitig u n d zitlih sowie ihre N e g a t i o n e n sind unterschiedslos im Sinne unserer heutigen V e r w e n d u n g v o n zeitig u n d zeitlich z u gebrauchen, wenn sich auch eine T e n d e n z z u r Differenzierung bereits andeutet (maturus u n d sein Umkreis bildet die H a u p t g r u p p e der L e m m a t a f ü r zitig, w ä h r e n d nur zitlih
1.1. Die
Zeit-Termini
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für das weltanschaulich akzentuierte temporalis eingesetzt wird). Auch das Kompositum ubarzitig (superadulta) gehört in den Umkreis von maturus. Abschließend ein Wort zur M o r p h o l o g i e des Wortes: Eine Überschau der ahd. Belege für zit läßt erkennen, daß das Wort als femininer i-Stamm und als neutraler a-Stamm auftritt. Eine semantische Differenzierung der beiden Beleggruppen ist aber in keinem Fall ersichtlich. Besonders klar zeigt sich die unterschiedslose Verwendung beider Flexionsweisen in der Benediktinerregel, wo der Dat.pl. als c i t u m und ciüm für die gleichen Lemmata (temporibus, horis) und unter gleichen Kontextbedingungen begegnet. Auch die Isidor-Übersetzung und die Murbacher Hymnen verwenden beide Flexionsweisen gleichberechtigt nebeneinander. Immerhin entfällt die überwiegende Zahl der Belege auf den femininen i-Stamm. Eindeutige Fälle von neutralem a-Stamm weisen außer den genannten größeren Denkmälern noch die folgenden kleineren Texte auf: Predigtsammlung A und B Trierer Capitulare Jüngere bair. Beichte Benediktbeurer Glauben und Beichte II Demnach läßt sich die Distribution der femininen und neutralen Formen kaum als geographische Differenzierung darstellen. Bis ins Moselfränkische hinauf reichen Belege für neutralen a-Stamm, und der Süden verwendet beide Formen nebeneinander. Wenn W. Besch53 zur Geschichte des Wortes vermerkt „Neben der üblichen fem. Ableitung auf -i ist schon seit Notker ein neutr. a-Stamm belegt, vorzüglich im Oberdeutschen, soweit man das mit Sicherheit nach den Belegen im Mhd. Wb., im L e x e r . . . und bei Jelinek . . . sagen kann", so trifft zunächst die Datierung der neutr. Form nicht zu; außerdem ist vom ahd. Verteilungsbild her zu vermuten, daß die neutr. Form von Anfang der Überlieferung an und in allen Gebieten im Rückzug begriffen ist. Das Fehlen neutraler Belege in mitteldeutschen Texten der mhd. Zeit läßt daher kaum Schlüsse auf wortgeographische Verhältnisse zu, sondern kann auf einem Zufall der Überlieferung beruhen. Die von Besch herangezogenen Mundartbelege allerdings deuten auf einen (vielleicht erst neuzeitlichen) Rückzug der neutralen Formen in oberdeutsches Gebiet.
53
Werner Besch, Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelalterlichen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, München 1967, 247.
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1. Althochdeutsche Texte außer Notker
1.2. Ü b e r s i c h t ü b e r d e n G e b r a u c h d e r v i e r Zeit-Substantive Der Vergleich der vier Wörter sei auf mehreren Ebenen durchgeführt, die — aufeinander projiziert — eine A r t Gesamtbild der Distribution vermitteln. Zugleich kann auf diese Weise eine Entwicklung erfaßt werden, die weniger einen chronologischen Ablauf, als den Weg z u r Eigenständigkeit der deutschen Sprache spiegelt. H a u p t e t a p p e n des Weges sind die Glossen — die Übersetzungstexte — O t f r i d s Evangelienbuch. Somit legt sich folgende Staffelung des Vergleichs nahe: 1. Die Glossenbelege werden als selbständige Beleggruppe nach ihren lateinischen Äquivalenten verglichen . 2. Die semantischen Verhältnisse der literarischen Denkmäler werden in zwei Stufen dargestellt: 2.1. nach den lateinischen Äquivalenten in den Übersetzungen 2.2. nach den Bedeutungszonen in O t f r i d s Evangelienbuch. 3. Für alle Texte (vor N o t k e r ) ist zu fragen, ob sich die vier Wörter geographisch oder zeitlich in bestimmter Weise ausgliedern. 4. Von den sprachlichen Problemen, die über den Bereich des Lexikalischen hinausgehen, auf höherer Ebene aber semantisch relevant sind, werden gesondert behandelt: 4.1. die syntaktische Verwendbarkeit der Wörter 4.2. der Numerusgebrauch. 5. Aus der Vielfalt von Verwendungsweisen der vier Wörter sei abschließend der Bereich der temporalen Deixis herausgegriffen und auf seine Bedingungen hin analysiert. Aus dieser Betrachtung wird sich das Spezifische des ahd. Sprachgebrauchs — in Abhebung gegen die nhd. Schriftsprache — erhellen lassen.
1.2.1. Glossen Das nachstehende Diagramm zeigt die breite Streuung der lat. Äquivalente, von abstrakt zeitlichen Begriffen bis hin zu solchen Wörtern, die nur noch am Rande oder schon gar nicht mehr in den temporalen Bereich gehören, d a f ü r aber den H o r i z o n t der Rechtssprache eröffnen. Dieser Randbezirk wird völlig durch die Belege f ü r frist gedeckt. Die Distribution der vier Wörter ist, aufs Ganze gesehen, viel klarer als in den literarischen Denkmälern, zit ist das abstrakteste und allgemeinste Zeitwort, das nicht einmal auf die konkreten Bereiche der ,Stunde' und des ,Augenblicks' aufgreift, wila und stunta decken den mittleren Bereich der Zeitmessung und der kleineren Zeit-Einheiten.
+
wila stunta zit
locus
interstitium spatium
induciae
frist
89
copia occasio
momentum
hora
tempus
aevum
1.2. Übersicht über den Gebrauch der vier Zeit-Substantive
+
+
+
+
+
+ +
+
E r g ä n z e n d ist noch hervorzuheben, d a ß q u a n t i t a t i v e u n d qualitative D e t e r m i n a n t e n in größerem U m f a n g n u r bei zit a n z u t r e f f e n sind. V o n den übrigen W ö r t e r n weist n u r stunta (spärliche) Belege f ü r solche ausführlichere Glossierungen auf, gleichfalls q u a n t i t a t i v wie auch qualitativ bestimmt (lucikerv stundu u n d dine stundet — w e n n m a n den individualisierenden Ausdruck als qualitativ determiniert auffassen will). A u f f ä l l i g ist, d a ß wila u n d stunt(a) häufig, zit seltener in Ausdrücken erscheinen, die lat. Adverbien entsprechen. Dieser B e f u n d deutet d a r a u f hin, d a ß wila u n d stunta enger mit dem Verbalkomplex v e r k n ü p f t sind als zit. Das Gleiche w i r d sich bei einer Gegenüberstellung der vier W ö r t e r in syntaktischer Hinsicht f ü r die literarischen Texte herausstellen. Bei den Adjektivableitungen z u wila, stunta u n d zit k o n n t e n w i r beobachten, d a ß eine Reihe v o n Bildungen literarisch nicht bezeugt sind. Möglicherweise spiegeln demnach sowohl die semantische Distribution der Simplicia als auch die W o r t b i l d u n g s b e f u n d e einen älteren Z u s t a n d als den der literarischen Texte. O b w o h l w i r räumlich u n d chronologisch völlig heterogene Glossenbelege herangezogen haben, h a t eine solche Aussage doch ihren Sinn, sofern Glossen q u a G a t t u n g u n d Zweck stark traditionell gebunden u n d untereinander überlieferungsgesdiichtlich verflochten sind.
1.2.2. Die lat. Äquivalente der vier Wörter in den Ubersetzungstexten D a s folgende D i a g r a m m berücksichtigt n u r die größeren Übersetzungstexte. O t f r i d m u ß a u ß e r Betracht bleiben, da lat. Äquivalente f ü r O t f r i d s E v a n gelienharmonie n u r i n d i r e k t z u eruieren sind. [Skizze S. 9 0 ] D a s Bild ist gegenüber den Glossen insofern verschoben, als wila u n d stunta n u n auf den allgemeineren temporalen Bereich (lat. tempus) übergegriffen haben. frist aber ist immer noch auf den Randbereich eingeschränkt, wila, stunta u n d zit haben ein u n g e f ä h r gleiches Entsprechungsspektrum, ja stunta reicht sogar in die speziellere Zone von spatium hinüber (allerdings n u r in einem Text). N i m m t m a n aber das A u s m a ß der Verbreitung hinzu, so verschieben sich die P r o p o r t i o n e n : zit ist das am weitesten verbreitete W o r t , es folgen stunta u n d
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
90
tempus
hora
I [hwil]
BH
H
H, MF
H, I , B , T MF
B
materia occasio
spatium
frist
B
wila stunta zit Abkürzungen: B H I MF T
— — — — —
T
Benediktinerregel Murbacher H y m n e n Isidor-Uebersetzung Monseer Fragmente Tatian
wila, nur e i n Text schließlich verwendet frist. Am dichtesten besetzt ist die Entsprechung zit/tempus; stunta/hora und wilajbora weisen etwa gleiche Belegdichte auf. Es sei hier an die Doppelglossierung hwila/stunta f ü r hora in den Murbacher Hymnen erinnert, die vermutlich nicht auf bloßem Zufall oder einer lexikalischen Sonderstellung des Textes beruht.
1.2.3. B e d e u t u n g s z o n e n in O t f r i d s Evangelienbuch
[+]
+
stunta
+
+
zit
+
+
wila
+ +
[+] [+] +
alle Zeit
Frist
hora
+
frist
u ote.tiO
>
Ewige Zeit
1
t»3 L " = 3 1 S "0 g
Gew ertete Z eit
Zeit überhaupt
8
Zeitc lauer Zeitabschnitt Epoche
W) =21
formelhaft, determiniert
Zeit{
g 5*
Am Beispiel Otfrids soll in einer Skizze vorgeführt werden, in welchem Ausmaß die einzelnen Wörter das Spektrum der Bedeutungszonen decken, die sich aus der semantischen Analyse ergaben. (Aus dem heutigen Sprachgebrauch entnommene Titel wie ,schwere Stunde', ,Frist' usw. sollen nur den Typus des betreffenden Wortgebrauchs anzeigen; die Anordnung der Zonen ist im einzelnen willkürlich, da sich keine konsequente Abstufung vom Konkreten zum Abstrakten festlegen läßt.)
+
+
+
+
e-, rt .5 3 | N
+
+
+ +
+
+
[+]
+
+
+
+
+
+
1.2. Übersicht über den Gebrauch
der vier
Zeit-Substantive
91
Das Bild bedarf kaum mehr eines Kommentares: Die prädominante Stellung von zit, das nahezu alle Bedeutungszonen deckt, ist augenfällig. Den anderen Wörtern kommt jeweils nur ein gewisser Ausschnitt aus dem Spektrum zu. Merkwürdigerweise reicht frist
— mit zit —
des Abstrakt-Temporalen hinein. N u r stunta
am weitesten in den Bereich belegt wie zit den Bezirk der
gewerteten Zeit — was durchaus noch unserem heutigen Sprachgebrauch entspricht. D e r besondere Sinn von frist, der in den Glossen und älteren Texten sehr stark zum Tragen kam, ist hier nur durch die Zone ¡Frist' vertreten; darüberhinaus aber ist das W o r t in die meisten Zonen eingedrungen. In
der
Formel des Typus ,alle Zeit', die wegen ihrer Signifikanz als eigene Zone aufgeführt ist, sind drei Termini einsetzbar (der vierte ist aus anderen T e x t e n in der gleichen Wendung bekannt). D i e meisten Überschneidungen aber ergeben sich in den ersten beiden Bereichen. H i e r sind jeweils alle vier Wörter, mehr oder weniger stark, im Spiel. (Entsprechend sind die Fälle von
Variation
gerade hier besonders aktuell.) Das bedeutet in syntaktischen Kategorien: In adverbialer
Position
(Einschränkungen
sind
die einzelnen
Zeit-Termini
nahezu
ergeben sich vor allem durch differierenden
austauschbar Kasus-
und
Numerusgebrauch). U n d innerhalb des adverbialen Bereiches sind es wiederum die Fälle von temporaler Deixis, die das höchste M a ß an freier (semantisch nicht gebundener) W o r t w a h l aufweisen.
1.2.4. Z u r W o r t g e o g r a p h i e der vier Substantive Die nächste Skizze soll eine rasche Orientierung über die geographische Verteilung der W ö r t e r ermöglichen — sofern es für die ahd. Überlieferung überhaupt sinnvoll ist, in räumlichen Kategorien zu sprechen. Berücksichtigt sind alle ahd. T e x t e außer N o t k e r (mit Ausnahme der Glossen). [Skizze S. 9 2 ] Nach dem Erscheinen' des Schützeicheischen Wörterbuchs hat die Tabelle nur noch illustrativen W e r t . Es geht daraus wiederum hervor, daß zit das verbreitetste W o r t der Gruppe ist — vom Anfang der Periode an bis zu ihrem Ende. Was die übrigen drei W ö r t e r anlangt, so zeichnet sich keine eindeutig zeitliche oder räumliche Ausgliederung ab. Alle drei sind ja bis heute noch gebräuchlich, wenngleich Weile heutzutage nur noch in Randbereichen der Sprache existiert (in der Poesie oder in stilistisch irgendwie ausgezeichneter Redeweise). Geographische Schlüsse ex silentio zu ziehen, ist für die ahd. Zeit mehr als gefährlich. D a ß frist gerade in der Isidor-Übersetzung und den Murbacher H y m n e n fehlt, kann Zufall sein oder auch auf die lexikalische Begrenzung der Vorlage zurückweisen. Die mittelfränkischen Psalmen jedenfalls kennen das W o r t (hier ist allerdings die Datierung schwierig). Außerdem ist der nördliche Anschluß auch durch das As., Ae., An. gesichert. Merkwürdig
bleibt allerdings
Fehlen von bwila im Tatian. D a der H e l i a n d aber hwila/hwil
das
kennt, sind auch
hier geographische Schlüsse unmöglich. Doch ist es bei der relativ mechanischen
92
1. Althochdeutsche Texte außer frist MPs
wila
Notker
stunta
zit
+
+
+ + + + + + + +
TC LB
+ + + + +
+
J MF T
O
+ +
MH B GA
+ +
+
JB
J{
Weitere Abkürzungen: O GA JB LB TC MPs
— — — — — —
Otfrids Evangelienbuch St. Galler Schularbeit Jüngere bairische Beichte Lorsdier Beichte Trierer Capitulare Mittelfränkische Psalmen
Übersetzungstechnik der Tatian-Übersetzung durchaus möglich, daß von mehreren verfügbaren Wörtern eines gewählt und das andere ausgeschaltet wurde. D a s Verteilungsdiagramm dürfte somit keine neuen Faktoren beitragen.
1.2.5. S y n t a k t i s c h e V e r w e n d b a r k e i t Ohne auf feinere Differenzierungen einzugehen, seien nur die drei syntaktischen Positionen Subjekt, Objekt, Adverbialgruppe aufgeführt. D a s Diagramm zeigt die ungefähren statistischen Verhältnisse (doppelte Pluszeichen = besonders starke Belegdichte; eingeklammerte Pluszeichen = sehr schwache Belegdichte).
frist wila stunta zit
Subjekt
Objekt
Adverb
[+] + + ++
+
++ ++ ++ +
—
+ ++
1.2. Übersicht über den Gebrauch der vier
Zeit-Substantive
93
Die Unterschiede sind augenfällig: Das syntaktisch am freiesten verwendbare Wort ist zit, wobei der Gebrauch sich mehr auf die ,nominalen' Positionen Subjekt und Objekt konzentriert als auf adverbiale Fügungen. Bei den übrigen Wörtern verhält es sich umgekehrt: alle drei sind vorwiegend an deiktische oder sonstige adverbiale Ausdrücke gebunden und begegnen nur selten in rein nominalen Stellungen. Am engsten ist der Spiel-Raum von wila und frist (die Verwendung von frist als Objekt beschränkt sich auf wenige feste Wendungen). Aus dieser syntaktischen Verteilung läßt sich e i n sicherer Schluß ziehen: Dasjenige Zeit-Wort des Ahd., das primär zum G e g e n s t a n d temporaler Aussagen werden kann, ist das vielschichtige zit. Die anderen Wörter dienen vorwiegend dazu, temporale Charakteristika von Vorgängen, Handlungen u. ä. zu bezeichnen. Sie gehören näher zum Verbalkomplex als zu den Nominalkomplexen des Satzes. Das syntaktische Bild stimmt somit vollkommen zur semantischen Distribution, wobei allerdings die Otfrid-Belege für abstrakt gemeintes frist gänzlich aus dem Rahmen des zu Erwartenden fallen.
1.2.6. Numerusgebrauch Der Numerusgebrauch, wie er aus dem Diagramm ersichtlich ist, ist bei den vier Wörtern mit wünschenswerter Deutlichkeit verteilt: Zeitpunkt
Zeitdauer
frist
Sg
[alla frist]
wila
Sg/Pl
Sg [alla wila]
PI
PI [allo stunta]
Sg/Pl
Sg/Pl _ [allo ziti]
stunta zit
Besonderes frist geban: Sg/Pl fristi duan: PI Komposita: PI (Sg)
Akkusativobjekt: Sg
Zwei Wörter sind auf e i n e n Numerus beschränkt, frist auf den Singular, stunta auf den Plural (mit den erwähnten Ausnahmen). Bei wila sind in einer Bedeutungszone Singular und Plural nebeneinander verwendbar, und bei zit schließlich halten sich die beiden Numeri überall mehr oder weniger die Waage. Diese klare Verteilung dürfte auch zu semantischen Schlußfolgerungen berechtigen:
94
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
frist ist durch seinen besonderen vektoriellen C h a r a k t e r auf die Einzahl beschränkt. Die Zeit ,von einem Ereignis a n . . oder ,auf ein Ereignis zu . . . ' k a n n in einem bestimmten K o n t e x t nicht anders als singulär v o r k o m m e n . V o n dieser situationsgebundenen Bestimmtheit greift d a n n der singularische G e brauch auch auf allgemeinere Verwendungsweisen über: Selbst im a b s t r a k t temporalen Sinne sind die Grenzen der gemeinten Zeit immer m i t - b e w u ß t (mit Ausnahme des nicht mehr b e g r ü n d b a r e n Ausdrucks ,ewige frist'). Wie es scheint, eignet frist aber nicht der C h a r a k t e r des Eng-Begrenzten, des k u r z e ? ,Abschnitts', da auch die kollektive Formel alla frist im Singular steht. D a s genaue Gegenteil liegt in der V e r w e n d u n g von stunta v o r : Singularisches stunta ist offenbar auf die Vorstellung eines eng eingegrenzten A b schnitts festgelegt, so d a ß eine längere Zeitdauer n u r durch D e t e r m i n a n t e n + P l u r a l des Lexems wiedergegeben w e r d e n k a n n . Keineswegs aber ist es gerechtfertigt, den eigentlichen' Sinn des W o r t e s — aus etymologischen E r w ä g u n g e n — mit , Z e i t p u n k t ' anzugeben. Dieser A n n a h m e widerspricht die ausschließlich pluralische V e r w e n d u n g des Wortes in der Bedeutungszone , Z e i t p u n k t ' . Die F u n k t i o n des Plurals in diesem Bereich ist schwerer zu erklären als in der Z o n e ,Zeitdauer'; sie k a n n erst im R a h m e n der (folgenden) Besprechung der temporalen Deixis hinreichend gedeutet w e r d e n . J e t z t l ä ß t sich bereits sagen, d a ß der P l u r a l der A u f h e b u n g des lexikalischen Wortsinnes dienen m u ß . D a s gilt auch f ü r die pluralischen Belege v o n wila, in denen ja gerade der (etymologisch-lexikalische) Sinn von , D a u e r ' e n t k r ä f t e t w i r d . Bei zit schließlich ist der Numerusgebrauch vollständig a r b i t r ä r , was auf die außerordentliche semantische Verwendungsvielfalt des Wortes hindeutet. N u r einige Belege aus der T a t i a n - O b e r s e t z u n g scheinen nahezulegen, d a ß in älterer Zeit auch zit auf eine Vorstellung begrenzter Zeitdauer festgelegt w a r .
1.2.7. Die temporale Deixis und ihre Sonderstellung Des ö f t e r e n ergab sich bei der semantischen Analyse deiktischer W e n d u n g e n das Problem, ob das jeweilige Substantiv p u n k t u e l l oder als ,Zeitabschnitt' o. ä. zu verstehen sei. Eine Entscheidung w a r immer d o r t möglich, w o mit den verbalen Kollokationen bestimmte semantische Bedingungen auch des Substantivs gegeben w a r e n . I m übrigen aber m u ß t e die Frage offen bleiben, w e n n nicht der K o n t e x t eine genauere Bestimmung erlaubte. Schon durch die enge syntaktisch-semantische Verflechtung mit der Verbalgruppe, d a n n v o r allem durch die semantische Unbestimmtheit bilden die deiktischen Adverbialausdrücke einen sprachlichen K o m p l e x sui generis, dessen besondere M e r k m a l e nun im Z u s a m m e n h a n g erörtert w e r d e n sollen. U n t e r ,temporaler Deixis' wollen w i r adverbiale Bestimmungen von V o r gängen, H a n d l u n g e n usw. verstehen, die v o m S t a n d p u n k t des Sprechers/Erzäh-
1.2. Übersicht über den Gebrauch der vier
Zeit-Substantive
95
lers aus auf die Zeit dieser Vorgänge usw. hinzeigen. Primitivstes Gliederungsschema der Deixis sind die drei Zeit-Ekstasen, sprachlich realisiert durch Adverbien (damals — jetzt — dann u. ä.) oder Adverbialgruppen verschiedener Formation. Über die bloße Einordnung in dieses fundamentale Koordinatensystem der Zeit-Erfahrung hinaus können die Adverbialkomplexe mehr oder weniger genaue temporale Zusatzangaben enthalten, die über den Zeitpunkt, den zeitlichen Verlauf, die Geschwindigkeit, das plötzliche Eintreten eines Vorganges und dergleichen Aussagen machen. So wiesen die Texte Ausdrücke auf, in denen sar auf den punktuellen Aspekt des Geschehens hindeutete, oder die historische Anknüpfungspunkte enthielten wie bi alten Noes ziten usw. Ihre wichtigste Funktion hat die temporale Deixis als Mittel der Erzähltechnik. Das Erzählen wiederum ist nichts anderes als eine bestimmte Ausprägung der allgemeinen Kommunikationssituation. Während das primäre Vehikel des Erzählens, die Konjunktion dann, nicht mehr als den Zusammenhang des Erzählten garantiert, wird in der temporalen Deixis ausdrücklich auf die Zeit des Erzählten hingewiesen. Doch geschieht dieses Hinweisen mit nicht größerer Genauigkeit, als es die Erzählsituation erfordert — wie es ja dem Grundgesetz der Ökonomie des Erzählens und der Kommunikation überhaupt entspricht. Damit aber sind wir an die Wurzel der zunächst so auffälligen Sonderstellung der deiktischen Ausdrücke gelangt: Wir sahen, daß in der temporalen Deixis die vier Zeit-Wörter bis auf gewisse Modifikationen austauschbar sind. Der eigene ,lexikalische' Sinn des Einzelwortes verliert in deiktischer Funktion seine spezifischen Charakteristika, die ihn sonst von den anderen Wort-Sinnen abheben; wichtig bleibt allein die allgemein temporale Bedeutung des Wortes. In den meisten Fällen ist es entweder für den Erzählprozeß belanglos oder aus dem Kontext ersichtlich, ob die Zeit, auf die hingezeigt wird, kurz oder lang ist, ob es sich um einen plötzlich einsetzenden Vorgang oder den Ablauf eines Prozesses handelt. Wichtig ist nur, daß die intendierte Zeit nicht in ihrem Verlauf, ihrer Sukzession, sondern auf einmal als Ganzes vorgestellt wird. Dies ist die eigentliche Leistung der temporalen Deixis. Ein wesentliches Mittel, das die Indifferenz des Zeit-Wortes gegenüber lexikalisch-semantischen Nuancen herzustellen vermag, ist in ahd. Zeit wohl die Oberführung des Wortes in den Plural. Der Plural neutralisiert die lexikalischen Besonderheiten des Einzelwortes, genauer gesagt: er neutralisiert vor allem die grundlegende Opposition Zeitpunkt/Zeitdauer. Natürlich ist der Begriff der N e u t r a l i s a t i o n in semantischen Zusammenhängen nicht mit gleicher Exaktheit zu verwenden wie in der Phonologie. Doch liegt hier zweifellos eine Erscheinung vor, die der phonologischen Neutralisierung vergleichbar ist. Besonders dringlich erscheint eine derartige Neutralisation, wenn Wörter wie stunta und wila in die temporale Deixis eintreten sollen: Wörter, die im Singular auf die Vorstellung von ,eng begrenzter Zeitabschnitt' bzw. ,unbestimmte Zeitdauer' festgelegt zu sein scheinen. Wenn eine solch genaue
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1. Althochdeutsche
Texte
außer
Notker
Festlegung f ü r den Erzählvorgang irrelevant oder gar unerwünscht ist, bietet sich der Wechsel des Numerus als Ausweg an. Doch ist dies nicht mehr als eine M ö g l i c h k e i t , nicht mehr als eine Tendenz. Wenn der Wortsinn durch seine immanenten Bedingungen auf singularischen Gebrauch ausgerichtet ist, fällt diese Möglichkeit dahin — wie es in den deiktischen Belegen f ü r frist (sämtlich im Singular!) zu beobachten ist. In solchen Fällen scheint die deiktische Formulierung als solche zu genügen, um die lexikalischen Beschränkungen aufzuheben. Was wir an den ahd. Ausdrücken der temporalen Deixis ablesen konnten, das läßt sich in vergleichbarer Weise anscheinend noch f ü r den heutigen m u n d artlichen Sprachgebrauch nachweisen. Eine wortgeographische Arbeit von G. Stötzel 54 , die auf den Materialien des Deutschen Sprachatlasses basiert, beschreibt den jederzeit möglichen Ubergang von ,objektiven' Zeittermini (besser wäre wohl zu sagen: von Zeittermini in nicht-deiktischer Funktion) in s u b jektive' Bezeichnungen (besser: in Ausdrücke mit deiktisdier Funktion): „ O b ein politischer Redner sagt, die Regierung habe ,bis zu dieser Stunde' oder ,bis auf diesen Tag' bzw. ,in dieser Stunde' nichts gegen irgendeinen Übelstand unternommen, bleibt sich f ü r das Verständnis gleich. Jedesmal ist nur eine Jetztzeit bezeichnet; der hauptsächliche Bedeutungsträger ist jeweils dies-, während die Bezeichnungen (Stunde, Tag) eigentlich exakt fixierter Zeiträume nur so fungieren, daß sie . . . anzeigen, daß es sich um Zeit handelt; diese Bezeichnungen sind in derartigen Wendungen synonymisch gegen Zeit austauschbar (bis zu dieser Zeit/Stunde/auf diesen Tag); ihr eigentlicher Bedeutungsgehalt als Bezeichnung eines fixierten Zeitraumes wird irrelevant. Diese Erscheinung steht in engem Verhältnis zu den oben erwähnten Bildungen heuer, heute, heint. Aus den Kontraktionen der Wortkörper von hin tagu, hiu jaru, hi nacht entnehmen wir, daß die Vorstellung der exakten Zeiträume in diesen Wortgruppen unterging und daß die deiktische Emphase überwog, denn ,Tag', J a h r ' , ,Nacht' sind in den Kontraktionen als sprachliche Elemente nicht mehr isoliert faßbar, d. h. sie gingen auch in der Vorstellung unter. Diese Wortgruppen sind ganz in den Bereich der erlebten Zeit eines Jetzt-Zeitraumes getreten 55 ." An anderer Stelle heißt es: „Mit wenigen Ausnahmen erwiesen sich alle Zeitbezeichnungen der sog. objektiven Zeit als überführbar in den subjektiven Bereich der Demonstrativa, in dem der Mensch Mittelpunkt ist 66 ." Für die Volkssprache im allgemeinen scheint Ähnliches zu gelten, wie R. Glasser 57 — 54
55 56 57
Georg Stötzel, D i e Bezeichnungen zeitlicher N ä h e in der deutschen Wortgeographie v o n ,dies Jahr' und ,voriges Jahr' ( = Marburger Beiträge zur Germanistik 5), Marburg 1963. A. a. O., 87 f. Stötzel, a. a. O., 90 f. Richard Glasser, D i e Zeit in der Volkssprache, IF 57 (1940) 178—192, hier 181.
1.2. Übersicht über den Gebrauch der vier Zeit-Substantive
97
allerdings in wenig präzisen Kategorien (schon der Begriff der Volkssprache 5 8 als solcher b e d ü r f t e näherer E r k l ä r u n g ) — d a r l e g t : „ W o die Volkssprache den Begriff der Stunde übernimmt, gebraucht sie ihn weniger als Längenbezeichn u n g denn als allgemeine u n d ungenaue Angabe des persönlichen Standortes in der Zeit." So sehr in all diesen Formulierungen Wesentliches umkreist wird, so sehr w i r d man sich v o r vorschnellen Verallgemeinerungen hüteji müssen. D e r Schluß v o n der Volkssprache bzw. v o m D i a l e k t auf die Hochsprache ist eine solche voreilige Generalisierung. In der n h d . Schriftsprache ist es gerade n i c h t gleichgültig, ob m a n sagt bis zu dieser Stunde, bis auf diesen Tag, in dieser Stunde. Jeder der Ausdrücke besagt Verschiedenes. (Am ehesten w ä r e n noch bis zu dieser Stunde u n d bis auf diesen Tag austauschbar, sofern Stunde wie Tag in der präpositionalen W e n d u n g bis... v o r allem die F u n k t i o n eines Grenzsignals haben, in dieser Stunde u n d bis zu dieser Stunde hingegen sind keineswegs austauschbar, wie sie w o h l ü b e r h a u p t n i e austauschbar w a r e n . H a n d e l t es sich doch u m zwei verschiedene F o r m e n der Deixis [auf die Frage , w a n n ? ' bzw. ,bis w a n n ? ' ] , die von A n f a n g der deutschen Überlieferung an geschieden sind u n d die w o h l in jedem ungestörten Kommunikationssystem geschieden sein müssen. Stötzel h ä t t e in seinen Beispielen jeweils n u r das Lexem, nicht aber auch die Präpositionen austauschen dürfen, w e n n die Austauschprobe einen Sinn h ä t t e haben sollen.) Die T e m p o r a l w ö r t e r der Schriftsprache sind zu klar auf genau umschriebene Begriffe festgelegt, als d a ß sie ohne semantische Differenzierung in deiktische W e n d u n g e n eingehen k ö n n t e n . Es w ä r e leicht, an einem m o d e r n e n deutschen T e x t z u demonstrieren, d a ß der E r z ä h l e r gezwungen ist, jeweils e i n e n bestimmten der v e r f ü g b a r e n Zeit-Termini gemäß den kontextuellen Bedingungen zu wählen, in diesem Augenblick, in dieser Stunde, an diesem Tag entsprechen jeweils verschiedenen Kontextsituationen, sind also keineswegs frei austauschbar. D e r V o r g a n g der semantischen Fixierung dieser W ö r t e r w i r d in den späteren von uns untersuchten Texten gerade noch in seinem Ansatz zu fassen sein. Eine A u f g a b e f ü r sich w ä r e es, die definitive Fixierung im Zuge der Ausbildung der n h d . Schriftsprache zu verfolgen. D a m i t sei nicht gesagt, d a ß alle Zeit-Termini des N h d . vollständig begrifflich determiniert w ä r e n . Doch beschränkt sich die ,unscharfe' V e r w e n d u n g der W ö r t e r auf Reliktpositionen o d e r stilistisch ausgezeichnete Sprechsituationen (dies gilt v o r allem f ü r manche Redeweisen mit Stunde u n d Weile). Die neuhochdeutsche Schriftsprache h a t eine ganze Reihe v o n präzisen Zeit-Ausdrücken (wie Zeitpunkt, Augenblick) ausgebildet, durch die die ältere, mehr oder weniger unscharfe A b g r e n z u n g der Zeit-Wörter zu einer eigentlichen Feldgliederung mit scharfen G r e n z e n umge-
58
7
Zu den verschiedenen Aspekten der Volkssprache' vgl. v o r allem Friedrich Maurer, Volkssprache. Gesammelte Abhandlungen, Beihefte zur Zeitschrift Wirkendes W o r t 9, Düsseldorf 1964. Burger, Zeit
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1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
staltet w u r d e : traditionelle unscharfe Begriffe w u r d e n durch den Drude der neuen präzisen Termini ihrerseits auf klar begrenzte Sinnbezirke festgelegt u n d gerieten in genau umschreibbare Oppositionen z u den neuen W ö r t e r n . V o n unserem Material aus müssen w i r somit formulieren: D i e Austauschbarkeit der Z e i t - W ö r t e r in der temporalen Deixis ist gerade C h a r a k t e r i s t i k u m der älteren Sprachstufe, w ä h r e n d das n h d . T e m p o r a l f e l d ganz neuen Gesetzen gehorcht. ( O b die Verhältnisse der älteren deutschen Sprache in den altertümlicheren M u n d a r t e n noch erhalten geblieben sind, w ä r e n u n noch einmal genauer z u untersuchen.) W e n n w i r diese Entwicklung ,sprachbiologisch' z u deuten versuchen, so ließe sich das ältere Stadium aus einer stärkeren V e r w u r z e l u n g der Sprache in den unmittelbaren Gegebenheiten der Sprechsituation interpretieren. Die neuere Sprache hingegen ist durch viele ,objektive' F a k t o r e n geprägt, die nicht mehr dem p r i m ä r e n K r a f t f e l d des Sprecher-Hörer-Verhältnisses entstammen, die aber auf die ¡trivialen' S t r u k turen der K o m m u n i k a t i o n zurückwirken.
1.3. D e r Z w i s c h e n b e r e i c h : w e r a l t u n d t a g M i t diesen beiden W ö r t e r n gelangen w i r in einen Übergangsbereich zwischen den Termini f ü r Zeit u n d denjenigen f ü r Ewigkeit. Mit gewissen Zonen ihrer V e r w e n d u n g überschneiden sie sich mit den behandelten Z e i t - W ö r t e r n , mit anderen Zonen reichen sie in den Bezirk der Ewigkeitsterminologie hinein, darüberhinaus aber decken sie spezielle temporale oder auch nicht-temporale Bedeutungsbereiche. Aus d e m semantischen Zwischenbereich heraus beeinflußt v o r allem weralt die weitere E n t f a l t u n g u n d Ausgliederung der Terminologie f ü r Zeit u n d Ewigkeit.
1.3.1. weralt D a s Bedeutungsspektrum von weralt im A h d . ist außerordentlich breit. Den Bestandteilen des Kompositums nach z u urteilen, h a n d e l t es sich ursprünglich u m ein Z e i t - W o r t (,Menschenalter, Zeitalter'), das aber in literarischer Zeit bereits weitgehend in nicht-zeitliche Bereiche übertragen w u r d e . K l u g e / M i t z k a f o r m u l i e r t : „Die D o p p e l b e d e u t u n g ,Welt' u n d .Zeitalter* l ä ß t sich schwer aus einer G r u n d f o r m begreifen: die zweite Bedeutung k n ü p f t an a n o r d . Qld, ags. y l d ,Zeitalter' a n ; die Bedeutung , W e l t ' . . . scheint auf N a c h b i l d u n g des diristl.lat. saeculum ,Zeitalter' z u beruhen." Diese These w i r d a n h a n d unseres Materials n a c h z u p r ü f e n sein. U m die Belege nicht sinnlos a u f z u h ä u f e n , seien vorwiegend die Stellen herangezogen, in denen weralt noch zeitlichen Sinn
1.3. Der Zwischenbereich:
wer alt und tag
99
hat, bzw. w o der Übergang z u r Bedeutung ,mundus' noch greifbar ist 59 . Vor allem ist darauf zu achten, welchen lat. W ö r t e r n außer saeculum weralt sonst entsprechen k a n n . In der IsiDOR-Übersetzung ist uueralt I n t e r p r e t a m e n t f ü r (1) saeculum, (2) mundus. Die Belege f ü r mundus (das sonst auch mit mittingart wiedergegeben wird) brauchen hier nicht diskutiert zu werden. Es spricht f ü r die Selbständigkeit des Isidor-Übersetzers, d a ß der Gebrauch von saeculum u n d weralt keineswegs identisch ist. Nicht nur greift uueralt über den Bereich v o n saeculum aus, auch saeculum selbst w i r d nicht einförmig wiedergegeben: Interpretamente f ü r saeculum
sind
(1) uueralt, (2) euuin, (3) f r u m i s c a f t . N e h m e n wir das letzte W o r t voraus, da wir uns im weiteren nicht mehr damit beschäftigen werden, frumiscaft (fem. i-St.) begegnet in der IsidorUbersetzung nur an einer Stelle: M 3 3 , 2 6 quia Christus ante saecula a p a t r e genitus est — Christus ae)r frumiscafti (uu)ard k a b o r a n f o n a fat(er)
hu(ueo
H i e r liegt eine ähnliche Interpretation des lat. Textes vor wie in M 33.13 (s. o. 56): ante saecula heißt f ü r den Übersetzer ,vor der (irdischen) Zeit', u n d das ist gleichbedeutend mit ,vor dem Beginn der Zeit'. In den sonstigen ahd. Texten ist das W o r t nur noch f ü r die Murbacher H y m n e n belegt, dort aber als I n t e r p r e t a m e n t von lat. primordium ,Anfang, U r s p r u n g ' : X X I V 2 Q u i mundi in primordio a d a m plasmasti hominem
ther uueralti in frumiscafti a d a m a n kascuofi m a n
Uber euuin w i r d gegebenen Ortes zu handeln sein. weralt — als I n t e r p r e t a m e n t von saeculum — bedeutet ,Welt' (wobei die E n t scheidung, o b diesseitige oder jenseitige Welt gemeint ist, dem determinierenden A d j e k t i v bzw. dem K o n t e x t zufällt) oder auch ,Weltzeit'. Der zeitliche Sinn ist aber nur in 1.13 deutlich e r k e n n b a r : ante omnia saecula filius genitus — ^r allem
uueraldim
A n dieser Stelle ist ante saecula ,wörtlich' übersetzt, obwohl es sich um den gleichen Zusammenhang handelt wie in M 33.13; dies erklärt sich vermutlich daraus, d a ß das A d j e k t i v a t t r i b u t omnia dem Ausdruck seine Formelhaftigkeit nimmt, w o m i t sich eine W o r t - f ü r - W o r t - U b e r s e t z u n g a u f d r ä n g t . s
" Für die räumliche Verwendung von w e r a l t vgl. Johanna S. Belkin, Welt als Raumbegriff im Althochdeutschen und Frühmittelhodideutsdien, ZfdSpr. 24 (1968) 16—59.
7*
100
1. Althochdeutsche
Texte
außer
Notker
Die beiden übrigen Belege bedeuten ,Welt' im biblisch-theologischen Sinne, ohne primär zeitliche Bedeutung: 22.13 et vocabitur nomen eius pater futuri saeculi zuohaldun uueraldi
— fater dhera
Die zukünftige Welt' ist das Jenseits. Wenn die .Zeit' des Jenseits, d. i. die Ewigkeit gemeint ist, gibt der Übersetzer lat. saeculum mit euuin (s. u. 155) wieder. 41.8 leo de seculi potestate — leo fona uueraltchiuualdidu Hier gibt seculi dem Substantiv potestas einen theologisch-weltanschaulichen Akzent; in dieser wertenden Funktion tritt weralt in anderen ahd. Texten des öfteren mit dem bewerteten Wort zu einem Kompositum zusammen. Der nodi zu diskutierende Signal-Charakter des Wortes (das Auf-diese-Welt-Hinzeigen) ist somit im Deutschen augenfälliger als in der lat. Vorlage, wo saeculum noch einen selbständigen lexematischen Wert hat. Wie der ahd. Isidor weisen auch die M O N S E E R FRAGMENTE eine erstaunliche Selbständigkeit der Übersetzungstechnik auf. Auch hier besteht keine Gleichung saeculum = weralt, denn mittigart kann gleichfalls für saeculum eintreten. Umgekehrt aber gilt die Implikation weralt saeculum. Die Verwendungsweisen entsprechen vor allem biblischem Sprachgebrauch, zumal in Ausdrücken des Typus consummatio saeculi. Ohne temporalen Sinn steht saeculumjweralt in der deiktischen Wendung 9, 17 (Mt 13, 22): solicitudo saeculi istius — sorge desera uueralti In der lat. Formulierung consummatio saeculi mag ursprünglich Temporales hineingespielt haben, wobei saeculum selbst mindestens a u c h temporal gemeint war. Die deutsche Übersetzung verlagert das temporale Moment einseitig auf die Wiedergabe von consummatio, das im Lat. zwischen ,Vollendung' und ,Ende', zwischen qualitativem und temporalem Sinn schwankt. Doch scheint der Übersetzer sich bewußt zu sein, daß consummatio mehr bedeutet als bloßes ,Ende'. So gibt er in einem Fall einen partizipialen Züsatz, in einem anderen ,Anlauf' setzt er statt enti das abstraktere entunga, das offenbar eine ad-hoc-Abstraktbildung darstellt (und erst wieder bei Notker belegt ist). Ob dann in weralt noch ein temporaler Sinn mitschwingt oder ob nur noch die ,Welt' im heilsgeschichtlichen oder auch profanen Verständnis gemeint ist, muß offen bleiben: 10.3
(Mt 13, 39) in consummatione saeculi — in ente uueralti
10.21 (Mt 13,49) in consummatione seculi — in demo galidontin enti uueralti 25.18 (Mt 28, 20) ad consummationem saeculi — untaz entunga uueralti Von allergrößter Eigenständigkeit ist die Wiedergabe von Mt 12, 32, einer Wendung, die auch im Tatian (62, 8) belegt ist:
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag neque in hoc seculo neque in f u t u r o — noh hear in uueralti euuin.
101 noh in
Wie der Isidorübersetzer (s. unter ,euuin' 155) spaltet dieser Text die beiden secuta lexikalisch auf — in einen innerweltlichen und einen ewigen Zeitbereich, und noch mehr als dies: die demonstrative Wendung des Lat. wird ersetzt durch die äquivalente Adverbialgruppe hear in uueralti. Der G r u n d liegt auf der H a n d : In der lat. Vorlage wird die Entgegensetzung durch die Opposition des Demonstrativpronomens gegenüber dem Adjektiv futuro geleistet. D a nun im Deutschen das zweite Glied der Opposition in ein Substantiv transformiert und damit stärker lexikalisiert wird, verliert im ersten Glied das ursprüngliche Oppositionskriterium seine Funktion. In späteren Texten wird dann ,diese Welt' zu einem stehenden Ausdruck, der auch ohne die zugehörige Opposition sinnvoll ist. In diesem Satz der Monseer Fragmente, aus der Frühzeit des Ahd., bereits die gesamte spätere Entwicklung des Wortbereiches um weralt in beschlossen. Von einer .Entwicklung' wird man also nur in dem Sinne chen dürfen, daß Dispositionen, die von A n f a n g der Überlieferung an da sich im Laufe der ahd. (und mhd.) Zeit zu voller Wirksamkeit entfalten.
liegt nuce spresind,
In der B E N E D I K T I N E R R E G E L sind saeculum und weralt i d e n t i s c h verwendet. Diese Gleichung ist bezeichnend f ü r den Stand der Übersetzungstechnik in der frühen Interlinearversion. An den Stellen (18), (30), (40) bedeutet saeculum stets ,diese irdische Welt', ohne faßbaren zeitlichen Sinn. Höchstens in (40) wäre vielleicht noch der Sinn ¡irdische Zeit' zu vermuten: vita in saeculo, quae humiliat corde ut a domino erigatur ad — in uueralti...
ze himile
(Der Gegensatz saeculum!caelum
caelum
... aber deutet auf eine unzeitliche Opposition.)
Eindeutig temporal aber ist die Stelle (47) aufzufassen, wo die biblische Formel in saeculum soviel bedeutet wie ,für alle Zeitalter, f ü r alle Zeit überhaupt': Confitemini domino, quoniam bonus, quoniam in saeculum misericordia eius — . . . in u u e r o l t i . . . (Diese Stelle ist bei Ibach in der Gruppe ,Zeit und Ewigkeit' nicht aufgeführt, wie überhaupt weralt nicht behandelt wird.) Die
MURBACHER HYMNEN
kennen das Wort in verschiedenen Bedeutungs-
schattierungen. weralt ist hier Interpretament f ü r (1) mundus, (2) saeculum. Alle Belege von saeculum sind mit weralt wiedergegeben, so daß die Implikation gilt: saeculum —» weralt. mundus ist räumlich, kosmisch verstanden, so d a ß die entsprechenden Belege unberücksichtigt bleiben können (die Stellen: I 12; V 2; VI 4; V I I 1, 4; X I X 1; X X 1, 5; X X I I 2, 6; X X I V 2, 6).
102
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
saeculum h a t drei hauptsächliche Bedeutungsrichtungen: (1) ,diese irdische Welt', nicht t e m p o r a l . D a h i n gehören die Stellen: IV 4 VIII 4 X 3
dolis nec cedant seculi iniquitas hec seculi ut eruat a seculo / q u o s . . .
fizusheitim noh henge uueralta u n r e t h desiu uueralti d a z a r r e t t e f o n a uueralti / dea
XIV 4 XXII 3 X X I V 15
dies abscedat seculi T e r r o r e uicto seculi T u es qui certo t e m p o r e daturus finem seculi
tak. kalide uueralti egisin kirichante uueralti t h u pist ther kiuuissemu zite kepenter enti uueralti
Die Übersetzung v e r f ä h r t durchgehend wörtlich. Bemerkenswert ist v o r allem, d a ß der deutsche T e x t auf den Zusatz v o n Artikeln ( D e m o n s t r a t i v p r o n o m i n a ) verzichtet. D a s w i r d f ü r diese Bedeutungszone von weralt in späteren Texten u n d e n k b a r sein. (2) .irdische Zeit': X V I I 3 qui Semper nos custodiant in omni uita seculi — in eocalihemu libe uueralti (wenngleich m a n auch hier übersetzen k ö n n t e ,Leben dieser Welt, in dieser W e l t ' ; doch scheint die insgesamt zeitliche Bestimmtheit des Satzes auch auf einen temporalen Sinn v o n saeculum zu deuten.) Unbestreitbar ist der t e m p o r a l e Sinn in X 4 et ante o m n e seculum et nunc et in p e r p e t u u m
inti f o r a eochalidiera
uueralti
inti nu inti euuon
Die drei Zeitbestimmungen zusammen umfassen als summierende Formel alle d e n k b a r e Zeit (und Ewigkeit). Ähnlich X X I V 1: qui es ante secula semper c u m p a t r e
ther pist f o r a filius
uueralti
simblum m i t f a t e r e sun
(3) ,Zeitdauer' ohne bestimmte Grenzen, ohne Einschränkung auf ,irdische Z e i t ' : X X I I 8 in sempiterna secula — in euuigo
uueralti
weralt ist somit ein sehr abstraktionsfähiges Z e i t - W o r t , das durch die jeweilige K o n t e x t d e t e r m i n a t i o n in seinem W e r t (Zeit oder Ewigkeit) festgelegt werden k a n n ; aber auch ohne solche direkte D e t e r m i n a n t e n geht weralt in Formeln ein, die die Gesamtheit aller Zeit u n d Ewigkeit z u umspannen suchen: V I 7 a seculis in secula — f o n a uueraltim in uueralti (,vom Beginn der Zeit bis in alle Ewigkeit', wobei ,Beginn der Zeit' bereits eine z u präzise Formulierung der unteren Grenze darstellt, gegenüber der laxeren pluralischen Formulierung des Lateinischen)
1.3. Der Zwischenbereich: iveralt und tag XXV a
in secuta secolorum
X X V I 12
Per singulos dies benedicimus te et l a u d a m u s nomen t u u m in seculum et in seculum seculi.
103
in uueralti uueralteo (,in alle Ewigkeit') t h u r a h einluze taga uuela quhedemes thih inti lobomes n a m u n t h i n a n in uueralti inti in uueralti uueralti.
Die hinter diesen lateinischen W e n d u n g e n stehende syntaktische Eigenart des Semitischen, das durch Wiederholung desselben Wortes im obliquen Kasus einen Steigerungs- u n d Intensivierungseffekt erzielt 60 , d ü r f t e dem a h d . Ü b e r setzer k a u m in ihrer grammatischen Wertigkeit b e w u ß t gewesen sein. Wie schon im Lateinischen selbst m a g auch im Althochdeutschen die H ä u f i g k e i t des Gebrauchs v o r allem in katechetischen Stücken u n d doxologisdien Formeln den an sich sprachfremden Ausdrucksweisen eine gewisse Verlebendigung gesichert haben. Dies zeigt v o r allem der nicht mehr an unmittelbare lat. V o r lagen gebundene Gebrauch der Formeln etwa bei O t f r i d . Bei der Formel in seculum et in seculum seculi / in uueralti inti in uueralti uueralti k ö n n t e m a n annehmen, d a ß das erste Glied des Ausdrucks (in seculum) auf die irdische Zeit u n d erst das zweite Glied auf die Gesamtheit aller Zeit ü b e r h a u p t b z w . auf die Ewigkeit zielt. Doch ist — mindestens f ü r die deutsche Formel — k a u m anzunehmen, d a ß eine solche Zweiteilung noch b e w u ß t gewesen w ä r e . Vermutlich h a t m a n den Ausdruck in seiner Gesamtheit als eine A r t hyperbolischer Umschreibung der ewigen D a u e r a u f g e f a ß t . D a ß auch saeculumjweralt alleine, ohne f o r m e l h a f t e Erweiterung, in der Bedeutung ,alle k ü n f t i g e Zeit, Ewigkeit' v e r w e n d e t w e r d e n kann, belegen zwei Stellen aus den ALTALEM. PSALMEN (wie auch die oben e r w ä h n t e Stelle [ 4 7 ] der Benediktinerregel): 295, 3
ex hoc nunc et usque in saeculum — f o n a nu inti uncin in uuerolt u n d 296, 3, w o der lat. T e x t vollständig derselbe ist: f o n a demo n u inti u n z a n in uuerolt I m T A T I A N steht weralt f ü r 1. orbis (auch = u m b i h u u e r f t ) 2. m u n d u s (sonst auch = mittilagarto, mittilagart) 3. saeculum mundus u n d orbis bezeichnen den räumlich-kosmologischen Aspekt der Erde, aber oft schon mit theologischer W e r t u n g (diese Welt, im Gegensatz z u m Jenseits). S t ä r k e r ausgeprägt ist die theologische A k z e n t u i e r u n g bei saeculum, Zu diesem Problemkreis vgl. Franz Kaulen, Handbudi zur Vulgata, eine systematische Darstellung ihres Sprachcharakters, Mainz 1870, 217 f.; Hinweis bei Emil Luginbühl, Studien zu Notkers Uebersetzungskunst, Diss. Zürich, Weida i. Thür. 1933, 27.
1. Althochdeutsche Texte außer
104
Notker
das z u d e m als einziges der drei L e m m a t a zeitlichen Sinn haben k a n n . W i r beschränken uns d a h e r wiederum auf die Belege f ü r weralt = saeculum61. Alle Belege f ü r saeculum Die Bedeutungen gliedern:
sind mit weralt
wiedergegeben.
lassen sich ähnlich wie in den Murbacher
Hymnen
(1) ,Welt' im biblischen Sinne, ,diese' o d e r ,jene' Welt, Diesseits oder Jenseits: 108, 4 filii huius saeculi — thiu kind therra uueraldi ähnlich 75, 3 sollicitudo saeculi istius — suorcfulli t h e r r o
uuerolti
In 127, 3 tritt sehr klar die doppelte Möglichkeit der Ausrichtung des Wortes in Erscheinung, die im Lat. durch die Opposition der P r o n o m i n a signalisiert w i r d : Filii huius saeculi... Illi a u t e m qui digni h a b e b u n t u r saeculo illo ... thiu kind therro uuerolti... therro uuerolti...
—
I m Deutschen ist der Gegensatz huius/illo nicht repräsentiert, so d a ß sprachlich ü b e r h a u p t keine Opposition realisiert ist. O h n e die lat. Vorlage w ä r e daher diese Stelle unverständlich. V o m lat. T e x t her ergibt sich die f ü r die Gliederung u n d Strukturierung auch des ahd. Wortschatzes wichtige Feststellung, d a ß ein u n d dasselbe W o r t durch eine V e r ä n d e r u n g der Blickrichtung, durch eine Verschiebung des Aspekts auf das Diesseits oder das Jenseits bezogen w e r d e n k a n n . D e r Gliederung des Wortschatzes (im Bibellateinischen) liegt demnach eine apriorische, weltanschaulich-deutende Zweiteilung des zeitlich Seienden voraus, die das v o r h a n d e n e W o r t g u t einer bestimmten Sehweise u n t e r w i r f t . D e r ahd. T a t i a n weist in diesem Fall das Musterbeispiel einer Vokabelübersetzung (ohne Rücksicht auf den K o n t e x t ) auf, die mit einsinnigen Wortgleichungen arbeitet, ohne auch die jeweilige Perspektive zu beachten. D a die beiden lat. D e m o n s t r a t i v p r o n o m i n a im Deutschen n u r e i n e unmittelbare Entsprechung haben, h ä t t e der Übersetzer den Gegensatz ins Substantiv selbst verlegen müssen, w o m i t aus der syntaktischen Opposition eine lexikalische geworden wäre. Die inhaltlich gleiche Entgegensetzung tritt auch in 62, 8 a u f . H i e r aber ist schon im lat. Text der Fall anders gelagert, d a der Gegensatz nicht in einer P r o n o m i n a l - O p p o s i t i o n , sondern in einer Opposition P r o n o m e n / A d j e k t i v besteht: qui autem dixerit contra spiritum sanctum, non remittetur ei neque in hoc sqculo neque in futuro — n o h in therro uuerolti noh in thero zuouuartun D e r Gegensatz zwischen Diesseits u n d Jenseits ist durch eine logisch nicht k o r r e k t e Opposition repräsentiert (deren Bedingungen später diskutiert w e r den, S. 303 ff.): hocjfuturo bzw. therro/thero zuouuartun sind nur d a n n als 61
Die Belege für mundus und orbis sind bei Köhler aufgeführt.
1.3. Der Zwischenbereich:
weralt
und tag
Gegensätze zu verstehen, wenn die grundsätzliche der ,Welten' bereits vorausgedacht ist, wenn sie der bereits als Schema zugrundeliegt. Die Pronomina und ser' und gegenwärtig' bzw. j e n e r ' und ,zukünftig' — des Schemas zu Synonymen.
105
theologische Zweiteilung sprachlichen Realisierung die Zeit-Wörter — f i e werden unter dem Druck
Über die möglichen temporalen Valenzen des Ausdrucks consummatio saeculi wurde bereits anläßlich der Monseer Fragmente gesprochen. Die TatianUbersetzung zeigt ein ganz ähnliches Ringen um den Gehalt dieser Wendung wie die Monseer Fragmente 6 2 : 77, 4 Sic erit in consummatione sqculi — in fullidu uuerolti 242, 3 Et ecce ego vobiscum sum omnibus diebus usque ad consummationem saeculi — unzan enti uueralti 76, 4 messis vero consummatio saeculi est — enti therro uuerolti In den drei Beispielen ist die lat. G r u p p e jeweils ganz verschieden wiedergegeben: Im ersten Fall wörtliche Transponierung, wobei der lexikalische Sinn von consummatio im Deutschen genau nachgebildet wird; im zweiten Fall bereits eine Deutung des lat. consummatio als temporaler Begriff ,enti' (dabei verlagert sich der zeitliche Sinn von weralt auf die Entsprechung von consummatio)-, im dritten Fall tritt zu der zeitlichen Deutung noch die deiktische Präzisierung des Attributes hinzu (,dieser' Welt). In 242, 2 könnte die — den vollen Sinn des lat. consummatio vereinfachende — Wiedergabe durch enti vom Kontext mit der vorausgehenden Zeitbestimmung omnibus diebus veranlaßt sein, in 76, 4 aber liegt kein einsichtiges Motiv f ü r die temporale Übersetzung vor. Vermutlich aber wird die schlicht temporale Deutung dem Verständnis der Stelle förderlicher gewesen sein als die (nur f ü r Tatian belegte) Neubildung fullida. Neben diesen nicht eindeutig als temporal zu interpretierenden Belegen von weralt gibt es einige sichere Beispiele f ü r zeitliche Bedeutung des Wortes: (2) ,Zeit überhaupt': 4, 15 Sicut locutus est per os sanctorum, qui a sqculo sunt — thie fon uuerolti uuarun (,vom A n f a n g der Zeit an', wobei die Präposition die Kennzeichnung des Beginns leistet) Auffällig ist die Wiedergabe von sunt durch das Präteritum uuarun. Die Vergangenheitsform schien sich dem Übersetzer aufzudrängen aufgrund des Kontextes, der sich auf Vergangenes bezieht (daß die Heiligen von Anfang der Zeit an ,sind' — nicht ,waren' —, leuchtete dem Übersetzer offenbar nicht ein). Jedenfalls wird gerade durch die abweichende Übersetzung des Verbs die temporale Geltung von saeculumlweralt bestätigt. 62
Über die ahd. Bildungen f ü r lat. consummatio und plenitudo in den idiomatischen biblischen Ausdrücken handelt Axel Lindqvist, Studien über W o r t b i l d u n g u n d W o r t w a h l im Althochdeutschen mit besonderer Rücksicht auf die N o m i n a actionis, PBB 60 (1936) 44 f.
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1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
132, 19 A saeculo non est auditum, quia aperuit quis oculos coeci nati — fon uuerelti. . . a saeculo non . . . ist Periphrase f ü r ,nie'. 4, 8 sicut locutus est ad patres nostros, Abraham et semini eius in sqcula — zi uuerolti (,für alle [künftige] Zeit', vielleicht auch ,bis in Ewigkeit'). Die längeren Formeln zur Umschreibung zeitlicher Unendlichkeit {in saeculum saeculi usw.) sind hier nicht vertreten. Doch gehört in saecula in den gleichen Rahmen (vgl. die Stellen aus den altalem. Psalmen). Das Bedeutungsspektrum von weralt reicht in O T F R I D S Evangelienbuch vom etymologisch zu erwartenden Sinn bis zur Verwendung in Ausdrücken, die nur aus biblischem Sprachgebrauch zu erklären sind, und greift in gewissen Zonen in Verwendungsweisen ein, die uns aus den vier Zeit-Wörtern bekannt sind. Das reiche Material läßt sich in die folgenden Bedeutungszonen aufgliedern: (1) weralt kann rein r ä u m l i c h aufgefaßt sein: ,Welt', ,Erde', z . B . in V 16, 23, wo durch die Variation mit woroltring der räumliche Sinn überdeutlich w i r d : Faret bredigonti so wit so thisu worolt si, joh kündet ellu thisu thing übar thesan woroltring. Weitere Beispiele erübrigen sich. (2) weralt bedeutet ¡Menschen', ,Gesamtheit aller Menschen', vor allem in der Wendung elliu worolt, z. B.: tho man allo wörolt zalta I 11, 55 (ähnlich I 23, 14 und öfter). Aber auch und gerade in dieser Zone hat weralt oft eine weltanschauliche Prägung: weralt als Gesamtheit aller sündigen, der Erbsünde unterworfenen Menschen, z. B.: dllera wörolti ist er lib gebenti I 5, 31 Tho druhtin thaz gimeinta, er thesa worolt heilta IV 2, 1 thie blasent hiar in lante, thaz worolt ufstante V 19, 26 thaz worolt missiworahta I 3, 49 besonders augenfällig durch den Parallelismus mit selon: ginadot er uns then selon j joh dllero wörolti I 3, 40 Die Bedeutungen (1) und (2) fließen zusammen in der Variation: Er ist giweltig filu f r a m joh hera in worolt zi uns quam, wüntarlichen thingon, hera untar mennisgon. I 3, 43 (3) In einigen Fällen mag z e i t l i c h e r S i n n hineinspielen, ohne aber dominant zu sein: . . . ni findet ir in w a r min, fon eristera wörolti, ther er io sulih worahti. I I I 20, 156 (,von Anfang der Welt an' oder ,von der ersten Zeit an')
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
107
. . . iz ni lesent scribara, t h a z jüngera wörolti sulih m 6 r d w u r t i . I 20, 24 O b der temporale Sinn der Formel allein durch das A d j e k t i v oder auch durch das Substantiv b e w i r k t wird, ist wie in der vorangehenden Stelle nicht auszumachen. N i s t ther io gihogeti in allem worolti I V 4, 23 (,in aller Welt' oder ,in aller Zeit') Das parallele A d v e r b io beweist weder etwas f ü r noch etwas gegen temporalen Sinn v o n worolt, da io u n d worolt entweder als temporale Äquivalente v e r w e n d e t sind oder aber zu einer raumzeitlichen Formel der Totalit ä t zusammentreten k ö n n e n . Ähnliches gilt f ü r die folgende Stelle, in der gleich zwei temporale Ausdrücke parallel a u f t r e t e n (io u n d emmizig): 2i wörolti io ginado m i n theih si emmiziger scälk thin I V 31, 36 In I I 23, 4 handelt es sich w o h l u m eine globalisierende Formel, sei sie nun temporal oder lokal oder auch raum-zeitlich in einem z u verstehen: N i d u a . . . w i d a r m a n n o nihein w i h t in worolti ¿lies, ni so t h u t h i r wolles I I 23, 4 63 So scribun uns in länte / m a n in worolti alte I 17, 27 alte bezieht sich (in Fernstellung) auf man, so d a ß das syntaktisch u m k l a m merte in worolti vielleicht auf die Zeit (Lebenszeit) oder Epoche dieser Menschen zurückweist (Kelle schlägt v o r ,in der V o r z e i t ' ) ; möglicherweise aber ist die Formel im gleichen Sinne zu verstehen wie im vorhergehenden Beispiel. Thes w i r d i t worolt sinn zi ¿widon blidu, joh äl giscafl thiu in wörolti thesa erdun ist o u h dretenti. I 1 2 , 1 2 Die beiden Verse l a u f e n teilweise p a r a l l e l : worolt sinn u n d al giscafl stehen w o h l in V a r i a t i o n ; u n d so w ä r e z u vermuten, d a ß auch zi ewidon u n d in worolti parallele Temporalausdrücke darstellen. D a n n k ö n n t e in worolti heißen ,in (aller noch ausstehenden) k ü n f t i g e n Zeit' (zi ewidon bezieht sich auf das ewige Frohsein der worolt, w ä h r e n d in worolti durchaus innerweltlich gemeint ist, w i e die V e r b a l g r u p p e thesa erdun ist dretenti nahelegt). Bemerkenswert ist, d a ß die Ausdrücke worolt sinu u n d in worolti nebeneinander stehen, anscheinend ohne als h o m o n y m e m p f u n d e n z u w e r d e n . Die Differenzierung ist vermutlich durch den Unterschied der syntaktischen F u n k t i o n u n d durch das Vorhandensein bzw. Fehlen einer D e t e r m i n a n t e geleistet (sinu / 0 ) . (4) A u ß e r diesen nicht eindeutigen Belegen f ü r temporale Geltung von weralt gibt es einige s i c h e r e F ä l l e , w o das W o r t z e i t l i c h e n Sinn h a t ; diese Stellen w i e d e r u m lassen sich aufgliedern in solche, die einen k o n k r e ten Zeitbezug meinen, u n d solche, in denen Zeit ü b e r h a u p t angesprochen w i r d : 63
Erdmann, 408, übersetzt: „durchaus nicht anders, als (so), wie du es für dich wünschest (forderst)." Gegenüber dieser ganz untemporalen Wiedergabe hat Kelle noch die temporale Interpretation ,jemals' (wie er auch in den beiden folgenden Belegen einen zeitlichen Sinn vorschlägt).
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1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
— ein individueller Zeitbezug drückt sich in der folgenden Wendung aus: thaz ih einluzzo
mina wörolt nuzzo I 5,40
(,meine Lebenszeit', ,die Zeit, die mir zur Verfügung gegeben ist') In dieser Verwendung berührt sich worolt mit individualisierenden Ausdrücken, wie wir sie etwa bei stunta kennenlernten (L 10 stunta mino u. ä.). Weitere Belege f ü r diesen ungewöhnlichen Gebrauch des Wortes fehlen. — ,Epoche 1 , auf die Frage ,wann?': thero förasagono ¿iner, Tie ju bi alten wöroltin then liutin w u n t a r zelitin I I I 12, 19 (,in alten Zeiten') — ,Zeitdauer', in der Wendung allo worolti ,alle Zeit, immer, fortwährend': Thaz er allo worolti zi in was sprechend joh io giheizenti, nu häbent sie iz in henti. I 7, 21 (iallo worolti steht hier in Variation mit io.) thaz si uns allo worolti si zi iru sune wegonti. I 7, 26 sin was man allo wörolti zi gote wunsgenti. I 11, 32 — ,Weltalter' bzw. ,Weltzeit' überhaupt: Sehsu sint thero fäzzo, thaz thu es weses wizo, thaz worolt ist gideilit, in sehsu gimeinit. II 9, 19 Die Stelle handelt von den 6 Weltaltern (im Bilde der 6 Fässer bei der Hochzeit von Kana), die zusammen die gesamte Weltzeit ( = worolt) ausmachen (vgl. Alcuin in Joh. pag. 483 64 : sex mundi aetates). Die Weltalter selbst können durch ein Kompositum mit weralt durch das Simplex selbst) repräsentiert werden:
(oder auch
Irsüachist thu thiu w u n t a r inti ellu wöroltaltar II 9, 21 N i tharft es dr6f duellen; wil thu alla wörolt zellen, sus maht thih al bithinken, in zuä wisun drenken . . . II 9, 89 Der letzte Beleg ist nicht leicht zu deuten. Vorher w a r von den Weltaltern die Rede, so d a ß worolt sicherlich temporal zu fassen ist. Doch macht es der Singular alla worolt fraglich, ob von den Weltaltern oder nicht vielmehr von der Weltzeit überhaupt die Rede ist. Im letzteren Falle aber ist schwer einzusehen, wie man diese Weltzeit .zählen' oder auch .aufzählen' will; es sei denn, man d ü r f t e übersetzen , j e d e s Weltalter' (was dem Wortgebrauch von al bei O t f r i d nicht k o n f o r m wäre). — Schließlich wird worolt schen und verwandten Ewigkeit verwendet: Fon ewon unz in ewon fori worolti zi wörolti 64
Hinweis bei Kelle.
in summativen Formeln, wie sie aus den bibliTexten bekannt sind, zur Bezeichnung der mit then drütselon, sin thih iamer löbonti. I I 24, 46
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
109
Die dreifache Bezeichnung des ,immer, für alle Ewigkeit' ist charakteristisch für Otfrids Kunst der Variation. Da die Verse das zweite Buch der Evangelienharmonie abschließen, darf man annehmen, daß den Ausdrücken fort ewon unz in ewon und fon worolti zi worolti eine gewisse liturgische Feierlichkeit eignet. Eine ähnliche doxologische Formel liegt vor in der Oratio, die Otfrid vor dem Schlußkapitel des ganzen Werkes einschiebt: joh sin thih saman löbonti
allo worolt worolti! Amen. V 24, 22
In den KLEINEREN DENKMÄLERN zeigt weralt die gleichen Verwendungsweisen, die wir bisher angetroffen haben: In weit überwiegender Zahl meinen die Belege (1) ,diese/jene Welt', gelegentlich (2) die ,Menschen in der Welt', selten hat weralt (3) zeitlichen Sinn. (1) und (2) gehen meist ineinander über, da die Menschen immer schon unter dem Aspekt ihrer Weltlichkeit, d. h. Sündhaftigkeit gesehen werden, und da die Weh durch den Sündenfall des Menschen zum Ort der Gottverlassenheit geworden ist: (1) und (2): Weiss. Kat. (6, 115) qui tollis peccata mundi (zweimal) — sunta uueraldi Muspilli (14, 30) hiar in uuerolti Muspilli (14, 36) in uuerolti Physiologus (27, 8) unser trotin, to er an der uuerilte mit menischon uuas Phys. (27, 35) über alle disa uuerilt (eventuell lat. in omnem terram) Phys. ( 2 7 , 1 1 0 ) die dir uberuoren unde vberuundan alliu diu uuideruuartdiü giuuel dirro uuerelde (als lat. Parallele kommt in Frage aeris (/. aevi) hujus, womit auch ein zeitlicher Sinn von weralt nicht ausgeschlossen wäre) Phys. (27, 108) Daz mere bezeihchenet dise uuerelt (hunc mundum) Bamberger Glauben (28, 137, 14) Christus an dirre Werlte lebeta Wessobr. Glauben (28, 137, 14) Christ an dirre uuerlte lebete Bamberger Beichte ( 2 8 , 1 4 8 , 4 ) unde miner meindatone der ist disiu werlt uol Predigtsamml. A (30, 3, 1) in disera uuerlte Predigtsamml. A (3, 5) in dirre uuerlte Geistl. Ratschläge (31, 21) mit den fursten dere uuerlte (huius mundi potentibus) Predigtsammlung B ( 3 2 , 1 , 1 7 ) Diu uuerlt ist fol dero, die dir habent den phaflichen namen Predigts. B (32, 2, 72) e der filius dei her in uuerlt chom Otlohs Gebet ( 3 5 , 1 0 ) in deser werolti Otlohs Gebet (35, 23) in demo du alle die werolt lostost (ungefähre Entsprechung: pro mundi salute) Altbair. Beichte (41, 309, 9) in deseru uueralti
1. Althochdeutsche
110
Texte außer
Notker
Altbair. Gebet (42, 310, 19 A ) in derru
uueroltti
Altbair. Gebet (42, 310, 19 B ) in desaro
uueralti
Altbair. Gebet (31 A ) du in desa uueralti Altbair. Gebet (31 B ) du in desa uuerolt
quami quami
Jüngere bair. Beichte (53, 11) daz er sider hien werelte
was uierzog
taga... J u n g . bair. Beichte (53, 7 ) daz er hien Werlte was warer g o t . . . St. Galler Glauben I (54, 3 bzw. 2 0 ) hio in uuerelte
— in enro
uuerelde
Die Veränderung der Blickrichtung wird durch eine Opposition Adverb/ Demonstrativpronomen angezeigt, wobei auch das Adverb deiktischen C h a r a k ter hat. Südd. Beichte (56, 6 2 ) daz du in dise werlt chome Südd. Beichte (56, 112) . . . daz si got bekere oder von der werlt neme. Alem. Glaube (57, 10) daz er an dirre Werlte was als ain ander mensche Wessobr. Glaube (59, 6) daz er in dirre Werlte
was als ain anderre
mennesche D a die unmittelbaren lat. Vorlagen in den meisten Fällen fehlen, lassen sich etwaige lat. Entsprechungen nur vermuten. Auch hier wird es sich — wie wir auch sonst beobachteten — um lat. mundus bei
der
folgenden
Gruppe
eindeutig
und vor allem saeculum
temporaler
Belege
handeln,
ausschließlich
um
saeculum:
(3): Weiss. Katechismus (6, 92, 9 3 ) : G o t i s t . . . er uueroldem
giboran, endi
man i s t . . . in uuerolti giboran (ante saecula — in saeculo) ,vor der Zeit — in der Zeit' oder auch ,vor der (Erschaffung der) Welt — in der Welt'. In diesem Satz geht die rein zeitliche in die schöpfungsgeschichtlichkosmologische Bedeutung über. Predigtslg. B ( 3 2 , 2 , 2 6 u. öfter) die uinf uuerlti
— die 5 Weltalter (vgl.
die entsprechenden Stellen bei O t f r i d ) . In den Belegen aus den Kleineren Denkmälern läßt sich eine Tendenz durch die ahd. Zeit hindurch verfolgen: die ständig deutlicher werdende Festlegung des Wortes weralt auf theologisch verstandene ,Welt' in der Alternative ,diese irdische' und ,jene jenseitige' Welt. D e r reine Zeitaspekt ist nur noch in den wenigsten Fällen vertreten. Die nicht zahlreichen GLossENbelege zeigen eine ähnliche Distribution wie die literarischen Denkmäler: (1) = mundus
(und Synonyme):
mundus — werlt I I I 204, 14 (Summ. H e i n r . ) [ 1 2 . 13. J h . ] mundus — werlt I V 151, 57 (Gl. Sal.) [ 1 3 . J h . ] cosmus. mundus — werlt/welt I V 214, 14 f. [ 1 1 . 12. J h . ] mundumque uacantem — io ti uuitun uueralt I I 2, 18 f. (Alcimus A v i tus 2 5 ) [ 1 1 . J h . ]
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
111
uacuum in orbem — in wita werlt II 685, 62 (Vergil G I 62) [12. Jh.] ad superas auras — heraci werilte II 676, 10 (Vergil G. IV 486) [12. Jh.] originali mundo — dero erkstun ( = eristun) uuflolti ( = uuerolti) I 793, 29 f. (2 Petr. 2, 5) [10. J h . ] (2 Petr 2 , 5 : Gott hat die a l t e W e l t nicht verschont — vor der Sündflut.) (2) =
saeculum:
— im Sinne des biblischen Weltverständnisses (ohne temporale Bedeutung): potentes saeculi — mahtike uueralti I 201, 37 (Abr.) [8. Jh.] sub sole — hier in veralti u. ä. I 545, 7 ff. (Eccles 1, 10) [10. 11. Jh.] Die letztere Stelle kann meinen ,hier auf Erden' in räumlich-kosmologisdiem Sinn; doch legt der biblische Kontext eine weltanschauliche Wertung nahe. Die deutsche Wiedergabe ist syntaktisch sehr frei, sofern sie die lat. präpositionale Wendung durch das deiktische Adverb hier präzisiert und das biblische ,unter der Sonne' in eine äquivalente Vorstellung (,in der Welt') transformiert. — in temporalem Sinne: a seculo — an uuoroldi IV 302, 45 (Joh 9, 32) Der Bibelvers lautet: a saeculo non est auditum, quia quis aperuit oculos caeci nati. ,seit die Welt besteht, seit Beginn der Welt'. Es fragt sich allerdings, ob die Glossierung den eindeutig temporalen Ausdruck des Lateinischen nicht in eine räumliche Vorstellung umdeutet. Die Präposition an dürfte sich eher auf Lokales als Temporales beziehen. Dann wäre die Glossierung zwar sinngemäß äquivalent, aber keineswegs wörtlich. (3) = tempus und aevum: ante tempora — er uueranti ( = uueralti) II 282, 55 (Gregor Horn. I, 10 p. 1469) [10. 11. Jh.] Diese Stelle ist im Lat. wie in der Glossierung ohne Zweifel temporal zu verstehen, ebenso wie die folgende, in der weralt merkwürdigerweise für den recht abstrakten Temporalbegriff aevum eintritt: ?ui — uueralti I 587, 27 (Eccles. 18, 8. 43, 6) [11. Jh.] Ecclesiasticus 18, 8: Numerus dierum hominum ut multum centum anni, quasi gutta aquae maris deputati sunt; et sicut calculus arenae, sie exigui anni in die aevi. ,am Tag der Ewigkeit' Eccles. 43, 6: Et luna in omnibus in tempore suo, ostensio temporis, et signum aevi. ,Zeichen der Ewigkeit' In beiden Fällen bedeutet also aevum .Ewigkeit' (für griech. aiön). weralt in der Glossierung ist vielleicht ein Versuch, etwas wie ,Zeit überhaupt' mit deutschen Sprachmitteln wiederzugeben (aevum heißt sonst eher ,die einem
112
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Lebewesen zukommende Zeit' u. ä., s. u. 134; so könnte wer alt als eine A r t Lehnübersetzung verstanden werden, die aber nicht mehr wäre als eine ,Vokabelglossierung').
Zusammenfassung Überblicken wir die nicht immer leicht zu analysierenden Belege f ü r so lassen sich einige auffällige Erscheinungen herausheben:
weralt,
1. Es bieten sich eine Reihe von Fällen an, wo das Wort eindeutig in zeitlichem Sinne gemeint ist. Alle diese Verwendungsweisen haben eines gemeinsam: das F e h l e n d e s A r t i k e l s . Die einzige Stelle, wo worolt in temporalem Sinn als Satzsubjekt fungiert ( O t f r i d II 9, 19), ist ebenso artikellos wie die zahlreichen adverbialen Formeln, in denen worolt anzutreffen ist. N u n ist dieses Merkmal aber kein eindeutiges Kriterium f ü r temporale Bedeutung, weil — vor allem in den interlinearen Texten — auch die übrigen Verwendungsweisen des Wortes den Artikel nicht benötigen (entsprechend der lat. Vorlage). Doch sind die wenigen Beispiele, wo das Deutsche eine leichte Verschiebung gegenüber dem lateinischen Text zeigt, symptomatisch: Unter den Belegen aus der Benediktinerregel, die im Lat. sämtlich artikellos sind, tritt an einer Stelle der deutsche Artikel auf (30): saeculi actibus se facere alienum —• dera uuerolt05 tati(m) 66 sih tuan andran. D a sonst weralt in der Benediktinerregel als femininer i-Stamm erscheint, würde der Genitiv mit der Endung -i eine hinreichende Abgrenzung gegenüber dem D a t . pl. tatim gewährleisten. Somit — falls die Stelle nicht verderbt oder mißverstanden ist — wird es sich um eine semantische Verdeutlichung handeln. Gemeint ist eben ,diese' Welt im theologisch abwertenden Sinne, wie der Kontext zeigt. Die Tendenz, auf die irdische Welt als ,diese' Welt hinzudeuten, wird besonders evident in den liturgisch-katechetischen Kleineren Denkmälern. Hier tritt entweder das Demonstrativpronomen zum Substantiv hinzu oder ein gleichfalls demonstratives (deiktisches) Adverb der Ortsbestimmung (hiar in weralti oder her(a) in weralt). Die gleiche Erscheinung wird faßbar in den drei Übersetzungsversuchen der Monseer Fragmente f ü r lat. consummatio saeculi (s. o. 100). Während der Sinn ,diese Welt' — anfangs zaghaft und sporadisch, auch gegen die lat. Vorlage — später ganz selbstverständlich durch deiktische Ausdrücke wiedergegeben wird, bewahrt sich weralt noch längere Zeit ein t e m p o r a l e s R e s e r v a t in artikellosen, fast ausschließlich adverbialen und meist formelhaften Wendungen. Bei N o t k e r werden wir dann beobachten können, wie auch diese formelhaften Ausdrücke aufgelöst werden und wie worolt auch hier seines zeitlichen Sinnes entkleidet wird. 65 66
Für die endungslose F o r m des Gen. Sg. vgl. Braune, A h d . Gr., § 218, A n m . 2. Die Ausgaben von Steinmeyer u n d D a a b weisen beide die Form t a t i a u f ; im Glossar aber setzt Ursula D a a b (ohne Begründung) den D a t . pl. t a t i m an.
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
113
2. D a ß worolt in der frühen und mittleren Zeit des Ahd. nicht nur in Nachbildung lateinischer Formeln temporalen Sinn haben kann, zeigen die Wendungen, wo das Wort sich mit den anderen, bereits besprochenen ZeitTermini semantisch überschneidet. Solche freie Verwendung begegnet charakteristischerweise in erster Linie bei O t f r i d , der ja nicht unmittelbar an eine lat. Vorlage gebunden ist; die hauptsächlichen hier zu nennenden Typen des Gebrauchs sind: — bi alten woroltin — allo worolti — mina worolt — worolt .Weltzeit' bzw. .Weltalter' Aufschlußreich wäre es, wenn sich unsere Beschreibung der temporalen Deixis auch an diesem Wort erhärten ließen. Doch kann natürlich der eine einschlägige Beleg nicht beweiskräftig sein. Immerhin weist die betreffende O t f r i d Stelle (III 12,19) den typischen Numerusgebrauch der temporalen Deixis auf: Plural als Numerus der Indifferenz, der Neutralisierung des lexikalischen Sinnes. bi alten woroltin meint eben nicht ein bestimmtes ,Weltalter', eine bestimmte Epoche, sondern ,alte Zeiten' ohne nähere Präzisierung. Für den adverbialen Gebrauch des Ausdrucks allo worolti .immer, f o r t w ä h r e n d ' spielt der Plural eine vergleichbare Rolle: nur durch Aufhebung des präzisen Wortsinnes kann worolt in einen Kollektivausdruck eingehen, der an das Verbum und dessen temporalen H o r i z o n t gebunden ist (allo worolti bezeichnet ja nicht ,alle denkbare Zeit [Zeiten, Epochen]', sondern ein situationsgebundenes ,immer', .fortwährend' u. ä.). In späterer ahd. und vor allem in mhd. Zeit gehen diese Möglichkeiten der Verwendung des Wortes verloren — Symptom f ü r das Schwinden der temporalen Komponente des Wortes überhaupt. 3. In den Übersetzungstexten der älteren Zeit — mit Ausnahme der erstaunlich selbständigen Isidor-Übersetzung und der Monseer Fragmente — wird lat. saeculum immer durch weralt wiedergegeben. Diese Implikation ist aber nur einseitig, da weralt noch f ü r eine Reihe weiterer lat. Ausdrücke eintreten kann, weralt übernimmt also alle Funktionen des lat. saeculum, greift darüberhinaus aber noch in weitere Bedeutungsbezirke aus. weralt scheint von allem Anfang der Überlieferung an K e n n w o r t f ü r das christliche WeltVerständnis gewesen zu sein — in allen seinen epochalen und theologischen Aspekten. Vergleichen wir nun die Aussagen von Kluge—Mitzka: „Welt f. mhd. weit, meist werlt, älter werelt, ahd. weralt, worolt (das mhd. ahd. Wort hat noch die ältere Bedeutung .Zeitalter'), asächs. werold .irdisches Leben, Zeitalter', anl. werolt(d) .saeculum'; afries. warld, wrald, ags. w(e)orold (daraus entlehnt anord. verQld), engl, world haben die nhd. Bedeutung. Die Doppelbedeutung ,Welt' und ,Zeitalter' läßt sich schwer aus einer G r u n d f o r m begreifen: die zweite 8
Burger, Zeit
114
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Bedeutung knüpft an anord. (jld, ags. yld ,Zeitalter' an: die Bedeutung ,Welt' (got. alds kann allein ,Welt' bedeuten) scheint auf Nachbildung des christl.-lat. saeculum ,Zeitalter' zu beruhen. Als erstes Glied der Zusammensetzung gilt das unter Wergeid und -wolf angezogene germ. *wera- (älter *wira-) ,Mann, Mensch' in got. wair, anord. verr, ags. asächs. ahd. wer ,Mann'. Damit urverw. air. fer, lat. vir, aind. virä, lit. vyras ,Mann'." Wenn hier von einer ,Doppelbedeutung' des ahd. Wortes die Rede ist, so ist dies zu sehr etymologisch, zu wenig vom ahd. Sprachzustand her gesehen. Von Beginn der literarischen Überlieferung an lassen sich die vielfältigen Bedeutungsschattierungen des Wortes aus einer einheitlichen Sicht begreifen: Unter dem Einfluß des bibellat. saeculum, das seinerseits eine ganz ähnliche Entwicklung durchgemacht hat wie das dt. Wort, entfaltet sich weralt vom ursprünglichen Sinn ,Menschenalter' zu einem umfassenderen Begriff der ,Epoche', des ,Zeitalters'. J a noch stärker als das lat. Wort wird weralt zum terminologischen Zentrum für alle Begriffe, die den christlichen W e l t begriff umkreisen. Von einer ,Doppelbedeutung' des Wortes kann also in den Anfängen der Übersetzungsprosa und selbst bei Otfrid noch nicht die Rede sein. Zeit, Raum und Menschen der ,Welt' sind zunächst nur verschiedene Aspekte des gleichen theologisch gewerteten Begriffes. Erst im Lauf der ahd. und mhd. Zeit fächert sich die Bedeutung des Wortes in zwei getrennte Zonen auf, was sich in den für die beiden Zonen typischen Kollokationen zeigt. Während aber das Wort im Sinne der irdischen Welt grammatisch-syntaktisch frei verfügbar bleibt, wird weralt im temporalen Sinn in formelhafte Ausdrücke abgedrängt. D a es in diesen Wendungen in Konkurrenz mit weniger belasteten' Wörtern gerät (vgl. unter ,ewa'), ist es damit zum allmählichen Absterben im Bereich der ZeitWörter verurteilt. Dies aber ist eine Entwicklung, die nicht mehr nur aus lat. Vorbildern zu erklären, sondern als ein intern deutscher sprach- und geistesgeschichtlicher Vorgang zu begreifen ist. Die Formeln nämlich, in denen der temporale Sinn am längsten erhalten bleibt, greifen in den Bereich der Ewigkeitsterminologie aus und geraten damit in jene Entwicklung hinein, die zur Ausbildung eines vom Zeit-Wortschatz abgehobenen Ewigkeits-Wortschatzes führt. Von dort aus wird der Gebrauch von weralt noch einmal zu erörtern sein. Um aber die Basis für eine solche Betrachtung zu schaffen, seien die semantischen Bereiche, die durch temporales weralt belegt sind, systematisch aufgeführt: (a) ,konkrete' Zeitausdrücke (unter 2. aufgeführt) (b) Zeitabschnitt ohne feste Grenzen (Epoche im generellsten Sinne, etwa , Weltzeit'): fora uueralti ,vor der Zeit'
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
115
f o n a n u inti uncin in uuerolt u. ä. ,von jetzt an f ü r alle Zeit* f o n w o r o l t i zi w o r o l t i i • • i • r t o n e uueraltim in uueralti
t
,von allen Zeiten in alle Zeiten'
in uueralti inti in uueralti uueralti — f ü r alle Zeit bis ins Unendliche in euuigo uueralti ,in ewige Zeiten' Die längeren Formeln, in denen zeitliche Unendlichkeit ausgedrückt werden soll, sind ,summativ' in zweifachem Sinne: (1) e n t w e d e r fassen sie alle d e n k b a r e Zeit in einer A r t K l a m m e r f o r m z u s a m m e n : ,von aller Zeit — bis in alle Zeit' oder (2) sie ,addieren' die Zeiten, wobei der — aus dem Semitischen ins Griech., Lat. u n d Deutsche übernommene — tautologische Ausdruck in uueralti uueralti w o h l die Fortsetzung der A d d i t i o n ins Unendliche anzeigen soll (wenigstens soweit er ins deutsche Sprachempfinden integriert ist). Möglich w e r d e n diese Verfahrensweisen dadurch, d a ß weralt nicht Zeit schlechthin meint, sondern gemäß seiner H e r k u n f t ,epochale Zeit', ,Epoche', allerdings ohne festgesetzten A n f a n g s - u n d E n d p u n k t . G e r a d e dieser Rückhalt in einem ursprünglich konkreten Epochenbegriff befähigt das W o r t , einem D e n k e n , dem der abstrakte Begriff der Ewigkeit noch f r e m d ist, die Vorstellung unendlicher Zeit durch endlose A d d i e r u n g endlicher Zeitabschnitte zu vermitteln. Der einzige Fall, w o der C h a r a k t e r der unendlichen D a u e r nicht durch dieses ,primitive' V e r f a h r e n evoziert, sondern durch einen Ewigkeitsterminus angezeigt w i r d , ist eine genaue Wiedergabe eines lat. Vorbildes (Murbacher H y m n e n X X I I 8 in sempiterna secula — in euuigo uueralti). weralt n i m m t demnach innerhalb der Zeit- u n d Ewigkeitsterminologie eine m e r k w ü r d i g e Zwischenstellung ein: D e r größte Verwendungsbereich des Wortes liegt a u ß e r h a l b des rein Temporalen. U n d innerhalb der zeitlichen Bedeutungszone ist weralt von A n f a n g an n u r schwach im Bereich der übrigen ZeitBegriffe v e r a n k e r t . Anscheinend ist die ,etymologische' Bedeutung ,Menschenalter' schon z u stark auf .Epoche' hin abstrahiert, als d a ß das W o r t in größerem U m f a n g in die gängigen Gebrauchstypen der Zeit-Wörter einzutreten vermöchte. D e r Großteil der temporalen Belege gilt denn der Wiedergabe solcher lat. Ausdrücke, die die Vorstellung unendlicher Zeiterstreckung vermitteln. weralt bildet demnach eine eigentliche K l a m m e r zwischen den Wortbereichen für Zeit und Ewigkeit. 4. Entsprechend den lat. Vorbildern begegnen die summierenden Formeln vorzüglich in Texten, die sich stark an den alttestamentlichen Sprachgebrauch anlehnen (vgl. die A u s f ü h r u n g e n über den Ewigkeitswortschatz des Alten Testamentes, u. 130 ff.): H y m n e n , Psalterübersetzung, in doxologischen W e n dungen bei O t f r i d (auch der doxologische Wortschatz des N e u e n Testamentes, v o r allem Paulus u n d die Apostelgeschichte, h a t den Sprachgebrauch des Alten Testamentes übernommen). Beim Studium der späteren Texte, die ja immer
1. Althochdeutsche Texte außer
116
Notker
weniger an bestimmte Vorlagen gebunden sind, wird es aufschlußreich sein zu beobachten, bei welchen Gelegenheiten solche Formeln auftreten und ob sie noch die gleiche formale und semantische Struktur beibehalten. Die n e u t e s t a m e n t l i c h e n Texte verwenden saeculum aber primär in alternativen Wendungen .diese Welt' / ,die künftige Welt' u. ä. Von hier aus ist es zu begreifen, wenn später auch in die temporalen Formeln mit weralt diese Alternative eindringt und das ursprünglich addierende Verfahren auflöst in theologisch präzisere Termini. Dies wird anläßlich der Notkerschen Psalterübersetzung und -kommentierung zu untersuchen sein. Einen bedeutsamen Ansatz zu lexikalischer Scheidung der saecula im temporalen Sinne bot ja bereits die Isidor-Gruppe.
Ableitungen von weralt — Komposita mit weralt Eindrücklich tritt die weltanschauliche Prägung von weralt in der Adjektivableitung weraltlih in Erscheinung. Das Wort ist belegt in der Benediktinerregel, bei Otfrid (nicht im Tatian und in der Isidorgruppe, nicht in den Hymnen), öfters auch in den Kleineren Denkmälern und in Glossen. Benediktinerregel (125): saecularibus — uuerultlihciiem (saeculares
= ,Weltleute', im Gegensatz zu .Geistliche')
Otfrid: . . . thaz selba woroltlicha
ser V 1 4 , 1 2 (der Schmerz, das Elend der
Welt, das durch Christus überwunden wurde) Physiologus ( 2 7 , 6 1 ) : den fiant, der des mannis muot spenit ze din
uuerilt-
lihen lusten Wessobr. Beichte (28, 142, 27 W ) : in demo flize uuerltlichero
uuercho
Geistl. Ratschläge ( 3 1 , 2 4 ) : Vbe du durch got firmanen uuellest dia
uuerlt-
lichen uuideruuartiga, so pilide Paulum Predigtslg. B (32, 2, 24): Vuir nesculen nieth üoben die irdisgen acchera durh den uuerltlichen rihtuom, suntir durh den rihtuom des euuigen lonis. Durch das Synonym irdisg und die Opposition euuig wird uuerltlih in seinem Sinn genau eingegrenzt (irdisg meint die konkrete Seite dessen, was in werltlih theologisch gewertet wird), ebda (3, 14): die uuerltlichen scazze ebda (3, 23): die uuitiuun, die sih . . . inziehint dere uuerltlichen
vuunne . . .
ebda (3, 37): nieth mera nimac unser niheinir chomen in daz himelrih, uuir niuuerdan kiluteret durh die fillate des uuerltlichen
truobesalis.
Süddeutscher Glaube (56, 10/11): . . .unde iuch behuote uor houpthaftigen sunden und uor werblichen
schänden
In allen diesen Belegen ist weraltlih durchweg ein negativ wertendes Prädikat, Name für das .Weltliche' dieser Welt, das der Sünde Verfallene der
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
117
Schöpfung, schließlich das der Ewigkeit Entgegengesetzte, das Vergängliche, der Zeit Unterworfene. Typisch sind die determinierten Substantive: Schmerz, Gelüste, Werke, Widerwärtigkeiten, Reichtum, Schätze, Annehmlichkeiten, Trübsal, Schande — lauter Begriffe, die die Schein-Freuden und den Jammer des Irdischen, dieser Welt benennen. Wie das Grundwort meint auch das Adjektiv nicht etwas rein Temporales, sondern enthält das Temporale in sich als Charakteristikum der ,Welt' im umfassenden Sinne. Wie schon bei Adjektivableitungen von anderen Zeit-Wörtern zu beobachten war, bringt das Adjektiv die jeweilige besondere Bedeutungsnuance des Grundwortes stärker zum Tragen als dieses selbst. Vorab das Suffix -lih, das in ahd. Zeit wohl noch einen Rest seiner ursprünglichen (freien) Bedeutung bewahrt hat, dient dazu, die spezielle Q u a l i t ä t eines Substantivs ins Adjektivische zu überführen. werltlichi seit Notker.
— das substantivische Abstraktum zu werltlih
— begegnet erst
Auch in den GLOSSEN ist das Adjektiv werltlih belegt, durchweg f ü r Lemmata, die die beschriebene weltanschauliche Akzentuierung aufweisen: carnalis — uueroltlih II 269, 49 (Gregor Horn. I 2) [10. 11. Jh.] carnales — uueraltliho II 268, 18 f. (Gregor Horn. I 2) [10. 11. Jh.] ciuilis — uueraltlih II 148, 60 (Conc. Carth. XV) [9. Jh.] mundana — uueratlich (sie) II 772, 23 [10. 11. Jh.] exterioribus — uueroltlihen u. ä. II 276, 23 f. [10. 11. Jh.] (Gregor Horn. I 6, p. 1454) carnalibus — uueraltlihen II 277, 64 (Gregor Horn. I 7, p. 1456) [10. 11. Jh.] gymnosophistas — spilouvisun vueroltvuis u. ä. II 461, 10 ff. (Prud. 403) [11. Jh.] maleficos — vueraltvuisa I 659, 22 ff. (Daniel 2, 2) [10. 11. 12. Jh.] Ebenso wie in der Ableitung weraltlih tritt auch in den K o m p o s i t a , die weralt als Bestimmungswort enthalten, der weltanschauliche Sinn des Wortes noch deutlicher hervor als im Simplex selbst. Vor allem Otfrid und Notker weisen eine Fülle solcher Bildungen auf, die zum großen Teil ad hoc geprägt sein dürften, weralt ist in diesen Kompositionen eine Art Signal f ü r die Wertigkeit des Grundwortes. Unter den worolt-Komposita bei O T F R I D findet sich eine Reihe weltanschaulich gefärbter Bildungen; sie seien hier nur mit je einem Beleg aufgereiht (wenn die zitierte Stelle der einzige Beleg ist, wird sie durch * ausgezeichnet): III 15, 26
worolt-era ,weltliche Ehre' Ni gilöupton, so se sc61tun, thie thaz fon imo wöltun, in imo was in m£ra thisu woroltera.
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
Firsäget er in thaz g i z ä m i . . . worolt-kuning Christus:) III 26, 39*
,irdischer König' (im Gegensatz zu
Thanne woroltkuninga sterbent bi iro thegana, in wige iogilicho dowent theganlicho: So sint se alle g i r r i t . . . Starb afur therer noti (i. e. Christus), er unsih s ä m a n o t i . . . worolt-lib ,Leben auf Erden'
V 12, 93*
Wio er lerta druta sine
I 18,41*
worolt-lust ,Lust der Welt, böse, sündhafte Lust' Innan thines herzen kust ni läz thir thesa woroltlust, fliuh thia geginwerti
III 14, 86
worolt-ruam ,Ruhm der Welt, eitler Ruhm* In suslicha redina so sänt er zuelif thegana (ni thoh zi woroltruame), zeichan ouh zi diianne.
hiar in wöroltlibe
worolt-sahha IV 21, 18* . . . rihi min nist hinana; iz nist, soso ih thir rächon, fon thesen woroltsachon vgl. Joh 18, 36 regnum meum non est hinc (Vulg. de hoc mundo). Der Plural des Wortes gilt hier als Inbegriff aller weltlichen .Sachen', als Inbegriff des Weltlichen überhaupt. w o r o i t _ s c a n t a Schande für alle Menschen' II 2, 20* thaz was nu woroltscanta, thaz sinan nirkanta vgl. Joh 1,10 in mundo erat, et mundus per ipsum factus est, et mundus eum non cognovit. , . D worolt-slihti II 2, 17* £ r quam in girihti in thesa wöroltslihti, in thiz lant breita, äl soso er gimeinta. Die Stelle ist nicht leicht zu deuten. Am ehesten scheint mir Erdmanns Übersetzung den Sinn des Ausdrucks zu treffen: ,Ärmlichkeit dieser irdischen '
worolt-tbing
Verhältnisse dieser Welt'
H 120*
biscöwo thir io umbiring ellu thisu wöroltthing Der Ausdruck ist etwa äquivalent dem obigen worolt-sahha.
V 14, 16*
ni bin furdir ih mit männon
worolt-unda
.Weltgewoge' in thesen wöroltundon.
Das biblische mare wird von Gregor dem Großen (homil. 24) folgendermaßen allegorisch gedeutet: mare praesens seculum significat, quod se causarum tumultu et undis vitae corruptibilis illidit; per soliditatem litoris illa perpetuitas quietis aeternae figuratur; quia igitur discipuli adhuc fluctibus mortalis
1.3. Der Zwischenbereich:
weralt und. tag
119
vitae intererant, in mari laborabant; quia autem redemptor noster jam corruptionem carnis excesserat, post resurrectionem suam in litore stabat; ac si ipsum resurrectionis suae mysterium rebus discipulis loqueretur dicens: jam vobis in mari non appareo, quia vobiscum in perturbationum fluctibus non sum. Das Meer ist somit Bild der Vergänglichkeit des Irdischen, die Gregor in einer langen Reihe von eindringlichen Wendungen umkreist, während das Gestade für die Ruhe und Festigkeit der Ewigkeit zeugt. Neben diesen wertenden Bildungen verwendet Otfrid eine Reihe von woro/t-Komposita, in denen worolt — ohne weltanschaulichen Akzent — den Bereich angibt, in dem das Grundwort Gültigkeit hat, bzw. auf das es sich erstreckt; diese Wörter seien ohne Belege vorgeführt (wenn sie nur einmal bezeugt sind, sind sie wiederum durch * ausgezeichnet): *worolt-dat ,Tat, Handlungsweise der Menschen' :f worolt-floum ,weiche Masse der (innern) Erde' (Diese Übersetzung Erdmanns entspricht besser der räumlichen Ausdeutung der Teile des Kreuzes, wie sie in V 1 durchgeführt ist, als Keiles ,Nichtigkeit, Vergänglichkeit der Welt') *worolt-krefti .Kräfte der Welt' worolt-lant,Erdreich' worolt-liuti .Völker der Welt, Menschen' "•worolt-magad .irdische Jungfrau' (aber auch hier spielt ein gewisser Gegensatz zur .göttlichen' Jungfrau hinein: I 6. 7 Giwihit bistu (Maria) in wíbon joh untar wóroltmagadori) worolt-man .irdischer Mensch, Mensch auf Erden' (auch hier spielt gelegentlich die Gegenüberstellung mit Christus hinein) worolt-menigi .Menschenmenge' worolt-rihhi .irdisches Reich' (in II 4, 82 mit abwertendem Akzent bei der Versuchung Christi durch den Teufel: Tho fuar er thuruh suorga mit imo hohe berga, thar ougta in analihi imo ellu woroltrichi.) worolt-ring ,Weltkreis' worolt-thiot .alle Menschen auf Erden' *worolt-zuht,Erhaltung der Welt' o. ä. In manchen dieser Fälle hat worolt fast nur noch allgemein generalisierende Funktion. Schließlich ist worolt in mehreren Komposita Bestimmungswort für einen Zeit-Ausdruck, ohne aber selbst temporalen Sinn zu haben: worolt-altar,Weltalter' (II 9, 21* Irsúachist thu thiu wúntar inti ellu wóroltaltar) worolt-enti .Ende der Welt' (räumlich wie zeitlich) worolt-frist (vgl. unter ,frist', o. 28) worolt-zit
1. Althochdeutsche Texte außer
120
(II 8, 5* N i w a r d io in wóroltzitin besteht'])
...
Notker
,irdische Zeit' [,solange die Welt
Viele der a u f g e f ü h r t e n K o m p o s i t a sind n u r einmal belegt. D a r a u s ist z u entnehmen, d a ß die äußerst p r o d u k t i v e n Bildungen worolt + X meist dem m o m e n t a n e n Stilwillen des Dichters z u v e r d a n k e n sind, worolt scheint f ü r O t f r i d zu einem frei v e r f ü g b a r e n Signal (mit generalisierender b z w . v o r allem weltanschaulicher Funktion) geworden z u sein, das weniger eigene .Bedeutung' hat, als vielmehr den Stellenwert des zweiten Gliedes in einem bestimmten W e r t u n g s z u s a m m e n h a n g anzeigt. Die übrigen ahd. D e n k m ä l e r v o r N o t k e r weisen bedeutend weniger weraltK o m p o s i t a auf — entsprechend der geringeren Eigenständigkeit dieser Texte. T A T I A N kennt nur ''uueralt-uuolo-. N o n potestis deo servire et mammonae uueroltuuolun (37, 2).
— ni m u g u t ir gote thionon inti
mammona w i r d an zwei anderen Stellen mit dem Simplex uuolo wiedergegeben. D a ß an unserer Stelle worolt als Determinans hinzutritt, erklärt sich aus dem K o n t e x t : der Gegensatz deo e r f o r d e r t ein deutlicher wertendes u n d einordnendes Gegenüber, als es das Simplex uuolo darstellt. In den beiden anderen Fällen w i r d aber mammona bereits im Lateinischen durch ein A d j e k t i v {iniquus 1 0 8 , 5 ) bzw. ein G e n i t i v a t t r i b u t (iniquitatis 1 0 8 , 4 ) in seinem genauen Sinn bestimmt. Die Isidor-Ubersetzung, die Monseer Fragmente, die Benediktinerregel wie die Murbacher H y m n e n kennen keine weralt-Komposita.
so-
In den K L E I N E R E N D E N K M Ä L E R N begegnen zwei Zusammensetzungen, die schon bei O t f r i d belegt w a r e n : weralt-rihhi Georgslied ( 1 9 , 5 ) : Ferliez er uuereltrike, keuuan er himilrike (wereltrike also in unmittelbarem Gegensatz z u ,Himmelreich') weralt-zit
steht
Z u m Ausdruck v o n ,Zeit ü b e r h a u p t ' , ,irdische Zeit ü b e r h a u p t ' geht weralt eine V e r b i n d u n g mit zit ein: Bamberger Glaube (28, 136, 9): D e n einan waren trohtin got alemahtigen gloub ich uor allen werltzitan dohie wesenten. D e m V o r k o m m e n des Ausdrucks in einem katechetischen Stück ist einiges Gewicht beizumessen: O f f e n b a r ist alleinstehendes weralt in dieser spät-althochdeutschen Zeit nicht mehr fähig, einen reinen Zeitbezug auszudrücken, wie es in den älteren Texten (Murbacher H y m n e n , Isidor) in inhaltlich entsprechenden W e n d u n g e n noch möglich w a r . M a n k ö n n t e sich die Entwicklung dieser Stelle im Beichtformular (aus der Sippe des Wiener N o t k e r ) so vorstellen: Auf älterer Stufe stand hier einmal eine W e n d u n g wie fora uueralti (so Murbacher H y m n e n X 4) oder er allem ueraldim (so Isidor), später b e d u r f t e das im zeitlichen Sinn unscharf gewordene weralt der Verdeutlichung durch zit. Die Lei-
1.3. Der Zwiscbenbereich: weralt und tag
121
stung von weralt innerhalb der neuentstandenen Komposition ist nun aber eine veränderte: weralt ist zum Signal des Irdischen geworden — im Gegensatz zum Ewig-Jenseitigen — und präzisiert damit den Sinn von zit. Über den Bestand von weralt-Komposita hinaus, die bei Otfrid vorliegen, begegnen in den Kleineren Denkmälern noch drei weitere: weralt-minna Bamberger Glaube (28,147, 2): Ich bin sculdig in . . . aller
werltminno.
Der Ausdruck ist innerhalb des Beichtformulars deutlich negativ akzentuiert. Allerdings ist die syntaktische Fügung des Kompositums wohl anders zu verstehen als in den übrigen Beispielen. Während es sich sonst um Determinativkomposita mit verdeutlichendem, präzisierendem oder einordnendem ersten Glied handelt67, ist weralt-minna wohl als Genitivkomposition mit Genitivus objectivus im ersten Glied68 zu betrachten, mit der Bedeutung .Liebe zur Welt'. Diesem ähnlich in der Bedeutung, doch syntaktisch gebaut wie die Großzahl der weralt-Komposita ist das im gleichen Text und gleichen Zusammenhang (Sündenregister) erscheinende werltwunne (28, 146, 35). Die umstrittenen weroltrehtwison des Muspilli (14, 37) sind bis heute nicht endgültig gedeutet69. Eines aber scheint mir gesichert: Ob worolt- bereits im Original stand oder ob es später eingefügt wurde — jedenfalls stellt es im weiteren Kontext den Gegensatz zu goimanno her, womit erneut der beschriebene Signal-Charakter des Wortes bestätigt wird. Falls es jüngere Interpolation wäre, würde dies unsere These stützen (die noch genauer zu erläutern sein wird), daß sich im Laufe der ahd. Zeit die naiv-christliche Zweiteilung der ,Welten' immer deutlicher in Wortschatz und Syntax ausprägt. Auch die GLOSSEN weisen eine Reihe von weralt-Komposita auf. Dort bezeichnet weralt entweder den (rechtlichen) Gegensatz weltlich gegenüber geistlich, oder aber — und dies in überwiegendem Maße — weralt hat die Funktion des weltanschaulichen Signals: iuris publici — uueraltea II 345, 48 (Is. de Off. 2, 20 p. 457) [9. Jh.] cloacis — xfltgangxn ( = weltgangun)? II 4 6 5 , 4 (Prud. 722) [11. Jh.] ambitioni — uueraltkiridu IV 323, 50 (Conc. Sard. I) appetitu exteriori — uueraltgiridu II 284, 15 ff. (Gregor Horn. I 12, p. 1477) [10.11. Jh. J 67
88 69
Vgl. die Beispiele für ,verstärkende' Komposition bei W a l t e r H e n z e n , Deutsche Wortbildung, 3., durdigesehene u. ergänzte Aufl., Tübingen 1 9 6 5 , § 3 0 . Z u m endungslosen Genitiv vgl. wiederum Braune, A h d . Gr., § 2 1 8 , A n m . 2. C o l a Minis, Handschrift, F o r m und Sprache des Muspilli (Philologische Studien und Quellen, Heft 3 5 ) , Berlin 1 9 6 6 , 5 6 , betrachtet w o r o l t als jüngere Interpolation, die den regelrechten Stabreimbau störe. Vgl. H e r b e r t Kolb, dia weroltrehtwison, Z f d W f . 18 ( 1 9 6 2 ) N . F . 3, 8 8 — 9 5 . K o l b übersetzt: ,die Kundigen des weltlichen Rechts'.
122
1. Althochdeutsche
Texte außer
Notker
cijnodoxiq — des uuerolthrumes siuhto II 347, 4 ff. (Is. de Off. 2, 16, p. 472) [9.10. Jh.] carnalium — vueraltmanno II 182, 5 f. (Gregor Cura Past. 2, 5) [10. 11. Jh.] carnalium — vueroltmanno II 257, 40 [11. Jh.] in huius mundi successibus — uueroltslunigi II 229, 74 f. (Gregor Cura Past. 3, 26) [9.10. Jh.] Dieser letzte Beleg zeigt eine Tendenz an, die auch andern Orts zu beobachten sein wird: wo das lat. Vorbild eine Attributivgruppe (mit mundus oder saeculum als Attribut) verwendet, bildet das Deutsche ein Kompositum, in dem weralt die Rolle des weltanschaulichen Signals spielt. pompis — uueraltspil II 343, 56 (Is. de Off. 2, 2 p. 414) [9. Jh.] philosophando — after uueraltsprachl sprechamo II 743, 30 f. (Passio Caeciliae 190a) [10. Jh.] sapientia — vueroltvuistuome II 286, 12 ff. (Gregor Horn. 113, p. 1485) [10. 11. Jh.] scrimium — uueraltèra II 251, 54 (Gregor Dial. 1, 8) [10. 11. 12. Jh.] Bezeichnend für diese ganze Beleggruppe ist es, daß der lat. Text nur in den seltensten Fällen ein unmittelbares Vorbild für die theologische Wertung anbietet; erst die Glosse macht die implizite Akzentuierung explizit.
1.3.2. tag Vorab bedarf es einer Klarstellung: Man hat den Gegensatz Tag/Nacht als ein elementares "Wortfeld angesprochen, als Musterfall einer natürlich gegebenen und in der Sprache sicher verankerten Feldpolarisierung. Nun wird aber bei flüchtigster Betrachtung der gesprochenen Sprache auffallen, daß Tag keineswegs ausschließlich, ja nicht einmal überwiegend in diesem Feldzusammenhang verwendet wird. Am Tag, als der Regen kam und Der Tag X und eines Tages enthalten keineswegs einen irgendwie ,mitgemeinten' Gegensatz zu Nacht, sondern benützen Tag als Signal für einen bestimmten Zeitpunkt u. ä. Daß die ursprüngliche Bedeutung des Wortes einmal das Helle im Gegensatz zur Dunkelheit der Nacht meinte, ist anzunehmen 70 . Mit dem Einsetzen schriftlicher Denkmäler aber sind bereits die meisten der Geltungsbereiche des Wortes vorhanden, die seine heutige Verwendung charakterisieren. In unserem Zusammenhang interessieren vor allem die Texte, in denen Tag in irgendeiner 70
Kluge/Mitzka 767: „Grundbedeutung von germ. *daga- scheint etwa ,lichte (Zeit)' gewesen zu sein. Idg. Wz. *degu: ':"döguh in aind. dähati . b r e n n t ' . . E i n e strukturelle Untersuchung von Tag/Nacht in der Gegenwartssprache bietet Hans Jürgen Heringer, „Tag" und „Nacht". Gedanken zu einer strukturellen Lexikologie, Wirkendes Wort 18 (1968) 217—231.
1.3. Der Zwischenbereich:
123
weralt und tag
Form zum Ausdruck von ,Zeit überhaupt' oder gar von ,Ewigkeit' herangezogen wird. Entscheidend für den Sprachgebrauch der ahd. Texte ist — bei diesem Wort in viel höherem Maße als bei anderen Zeit-Termini — die biblische Verwendung von dieslr}\i£oa. U m diesen Bereich des biblischen Wortschatzes völlig zu begreifen, müßte man auf die hebräischen Vorbilder zurückgehen, da hebräische Idiomatik hier bis in die neutestamentlichen Texte prägend hineinwirkt. Ich halte mich an das im Theologischen Wörterbuch unter riuipa Dargestellte 71 : Die Schöpfungsgeschichte behandelt Tag und Nacht nicht gleichwertig. „Der Tag ist eine Wirkung des sonderlich geschaffenen Lichtes, die Nacht hingegen noch ein Teil der chaotischen Finsternis, die in die kosmische Ordnung hineinragt und sich vom Licht abgrenzt 72 ." Die Assoziationsreihe Gott-Licht-Tag ist somit bereits durch Gen 1 gegeben. Wie aber alle Tage, alle Zeit durch Gott geschaffen sind, so gibt es auch einen Tag, der Gott in besonderem Maße eignet: der ,Tag Jahwes'. Dies ist nicht nur der immer wiederkehrende Sabbat, sondern vor allem der ,Tag' der eschatologischen Erwartung, der in den verschiedenen prophetischen Büchern auf verschiedene Art vor Augen geführt wird. „Eine schrittweise Entwicklung der Erwartung des Jahwetages ist nicht feststellbar, die Vorstellungen vom Gericht, von naturmythologischen Ereignissen, politischen Katastrophen bleiben sich auffallend gleich73." Der neue A e o n (s. u . 3 0 3 ff.) w i r d bei d e n P r o p h e t e n d u r d i es kommen Tagen,
zu jener
Zeit
Tage,
in
jenen
a n g e d e u t e t 7 4 . N e b e n diesen e x k l u s i v - j ü d i s c h e n A u s d r ü c k e n
steht Tag auch in umgangssprachlicher Verwendung f ü r ¡Lebenszeit' u. ä. Die Septuaginta und das Neue Testament übernehmen alle diese Gebrauchsweisen, wobei die Vulgata sich genau an die Vorlage hält. So wird r\\iegaldies im Neuen Testament hauptsächlich in den folgenden Bedeutungen und Kollokationen eingesetzt 75 : — natürlicher Tag, der durch Sonnenaufgang und -Untergang eingeschlossen wird,,Licht-Tag' — Tag von 24 Stunden Termin eines Vorgangs, Ereignisses usw., vor allem Gerichtstag, Tag des Jüngsten Gerichtes, z. B. f] f)[iEQa f) agyalri -toi ftsoü (Apk. 16,14) (in Anlehnung an das alttestamentliche ,Tag Jahwes') — allgemein ,Zeit': (a) im Singular: mit wertenden oder sonst präzisierenden Attributen, z. B. EV F P E Q I J I acjTi]P[ag (2 Kor 6, 2) 71
72 73 74 75
Gerhard v. R a d / G e r h a r d Delling, r|ueoa, Theol. Wörterbuch zum Neuen Testament (hrg. von G. Kittel) II, Stuttgart 1935, 945—956. A. a. O., 946. A. a. O., 948. A. a. O., 949. Nach Bauer, a. a. O., 683 ff.
1. Althochdeutsche
124
Texte außer
Notker
oder fifiegav tt)v E|xr)v ( J o h 8, 56)
(b) im Plural: — ,Epoche', vor allem ,Lebenszeit', z. B. Iv t]|xegais 'Hpcböou (Mt 2,1. Lk 1, 5) &jt6 TCÜV F ] | I E ( X I > v Tcodvvou (Mt 11,12) itäaaig xal; r]|i£puig f||xa>v (Lk 1, 75),unser ganzes Leben lang' — mit qualifizierenden Bestimmungen i]H£oai tr.Öixr'iaEtug (Lk 21, 22) ,Zeit der Rache' f | F I E Q A I JIOVEQCU (Eph 5,16) ,schlimme Zeiten' — alttestamentlicher Sprachgebrauch spiegelt sich in der idiomatischen Wendung ,die Tage erfüllen sich, werden voll', z.B. Lk 2 , 2 1 EJIW)aör|aav fiuipcu oy.xo) t o i J I E Q I T E [ X E I V avzov ,8 Tage waren um, so daß er beschnitten werden mußte' — an je einer Stelle des Alten und des Neuen Testamentes begegnet die eschatologische Wendung i]ui(ja aiwvo;, im lat. unterschiedlich wiedergegeben: Ecclesiasticus 8, 8 et sicut calculus arenae, sie exigui anni in die aevi™. 2 Pet 3, 18 Ipsi gloria et nunc, et in diem aeternitatis. Im alttestamentlichen Beispiel ist — wie aus dem Kontext eindeutig hervorgeht — die zeitliche Unendlichkeit des künftigen Aeons gemeint: der ,ewige Tag' ohne Ende, ,der Tag, der die Ewigkeit ist'. Die gleiche Bedeutung dürfte auch für die Stelle des Petrusbriefes anzusetzen sein". Zum Spezifischen der biblischen Tag-Vorstellung gehört auch der Gedanke, daß mit der Auferstehung Jesu die T a g e s h e l l e angebrochen ist, die das Dunkel (des Bösen) durchdringt. Vgl. Rom 13,12 f.: N o x praecessit, dies autem appropinquavit. Abiiciamus ergo opera tenebrarum, et induamur arma Iuris. Sicut in die honeste ambulemus . . . Auch 1 Thess 5, 5 omnes enim vos filii Iuris estis, et filii diei: non sumus noctis, neque tenebrarum. Die Christen sind „Söhne dieser Lichtzeit", sie haben „an deren Helligkeit teil, von ihr ist ihre gesamte Existenz durchleuchtet 78 ". Auf den Glauben bezogen ist die Tageshelle in 2 Pet 1, 19. Das Lichthafte des Tages, das schon in der Schöpfungsgeschichte seine besondere Qualität erhielt, wird im Neuen Testament zum Zeichen der neuen Seinsweise des durch Christus und seine Heilstat geweihten Gläubigen. ,Tag' ist somit im biblischen Kontext prädestiniert für qualifizierende Bestimmungen und stärker als andere Zeit-Wörter auf Individualisierung und Wertung hin angelegt. 76
77
78
Vgl. die oben aufgeführte Glossenstelle I 587, 27, wo merkwürdigerweise a e v u m durch u u e r a l t wiedergegeben ist. Wohl weniger wahrscheinlich ist eine Alternativdeutung, die Bauer, a. a. O., vorschlägt: ,Tag, an dem die Ewigkeit anbricht'. Delling, Theol. Wb. II, 956.
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag
125
Für unsere Fragestellung ist von besonderer Wichtigkeit, d a ß ,Tag' im Sprachgebrauch der Bibel ein äußerst weites V e r w e n d u n g s s p e k t r u m hat, das bis in abstrakteste Bereiche spannt. V o r allem der ,Tag der Ewigkeit' w i r d bereits in der frühchristlichen Theologie z u m A n l a ß einer tiefsinnigen Ewigkeitsspekulation, die durch V e r m i t t l u n g v o n N o t k e r s P s a l m e n k o m m e n t a r auch in die deutsche L i t e r a t u r Eingang findet (s. u. 252 ff.). Die ahd. werden:
Belege sollen
in
einer
repräsentativen
Auswahl
dargeboten
I m ahd. ISIDOR vertritt tag lat. dies (und biduum u. ä.), im N u m e r u s jeweils dem Lat. entsprechend, dies bezeichnet einen bestimmten Tag, T e r m i n (in die illa 12.2 u n d 42.20); der P l u r a l (dies veniunt 39.5) steht f ü r ,Epoche' u n d ,Lebenszeit', mit den b e k a n n t e n K o l l o k a t i o n e n : dies veniunt 39.5; in diebus eius 39.9; repleti f u e r i n t dies tui 39.19; cumque impleveris dies tuos 37.10. Den gleichen Wortgebrauch spiegeln die MONSEER FRAGMENTE: in illo die 7.30; post tribulationem dierum illorum 19.2; als Rückweis auf vergangene Epochen: in diebus p a t r u m n o s t r o r u m — in unserero f o r d r o n o tagum 18.9. I m bildhaft-poetischen Stil der MURBACHER HYMNEN begegnet tag/dies häufig als Gegensatz zu Nacht, parallel z u r Opposition Sonne/Finsternis, hinter der letztlich der sinngebende Gegensatz G o t t / W e l t oder H i m m e l / H ö l l e steht. So heißt es v o n G o t t : Dies dierum aius es — tac tago uuiher bist II 5 dies dierum inluminans — tak tago leohtanter I I I 1 lux ipse totus et dies — leoht er selbo aller inti tak I V 1 Christe, qui lux es et die christ du der leoht pist inti take noctis tenebras detegis dera n a h t finstri intdechis X V I 1 G o t t ist Tag, sofern er L i c h t ist. Dies geht über die biblische Vorstellung v o m ,Lichttag', wie wir sie in der Schöpfungsgeschichte u n d den Briefen des N e u e n Testamentes fassen konnten, hinaus. G o t t selbst ist Licht, u n d er läßt den Menschen an seinem Licht partizipieren. A n diesen G e d a n k e n , der sich natürlich bruchlos aus der Schöpfungsgeschichte u n d den anderen biblischen Aussagen über das Licht des Glaubens usw. herleitet, k n ü p f t sich eine Theologie des Lichtes an, deren H a u p t l i n i e n im Z u s a m m e n h a n g der E r k l ä r u n g des ,ewigen Tages' (s. u. 252 ff.) skizziert w e r d e n sollen. A n allen genannten Stellen übersetzt die Interlinearversion selbstverständlich m i t tag, wie ü b e r h a u p t dies (mit den V a r i a n t e n meridies, triduum) u n d tag einander völlig entsprechen. So auch in der Bedeutung ,bestimmter Tag, T e r m i n ' ( I I I 7 laetus dies hic; V I 1 uenturus diei iudex) u n d in den zusammenfassenden P a a r f o r m e l n nocte ac die — nahte ioh tage ( X V I 2) u n d per singulos dies benedicimus te — thurah einluze taga ( X X V I 12), die nicht so sehr die D a u e r , als die ständige Wiederkehr, Repetition einer H a n d l u n g anzeigen. D e n gleichen Wortgebrauch zeigen die ST. PAULER LUKASGLOSSEN: usque in diem ostensionis (730, 5); nocte ac die — (ta)ges enti nahtes (735, 47). Die Lukasglossen sind in der Ü b e r -
1. Althochdeutsche Texte außer
126
Notker
Setzung der P a a r f o r m e l freier als die H y m n e n , sofern sie f ü r den lat. Ablativ den deutschen adverbialen Genitiv einsetzen, w ä h r e n d die H y m n e n mit dem grammatisch entsprechenden Kasus operieren. D a r ü b e r h i n a u s betreffen die Lukasglossen die zugleich q u a n t i t a t i v e u n d qualitative bibl. R e d e v o n der , E r f ü l l u n g ' der T a g e : impleti sunt dies — eruulte (uua)run (ta)ga ( 7 3 0 , 4 4 u n d 733, 11); consummatisque diebus — enti keenteotem t a g u m ( 7 3 6 , 1 9 ) . I m P l u r a l bezeichnet dies, präzisiert durch quantitatives A d j e k t i v , die Lebenszeit: in diebus multis (quae v i x e r a t cum viro suo) — (ta)gum m a n a g e m ( 7 3 5 , 2 9 ) ; im ALEM. P S A L T E R erscheint pluralisches dies f ü r ,Lebenszeit' mit individualisierendem Possessivpronomen: in diebus meis — in tagen minen (295, 8). In der B E N E D I K T I N E R R E G E L steht tag f ü r dies u n d feria, Kollokationen wie in den Murbacher H y m n e n : (65) (33 (107) (66)
in
ähnlichen
per singulos dies — d u r u h einluze taga u. 44) die noctuque — tages indi nahtes die noctuque — tages ioh nachtes cunctis diebus — allem tagum
Die Übersetzung v o n per singulos dies ist identisch mit derjenigen der Murbacher H y m n e n , w ä h r e n d die Wiedergabe v o n die noctuque den Kasus der Lukasglossen aufweist. Die P a a r f o r m e l des T y p u s Tag und Nacht ist ein eigentlicher Gradmesser f ü r den jeweiligen S t a n d der Übersetzungstechnik. U n t e r den bisher a u f g e f ü h r t e n Beispielen repräsentieren die Lukasglossen mit A b s t a n d die selbständigste Stufe: nicht n u r setzen sie den Genitiv statt des sonst f ü r den lat. A b l a t i v gebräuchlichen Dativs, auch in der Wortstellung weichen sie v o m Lat. ab — was im R a h m e n einer Interlinearversion besonders a u f f ä l l i g ist. Die Formulierung tages enti nahtes d ü r f t e somit a m ehesten dem ahd. Sprachgefühl entsprechen, da sie a m wenigsten vorlagegebunden ist. D a z u stimmt auch der Sprachgebrauch O t f r i d s (s. u. 128). A m engsten halten sich die Murbacher H y m n e n an die Vorlage, w ä h r e n d die Benediktinerregel den Kasus ä n d e r t (über die Wortstellung läßt sich hier nichts aussagen, da bereits der lat. T e x t die Reihenfolge T a g — N a c h t aufweist). Die ,Lebenszeit' w i r d in der Benediktinerregel expressis verbis durch eine A t t r i b u t i v g r u p p e ausgedrückt: (16) huius vitae dies —
desses libes
taga.
Einmal steht der Plural f ü r gewertete (Lebens-)Zeit: (13) dies bonos — taga cuate In der TATIAN-Ubersetzung sind dies u n d tag identisch v e r w e n d e t . V o n den überaus zahlreichen Belegen seien n u r wenige herangezogen, um die typischen Verwendungsweisen v o r z u f ü h r e n : — ,Termin', sehr häufig präzisiert durch D e m o n s t r a t i v a oder a t t r i b u t i v e Bestimmungen, wie in themo selben tage oder dies oportunus — tag gilumphlih (79, 4), ferner ,Tag der Auferstehung, des Gerichts' usw.
1.3. Der Zwischenbereich:
weralt und tag
127
— ,Zeitepoche', wie in tagun Herodes (2,1) oder venient dies — quement taga (56, 6). In allen Belegen für den letzteren Typus (,es kommen die Tage, d a ß . . . ' ) entsprechen die deutschen anknüpfenden Konjunktionen genau den lat. Vorbildern (56, 6 cum — mit thiu; 116, 6 et — inti; 144,2 in quibus — in then; 145,2 quando — thanne; 201,3 in quibus — in thendir). — ,Lebenszeit', im Plural: framgigiengun in iro tagun (2, 2); aber auch im Singular, gemäß typisch biblischem Sprachgebrauch: ut videret diem meum — thaz her gisah minan tag (131, 24); pluralisch ferner in Wendungen wie ,die Tage erfüllen sich' usw. — in der Paarformel des Typs Tag und Nacht, die nicht einen 24stündigen Tag meint, sondern meist die Dauer, Kontinuität und ständige Wiederholung einer Handlung anzeigt: die ac nocte — tages inti nahtes (7, 9 und 122, 3) nocte ac die — nahtes inti tages (53, 5 und 76,1) Die Reihenfolge der Substantive richtet sich genau nach der lat. Vorlage, während der Kasusgebrauch sich vom lat. Text löst. — in Wendungen mit dem Adj. al, die die Totalität einer Zeitdauer (der Lebenszeit oder auch der irdischen Zeit überhaupt) bezeichnen: serviamus i l l i . . . Omnibus diebus nostris — thionomes imo . . . allen unsaren tagun (4, 16) ecce ego vobiscum sum omnibus diebus usque ad consummationem saeculi — senu ih bin mit iu allen tagon unzan enti uueralti (241, 3) In O T F R I D S Evangelienbuch III 23,35 wird im Anschluß an Joh 11, 9 f. und Joh 8, 12 die Nachfolge Christi als ,Wandeln im Lichte' dargestellt; dabei kreist der Gedanke um den Tag als ,Lichttag': So wer so ddges gengit, giwisso er ni firspirnit, want er sih mit then öugon förna mag biscowon; Drof ni zuivolot ir thes, biginnit er es nahtes, ni er blintilingon werne joh sero firspurne! Mir, quad er, so folge ther rehto gangan wolle . . . Vgl. Joh 11,9 f. si quis ambulaverit in die, non offendit, quia lucem hujus mundi videt; si autem ambulaverit in nocte, offendit, quia lux non est in eo. Und Joh 8,12: Iterum ergo locutus est Iesus, dicens: Ego sum lux mundi: qui sequitur me, non ambulat in tenebris, sed habebit lumen vitae. Diese beiden Johannes-Stellen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen, hat Otfrid zu einem Ganzen verknüpft, womit die ,Tageshelle' zur umgreifenden Metapher des Glaubens und der Nachfolge Christi ausgestaltet wird. (Der Passus Joh 11, 9 f. steht im Zusammenhang der Lazarus-Erzählung und spricht dort vom In-der-Welt-Sein Christi und seiner Unanfechtbarkeit.) Auffallend häufig verwendet Otfrid dag im Singular wie im Plural im Sinne von ,Lebenszeit'; dafür nur wenige Beispiele:
128
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
dag im Singular setzt Otfrid (wie die Tatian-Übersetzung) entsprechend dem Bibelvers Joh 8, 56 ( . . . ut videret diem meum): Abraham ther älto
er blidta sih thes härto,
er thes sih muasi fröwon,
then minan dag biscowon ( I I I 18, 50)
und Vers 51: Gisah er dag minan . . . Aber auch in einer nicht unmittelbar durch die biblische Vorlage bedingten Stelle begegnet singularisches dag im gleichen Sinne: thaz Krist er druagi in henti er sines ddges enti I 15, 6 (vgl. Lk 2, 26 non visurum se mortem, nisi prius videret Christum Domini.) Häufiger aber sind Ausdrücke wie alle daga mine (I 7, 5), mina daga inti ellu jar (I 2, 56), thie daga sin (L 35), in denen dag pluralisch verwendet ist. Das idiomatische ze stnen dagon queman bedeutet bei Otfrid wie auch sonst erwachsen werden', wobei etwas vom Kairos des Menschen mit hineinspielt. In all diesen Stellen ist das Zeit-Wort durch das Possessivpronomen individualisiert — auf die Bedeutung ,Lebenszeit' oder auch auf ,den für einen Menschen entscheidenden Zeitpunkt' hin. In den folgenden Versen scheint noch der ursprüngliche Sinn, sozusagen die Genese der Wendung zi sinen dagon queman durch: Ther iro küning jungo ni mid iz io so lango, thaz wig er ni firbari, in thiu sin zit wari. Er gisceintaz filu främ, so er zi sinen dagon quam; tho goz er bi ünsih sinaz b l ü a t . . . I 20, 31 ff. sin zit und zi sinen dagon können hier nahezu als variierende Ausdrücke gelten, die beide den Kairos Christi umkreisen. Der bloße Genitiv von dag steht öfters adverbial für ,täglich'; im gleichen Sinne ist auch der Ausdruck über dag verwendet, der daneben noch im wörtlichen Sinne, ,den Tag über', eingesetzt werden kann. Auch die Paarformel dages inti nahtes als Ausdruck der Kontinuität und Iteration fehlt nicht ( 1 1 6 , 1 3 ; I V 7, 84), wobei Wortstellung und Kasus dem genuin deutschen Sprachgebrauch entsprechen dürften (vgl. die parallelen Stellen der Interlinearversionen). Der genaue Sinn der Formel erhellt aus der Variation mit allo stunta: Si allo stunta betota . . . Ddges inti nahtes
fleiz si thar thes rehtes I 16, 11 u. 13
In den Raum metaphysischer Spekulation tritt dag am Ende des Otfridschen Werkes, in jenem großen Hymnus über die Herrlichkeit des Himmelreiches im Vergleich zur Armseligkeit des irdischen Lebens. Dort steht dag in einer Kette von variierenden Ausdrücken, die sämtlich einen Ewigkeitsterminus enthalten: Thaz wir thaz mammunti in thinera munti niazen uns in müate in ewon zi guate! Thir äl thar scono hillit thaz musica gisingit, allaz thir zi liebe zi themo ewinigen libe,
1.3. Der Zwischenbereich: weralt und tag Io then ewinigan dag, then m a n irzellen ni m a g ; gist&t thir thar al redinon mit ewinigen frewidon!
129
V 23, 185 ff.
Ewiges Leben, ewige Freude, ewiger T a g sind Aspekte ein u n d desselben Vorstellungsbereiches. V o n den Aussagen der H y m n e n her läßt sich der ,ewige T a g ' bereits als die ewige Lichthaftigkeit Gottes b z w . des jenseitigen Lebens begreifen. D a ß der Ausdruck aber nicht nur eine Metapher, sondern ein P a r a d o x darstellt, w i r d noch zu erläutern sein (u. 252 ff.). In einem ähnlichen Preis des Himmelreiches spricht das nachnotkersche Stück H I M M E L U N D H Ö L L E v o n der unendige tag (29, 153, 4): eine Formel, die — negativ gewendet — das Gleiche sagt wie ,ewiger Tag*. Die Lichthaftigkeit Gottes ist in der poetischen Fassung des P S A L M 1 2 8 mit der Antithese N a c h t / T a g ausgedrückt — in getreuer A n l e h n u n g an die biblische Vorlage: ih uueiz d a z din nacht mach sin so lioht also tach (22, 30) (nox sicut dies illuminabitur) Z u dieser Stelle über den lichten ,Tag Gottes' w e r d e n sich in N o t k e r s Psalter zahlreiche weitere vergleichbare Aussagen gesellen. Die übrigen K L E I N E R E N D E N K M Ä L E R des A h d . verwenden tag im R a h m e n der bisher beschriebenen Bereiche. O f t steht tag w i e d e r u m f ü r .Termin' u. ä., v o r allem natürlich f ü r das Telos christlichen Daseins: den Jüngsten Tag. Stellvertretend f ü r alle übrigen Fälle mag hier der A n f a n g des Muspilli e r w ä h n t sein, w o der E n d p u n k t des Erdenlebens, durch Possessivpronomen individualisiert und als T a g der Entscheidung herausgehoben, angesprochen ist: sin tac piqueme, d a z er t o u u a n scal (14, 66, 1) D i r e k t vergleichbar ist eine Formel in der Benediktbeurer Beichte I : so wie so min tac mich begrife
unte min ende (53, 339, 38)
Die Beichtformulare benutzen stereotyp eine temporale Formel, die die ganze Lebensdauer des Menschen bis z u m T a g der Beichte z u s a m m e n f a ß t . Die G r e n z p u n k t e dieser D a u e r werden durch tag fixiert, wobei aber f ü r den A n f a n g s p u n k t auch die T a u f e oder G e b u r t (oder weitere S y n o n y m a des Lebensanfanges) eintreten können. So heißt es in der St. Galler Beichte I : f o n e demo tage, sosich erist sundon mogta, u n z a n a n n e n tisin hiutigin dag (54, 340, 3 f.; weitere Stellen: 4 3 , 3 1 4 , 5 ; 5 5 , 3 4 4 , 3 ; 59, 356, 38 f.; 6 0 , 3 5 8 , 5 1 ) . U n d w e n n v o n den Sünden die R e d e ist, so sollen a l l e eingeschlossen sein, ob sie tages odo nahtes (Jüngere bair. Beichte 4 3 , 3 1 5 , 8 ; ähnlich 5 6 , 3 4 7 , 5 5 ) begangen w u r d e n (vergleichbar auch 47, 326, 20 so ih iz in tac tati so in naht). Nach A r t der P a a r f o r m e l Tag und Nacht w i r d hier die Zeit in die A b f o l g e v o n Tagen u n d Nächten zergliedert, u m die K o n t i n u i t ä t u n d T o t a l i t ä t der gemeinten Zeitdauer so scharf wie möglich zu fassen. Dieses primitive V e r f a h r e n z u r sprachlichen Wiedergabe von G a n z h e i t e n erinnert an die P a a r f o r m e l der Rechtssprache, die eine V o r s t u f e des abstrakten Rechtsbegriffes darstellt. 9
Burger, Zeit
130
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
In viel stärkerem M a ß e als worolt greift tag in die v o n den vier Z e i t - W ö r t e r n gedeckten Bedeutungszonen ein. Überschneidungen ergeben sich in den folgenden Bereichen: — Zeitpunkt:
als Subjekt wie in adverbialen Ausdrücken auf die Frage ,wann?'
— Zeitdauer:
mehrfach in Formulierungen zeitlicher T o t a l i t ä t (mit d e m D e t e r m i n a n s al) bzw. K o n t i n u i t ä t (in der P a a r f o r m e l tages inti nahtes)
— in individualisierenden Ausdrücken zur Bezeichnung der Lebenszeit — gewertete Zeit Besonders dicht belegt sind die Formeln im Sinne von ,Lebenszeit'. D e r T a g (und in zweiter Linie die Nacht) ist unmittelbarste Einheit u n d Gegebenheit der Z e i t - E r f a h r u n g u n d somit wesensmäßig geeignet z u r Gliederung u n d E r f a s sung des Lebens-Verlaufes, gleichgültig ob das Leben in seiner D a u e r oder ob einzelne entscheidende P u n k t e ins Auge g e f a ß t w e r d e n . Auch ohne das V o r bild des Bibeltextes lägen daher weite Bereiche der V e r w e n d u n g des deutschen Wortes im R a h m e n des zu E r w a r t e n d e n . Uber dieses sprachliche Universale hinaus aber ü b e r n i m m t die ahd. Literatur spezielle idiomatische Gebrauchsweisen des Wortes, wie sie aus dem Hebräischen ins Griechische u n d weiter ins Lateinische t r a d i e r t w u r d e n . H i e r sind besonders das singularische min dag u n d W e n d u n g e n wie ,die Tage vollenden sich' z u nennen. Seine unverwechselbare N u a n c i e r u n g aber gewinnt das W o r t durch die E i n bettung in den H o r i z o n t biblischer Glaubens- u n d Gottes Vorstellungen: Einerseits w i r d der Licht-Tag z u m Symbol des neuen christlichen Daseins in der imitatio Christi, andererseits aber ist die Zeit Gottes ein ,ewiger T a g ' — Ewigkeit u n d Licht zugleich. Beide G e d a n k e n sind bereits in ahd. Literatur v o r N o t k e r formuliert, bei O t f r i d auch in weitgehender Selbständigkeit gegenüber den lat. Vorbildern.
1.4. E w i g k e i t i n d e r S p r a c h e d e r B i b e l Die ahd. Texte v o r N o t k e r , in denen sich eine Ewigkeitsterminologie fassen läßt, sind sämtlich Bibelübersetzungen b z w . Bibeldichtung, ferner liturgische u n d einfädle katechetische Stücke. U m diesen lexikalischen Bereich des A h d . aus seinem geistesgeschichtlichen H o r i z o n t begreifen z u können, seien einige Bemerkungen über den biblischen Sprachgebrauch im Sinnbezirk ,Ewigkeit' vorausgeschickt. Die p r i m ä r e Frage ist, ob Ewigkeit in der Bibel im Gegensatz z u Zeit verstanden w i r d , w e n n ja, in welchem Sinne. Die z u dieser Frage v o r h a n d e n e theologische L i t e r a t u r gibt eindeutige A u s k u n f t : Mindestens von der T e r m i n o -
1.4. Ewigkeit in der Sprache der Bibel
131
logie her gesehen — und nur diese interessiert für unsere Fragestellung — wird „zwischen dem, was wir Ewigkeit und dem, was wir Zeit heißen, also zwischen ewig währender Zeit und endlicher Z e i t . . . überhaupt nicht unterschieden. Ewigkeit ist die unendliche Folge der aiones 79 ." Zur Bedeutung und zum Gebrauch von aion sei Anton Vögtle beigezogen 80 : „,Aeon' ist die Umschrift des griech. Wortes a'icbv, das seinerseits dem hebr. D*?^ entspricht. Diese beiden Originalausdrücke werden zu Recht mit verschiedenen Begriffen wiedergegeben. Zum vollen Verständnis ist deshalb die Begriffsgesdiichte zu beachten. Der Sprachgebraudi: 1. In den älteren Büchern des Alten Testaments bedeutet OVlS? eine ferne, verborgene Zeit, deren .Anfang und Ende' sich im dunkeln verlieren; 0*715? kann deshalb ,Vorzeit' wie ,Zukunft' bedeuten und ist so im allgemeinen eine lange, aber durchaus begrenzte Zeit. Im entsprechenden Zusammenhang kann nVlS deshalb einen Zeitabschnitt bezeichnen, der zwar als sehr lang, als .Ewigkeit' empfunden wird, in Wirklichkeit aber so kurz ist wie ein Menschenleben (z. B. Dt 15, 17; Ps 37,12). Die Dauer des OVlSJ orientiert sich, dem hebr. Zeitverständnis entsprechend, am Bewußtsein des Miterlebenden und Redenden, damit an der Erfassung der endlichen Zeit des Menschen. Der griech. Ewigkeitsbegriff (ewig = unendlich, zeitlich = endlich) ist dem AT noch fremd. Erst in späteren Schriften •— frühestens seit Deuterojesaja — nimmt nVi» den Sinn von ,unendlich lange Zeit', ,Ewigkeit' an (Is 40,28). WeilD?157= a'icbv ein echter Zeitbegriff ist, konnte die griech. Übersetzung des AT den allmählich verblassenden Singular von a'icbv verstärken: a) durch Verdoppelung des Singulars (wie z.B. in Ps. 44,7: ei$ xöv aiojvtt tov alcövog; b) durch den häufig verwendeten Plural; c) seltener durch die Kombination beider Verfahren; so in der Wendung elg totjc; alräva? xcöv a'icbvcov (Ps. 83, 5; Tob 14, 15). 2. Das Neue Testament übernimmt den atl. Sprachgebrauch. Somit ergibt sich erst aus dem Zusammenhang, ob es sich um ,eine lange Zeit' oder um ,die Ewigkeit' handelt: ,seit Urzeit' (Lk 1,70), ,von alters her' (Apg 3,21), ,für ewig' (Jud 13), ,in Ewigkeit' (Joh 4,14; 6,51 u. ö.). Die aus der LXX geläufige Wendung ei? TOtig alwvag findet sich häufig in doxologischen Formulierungen. Vor allem Paulus und die Apg verwenden mit Vorliebe die Steigerungsformel eI? toi>5 alcovag xöv a'ubvcov = ,in Ewigkeit' oder ,in alle Ewigkeit'. Sosehr diese Wendung im Blick auf die Zukunft die Zeitüberlegenheit Gottes und der EO^aza (im strikten Sinne) betonen will, bestätigt sie zugleich, daß der Begriff der ,Ewigkeit' auch im N T seine Zuordnung zur Zeit (der Welt) behält und das bibl. Denken die griech., zeitlose Ewigkeit nicht kennt 81 ." Die lat. Bibelübersetzungen sind terminologisch reicher als der griech. Text. Für das einförmige aiürv/aiumog setzt die Vulgata saeculum/aeternitas/aevuml
80
81
9*
Cullmann, a. a. O., 69. Anton Vögtle, Äon, in: Sacramentum Mundi, Theolog. Lexikon für die Praxis, I, Freiburg, Basel, Wien 1967, 205 ff. Für den außerbiblischen Gebrauch des Wortes vgl. Hermann Sasse, aicov, in: Theolog. Wörterbuch zum Neuen Testament I, 197 f. a'ubv wird üblicherweise als ,die einem Wesen zukommende Zeit' verwendet, während X&ÖV05 das allgemeinere Wort ist. Dieser a'icbv kann unbegrenzt gedacht werden, wie Aristoteles den a'icbv der Welt als XQÖVog cwteipog definiert (Cael II 1 p 283 b 26 ff.). Daß a'icbv aber zum Terminus für eine zeitlose Ewigkeit erhoben wird, ist die Leistung Piatons, die dann von den Neuplatonikern erneuert und fortgeführt wird.
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
132
aeternus/aeternalis, teilweise in semantischer Differenzierung. So steht im Sinne von ,Aeon' (dieser/jener Aeon) stets lat. saeculum (z. B. Rom 12, 2; 1 Kor 2, 8; 1 Tim 6, 17; Jak 4 , 4 usw.). Die kumulierenden Formeln des Typs elg aicüva; cäo'n'cüv werden gleichfalls durch analoge Wendungen mit saeculum wiedergegeben (vor allem im Psalter: 20, 5; 21, 27; 44, 7; 83, 5; 110, 8; 110, 10; 131, 14; ferner Tob 13,23; Rom 16,27; Gal 1 , 5 ; Hebr 1 , 8 ; 13,21; 1 Tim 1,17; 1 Petr 4 , 1 1 ; 5,11; Apk 1, 6; 1,18; 14,11; 19, 3). Auch dem griech. EX TOÜ mfiV05 entspricht ein Ausdruck mit lat. saeculum: a saeculo (Ps 24, 6; 92, 2; Eccli 51,11; Is 63, 16; Jer 2, 20; Dan 2, 20; Lk 1, 70; Joh 9, 32), das gleiche gilt f ü r Wendungen, in denen ein Adjektiv zum Substantiv hinzutritt (z.B. Tob 13, 1 in omnia saecula). Ohne noch weiter allen Nuancen des biblischen Sprachgebrauchs im Bereich saeculum nachzugehen, sei aber darauf verwiesen, daß in e i n e r Beleggruppe des griech. aicbv lat. saeculum durch ein anderes Wort konkurrenziert wird: Wenn der griech. Text die kurze adverbiale Formel EIC; TÖV aiwva aufweist, verwendet das Lat. neben in saeculum häufig in aeternum, womit eine zweite Wortgruppe ins Spiel gebracht ist, die für die kirchenlat. Ewigkeitsterminologie zentral wird. Die Belege f ü r in aeternum sind Legion, semantisch sind sie in keiner Weise gegenüber dem parallelen Ausdruck in saeculum differenziert: Gen 3,22; 6 , 3 ; Exod 3,15; 15,18; 28,29; 32,40; 1 Reg 3,14; 1 Par 16, 34,41; 2 8 , 9 ; 2 Par 5 , 1 3 ; 7 , 6 ; 20,21; 33,4; Jer 17,4; 51,26; 33,11; Tob 13, 1; Judith 13,25; 15, 11; Job 4 , 2 0 ; Prov 10, 30; 29, 14; Eccles 1, 4; Eccli 7, 40; 12, 10; 16, 27; 18, 1, 22; 37, 29; 45, 30; 46, 15; Is 40, 8; 55, 13; Thren 5,19; Dan 2, 44 u. öfter; Abd 10; Malac 1, 4; 1 Mac 6, 44; 2 Mac 14, 36; zahllose Stellen des Psalters (vgl. unter Notkers Psalter); die gleichfalls sehr zahlreichen neutestamentlichen Belege sind anläßlich der ahd. Ubersetzungen — soweit nötig — aufgeführt. Wortgeschichtlich bedeutet dieses Eindringen einer neuen Wortgruppe in den Bereich: Während oXwv/saeculum f ü r die irdischendliche wie f ü r die unendliche Zeit stehen können, ist lat. aeternus (und Verwandte) auf den Sinnbereich des Ewigen eingeschränkt. Damit sei nicht behauptet, die lat. Bibelübersetzung impliziere bereits ein prinzipiell anderes Zeitv e r s t ä n d n i s als die griech. Vorlage — der direkte Schluß von Wortstrukturen auf begriffliche Strukturen ist ja ein Kurzschluß. Doch ist der Weg f ü r eine platonisierende I n t e r p r e t a t i o n ( s . u . ) des Bibeltextes von der Terminologie her wenigstens vorgezeichnet. Ein Schritt auf diesem Wege w a r im Griechischen bereits durch das Adjektiv aidmog getan, das auch auf die Vorstellung des unendlich-Ewigen beschränkt ist. So scheint bereits in manchen Wendungen der Septuaginta eine Umdeutung des hebräischen Textes vorzuliegen, wenn das hebr. Substantiv durch das griech. Adjektiv wiedergegeben wird, z. B. niiAca aicbvioi etil a i ü m a •ÖEÖg aidmog 82
,ewige Tore' statt .uralte Tore'; ,ewige Jahre' statt,längstvergangene Jahre'; ,ewiger Gott' statt,uralter Gott' 82 .
Nach Sasse, alcöv, a. a. O., 203 f.
1.4. Ewigkeit in der Sprache der Bibel
133
ax&>yw;laeternus ist gebraucht als festes Attribut (a) Gottes, (b) der göttlichen Güter und Gaben, (c) des ewigen Lebens (alles, was Gegenstand der eschatologischen Erwartung ist) 83 . Wenn im Neuen Testament von "/oövoi aiomoi die Rede ist, übersetzt die Vulgata nur einmal (Rom 16,25) mit aeternus, sonst aber mit saecularis (2 Tim 1 , 9 ; Tit 1,2). Offenbar hat der Übersetzer hier den Akzent auf , Weltzeit' legen wollen, wie besonders klar aus Tit 1, 2 hervorgeht, wo unmittelbar vorher von ^cai) aicovia¡vita aeterno, die Rede ist: in spem vitae aeternae, quem promisit qui non mentitur, Deus, ante tempora saecularia (jtjjö XQÖVOJV aicovicov). Sonst steht saecularis f ü r griech. xocr|xix6g (Tit 2, 12) und ßiumxog (1 Kor 6, 3 f.) bzw. xoi ßiou (2 Tim 2, 4), also eindeutig auf die Welt des Irdisch-Hinfälligen beschränkt. Wichtiger noch als das Eindringen des Adjektivs aeternus in den Bereich des Substantivs aicbv ist die Herausbildung einer Substantivableitung zum gleichen Stamm. In den Fällen, wo lat. aeternitas f ü r griech. aicbv eintritt, ist endgültig ein lexikalisches Äquivalent (bzw. eine Opposition) zu saeculum ausgeprägt, das nun aber nicht mehr alle Bedeutungszonen von aicbv deckt, aeternitas begegnet allerdings erst an wenigen, vorwiegend alttestamentlichen Stellen, die wegen ihrer wortgeschichtlichen Bedeutsamkeit im Satzzusammenhang aufgeführt seien 84 : Eccles. 12, 5 quoniam ibit homo in domum aeternitatis suae Septuaginta: cm eitopeiiitr] o avftoojjtog eig olxov aicövog a i t o ß H a b . 3, 6 et contriti sunt montes saeculi, incurvati sunt colles mundi ab itineribus aeternitatis ejus Sept.: £T0WT|ana sinteinan — ,unser immerwährendes Brot'. Die angelsächsische Mission aber hatte sich für .täglich' entschieden, und von daher wurde auch ,unser tägliches Brot' der gültige alleinherrschende deutsche Text. ,Tägliches Brot' war damals in noch stärkerem Maße als heute gegenüber .immerwährendes Brot' der leichter eingängige Text, der anschaulichere, der an vorhandene Vorstellungen leichter anknüpfende. Diese Art zu übersetzen entsprach — mit einem Wort der Missionswissenschaft — dem irenischen Missionsstil, dem es auf Betonung des Gemeinsamen, auf Assimilierung ankommt. Demgegenüber hebt der polemische Missionsstil gerade das Verschiedene, das Andersartige hervor, so wie es Wulfila eben tut, wenn er sich bei der Wiedergabe von epiousios für die Interpretation immerwährend' entscheidet. Während zu Beginn unserer Sprachgeschichte die irenische und die polemische Prägung sich als nördliche und südliche Form gegenüberstehen, hat sich nach rund zweihundert Jahren die irenische Uebersetzung in der deutschen Sprache durchgesetzt und damit immer wieder den Blick auf das tägliche Brot in seiner materiellen Anschaulichkeit gelenkt." D a ß verschiedene Missionsschulen o d e r - s t r ö m e a u f den W o r t s c h a t z des A h d . — auch über den engsten theologischen Fachbereich hinaus — p r ä g e n d g e w i r k t haben, ist unbestritten 1 2 8 . Durchaus möglich w ä r e es auch, d a ß die V a t e r u n s e r U b e r s e t z u n g e n Reflexe dieser K u l t u r s t r ö m u n g e n aufweisen. D o c h bleiben gerade für die B r o t b i t t e schon hinsichtlich des Gotischen einige Fragen: 1. O b Wulfila sich beim P a t e r n o s t e r - T e x t ( M t 6 , 1 1 Interpretation
.immerwährend'
„entschieden"
habe,
u. L k 1 1 , 2 ) für die
können
wir
nicht
aus-
machen, da die Vergleichsstelle L k 1 1 , 2 in der gotischen Bibel nicht überliefert ist. E r s t dieser Passus aber ließe Schlüsse a u f die W o r t w a h l Wulfilas zu, weil H i e r o n y m u s d o r t das alltäglichere quotidianus auch in L k 1 1 , 2 sinteins
v e r w e n d e t . N u r w e n n Wulfila
eingesetzt h ä t t e , k ö n n t e m a n v o n
interpretierender
W o r t w a h l sprechen. Ü b e r einen liturgischen G e b r a u c h s t e x t des got. P a t e r n o s t e r wissen w i r ohnehin nichts Handgreifliches, da jegliche Quellen fehlen
(wenn
m a n nicht die a h d . T e x t e als Reflexe des G o t . betrachtet, was aber gerade z u beweisen ist). 2. W e i t e r h i n ist es durchaus fraglich, ob got. sinteins
ü b e r h a u p t als E n t s p r e -
128 Vgl. etwa Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I, Das Althochdeutsche, Kap. I X ,Goten, Iren, Angelsachsen und der althochdeutsche Wortschatz', 148 ff. (mit reichen Literaturangaben, 278 f.). Von älterer Literatur ist vor allem zu nennen: Rudolf von Raumer, Uber den geschichtlichen Zusammenhang des gothischen Christenthums mit dem Althochdeutschen, ZfdA 6 (1848) 4 0 1 — 4 1 2 ; Friedrich Kluge, Gotische Lehnwörter im Althochdeutschen, P B B 35 (1909) 1 2 4 — 1 6 0 ; Wilhelm Braune, Althochdeutsch und Angelsächsisch, P B B 43 (1919) 3 6 1 — 4 4 5 ; Georg Baesecke, D e r Vocabularius Sti. Galli in der angelsächsischen Mission, Halle 1933.
1.8. Die Brotbitte
des
189
Vaterunsers
chung v o n lat. supersubstantialis angesehen w e r d e n k a n n . Die übrigen Belege des Wortes legen nichts dergleichen n a h e : 2 K o r 11, 28 a r b a i f j s meina seiteina — r) imavtJTaoig
uou
( V u l g a t a : instantia mea quotidiana) ,der A n d r a n g z u mir alltäglich, alle Tage'. Diese Stelle ist der unmittelbare Beweis, d a ß sinteins im genauen Sinn v o n lat. quotidianus v e r w e n d e t w e r d e n k a n n . Auch f ü r die Skeireins-Stelle I I I 10 braucht m a n keine andere Bedeutung zu b e m ü h e n : ni J>anaseiJ>s j u d a i w i s k o m u f a r r a n n e i n i m j a h sinteino(m)
daupeinim
brukjan usdaudjaina. Sonst ist das W o r t n u r in adverbialer F o r m sinteino
bezeugt u n d v e r t r i t t griech.
jiavtoTE oder «ei: 2 K o r 4, 10 jtävTOTE xriv vewqcooiv t o i xtipkru ' I r j o o i ev tcü acb|xaTi jieqiq)EQOVTE5 und 4,11 äei y ä g f|u.Ei; oi 'Cüvtgg ei? davaTov jraoa8i&6|j,e{)a 8ia 'Ir|aoCv. In beiden Fällen ist nicht eine i m m e r w ä h r e n d e D a u e r gemeint, sondern das immer neu aktuelle u n d bedrängende Ausgeliefert-Sein des Christen, das Sein z u m T o d e hin. Ähnliches gilt f ü r die beiden folgenden Stellen, die v o m V e r b u m her eine I n t e r p r e t a t i o n ,allezeit, immer wieder' e r f o r d e r n : J o h 8, 29 unte ik J>atei leikaij) i m m a t a u j a sinteino u n d J o h 11, 42 {jatei sinteino mis andhauseis (and-hausjan ,erhören' mit p e r f e k t i v e r A k t i o n s a r t w ü r d e keine temporale Bestimmung der D a u e r zulassen, vgl. oben S. 21). Keine näheren Aufschlüsse geben die letzten beiden Belege, w o sinteino f ü r jtavtOTE/aEi im undifferenzierten Sinne v o n ,immer' b z w . ,immer schon' gesetzt ist: J o h 12,8 ijj Jjans unledans sinteino habaij) (Vulg. Semper). M k 15, 8 swaswe sinteino hatte')
habaifi mij> izwis, if) mik ni
sinteino
t a w i d a im (,wie er es ihnen immer gewährt
Bei Durchsicht dieser Belege f ä l l t Betzens A n n a h m e einer .polemischen' I n terpretation des Vaterunser-Verses gänzlich dahin. Schon die adverbiale Verw e n d u n g des Wortes schließt eine Bedeutung i m m e r w ä h r e n d ' durchweg aus, u n d der adjektivische Gebrauch entspricht völlig dem lat. quotidianus. Damit w ä r e die Betzsche These prinzipiell bereits gegenstandslos geworden. Doch ist gerechterweise noch zu f r a g e n , ob nicht die a h d. Texte gleichwohl auf den zwei unterschiedlichen I n t e r p r e t a t i o n e n des griech. ¿jtiowiog beruhen, ohne d a ß aber got. Einfluß angenommen w e r d e n müßte. Glücklicherweise sind wir im A h d . nicht auf den bloßen P a t e r n o s t e r - T e x t angewiesen, sondern besitzen in drei Fällen unmittelbar anschließende Erläuterungen, die einigen Aufschluß geben über den intendierten Sinn v o n emazzig/tagalih im liturgischen T e x t
190
1. Althochdeutsche Texte außer
Notker
selbst: Weiss. Katechismus, Freisinger Paternoster (mit seinen beiden abweichenden Fassungen) u n d N o t k e r s O r a t i o dominica. I n d i r e k t ist auch die entsprechende Stelle in O t f r i d s Evangelienbudi beizuziehen. Eine gänzlich unspekulative, praktisch- pastorale D e u t u n g gibt der Weissenburger Katechismus: Broot unseraz emetzigaz gib uns hiutu. Allo mannes thurfti sintun in themo brotes n a m e n gameinito, thero er ci thesemo antuuerden libe b i t h a r f . bi thiu scal m a n dago gihuuelickes thiz gibet singan, so huuer so uuili, t h a z imo got gidago sinero t h u r f t e o helphe (6, 29, 18 ff.). Das Brot meint also — nach A r t eines pars p r o toto — die täglich wiederkehrenden Bedürfnisse u n d Sorgen des menschlichen Lebens. Entsprechend m u ß emazzig hier — wie die parallelen Adverbialausdrücke dago gihuueliches u n d gidago — den gleichen Sinn wie lat. quotidianus haben. Sicher ist broot emetzigaz n i c h t das i m m e r w ä h r e n d e spirituelle Brot des Lebens. Beim bairischen (Freisinger) Paternoster weichen die beiden Fassungen gerade an dieser Stelle bedeutsam v o n e i n a n d e r a b : Der ältere T e x t A bietet zunächst die gleiche ,litterale' D e u t u n g wie der Weissenburger Katechismus, vollzieht d a n n aber in einem zweiten Schritt die spirituelle D e u t u n g auf die Eucharistie hin: Pilipi unsraz emizzigaz kip uns eogauuanna. (1) In desem u u o r t u m sint allo unsro licmiscun d u r u f t i p i f a n k a n . (2) N u auar, euuigo, f o r k i p uns, t r u h t i n , den dinan lichamun enti din pluot, d a z uuir f o n a demu altare intfahames, d a z iz uns za euuigera heili enti za euuikemo lipe piqhueme, nalles z a uuizze (8, 44, 36 ff.). O h n e Zweifel w i r d der unmittelbare Sinn des Verses durch die D e u t u n g (1) erläutert, w ä h r e n d (2) bereits eine I n t e r p r e t a t i o n darstellt, die f ü r den W o r t Sinn v o n emazzig nicht mehr beigezogen w e r d e n d a r f . D a m i t h ä t t e n w i r den gleichen B e f u n d wie im Weissenburger Katechismus, allerdings m i t einem feinen Unterschied: In der bairischen Vaterunser-Fassung ist bereits die Ü b e r setzung selber der D e u t u n g (1) angenähert. Statt ,Brot' heißt es , N a h r u n g ' (pilipi), u n d statt ,heute' steht ,immer' (eogauuanna). D a s allzu K o n k r e t e der Vorlage ist bereits auf eine allgemeinere Ebene gehoben, ohne d a ß d a m i t aber schon der Schritt z u r spirituellen D e u t u n g vollzogen wäre 1 2 9 .
129
Achim Masser, Die althochdeutschen Übersetzungen des Vaterunsers, PBB 85, Tübingen 1963, 35—45, sucht die lat. Vorlagen der ahd. Vaterunser-Texte zu rekonstruieren, ein — wie mir scheint — geglücktes Unternehmen. Ich glaube allerdings nidit, d a ß die auffälligen Besonderheiten des altbair. Paternosters ( p i l i p i , e o g a u u a n n a ) sich mit textkritisdien Erwägungen wegdiskutieren lassen. Hier d ü r f t e dodi zweifellos eine interpretatorische Absidit des Ubersetzers im Spiel sein. Die handschriftliche Form e m i z i z i z (bei Steinmeyer in e m i z i c a z gebessert, so auch von uns übernommen) der jüngeren Bearbeitung als Mißverständnis des f ü r die ältere Fassung erschlossenen * e m i z z i g o (statt e o g a u u a n n a ) aufzufassen, scheint mir zumindest gewagt.
1.8. Die Brotbitte des Vaterunsers
191
Die jüngere Bearbeitung B geht in dieser Richtung noch weiter, indem sie hodie ü b e r h a u p t unübersetzt l ä ß t . A u ß e r d e m streicht sie den ersten Schritt der D e u t u n g (wie diese Fassung insgesamt eine K ü r z u n g des älteren Textes d a r stellt), so d a ß emizicaz unmittelbar an die eucharistische Vorstellung heranrückt: pilipi unsaraz kip uns emizicaz. des sculu uuir pitten den h a l m a h t i g u n t r u h t i n den sinan lihamun enti d a z sin pluot, d a z uuir d a r f o n a demo altare infahemes, d a z iz uns mera ze euuigeru heli piqueme denne ze uuizze. (8, 44, 36 ff.) 130 . Die Brot-Bitte w i r d in dieser Übersetzung u n d im folgenden K o m m e n t a r stärker entkonkretisiert als in den bisher betrachteten Texten. Doch sind w i r deswegen noch nicht berechtigt, schon f ü r emizig einen anderen als den v o r d e r gründigen Sinn (,alltägliche N a h r u n g ' ) anzusetzen. Übersetzung u n d K o m m e n t a r sind z w a r ein Stück weiter einander angenähert, doch stellt der A k t der D e u t u n g immer noch einen Sprung auf eine höhere Sinnebene dar. V o n besonderem Interesse ist OTFRIDS P a r a p h r a s e des Vaterunser in I I 21, 27 ff., weil sie nicht an einen liturgischen W o r t l a u t gebunden ist. D o r t lautet das Äquivalent der Brot-Bitte (II 21, 33 ff.): Thia ddgalichun zühti gib h i u t uns m i t ginuhti, joh föllon ouh, theist mera, thines selbes lera. Die dagalichun zuhti sind wohl b e w u ß t doppelsinnig gemeint: zuht heißt sonst bei O t f r i d .Lebensunterhalt' u n d auch ,Belehrung' (ersteres e t w a in II 4, 47 in brote ginuag nist zi thes mennisgen zuhti; das zweite z. B. in I V 11, 6 thie sine, thie er zi zuhti zi imo nam). O t f r i d s D e u t u n g geht nicht auf die Eucharistie, sondern auf das geistliche Brot der göttlichen Lehre. Die E v a n g e lienharmonie v e r w e n d e t das A d j e k t i v dagalih n u r an dieser einen Stelle, als adverbielle Entsprechungen kommen gidago u n d dages v o r ( z . B . I V 1, 12: E r sines thankes t h a r a q u a m joh sie thar lerta filu f r a m , io gidago f o r a thiu t h a z sie i r k ä n t i n . . . ) , meist aber zieht O t f r i d in ähnlichen K o n t e x t e n die A d v e r b f o r m e n v o n emazzig vor. M a n darf w o h l annehmen, d a ß O t f r i d die liturgische Formel im O h r h a t t e u n d t r o t z der relativen Freiheit seiner Ausdrucksweise dagalih aus dem P a t e r n o s t e r - F o r m u l a r ü b e r n a h m . D a a u f g r u n d der T a t i a n Übersetzung zu v e r m u t e n ist, d a ß in F u l d a eine Formel mit dagalih in Gebrauch w a r , w i r d O t f r i d diese Fassung in seiner Fuldaer Zeit kennengelernt u n d vielleicht — entgegen dem W o r t l a u t des Weissenburger Katechismus — in Weissenburg eingeführt haben. Doch d a m i t verlassen w i r bereits den Bereidi des historisch N a c h p r ü f b a r e n . Als letzter T e x t der ahd. Zeit, der neben der reinen Übersetzung noch eine E r l ä u t e r u n g des Vaterunser-Textes bietet, ist N o t k e r s O r a t i o dominica zu X3
° Das demonstrative d e s d ü r f t e , wie Steinmeyer, 48, A n m . 1, bemerkt, auf das Verb p i t t e n zu beziehen sein, ebenso wie d e s in der zweiten Bitte.
1. Althochdeutsche
192
Texte
außer
Notker
nennen ( I I I 3, S. 1100). H i e r finden w i r wie bei O t f r i d eine D e u t u n g auf das geistige Brot der Lehre hin, allerdings m i t einer vorgängigen wörtlichen Ü b e r setzung des Bibelverses: Vnser tägelicha b r o t . k i b uns hiuto. kib uns dina lera. dero unser sela gelabot uuerde. u u a n d a dero bedarf si tageliches. also der lichamo bedarf protes. In dieser Zeit d ü r f t e das fränkische dagalih bereits in der ganzen deutschsprachigen Liturgie durchgedrungen sein, w ä h r e n d emazzig in andere Sinnbereiche a b g e d r ä n g t ist (s. u. 226 f.). Für N o t k e r s Zeit w i r d also keine reale Alternative tagalihf emazzig mehr bestanden haben, so d a ß dieses Zeugnis aus unserer Beurteilung der Betzschen These ausscheiden m u ß . F ü r W . Betz ist die Differenz der beiden Formeln nicht n u r ein theologischer, sondern ein k o n k r e t geographischer Unterschied (bedingt durch die geographische Verteilung der Missionsschulen). Bevor w i r aus den Textanalysen die theologiegeschichtlich relevanten Schlüsse ziehen, seien k u r z die äußerlich-geographischen Verhältnisse untersucht: Für Betz sind der süddeutsche u n d der fränkische R a u m die beiden O p p o n e n ten. Wieweit dies zutrifft, mag die folgende Übersicht über das V o r k o m m e n der fraglichen W ö r t e r (mit Einschluß des A d v e r b s gitago) erhellen: emazzig
tagalih
gitago
Freis. PN
+
—
—
St. Galler PN
+
- -
—
+ Adverb
+
B
[tagalihhin]
MH
+
—
[tagauuizzi]
O
+
+
+
Weiss. Kat.
+
—
+
Isidor
—
—
—
T
—
+
+
Das bairische b z w . das älteste alemannische Paternoster u n d der ostfränkische T e x t sind einander d i a m e t r a l entgegengesetzt ( + — I I — + ) , in beiden tritt das jeweilige W o r t n u r im Z u s a m m e n h a n g der Vaterunser-Bitte auf. N u r die Benediktinerregel u n d O t f r i d kennen beide W ö r t e r , n u r d o r t also k a n n
1.8. Die Brotbitte des Vaterunsers
193
eine Alternative entstehen. Die Benediktinerregel aber enthält das Paternoster nicht, wenngleich ein analoger Z u s a m m e n h a n g v o r h a n d e n ist: za imbizze tagalihchin
— ad refectionem cotidianum
(93)
Die V e r w e n d u n g v o n emazzig, das n u r als A d v e r b f ü r lat. frequenter v o r k o m m t , u n d tagalih ist in der Benediktinerregel klar differenziert. (Die M u r bacher H y m n e n weisen keinen Beleg f ü r tagalih auf, wahrscheinlich weil z u f ä l ligerweise die lat. Vorlage das W o r t quotidianus nicht enthält.) O t f r i d verw e n d e t durchgehend emazzig, mit A u s n a h m e des einen dagalih in der B r o t Bitte. In diesem einen Fall u n d im Gebrauch des A d v e r b s gidago gerät O t f r i d in die N ä h e der Tatian-Übersetzung. M a n w i r d also f ü r die g e o g r a p h i s c h e V e r t e i l u n g der W ö r t e r soviel festhalten k ö n n e n : In einer ältesten Schicht der Paternoster-Ubersetzung zeichnet sich ein deutlicher Gegensatz oberdeutsch/fränkisch ab, wobei das Südrheinfränkische zunächst noch mit dem Alemannischen geht. A u ß e r h a l b des Paternosters aber sind schon in den ältesten Texten die Verhältnisse k o m p l e x : W ä h r e n d die Benediktinerregel u n v e r k e n n b a r das A d j e k t i v tagalih bevorzugt, kennen die Murbacher H y m n e n n u r emazzig, u n d z w a r schematisch festgelegt auf das lat. L e m m a perpes (die Benediktinerregel h a t f ü r vergleichbares perpetuus ewig u n d ewin). D a s m a g z u m großen Teil durch die lat. Vorlagen bedingt sein, doch bleibt die Gleichung perpes = emazzig in den H y m n e n ein nicht reduzierbares U n i k u m . Schon mit O t f r i d aber dringt das nördliche W o r t im R a h m e n des Vaterunsers ins Rheinfränkische ein u n d erobert sich schließlich den äußersten Süden. Die Betzsche These ist demnach f ü r die Frühzeit des A h d . in geographischer Hinsicht berechtigt. D a ß der geographische Gegensatz aber theologisch begründet sei, ist entschieden zu verneinen. Die älteren E r k l ä r u n g e n der Brotbitte (Freisinger Paternoster A, Weissenburger K a t . ) — u n d n u r u m diese k a n n es jetzt gehen — verstehen emazzig im Litteralsinn als ,immer wiederkehrend', ,tagtäglich sich wiederholend', keineswegs aber als supersubstantialis. Erst die spätere Ü b e r arbeitung des Freisinger Paternoster k ö n n t e in eine solche Richtung weisen. Nicht auszuschließen ist allerdings, d a ß emazzig im Süden deswegen dem vielleicht auch schon gängigen tagalih vorgezogen w u r d e , weil d a m i t eine allzu direkte K o n k r e t h e i t des Verständnisses vermieden w e r d e n k o n n t e (vgl. das z u pilipi Gesagte). Von einer polemischen' Übersetzung k a n n folglich auch im a h d . Bereich nicht im geringsten die R e d e sein. In einem allgemeineren theologischen H o r i z o n t betrachtet, stellt sich das Problem ohnehin nicht in der A n t i thetik polemisch/irenisch. Vielmehr sind bereits die frühchristlichen K o m m e n tatoren des Bibelverses bemüht, die offensichtlichen spirituellen Möglichkeiten dieser Bitte in verschiedenster Weise f r u c h t b a r zu machen u n d d a m i t zugleich die sprachlichen Schwierigkeiten, die schon der griech. U r t e x t bietet, z u überwinden. Es sei hier k u r z auf die Geschichte der D e u t u n g dieser Vaterunserbitte ver13
Burger, Zeit
194
1. Althochdeutsche
Texte
außer
Notker
wiesen, da erst vor diesem Hintergrund die Verteilung der ahd. Auslegungen verständlich wird 131 . Das an beiden Überlieferungsorten (Lk 11, 3; Mt 6, 11) des Paternoster begegnende EJtiotiaiog, das wir heute mit ,täglich' wiedergeben, ist ein Wort, das außerhalb des Bibelgriechischen nur in einem Papyrus des 5. Jahrhunderts bezeugt ist. Origenes132 konnte es für eine Wortschöpfung der Evangelisten halten, was für die Seltenheit des Wortes spricht. Alle frühchristlichen Kommentare bemühen sich daher, das Wort aus dem vom Kontext geforderten Zusammenhang zu deuten, wobei eine ganze Reihe divergierender Interpretationen zustande kommt 133 . In den lat. Übersetzungen setzt sich mit den Itala-Fassungen die Wiedergabe mit quotidianus durch, während Hieronymus für Matthäus 6, 11 supersubstantialis vorschlägt. Die Vulgata hat somit im Lukas-Text quotidianus, im Matthäus-Text supersubstantialis. Bereits Hieronymus 134 aber beharrt nicht auf e i n e r starren Deutung des griech. Wortes, sondern bietet vier Interpretationsmöglichkeiten an: (1) Christus ist der panis praecipuus etc., (2) das zukünftige Brot (mit Berufung auf das Hebräerevangelium 135 ), (3) das über alle Substanzen erhabene Brot, (4) das für den Lebensunterhalt notwendige Brot: Quod nos supersubstantialem expressimus, in Graeco habetur Ejuoixnov: quod verbum Septuaginta Interpretes frequentissime transferunt. Consideravimus ergo in Hebraeo, et ubicunque illi itfoioimov expresserunt, nos invenimus SGOLIA, quod Symmachus e | c u ( 5 £ t o v , id est, praecipuum vel egregium, transtulit, licet in quodam loco peculiare interpretatus sit. Quando ergo petimus ut peculiarem vel praecipuum nobis Deus tribuat panem, illum petimus qui dicit: Ego sum panis vivus qui de caelo descendi (Joan. VI, 51). In Evangelio quod appellatur secundum Hebraeos, pro supersubstantiali pane, reperi MAHAR, quod dicitur crastinum; ut sit sensus: Panem nostrum crastinum, id est, futurum da nobis hodie. Possumus supersubstantialem panem et aliter intelligere, qui super omnes substantias sit, et universas superet creaturas. Alii simpliciter putant, secundum Apostoli sermonem dicentis (1 Tim VI, 8): Habentes victum et vestitum, his contenti simus, de praesenti tantum cibo sanctos curam agere. Unde et in posterioribus sit praeceptum: Nolite cogitare de crastino (Matth. VI, 34). Die letzte Deutung aber scheint ihn am wenigsten zu befriedigen (alii simpliciter putant). In der Folgezeit bildet sich dann eine Art Interpretations131
Eine nützliche Zusammenstellung der patristischcn Paternosterkommentare, allerdings nur im Hinblick auf Luther, gibt O t t o Dibelius, D a s Vaterunser, Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der Alten und Mittleren Kirdie, Glessen 1903, 86 ff. 132 D e Orat. 27, 7. 133 Ygj ¿ ¡ e Ubersicht bei Bauer, a. a. O., 587 f. Weiteres bei Werner Foerster, ejuoücriog, Theol. Wb. z u m N T II, 5 8 7 — 5 9 5 . 134 Commentarius in Evangelium secundum Matthaeum, P L X X V I , 44 f. 135 Vgl. Foerster, Ejuoumog, a. a. O., 591 f.
1.8. Die Brotbitte
des
Vaterunsers
195
kanon heraus, der im wesentlichen 3 Möglichkeiten der Deutung zuläßt. Die zentrale Autorität f ü r die Deutung der Brot-Bitte wird Augustinus mit seiner Auslegung in De Sermone Domini in monte (II 7, 25 ff.)136. Die Karolingerzeit geht in keiner Weise über diesen Text hinaus, man begnügt sich mehr oder weniger damit, den Augustin auszuschreiben. So bietet Beda 137 nicht mehr als die Aufzählung der drei Interpretationsmöglichkeiten, während Hrabanus Maurus — und das wird bedeutsam f ü r die späteren ahd. Paternoster-Erklärungen — auch die augustinische Diskussion und die Entscheidung für die dritte Deutung übernimmt. Der Text Hrabans 1 3 8 ist — wie der Bedas — ein wörtlicher Auszug aus der augustinischen Schrift. Wegen des immensen Einflusses, den Hraban auf die karolingische Bildungspolitik des 9. Jahrhundert hatte, sei der Passus im Wortlaut aufgeführt: Panem nostrum quotidianum da nobis hodie. Panis quotidianus aut pro his Omnibus dictus est quae hujus vitae necessitatem sustentant, de quo cum praecipit, ait: Nolite cogitare de crastino. Et ideo sit additum: Da nobis hodie, aut pro sacramento corporis Christi, quod quotidie accipimus, aut pro spiritali cibo, de quo idem Dominus dicit: Operamini escam quae non corrumpitur. Et illud: Ego sum panis vitae, qui de coelo descendi (Joan. VI). Sed horum trium quid sit probatissimum considerari potest. N a m forte quispiam moveatur cur oremus pro his adipiscendis quae huic vitae sunt necessaria, veluti est victus et tegumentum, cum ipse Dominus dicit: Nolite solliciti esse quid edatis, aut quid induamini (Matth. VI); de sacramento autem corporis Domini, ut illi non moveant quaestionem, qui plurimi in orientalibus partibus, non quotidie coenae Dominicae communicent, cum iste panis quotidianus dictus est. Restai ut quotidianum panem accipiamus spiritalem. Praecepta scilicet divina, quae quotidie oportet meditari et operari. N a m de ipsis Dominus dicit: Operamini escam quae non corrumpitur; quotidianus autem ipse cibus nunc dicitur, quandiu ista vita temporalis per dies decedentes succedentesque peragitur. Et revera quandiu in Superiora, nunc in inferiora, id est, nunc in spiritalia, nunc in carnalia, animi affectus alternai, tanquam ei qui aliquando pascitur cibo, aliquando famem patitur, quotidie panis necessarius est quo reficiatur esuriens, et relabens erigatur. 136 137
138
13*
CCSL X X X V , 113 ff. Beda Venerabiiis, In Matthaei Evangelium Expositio, PL X C I I , 32: Panem nostrum quotidianum da nobis hodie. Panis quotidianus aut pro omnibus hujus vitae necessitatibus dictus est, aut pro sacramento corporis Christi, quod quotidie accipimus, et ne moveant quaestionem aliqui, qui non communicent quotidie sacramento Christi: restat ut panem quotidianum intelligamus divina praecepta, quae quotidie meditari oportet et operari. Rabanus Maurus, Commentarla in Matthaeum, PL CVII, 819 f.
196
1. Althochdeutsche Texte außer Notker
An diesen Augustin-Exzerpt hängt Hraban — wohl zur Erklärung der Vulgata-Ubersetzung von Mt 6, 13 — eine Deutung des hieronymianischen supersubstantialis an, in wörtlicher Anlehnung an den Matthäus-Kommentar des Hieronymus: Quod autem panem supersubstantialem in aliis exemplaribus legimus, vel peculiarem, vel praecipuum illum panem similiter significat, qui dicit: Ego sum panis, qui de coelo descendi, qui videlicet est super omnes substantias, et universas superat creaturas. Hraban (wie Augustin) lehnt somit die ersten beiden Interpretationen (,die alltäglichen Bedürfnisse des Lebens' und ,Eucharistie') aus theologischen Gründen ab und entscheidet sich für die dritte (,die göttlichen Lehren und Vorschriften'). Mit der theologischen Deutung verbindet er nun auch eine sprachliche Betrachtung über das Wort quotidianus: die göttliche Speise heißt deswegen täglich, weil unser irdisches Leben in Sukzession und Vergänglichkeit von Tag zu Tag abläuft und von Tag zu Tag neu des panis caelestis bedarf. Augustinus stellt noch präziser als Hraban den auf irdische Zeit-Verhältnisse beschränkten Sinn des cotidianus heraus. Im jenseitigen Leben hätte es keinen Sinn, von cotidianus zu sprechen, da dort die Sukzession der Zeit aufgehoben ist: D a nobis hodie autem dictum est quam diu dicitur hodie, id est in hac temporali uita. Sic enim cibo spiritali post hanc uitam saturabimur in aeternum, ut non tunc dicatur cotidianus panis, quia ibi temporis uolubilitas, quae diebus dies succedere facit, unde appellatur cotidie, nulla erit. V t autem dictum est: Hodie si uocem eius audieritis, quod interpretatur apostolus in epistula quae est ad Hebraeos: Quam diu dicitur hodie, ita et hic accipiendum est: da nobis hodie 139 . Wir haben auf Beda und Hraban hingewiesen, um sie als Zeugen einer sehr klaren und festen Tradition vorzustellen, nicht aber um direkte Einflüsse gerade d i e s e r Kommentare auf die volkssprachlichen Deutungen zu postulieren (nur die späteren ahd. Erklärungen lassen direkten Einfluß Hrabans vermuten, s. u.). Wahrscheinlicher ist es, daß das im fränkischen Raum weit verbreitete Sacramentum Gelasianum als Grundbuch der ,Normal-Katechese' auch die populäre Paternoster-Erklärung bestimmt hat. E i n e s aber ist sicher: Die ahd. Paternoster-Deutungen gehen in keiner Weise über die gängigen theologischen Deutungen der Zeit hinaus. Jeder der ahd. Texte hat eine der augustinischen Möglichkeiten herausgegriffen: der Weissenburger Katechismus die mehr praktische und vordergründige erste Deutung, der bair. Text den Bezug auf die Eucharistie, Otfrid und Notker schließlich die gleichfalls spirituelle dritte Interpretation. Daß Otfrid und Notker sich aber für die Deutung divina praecepta entscheiden, ist sicher nicht Zufall, sondern nunmehr dem direkten Einfluß des 13» Augustinus, a. a. O., S. 116.
1.8. Die Brotbitte
des
Vaterunsers
197
H r a b a n u s Maurus zuzuschreiben. Wenn wir auf dem Hintergrund dieser exegetischen Tradition noch einmal die Betzsche These betrachten, dann erscheint sie auch geistesgeschichtlich als unhaltbar: Die Gegenüberstellung einer .spirituellen* ( = polemischen) und einer ,liberalen' ( = irenischen) Deutung ist eine ungerechtfertigte Simplifizierung der theologiegeschichtlichen Befunde. Mindestens zwei spirituelle Sinnschichten sind von der litteralen Deutung abzuheben, und alle drei Deutungen dürften vor der Wiederaufnahme augustinischer Gedanken durch H r a b a n mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander gelehrt worden sein. Audi der sprachliche sind Tatbestand wird nun transparent: Die beiden Wörter emazzigltagalih keineswegs komplementär auf „die" spirituelle bzw. materielle Interpretation verteilt, sondern sind beide frei verfügbar. Ich erinnere daran, daß emazzig sowohl im .materiell-litteralen' Deutungszusammenhang des Weissenburger Katechismus als auch in der ,eucharistischen' Interpretation des bairischen Paternoster begegnet. U n d tagalih ist ebenso sinnvoll in spirituellem Kontext (vgl. N o t k e r ) wie im Sprachgebrauch des Alltags. Wenn schon von ,irenischer' und ,polemischer' Deutung gesprochen werden soll, dann wäre das Verhältnis eher umzukehren: Gerade die scheinbar ,alltägliche' Formulierung ,unser tägliches Brot gib uns heute' bietet von A n f a n g der Schrifterklärung an das Problem, warum auf das temporal eindeutige ,täglich' noch einmal ein Temporaladverb folgen soll. Wenn die Tautologie beseitigt werden soll, dann muß eines der beiden Wörter (oder auch beide) anders verstanden werden. Die bairische Ersetzung von hodie durch eogawanna w ä r e somit eher eine glättende Fassung als die fränkische Formel, die der sprachlichen H ä r t e nicht ausweicht.
2. Notker der Deutsche N o t k e r s Bemühen u m Übersetzung u n d K o m m e n t i e r u n g richtet sich auf so verschiedene Bereiche der Philosophie, Theologie u n d R h e t o r i k , d a ß sich das G e s a m t w e r k k a u m u n t e r einem Gesichtspunkt erfassen u n d beschreiben läßt. Selbst eine auf einen eng begrenzten Wortbereich ausgerichtete Studie m ü ß t e bei jeder Schrift neue Kategorien, neue Zugänge erarbeiten, um nicht a m C h a r a k t e r des jeweiligen Werkes vorbeizureden. N u n sind w i r in der glücklichen Lage, d a ß der Wortschatz des notkerschen Boethius durch die Arbeit v o n Ingeborg Schröbler 1 in vorbildlicher Weise zugänglich gemacht ist, so d a ß w i r uns hier auf ihre Ergebnisse abstützen k ö n n e n . Neuerdings h a t J ü r g e n Jaehrling 2 die Übersetzung der aristotelischen Kategorien in lexikalischer u n d übersetzungstechnischer Hinsicht gewürdigt. Die aristotelischen Schriften bieten allerdings k a u m bedeutsame A n h a l t s p u n k t e f ü r unsere T h e m a t i k . Aus dem verbleibenden Bestand notkerscher Ubersetzungen u n d K o m m e n t a r e bietet sich der Psalter als ergiebigste Quelle f ü r den Wortbereich von Zeit u n d Ewigkeit an. Bereits Emil Luginbühl 3 e r k a n n t e die h e r v o r r a g e n d e stilistische Stellung des Psalters im W e r k N o t k e r s , doch k o n n t e er in seiner — weitsichtigen u n d großenteils heute noch gültigen — Darstellung zahlreicher H a u p t g e b i e t e des Wortschatzes dem Bezirk der Zeit/Ewigkeitsterminologie n u r begrenzte A u f m e r k s a m k e i t w i d m e n . Manche seiner stilistischen Bemerkungen verdienen aber immer noch höchstes Interesse. Die W a h l des Psalters als Untersuchungsbasis w i r d schließlich durch das p r i m ä r e Ziel unserer Arbeit nahegelegt: nicht nur den philosophischen Aufschwüngen der deutschen Sprache nachzugehen, sondern die religiöse Sprache auf einem durchschnittlichen, dem allgemeinen Bewußtsein der ,Gebildeten' zugänglichen N i v e a u zu fassen u n d d a m i t etwas wie eine geschichtliche K o n t i n u i t ä t a u f z u s p ü r e n . Psalterübersetzung u n d P s a l t e r k o m m e n t a r sind — wie sich zeigen w i r d — f ü r diese P r o b l e m a t i k ideales Untersuchungsfeld. Schließlich lassen sich unsere Beobachtungen mit den Darlegungen Ingeborg Schröblers vergleichen, so d a ß Gemeinsames u n d Besonderes der beiden N o t kerschen W e r k e h e r v o r t r e t e n w i r d .
1 2
3
Schröbler, a. a. O., Kap. 5 ,Zeit und Ewigkeit', 118—131. Jürgen Jaehrling, Die philosophische Terminologie Notkers des Deutschen in seiner Ubersetzung der Aristotelischen ,Kategorien' (Philologische Studien und Quellen, Heft 47), Berlin 1969, 109 f., 121 f. Luginbühl, a. a. O., 22 ff.
2.1. Die
2.1. D i e
Zeit-Termini
199
Zeit-Termini 2.1.1. frist
Der Psalter enthält nur wenige Belege f ü r frist, durch den K o n t e x t determiniert 4 :
diese aber sind eindeutig
1. Präzisiert durch p r ä d i k a t i v e s A d j e k t i v m i t quantifizierender F u n k tion: euuichéite D o h déro friste lüzzel sî uuider d é r o çternitate (101, 24) ( A : exiguitas ideo, quia t o t u m hoc tempus . . . exigua gutta est c o m p a r a t a aeternitate.) 2.
In kollektiver Formel, determiniert durch al (24, 5): t o t a die — alla dîa frist dirro uuerlte ( A : t o t o t r a c t u temporis saecularis) G e m ä ß Augustins K o m m e n t a r ist tota die in theologischer Geltung ausgelegt, wobei die werlt offenbar ihre Zeit h a t , aber nicht selbst Zeit i s t . In beiden G r u p p e n aber ist die Zeit der Welt als ganze gemeint, im ersten Beispiel durch den bestimmten Artikel ( D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n ) u n d den Gegensatz zu qternitas signalisiert, im zweiten Beispiel ausdrücklich durch das Genit i v a t t r i b u t präzisiert. 3. Sonst steht frist in adverbiellen G r u p p e n : (gestärkt hast du mich) in êuua / (geschwächt hast du mich) ze éinero friste ( 4 0 , 1 3 ) ( G o t t h a t dich gesegnet) in êuua / (andere h a t er gesegnet) ze éinero friste (44, 3) (Gottes Reich w ä h r t ) îomer, âne ende / (Das jüdische Reich w ä h r t ) éina urist (44, 7) Durch den unbestimmten A r t i k e l u n d den jeweiligen Gegensatz charakterisiert der adverbiale Ausdruck die gemeinte H a n d l u n g als ,nur f ü r eine bestimmte Zeit geltend'. Diese Zeit ist nicht die Zeit der Welt ü b e r h a u p t , sondern n u r ein begrenzter Zeitausschnitt (aus der Gesamtzeit der Welt). In den Beispielen (1) u n d (2) leistete der bestimmte Artikel den Verweis auf d i e Zeit der Welt ü b e r h a u p t , unterstützt durch die D e t e r m i n a n t e n des Kontexts. D a s D e m o n s t r a t i v u m allein ist natürlich nicht imstande, diese Generalisierung z u 4
Notkers Psalter zitieren wir nach der Ausgabe von Sehrt/Starck, desgleichen die Cantica und die kleineren katechetischen Stücke. Alle übrigen Texte werden nach der Piperschen Edition zitiert. Damit Vergleiche der Ausgaben leicht möglich sind, geben wir beim Psalter nicht die Seitenzahlen der Ausgabe an, sondern Psalm und Psalmvers (beim ,Diapsalma' zu Ps. 9, den Cantica und kleineren Stücken der Deutlichkeit halber auch die Seitenzahlen). Augustins Enarrationes in Psalmos werden gemäß dem Apparat der Ausgabe von Sehrt/Starck beigezogen. Wo die dort gegebenen Auszüge nicht hinreichend erscheinen, wird nach der Edition der Patrologia Latina 36/37 zitiert.
2. Notker
200
der
Deutsche
evozieren; dies zeigt eine adverbiale Formel wie tia frist (Diapsalma S. 42, 4), die soviel bedeuten m u ß wie ,eine Zeitlang'. D e n Ausdrücken mit unbestimmtem Artikel h a f t e t jedenfalls u n v e r k e n n b a r der C h a r a k t e r des genau u n d scharf Begrenzten an, wie auch die synonymen Ausdrücke ze einero friste u n d lango . .. nieht (124, 3) zeigen. Auch f ü r N o t k e r s Boethius weist Ingeborg Schröbler 5 die Bedeutungen ,abgemessene Zeit' u n d ,Zeitlichkeit im Gegensatz z u r Ewigkeit' nach. Entscheidend aber ist wohl, d a ß sich diese ,Bedeutungen' erst aus den K o n t e x t d e t e r m i n a n t e n konstituieren. Die übrigen Notker-Belege zeigen das W o r t durchweg als ,quantifizierbare Zeit', jeweils bestimmt durch Adjektive, P r o n o m i n a oder den ganzen Satzzusammenhang: Kategorien (I 410, 23) tempus longum et m u l t u m — diu unst langiu . . . u n d e des zitis filo. tempus mit seinen beiden A t t r i b u t e n w i r d im Deutschen aufgespalten in zwei selbständige Subst. + A d j . - G r u p p e n , in denen die Substantive als S y n o n y m e gemeint sein müssen ( d a ß zit im Genitiv steht, ist einzig bedingt durch den grammatischen Sonderstatus des indeklinablen filo). Kategorien (I 489, 9) simul . . . dicuntur . . . q u o r u m generatio est in eodem t e m p o r e — in einero uriste. ein als P r o n o m i n a l a d j e k t i v bezeichnet die temporale I d e n t i t ä t der betreffenden Vorgänge (wobei über die D a u e r nichts ausgesagt ist). M a r t . C a p . (I 780, 15) tiu chraft tes urlages. f e r g ä t in eines stozes friste. R u o d p . Brief (I 826, 1) des kestirnis chraft f e r g ä t unde uirloufit in so langero uiriste so m a n einin stupf getüon mag. In den beiden letzten Beispielen w i r d die genaue L ä n g e der Zeitspanne durch A t t r i b u t b z w . N e b e n s a t z eingegrenzt; hier w i r d besonders einsichtig, d a ß der Blick auf die G r e n z e n der gemeinten D a u e r gerichtet ist. In allen Fällen ist frist eine bestimmte Zeitdauer, die genau bestimmt ist durch die spezifische Situation oder durch die Begrenzung des irdisch Zeitlichen ü b e r h a u p t . Bezeichnend ist dabei, d a ß die Länge der D a u e r im Wortsinn selbst in keiner Weise prädisponiert ist: sie k a n n durch die K o n t e x t d e t e r m i n a n t e n ebenso z u m .Augenblick', der auf einen P u n k t zusammengezogenen Zeitdauer, wie z u r Weltzeit ü b e r h a u p t bestimmt werden. I m Vergleich mit den vornotkerschen Texten zeigt frist hier eine größere syntaktische Freiheit (es k a n n als Subjekt parallel mit zit a u f t r e t e n , w e n n a u d i die Belege in adverbialen Ausdrücken überwiegen). Die u n t e m p o r a l e n Sinnzonen des Wortes, die in den älteren a h d . D e n k m ä l e r n noch vertreten w a r e n , sind n u n völlig ausgeschaltet. D a f ü r aber h a t sich die temporale N u a n c e der 5
Schröbler, a. a. O., 125.
2.1. Die
Zeit-Termini
201
genau begrenzten Dauer, die selbst in Kollokation mit dem unbestimmten Artikel erhalten bleibt (, n u r eine gewisse Zeitlang'), weitgehend durchgesetzt. Erhalten geblieben ist die Beschränkung des Wortgebrauches auf den Singular; durch die Festlegung des Wortsinnes auf eine bestimmte Zone des temporalen Sinnbereiches mag sich die Besonderheit des Numerusgebrauches noch gefestigt haben. Die semantische Fixierung dürfte auch dazu beigetragen haben, daß frist besonders geeignet erscheint, in Opposition zu Termini der unendlichen Dauer die Nuance des Begrenzten, Irdisch-Eingeschränkten zu vertreten.
2.1.2. wila Als syntaktisch frei verfügbares Substantiv ist wila im ganzen Werk Notkers n i c h t mehr anzutreffen. Wohl aus diesem Grunde berücksichtigt Ingeborg Schröbler das Wort für die lexikalische Darstellung der Boethius-Übersetzung nicht. Am häufigsten belegt ist die rein adverbiell verwendete Form des Dat. pl. wilon, die wir beiseite lassen können, da sie kaum mehr als zum Paradigma des Substantivs gehörig empfunden wird. Der Psalter kennt darüber hinaus die adverbialen Fügungen die uuila (30, 25; 56, 2; 93, 15; 146, 9) und eina uuila (40, 9; 54, 23), letzteres einmal präzisiert durch echert ,nur' (54, 16). Der Ausdruck mit bestimmtem Artikel meint entweder die Zeitspanne, bis etwas eintritt (.solange b i s . . . ' ) oder .mittlerweile' u. ä., während der unbest. Artikel die Bedeutung ,eine (bestimmte) Zeit lang' hervorruft. In der Glossierung al die uuila für quamdiu (85, 7) ist die Erstarrung zur adverbialen Gruppe noch weiter fortgeschritten (vgl. die weitere Entwicklung zu ,alldieweil'). Nur in e i n e m Fall rückt uuila durch die Opposition zu euua in den Raum der theologisch relevanten Zeit-Wörter: (Gott stürzt den Gerechten nur) eina uuila (in Verwirrung, nicht aber) in euua. 54, 22 In Notkers Boethius ist wila gelegentlich noch schärfer als Zeitbegriff faßbar, dort nämlich, wo es mit attributiven Adjektiven zusammentritt: uelox hora — ein chürz uuila I 77,12 una hora — in einero churzero uuilo I 58, 4 murga uuila uuerende (vgl. lat. mutabilem . . . ) I 85, 13 ,vergängliche, kurze Zeit dauernd' 6 Hier begegnet das Wort als quantifizierbarer Zeitbegriff, allerdings mit spürbarer Tendenz zu Ausdrücken für ,kurze Zeit', ,nur kurze Zeit'. An allen * Vgl. Schröbler, a. a. O., 126, zu murgfäri.
202
2. Notker
der
Deutsche
übrigen Stellen im Boethius und den übrigen Werken ist das Wort nur noch in mehr oder weniger erstarrten adverbiellen Fügungen zu finden: eina uuila (I 9, 19; 78, 5/6; 263, 2/3; 699, 27/28; 341, 2/3) dia wila (I 72, 27; 259, 26; 274, 10; 279, 28; 482, 14; 533, 4 u. 9) be dero uuilo (I 103, 9; 105, 10; 286, 7; 479, 24) ze einero uuilo ,zu einem gewissen Zeitpunkt' (I 270, 12) über eina uuila (I 126, 7) neheina uuila ,keinen Augenblick' (I 409, 6) An unmittelbaren lat. Entsprechungen läßt sich nur einmal vorkommendes hora (I 77, 12) aufführen, ansonsten hat das Lat. an der betreifenden Stelle nur eine Konjunktion (die im Deutschen durch den adverbiellen Ausdruck in ihrem zeitlichen Sinn verdeutlicht wird), oder ein lat. Vergleichstext liegt gar nicht vor. Gegenüber den älteren ahd. Texten ist somit der Gebrauch des Wortes in viel höherem Maßö auf adverbiale Ausdrücke, die teilweise nur noch lose mit dem substantivischen Lexem verknüpft scheinen, eingeschränkt.
2.1.3. stunta stunta ist bei Notker ein seltenes Substantiv. Zusammensetzungen wie driostunt, sibenstunt usw. in adverbieller Bedeutung interessieren uns hier nicht. Als selbständiges substantivisches Lexem ist das Wort im Psalter nicht anzutreffen, wenn man von der Glosse drie stunde für tres horae absieht. Im Boethius gibt es gleichfalls hora wieder (I 8, 17; 38, 30) und steht einmal im Sinne von ,ganz kurze Zeitspanne': Si enim conferatur mora. unius momenti. decem milibus annis — ¿in stunda (I 115,15) Auch die Mart. Capella-Übersetzung kennt stunta für die Stunden des Tages, entsprechend lat. hora (I 755, 7; 834, 21). Einmal wird lat. tempus durch stunta vertreten (De Interpr. I 505, 10). Die wenigen Belege lassen auf eine semantische Fixierung des Wortes im Sinne der chronometrischen Stunde schließen.
2.1.4. zit Im Psalter entspricht zit vor allem den lat. Wörtern tempus und dies, gelegentlich (indirekt) dem sonst anders wiedergegebenen sqculum. Daneben kommt es noch in zahlreichen Wendungen vor, die keine unmittelbare lat. Vorlage haben. Charakteristisch für den Wortgebrauch Notkers im Psalter ist
2.1. Die
Zeit-Termini
203
die starke Ü b e r l a p p u n g der I n t e r p r e t a m e n t e v o n tempus u n d dies, dies ist allerdings n u r d a n n frei f ü r die Entsprechung zit, w e n n es nicht im Sinnbereich T a g / N a c h t , T a g / D u n k e l h e i t verstanden ist. Es w u r d e bereits ausgeführt, wie stark dies im Sprachgebrauch des Alten Testamentes in allgemeinere temporale Bezirke hineinreicht. Es ließ sich auch beobachten, d a ß die deutsche Sprache weitgehend imstande w a r , diesen spezifischen Wortgebrauch zwanglos nachzuahmen. Aufschlußreich sind n u n v o r allem die Abweichungen, bei denen sich die Frage stellt, w a r u m N o t k e r gerade an diesen Stellen nicht mit tag, sondern dem allgemeineren zit übersetzt: (a) in die afflictionis — in dien ziten dero persecutionis (17, 19) in die ir§ — in demo zite sines Zornes (109, 5) Wenn dies in der Bedeutung ,Zeitpunkt', ,Termin' gesetzt ist, v e r w e n d e t N o t ker sonst stets die unmittelbare Entsprechung. W a r u m er hier v o n seinem Usus abweicht, ist nicht ersichtlich. Bezeichnend aber ist — wie w i r aus den älteren Texten wissen — das N e b e n e i n a n d e r v o n Singular u n d P l u r a l v o n zit in der Funktion ,Zeitpunkt'. (b) in diebus eorum — in iro tagen (43, 2) in diebus antiquis — in alten ziten (43, 2) I m gleichen Vers also übersetzt N o t k e r das gleiche L e m m a einmal mit tag, einmal mit zit. W e n d u n g e n wie in iro tagen, w o der ,Verlauf der Tage' die Lebenszeit meint, sind im Psalter äußerst häufig (s. ,tag'), w ä h r e n d in weniger auf das Leben des Menschen begrenzten Ausdrücken wie ,in alten Zeiten' das W o r t zit auch gegen die Vorlage b e v o r z u g t w i r d . D a r a u s ist z u entnehmen: der genuin deutsche Sprachgebraudi k a n n die biblischen W e n d u n g e n mit ,Tag' solange ohne jede Schwierigkeit nachvollziehen, als der temporale Ausdruck auf irgendeine Weise an das individuelle Leben des Menschen, an die unmittelbare Z e i t e r f a h r u n g gebunden ist. In allgemeineren, abstrakteren Zusammenhängen aber b e v o r z u g t das Deutsche das W o r t zit. (c) Dicht belegt ist im Psalter der adverbielle Ausdruck tota die, der nicht n u r meint ,den ganzen T a g über', sondern verallgemeinernd-iterativ ,alle Tage i m m e r wieder', d a n n mit A k z e n t auf den M o m e n t e n der Intensität u n d K o n t i n u i t ä t ,ständig, unablässig'. Die verbalen K o l l o k a t i o n e n sind d a f ü r typisch: T o t a die (benedicent ei) — alle zite (71, 15) (qu? a b insipiente sunt) tota die — in allen ziten (73, 22) t o t a die (expandi ad te manus meas) — alle zite (87, 10) T o t a die (umgaben mich die Feinde) — in allen ziten (87, 18) (exsultabunt) tota die — in alle zite (88, 17) Das Deutsche ist im Kasusgebrauch genauer als die einförmige lat. Vorlage. Z u m a l im letzten Beispiel scheint das Futurische u n d gleichzeitig U n b e g r e n z t e der gemeinten H a n d l u n g besonders herausgehoben z u sein: in alle zite — , f ü r alle (noch k o m m e n d e n ) Zeiten'. Präposition + A k k u s a t i v signalisieren den
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2. Notker
der
Deutsche
vektoriellen Charakter der Zeitbestimmung, während in allen zlten bloße Akkusativ ein gleichförmiges, ungerichtetes .immer' bezeichnen.
und der
(d) Auch im Sinnbereich der ,gewerteten Zeit' findet sich an einer Stelle eine Verschiebung der Terminologie vom Lat. zum Deutschen hin: dies bonos — güote taga unde güote zite (33, 13) In seinem gleichzeitig übersetzenden und kommentierenden Verfahren p r ä zisiert N o t k e r das anscheinend zu konkrete taga auf den allgemeineren Sinn des Psalmverses hin durch den Zusatz guote zite. (In der kurz darauf — 33, 15 — folgenden Wiederholung des dies boni übersetzt der Glossator wortgetreu mit k&ote taga.) In weit größerem U m f a n g aber ist zit die — zu erwartende — Entsprechung von lat. tempus. tempus findet sich im Psalter nur sehr selten in abstrakten Zusammenhängen, meistens sind konkrete Zeitpunkte von Handlungen, Vorgängen gemeint oder bestimmt geartete bzw. bewertete Zeitabschnitte. Die Bedeutungszonen entsprechen dem Spektrum, das bereits in den älteren Texten vorlag. (a) ,Zeitpunkt' oder ,Periode, Zeitabschnitt': Kennzeichnend f ü r die Sprache des Psalters ist es, daß tempus/zit nicht als neutraler Zeitpunkt eines Vorgangs auftritt, sondern meist charakterisiert oder gar gewertet durch substantivische Attribute. Zwischen den Sinnzonen Z e i t punkt', ,rechte Zeit', ,gewertete Zeit' sind durchaus fließende Übergänge zu beobachten. Unsere Einordnung in eine bestimmte Zone ist daher nur von relativer Geltung. In Notkers Übersetzung selbst ist nur ein Beleg f ü r diesen T y p zu verzeichnen: föne demo zite iro chörnes (A: a tempore frumenti) (4, 8) Die meisten Fälle aber finden sich in den Glossen (ich gebe nur die lat. Wendungen, da die Glosse sich nur im Kasus verschiebt): in tempore manifestationis (20,10) tempus laboris . . . seminis . . . frigoris . . . lacrimarum . . . consolationis ( 3 6 , 3 4 ; jedesmal ist t e m p u s neu glossiert) tempus orationis / tempus laudationis in enemo llbe (62, 6) tempore fidei daz nu ist / tempore speciei. d a z h i n a f u r e ist (70, 6) tempore persecutionis (78, 1) tempus iudicii (85, 16) nu ist tempus orationis. d a n n e ist tempus laudationis (87, 14) N u ist tempus misericordi?, h a r a - n ä h chumt tempus iudicii (100, 1)
Diese Stellen bleiben in Notkers Text wohl deswegen unübersetzt, weil es sich großenteils um heilsgeschichtlich zentrale Zeiten, Zeitpunkte handelt, oft durch die jeweilige Opposition in ihrer Bedeutsamkeit noch herausgehoben. (b) Die Sinnzone ,gewertete Zeit' wird vorzüglich durch qualifizierende Adjektive konstituiert: in tempore opportuno — in geuilligemo zite (31, 6; im folgenden noch einmal, aber als Glosse!)
2.1. Die
Zeit-Termini
205
in tempore malo — in ubelemo zlte (36, 19) tempus beneplacitum — liebez zit (68, 14; = Zeit der Erbarmung Gottes, wenn er nämlich seinen Sohn in die Welt schickt) (c) Seltener als bei dies wird die Zeit individualisiert, auf die Lebenszeit oder entscheidende Zeitpunkte im Leben bestimmter Personen bezogen : in unseren ziten (64, 1) iro zit ... min zit ist aber sär tertia die (87, 6; die Zeit der Auferstehung, die für den Menschen erst beim Jüngsten Gericht anhebt) dero argon z i t . . . dero rehton zit (A: tempus . . .) 91, 9 Formal vergleichbar, wenngleich semantisch anders gelagert, sind die Fälle, wo die genannte Person nicht durch die Zeit betroffen, sondern nur der chronologische Bezugspunkt eines Geschehens ist (diese Beispiele würden mit größerem Recht unter Zone (a) eingegliedert): be iedeonis ziten (71, 6) be iro ziten (Cant. Deut. 7, S. 1089), nämlich: Abrahams, Isaacs usw. (d) Unter dem Titel ,rechte Zeit 1 (für eine bestimmte Handlung, für eine bestimmte Person) lassen sich die folgenden Belege zusammenfassen: zit in festen syntaktischen Verbindungen des Typus: so is zit ist (uuas/ uuirt u. ä.): 30, 25; 39, 11; 49, 21; 74, 3; 79, 4; 101, 14 (zweimal); 104, 1; 125, 3; Cant. Esai? 3 (S. 1057); Cant. Abacug 1 (S. 1076); Cant. Deut. 35 (S. 1097) in tempore — so is zit uuirdet; als Appell: Cant. Deut. 38 (S. 1098) nü ist zit. nu standen ü f . . . An solche Sätze kann sich in unmittelbarer Unterordnung dasjenige anschließen, w o z u es Zeit ist: zit ist des tüonnes (tempus faciendi, zweimal; Q 126) oder: Nü ist daz zit, daz . . . (125, 3). Fast überall fehlt eine direkte lat. Entsprechung. Es dürfte sich somit um eine relativ fest geprägte, idiomatische Wendung des Ahd. handeln. Der lat. Ausdruck in tempore opportuno, der in 3 1 , 6 wörtlich durch in geuelligemo zite übersetzt wurde, erscheint in 1 0 3 , 2 7 frei und wohl der deutschen Idiomatik angepaßter als so is zit si. In diese Zone gehört auch die Glosse er zite für ante tempus (100, 8) — ,vor der rechten Zeit'. Auch die unter (c) aufgeführte Stelle 87, 6 würde mit gleichem Recht hier zu subsumieren sein. (e) Selten sind kollektive Formeln des Typus ,zu allen Zeiten': in omni tempore — in allen ziten (105, 3) omni tempore — in allen ziten (C 20) aber 33, 2: in omni tempore — in zitelih Es ist demnach durchgehend festzustellen, daß zit in seinen konkreten Sinnschattierungen in typischen Kollokationen gebunden ist, die oft bis zu idiomatischer Fixierung gehen. Im Vergleich mit der lat. Vorlage ist festzu-
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2. Notker
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Deutsche
stellen, daß die Distribution von tag/zit sich mit derjenigen von dies/tempus großenteils, aber nicht vollständig deckt (Weiteres dazu vgl. unter ,tag'). Einmal entspricht zit im Psalter mittelbar dem lat. seculum: A s^culo tu es. D ä r - f o r e und f6re allemo zite bist du. Io unde io bist du (92, 2) D a unmittelbar vorher von den Weltaltern die Rede war, wäre eine Übersetzung durch uuerlt mißverständlich gewesen, zumal alleinstehendes uuerlt (s. d.) nicht mehr deutlich genug temporal wäre (vgl. die Übersetzung von 102, 17 a sqculo durch föne anagantero dirro uuerlte). Die deutsche Ubersetzung ist auch eindeutiger als das lat. a sqculo, da sie das Außerhalb-der-ZeitSein Gottes benennt, zit ist hier also das Gegenwort zum (ewigen) Sein Gottes. Eine parallele Aussage liegt in 109, 3 vor, wo N o t k e r gemäß dem augustinischen Kommentar die zeitliche Aussage des Bibelverses (Ex utero ante lucijerum genui te) als ante tempora deutet, allerdings ohne Übersetzung ins Deutsche. In diesen Zusammenhang gehört auch 2, 7; jener Vers, um dessen exakte Verdeutschung die Isidorübersetzung so mühsam gerungen hatte (M 33,13): äna zit filius meus es tu. ego hodie genui te. id est sine t e m p o r e . . . hiuto gebär ih tih. Gote neist neh^in zit preteritum (Glosse: irgangen) noh f u t u r u m (Glosse: chunftig). imo ist hiuto. al daz io gescah. aide noh geskehen sol... N o t k e r folgt natürlich dem Kommentar Augustins, ohne aber dessen vollen Sinn zu treffen: hodie, quia praesentiam significat, atque in aeternitate nec praeteritum quidquam est, quasi esse desierit, nec futurum, quasi nondum sit; sed praesens tantum, quia quidquid aeternum est, Semper est. Augustin hebt zunächst die konkreten Begriffe des Bibelverses auf eine abstrakte Ebene (hodie — praesentia, sine tempore wird stillschweigend als aeternitas aufgefaßt). Sodann gibt er den Zeitbegriffen eine ontologische Deutung: Vergangenheit und Zukunft weisen einen Mangel an Sein auf, sofern sie .nicht mehr' bzw. ,noch nicht' sind. Also kann nur Gegenwart vom Sein Gottes, der Ewigkeit ausgesagt werden. Gegenwart ist damit nicht mehr der temporale Begriff, der unseren Zeitvorstellungen geläufig ist, sondern ein ausschließlich ontologisch fundierter Begriff. N o t k e r wird der Komplexheit der Gedankenführung nicht gerecht, da er eigentlich nicht vom Sein Gottes selbst spricht, sondern vom Sein der Zeit f ü r G o t t : f ü r Gott ist die Zukunft ebenso gegenwärtig wie die Vergangenheit. Außerdem vollzieht er nicht den Schritt der Abstrahierung von den Zeitadverbien des Bibeltextes, so daß die gesamte Erklärung seltsam inkohärent erscheint. Notkers H a l t u n g zu seinen Kommentar-Vorlagen ist im allgemeinen die des Kompilierens, Raffens, Kürzens. H i e r hat sich diese Tendenz f ü r die Präzision der spekulativen Gedankenführung mißlich ausgewirkt. Auch N o t k e r ist offenbar nur dann einer spekulativen Theologie in gedanklicher wie sprachlicher Hinsicht gewachsen, wenn die Vorlage ihn Schritt für Schritt von Ge-
2.1. Die Zeit-Termini
207
danken zu Gedanken und von Begriff zu Begriff führt. Dies ist in der Boethius-Übersetzung viel eher der Fall als in den ad-hoc-gegebenen und oft sehr gedrängten Kommentaren Augustins zum Psalter. Außerdem ist der Unterschied der Gattungen nicht zu übersehen: Psalterübersetzung und Psalterkommentar stehen dem Gebet und der lebendigen religiösen Praxis immer noch viel näher als der streckenweise rein philosophische Text des Boethius. Im Psalter dient der Kommentar primär der Meditation, der ruminatio des Bibelwortes (oft auch der bloßen Literalerklärung, die ja Voraussetzung eines spirituellen Verständnisses ist), so daß eigentliche Spekulation nur soweit unbedingt nötig Eingang findet. Als unmittelbarer Gegensatz zur Ewigkeit fungiert zit in Notkers Psalter nur selten (so in der eben besprochenen Stelle 2, 7). In 147, 12, wo über die sieben Welt-Zeiten oder Weltalter gesprochen wird, auf die eine achte Zeit folgt (diu danne chumftig ist), ist zit das zentrale Wort, um das die Aussagen kreisen. Notkers Wiedergabe bleibt aber wiederum hinter der terminologischen Klarheit Augustins zurück: significatum est nobis post omnem istam volubilitatem temporis, quae septenario numero volvitur, futuram illam civitatem nostram iam in aeternitate. Notker läßt es beim Hinweis auf die künftige bürg (= civitas) bewenden. In 80, 16 heißt es von den Feinden Gottes: tempus eorum in ?ternum. s. ignem. Vnde iro zit uuéret in éuua. Éuuíg fíur ist in gáro. (A: et erit tempus eorum in aeternum, non accipio nisi ignem aeternum) Die Pointe des augustinischen knappen Satzes ist im Deutschen nicht repräsentiert: Für Augustin klingt die biblische Aussage über die Feinde Gottes wie ein positiver Hinweis auf ein ewiges Sein. Doch darf diese Ewigkeit nur verstanden werden als die (negative) Ewigkeit der H ö l l e . . . Außerdem hält Augustin es f ü r verwirrend, von einer Zeit (tempus) zu sprechen, die in aeternum währt. Bei Notker sind Übersetzung und Deutung ohne weitere Erläuterung nebeneinandergesetzt. Für ihn ist es offenbar kein Widerspruch, von einer ,Zeit* zu sprechen, die in euua währt, zit ist damit nicht in einen Gegensatz zu ewa gestellt, sondern ist selbst unbegrenzte Dauer, die in ewa fortdauert. Dieser Gebrauch von zit und ewa (in der festen Formel in ewa, s. d.) entspricht durchaus dem Bild, das die älteren ahd. Texte boten. Die wenigen Stellen, da auch terminologisch ein Gegensatz von Zeit und Ewigkeit intendiert ist, bleiben in Notkers Fassung lateinisches Reservat und werden erst vom Glossator verdeutscht: rotam temporis — die unstatigi zitis / stabilitatem fternitatis — statigi éuuichéite (30,14) Vers 80, 10 stellt Gottes Sein dem kreatürlich-weltlichen Sein gegenüber: Gott ist nicht recens, d. h. ad tempus factus (so Augustinus), sondern éuuig . . . Der io uuas ante témpora
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(Glosse: fore zlten), der nemag nieht kelih sin dero deheinemo diu in tempore (Glosse: in ztte) uuurten. (A: deus autem noster non recens, sed ab aeternitate in aeternitatem.) Auch der Ausdruck, der von der Hinfälligkeit und dem Schwinden der Zeit spricht (103, 19), wird erst vom Glossator übersetzt: in tempore (Glosse: in zite) huius mortalitatis . . . so tempus (Glosse: zit) zegät. Der Zusammenhang ist: die Kirche ist i n der Zeit und bleibt auch dem Verschwinden der Zeit (d. h. im Jenseits, in der Ewigkeit).
nach
Gleichfalls läßt N o t k e r die f ü r biblisches Zeitdenken zentrale plenitudo temporis als Terminus bestehen (31, 6); der Glossator übersetzt mit folli zltis. Eigentlich spekulative Aussagen, in denen zit den Kern oder wenigstens einen Pol des Gedankens bildet, sind also im Psalter und Psalterkommentar — der Gattung gemäß — selten. (Einen ähnlichen Befund wird die Betrachtung der Ewigkeitstermini ergeben.) Die Oppositionsverhältnisse, in die zit eingeht, sind meist konkret, sofern sie auf bestimmte Ereignisse der Heilsgeschichte abzielen (z. B. Zeit des Lobes — Zeit des Gerichtes u. ä.). U n d gerade dort, w o spekulative Zusammenhänge ins Blickfeld rücken, bleibt N o t k e r vorsichtig bei den lat. Termini, die dann erst der Glossator eindeutscht. Mit den Glossen aber zeigt sich, daß zit dasjenige Wort ist, das am ehesten in theologisch-philosophische Abstraktionen eingehen k ö n n t e . Wie schon früher zu beobachten war, sind adjektivische Ableitungen f ü r die besondere semantische. Nuance eines Zeit-Wortes von bedeutendem Aufschlußwert. Im Psalter begegnen zwei solcher Ableitungen von zit und eine durch zit determinierte Ableitung von frist, alle drei Wörter aber erst in Glossen: (a)
zitlich: temporalia bona — zitelichiu güot (48, 14) temporalia — zitlichiu dinch (71,17) temporalium bonorum — zitlichon / ^ternorum — euuigero (72,1)
schließlich als Adverb: zitlicho f ü r temporaliter (79,13), ebenso 106, 1. In allen Fällen steht zitlich in unmittelbarem oder mittelbarem Gegensatz zu ewig und verleiht dem charakterisierten Substantiv (falls es nicht selbst substantiviert ist zu ,die zeitlichen Dinge') einen weltanschaulich abwertenden Klang, durchaus äquivalent dem Wert von uuerltlich (s. u.). Der G r u n d ist wiederum einsichtig: Die adjektivische Ableitung besagt soviel wie Zeit-artig, zielt also auf das Wesentliche der Zeit, das f ü r das religiöse Bewußtsein des Mittelalters nur im Gegensatz zur Ewigkeit, in der Unbeständigkeit und H i n fälligkeit gegenüber dem ewigen Sein Gottes bestehen kann. (b)
uuerltzitelich: spiritalia bona — geistlicha genäda / temporalia — uuerltzitelidia (36, 25) temporalia bona — uuerltzitelichiu güot (36, 26)
2.2. Der Zwischenbereich
209
Der spezifische Akzent des Adjektivs zitlich wird durch das Bestimmungsglied noch intensiviert (vgl. die Ableitungen von uuerlt u. S. 218). (c) zitfristig: temporalia — zit-fristigiu dinch (13, 5) (das kreatürliche Heil ist) temporalis — zitfristig (35, 8) Die Verbindung mit frist, das ja im Psalter geradezu Kennwort der irdischbegrenzten Zeitlichkeit sein kann, lenkt den Wert von zit noch deutlicher in die Bahn weltanschaulicher Abwertung. (Der Wortbildungsstruktur nach sind zit und frist kaum als Determinans und Determinatum des Kompositums zu betrachten, vielmehr ergänzen und verstärken sie sich gegenseitig.) Die attribuierten Substantive sind in entsprechender Generalisierung die ,Dinge' überhaupt, alles Kreatürliche. Wenn der Glossator zunächst das Wort zitfristig, dann uuerltzitlich und erst in den späteren Psalmen zitlich einsetzt — bei durchgehend synonymer Verwendung —, so ist darin kaum bewußte Wortwahl (etwa im Sinne stilistischen Variierens), sondern eher eine Spiegelung der praktischen Glossierungsarbeit zu erblicken. Schließlich findet sich beim Glossator ein Substantivkompositum mit zit, das in seiner Bildungsweise deutlich an die ««er/f-Komposita erinnert (s. o. 117 ff.) und auch wohl von dorther inspiriert ist: a temporali uita — fone zit-libe / ad (jternam — ze euuigemo libe (88,52). D a ß im einen Fall die lat. Attributivgruppe durch Kompositum, im anderen Falle durch wörtliche Übersetzung wiedergegeben wird, ist in der besonderen Signal-Funktion derjenigen Wörter begründet, die wie uuerlt auf diese irdische Welt hinzeigen (s. o. S. 117 ff. und u. S. 303 ff.).
2.2. D e r
Zwischenbereich 2.2.1. werlt
Vollständig führen wir wiederum nur die Belege auf, in denen das Wort noch zeitlichen Sinn hat. Sonstiges wird — soweit es erhellend ist — als Stütze beigezogen. Im Psalter steht werlt vorwiegend f ü r lat. mundus und saeculum, besonders häufig in der Glossierung der von Notker als Termini lateinisch belassenen Lemmata. Uns gehen in erster Linie die Übersetzungen von saeculum an. Der Psalter ist voll von den bekannten kumulierenden Formeln mit saeculum zur Bezeichnung unendlicher Zeitdauer und Ewigkeit. Diese Formeln sind von Notker meist nicht mehr mit den Bildungen des Typus in werlt werke wiedergegeben, sondern mit weniger komplexen und weniger vorbelasteten 14
Burger, Zeit
210
2. Notker der Deutsche
Zeit-Wörtern wie ewa, ewigheit, iemer (s. d.). Im Werk Notkers vollzieht sich — wenngleich nicht endgültig, so doch genau registrierbar — die semantische Trennung der Sippe weralt vom Bereich der reinen Zeit-Wörter. Altes, der Tradition Verhaftetes spielt noch in die neue Strukturierung hinein und droht gelegentlich die Konturen zu verwischen. Doch ist der Sprachgebrauch unübersehbar verschoben und in neue Geleise gelenkt. Vorausblickend müssen wir feststellen, daß mit Notker diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, sondern erst sich durchzusetzen beginnt. Auch hier — wie immer bei der Beurteilung der sprachgeschichtlichen Stellung Notkers — ist nicht zu vergessen, wie schmal die Brücke von der Schulgelehrsamkeit Notkers zur deutschsprachigen Literatur der Folgezeit ist. Immerhin wird man annehmen dürfen, daß Notker in der sprachgewaltigen Psalmenübersetzung näher an die gesprochene Realität der deutschen Sprache um 1000 herankommt als in den philosophischen Übersetzungen und Kompilationen mit ihrer Fülle von neuen ad-hocAbstraktbildungen, die für einmal ans Licht treten und ohne Folgen wieder aus der Geschichte verschwinden. Stellen wir zunächst die wenigen formelhaften Ausdrücke zusammen, in denen werlt die Hebraismen der Vorlage wiedergibt: Durchaus traditionell sind die Stellen (populi confitebuntur tibi) in Qternum et in s^culum s^culi — in euua. unde in uuerlt uuerlte (44, 18) In ^ternum et in s^culum s^culi — In euua. unde in uuerlt uuerlte. (47,15) In ^ternum et in s^culum s^culi — loh nü. ioh iomer in uuerlt uuerlte (51,10) (conturbentur) in sqculum sQCuli — in uuerlte uuerlte (83, 18) Benedictus dominus . . . a s^culo et usque in sijculum — fone uuerlte ze uuerlte (105, 48) In den drei ersten Beispielen legt der Kontext eine Erklärung f ü r diese Übersetzungsweise nahe: Da die lat. Formel aus zwei Gliedern zusammengesetzt ist, von denen das erste eindeutiger temporal formuliert ist, wird ewa bzw. iomer bereits f ü r die Wiedergabe des ersten Teils beansprucht, so daß f ü r den Rest die traditionelle, lexikalisch deutlich abstechende Wendung sich anbietet. In den folgenden Belegen weicht die deutsche Übersetzung in geringfügigen, aber charakteristischen Details von der Vorlage ab: A s^culo et usque in seculum (sei Gott gelobt) — Hinnan fone dirro uuerlte. unz ze enero uuerlte ...
(40,14)
Die lat. Formel unterscheidet in keiner Weise zwischen den beiden saecula; der Sinn der Wendung ist wohl eine einschichtige Umklammerung aller Zeitepochen (,von Beginn der Zeit bis in alle Zeit'). Notker aber differenziert säuberlich zwischen ,dieser' und .jener' uuerlte, womit die umgreifende zeitliche
2.2. Der Zwischenbereich
211
Vorstellung in den H i n t e r g r u n d rückt u n d kategoriell schärfer bestimmte Begriffe eintreten. O b in uuerlt n u n ausschließlich Zeitliches (.Epoche') gemeint ist, oder ob Temporales n u r noch mitklingt im theologisch weiter verstandenen Begriff v o n uuerlt, läßt sich nicht entscheiden. Noch deutlicher erscheint diese Verlagerung in 102, 17: Misericordia . . . domini a s^culo et usque in Qtcrnum . . . f 6 n e a n a g ä n tero dirro uuerlte. u n d e d a n n a n unz ze enero uuerlte (später als Glosse: föne dna-gäntero uuerlte f ü r a seculo). H i e r ist das temporale M o m e n t aus dem Lexem uuerlt herausgenommen u n d auf das attributive P a r t i z i p übertragen, so d a ß uuerlt frei w i r d f ü r den umfassenderen theologischen Welt-Begriff. Konsequenterweise (wenn auch zeitlich unscharf) ist in eternum n u n nicht durch einen der sonst gängigen Ewigkeitstermini wiedergegeben, sondern w i e d e r u m durch werlt — mit dem O p p o sitionssignal enero. Vergleichbar ist die Stelle 71, 19, w o allerdings die deutsche W e n d u n g keine unmittelbare lat. Entsprechung h a t : Et benedictum nomen glori§ eius. in qtcrnum. — iomer. ioh er ende dero uuerlte. ioh n a h ¿nde. Das pauschale Z e i t - A d v e r b iomer w i r d ausgefaltet in die theologisch gedeuteten K o m p o n e n t e n . H i e r ist mehr als augenfällig, d a ß der zeitliche Aspekt durch er ende b z w . nah ende repräsentiert ist, w ä h r e n d werlt w i e d e r u m den eigentlich theologischen Begriff ausdrückt. K o m p l e x sind die semantischen Verhältnisse in 105, 1 u n d 106, 1: in s^culum misericordia eius — in uuerlte ist sin g n ä d a . in uuerlte locus p^nitenti^. n a h dero uuerlte ende chumet iudicium.
ist
W e n n die eigentliche Übersetzung des Psalmverses t e m p o r a l gemeint z u sein scheint, so bringt der K o m m e n t a r eine m e r k w ü r d i g e Umbiegung ins Räumliche (locus), was vermutlich bereits auf die Vorlage zurückgeht. Was mit dem ersten in uuerlte n u n eigentlich' gemeint sei, entzieht sich unserer Intuition. (Die von Sehrt/Starck beigezogene Cassiodorstelle gibt keine eindeutige A u s k u n f t , da sich d o r t der Ü b e r g a n g v o m Zeitlichen ins Räumliche ganz zwanglos aus der G e d a n k e n f ü h r u n g ergibt — wogegen bei N o t k e r der Terminus selbst a b r u p t umgedeutet w i r d : in saeculum, vitae huius significat cursum: ubi miseri sunt, quicunque d e l i n q u u n t : ubi fas est corda nostra converti et misericordiam postulare. ibi enim d a m n a t i o est confiteri peccatum . . . ) In 106, 1 ist der biblische Vers genau der gleiche, u n d auch N o t k e r wiederholt seine Ubersetzung. Doch d a n n schließt sich eine K o m m e n t i e r u n g an, die den Wortsinn v o n in saeculum thematisch macht u n d die auch ein Licht wirft auf 105, 1: I m engen Anschluß an die augustinische Vorlage interpretiert N o t k e r den Bibelvers auf zweifache Weise, gemäß der zweifachen Deutungsmöglichkeit v o n 14*
212
2. Notker
der
Deutsche
saeculum: Wie das griedi. sig aicöva k a n n auch lat. in saeculum neben der innerweltlichen Bedeutung soviel heißen wie in aeternum. W e n n n u n in saeculum innerweltlich verstanden w i r d , d a n n ist Cassiodors oben zitierte D e u t u n g zutreffend (huius vitae cursus), u n d ,nach diesem Leben* folgt das Gericht. W e n n aber in saeculum in der zweiten Bedeutung ( = in aeternum) v e r w e n d e t ist, d a n n bedeutet der Bibelvers: sin g n a d a ist iomer (d. h. in dieser Welt u n d in der Ewigkeit). F ü r das Verständnis des fraglichen Wortes uuerlt bedeutet dies: in werlte k a n n einen temporalen Sinn haben, m u ß es aber keineswegs. D i e W e n d u n g ist o f f e n b a r s y n o n y m gemeint mit ,Lauf des Lebens' — dies seinerseits ist nicht p r i m ä r , zumindest nicht ausschließlich t e m p o r a l verstanden. D e r A k z e n t liegt vielmehr auf ,dieses' Leben. W e n n das zweifellos zeitliche in aeternum zu übersetzen ist, w ä h l t N o t k e r das A d v e r b iomer (wie es bereits in den Glossen z u beobachten w a r ) . In der Gegenüberstellung der beiden Bedeutungsmöglichkeiten v o n sig aicova aber bleibt er bezeichnenderweise bei der lat. Terminologie stehen (ioh in seculum ioh in eternum), u n d auch der Glossator h ü t e t sich, die beiden Gegensätze zu übersetzen, w ä h r e n d er sonst im umgebenden T e x t alles sich Anbietende glossiert. W e n n schon das lat. saeculum ä q u i v o k sein k a n n , so erst recht das deutsche werlt. U n d hier sind wir vielleicht einem der G r ü n d e auf der Spur, w a r u m die W o r t g r u p p e u m uuerlt a m E n d e der a h d . Zeit aus dem temporalen Bereich a b g e d r ä n g t w i r d : W e n n eindeutig Zeitliches gemeint ist, stehen klarere, weniger belastete W ö r t e r z u r V e r f ü g u n g . W e n n aber der volle Sinn des biblischen Begriffes v o n ,diese' u n d ,jene' Welt intendiert ist, k a n n das alte W o r t mit seiner zugleich vagen u n d umfassenden Bedeutung a d ä q u a t eingesetzt w e r d e n . A n z u f ü g e n bleibt, d a ß N o t k e r sich an einer dritten vergleichbaren Stelle, w o der gleiche Bibelvers zu übersetzen ist, definitiv f ü r die augustinische D e u tung in 106, 1 entscheidet: . . . d a z sin g n ä d a iomer ist. (117, 1) A n die Stelle des mißverständlichen in Werlte ist endgültig das eindeutige Z e i t - A d v e r b getreten. Eine aufschlußreiche Bemerkung z u r lat. Terminologie bietet Augustins K o m m e n t a r z u 118 F 44: Die Kirche b e w a h r t die plenitudo legis, das ist: die Caritas, non solum in hoc saeculum, sed etiam in alterum, quod appellatur saeculum saeculi. Aus der im biblischen K o n t e x t n u r adverbial v e r w e n d e t e n F o r m in saeculum saeculi schält Augustin etwas wie einen begrifflichen K e r n heraus u n d setzt diesen der Ewigkeit gleich. Eine solche D e u t u n g t u t der biblischen Formulierung sicherlich G e w a l t an, ist aber umso erhellender f ü r die Verschiebungen, die biblisches Zeitverständnis unter dem Einfluß des Platonismus in der Patristik e r f ä h r t (vgl. u. 252 ff.). Diese sprachliche F u ß n o t e A u g u stins spiegelt sich in N o t k e r s Übersetzung des Bibelverses wie in seinem K o m m e n t a r : E t custodiam legem t u a m Semper in seculum et in seculum s^culi — . . . so behüoto ih dxna ea io. Das z w a r eindeutig temporale, in seiner A b g r e n zung aber unbestimmte io übersetzt zunächst nur lat. Semper. Die im Lat. fol-
2.2. Der Zwischenbereich
213
gende kumulative Wendung wird dann erst im Kommentar erläutert, wo gleichzeitig das ,idi' des Sprechers auf die Kirche hin ausgelegt ist: Dilectionem diu plenitudo legis ist / behüoto ih din corpus, din ecclesia. in uuerlt uuerlte. Die zeitliche Formel wird schließlich unmittelbar ins Räumliche, oder wenn man will: Metaphysische hineingenommen: uuanda in anderro uuerlte dar uuir dih kesehen. ist follera minna . . . N o t k e r interpretiert somit — entsprechend der augustinischen Vorlage — den Ausdruck uuerlt uuerlte als .andere (jenseitige) Welt' (Augustin: alterum (saeculum), quod appellatur saeculum saeculi). Bei Augustin wie bei N o t k e r ist also Zeitliches in Metaphysisches umgedeutet, und z w a r auf dem Hintergrund der Lehre von den beiden Aeonen (s. u. 303 ff.). Die traditionelle Formel des Typus in uuerlt uuerlte, sofern sie überhaupt noch temporal verstanden wird, bedarf jedenfalls einer deutenden Präzisierung, auch wenn nicht eine lat. Vorlage solche Klarstellung unmittelbar erfordert. So heißt es in der Übersetzung des Canticum Mariae (S. 1106, V. 55): in semine tuo benedicentur omnes gentes. Vuio lango sol daz uuesen? In s^cula. In alle uuerlte. hier unde in euuon. Zunächst tritt das Adjektiv alle attributiv hinzu, da alleinstehendes uuerlte schon grammatisch mehrdeutig wäre, und ferner muß die undifferenzierte Wendung in ihre relevanten Komponenten aufgelöst werden. Bezeichnend, daß hier und in euuon — räumlicher und zeitlicher Terminus — friedlich nebeneinander stehen. Selbst in einer so sehr auf Zeitliches hin angelegten Formulierung, wie es die A n t w o r t auf die Frage ,wie lange?' sein sollte, spielt das Schema der beiden Aeonen (u. S. 303 ff.) prägend hinein und überlagert die temporale Vorstellung. Die weiteren Belege zeigen ähnliche Befunde: Benedicam nomini tuo in seculum. et in seculum seculi — in unde iomer dara-näh. (144, 1)
uuerlte.
Die lat. Formel, wie gewohnt rein kumulativ und lexikalisch einschichtig, ist im Deutschen in zwei lexikalisch differente Glieder aufgelöst, die das Epochale .dieser Welt' und der Zeit danach betonen. Noch deutlicher in dieser Richtung schichtet die deutsche Ubersetzung ihre Vorlage im folgenden Vers um: Longitudinem dierum in seculum et in seculum seculi. An sinero ^cclesia gäbe du imo lengi dirro tago. daz si uueret unz diu uuerlt stat. unde dära-nah iomer. (20, 5). Das Vorbild f ü r die Aufspaltung bietet hier Augustinus, der aber das zweite Glied (in seculum seculi) wiederum explizit als aeternitas deutet: longa tempora saeculi huius, quae haberet ecclesia, et deinceps aeternitatem in saeculum saeculi. Auch der Ausdruck ante saecula erfährt im Deutschen eine solche Verschiebung :
214
2. Notker der Deutsche deus . . . qui est ante sçcula — der êr dero uuérlte ist . . . der fore rîchesot (54, 20)
uuêrlte
Der im Lat. pluralische Zeitausdruck ist im Deutschen singularisch und mit bestimmtem Artikel wiedergegeben; die saecula sind umgedeutet in ,diese Welt'. Die nachfolgende Weiterführung des Gedankens kann auf den hinweisenden Artikel verzichten. D a es hier um eine metaphysische Aussage über das Sein Gottes geht, liegt eine solche Umdeutung nahe: das theologisch Primäre ist die Schöpfung Gottes, die ,Welt' im weitesten Sinne; erst davon abgeleitet oder daraus folgend entsteht Zeit. Wenn Gott also vor der werlt ist, dann ist er implizit auch vor der Zeit. Ganz ähnlich im folgenden Beleg, wo es um den Heilsplan Gottes geht, der schon vor Erschaffung der Welt feststeht: Deus . . . ante sçcula operatus est salutem . . . êr dero uuêrlte (73, 12) Auch einfaches in sçculum wird in einen expliziten Ausdruck aufgelöst: oues gregis tui confitebimur tibi in sçculum — îomer. unz in ende dero uuerlte (78, 13) — gemäß Augustinus: id est, usque in finem saeculi. Das in seiner temporalen Erstreckung nicht begrenzte îomer wird durch den aus Augustinus bezogenen Zusatz abgegrenzt. a sçculo schließlich ist ebenfalls kommentarbedürftig: Et misericordiarum tuarum que a sçculo sunt — dîe föne êrist uuêrlte uuâren (24, 6)
îo
Das Adverb îo ist aus dem Kommentar bezogen: et hoc reminiscere, quia misericordiae tuae a saeculo sunt, nunquam enim sine illis fuisti. Während Augustin aber die zeitliche Geltung der göttlichen Barmherzigkeit ins Unbegrenzte ausdehnt, hält Notker — gemäß dem Bibelvers — wenigstens am zeitlichen Beginn (mit Erschaffung der Welt) fest. Weitere Belege zeigen werlt vor allem in Wendungen wie ,am Ende der Welt', ,nach dem Ende der Welt' usw. (13, 7 an démo ende dero uuérlte; 28, 11 Nâh démo ende dirro uuerlte; 60, 5 unz an ende dirro uuerlte) oder ,zu Anfang der Welt' (118 T 152 Initio cognoui de testimoniis tuis — Ze êrist dirro uuerlte) u. ä. Meistens hat der Bibeltext oder der entsprechende Kommentarpassus den Terminus saeculum. Hier ist, wie schon oben besprochen, das temporale Moment, das ja in den Ausdrücken ende, ze êrist usw. entfaltet wird, für werlt kaum mehr maßgebend. Einen Spezialfall stellt die Verwendung des Wortes für saeculum = Weltalter dar, so in 92, 1 mehrmals. Bezeichnenderweise aber übersetzt der Glossator in 92, 2 die ausführlichere Wendung in sexta çtate mundi nicht einfach mit uuerlte, sondern ebenso analytisch wie das Lat. mit an demo sehstin âltire dero uuerlte. uuerlte steht hier an der Stelle von mundus, während der Temporalbegrifï gleichfalls durch einen eindeutigen deutschen Zeitterminus wiedergegeben ist. Die weitaus überwiegende Menge der Belege aber bilden deiktische Wen-
2.2. Der
Zwischenbereidi
215
düngen wie ,diese Welt' und Jene Welt', die sicherlich keinen primär zeitlichen Sinn mehr haben, sondern die theologische Grunddifferenz des Irdischen und des Jenseitigen anzeigen. Des öfteren treten lokale Adverbien hinzu, die den Charakter des Demonstrativen noch verstärken. Diese Beleggruppe — obschon sie nicht mehr zum eigentlichen Temporalwortschatz gehört — darf nicht übergangen werden, weil gerade dieser besondere Gebrauch des Wortes werlt auf die Strukturierung des Wortbereiches von Zeit und Ewigkeit entscheidend eingewirkt hat: disa uuerlt (27,1) in dero anderun uuerlte / hier in uuérlte (32, 19) f6ne dirre uuerlte (33, 7) in énero uuerlte . . . dar (33, 15) die arbeite dero gagenuuerten uuerlte (41,8; gagenuuert fungiert als raum-zeitliches Signal im gleichen Sinne wie hier) ûzer disemo egypto dirro uuerlte (43,18; A: de ista Aegypto saeculi) hier in uuerlte / in énero uuerlte (51, 8; A: in hoc saeculo) hier in uuerlte (55, 1) in énero uuérlte (55, 12; C: in illa perpetuitate — bei Notker ist der Ewigkeitsterminus durch den theologisch äquivalenten Begriff uuerlt repräsentiert) in énero uuerlte (60, 8) hier / hina in ânderro uuérlte (61, 7) hier in uuérlte (62, 1; C: huius saeculi) Disiu uuérlt (62, 3; A: saeculum istud) in énero uuérlte (62, 6; A: in illo futuro saeculo — hier ist das lat. temporale Adjektiv durch das wiederum äquivalente Demonstrativum ersetzt) hära in uuérlt, disa uuerlt (67, 25) in énero uuerlte (78, 13) hier / in énero uuerlte . . . , nû / dânne (127, 2) in dirro arbéitsâmûn uuerlte / âne arbéite . . . in énero uuerlte (133,1) Hier in uuerlte / in enero uuerlte (144, 4) hier / in anderro uuerlte (146, 3) Charakteristisch für diese Beleggruppe sind folgende Merkmale: 1. Fast immer stehen die Wendungen in Oppositionsfeldern (diese Welt/ jene Welt usw.). Wenn die Opposition nicht im unmittelbaren Kontext vorhanden ist, so ist sie doch in gewisser Weise ,mitgedacht'. Ohne auf die Problematik eines solchen ,Mitdenkens' 7 in psychologischer oder sprachphilosophischer Hinsicht uns einzulassen, können wir doch feststellen, daß hier ein deutlich sichtbares Feld aufgebaut ist, das aus zwei Oppositionsgliedern besteht, von denen jedes seinen vollen Sinn erst aus dem Gegensatz gewinnt. 7
Vgl. Seiffert, a. a. O., 29 ff., zur potentiellen ,Präsenz' der Feldglieder.
216
2. Notker der Deutsche
2. Die sprachlichen Mittel der Oppositionsbildung sind nicht lexikalisiert — in dem Sinne, d a ß zwei selbständige Lexeme mit den Gliedern des Feldes durchgehend identisch w ä r e n . Vielmehr w i r d der jeweilige Feldbereich signalisiert durch Zeichen, die z u m gleichbleibenden Lexem uuerlt hinzutreten. Diese Zeichen können A d j e k t i v e , P r o n o m i n a (vor allem hinweisender Funktion) u n d Adverbien sein (die gleichfalls vorwiegend deiktischen W e r t haben). 3. Die Feld-Signale — wie w i r sie deshalb nennen wollen — sind im R a h m e n eines Feld-Gliedes untereinander nahezu beliebig austauschbar. A u d i räumliche u n d zeitliche Hinweise sind k o m m u t i e r b a r , o h n e d a ß der Sinn f ü h l bar betroffen w i r d . (Diese letztere Tatsache w i r d noch genauer zu untersuchen sein.) 4. Was hier Ursache, was Folge ist, wage ich nicht z u entscheiden: O b die weite Bedeutung von werlt mit seinen räumlichen u n d zeitlichen K o m p o n e n t e n im 9./10. J a h r h u n d e r t die weitgehende Austauschbarkeit der Feld-Signale ermöglicht hat, oder o b u m g e k e h r t die ständige K o l l o k a t i o n des Wortes werlt mit solchen verschiedenartigen Signalen das Lexem selbst z u m Symbol f ü r die beiden theologisch entscheidenden Bereiche des Diesseits u n d des Jenseits gemacht h a t , ist schwer z u sagen. Bei der Diskussion der Ewigkeitstermini in N o t k e r s Psalter u n d bei der Behandlung der beiden Äonen w i r d die Frage noch einmal z u stellen sein. Der G l o s s a t o r übersetzt die noch verbliebenen lat. Reste, in unserem Falle seculum u n d mundus, nach dem Vorbild N o t k e r s ins Deutsche. U n p r o b l e matisch sind die Fälle an ende uuerlte (in fine seculi) 9, 1 I m Notkerschen K o n t e x t steht hier in uuerlte u n d liefert damit das unmittelbare Muster, ende uuerlte (finis seculi) 30, 3 unz ende uuerlte (in finem seculi) 41, 8 Auch hier bietet der K o n t e x t das V o r b i l d : n o h die arbeite dero gagenuuerten uuerlte. in ende uuerlte (in fine seculorum) 45, 11 ze ende uuerlte (ad finem seculi) 58, 15 an ende uuerlte (in fine seculi) 88, 47 an ende dero uuerlte (in fine m u n d i ) 89, 16 f ö n e anagenne uuerlte (ab origine m u n d i ) 50, 10 Die Belege ohne t e m p o r a l e n Sinn oder wenigstens t e m p o r a l e K o l l o k a t i o n e n können wir übergehen. Aufschlußreich aber sind die Fälle, d a der Glossator, wenn auch n u r geringfügig, v o m lat. T e x t abweicht. Diese Abweichungen lassen sich in zwei T y p e n gliedern: (a) Wiedergabe lat. Simplicia oder A t t r i b u t i v g r u p p e n durch deutsche K o m posita, (b) Verschiebungen im Bereich der oben besprochenen Feld-Signale.
2.2. Der
Zwischenbereich
217
(a) uuerlt-kirida (ambitio s^culi) 7 , 1 0 uuerlt-liute (s^culares) 19, 8 ähnlich:
uuerlt-liuto (s^cularium) 92, 4 uuerlt-perga (montes seculi) / aber: Gotes perga (montes dei) 45, 4 u. 6 uuerlt-arbeite (tribulatione) 6 5 , 1 5 $ternam (beatitudinem) — euuiga / temporalem felicitatem — uueriltsäldon 105, 13
Bemerkenswert sind die Fälle 4 5 , 4 und 105, 13, wo die gleiche lat. Konstruktion im Deutschen einmal mit Kompositum, einmal mit analytischer attributiver Wendung wiedergegeben ist. uuerlt hat — wie schon in den älteren Texten und in Glossen festzustellen w a r — eine starke Affinität zur Komposition, was auch f ü r den semantischen Wert des Wortes erhellend sein wird. (b) princeps mundi — fursto dirro uuerlte 24, 10 Der demonstrative Artikel gibt dem Wort jenen signalisierenden Akzent, der im bloßen lat. mundus nicht enthalten ist. in hoc sqculo — hier in uuerlte 76, 3 und 77, 53 Dies ist eine der typischen Verschiebungen vom lat. Demonstrativpronomen zum deutschen Lokaladverb mit deiktischer Funktion, das einen äquivalenten Signalwert besitzt. Lenken wir zurück zu den Komposita: Die durch den Glossator eingefügten Kompositionen finden sich — mit Ausnahme von werlt-arbeit — schon bei N o t k e r selbst. Doch weist gerade die singuläre Glossierung werlt-arbeite auf eine erstaunliche Selbständigkeit des Glossators hin, die in die N ä h e der stilistischen Variation reicht: 65, 14 N o t k e r : in tribulatione mea — in minero uuerltnöte aber 65, 15 Glosse: tribulatione — uuerlt-arbeite. Betrachten wir nun die im Psalter von N o t k e r selbst verwendeten Komposita: werlt hat hier stets die Funktion des Bestimmungswortes, nie des Grundwortes: werlt-zit,Weltalter' 6 , 1 uuerlt-rätes 21, 25 disiu uuerltnaht (A: nox huius saeculi) 58, 17 in tribulatione mea — in minero uuerltnöte 65, 14 föne dien uuerltfreison 67, 23 in sqculo obtinuerunt diuitias — uuerltrihtüoma habent 72, 12 in dirro uuerltscöni / in enero uuerlte 144, 12 In den Komposita (vielleicht mit Ausnahme des neutraleren uuerlt-zit) verleiht werlt dem jeweiligen G r u n d w o r t die eindeutige Zuordnung zum irdischen Welt-Bereich, meist mit einer abwertend-weltanschaulichen Nuancierung. Aus dieser semantischen Besonderheit erklärt sich nun auch die Affinität des
2. Notker der Deutsche
218
Wortes zur Komposition: Sobald die ,Bedeutung' eines Wortes in eine F u n k tion' übergeht, verliert es seine lexikalische Selbständigkeit und wird zum verfügbaren Morphem, werlt ist in der Sprache Notkers mindestens ein Stück weit in den Bereich des Morphems übergetreten, wenngleich es in vielen Kontexten auch als freies substantivisches Lexem auftritt. U b e r die Adjektiv-Komposita
mit uueralt
hat Ingeborg Schröbler 8
Wesentliche gesagt, und für weitere Substantivkomposita mit werlt
das
im Werke
Notkers sei auf die Glossare von Sehrt/Starck, Sehrt und das Ahd. W ö r t e r buch von Schützeichel verwiesen. Für die überwiegende Zahl der Belege aber scheint mir I . Schröblers zusammenfassende Bemerkung nicht zutreffend: „In allen diesen Fällen bezeichnet uueralt
den Bereich, innerhalb dessen das A d -
jektiv, mit dem es zusammengesetzt ist, Gültigkeit h a t . . , 9 ." Diese Feststellung hätte nur dann einen richtigen Sinn, wenn mit ,Bereich' nicht etwas neutral Eingrenzendes gemeint ist, sondern der volle Feld-Wert von werlt mit seinen weltanschaulichen Assoziationen. Es handelt sich hier um syntaktische Fügungen, in denen das Bestimmungswort nicht ein beliebiges Lexem mit einem bestimmten Bedeutungsumfang ist, sondern um ein Signal innerhalb eines klar umrissenen Signalfeldes. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang das Abstraktum
uuerltlichi,
in
dem
der
gesamte
weltanschauliche
Gehalt
des
Simplex gleichsam zusammengezogen ist: daz sie uuerltlichi
ferliesent. unde Götelichi guuinnent. 35, 9
Seinen vollen Sinn gewinnt auch dieses Abstraktum erst aus dem Gegensatz zu götelichi — ein Gegensatz der Haltungen, wie er für das Mittelalter nicht schärfer sich darbieten könnte. Zu beachten ist, daß werlt
in den Komposita den gleichen
Stellenwert
besitzt wie in sonstigen Kontexten die gesamte deiktische Wendung ,diese W e l t ' u. ä. Alleinstehendes, nicht weiter präzisiertes werlt — soweit es in den T e x t e n überhaupt noch anzutreffen ist — bezeichnet immer den irdischen Welt-Bereich, wie im oben erwähnten Ausdruck före uuerlte im Anschluß an er dero uuerlte (54, 20) oder in der Phrase unreht in uuerlte (56, 2). D a ß aber Fügungen wie die letztgenannten im Psalter weitaus in der Minderzahl sind gegenüber Formulierungen wie ,hier in der Welt', zeigt die starke Zugkraft des Signalfeldes, das in jedem Fall eindeutige Zuordnung verlangt. Während also in syntaktisch freien Ausdrücken das bloße,
undeterminierte
Lexem je länger je weniger auftritt — aufgrund seiner semantischen Vagheit — , behält es in der Komposition offenbar die K r a f t eindeutiger Zuordnung zum irdischen Bereich.
8 Sdiröbler, a. a. O., 127/8. » Sdiröbler, a. a. O., 128.
2.2. Der Zwischenbereich
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2.2.2. tag Bei der Diskussion der ahd. Texte vor N o t k e r w u r d e bereits evident, eine wie bedeutende Stellung das W o r t tag mit seinen zahlreichen usuell gewordenen Verwendungsweisen im Wortbereich v o n Zeit u n d Ewigkeit einnimmt. D a ß der Sprachgebrauch der Bibel, u n d v o r allem des Alten Testamentes auch f ü r die deutschen Texte p r ä g e n d g e w i r k t hat, d ü r f t e hinreichend deutlich geworden sein. Der Psalter n u n ist derjenige Text, in dem das W o r t tag in bestimmten Kollokationen a m weitesten in das Gebiet temporaler Unendlichkeit v o r d r i n g t . Wie sich dieser sprachliche E m a n z i p a t i o n s p r o z e ß in der deutschen Ubersetzung spiegelt u n d wie der K o m m e n t a r den biblischen Sprachgebrauch zu erhellen sucht, wollen w i r nach einem Überblick über die alltäglich-umgangssprachlichen Gebrauchsweisen des Wortes p r i m ä r ins Auge fassen. D e r Feldgegensatz zu N a c h t w i r d — außer in den wenigen Stellen, w o T a g im ,eigentlichen' Sinne gemeint ist — bei N o t k e r noch sichtbar in den z u sammenfassenden P a a r f o r m e l n nach dem Muster v o n lat. die ac nocte, die v o r allem auf die K o n t i n u i t ä t u n d Intensität einer H a n d l u n g zielen (s. o. 127). Die Reihenfolge der W ö r t e r ist bei N o t k e r ohne A u s n a h m e die auch heute noch übliche: tages u n d e nahtes, tages ioh nahtes Das Gleiche gilt f ü r den Glossator. (Beispiele: 31, 4; 39, 9; 41, 4; 70, 15.) Eine sehr einleuchtende E x p l i k a t i o n des gemeinten Sinnes bietet 70, 15 mit seiner Aneinanderreihung v o n synonymen Ausdrücken: tota die — allen dag . . . alle zite. tages ioh nahtes. Die lat. W e n d u n g tota die, die gleichfalls nicht n u r die leere D a u e r , sondern v o r a b die Intensität u n d K o n t i n u i t ä t einer H a n d l u n g bezeichnet, w i r d im Deutschen wiedergegeben durch allen dag (z. B. 43, 22 tota die — allen dag. daz chit alle zite. O d e r 55, 2 T o t a die — allen d a g . . . in allen ziten. Die Verdeutlichung f o l g t dem K o m m e n t a r Augustins: tota die, tota tempore.) Die jeweiligen Präzisierungen im deutschen T e x t zeigen, d a ß allen dag in N o t k e r s Sprachbewußtsein nicht selbstverständlich als Bezeichnung langer D a u e r u n d kontinuierlichen Verlaufes gilt. (Schon im Lat. m u ß der Ausdruck tota die in seinem generellen Sinn nicht u n m i t t e l b a r eingängig gewesen sein, wie aus Augustins K o m m e n t a r hervorgeht. M a n vergleiche e t w a Augustins E r l ä u t e r u n g zu Vers 85, 4 a d te clamavi tota die: tota die, omni tempore intellege . . . usque in finem saeculi. N o t k e r a h m t d a n n die lat. D e u t u n g getreulich nach: den tag allen. In allen ziten . . . unz in endo dirro uuerlte.) Die Tatsache spricht f ü r sich, d a ß ja die lat. W e n d u n g in den meisten Fällen gar nicht ,wörtlich' verdeutscht, sondern durch Formulierungen mit dem allgemeineren zit wiedergegeben w i r d . Der Ausdruck de die in diem deutet nicht nur auf K o n t i n u i t ä t u n d gleichbleibende Intensität, sondern eher auf eine Steigerung der Intensität einer H a n d l u n g hin (,von T a g z u T a g immer mehr'). N o t k e r übersetzt wörtlich:
220
2. Notker der Deutsche fone tage ze tage (95, 2; auch 67, 20).
Daß die mit tag gebildeten Ausdrücke als Bestimmungen der Intensität zu deuten sind, legen vor allem die verbalen Kollokationen nahe (lat. exsultare, laudare, benedicere usw.). Neutraler ist die lat. Wendung in omni tempore, die die Gesamtheit der Lebenszeit eines Menschen meint und im Deutschen einmal durch alle taga (Diapsalma S. 42, V. 5) wiedergegeben wird. Mehrfach erscheint dies/tag im Sinnbereich ,gewertete Zeit', qualitativ determiniert durch Adjektive oder substantivische Attribute: in freisigen tagen 26, 5 ubelero tago . . . 93, 13 In die tribulationis — An demo tage minero note 85, 7 Auch die bekannten Kollokationen mit Possessivpronomina fehlen nicht: In pluralischer Verwendung bezeichnen die Ausdrücke die ,Lebenstage', die ,Lebenszeit' der betreffenden Person: defecerunt dies mei — mine taga zegangen sint 101,4 Paucitatem dierum meorum — dia unmanigi minero tago 101, 24 dies eius sicut umbra prqtereunt. sine taga 143, 4; ähnlich 102, 15 und öfter. Im Singular meint solche individualisierende Redeweise den Kairos eines Menschen, den ihm von Gott zum Heil oder zum Unheil bestimmten Zeitpunkt: Dominus autem irridebit eum. quoniam prospicit quod ueniet dies e i u s . . . uuanda er fore-uueiz. daz sin dag chumet 36, 13 und öfter Über diese Typen der Verwendung von dies/tag wurde an früherer Stelle das Nötige gesagt. Für den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes läßt sich resümierend festhalten: Außer im Vers (S. 42, 5), wo taga dem lat. tempus entspricht, gibt tag immer lat. Ausdrücke mit dies wieder; aber nicht alle Stellen mit dies werden durch tag verdeutscht. Da dies ein in verschiedensten Nuancierungen verwendetes Wort des Psalters ist, setzt Notker — wo immer notwendig — andere deutsche Termini, vor allem zit (s. d.). Als Tendenz könnte man formulieren: Dort wo dies auf das Leben bestimmter Personen bezogen und wo es durch qualifizierende Zusätze als ,gute', ,böse' Zeit usw. determiniert ist, zieht Notker das individuellere tag vor. Sobald aber summative Wendungen mit dies in der Bedeutung ,alle Zeit' oder ,alle Zeit des Lebens' u. ä. auftreten, scheint sich dem Sprachgefühl Notkers das allgemeinere zit (s. d.) aufzudrängen. Nun ist es kennzeichnend für Wortgebrauch und Stil des Psalters, daß dies des öfteren von der Seinsweise Gottes ausgesagt wird. Doch hier ist Vorsicht geboten: Wenn in Notkers Text von ,ewiger Tag' u. verwandten Formulierungen die Rede ist, so stets im Kommentar zum Psalter, nie im Bibeltext selbst. Im Psalter wird ,Tag' jeweils nur in anthropomorphem Sinne von Gott
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ausgesagt, und zwar in Wendungen, die großenteils nicht von der auf Mensdien bezüglichen temporalen Redeweise abstechen. Nicht primär der Übersetzer, sondern der I n t e r p r e t sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die in Worten der Alltagssprache dargebotenen temporalen Aussagen über Gott in eine theologisch-präzise Sprache zu transponieren und den Ausdruck auf die Ebene einer der metaphysischen Spekulation angemessene Begrifflichkeit zu heben. Dieser Umdeutung wollen wir nun nachgehen: Vt inhabitem in domo domini omnibus diebus uitq meq. 26, 4 Dieser keineswegs spekulative Temporalausdruck wird von N o t k e r zunächst Wort f ü r Wort übersetzt: alle taga mines lîbes. D a n n folgt der Kommentar (der sich natürlich an Augustinus anschließt): D i r alle taga éin dâg sint. dar géron ih séldon. D a r tag âne naht ist. dâr lîb âne tôd ist. dâr lîeb âne léid i s t . . . Der Vorgang der Abstraktion besteht in zwei Schritten: 1. In der (nicht genannten) Ewigkeit sind alle Tage e i n Tag. 2. Diesem Tag folgt keine Nacht. In zweifacher Hinsicht also ist die Tag-Vorstellung des umgangssprachlichen Verkehrs transzendiert. Beide Schritte sind in Augustins knapper Kommentierung inbegriffen: quin potius una dies sine nocte, quam multi dies dicendi essent. Das Gleiche wird ausgesagt im Kommentar zu 2 2 , 6 : D o r t hat der Psalmvers bereits einen Zeit-Ausdruck, der die endlose Dauer andeutet, wenngleich noch nicht präzise benennt: Vt inhabitem in domo domini. in longitudine dierum ... — in lengi dero tâgo. An diese wörtliche Übersetzung schließt N o t k e r die kurze Deutung an: die in plurali numéro einen dag êuuigen bezeidienet. Hier wird nun der ,eine' Tag als ,ewiger' benannt, womit die Beziehung zum Wortschatz und zur Theorie der Ewigkeit hergestellt ist. Im Lat. wie im Deutschen ähnlich ist die Stelle 90, 16: Longitudine dierum adimplebo eum. Längero tâgo . . . dar êuuige tâga sint. unde alle täga ein dag sint. Hier ist der gedankliche Ablauf weniger abrupt, da als Zwischenglied zwischen Vielheit und Einheit, zwischen umgangssprachlicher und abstrakter Formulierung das vermittelnde euuige taga eingeschaltet ist. Wenn in diesen Fällen der erste der beiden Brennpunkte der Vorstellung vom ,ewigen Tag' angesprochen ist, so hebt die folgende Stelle den zweiten heraus: In deo laudabimur tota die 43, 9 Wiederum wird zunächst wörtlich übersetzt, gleichlautend mit der üblichen Übersetzung von tota die im umgangssprachlichen Sinne: An Göte uuerden uuir gelobot allen dag.
222
2. Notker
der
Deutsche
Bezeichnenderweise geschieht nun der grammatisch-syntaktische Anschluß des Kommentars in Form einer lokalen Konjunktion: D a r tâg âne naht ist. dâr uuérden uuir gelöbot. Ewigkeit wird zugleich räumlich und zeitlich vorgestellt, wie ja auch das Ausbleiben der Nacht nicht primär Zeitliches intendiert, sondern die lichthafte Seinsfülle der Ewigkeit, genauer: des ewigen Gottes. (In der lat. Kommentarvorlage — diesmal anscheinend Cassiodor — ist das temporale Moment noch weit wirksamer erhalten: tota die perpetuum tempus ostendit, quod non habet noctem.) Wieder anders ist das Verhältnis von Tag und Ewigkeit in der unter ,euuig' bereits diskutierten Stelle 60, 7 formuliert. Hier muß man geradezu von einer Umbiegung des Psalmverses sprechen, zumal die wörtliche Übersetzung (vermutlich aus gutem Grund!) übersprungen ist. Die interpretierende Verdeutschung f a ß t die Präposition super im Vers Dies super dies regis als ,über — hinaus': Éin dag ist in çternitate irleita.
des chiininges C h r i s t i . . . zûo disert, dîe er hier
Über die Tage des Erdenlebens Christi hinaus gibt es noch e i n e n der Ewigkeit.
Tag in
Dieser Tag wird gelegentlich als der ,achte' Tag bezeichnet. Der achte Tag gleichfalls als ein Darüber-hinaus, nämlich über die sieben Schöpfungstage, über die sieben Tage der Woche usw. hinaus, mit anderen Worten: der Tag jenseits aller mit der Schöpfung gegebenen Tage: Daz mit êuuigemo tage der octauus heizet, disiu léida uuérlt-finstri déro männolichen irdrîezen mag. zestôret uuerde. 11,1 (Octavus bezieht sich nicht auf ein Wort des Psalmverses, sondern aui den Vorspann zum eigentlichen Psalm: In finem pro octavo.) Auch gemäß dem Kommentar Augustins zu dieser Stelle ist ausdrücklich der Tag, der mit dem Ende dieser Welt anhebt: octavo intelligi pro aeterno saeculo. In 118 M 91 wird explizit wiesen, daß der ewige Tag f ü r den Menschen nur Gott sein kann, Ewigkeit wie seiner Lichthaftigkeit:
der achte Tag Potest et pro darauf hingeGott in seiner
Ordinatione tua perseuerat dies . . . uuéret der tag. Fidelibvs ist an dir euuig tag. (vgl. A : et iste est dies, quem fecit dominus . . . , nach Ps 117, 24) Hier ist der Übergang zum .ewigen Tag' durch das Verbum des Bibelverses erleichtert: Von perseverarejuueren ist der Schritt zur unendlich-ewigen Dauer vorgezeichnet. Der ewige Tag läßt sich dann auch von den bekannten Metaphern f ü r das göttliche Reich aussagen:
2.2. Der Zwischenbereich
223
E t uideas quç b o n a sunt ierusalem. O m n e s dies uitç tuç. Alle taga dînes lîbes (nämlich Jerusalems, aber eben des ewigen Jerusalems!) D a z ist der êuuigo tag. (vgl. A : sed si v i t a t u a aeterna fuerit, in aeternum videbis bona Jerusalem.) 127, 5 Schließlich w i r d der ewige T a g in seinem ,Wert', seiner Q u a l i t ä t weit hinausgehoben über jeden irdischen T a g — in jenem berühmten Vers, der eine der Kernstellen gewesen sein m a g f ü r die Ausbildung des sprachlichen Konnexes v o n T a g u n d Ewigkeit: Q u i a melior est dies u n a in atriis tuis super milia. V u a n d a ein dag pezer ist in dînen höuen d a n n e dûsent hier. H i e r h é r t o n t tag u n d e naht, an dien ältent die ménniscen. sament dir ist ein tag. an démo nioman nealtet. Neist d â n n e d a r der d î n o bezero. d a n n e hier manege? 83, 11 D a s una dies des Psalmverses, das im Sensus literalis w o h l durchaus umgangssprachlich (e i n T a g bei G o t t unter den vielen Tagen bei G o t t ) gemeint ist, läßt sich mit einer leichten U m a k z e n t u i e r u n g ohne Schwierigkeit f ü r die Ewigkeitsspekulation n u t z b a r machen. Ein Gesichtspunkt, der in allen v o r a n g e h e n d e n Stellen bereits implizit mitgedacht w a r , w i r d in 38, 5 expressis verbis e n t f a l t e t : Wenn in der Ewigkeit alle Tage e i n T a g sind, d a n n müssen die Gegensätze von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft dahinfallen: n o t u m fac mihi domine finem meum. Et n u m e r u m dierum m e o r u m qui est. W e n n der Vers in seinem vordergründig-litteralen Verständnis auf die Z a h l der noch verbleibenden Tage bis z u m E n d e zielt (die Z a h l der Tage, ,die mir noch übrig ist'; vgl. auch den F o r t g a n g des Textes: V t sciam quid desit mihi), so k n ü p f t der K o m m e n t a t o r seine I n t e r p r e t a t i o n a m Tempus des Verbums esse an, u n d N o t k e r übersetzt dementsprechend bereits d e u t e n d : V n d e t û o mir chunt dîa zàla m î n e r o tâgo. diu echert ist. âne uuas. u n d e âne uuirdet. Gegenüber der E r k l ä r u n g Augustins z u dieser Stelle mutet N o t k e r s K o m mentierung nüchtern u n d a b s t r a k t a n ; in deutlichem A n k l a n g an G e d a n k e n gänge der Confessiones ( X I . Buch, vgl. u. S. 261 ff.) evoziert Augustinus die Vorstellung v o n der Vergänglichkeit der Zeit, v o n ihrem rätselhaft-beunruhigenden Wesen, das Sein u n d Nicht-Sein zugleich u m s p a n n t , u n d setzt dagegen ab eine Zeit, die i s t , ohne der Vergangenheit anheimzufallen oder noch une r f ü l l t in der Z u k u n f t zu d ä m m e r n : isti ergo dies n o n sunt: a n t e abeunt pene, q u a m v e n i a n t ; et cum venerint, stare n o n possunt: iungunt se, sequuntur se, et non se tenent. nihil de praeterito r e v o c a t u r : quod f u t u r u m est, transiturum expectatur; n o n d u m habetur, d u m non venit, non tenetur d u m venerit. n u m e r u m ergo dierum meorum, qui e s t : non istum, qu-i non est, et quod me
224
2. Notker
der
Deutsche
difficilius et periculosius perturbât, et est et non est; nec esse possumus dicere, quod non stat, nec non esse, quod venit et transit. Von dieser ganzen tiefgründigen Meditation über das Wesen der Zeit bleibt bei Notkers nichts als der eine Gedankengang: was nur i s t , ohne Anteil am Nicht-Sein zu haben, das kann auch nicht den drei Ekstasen der Zeit unterworfen sein. Dies ist nun nichts anderes als die ontologische Begründung der ersten Komponente, die wir im Ausdruck ,ewiger Tag' isolieren konnten. Die augustinische Zeit-Spekulation entzündet sich an der Sprache, und z w a r weniger an den lexikalischen Elementen, als vielmehr an grammatisch-syntaktischen Beobachtungen (Konjunktionen und ihr Aussagewert f ü r temporale Verhältnisse von Sätzen; vor allem aber die Tempora des Verbums). Diesem Verfahren sucht N o t k e r nahezukommen, indem er seinerseits die deutschen Verbformen thematisch macht und sozusagen als selbständige substantivische Lexeme behandelt (âne uuas, âne uuirdet)1". Dieses Jonglieren mit grammatischen Formen ahmt N o t k e r auch an einer Stelle nach, die nicht unmittelbar von einer Vorlage auf diesen Weg gewiesen ist: lingua mea tota die meditabitur iustitiam tuam. allen dag. Der âllo tag. ist in çternitate sine fine. 70, 24 Der Kommentar liefert hier nur den Gedanken der Übertragung des ZeitAusdruckes auf die Ewigkeit, A: tota die . . . id est, in aeternitate sine fine. N o t k e r aber macht die adverbielle Wendung allen dag thematisch, indem er sie in den Nominativ überführt und durch den Artikel sozusagen in A n f ü h rungszeichen setzt. Z w a r kann al im Ahd. dasselbe bedeuten, was wir heute durch ,ganz' ausdrücken (also: ,der ganze Tag'), doch ist eine syntaktische Verbindung Artikel (Dem. Pronomen) + al (flektiert) + Substantiv in der ganzen ahd. Literatur nur an zwei Stellen der Benediktinerregel, die eine W o r t - f ü r Wort- und Form-für-Form-Ubersetzung der lat. Vorlage darstellen, und eben in unserem Notkervers belegt 11 . Der Ausdruck der allo tag d ü r f t e somit auch f ü r das Sprachgefühl Notkers grammatisch und semantisch ungewöhnlich geklungen haben. U n d eben dieses Auffällige, Ungewohnte ist die Pointe der Kommentierung: durch die grammatische .Verfremdung' wird der Übergang von der normal-sprachlichen Redeweise zur Formulierung der Ewigkeitsaussage geleistet. Gleichfalls in den Vorstellungskomplex des ,ewigen Tages' gehören einige Stellen, in denen das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit in ähnlichen Termini, wenngleich weniger dialektisch angesprochen ist. So kann die Rede sein von den ,ewigen Jahren' Gottes, die nicht vergehen: Et annos çternos in mente habui. — diu êuuigen iâr. fone dîen gescriben ist. Et anni tvi non deficient (gemäß dem Kommentar Augustins) 76, 6 10
11
In neuerer linguistischer Terminologie w ü r d e m a n dies als .quotation' bezeichnen, vgl. H o c k e « , The State of the Art, a. a. O., 99 ff. Vgl. Frings/Karg-Gasterstädt, Ahd. Wörterbuch, I 168.
2.2. Der Zwischenbereich
225
Vorher war als Gegensatz genannt die alten daga. die nu. irgangen sint. Die Tag-Metaphorik erlaubt es auch, in anthropomorphem Sinne von ,Tagen des Himmels' zu sprechen: dies cçli — die tdga des himeles. Dies terrç sint unstate . . . aber dies cçli stant ze stete (gemäß Augustinus). 88, 30 Hier geht die Deutung aber nicht über die räumliche Metaphorik des ,Feststehens' hinaus, die temporale Transzendierung des normal-sprachlichen Ausdrucks wird nicht vollzogen. Gar nicht kommentiert ist der Vers, der Gottes Anschauung der Zeit in den Kategorien der Zeit selbst formuliert: Quoniam mille anni ante oculos tuos. tanquam dies hesterna quç preteriit. — . . . uuanda före dînen ougon decies centum anni / diu alte Hute ante diluuium nâh kelébeton. samo churz sint. samo-so der gésterîgo tag. der fcruârcn ist. 89, 4 ( N u r die relative Länge von 1000 Jahren gegenüber einem Tag wird — über die bloße Ubersetzung des Psalmverses hinaus — hervorgehoben.) Wir konnten beobachten, wie sich im Anschluß an die der Alltagssprache verwandten Zeitausdrücke des Psalters, sofern sie sich in analoger Redeweise auf Gott oder das ewige Leben beziehen oder wenigstens daraufhin gedeutet werden, eine philosophische Spekulation über das Wesen der Ewigkeit entfaltet. Z w a r kommt es nirgends zu einer zusammenhängenden, systematischen D a r stellung, doch aus den einzelnen ad-hoc gegebenen Erläuterungen läßt sich eine A r t Gesamtbild zusammenstellen. N o t k e r bemüht sich, den Schritt der philosophischen Umdeutung und Explikation nachzuvollziehen. In lexikalischer Hinsicht bietet dies keine Schwierigkeiten, da die beiden Kernwörter des Gedankens aus der Alltagssprache (tag) bzw. der vornotkerschen dogmatischtheologischen Sprache. (ewig) vorgegeben sind. Ein hohes M a ß an sprachlichem Abstraktionsvermögen aber ist erforderlich, um Wendungen wie âne uuas oder der allo tag in präzisem Sinne zu bilden und zu verwenden. Schließlich liegt Notkers Leistung vor allem im straff zusammenfassenden gedanklichen wie sprachlichen Duktus, der das Gerüst der Kommentar-Vorlage, untadelig, wenngleich mit einer gewissen Nüchternheit, referiert. Vom ruhelosen In-FrageStellen aller Begriffe, auch der alltäglichsten und uns unmittelbar vertrauten — wie ,Zeit', ,heute' —, vom steten Kreisen um die. zentralen Ideen des christlichen Daseins, wie es aus den Schriften Augustins in jedem Satz spürbar wird, ist der St. Galler Mönch weit getrennt. S e i n e Rhetorik entzündet sich am hymnischen Stil und Gestus des Psalters selbst, weniger aber am gedanklichen Ringen um das adäquate Verständnis der Sinnschichten des biblischen Wortes. Aufs ganze gesehen, wird N o t k e r mit seiner Psalter-Ubersetzung und auf große Strecken auch mit der Psalterkommentierung der gesprochenen Sprache seiner Zeit weit näher geblieben sein als in der Boethius-Übersetzung, die eine Meisterleistung der Terminologie-Bildung und damit zugleich einen oft kühnen, 15
Burger, Zeit
2. Notker der Deutsche
226
w o h l auch gewaltsamen V o r s t o ß in sprachliches N e u l a n d darstellt. I m Vergleich mit dem Psalter w i r d m a n I. Schröblers vorsichtige Frage an die BoethiusÜbersetzung entschiedener b e a n t w o r t e n d ü r f e n : „ . . . eine Seite dieser Leistung ist unserem Urteilsvermögen k a u m erreichbar: wie w i r k t e diese Sprache auf die Zeitgenossen, welchen D u f t atmete sie ihnen? W i r wissen w o h l : dies ist ein altes W o r t — aber w i r k ö n n e n nicht sagen, ob es als ein Archaismus e m p f u n d e n wurde. W i r wissen: anderes sind N e u b i l d u n g e n — aber w i r wissen nicht, wie weit sie dem allgemeinen Sprachgefühl natürlich w a r e n , wie weit sie als individuelle Kühnheiten erschienen 12 ." Sicher ist der Anteil des Individuell-Sprachbildnerischen in der Consolatio-Übersetzung unvergleichlich größer als im Psalter, w o sich die U m s e t z u n g des Alltäglichen ins Abstrakt-Philosophische im Vollzug beobachten läßt.
2.3. D i e
Ewigkeitstermini 2.3.1. emezig
In N o t k e r s Psalter findet sich emezig n u r an zwei Stellen, d o r t aber eindeutig mit nicht mehr spekulativem oder auch n u r generalisierenden Sinn, wie Kollokationen und der gesamte K o n t e x t zeigen: In prophetiis ist so getan gechose (,Redeweise') emezig (A: solet fieri, u t . . . praenuntiet propheta.) 125, 3 Sölih kebet ist etelichen emezig nals manigen. 118 T 145 (A: tales orationes r a r a e sunt multis, crebrae a u t e m paucis.) Die charakterisierten Substantive ebenso wie die Parallelen im K o m m e n t a r Augustins weisen darauf hin, d a ß emezig häufige oder a n d a u e r n d e Wiederholung b z w . Intensität einer H a n d l u n g anzeigt. I m gleichen semantischen R a h m e n halten sich auch die übrigen Belege in N o t k e r s W e r k : emezigero liebsami (assidua ..Mart. C a p . I 743, 3) dia bleichi iro (nämlich: der Philologie) emezigen unsläfes — pallorem lucubrationum perennium (Mart. C a p . I 729, 7) emezigosto niumo — continua Mart. Cap. 1781,16) Das A d j e k t i v a b s t r a k t u m emezigi Boethius-Ubersetzung:
m o d u l a t i o (von der Musik ausgesagt; t r i t t nur einmal auf, u n d z w a r in der
f o n e dero emezigi dero arbeito (exercitatione) I 122, 20 Die Leistung des A b s t r a k t u m s ist nichts weiter als eine genaue Transposition des semantischen Wertes v o m A d j e k t i v aufs Substantiv. 12
Schröbler, a . a . O . , 180.
2.3. Die
Ewigkeitstermini
in
Als Adverbialbildungen v o m gleichen S t a m m k e n n t N o t k e r (bzw. der Glossator) emezes u n d das reguläre A d j e k t i v a d v e r b emezigo, in synonymer Verwendung: E t delictum meum coram me est Semper — emezes . . . ío. unde io 50, 5 Septies in die l a u d e m dixi t i b i . . . Septies u u i r t fernomen Semper. u u a n d a septenis diebus álliu t é m p o r a ge-zálot uuerdent. Also iz chit. septies (Glosse: uel emizigo) cadet iustus et resurget. 118 V 164 Die Glosse enthält bereits die I n t e r p r e t a t i o n v o n septies, die dem zitierten Psalmvers vorausgeht. Gemeint ist ¡immer wieder v o n neuem f ä l l t der Gerechte u n d steht wieder a u f ' . emezig u n d seine Sippe ist also aus d e m Bereich der rein t e m p o r a l e n und abstraktionsfähigen W ö r t e r ausgeschieden. Es ist kontextuell fest gebunden an Verba oder Substantiva, die den C h a r a k t e r des Kontinuierlichen, immer Wiederkehrenden, Intensiven usw. aufweisen können. Die Geschichte des Wortes, die bereits mit dem E n d e der ahd. Zeit sehr n a h e an den heutigen Wortgebrauch h e r a n f ü h r t , l ä ß t sich in einer k u r z e n Formel zusammenfassen: D a s temporale M o m e n t w i r d v e r d r ä n g t durch das M o m e n t der Intensität, oder noch genauer: Aus einem ursprünglich sehr weiten Verwendungsbereich, der T e m p o ralität u n d Intensität in gleicher Weise umspannte, sondert sich e i n M o m e n t aus u n d w i r d beherrschend.
2.3.2. ewig Fast unübersehbar ist die Zahl der Belege f ü r ewig in N o t k e r s Psalter. Wir wollen versuchen, sie nach den durch ewig charakterisierten Bereichen a u f z u gliedern. D a w ä r e zunächst der K o m p l e x von Aussagen über G o t t , seine innertrinitarische Seinsweise, über die göttlichen Personen in sich; sodann Aussagen über Gottes H i n w e n d u n g z u r K r e a t u r , die den Ü b e r g a n g darstellen zu den auf Menschen u n d K r e a t u r e n ü b e r h a u p t bezüglichen Stellen; schließlich die Texte, in denen ewig in rein temporalen K o l l o k a t i o n e n h e r v o r t r i t t , wenngleich nicht ohne Beziehung zu einem der vorangehenden Bereiche. D a ß d a m i t zunächst nur A n w e n d u n g s b e r e i c h e ' des Wortes beschrieben sind, ohne d a ß über ,Bedeutung' etwas gesagt wäre, versteht sich v o n selbst, (a) G o t t u n d T r i n i t ä t , dogmatischer Bereich: 8 0 , 1 0 G o t t ist nicht recens (A: a d tempus factus), sondern euuig. Vgl. A : deus autem non recens, sed ab aeternitate in aeternitatem. D a z u ist zu stellen Fides Ä t h a n . 7 (S. 1110): Euuig der fater. euuig der sun. euuig der heiligo Geist, d a z chit. sine initio. et sine fine. (8) Et tarnen non tres ^terni. sed unus qternus. tri euuige. einer euuiger. 15*
2. Notker der Deutsche
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In beiden Texten ist euuig nicht bloßes dogmatisches P r ä d i k a t Gottes, sondern in seinem vollen t e m p o r a l e n Sinn intendiert, wie der jeweilige K o n t e x t zeigt. W ä h r e n d aber im A t h a n a s i a n u m A n f a n g s - u n d Endlosigkeit, also zeitliche Unendlichkeit gemeint ist, suggeriert der K o m m e n t a r z u Psalm 80 die Bedeutung ,Zeitlosigkeit = Ewigkeit'. U m diese unmittelbaren P r ä d i k a t i o n e n Gottes schließt sich ein Kreis von bildh a f t e n Aussagen über die Seinsweise Gottes: R e g n u m t u u m . regnum o m n i u m s^culorum. — D i n riche ist euuig riebe. iz ist durhkang allero uuerlto. 144, 13 D e r summativ t e m p o r a l e Ausdruck omnium sqculorum ist im Deutschen in das A d j e k t i v euuig transponiert. In der weiteren E r l ä u t e r u n g allerdings n i m m t die Übersetzung den lat. Ausdruck noch einmal a u f : durhkang allero uuerlto D e r Psalter liebt das Bild der Berge f ü r die U n v e r r ü c k b a r k e i t u n d E n d losigkeit Gottes: a montibus qternis nezegät. 75, 5
— f ö n e dien euuigen
borgen, d^ro höhi
niomer
D a s Priesteramt Christi (sacerdotium) ist euuig (109,4). Schließlich w i r d a n t h r o p o m o r p h von den , J a h r e n Gottes' gesagt, sie seien euuig (101, 22; 76, 6). Eine a n t h r o p o m o r p h e Aussage ist es auch, w e n n v o n G o t t gesagt w i r d : dabis eum ( = Christus) in benedictionem in seculum frumest in. in euuigen segen (20, 7).
seculi — d u ge-
A n dieser Stelle ist w i e d e r u m der lat. adverbiale Ausdruck in das deutsche A d j e k t i v a t t r i b u t euuig t r a n s f o r m i e r t . (b) In zahlreichen W e n d u n g e n begegnet euuig als Aussage über das Verhalten, die H i n w e n d u n g G o t t e s z u r K r e a t u r : In qternum misericordia eius — Sin g n a d a ist euuig 99, 5 I n memoria qterna erit iustus — In euuigero gehuhte 111, 7 Iustitia t u a iustitia in qternum — D i n reht ist euuig reht. 118 S 142 FJquitas testimonia t u a in qternum — diu sint euuig reht. u u a n d a sie des rehtes iomer lebent. 118 S 144 in qternum misericordia eius — sin g n ä d a ist euuig. 135, 26 misericordia t u a in sqculum — din g n ä d a ist euuig. 137, 8 W i e d e r u m ist augenfällig, wie an 5 der 6 Stellen ein lat. Adverbialausdruck zu einem deutschen A d j e k t i v in a t t r i b u t i v e r oder p r ä d i k a t i v e r F u n k t i o n trans13
Vgl. Sehrt, Notker-Glossar, 35: „durh-kang stm. linea: Durchgang, Linie, Grenzstrich, R a n d ; din riche ist euuig riche, iz ist durhgang allero uuerlto: der Durchgang (Ursprung) aller entstandenen oder neuentstehenden Welten oder Reiche." Es fragt sich allerdings, ob die Wendung nicht wörtlicher zu verstehen ist: ,dein Reich, deine Herrschaft ist das Hindurchgehen durch alle Weltzeiten", d. h. es dauert durdi alle Zeiten hindurch.
2.3. Die Ewigkeitstermini
229
formiert ist. Durch diese Umsetzung wird die temporale Aussage des biblischen Textes terminologisch fixiert, sozusagen auf die Ebene der Dogmatik gehoben. Anders gesagt: der Sprachgebrauch des Bibeltextes, der der Alltagssprache nahe bleibt, wird in die Sprache theologischer Begrifflichkeit überführt. (c) Am zahlreichsten sind nun die Belege f ü r . e w i g e s L e b e n ' , f ü r dessen Synonyme und Gegensätze: euuiger lib (in verschiedenen Kasus; nur die interessanteren Fälle sind im Wortlaut aufgeführt, die übrigen nur mit Stellenangabe): ßin IIb ist ¿chert euuiger 62, 4 Dien diser lib liebera uuas danne der euuigo 123, 3 uitam usque in sqculum — euuigen lib 132, 3 Laudabo dominum in uita mea — In euuigemo libe 145, 2 (C: Laudare in vita est, in illa aeternitate domino confiteri.) Hier ist die eigentliche Übersetzung zugunsten der Interpretation übersprungen, in uitam qternam — ze euuigemo libe Fid. Äthan. 39 (S. 1116) Weitere Stellen: 29, 6; 62, 5; 93, 22; 114, 4. Oft hat Notker den lat. Ausdrude vita aeterna unübersetzt gelassen, so daß viele deutsche Belege erst in Glossen erscheinen: 16,8; 33,1; 33,9; 36,26; 39, 4; 57, 12; 66, 2; 68, 1; 74, 1; 87, 12; 88, 52 (a temporali uita ad aeternam — fone zit-libe ze euuigemo übe); 105, 7. Meist ist in den Glossen auch gegen die lat. Wortstellung die Reihenfolge euuiger lib beibehalten, was f ü r eine fest geprägte Verbindung zeugt. In die gleiche Richtung deuten die Fälle, da — wie oben besprochen — lat. Adverbialausdrücke im Deutschen in eine adjektivische Determinante transformiert werden. Der direkte Gegensatz zu ,ewiges Leben' ist ,ewiger Tod', in dieser Formulierung aber nur in einer Glosse belegt: a morte perpetua — fone euuigemo tode 97, 1 Der ewige Tod wird im Psalter fast ausschließlich durch konkret-bildliche Ausdrücke bezeichnet, wie Hölle, Feuer usw.: daz euuiga fiur (A: igni aeterno) 20, 10 in euuiga hella (A: ad gehennam. C : aeterna poena) 33, 22 opprobrium sempiternum — euuigen iteuuiz 77, 66 tempus eorum (der Feinde Gottes) in ^ternum. s. ignem. Vnde iro zit uu£ret in euua. Euuig fiur ist in gäro. 80, 16 (vgl. o. S. 207) des euuigen fiures 101, 4 in ignem ^ternum — ze euuigemo fiure Fid. Äthan. 39 (1116) Wiederum sind eine Reihe von Belegen nur in Glossen verdeutscht: damnatio qterna — euuig ferdamnunga 43, 20 in ignem aeternum — daz euuiga fiur 44,10 in ignem qternum — in euuig fiur 49, 3 ignem qternum — euuig fiur 75, 9
230
2. Notker
der
Deutsche
Ebenso gibt es f ü r ,ewiges Leben' eine Anzahl bildlicher oder genauer charakterisierender Ausdrücke: êuuiga râuua 4, 9 disiu uuerlt hina-uuirt. unde daz êuuiga tâges-lîeht 5,5.
peginnet chomen.
Allerdings fragt es sich, ob das ,ewige Tageslicht' nicht Gott selbst bezeichnet (vgl. unter ,tag'). Jedenfalls geschieht in diesem ,Tageslicht' die Anschauung Gottes, wie es im Fortgang des Textes heißt : danne gesiho ih dih. daz êuuiga erbe (A: hereditatem sempiternam) 20, 11 êuuiga séti (,Sättigung') / seculum (Glosse: uuerlt) 21, 27 portç çternales — êuuige portç 23, 7 portç çternales — êuuiges rehtes portç 23, 9 Die ausführlichere Übersetzung in 23,9 gegenüber 23, 7 beruht auf der Kommentar-Vorlage: portae aeternae iustitiae (Augustinus). Diese Stellen wären mit gleichem Recht im Umkreis des .ewigen Reiches' aufzuführen, (der Friede im Himmel ist) êuuig 36, 11 êuuig confessio sanctorum 43, 9 dîa chûoli dero êuuigun râuuo 65,12 (A: perpetuum. . . refrigerium) dero êuuigun speculationis 72, 28 fone disemo unfride ze êuuigemo fride 75, 4 in testamentum qternum — ze êuuigero benéimedo 104,10 dero êuuigun seldo 106, 7 ze êuuigen râuuon 114, 8 êuuig uuunnesami 118 B 14 deduc me in uia çterna — ze démo euuîgen uuége 138, 24 ad qternam salutem — ze dero êuuigun saldo Fid. Äthan. 25 (S. 1113) Dazu kommen noch einige erst durch den Glossator verdeutschte Stellen: in çterna tabernacula — in êuuiga sélida 65, 15 qternç inmortalitatis — êuuigero untôdigi 67,14 qterna pax — êuuig frido 75, 4 qternam (beatitudinem) — êuuiga / temporalem felicitatem — uuérilt-sâldon 105,13 Von größtem Interesse f ü r den Problembereich des ,Signal-Feldes' diese/ jene Welt ist der letzte Beleg, wo der im Lat. eindeutige Zeit-Ewigkeit-Gegensatz in einen solchen von Ewigkeit und Welt verwandelt wird. In allen diesen Belegen ist êuuig kaum je in seinem vollen temporalen Sinn aktualisiert, sondern hat vor allem den Wert eines Zeichens f ü r das Sein im Jenseits. Das wird bestätigt durch die zahlreichen Oppositionen, mit denen die verschiedenen Ausdrücke in Kontrast stehen, z.B. 21,27: seculum (Glosse: uuerlt); 5, 5 disiu uuerlt; vor allem Belege wie 123, 3 diser lîb — der euuigo, oder 75,4 fone disemo unfride ze êuuigemo fride. Hier wäre mit Vorteil wieder der Begriff des ,Signal-Feldes' heranzuziehen. Wichtig ist vorläufig
2.3. Die
Ewigkeitstermini
231
festzuhalten, daß auch ewig mit einer großen Zahl seiner Belege in diesen FeldBereich entscheidend eingreift, und daß auch hier das Prinzip der Austauschbarkeit zeitlicher und allgemein deiktischer Elemente gewahrt ist. Wenn es darum geht, die für den Menschen entscheidenden spirituellen Werte und Güter herauszustellen, wird ohne nähere Erläuterung des öfteren von den ,ewigen Dingen' u. ä. gesprochen, die dann fast immer im Gegensatz zu den ,weltlichen Dingen' erscheinen: temporalia bona / euuigiu (A: aeterna) 36, 26 hauptsächlich in Glossen vertreten: temporalia — zit-fristigiu dinch / ad qterna — ze dien euuigen 13, 5 temporalia — disiu zitelichen / qterna — diu euuigen 43, 1 dero temporalium bonorum — zitlichon habido / qternorum — euuigero genädon 72, 1 aeterna — euuigiu dinch ebda. terrena bona — dero erdo güot / pro qternis — fure daz euuiga 72, 18 temporalia — zitlichiu / qterna — euuigiu 105, 7 Schließlich kann die Kreatur als ewig bezeichnet werden, sofern Gott die Sterblichen zu Ewigen erhöht: Glosse: föne mortalibus qternos — todigen euuige 15, 3 mortales — die todigen / qternos — euuigen (nämlich: generationes) 99,5 Schließlich wird das Leben der Heiligen im Himmel qualifiziert als ewiger Lobgesang, ewiger Hymnus (148,14). (d) Als letzte Gruppe wären diejenigen Fälle aufzuführen, da ewig in seinem reinen temporalen Bezug hervortritt. Daß wir diese Beispiele von den vorangehenden Gruppen abtrennen, geschieht nur um eines Wechsels der Perspektive willen. Natürlich handelt es sich auch hier jeweils (mittelbar) um die Seinsweise Gottes oder des Menschen nach dem Tode. Im Zentrum steht der Begriff des ,e w i g e n T a g e s ' , jene vielschichtige Formulierung, die in sich die Komponenten des Lichtes wie der Ewigkeit enthält (vgl. unter ,tag'). Der ewige Tag wird auch der achte Tag genannt, wie auf die sieben Weltalter das achte ( = Ewigkeit) folgt. Im Anschluß an seine Vorlagen versucht Notker diese Vorstellungen nachzuvollziehen: Daz mit euuigemo tage der octauus heizet, disiu leida uuerlt-finstri... zestoret uuerde. 11,1 (A: Potest et pro octavo intelligi pro aeterno saeculo.) Notkers Formulierung ist im Vergleich zur Vorlage weit affektiver und eindringlicher; schärfer als Augustin stellt er den absoluten und unvermittelbaren Gegensatz der Ewigkeit zur , Finsternis' dieser Welt heraus. Omnibus diebus uit§ me? — alle täga mines libes . . . unz ih lebo / in longitudine dierum. Daz ih dära-nah in celesti ierusalem büe. in lengi dero tago. die in plurali numero einen dag euuigen bezeichenet. 22, 6
232
2. Notker
der
Deutsche
Hier wird jenes in uno omnia im Bilde des Tages formuliert, das Augustin im Ansdiluß an 44, 2 (s. u. 233 f.) im Rahmen einer spekulativen Wort-Theologie entwickelt. Der Tag als Element der Zeitrechnung (wenngleich nicht die kleinste benannte Größe der Chronometrie) birgt in sich alle denkbaren Tage, also alle denkbare Zeit. Dies ist das Paradox der implicatio und explicatio, das den augustinischen Gedanken mit dem Neuplatonismus verbindet (s. u. 252 ff.). In 118 M 91 ergibt sich der ewige Tag — weniger streng — aus der unendlichen Fortdauer der Tage: Ordinatione tua perseuerat dies. Fone dinero ordenungo uueret der tag. Fidelibvs ist an dir euuig tag. an demo sulen sie honeste ambulare et l^tari in ea. (Wörtlich nach Augustinus, der wiederum Ps. 117,24 heranzieht: iste est dies, quem fecit dominus, exsultemus et iocundemur in ea: et sicut in die honeste ambulemus.) Hier wird die andere Komponente des Ausdrucks deutlicher als in den ersten Beispielen evoziert: die Lichthaftigkeit der Ewigkeit (im Bilde des Im-Tageslicht-Wandeins). Die Vorstellung des ewigen Tages wird im Psalter in mannigfachen Annäherungen umkreist (weitere Stellen sind unter ,tag' behandelt). So sind auch die (unter (a) besprochenen) ,ewigen Jahre' nichts anderes als eine Approximation an den schärferen Ausdruck ,ewiger Tag'. Wie der Psalter seinen poetischen Zauber seit je der Gewalt seiner Bildhaftigkeit verdankt, so nehmen auch die Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen meist ihren Ursprung beim Konkreten, Anschaulichen, ja Alltäglichen. Statt von Unsterblichkeit zu sprechen, preist der Psalter die Freude, die Wohnungen des Gerechten bei Gott; und so nennt er auch nicht die Ewigkeit beim Namen, sondern spricht von der Länge der Tage usw. Wenn von Ewigkeit die Rede ist, so erst explizit im Kommentar, der die aus der alltäglichen Sprache genommenen Reden in spekulative Terminologie und theologische Begrifflichkeit umsetzt. Wir konnten beobachten, daß Notker diese sprachlich-begriffliche Tendenz gelegentlich schon in der eigentlichen Psalm-Ubersetzung zum Tragen kommen läßt (bei der Transformierung lat. Adverbialausdrücke in den adjektivischen ,Begriff' ewig). Mit anderen Worten: Notker versucht, die differierenden Sprachebenen, Redeweisen in Bibeltext und Kommentar in gewisser Weise einander anzunähern und schroffe Übergänge zu vermeiden. Abschließend sei noch ein Blick geworfen auf die wenigen Belege zu ewig:
adverbialen
An Adverbbildungen zu ewig finden sich im Psalter das normale Adjektivadverb euuigo und die suffigierte Bildung euuiglichoi non confundar in aeternum — scämeg neuuerde ih euuigo 30, 2 (Gottes Wort ist) euuigo gesprochen . . . daz an demo sprechenne initium noh finis nesi (vgl. u. S. 233 f.) 44, 2 Et laubado nomen tuum in s^culum s?culi — Vnde bediu löbon ih dih
2.3. Die
Ewigkeitstermini
233
hier, u n d e in euuon. der dih hier uuirdigo lobot. demo u u i r t keläzen. d a z er dih lobot euuigo. 144, 2 Patientia p a u p e r u m non peribit in finem — Tero a r m o n gedult nesol nio euuiglicho ferlören sin. 9, 19 als Glosse: (Christus ist Sohn D a v i d s ) in t e m p o r e — zitlicho / (aber Gottes Sohn) in ^ternitate — euueclicho 77, 2 Zwischen den beiden Adverbialbildungen scheint m i r kein semantischer Unterschied z u bestehen. Wichtig ist aber zu bemerken, d a ß die Adverbien v o n ewig in K o n k u r r e n z treten z u r adverbialen W e n d u n g in euua. Wie in euua stehen die Adverbien als Übersetzung v o n in aeternum (ähnlich auch: non ... in finem). Ein Unterschied der V e r w e n d u n g deutet sich aber in 1 4 4 , 2 a n : W ä h r e n d die Übersetzung des Psalmverses selbst den Ausdruck in euuon a u f weist, setzt N o t k e r im K o m m e n t a r das A d j e k t i v a d v e r b euuigo. Es steht zu vermuten, d a ß auch das A d v e r b euuigo wie das G r u n d w o r t euuig stärker der theologischen Begriffssprache v e r h a f t e t ist als die Fügung in euuon. D a r ü b e r hinaus d ü r f t e die W o r t w a h l in diesem Vers auch rhythmische u n d stilistische G r ü n d e h a b e n : euuigo k n ü p f t an das parallele A d v e r b uuirdigo an, das den gleichen Zeitfall u n d die gleiche E n d u n g (Bildungsweise) anzeigt. Bemerkensw e r t ist schließlich, d a ß sowohl in euuon als auch euuigo in unmittelbaren Gegensatz zu hier treten können. Nicht weiter verwunderlich scheint es, d a ß N o t k e r in 77, 2 die lat. Termini unübersetzt läßt. Stehen sie doch in einem K o n t e x t theologisch-typologischer I n t e r p r e t a t i o n des Bibeltextes, der den C h a r a k t e r der Gelehrsamkeit nicht verleugnen k a n n u n d will. Auch der Glossator b e m ü h t sich nicht um eine Verdeutschung.
2.3.3. ebenewig Die wenigen Belege in N o t k e r s W e r k gehören ganz in den R a h m e n dogmatischer Terminologie u n d G e d a n k e n f ü h r u n g . Wie in den älteren C r e d o - F o r m u laren begegnet das W o r t auch im Notkerschen A t h a n a s i a n u m : 3 coqterna maiestas — eben-euuig mägenchraft 22 alle d r i persona sint eben-euuig (coqternq) Auch im Psalter findet sich das W o r t a n einer Stelle, die A n l a ß zu trinitarisdier Spekulation bietet: Lingua mea. i. u e r b u m meum. calamus scribf. i. scriptura scriptoris. M i n u u o r t ist also State, also diu scrift des scriben. Menniscon u u o r t zegät. Gotes u u o r t ist imo eben-euuig (d. h. Gottes W o r t = Christus, ist ihm = G o t t gleichewig) 44, 2 Das Ewig-sein des göttlichen Wortes w i r d bei Augustinus — unter dem Bilde der Schrift — noch weiter e r l ä u t e r t : Die Schrift — im Gegensatz z u m
2. Notker
234
der
Deutsche
gesprochenen Wort — ist beständig. Daher ist Gottes Wort dem geschriebenen Wort vergleichbar. Während aber ein menschliches Wort aus Buchstaben und Silben besteht, die sukzessiv aufeinander folgen, ist das göttliche Wort so schnell geschrieben bzw. gesprochen, daß alle Sukzession aufgehoben wird und in uno sint omnia. Diesen Gedanken gibt N o t k e r nur ungefähr wieder; das Zentrum der Trinitäts- und Ewigkeitsspekulation, das in uno omnia, wird auf das Fehlen von Anfang und Ende reduziert: doh iz so euuigo gesprochen si. daz an demo sprechenne initium noh finis nesi. Diese Psalter-Stelle ist vergleichbar jenem Passus bei O t f r i d I 5, 26, w o der dogmatische Terminus sich im Zusammenhang trinitarischer Vorstellungen fast selbstverständlich einstellte 14 .
2.3.4. e w a Bei N o t k e r stellt sich nicht mehr das Problem, ob ewa ,Gesetz' und ewa ,Ewigkeit' H o m o n y m e bilden. ,Gesetz' heißt nun éa, é, während ,Ewigkeit' nur noch in den Formeln in euua und ze éuuon vorkommt. Durch lautgeschichtliche Veränderung des freien Lexems sind die einstigen H o m o n y m e — falls sie je H o m o n y m e waren (s.o. 164 ff.) — zu zwei verschiedenen Wörtern geworden, von denen das zweite allerdings schon völlig in den Bereich adverbieller Fixierung eingetreten ist. Die Belege f ü r die Formeln um éuua seien nach den lat. Vorbildern gegliedert: (1) in
qternum:
Et confirmasti me in ^ternum — in éuua / ze éinero friste 40, 13 benedixit te deus in ?ternum — in euua / ze éinero friste 44, 3 Deus fundauit eam in (jternum — in éuua. Sí neuuirt furder zestöret. 47, 9 N o n dabit in ^ternum fluctuationem iusto — in éuua / éina uuíla (A: in aeternum / ad tempus) 54, 23 non confundar in ^ternura — in éuua ... íomer 70, 1 N o n in £ternum irasceris nobis — in éuua 84, 6 Misericordias tuas . . . in ^ternum cantabo — íomer; Quoniam dixisti in ^ternum misericordia ^dificabitur — in éuua .. .diu (misericordia) éuuig ist. 88, 2/3 T u (Christus) es sacerdos in ^ternum — in éuua 109, 4 Hereditate acquisiui testimonia tua in ?ternum — in éuua ... íomer ... in éuua 118 0 111 Inclinaui cor meum . . . in ^ternum —• in éuua (dreimal) 118 0 112 14
Für eine ähnliche Stelle in der Boethius-Übersetzung vgl. Schröbler, a. a. O., 122.
2.3. Die Ewigkeitstermini
235
quia in ^ternum fundasti ea (testimonia) in euua 118 T 152 in ^ternum peribit (der Ungläubige) — ze euuon Fid. Äthan. 1 (S. 1107) Auffällig ist in dieser Gruppe der häufige Parallelismus (im Sinne einer Überschneidung oder auch gegenseitiger Steigerung) von in euua und iomer, der sich aus dem übergreifenden Schematismus des ,Signalfeldes' erklären wird; auffällig auch das Nebeneinander von in euua und euuig in 88, 3, das sich vergleichbar in 80,16 wiederfindet: tempus eorum in Qternum. s. ignem. Vnde iro zit uueret in euua. Suuig fiur ist in garo. (A: et erit tempus eorum in aeternum, non accipio nisi ignem aeternum.) Über das oben (s. 207) zu diesem Vers Bemerkte hinaus ist festzustellen, daß in ewa unmittelbar neben ewig steht, wie im Lat. adverbielles und attributives aeternum zusammengehören. Der Zusammenhang läßt sich formulieren als ein Umformungsverhältnis: ewig fungiert als Transformation des Adverbs in ewa ins Adjektivische (und umgekehrt). Dieser Satz wird sich weitgehend bestätigen lassen, wenigstens was den Notkerschen Psalter betrifft. In 88, 3 ist der transformationeile Zusammenhang besonders deutlich: Die nahezu synonymen Teilsätze unterscheiden sich nur dadurch, daß das temporale Moment vom Verb auf das Subjekt selbst übertragen wird: Adverb prädikatives Adjektiv in ewa ewig usque in qternum: Vsque in qternum preparabo (Gott) semen tuum — Vnx in euua 88, 5 usque in qternum indignabitur (Gott) — noh ... in euua 102, 9 Die verdeutlichende Präposition des Lat. wird im Deutschen durch die unmittelbare Entsprechung oder durch ein temporales Adverb wiedergegeben. (2) in sqculum: in s^culum gaudebo — in euua 74,10 semen eorum (der Gotteskinder) in s^culum dirigetur — in euua 101, 29 Memor fuit (Gott) in sQculum. hoc est in qternum ... in euua. 104, 8 Die Wendung in sqculum ist ohne weiteren Zusatz im Psalter recht selten, nicht zuletzt wohl, weil sie schon im Lat. nicht eindeutig ist (vgl. die entsprechenden Bemerkungen zu uuerlt, o. S. 211 f.). Diese Unsicherheit dokumentiert auch der Zusatz hoc est in qternum, der das sowohl auf diese irdische Zeit als auch auf die unendliche Zeit zu beziehende in sqculum eindeutig auf die zweite Möglichkeit festlegt. usque in sqculum: faciens (Gott) misericordiam usque in seculum — iomer in euua 17, 51
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2. Notker
der
Deutsche
in sqcula: in terra quam fundauit (Gott) in sqcula — ze euuon 77, 69 Bezeichnend ist, daß einer der wenigen Fälle einer eindeutig pluralischen Form von ewa als Entsprechung der gleichfalls pluralischen Form des Lat. auftritt — Symptom einer immerhin noch wirksamen Vorlagegebundenheit des sonst so frei verfahrenden Übersetzers. (3) Häufiger als die kürzeren Ausdrücke wie in qternum und in sqculum sind längere, aufgeschwellte, summative oder präzisierende Wendungen, die im Deutschen wiederum Anlaß zu entsprechend erweiterten Zeitausdrücken geben: in qternum et in sqculum sqculi: Nomen eorum delesti in (jternum et in seculum seculi — iomer in euua 9, 6 Dominus regnabit in qternum et in seculum seculi — iomer in euua Diapsalma (S. 48, V. 16) populi confitebuntur tibi in . . . — in euua. unde in uuerlt uuerlte. 44, 18 hic est deus noster . . . in qternum . . . — In euua. unde in uuerlt uuerlte. . . . in secula . . . Iomer 47, 15 Statuit ea in qternum . . . — Iomer unde in euua . . . io . . . io 148, 6 Die deutschen Entsprechungen lassen sich nach dem Grad der ,Genauigkeit', d. h. hier der Vorlagegebundenheit stufen. Am unabhängigsten ist der Ausdruck iomer in euua, der die zweigliedrige lat. Formel zu einer kontinuierlichen temporalen Wendung zusammenfaßt; in iomer unde in euua wird durch die Konjunktion der Zweigliedrigkeit des lat. Vorbildes immerhin Rechnung getragen; und in euua. unde in uuerlt uuerlte ist eine wortgetreue Nachbildung des Lat., mit Termini, die durch die vornotkersche Tradition bereits angeboten werden. in uuerlt uuerlte (s. o. 209 f.) ist dabei nur noch relikthaft eingesetzt. in sqculum sqculi: in seculum seculi cogitationes cordis eius (Gottes) — in euua .. .iomer 32, 11 psalmum dicam . . . in seculum seculi — in euua 60, 9 Vt intereant in seculum seculi — föne euuon ze euuon . .. Tu autem ... in qternum es domine . . . uuerest iomer 91, 8/9 laudabo nomen tuum in seculum seculi — hier, unde in euuon. 144, 2 Neben dem eingliedrig vektoriellen Ausdruck in euua findet sich die aus Otfrid und anderen vornotkerschen Denkmälern geläufige Formel fone euuon ze euuon. D a ß die verschiedenen deutschen Formeln semantisch kaum differieren, sondern nur in stilistischer Hinsicht verschiedenes Gewicht haben, zeigt augenfällig der Passus 91,8/9: dort ist die gewichtigere Formel des Lat. auch im Deutschen mit dem traditionsreichen, feierlichen Ausdruck wiedergegeben, während im folgenden Satz das kürzere in eternum nur durch das Adverb iomer repräsentiert ist. Und dies, obwohl im ersten Satz von der .Ewigkeit'
2.3. Die Ewigkeitstermini
237
der Verdammten, im zweiten Satz von der eigentlichen Ewigkeit Gottes die Rede ist. Wenn einmal der Horizont der Ewigkeit aufgerissen ist, kann sogar das bloße Adverb iomer für die lat. Ewigkeitsformel eintreten. In 144, 2 schließlich spaltet der Übersetzer die ,linear' kumulierende Formel der Vorlage in zwei Glieder auf, gemäß der unter uuerlt besprochenen Feldgliederung. Die im Lat. rein temporal gemeinte Wendung ist im Deutschen in eine räumliche und eine zeitliche Komponente aufgelöst, wobei aber keineswegs eine Opposition von Räumlichem und Zeitlichem intendiert ist. Vielmehr sind räumliche und zeitliche Signale in gleicher Weise der Funktion des Hinzeigens auf die beiden Welt-Bereiche, die Glieder des Feldes, dienstbar gemacht. Gleich strukturiert wie 144, 2 ist der Ausdruck 40, 3 (ohne lat. Entsprechung): N o n tradet (Gott) eum in manibus inimicorum eius — hier noh in euuon Vergleichbar ist auch der Gegensatz in Cant. Deut. 22 (S. 1094): hier / in euua (de temporali poena ad aeternam) Schließlich sind noch eine Reihe vereinzelter lat. Formeln zu erwähnen, die im Deutschen unterschiedliche Repräsentation finden: Tu domine . . . custodies nos a generatione unz in euua 11, 8
hac in qternum — hinnan
Hier ist der Ausgangspunkt des temporalen Vektors noch ausdrücklich ins Auge gefaßt. Ebenso 112, 2: Sit nomen domini benedictum ex hoc nunc et usque in sqculum — föne nü unz in euua. daz chit. ioh. nu. ioh iomer. Merkwürdig ist hier die Erläuterung, die eingeleitet wird durch daz chit. Man würde annehmen, daß iomer weniger präzise ist als in euua, da iomer nichts aussagt über die Geltung der gemeinten Handlung im Jenseits. Möglich, daß der augustinische Kommentar mitspielt: ex hoc ergo et usque in saeculum, sine fine laudate. Dem sine fine wollte Notker vielleicht — über die Wiedergabe von in saeculum hinaus — eine eigene Verdeutschung zukommen lassen. Auf jeden Fall aber bleibt die Tatsache bestehen, daß iomer als Erläuterung von in euua verwendet werden kann. Dies paßt gut zu der Austauschbarkeit der temporalen Ausdrücke, wie sie in 91, 8/9 zu beobachten war. Eine Variante der letzteren Formulierung stellt 124, 2 dar: Ex hoc et usque in s?culum (befestigt Gott seine Wohnung) — Hinnan änauuertes. unde unz in euua. Schon im Lat. merkwürdig ist der Vers Cant. Moysi 18 (S. 1075) Dominus regnabit in qternum et ultra — in euua ioh hina baz. Notker deutet die Aussage als Hyperbel: Daz ist per excessum gesprochen, i. hyperbolice. Solche hyperbolischen, im logischen Sinne ,unsinnige' Formulierungen gehören zum Stil der Hymnen des Alten Testamentes — f ü r den Rhetoriker willkommener Anlaß zu einer kategorisierenden Anmerkung. Der einzige Fall, wo euua im Kontext einer wirklich philosophisch-metaphysi-
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2. Notker
der
Deutsche
sehen Aussage begegnet, ist 89,2: eine jener Paradoxien, die dem Isidorübersetzer und noch Otfrid größte Mühe bereiteten: Priusquam montes fierent aut formaretur terra et orbis a sqculo et in sqculum. i. ab aeterno et in eternum. tu es deus. £ r die berga uuurtin. daz sint angeli. unde er erda uuurte. daz sint homines. unde. selbiu diu uuerlt. dar sie beide inne sint. er bist du. Föne euuon ze euuon bist du. Im engen Anschluß an Augustinus gelingt Notker hier eine glückliche Formulierung, die den Ablauf des Gedankens genau spiegelt: Bevor die Kreatur geschaffen wurde, i s t Gott. Dieses ,ist' kann also nur verstanden werden als das ,ewige Sein', das keinen Anfang und kein Ende kennt. Bezeichnend aber, daß dieses ewige Sein nun nicht mit einer begrifflichen Formulierung umsdirieben wird. Statt dessen verwendet Notker die traditionelle, aber gewichtige und stilistisch ausgezeichnete Wendung fone euuon ze euuon, natürlich gemäß der lat. Vorlage. Am Rande zu nennen ist schließlich eine Stelle, die — ohne direkte lat. Entsprechung — einen nur noch demonstrativ-signalisierenden Gebrauch von in euuon aufweist: (Im Vorangehen war die Rede von der ewigen Seligkeit:) N u n c autem repulisti et confudisti nos. (nunc wird von Notker als Kontrast zur verheißenen Seligkeit interpretiert:) Doh uns daz chumftig si in euuon. 43, 10 Hier ist in euuon offensichtlich nicht als temporaler Vektor gemeint, sondern als Signal für das, was den Menschen nach dem Tode erwartet. Die Verwendung der Formeln um euua in Notkers Psalter (und verwandten Stücken) läßt sich wie folgt charakterisieren: 1. Die verschiedenen Formeln richten sich in Umfang und Strukturierung nach der lat. Vorlage. Semantisch sind sie nicht spürbar differenziert. 2. Der Anwendungsbereich der Formeln überschneidet sich mit dem von iomer. Sowohl grammatische Funktion als auch semantische Geltung scheinen nahe verwandt zu sein. 3. Besonders engen Zusammenhang weisen die Formeln mit dem Adjektiv ewig auf. Diese Beziehung läßt sich als ein syntaktisches Transformationsverhältnis auffassen. 4. Die Formeln reichen des öfteren in das unter ,werlt' skizzierte ,Signalfeld' hinein und kommen entsprechend in Kollokation mit den Gliedern des Signalfeldes vor. In diesen Fällen tritt das temporale Moment in den Hintergrund. 5. N u r ganz selten begegnen die Formeln in spekulativ-theologischen Gedankengängen. Meist werden sie von Verben ausgesagt, die eine bis ins Unendliche währende Handlung bezeichnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Handeln Gottes oder des Menschen dreht. Von einer irgendwie gearteten Differenzierung im Bereich der Ewigkeitsaussagen ist in unseren Belegen nichts zu spüren. Als eine Ausnahme könnte der Passus 88, 2/3 erscheinen:
2.3. Die
Ewigkeitstermini
239
D o r t ist das Gott-Preisen des Menschen durch iomer charakterisiert, w ä h r e n d unmittelbar danach — bei identischer lat. Vorlage — eine H a n d l u n g Gottes durch in euua temporal ausgezeichnet w i r d . G e n a u das umgekehrte Verhältnis der t e m p o r a l e n Ausdrücke aber zeigt die Stelle 91, 8/9. Eine Regelmäßigkeit in der Distribution v o n in euua u n d iomer ist also aus diesen Belegen nicht abzuleiten. 6. D e r semantische Bereich der betroffenen Verben u m f a ß t im wesentlichen vier Z o n e n : (1) Verben, die das Lob Gottes durch den Menschen anzeigen ( g l o r i f i care, cantare usw.) (2) Verben, die Gottes versichernd-liebende oder auch z ü r n e n d - v e r d a m m e n d e H i n w e n d u n g z u m Menschen meinen ( f u n d a r e , irasci usw.) (3) Verben, die über das jenseitige Schicksal des Menschen (perire, interire usw.)
aussagen
(4) reine Aussagen über das Sein Gottes. V o r allem in den G r u p p e n (1), (2), (4) meint der temporale Ausdruck den unendlichen Zeitverlauf, w ä h r e n d in (3) der Blick sich unmittelbar auf das Jenseits, nicht aber auf den zeitlichen Verlauf v o n der G e g e n w a r t bis in die Unendlichkeit richtet. Auch v o m V e r b a l k o m p l e x her ergibt sich, d a ß die F o r meln von eigentlich zeitlicher Aussage bis z u r bloßen Anzeige des Jenseits reichen können. D a m i t ist zugleich gesagt, d a ß sie sowohl den irdisch zeitlichen als auch den unendlich-jenseitigen Aspekt umgreifen, d a ß also in erster Linie zeitliche Unendlichkeit, Unbegrenztheit gemeint ist im Gegensatz zu zeitlicher Begrenztheit, nicht aber etwas wie eine Ewigkeit a u ß e r h a l b jeglicher Z e i t - V o r stellung. I m m e r bleibt der C h a r a k t e r des vektoriell Zeitlichen erhalten, die Gerichtetheit v o n jetzt an . . . bis ins Unendliche. 7. Zu A n f a n g des Artikels w u r d e bereits d a r a u f hingewiesen, d a ß eine H o m o n y m i e der Ewigkeitsformeln m i t F o r m des Substantivs f ü r ,Gesetz' bei N o t k e r nicht mehr d e n k b a r ist. A u f g r u n d dieser Verschiebung u n d in Anbetracht der semantischen Eigenschaften der Formeln ist es n u n m e h r auch nutzlos, die einzelnen T y p e n bestimmten Substantivklassen u n d Kasus z u o r d n e n zu wollen. D a ß in euua als A k k u s a t i v eines fem. o-Stammes zu charakterisieren ist, w ä h r e n d in euuon u n d die längeren Formeln verschieden interpretiert werden können, spielt f ü r den Gebrauch der Ausdrücke nicht die geringste Rolle. Wenn unsere oben gegebene f o r m a l e D e u t u n g z u t r ä f e , d a n n w ä r e n in euua u n d in euuon (mit Erweiterungen) disparaten Substantivklassen zuzuweisen. Schon dies spricht f ü r eine definitiv gewordene adverbiale E r s t a r r u n g beider T y p e n , die sich in einer Schwächung des Bewußtseins f ü r die grammatische Klassifizierung der Formeln äußert. Schon bei O t f r i d w a r e n starke u n d schwache F o r m nebeneinander vertreten, wobei aber das singuläre in euuu gegenüber der großen Menge schwacher Belege k a u m ins Gewicht fiel. N o t k e r
240
2. Notker
der
Deutsche
bevorzugt zwar eindeutig die starke Form, doch gibt es daneben eine ganze Reihe von Belegen für schwache Flexion. Somit dürfen wir zu Recht f ü r die Ewigkeitsformeln in Notkers Psalter die Frage der grammatischen Einordnung als irrelevant erachten.
2.3.5. ewigheit Der einzige Terminus im Bereich des Unendlich-Dauernden oder JenseitigZeitlosen, den wir heute noch verwenden, ist jenes Wort, das mit Notker in die Geschichte eintritt. Damit werden die älteren Bildungen abgelöst, die verschiedene Versuche darstellen, durch Ableitungen vom Stamme ew- ein Äquivalent des lat. in aeternum, in saeculum saeculi, aeternitas usw. zu schaffen. Daß sich schließlich eine Bildung mit den Suffixen ig + heit durchgesetzt hat, steht durchaus in Obereinstimmung mit allgemeinen Tendenzen der deutschen Wortbildung im Bereich der Abstraktbildungen' 5 . euuigheit ist bei Notker primär ein Wort der Boethius-Übersetzung, wo die Ewigkeit in ihrer philosophischen Bedeutung thematisch wird. Im Psalter und in den Cantica begegnet der Ausdruck mehr zufällig an verschiedenen Stellen, und auch dort nicht in der gleichen begrifflichen scharfen Umgebung wie in der Consolatio-Übersetzung. Von den wenigen Belegen sind etwa die H ä l f t e erst dem Glossator zu verdanken. Notkers und des Glossators Terminologie sei in einem Zusammenhang behandelt: Zunächst wird ewigheit von G o t t
ausgesagt:
du obe-sihest ex qternitate — Glosse: üzzer dinero euuicheite 91, 9 Wie schon in Augustinus Kommentar (expectans de super ex aeternitate tua, quando transeat tempus iniquorum, et veniat tempus iustorum) ist die Ewigkeit hier geradezu räumlich vorgestellt: Gott schaut aus ihr ,heraus' bzw. von ihr ,herab'. Allerdings ist durch den kontextuellen Gegensatz zu tempus das zeitliche Moment nicht ganz verschwunden, sondern immer noch mit festgehalten. Noch weniger steht im folgenden Beispiel der temporale Aspekt im Vordergrund; Ewigkeit ist hier ein Seinsprädikat Gottes: Incuruati sunt colles mundi. ab itineribus qternitatis eius. — Fone dien ferten sinero euuigheite neigton sih purliche. die före sinero aduentu inflexibiles uuaren. Cant. Abacug (S. 1079) Auch hier ist durch die Betonung des ,v o r seiner Ankunft' ein gewisser zeitlicher Horizont angedeutet, womit aber auf die Ewigkeit Gottes nur 15
Vgl. v o r allem Emil ö h m a n n , Zur Geschichte der A d j e k t i v a b s t r a k t a auf -ida, -I und -heit im Deutschen (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B., Tom. XV., N o . 4), Helsinki 1921.
2.3. Die
Ewigkeitstermini
241
mittelbar hingewiesen wird. Wichtig ist, daß jeweils von ,deiner' bzw. .seiner' Ewigkeit die Rede ist; deutlicher könnte der Charakter des Seins- und Wesensprädikates nicht angesprochen sein. Von der Schöpfung, die Gott in der Ewigkeit vollzog, spricht der Kommentar zu 61, 12: Säment hiez er uuerden in qternitate (Glosse: in dero euuigheite). diu einzen chämen in tempore (Glosse: in zlte). H i e r ist durch den Gegensatz zu tempus der spekulative Begriff der Ewigkeit — des Außer-der-Zeit-seins intendiert, wenngleich nicht näher erläutert. Außer der Ewigkeit Gottes kann auch jene Ewigkeit gemeint sein, die Gott dem Menschen verleiht als Teilhabe an seinem ewigen Sein: ze euuigheite nemag ih chömen (A: ad aeternitatis generationem) Diapsalma S. 43, 6 Der sina sela neahtot in bösheite. nube in euuigheite usw. 23, 4 (A: qui non rebus non permanentibus deputavit animam suam, sed iam immortalem sentiens, aeternitatem stabilem atque incommutabilem desideravit.) Schon in dieser Welt also kann der Mensch die Ewigkeit wenigstens ersehnen (desiderare), sofern er sein Augenmerk auf die Unsterblichkeit seiner Seele richtet, nicht aber auf die ,Eitelkeit' der irdischen Dinge. Ähnlich in der Glossierung: uuanda sie rotam temporis (die unstatigi zitis) minnont. nals stabilitatem qternitatis (stätigi euuicheite). 30, 14 In 75, 3 ist von der Anschauung Gottes die Rede: In euuigheite dar man in ana-sihet facie ad faciem. Die Interpretation geht aus vom Vers habitatio eius (Gottes) in syon. Sion aber wird gemäß der Tradition der Onomastica sacra 16 etymologisch gedeutet als ,Anschauung Gottes'. Im Grunde ist euuigheit also auch hier ein Prädikat Gottes, der ,Seinsraum' Gottes, der durch Gnade auch zum ,Seinsraum' des Menschen wird. D a ß räumliche und zeitliche Begriffe bei der Erläuterung der Stelle ineinander übergehen, ist kennzeichnend f ü r den metaphysischen Wert des Terminus euuigheit. (Zur etymologischen Deutung von Sion vgl. Augustinus: in comtemplatione quadam et speculatione facta est habitatio eius in Sion.) D a ß Gott die Ewigkeit an den Menschen verleihen kann, geht aus dem folgenden Vers hervor: (Gott gibt den Guten) Requies (Glosse: räuua). qternitas euuicheit). immortalitas (Glosse: untodigi) usw. 83, 13 16
16
(Glosse:
Vgl. F r a n z W u t z , Onomastica sacra. Untersuchungen zum Liber interpretationis nominum hebraicorum des H l . H i e r o n y m u s . 2 Bde, Leipzig 1914 ( = Texte u n d Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 3. Reihe, 11. Bd.). Burger, Zeit
242
2. Notker
der
Deutsche
qternitasleuuicheit steht hier in einer Reihe mit anderen Synonymen des jenseitigen Seins. Wiederum ist von Seinsweisen die Rede, im besonderen: von der Seinsweise des Menschen nach dem Tode. Der temporale Aspekt steht nicht im Vordergrund. Deutlicher temporal formuliert ist die Obersetzung von 130, 3: Speret israhel in domino. ex hoc nunc et usque in sqculum — hinnan unz hina ze dero euuigheite. Die verbale und adverbielle Struktur des Satzes ist identisch mit der großen Beleggruppe um euua und iomer. Der Grund, w a r u m in der Wiedergabe der lat. Formel gerade an dieser Stelle der Terminus ewigheit verwendet wird, dürfte in der Beeinflussung durch die terminologischen Ausführungen Augustins zu dieser Stelle zu suchen sein: non Semper saeculi nomen hoc saeculum significat, sed aliquando aeternitatem. Augustinus f a ß t also die beiden Glieder des Ausdrucks als semantisch inkohärent auf und bezieht sie auf die irdische Zeit bzw. die Ewigkeit. Notkers Ausdruck hina ze dero euuigheite unterscheidet sich von den üblicheren Formulierungen wie in euua durch größere terminologische Exaktheit: Aus der temporalen Adverbialgruppe, die die zeitliche Gerichtetheit des Verbums anzeigt, wird ein eigentlich begrifflicher Ausdruck, der das Z i e l des Höffens umschreibt. Bezeichnenderweise gewinnt die Formulierung durch Präposition und bestimmten Artikel eine fast räumliche Nuancierung — wiederum ein Hinweis auf die Verlagerung des Akzentes vom Temporalen ins Metaphysische. Im folgenden — aus dem Rahmen des Üblichen fallenden — Beispiel wird die Ewigkeit anthropomorph oder besser: analog zur Zeit gesehen, wie der genau gleiche syntaktisch-semantische Verlauf der Teilsätze beweist: Cantabo domino in uita mea. psallam deo meo quamdiu sum. (in uita tnea wird nun gemäß dem augustinischen Kommentar in das Leben vor dem Tode und das Leben nach dem Tode, in das Leben der H o f f n u n g und das Leben des Lobes aufgegliedert:) Truhtene singo ih. unz ih lebo. uuanda ih hier spem habo. ih singo imo ouh so lango ih pin in qternitate (Glosse in iemerheite). dar ander uuerh neist. ane dei laudatio. 103,33 Der Glossator übersetzt nicht mit dem zu erwartenden Terminus euuigheit, sondern mit der singulären Abstraktbildung zum Adverb iomer: iemerheit. Vermutlich hat er sich gescheut, in einer so offensichtlichen Parallelsetzung der beiden Lebens-Zeiten den begrifflich strengen Terminus euuigheit einzusetzen. In einer Reihe von Belegen nun steht euuigheit zügen:
in explizit temporalen Be-
D o h dero friste luzzel si uuider dero qternitate 101,24 (s.o. 199)
(Glosse:
euuicheite)
Der Gegensatz zu frist evoziert die Vorstellung unendlicher Dauer, da frist
2.3. Die
Ewigkeitstermini
243
die genau begrenzte Zeit meint. Die unendliche Erstreckung der ewigen Zeit ist also intendiert, nicht ein Un- oder Überzeitlich-Sein der Ewigkeit. An zwei Stellen gerät das dialektische Verhältnis von Tag und Ewigkeit in den Blick: Dies super dies régis. Éin dag ist in eternitate (Glosse: in dero êuuigheite) des chuninges C H R I S T I , zûo disen. die er hier irléita. 60, 7 Der Bibelvers mit seiner der Alltagssprache nahen Wendung dies super dies wird im Anschluß an den Kommentar Augustins, wenngleich ohne Wiedergabe der gesamten Gedankenkette, umgedeutet (A: quomodo anni, sie dies, sie unus dies: quidquid vis, dicis de aeternitate). D a ß es bei Aussagen über die Ewigkeit belanglos ist, ob man von Jahren, Tagen oder e i n e m Tag spricht — da ja alle temporale Vorstellung immer unangemessen bleiben muß, spart Notker aus. Er gibt nur das E r g e b n i s des Gedankens wieder; ein Verfahren, das er bei spekulativen Gedankengängen des Kommentars nicht selten anwendet. lingua mea tota die meditabitur iustitiam tuam — allen dag. Der âllo tag. ist in çternitate sine fine (Glosse: in êuuichéite âne ende). 70, 24 Wiederum steht die Endlosigkeit der ewigen Zeit im Zentrum des Gedankens (Genaueres über diese Stelle s. o. 224). In 92, 5 wird der lat. Ausdruck in longitudine dierum ohne weiteren Kommentar mit Ewigkeit identifiziert, wobei Ewigkeit wiederum als die ,andere Welt' ausgelegt wird: Dornum tuam decet sanetitudo domine in longitudine dierum. — Dînero çcclesiç (gemäß C : domus itaque domini est universalis ecclesia) gezimet héilighéit in êuuighéite. In anderro uuerlte skînet iro héilighéit. Glossierung und Notkers eigene Übersetzung weichen in ihrem semantischen Wert nicht voneinander ab. euuigheit bezeichnet primär die Seinsweise Gottes wie auch die des Menschen nach dem Tode; das Wort wird demnach mehrfach eher als ontologischer Terminus denn als reiner Zeitbegriff verwendet. Wenn es in seinem temporalen Wert aktualisiert wird, so geschieht dies vor allem durch die Kontraststellung zu .irdische Zeit*. Durchgehend aber ist das Fehlen einer philosophisch genauen Explikation des Begriffes. Sofern er in seiner temporalen Geltung durch den Kontext präzisiert wird, ist jeweils nur eine unendliche Zeiterstreckung gemeint. Syntaktisch ist das Wort frei verfügbar, ein selbständiges substantivisches Lexem. Während in euua (mit Varianten) an die adverbielle Funktion gebunden ist, kann euuigheit außerhalb des Verbalkomplexes auftreten. N u r einmal steht es als Übersetzung einer der traditionellen lat. Formeln f ü r die endlose Dauer einer Handlung u. ä., und dort wohl bedingt durch die KommentarVorlage. Die lat. Entsprechung ist vielmehr (soweit faßbar) das Substantiv aeternitas. 16*
244
2. Nother der Deutsche
Die Verteilung von in euua und euuigheit im Psalter deckt sich also weitgehend mit der Verteilung von adverbialer Gruppe und Substantiv im Lateinischen. Diese Differenz spiegelt zugleich einen Unterschied des literarischen Genres: Während in euua der Obersetzung des eigentlichen Psalmverses zugeordnet ist, fungiert euuigheit primär als ein Terminus des Kommentars. Eine wesentliche Neuerung der deutschen Terminologie gegenüber den lat. Vorbildern aber läßt sich nun klar herausstellen: Im Deutschen ist die Zusammengehörigkeit der adverbiellen Gruppe mit dem freien Lexem enger als im Lateinischen. Z w a r ist die etymologische Verwandtschaft von in aeternum und aeternitas ebenso durchsichtig wie diejenige von in euua und euuigheit, doch verwendet das Lat. auf Seiten der adverbiellen Bildungen noch die ganze Reihe der seculum-Votmeln. Wir beobachteten, wie die Formeln mit uuerlt aus dem Zeit-Ewigkeit-Bereich allmählich hinausgedrängt wurden. Bei Notker nun hat sich der Wortkomplex der Ewigkeitsbezeichnungen aller grammatisch-semantischen Gruppen viel enger zusammengeschlossen, als dies in der älteren ahd. Literatur der Fall war. Einer mehrschichtigen lat. Terminologie steht nun im Deutschen e i n e etymologische Wortgruppe gegenüber, deren begriffliches Kernwort ewig (mit der jungen, noch nicht allzu häufigen Ableitung ewigheit) eindeutig dem Bereich des Jenseitigen zugeordnet ist. Wenn wir oben die Verschiebungen im Geltungsbereich von werlt aus den inneren Bedingungen des Wortes und vor allem aus der dominierenden Stellung des ,Signal-Feldes' zu deuten suchten, so bietet sich nun ein weiteres Motiv dieser Entwicklung an: Der neue und starke etymologisch-wortbildungsmäßige Zusammenschluß der Gruppe um ew- trägt zur Isolierung der werlt-Formeln bei und verdrängt das Wort aus dem temporalen Bereich überhaupt. Das Hin und Her der Beziehungen, die wechselseitige Verflechtung der Prozesse ist 2u stark, als daß eine einfache und eindeutige Gerichtetheit der Begründungszusammenhänge angenommen werden dürfte. Daß auch ewig und ewigheit ihrerseits nicht unberührt bleiben von der Wirksamkeit des Signal-Feldes, das sich um werlt herum aufbaut, zeigen die Beispiele, wo die Ewigkeitstermini in nahezu räumlich geprägten Fügungen erscheinen (wie in dem Falle, wo Gott ,aus seiner Ewigkeit' herausschaut). Wir werden nachweisen können, daß das bisher erst in einzelnen Zügen skizzierte Signalfeld weit größere Ausmaße und weit stärkere Ausstrahlungskraft besitzt, als es die Gruppe um werlt vermuten ließe.
2.4. i o / i o m e r Wiederum berücksichtigen wir nur die Belege, in denen io\iomer bzw. nio/ niomer in den Bereich der Ewigkeitsaussagen eindringen. Die zahlreichen Texte, in denen die Wörter im Sinne alltäglichen Gebrauchs vorkommen, bleiben unerwähnt. Doch ist bei der endgültigen Beurteilung zu bedenken, daß es sich bei unserem Beobachtungsbereich nur um einen geringen Ausschnitt aus dem adverbiellen Bedeutungsfeld handelt.
2.4. io/iomer
245
Wie bei in êuua gliedern wie dir Belege nach ihren lat. Entsprechungen, möglichst in der gleichen Reihenfolge wie dort, um eine übersichtliche Vergleichsbasis zu gewinnen 1 7 : (1) in
çternum:
In çternum e x u l t a b u n t — îomer 5 , 1 2 d o m i n u s in çternum p e r m a n e t — îomer 9, 8 sedebit d o m i n u s rex in çternum — îomer 28, 10 in çternum confitebor tibi — îomer 29, 13 Consilium d o m i n i m a n e t in çternum — îomer 32, 11 hereditas e o r u m in çternum — îomer 36, 18 in çternum conseruabuntur — îomer 36, 28 (der Gerechte) laborabit in çternum. et uiuet a d h u c in finem. V n d e f ö n e diu ist er îomer in ârbéiten. u n d e lébet lo n o h âne ende. 48, 9/10 in çternum sepulcra eorum domus eorum — îomer 48, 12 in çternum n o n uidebit lumen — nîomer 48, 20 ( C h r i s t u s ) permanebit in çternum — E r uueret îomer 60, 8 ( G o t t ) d o m i n a b i t u r in çternum — îomer 65, 7 Misericordias t u a s . . .in çternum cantabo — îomer 88, 2 (in 88, 3 ist in çternum durch in êuua wiedergegeben, s. o. 234) I n çternum seruabo misericordiam m e a m — îomer; aber: Et p o n a m in sçculum sçculi semen eius — in êuua 88, 30 (Subjekt der Rede ist G o 11) semen eius in çternum manebit — îomer 88, 37 sicut luna perfecta in çternum — îomer (mehrmals) 88, 38 (Augustinus hebt hier die kosmisch-reale L u n a v o n einer ewigen vollkommenen L u n a ab, was bei N o t k e r weniger scharf nachvollzogen wird.) Benedictus d o m i n u s in çternum — îomer 88, 53 T u a u t e m d o m i n e in çternum permanes — îomer 101, 13 ueritas d o m i n i m a n e t in çternum — îomer 1 1 6 , 2 In çternum D o m i n e v e r b u m t u u m p e r m a n e t — îomer 118 M 89 In çternum non obliuiscar — nîomer 118 M 93 Servus non m a n e t in d o m o in çternum . . . Filius manet. D â r h a b o ih îomer m a n d a t u m dei. id est caritatem dei. 118 N 98 ( N o t k e r verdeutscht hier, in Überspringung des eigentlichen Bibelverses, unmittelbar den K o m m e n t a r Augustins.) H e r e d i t a t e acquisiui testimonia tua in çternum — Ze erbe sûohta ih dîne geiihte in êuua. D a z ih îomer dîn iéhe. u n d e dîn neferlöugene. d a z uuile ih haben ze erbe . . . mûgen sîe mir erbe sin in êuua. 118 0 111 17
Wenn das grammatische oder gedankliche Subjekt der Aussage Gott/Christus ist, wird das entsprechende Wort hervorgehoben.
246
2. Notker der Deutsche IJquitas testimonia tua in qternum — diu sint euuig reht. uuanda sie des rehtes iomer lebent. 118 S 144 in qternum omnia iudicia iustiti? tu£ — Diu zuei sint iomer urteilda dines rehtes. 118 U 160 Sicut mons Syon non commouebuntur in qternum (die auf Gott vertrauen) — iomer (später: furder und 10) 124, 1 sedebunt in qternum super sedem tuam — iomer 131,12 uiuo ego ( G o t t ) in qternum — iomer Cant. Deut. 40 (S. 1098)
Diese lange Beispielreihe läßt bereits eines evident werden: Die kurze Formel in eternum wird weit häufiger durch iomer wiedergegeben als durch das zu erwartende in euua. Die Kürze der Formulierung im Lat. legt offenbar das weniger gewichtige iomer im Deutschen nahe. Bezeichnend dafür scheint mir das Gegenüber von 88, 29 und 88, 30: Im ersten Vers übersetzt Notker das lat. in eternum mit dem Adverb iomer, während er die längere Formel des zweiten Verses durch in euua wiedergibt. In beiden Sätzen liegt das gleiche Subjekt (Gott) vor, so daß eine semantische Differenzierung nach der handelnden bzw. betroffenen Person nicht beabsichtigt sein kann. In Ketten von adverbialen Zeitausdrücken, die nur teilweise von der lat. Vorlage bestimmt sind, läßt sich eine stilistische Tendenz beobachten, die schon bei der Diskussion der Stelle 91, 8/9 auffiel: Wenn durch die Formel in euua der Rahmen des UnendlichZeitlichen gegeben ist, kann im weiteren Verlauf des Textes das schwächere und unpräzise iomer eintreten. So wird in 118 O 111 die lat. Formel zunächst ,wörtlich' übersetzt, dann fährt der Text mit iomer (semantisch äquivalent) fort, und schließlich lenkt der Kommentar wieder zur Formulierung des Psalmverses zurück, wobei auch in euua wieder aufgenommen wird. Ähnlich gelagert ist die Abfolge der Temporaladverbien in 70, 1: non confundar in qternum nu bin. so nesi ih iomer.
...
keskendet neuuerde ih in euua. So ih
Hier ist wohl auch durch den Gegensatz nu das Adverb iomer gerufen.
hervor-
Aus der Beispielreihe geht auch überzeugend hervor, daß — wie schon früher vermutet wurde — eine semantische Differenzierung von in euua und iomer hinsichtlich des Subjektes der jeweiligen Handlung (mit einer etwaigen Verteilung: in euua für Aussagen über Gott, iomer für Aussagen über den Menschen) nicht vorliegt. In der Belegliste wechseln Aussagen über Gott mit solchen über die Kreatur in bunter Folge ab. Für das Verhältnis von iomer zu der ganzen Gruppe von Ewigkeitstermini ist bemerkenswert, daß in 118 S 144 euuig und iomer in einer ähnlichen transformationellen Beziehung stehen, wie sie für euuig und in euua (o. 235) festzustellen war. Damit tritt iomer mit in euua in das gleiche syntaktische Relationsbündel ein. Wenn sich aus dem Vergleich der lat. Vorlagen eine semantische Überschneidung der beiden Adverbialausdrücke ergab, so deutet sich nun auch eine solche syntaktischer Art an.
2.4.
io/iomer
247
Als Sonderfall mag die Stelle 7 1 , 1 9 angeschlossen werden: Et benedictum nomen glori? eius. in qternum. — iomer. ioh er ende dero uuerlte. ioh näh ende. Hier scheint sich f ü r einmal das Bedürfnis bemerkbar zu machen, die hinsichtlich irdischer und jenseitiger Zeit indifferente Bedeutung von iomer zu präzisieren. O b diese nähere Bestimmung andere als emphatische Gründe hat (vgl. die Verben benedicereßobori), entzieht sich meiner Einsicht. Abschließend wären f ü r diesen Belegkomplex noch Glossierungen zu notieren, die in nichts vom Notkerschen Sprachgebrauch abweichen: (das Reich Gottes bleibt) in Qternum — iomer 77, 66 hier inter temptationes. post temptationes in qternum — iemer 108, 28 Der Gegensatz hier/iemer
ist eine weitere Variante des ,Signal-Feldes'.
(2) in sqculum: in nomine tuo confitebimur in seculum — iomer. In enero uuerlte ist euuig confessio sanctorum 43, 9 oues gregis tui confitebimur tibi in sqculum — iomer. unz in ende dero uuerlte. 78, 13 Der verdeutlichende Zusatz folgt dem augustinischen K o m m e n t a r : id est, usque in finem saeculi. sit gloria domini in seculum — iomer 103, 3 Qui ( G o t t ) custodit ueritatem in sqculum — iomer 145, 7 Zu der interessantesten Stelle 106,1 wurde bereits unter ,uuerlt' (o. 211 f.) das Nötige gesagt. Bezeichnend ist, daß in der bloßen Übersetzung des Bibelverses (und z w a r im zweiten Teil der Alternative) iomer verwendet wird, w ä h rend die folgende terminologische Erläuterung unübersetzt bleibt (in qternum). in sqcula: Sit nomen eius benedictum in sqcula — sin nämo ist gelöbot 71, 17 (Gott ist mein Teil) in sqcula — iomer 72, 26 Regnabit d o m i n u s in sqcula — iomer 145,10
iomer
Der einmalige Beleg f ü r in sqculo fällt aus der Reihe der übrigen akkusativischen Formeln: D o m i n e nomen tuum in sqculo — iomer 134,13 Eine BedeutungsdifFerenzierung durch den Wechsel des Kasus scheint im Lat. nicht beabsichtigt. Die schwächer belegten kurzen Formeln um sqculum werden in der Übersetzung nicht anders behandelt als entsprechendes in qternum. In 43, 9 läßt sich die gleiche transformationelle Beziehung von iomer und euuig beobachten, wie sie in der ersten Beleggruppe a u f t r a t .
2. Notker der Deutsche
248
(3) E r w e i t e r t e F o r m e l n : in qternum
et in sqculum
sqculi:
D i e Stelle 148, 6 w u r d e bereits u n t e r ,euua' besprochen. N a c h d e m d o r t Beobachteten übersetzt tomer
eigentlich n u r den ersten Teil der lat.
Formel,
w o m i t dieser Beleg u n t e r die G r u p p e (1) einzureihen w ä r e . A n d e r s v e r h ä l t es sich in 51, 10: speraui in misericordia dei in qternum
et in sqculum
sqculi — l o h nü.
ioh tomer in u u e r l t uuerlte. G e n a u e Entsprechungen der einzelnen deutschen W ö r t e r z u den Teilen der V o r lage lassen sich hier k a u m aufstellen, iomer
weist w o h l auf alle k ü n f t i g e Zeit
hin, die d a n n noch genauer b e s t i m m t w i r d durch in uuerlt
uuerlte.
benedicat omnis c a r o n o m e n s a n e t u m . . . in qternum. sqculi — iomer unde iomer 144, 21
et in
sqculum
D e r zweigliedrige lat. A u s d r u c k ist im Deutschen durch die intensivierendemphatische D o p p e l s e t z u n g v o n iomer stilistischen
Situation
repräsentiert, ein V e r f a h r e n , das der
des Psalters besonders
gerecht
w i r d . Beim
Lobpreis
Gottes k o m m t es ja nicht so sehr auf G e n a u i g k e i t der t e m p o r a l e n B e s t i m m u n gen, als auf die I n t e n s i t ä t u n d U n a u f h ö r l i c h k e i t des Preises an. in sqculum
sqculi:
T i m o r d o m i n i p e r m a n e n s in sqculum V i u e n t c o r d a e o r u m in seculum i n h a b i t a in sqculum
sqculi — i o m e r 18, 10
seculi — i o m e r 21, 27
seculi — V n d e büe in himele iomer
unde
elichor
36,27 elichor meint sonst im A h d . ,ferner, k ü n f t i g h i n ' . D i e gesamte W e n d u n g ist also eine A r t emphatischer H y p e r b e l , w i e w i r sie im C a n t . M o y s i 18 in v e r gleichbarer F o r m (in eternum et ultra) a n g e t r o f f e n h a t t e n (o. S. 237). H i e r macht sich der gleiche stilistische Wille b e m e r k b a r wie in der e r w ä h n t e n F o r m e l iomer unde iomer. I u s t i . . . h e r e d i t a b u n t t e r r a m . et i n h a b i t a b u n t in sqculum eam — . . . sizzent iomer d a r - a n a . 36, 29
sqculi
super
( I m f o l g e n d e n w i r d d a n n , g e m ä ß Augustinus, die terra als eniu erda, die terra viventium
i n t e r p r e t i e r t , so d a ß iomer
als auf die jenseitige Zeit bezogen ge-
dacht w i r d . ) sedes t u a deus in sqculum In sqculum
sqculi — i o m e r ( G e g e n s a t z : eina urist) 44, 7
sqculi a n n i tui. iomer
unde
iomer
sint diniu iär. 101, 25,
vgl. 144, 21 Iustitia eius ( G o t t e s ) m a n e t in sqculum sqculi — i o m e r 110, 3 (fast wörtlich gleichlautend: 111, 3 u n d 111, 9) m a n d a t a eius ( G o t t e s ) c o n f i r m a t a in sqculum sqculi — i o m e r 110, 8 L a u d a t i o eius (des intellectus) m a n e t in sqculum sqculi — i o m e r 110, 10 H ^ c (ecclesia) requies mea ( G o t t e s ) in sqculum sqculi — i o m e r 131, 14
2.4. io/iomer
249
Als Glosse erscheint einmal niemer in verneintem Kontext: non inclinabitur . . . in sqculum sQculi — niemer 103, 8 in sqcula sqculorum: In sqcula sqculorum laudabunt te — iomer 83, 5 Ferner die Glosse in 42, 3, die den erwähnten emphatischen Bildungen konform ist: in sqcula sqculorum (Glosse: iemer unde iemer) laudabunt te (die Seligen) Der Passus 20, 5 wurde bereits unter ,uuerlt' (o. S. 213) besprochen: in sqculum et in sqculum sqculi — unz diu uuerlt stat. unde dära-nah. iomer. Durch iomer wird das hinsichtlich der zeitlichen Erstreckung indifferente dara-nah als endlos gekennzeichnet, so daß sich letzten Endes eine dem Lat. vergleichbare Zweigliedrigkeit des Ausdrucks ergibt, ohne daß allerdings der lexikalische Zusammenhang der Glieder repräsentiert wäre. Schließlich ist noch die Reihe derjenigen lat. Ausdrücke aufzuführen, in denen der Ausgangspunkt des zeitlichen Geschehens ausdrücklich genannt wird: Da ist zunächst jene merkwürdige Stelle (112, 2, vgl. ,euua' o. S. 237), wo ex hoc nunc et usque in sqculum zunächst Glied f ü r Glied übersetzt wird (fone nü unz in euua), worauf die Erläuterung (daz chit) folgt: ioh nu. ioh iomer. D a ß dahinter wohl die Kommentarvorlage steht, wurde bereits besprochen. Im Gegensatz zur folgenden Stelle entspricht iomer hier aber nicht dem ganzen lat. Ausdruck, sondern nur dessen zweitem Teil. benedicimus domino, ex hoc nunc et usque in sqculum — iomer 113, 18 In 120, 8 dagegen liegt der gleiche Übersetzungsmodus vor wie in 112, 2: Dominus custodiat ... ex hoc nunc et usque in sqculum — nu . . . unde iomer Es ist auffällig, wie sich gegen Ende des Psalters die Fälle häufen, wo f ü r kompliziertere lat. Ausdrücke das bloße deutsche Adverb eingesetzt wird (Extremfall ist 113,18). Diese ,Ermüdung' des Übersetzers — wenn man in solchen psychologischen Kategorien überhaupt sprechen darf bei einem Werk, über dessen Entstehung wir kaum etwas wissen — kommt in vergleichbarer Weise auch darin zum Ausdruck, daß zahlreiche lat. Termini, die in den ersten zwei Dritteln des Psalters noch übersetzt wurden, nun als lat. Relikte stehenbleiben. D a ß gleichwohl die Glossen gegen Ende des Psalters nicht häufiger, sondern ebenfalls spärlicher werden, hat offenbar nichts mit dem Notkerschen Text zu tun, sondern beruht auf dem privaten Verfahren des Glossators. Wenn wir die bisher zusammengestellten Belege für iomer resümierend überschauen, so legt sich der Vergleich mit dem Gebrauch von in euua nahe: Es sind auf weite Strecken die gleichen lat. Wendungen, die durch in euua und iomer übersetzt werden, allerdings mit bezeichnenden Abweichungen:
250
2. Notker
der
Deutsche
Für die lat. Formeln usque in qternum und usque in sqculum setzt Notker nie alleinstehendes iomer (in 17, 51 erscheinen die Ausdrücke gekoppelt: lomer in euua). Das entspricht der inneren Struktur der beiden Adverbialausdrücke: Vom heutigen Deutsch her betrachtet, ist es einleuchtend, daß eine Wendung ,bis immer' sinnlos wäre, während ,bis in die Ewigkeit' oder ,bis in alle Ewigkeit' einen guten Sinn ergibt (allerdings deckt sich das Spektrum von nhd. Ewigkeit nicht mit dem von ahd. euud). bis, ahd. unz, meint ja eigentlich ,auf-eine-Grenze-hin', an der etwas anderes, Neues beginnt. So läßt sich sagen ,bis gestern', aber nicht ,bis täglich', iomer bezeichnet die nicht näher differenzierte Dauer einer Handlung ohne Hinsicht auf Anfang und Ende (vom N h d . her müßte man gar formulieren: die Grenzen sind geradezu negiert), in euua würde gleichfalls eine unbegrenzte Dauer bezeichnen, allerdings mit einer klaren vektoriellen Gerichtetheit. Da die Formel nun oft in Kontexte eingebettet ist, die das jenseitige, ,ewige' Dasein abheben vom irdischen, die also eine deutliche Grenze, ein Neues setzen, können Wendungen wie unz in euua Zustandekommen. Eine zweite Erklärungsmöglichkeit läßt sich aus einer vergleichbaren nhd. Redeweise gewinnen: wir können sagen ,bis ins Unendliche reichen die Linien' und meinen damit nicht: bis an die Grenze des Unendlichen und nicht weiter, sondern ,bis hinein ins Unendliche und dann immer weiter fort', also ein immer weiter hinausgeschobenes ,bis'. Sprachlogisch betrachtet, sind Ausdrücke wie ,bis ins Unendliche' Paradoxien; doch ist die Sprache des Alltags befugt und immer neu bemüht, ,an sich' Unvorstellbares, wenngleich Reales, nach Analogie des Vorstellbaren zu formulieren, wobei die Grammatik sozusagen über ihren eigenen Schatten springen muß. Vergleichen wir die V e r b a l g r u p p e n , in deren Kontext in euua und iomer begegnen, so stellen sich wiederum deutliche Übereinstimmungen heraus. Die gleichen semantischen Gruppen, die bei in euua aufgeführt wurden, ließen sich auch hier erstellen. N u r für spekulative Aussagen scheint iomer weniger geeignet zu sein als die Formeln um euua. Zwar wird auch durch iomer über das ewige Sein Gottes ausgesagt, doch immer in Kollokation mit Verben wie wohnen, bleiben usw., also in durchaus anthropomorphen Kategorien. Was der Ausdruck in euua mit Varianten durch das Gewicht des Lexems euua leistet — zu Notkers Zeit wird man die Formel wohl als altehrwürdig-traditionsreich empfunden haben —, kann mit dem weniger gewichtigen, weil der Alltagssprache entstammenden iomer durch H ä u f u n g und hyperbolische Addierung geleistet werden. Doch sind gegen Ende des Psalters — wie gesagt — Fälle zu registrieren, wo bloßes iomer lange und gegliederte Wendungen der Vorlage undifferenziert wiedergibt. Die Stellen 113, 18 und 120, 8 dürfen wohl als laxe Übersetzungsweise verstanden werden. Und noch in einem letzten Beleg repräsentiert iomer einen lat. Ausdruck mit der Präposition usque: reputatum est ei in iustitiam in generationem et generationem usque in sempiternum. Vnde daz uuard imo geahtot ze rehte. in allen chünnezälon. so uuirt iz iomer. 105, 31
2.4.
Was im L a t . in
einem
io/iomer
251
temporalen Ausdruck zusammengefaßt ist, löst
N o t k e r in zwei Sätze auf, deren V e r b a verschiedene Tempora Diese temporale Zweigliederung des reputari
aufweisen.
ermöglicht nun wiederum eine
hinsichtlich künftiger Dauer laxere Ausdrucksweise, als eine W o r t - f ü r - W o r t Übersetzung es zugelassen hätte. D i e Gegenüberstellung von uuard/so
uuirt
leistet schon in sich die Anzeige von Dauer, Kontinuität, Unaufhörlichkeit, die im Lat. der temporalen Adverbgruppe übertragen ist. Nicht nur die verstärkte F o r m îo-mêr,
auch das Simplex îo gerät gelegent-
lich in den H o r i z o n t unseres Beobachtungsbereiches. heranzuziehen, wo îo für lat. Semper
H i e r sind die
Stellen
steht, wo aber das lat. W o r t nicht im
Sinne der Alltagssprache, sondern als Ausdruck unendlicher Dauer
auftritt.
A u f den ganzen Psalter gesehen, wird lat. Semper im konventionellen Sprachgebrauch weniger durch îomer,
als vielmehr durch das kürzere und weniger
emphatische îo, îeo repräsentiert. Diese Fälle können außer Betracht bleiben. Aber auch in den im engeren Sinne theologischen Zusammenhängen steht für Semper im allgemeinen îo, wie die folgenden Belege demonstrieren: custodiam legem tuam Semper
in sçculum et in sçculum sçculi —• îo. . .
in uuerlt uuerlte 118 F 4 4 (vgl. o. 2 1 2 f.). N o t k e r übersetzt den temporalen Ausdruck des Psalmverses zunächst mit bloßem îo. Doch da îo (wie îomer)
nichts aussagt über die Gültigkeit des
Verbums auch über diese W e l t - Z e i t hinaus, da das Wörtchen sogar eher die (alltäglich verstandene) irdische Zeit anspricht, sieht sich N o t k e r — dem K o m m e n t a r — veranlaßt, durch in uuerlt
uuerlte
gemäß
ausdrücklich auch die
Gültigkeit für die Zeit des Jenseits zu bestätigen. A n i m a mea (die Seele des Gläubigen) in manibus meis semper
— îo
118 O 109 G i b mir io ze trinchenne de fonte lucis çternç 118 Q 125 (Vgl. Augustinus: Semper
bibatur de fonte lucis aeternae)
( G o t t ) ist îo âne uuéhsal. unde îo ein. Pediu heizet er id ipsum. unde bediu héizet er est. 1 2 1 , 3 ( A : quid est, id ipsum?
quod Semper eodem modo est, quod non modo
aliud, et modo aliud e s t . . . ) So du täte in preterito.
so tûo in futuro.
Gehöre mih îo. 140, 1
Holocausta autem tua in conspectu meo sunt Semper. — îo 49, 8 îo steht hier in Kontexten, die vom Sein Gottes und vom Menschen, der sich auf G o t t hin ausrichtet, sprechen. I m Zusammenhang ,gib mir zu trinken' liegt der alltägliche Ausdruck nahe, ob nun von diesem Leben oder auch vom Leben nach dem Tode die Rede ist. (Man vergleiche auch die Brotbitte des Vaterunsers mit ihrer un-theologischen Formulierung.) In 140, 1 f a ß t îo Vergangenheit und Zukunft zusammen, bzw. weist auf die Kontinuität des durch das Verbum angezeigten
Vorgangs hin. Bemerkenswert
ist vor allem
der
Vers 1 2 1 , 3 , in dem eine theologische Existenzaussage über G o t t mit dem un-
252
2. Notker der
Deutsche
gewichtigen io verknüpft ist. Doch spielt hier sicher die Ausdrucksweise der Kommentarvorlage hinein, die gleichfalls mit Wörtern der Umgangssprache operiert, um den höchst abstrakten Gedankengang zu formulieren. Das Verhältnis von iomer und io läßt sich nunmehr wie folgt beschreiben: tomer steht meist in Zusammenhängen, die lat. Ausdrücken des Typus ,in alle Ewigkeit' entsprechen. Daneben begegnet das Wort in Kontexten, die eindeutig auf Innerweltliches bezogen sind, z. B.: isti errant corde Semper — iomer 94, 10 dia uuila unreht in uuerlte si. Iomer ist iz där-inne. Iomer ist dürft patienti?. 56, 2 In diesen Fällen wird Notker der schwereren, ausdrucksvolleren Variante aus Gründen des Nachdrucks, der Emphase, den Vorzug gegeben haben (wie besonders in 56, 2 die zweimalige Setzung des Wortes anzeigt). Für lat. Semper aber setzt Notker im allgemeinen das kürzere io, selbst wenn es in so ausgeprägt theologischen Gedankengängen vorkommt wie in 121, 3. iomer ist demnach das Wort einer feierlicheren, emphatischen Stilschicht, die dem Gotteslob und dem Sprechen über Gott und das Jenseits angemessen ist, während io dem alltäglichen Sprachgebrauch von lat. Semper folgt — auch dort wo dieses in abstrakte Bereiche transponiert erscheint.
2.5. N o t k e r s S t e l l u n g i n d e r p h i l o s o p h i s c h e n T r a d i t i o n der E w i g k e i t s t h e o r i e An diesem Punkt der Erörterung drängt sich ein philosophie- und theologiegeschichtlicher Exkurs auf: erst aus der Tradition der Ewigkeitsspekulation läßt sich der Begriff des ,ewigen Tages' völlig erhellen, und nur auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung werden die terminologischen Unterschiede in Notkers ,Psalter' und ,Boethius' transparent.
2.5.1. Philosophiegeschichtlicher Exkurs Zwei Motive sind im Begriff des ewigen Tages unlöslich ineinander verwoben: Gott ist Licht, und: Gott ist Ewigkeit. Während der zweite Gedanke das Zentrum unserer Fragestellung berührt, reicht der erste in weiter abliegende Bereiche theologischer Spekulation. Mehr als ein Hinweis auf die Tradition der Licht-Metaphysik und auf die Forschung zum Problemkreis kann hier nicht gegeben werden. Vor allem im Umkreis der Denkmäler, die alttestamentlichem Sprachgebrauch nahestehen, war zu beobachten, wie die Lichthaftigkeit als Charakter Gottes und der Schöpfung durch die Gnade Gottes immer wieder ausgespro-
2.5. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie
253
chen wurde. „Die Lichteindrücke der H y m n e n , der Psalmenübersetzungen, der ae. oder altd. Dichtung sind . . . nicht nur Metaphern; sie gehen, soweit sie nicht zu bloßen literarischen Formeln erstarrt sind, auf innere Erlebnisse zurück, in denen göttliches Licht so real wie das Licht des Tages erscheint 18 ." Man darf sagen, daß diese Auffassung der Göttlichkeit des Lichtes und der Lichthaftigkeit Gottes zum geistigen Allgemeingut des Mittelalters gehört. Im Bereich des Neuen Testamentes wird der Gegensatz Licht—Dunkelheit ausdrücklich auf Gott bezogen: Dens lux est, et tenebrae in eo non sunt ullae (1 Joh 1, 5). Von dieser und verwandten Aussagen der Bibel her (vgl. o. 122 ff.) kann dann das frühe Christentum an die Lichtspekulation des Piatonismus anknüpfen, so daß etwa Augustinus Gott als intelligihilis lux benennt, in quo et a quo et per quem intelligibiliter lucent, quae intelligibiliter lucent omnia (Solil. I, 1, 3). Die gewaltigste Synthese christlichen und neuplatonischen Denkens stellt schließlich die Licht-Metaphysik des Dionysius Areopagita dar 19 . Wenn aber die Erfahrung des Göttlichen als Erfahrung begnadenden Lichtes ein Urphänomen religiösen Erlebens zu sein scheint, das jederzeit neu zu philosophischer Ergründung Anlaß geben kann, so ist die Ewigkeitsspekulation der christlichen Theologie stärker an die historische Verkettung mit dem Platonismus gebunden: Die frühchristliche und mittelalterliche Theologie im Bereich des ZeitEwigkeit-Problems ist geprägt — ob zum Heil oder zum Unheil des urchristlichen Gedankens, bleibe der Entscheidung der Theologen überlassen — durch die spekulative Vorgabe des Piatonismus. Augustins Betrachtungen über die Ewigkeit in Confessiones X I sind nur aus dem Horizont platonischen Denkens zu begreifen, wie auch die große Zusammenschau antiken Philosophierens bei Boethius in diesem Punkte dem Genius Piatons mehr verpflichtet ist als der stärker empirischen Zeittheorie des ,philosophus'. Daher scheint es gegeben, in einem kurzen A u f r i ß die Linien der platonischen und neuplatonischen Ewigkeitsspekulation nachzuziehen 20 ; die Auswahl der Autoren m u ß natürlich 18
19
20
Ingeborg M a r i a Reps, Zu den altdeutschen Lichtbezeichnungen, PBB 72 (1950) 236—264, hier 246 f.; dies., Altdeutsche Bezeichnungen f ü r Lichtvorstellungen im Umkreis des Germanischen, Diss. Leipzig 1947 (masch.). Zur P r o b l e m a t i k und Geschichte der Licht-Metaphysik vgl. neuerdings: Alois M. H a a s , D e r Lichtsprung der Gottheit (Parz. 466), in: Typologia Litterarum, Festschrift M a x Wehrli, Zürich 1969, 205—232. Die Arbeit enthält reiche bibliographische Angaben. Das Augustinus-Zitat v e r d a n k e ich einem Hinweis von H e r r n Kollegen H a a s . Dabei können wir uns f ü r manche Probleme auf die Zusammenfassungen in philosophischen und theologischen Arbeiten stützen, vor allem O s k a r Cullmann, Christus und die Zeit, a . a . O . ; Georg Delling, Das Zeitverständnis des N e u e n Testaments, Gütersloh 1940, 1. Teil ,Die Zeitauffassung des Griechentums', 5 ff.; Friedrich Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach T h o m a s von Aquin, Münster i. W . 1914 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters X V I I 1), 4 ff.; H a n s Leisegang, Die Begriffe der Zeit und Ewigkeit im späteren Piatonismus, Münster i. W. 1913 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, X I I I 4). Einen
2. Notker
254
der
Deutsche
eklektisch bleiben, doch sollen die. G e s t a l t e n z u W o r t k o m m e n , die dem Mittelalter die Wege gewiesen haben. D e r b e r ü h m t e M y t h u s des T i m a i o s , an d e m sich alle spätere Philosophie der E w i g k e i t mißt, sei in seinem H a u p t s t ü c k a u f g e f ü h r t : Als nun der Vater, der es erzeugte, in dem Weltganzen, indem er es in Bewegung und vom Leben durchdrungen sah, ein Schmuckstück für die ewigen Götter erblickte, ergötzte es ihn, und erfreut sann er darauf, seinem Urbilde es noch ähnlicher zu gestalten. Gleichwie nun dieses selbst ein unvergänglich Lebendes ist, versuchte er auch dieses Weltganze soviel wie möglich zu einem solchen zu vollenden. D a nun die Natur dieses Lebenden aber eine unvergängliche ist, diese Eigenschaft jedoch dem Erzeugten vollkommen zu verleihen unmöglich war: so sann er darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten, und machte, dabei zugleich den Himmel ordnend, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit. D a es nämlich, bevor der Himmel entstand, keine Tage und Nächte, keine Monate und Jahre gab, so ließ er damals, indem er jenen zusammenfügte, diese mit entstehen; diese aber sind insgesamt Teile der Zeit, und das ,war' und ,wird sein' sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst unbewußt, unrichtig auf das unvergängliche Sein übertragen. Denn wir sagen doch: Es war, ist und wird sein; der richtigen Ausdrudesweise zufolge kommt aber jenem nur das ,ist' zu, das ,war' und ,wird sein' ziemt sich dagegen nur von dem in der Zeit fortschreitenden Werden zu sagen, sind es doch Bewegungen; dem stets sich selbst gleich und unbeweglich Verharrenden aber kommt es nicht zu, durch die Zeit jünger oder älter zu werden, noch irgend einmal geworden zu sein oder es jetzt zu sein oder in Zukunft zu werden, und überhaupt nichts, was das Werden dem in Sinneswahrnehmung Beweglichen anknüpfte; vielmehr sind diese entstanden als Begriffe der die Unvergänglichkeit nachbildenden und nach Zahlenverhältnissen Kreisläufe beschreibenden Zeit . . . (37 c—38 a) 21 . D i e Zeit ist demnach nur ein A b b i l d der E w i g k e i t und erst mit der E r s c h a f f u n g des K o s m o s entstanden. Ihr Sein ist also wie das alles Geschaffenen ein uneigentliches, ein solches der p a r t i e i p a t i o . D a r a u s f o l g t : Wenn w i r die E w i g keit mit t e m p o r a l e n B e g r i f f e n fassen wollen, so ist dies kein a d ä q u a t e r Z u g a n g . E r ist so i n a d ä q u a t , wie d a s A b b i l d dem U r b i l d i n a d ä q u a t ist. E w i g k e i t ist somit
nicht
eine
ins
Unendliche
weitergedachte
Zeit,
sondern
das
eine
und ungeteilte U r b i l d , dem Sukzession u n d B e w e g t h e i t f r e m d sind. E w i g k e i t ist d a s M a ß der Zeit, nicht u m g e k e h r t . O d e r : die E w i g k e i t ist d a s Ü b e r - d i e Zeit-hinaus-Sein und insofern über oder v o r a l l e m Endlichen. D a ß sich hier dem C h r i s t e n t u m eine u n m i t t e l b a r e Möglichkeit der A n k n ü p f u n g anbietet, ist
21
glänzenden, systematischen Überblick über die scholastischen Theorien von Zeit und Ewigkeit, mit Verweis auf die antiken Hintergründe, gibt Francisco Suarez in seinen Disputationes Metaphysicae, vor allem Disp. L. De praedicamento quando et in universum de durationibus rerum, auf die wir im folgenden des öfteren rekurrieren werden (benutzt wurde die Ausgabe: Metaphysicarum disputationum tomi II, Moguntiae 1600). Zitiert nach der Ausgabe: Piaton, Sämtliche Werke, Bd. 5, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher u. Hieronymus Müller mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Hamburg 1959.
2.5. Notkers
Stellung in der philosophischen
Tradition
255
der Ewigkeitstheorie
offensichtlich 2 2 . D i e Seinsweise G o t t e s k a n n so als nicht der Endlichkeit v e r h a f tet, als a b s o l u t u n d t r a n s z e n d e n t begriffen w e r d e n . D i e Zeittheorie des ARISTOTELES ( P h y s i k I V ) 2 3 , so intensiv sie in der Scholastik diskutiert w i r d , bleibt gleichwohl f ü r die christliche M e t a p h y s i k ohne wesentliche F o l g e n , d a sie d a s V e r h ä l t n i s der Z e i t z u r E w i g k e i t u n g e k l ä r t läßt (die aristotelische Definition der Zeit, P h y s . I V , 1 1 : ,Die Z e i t ist die Z a h l der B e w e g u n g in b e z u g auf V o r h e r u n d Nachher') 2 , 1 . Wichtiger w i r d d a n n neuplatonische
Weiterführung,
zumal
die
Ewigkeitslehre
des
Plotin
die und
P r o k l o s 2 5 . PLOTIN f o r m u l i e r t als erster „eine selbständige T h e o r i e über
die
B e g r i f f e der Z e i t und E w i g k e i t " 2 6 . F ü r die christliche R e z e p t i o n entscheidend ist zunächst d i e Identifikation v o n G o t t (hen, das E i n e ) u n d E w i g k e i t : „ D a h e r ist die E w i g k e i t e t w a s E h r w ü r d i g e s u n d identisch mit G o t t . U n d mit Recht k a n n m a n die E w i g k e i t als den seinem Wesen nach als ruhiges
identisches
Sein, als p e r m a n e n t e s Sein sich k u n d g e b e n d e n u n d o f f e n b a r e n d e n G o t t
be-
zeichnen . . . " ( E n n . I I I 7, 5) 2 7 . In der E k s t a s e k a n n die Seele sich z u r E w i g k e i t ,emporschwingen' — w o m i t der W e g z u r M y s t i k a n g e d e u t e t ist: „ W i e nun, w e n n j e m a n d sich von seinem Anblick ( d e m des ewigen G e g e n s t a n d e s ) g a r nicht trennt, sondern v o l l B e w u n d e r u n g f ü r seine N a t u r stets m i t i h m v e r k e h r t u n d i m s t a n d e ist, dies zu tun i n f o l g e seiner unermüdlichen N a t u r o d e r sich selbst z u r E w i g k e i t e m p o r s c h w i n g e n d in u n w a n d e l b a r e r R u h e v e r h a r r t , u m ihr ähnlich u n d e w i g z u sein, indem er m i t d e m E w i g e n in seinem Innern die E w i g k e i t u n d d a s E w i g e schaut." ( E n n . I I I 7, 5 2 8 .) D i e z e n t r a l e n M o m e n t e des E w i g keitsbegriffes, die f ü r A u g u s t i n u s wie f ü r die Scholastik
wegweisend
sind,
w e r d e n im f o l g e n d e n P a s s u s f o r m u l i e r t 2 9 : „ E t alors, il (celui qui pense l'unité et la simplicité d u nous, q u e ne contredit p a s la multiplicité des intelligibles) v o i t l'éternité, une
vie
qui persiste dans
son identité, qui est toujours présente à elle-même dans sa totalité, qui n'est p a s ceci puis cela, m a i s qui est tout à la fois, qui n'est p a s une chose puis une autre, m a i s qui est une p e r f e c t i o n indivisible. T e l un p o i n t où s'unissent toutes les lignes, sans qu'elles s ' é p a n d e n t j a m a i s au d e h o r s ; ce p o i n t persiste en lui-même dans son identité; il n ' é p r o u v e a u c u n e m o d i f i c a t i o n ; il est toujours
22 23
21
25
26 27 Js 29
dans
le
Vgl. Delling, a. a. O., 18. Vgl. G e o r g Wunderle, D i e Lehre des Aristoteles von der Zeit, in: Philosophisches Jahrbuch 21, 1908. Für die Rezeption des aristotelischen Gedankens bei T h o m a s vgl. Beemelmans, 5. u. öfter. In knapper Übersicht, unter Beziehung auch der übrigen wichtigeren N e u p l a t o n i k e r , dargestellt bei Leisegang, a. a. O. Leisegang, a. a. O., 15. Zitiert nach Leisegang, a. a. O., 19. Zitiert nach Leisegang, a. a. O., 19. Zitiert in: Œ u v r e s de Saint Augustin 14, Les Confessions, Livres V I I I — X I I I (Bibliothèque Augustinienne), 1962, Anmerkungen S. 583.
2. Notker
256
der
Deutsche
présent et il n'a ni passé ni futur : il est ce qu'il est et il l'est toujours. .. On ne pourra dire de lui : il était, puisqu'il n ' y a pas pour lui de passé; ni : il sera, puisqu'il ne doit rien lui arriver à l'avenir. I l ne lui reste qu'à être ce qu'il est. ,L'être dont on ne peut dire : il a été ou il sera, mais seulement il est' (Timaios 37 e — 3 8 a), l'être stable qui n'admet pas de modifications
dans
l'avenir et qui n'a pas changé dans le passé, voilà l'éternité. Qui, ce qui est dans les limites de l'être a une vie présente
tout entière
à la fois,
pleine et indi-
visible en tout sens : cette vie, c'est l'éternité que nous cherchons." (Enn. I I I 7, 3.) D a ß die Ewigkeit ein ,Leben' ist, das ganz und auf einmal gegenwärtig ist, in dem Vergangenheit und Zukunft in der ständigen Gegenwart zusammenfallen, alle diese Bestimmungen
finden
sich, einzeln und kombiniert in den
Theorien des Augustinus, Boethius, Thomas, Bonaventura usw. wieder. Doch ist sogleich einschränkend zu bemerken, daß den gleichen Formeln bei Plotin und
den
christlichen
Philosophen
nicht
der gleiche
Stellenwert
zukommt.
A . Solignac 3 0 notiert dazu: „Le ,tout à la fois' de Plotin ne signifie pas en effet la plénitude
d'un
Sujet
absolument
simple,
mais
celle
d'une
multiplicité
d'intelligibles qui, épuisant le tout de l'être, se compénètrent et se concentrent dans l'unité de leur source. Aussi, la transcendance de l'éternité par rapport au temps n'est-elle pas absolue dans un tel système, mais seulement relative : c'est celle du nous, lieu des intelligibles immuables et intercommunicants, par rapport aux âmes dispersées dans le temps et aux corps disséminés dans le cosmos; c'est une transcendance du mode
d'être,
et non pas simplement de
l'être." (Damit schränkt sich die oben behauptete Identität von G o t t
[dem
E i n e n ] und Ewigkeit in einer wesentlichen Hinsicht ein.) Das Neue gegenüber Piaton und den neuplatonischen Vorgängern ist nun aber vor allem die Überwindung des Dualismus, wie sie j a die plotinische Philosophie in allen Teilen kennzeichnet. Zeit leitet sich von Ewigkeit ab auf dem Wege der Emanation, „durch jenen merkwürdigen Vorgang, bei dem trotz der Herausentwicklung das Sein, die Ewigkeit und die Einheit des Intelligiblen unversehrt bewahrt bleiben 3 1 ". Das vermittelnde Glied zwischen der Welt der Ideen und den niederen Ordungen ist die Weltseele. „Sie (die Weltseele) begann die sichtbare W e l t nach dem Vorbild der unsichtbaren zu bilden, indem sie zunächst aus der Ewigkeit heraustrat und sich selbst zur Zeit machte. Die Weltseele selbst also ist die Zeit, und da die ganze sichtbare W e l t in der Weltseele ruht und von ihr durchdrungen ist, so ruht sie zugleich auch in der Zeit und ist ganz und gar von der Zeit durchdrungen 3 2 ." Für den christlichen Neuplatonismus
werden
die Analogie zur christlichen Schöpfungslehre und die Möglichkeit einer Zurückführung des Abbildlichen auf das Urbild produktiv. PROKLOS entwickelt seine Zeit-Ewigkeit-Theorie im K o m m e n t a r zu Piatons
30 31 32
In Œuvres de Saint Augustin 14, Anmerkungen S. 583. Leisegang, a. a. O., 22. Leisegang, a. a. O., 23, nach Enn. II 7, 11.
2.Í.
Notkers
Stellung
in der philosophischen
Tradition
der Ewigkeitstheorie
257
Timaios 33 . Ohne hier auf die Unterschiede zu Plotin eingehen zu können, sei nur auf einen f ü r unsere Fragestellung interessanten Gedanken hingewiesen. Proklos unterscheidet zwei Arten von ,ewig': „Das eigentlich Ewige ist allein das Intelligible, d. h. die gesamte I d e e n w e l t . . . In zweiter Linie jedoch kann man als ewig auch das bezeichnen, was im Laufe der fortwährenden Veränderung der zeitlichen Dinge stets dasselbe bleibt, ohne doch der Ideenwelt anzugehören (z. B. der Lauf der Sterne). Dieses letzte Ewige wird im Gegensatz zu dem absolut Ewigen das zeitlich Ewige genannt, weil es als ein ununterbrochenes Ganzes neben den zeitlichen Dingen herläuft 3 4 ." Diese bzw. eine vergleichbare Differenzierung finden wir wieder in der Unterscheidung v o n aeternitas
u n d sempiternitas
b z w . v o n aeternitas
u n d aevum,
die v o r allem
seit Boethius f ü r die christliche Theologie zu einem Kern-Problem wird. Wenden wir uns nun dem Werk des BOETHIUS zu — ohne vorerst die frühchristliche Theologie zu berücksichtigen —, dessen Theorie der Ewigkeit wohl am stärksten die Scholastik beeinflußt hat, während Augustins Confessiones eher im Hintergrund bleiben. Die Definition der Ewigkeit in De Consolatione V, 6 wird tale quäle von Thomas übernommen und steht noch bei Fr. Suarez im Zentrum der betreffenden Disputatio (Disp. L, De praedicamento quando, & universum de durationibus rerum). Durchaus im platonischen Sinne ist f ü r Boethius 35 die Ewigkeit ,der vollständige und vollendete Besitz des unbegrenzbaren Lebens' (aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio). Begrifflicher Mittelpunkt der Definition ist der Terminus ,Leben', der — wie bei Plotin — von vornherein die Vorstellung der dürren Abstraktheit einer irgendwie gearteten Zeitlosigkeit fernhält. Ewigkeit ist die Fülle des Lebens, die höchste mögliche Seinsweise, insofern also die Seinsweise Gottes (quod divinae mentis proprium esse manifestum est, und vorher: Quid sit igitur aeternitas consideremus. H a e c enim nobis naturam pariter divinam scientiamque patefacet). Thomas von Aquin interpretiert das Leben Gottes als eine operatio eher als ein esse (S. th. 1 q. 10. a. 1 quod est vere aeternum, non solum est ens, sed vivens: et ipsum vivere se extendit quodammodo ad operationem, non autem esse38). U n d Suarez 37 erläutert die Definition zusammenfassend: N a m in eo, quod dicitur, tota simul significatur carentia successionis; cum veró dicitur interminabilis vitae etc. significatur carentia omnis muta33
34 35
38 37
17
Z u r Philosophie des P r o k l o s vgl. die g r u n d l e g e n d e D a r s t e l l u n g v o n W e r n e r Beierwaltes, P r o k l o s . G r u n d z ü g e seiner M e t a p h y s i k , F r a n k f u r t a. M . 1965 (Philosophische A b h a n d l u n g e n X X I V ) , v o r allem 136 Ii., w o das P r o b l e m der E w i g k e i t der W e l t in t i e f g r ü n d i g e r Auslegung b e h a n d e l t ist (wohingegen Leisegang nicht m e h r als eine Z i t a t e n - K e t t e bietet). Leisegang, a. a. O., 35 f. Boethius, T r o s t der Philosophie (Consolationis P h i l o s o p h i a e Libri Q u i n q u é ) , w i r d im f o l g e n d e n zitiert nach der Ausgabe u n d deutschen Ü b e r s e t z u n g v o n E b e r h a r d G o t h e i n , Zürich 1949. Weitere Thomas-Stellen bei Beemelmans, a. a. O., 47 ff. Sectio I I I , 6. Burger, Zeit
258
2. Notker der Deutsche
tionis possibilis in ipso esse, quia idem est illi esse, & vivere, cum denique a d d i t u r perfecta possessio indicatur, illam carentiam successionis esse debere n o n t a n t u m in ipso esse, sed etiam in omni perfectione, Sc in omni interno actu rei aeternae. Die Zeit dagegen h a t Sukzession, die Z e i t m o m e n t e sind diskret u n d fallen unmittelbarer Vernichtung anheim. Selbst w e n n es etwas Zeitliches gibt, das w e d e r A n f a n g noch E n d e hat, so ist es gleichwohl nicht ewig. D e n n das p r i m ä r e Unterscheidungsmerkmal v o n Zeit u n d Ewigkeit ist nicht Begrenztheit/Unbegrenztheit, sondern die immer als G e g e n w a r t seiende, alles Sein zugleich u n d gleichzeitig umfassende Fülle des göttlichen Lebens gegenüber dem der Sukzession u n t e r w o r f e n e n endlichen u n d armseligen Dasein der K r e a t u r . D a ß dieser G e d a n k e des Boethius, der a n neuplatonische Ideen anschließt, stärker als die abstrakt-theoretische Formulierung des Aristoteles v o m Wesen der Zeit u n d der Unendlichkeit der Welt auf die Theologie des Mittelalters einwirken mußte, liegt auf der H a n d . D e r Gegensatz von Zeit u n d Ewigkeit ist somit ein ontologischer, nicht ein b l o ß ,mathematischer', u n d l ä ß t sich aus dem christlichen Verständnis der Geschöpflichkeit interpretieren. Bei der Besprechung des biblischen Äonen-Begriffes w e r d e n w i r auf die Ewigkeitstheorie der Consolatio z u r ü c k k o m m e n müssen, d a die Rezeption der Ewigkeitsdefinition des Boethius parallel läuft mit einer U m d e u t u n g der Äonen-Vorstellung. I m weiteren geht Boethius auf den Unterschied v o n E w i g keit u n d zeitlicher Unendlichkeit des näheren ein: „ M a g also auch das, was die Bedingungen der Zeit duldet, w e d e r jemals angefangen haben noch a u f h ö r e n , wie Aristoteles v o n der W e l t urteilt, m a g sich auch ihr Leben in die Unendlichkeit der Zeit erstrecken, so sollte m a n doch ein solches nicht m i t Recht f ü r ewig halten. D e n n es e r f a ß t u n d u m f a ß t nicht den ganzen Umkreis des w e n n auch unbegrenzten Lebens, sondern es f e h l t ihm noch die noch nicht durchlebte Z u k u n f t . Was also die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens zugleich e r f a ß t u n d besitzt, dem w e d e r etwas a m Z u k ü n f t i g e n abgeht noch v o m Vergangenen verflossen ist, das w i r d mit Recht als ewig a u f g e f a ß t , u n d das m u ß n o t w e n d i gerweise seiner selbst mächtig immer als ein Gegenwärtiges in sich verweilen u n d die Unendlichkeit der beweglichen Zeit als eine G e g e n w a r t v o r sich haben." Diese Differenzierung f ü h r t d a n n z u jener terminologischen Abgrenzung, die an den e r w ä h n t e n G e d a n k e n des Proklos erinnert: „ D a r u m ist die M e i n u n g derer nicht richtig, die, w e n n sie hören, d a ß P l a t o glaubte, diese W e l t habe w e d e r A n f a n g in der Zeit gehabt, noch w e r d e sie einen U n t e r g a n g in ihr haben, annehmen, d a ß die geschaffene Welt auf gleiche Weise ewig sei wie der Schöpfer. E t w a s anderes ist es, w e n n ein unbegrenzbares Leben g e f ü h r t w i r d , was P l a t o der Welt zuerteilt, etwas anderes, w e n n ein unbegrenzbares Leben zugleich ganz in der G e g e n w a r t e r f a ß t w i r d , was o f f e n b a r die Eigentümlichkeit des göttlichen Geistes i s t . . . W e n n w i r also den Dingen w ü r d i g e N a m e n beilegen wollen, so wollen w i r P l a t o folgend G o t t z w a r ewig (aeternum), die Welt aber d a u e r n d (perpetuum) nennen." Diese terminologische Differenzier u n g findet sich wieder v o r allem bei Richard v o n St. V i k t o r (De T r i n i t a t e
2.5. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie
259
II, 4) 38 und Bonaventura 3 9 . Gängiger als sempiternitas wird in der Scholastik der Begriff des aevum, um den im 13. Jahrhundert eine heftige Kontroverse entsteht 40 . Suarez scheidet die duratio creata zunächst in eine duratio permanens und eine duratio successiva. Letztere ist die Weise der Dauer, die sonst als tempus bezeichnet wird. Die erste ist permanens, sofern sie simul tota perseuerat absque partium successione. Sie wird wiederum unterteilt in eine duratio permanens in durationem immutabiliter natura sua permanentem — diese wird aevum genannt — und eine duratio, quae licet permanens sit, tarnen ex se non habet permanentiam immutabilem, sed natura defectibilem — diese heißt gelegentlich (aber nicht nach Übereinkunft aller Autoritäten) instans discreti temporis. U m das simul tota des aevum dreht sich vorwiegend die scholastische Diskussion, auf die wir hier nicht weiter eingehen können 41 . Wichtig ist nur der Gedanke, d a ß es zwischen Zeit und Ewigkeit ein Mittleres gibt. O b dieses Mittlere e i n e s sei oder wieder in mehrere aeviterne Seinsweisen aufzugliedern sei, ist eine weitere Streitfrage der Zeit, die Thomas in S. th. 1 q. 10. a. 6 erörtert (er entscheidet sich — unter Verweis auf die Stufenlehre des PseudoDionysius f ü r e i n aevum). Auch darüber brauchen wir uns nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Ein P u n k t aber ist geistesgeschichtlich bedeutsam. Der Geltungsbereich dieses aevum erstredet sich nach Thomas auf Gestirne und reine Geister, wie auch auf die menschliche Seele, „die ja in ihrem Wesen über jede Veränderung erhaben ist 42 ." Wenn bei Plotin einerseits die Weltseele eine Vermittlerrolle zwischen Zeit und Ewigkeit übernahm und anderseits der Seele in der Ekstasis eine Möglichkeit gegeben war, zur Ewigkeit zurückzukehren, so ist mit diesem scholastischen Gedanken eine andere Möglichkeit angedeutet, wie in der Seele Zeit und Ewigkeit vermittelt werden können. Boethius hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, er war bei der sempiternitas des Kosmos stehengeblieben. Auch die neuplatonische Ekstase fehlt bei ihm gänzlich (erst in der Mystik wird diese Traditionslinie wiedergewonnen). Was wir hier pauschal und in rüder Vereinfachung skizziert haben, ist ein Paradigma f ü r das mittelalterliche Dilemma zwischen Piatonismus und Artistotelismus. Fragt man nach dem Sprachgebrauch der frühchristlichen Literatur im Bereich der Ewigkeitssynonymik, so läßt sich als Gewährsmann f ü r eine, durchschnittliche Terminologie wohl am besten I S I D O R V O N S E V I L L A heranziehen, der große Kompilator antiken Wissens und frühchristlicher Theologie. Isidor 43 38 39 40
41 42 43
17»
Diskutiert bei Suarez, Disp. L, Sectio III, 5. Die Stellen bei Beemelmans, a. a. O., 53. Die verschiedenen Positionen sind referiert bei Suarez, Disp. L, Sectio 5; weniger gründlich bei Beemelmans, a. a. O., 52 ff. Vgl. Beemelmans, a. a. O., 53. Beemelmans, a. a. O., 51. Zitiert nach der Ausgabe: Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri X X , Oxford 1911.
260
2. Notker der Deutsche
verwendet aevum als Terminus für aetas perpetua, cuius neque initium neque extremum noscitur, quod Graeci vocant aionas; quod aliquando apud eos pro saeculo, aliquando pro aeterno ponitur. (Et. V 38, 4.) Wichtig ist hier der Hinweis auf den noch undifferenzierten Sprachgebraudi des Griechischen; das Lat. macht hingegen eine terminologische Unterscheidung zwischen saecttlum, aeternum und aevum. Was unter aeternitas im Gegensatz zu bloßer zeitlicher Unendlichkeit zu verstehen ist, formuliert Isidor — wenngleich nicht ganz eindeutig — an anderer Stelle (die von Suarez noch als Autoritätenzitat beigezogen wird: Suraez Disp. L, Sectio IV, 14): Nach einer Aufzählung der ,Namen' Gottes heißt es: Dicuntur autem et alia quaedam in Deum substantialiter nomina, ut immortalis, incorruptibilis, incommutabilis, aeternus. Gott ist solus incommutabilis, und: incommutabilis est quia Semper manet et mutari n e s c i t . . . Aeternus est, quia sine tempore est. Non habet enim initium neque finem. Hinc et sempiternus, eo quod sit Semper aeternus... et haec ista quattuor unum significant, nam una eademque res dicitur, sive dicatur aeternus Deus, sive inmortalis, sive incorruptibilis, sive immutabilis. (Et. V I I 1, 18 ff.) Offenbar sind die beiden Prädikate aeternus und incommutabilis näher verwandt als die übrigen, und so spielt auch die incommutabilitas in der scholastischen Diskussion um die Ewigkeit eine große Rolle. Immerhin ist bei Isidor in der Definition des aevum von incommutabilitas nicht die Rede, und andererseits ist Gott das einzige Wesen, das incommutabilis ist, so daß wir annehmen dürfen, daß er unter aeternitas ein eigentliches Seinsprädikat Gottes, unter aevum aber nicht mehr als temporale Unbegrenztheit verstanden hat. Im übrigen verwendet Isidor die Termini aeternus, sempiternus, auch perpetuus und perennis ohne scharfe begriffliche Scheidung nebeneinander44. Nun bleibt noch die schwierige Frage, wie AUGUSTINUS in den skizzierten geistesgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen ist, eine Frage, die letzten Endes auf das Verhältnis Augustins zum Neuplatonismus abzielt. Hier eine Antwort geben zu wollen, wäre vermessen. Wir können nur auf die reiche Literatur zum Problem verweisen45 und im übrigen eine kurze Zusammenfassung der augustinischen Gedanken versuchen. 44 45
Vgl. E t . X 2 0 4 : Perennis, ab eo quod sit perpetuus annis. L i t e r a t u r zu Augustins Zeit-Verständnis und zu seinem platonismus:
Verhältnis
zum
Neu-
H . Bachschmidt, D e r Zeitbegriff bei Augustinus und die Orientierung eines m o d e r nen Zeitbegriffes an seinen Gedanken (Philosophisches Jahrbuch 6 0 ) , 1 9 5 0 , 4 3 8 — 4 4 9 ; P . Brunner, Z u r Auseinandersetzung zwischen antikem und christlichem Zeitund Geschichtsverständnis bei Augustin, Zs. f. Theol. u. Kirche 14 ( 1 9 3 3 ) 1 — 2 5 ; J . F . C a l l a h a n , F o u r Views of Time in Ancient Philosophy, C a m b r i d g e 1 9 4 8 , 1 4 9 — 1 8 7 ; P . Courcelle, Recherches sur les Confessions de Saint-Augustin, Paris 1 9 5 0 (grundlegende Studie z u m Verhältnis Augustins z u m Neuplatonismus) ; R . Gillet, Temps et exemplarisme chez Saint Augustin (Augustinus Magister II), 9 3 3 — 9 4 1 ; J . Guitton, L e temps et l'éternité chez P l o t i n et Saint-Augustin, 1 9 3 3 ; M. Nicolodi,
2.5. Notkers
Stellung
in der philosophischen
Tradition
der Ewigkeitstheorie
261
Augustin 4 6 geht aus v o n einer Fragestellung der Manichäer, die ihm nur ein Scheinproblem ist: Was t a t G o t t , bevor er H i m m e l u n d E r d e schuf? Der I r r t u m liegt bereits im W o r t ,bevor', denn G o t t selbst schuf auch die Zeit. Ein .vorher' u n d ,nachher' ist also Gottes W e r k , nicht aber das M a ß des göttlichen Wirkens (hier w i r k t die G e d a n k e n f ü h r u n g des Timaios unmittelbar nach). „ W e n n du also der Begründer aller Zeiten bist u n d es eine Zeit gab, ehe du H i m m e l u n d E r d e schufst, wie k a n n m a n d a n n sagen, d a ß du müßig warst? D e n n eben diese Zeit hattest du geschaffen, u n d es k o n n t e n keine Zeiten vorübergehen, ehe du die Zeiten schufst. W e n n es aber v o r H i m m e l u n d E r d e keine Zeit gab, wie k a n n m a n d a n n fragen, w a s du damals tatest? D e n n es gab kein damals, w o es noch keine Zeit g a b " ( X I 13,15). G o t t k a n n also nicht der Schöpfung auf zeitliche Weise ,voraus' sein. W e n n eine Rede v o m v o r a u s gehen' (praecedere) Gottes ü b e r h a u p t sinnvoll sein soll, so m u ß sie unzeitlich, metaphysisch verstanden sein. Das ,voraus' Gottes ist ein Sein, das dem Zeitlich-Seienden ontologisch voraus-geht. Dieses Sein ist ein ausgezeichnetes, erhabenes Sein, das Sein der Ewigkeit: praecedis omnia praeterita celsitudine Semper praesentis aeternitatis et superas omnia f u t u r a , quia illa f u t u r a sunt, et cum uenerint, praeterita erunt; tu autem idem ipse es, et anni tui non deficient (nach Ps. 101, 28). A n dieser Stelle läßt sich ein zentraler Berührungsp u n k t mit Plotin, aber zugleich ein charakteristischer Unterschied z u m N e u p l a t o n i k e r fassen: Die Ewigkeit Gottes ist f ü r Augustinus das tu idem ipse, das Idipsum des Psalters (Idipsum quippe hoc loco [Ps. 121, 3] illud s u m m u m et inconmutabile b o n u m intellegitur, quod Deus est, atque sapientia uoluntasque illius. D e Trin. I I I , 2, 8 ) " . In der E n a r r a t i o z u Ps. 121, 3 entwickelt Augustinus den Gehalt des Idipsum48 : Q u i d est idipsum? Q u o d Semper eodem m o d o est; quod non m o d o aliud, et m o d o aliud est. Q u i d est ergo idipsum, nisi, quod est? Quid est quod est?
40
47 48
Formalismo agostiniano (in: Augustinus Magister I), 3 7 3 — 3 7 9 ; J. Weinand, Augustins erkenntniskritische Theorie der Zeit und der Gegenwart, Darstellung und Würdigung, Universitas Arch. 33, 1929; M. Wundt, D e r Zeitbegriff bei Augustin (Neues Jahrbuch für d. klass. Altertum 41), 1918, 3 2 — 3 7 ; J. P. Schobinger, Augustins Begründung der ,inneren Zeit', Schweizer Monatshefte 46 (1966) 179 bis 192. Kommentare zu den Confessiones: J. Gibb / W. Montgomery, Aug. Confessiones, Cambridge Patristic Texts, 1927; A. Solignac, in: Œ u v r e s de Saint Augustin 14, a. a. O., 581—599. Allgemeineres zum Verhältnis v o n Christentum und Piatonismus: Endre v o n Ivanka, Plato Christianus, Uebernahme und Umgestaltung des Piatonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964; Ernst H o f f m a n n , Piatonismus und christliche Philosophie, Zürich 1960. Augustins Confessiones werden im folgenden zitiert nach der lat. Ausgabe in Œ u v r e s de Saint Augustin 13 u. 14, a . a . O . , und nach der deutschen Übersetzung v o n Wilhelm Thimme (Aurelius Augustinus Bekenntnisse), Zürich—Stuttgart 1950. Zitiert in Œ u v r e s de Saint Augustin 14, a. a. O., 550 f. PL 37, 1622.
262
2. Notker der Deutsche
Quod aeternum est. N a m quod semper aliter a t q u e aliter est, n o n est, quia non m a n e t : non o m n i n o n o n est, sed n o n summe est. Bis hierhin w ä r e der G e d a n k e durchaus plotinisch, w e n n nicht im folgenden das typisch christliche neue Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung durchbräche: Et d i x i t . . . D o m i n u s a d Moysen, Ego sum Deus A b r a h a m , et Deus Isaac, et Deus J a c o b : hoc mihi nomen est in aeternum (Exod. I I I , 13—15). N o l i de te desperare, quia dixi, Ego sum qui sum, et, Q u i est, misit m e a d vos: quia tu m o d o fluctuas, et mutabilitate r e r u m et varietate mortalitatis h u m a n a e percipere n o n potes q u o d est idipsum. Ego descendo, quia t u venire n o n potes. Ego sum Deus A b r a h a m , et Deus Isaac, et Deus Jacob. I n semine A b r a h a m spera aliquid, u t confirmari possis ad v i v e n d u m qui venit ad te in semine A b r a h a e . U n d noch deutlicher heißt es in Sermo 7, 7 49 : Q u o n i a m dixi, Ego sum qui sum, et, Q u i est misit m e ; intellexisti quid sit esse, et desperasti te capere: erige spem, Ego sum Deus A b r a h a m , Isaac et I a c o b ; sic sum quod sum, sic sum ipsum esse, sic sum cum ipso esse, ut nolim hominibus deesse . . . G o t t neigt sich z u m Menschen herab, da der Mensch nicht f ä h i g ist, ihn zu begreifen u n d zu ihm emporzusteigen. I m Gegensatz z u m plotinischen ,Einen' ist der G o t t Augustins ein persönlicher G o t t „qui cree des personnes et s'entretient avec elles 50 ". I m Anschluß an das tu autem idem ipse es dringt n u n Augustin, unter der F ü h r u n g biblischer Aussagen über G o t t , bis z u m Begriff des ,ewigen Tages' v o r : anni tui non deficient (Ps. 101, 28). anni tui nec eunt nec u e n i u n t : isti enim nostri eunt et ueniunt, ut omnes ueniant. anni tui omnes simul stant, quoniam stant, nec euntes a uenientibus excluduntur, quia non t r a n s e u n t : isti autem nostri omnes erunt, cum omnes non erunt. anni tui dies unus (II petr. 3, 8), et dies tuus n o n cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus n o n cedit crastino; neque enim succedit hesterno. hodiernus tuus aeternitas: ideo coaeternum genuisti, cui dixisti: ego hodie genui te (Ps. 2 , 7 u. H e b r 5 , 5 ) . omnia t e m p o r a tu fecisti et ante omnia t e m p o r a tu es, nec aliquo t e m p o r e non erat tempus ( X I 1 3 , 16) 51 . 48 50 51
PL 38, 66. Solignac, a. a. O., 584. Noch klarer sind die Etappen des Gedankens beobachtbar in Enarratio in Ps. 121 (PL 37, 1623): Fratres, nonne anni nostri cotidie deficiunt, nec stant omnino? Nam et qui venerunt, jam non sunt; et qui futuri sunt, nondum sunt: jam illi defecerunt, et illi defecturi venturi sunt. In hoc ergo ipso uno die, fratres, ecce modo quod loquimur in momento est. Praeteritae horae transierunt, futurae nondum venerunt; et cum venerint, et ipsae transibunt et deficient. Qui sunt anni qui non deficiunt, nisi qui stant? Si ergo ibi anni stant, et ipsi anni qui stant unus annus est, et ipse unus annus qui stat unus dies est; quia ipse unus dies nec ortum habet nec
2 J. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie
263
Das Auffällige an diesem Passus ist, d a ß Augustinus ganz in der biblischen Redeweise verbleibt u n d doch gleichzeitig über sie hinausgeht. Auf diese Weise entsteht das P a r a d o x des Tages, der immer ,heute' ist, des Tages der Ewigkeit. Die außerordentliche Dichte der Sprache, das Philosophieren ,an der H a n d der Sprache', das so weit e n t f e r n t ist v o n der A b s t r a k t h e i t scholastischer Begriffsanalysen, ja selbst v o n der Trostschrift des Boethius, l ä ß t Augustins Formulierungen besonders geeignet erscheinen f ü r eine Transposition in die Volkssprache. A u ß e r dem Begriff der aeternitas setzt der ganze Gedanke, den wir nachgezeichnet haben, keinerlei neuartige Begrifflichkeit, kein sprachliches Schöpfergenie voraus, alles vollzieht sich unter dem Schutz u n d unter Leitung des rezipierten Bibelwortes. V o n hier aus ist auch das sprachliche Verhältnis der Notkerschen Boethius-Übersetzung z u m P s a l t e r - K o m m e n t a r zu beurteilen (u. 265 ff). I m Anschluß an Augustinus ist noch auf eine weitere Gestalt hinzuweisen, die f ü r die geistige P r ä g u n g des Mittelalters v o n k a u m z u überschätzender Bedeutung ist: D I O N Y S I U S A R E O P A G I T A 5 2 . Mit Dionysius entsteht ein eigentlicher christlicher Neuplatonismus, in dem die neuplatonische Bild- u n d Stufenwelt christlich ,überboten' w i r d : Dionysius n i m m t die gleiche Exodus-Stelle wie Augustinus z u m Ausgangsp u n k t seiner Ewigkeitsspekulation: Mais puisque nous avons déjà traité cette question, célébrons m a i n t e n a n t le Bien comme E t r e p u r et comme celui qui donne r a n g d'essence à t o u t ce qui existe. Celui qui est (Exodus 3 , 1 4 ) est en puissance et suressentiellement la cause substantielle de t o u t e existance, le D é m i u r g e de l'être, de la subsistance, de la substance, de l'essence, de la nature, le Principe et la Mesure des durées perpétuelles, l'Entité des réalités temporelles et de tous les êtres qui durent perpétuellement, le Temps de tout devenir, l'Etre de t o u t ce qui est de quelque façon que ce soit, le D e v e n i r de t o u t ce qui devient de quelque façon que ce soit. D e l'Etre procèdent durée, essence, existence, temps, devenir et ce qui
52
occasum, nec inchoatur ab hesterno, nec excluditur a crastino, sed stat Semper ille dies: et quod vis vocas illum diem; si vis, anni sunt; si vis, dies est; quodcumque cogitaveris, stat tamen: ipsius stabilitatis participât illa civitas cujus participatio est in idipsum . . . Dionysius Areopagita, Œuvres complètes, traduction, préface et notes par Maurice de Gandillac (Bibliothèque Philosophique), Paris 1943. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Eine deutsche Auswahl-Ubersetzung liegt vor in: Dionysius Areopagita, Von den Namen zum Unnennbaren, Auswahl und Einleitung von Endre von Ivanka, (Sigillum 7), Einsiedeln o. J. Die umfassendste Darstellung des Areopagiten liegt vor in René Roques, L'Univers Dionysien, Paris 1954. Zum Verhältnis Christentum/Neuplatonismus im Werk des Dionysius vgl. auch Endre von Ivanka, Inwieweit ist Dionysius Areopagita Neuplatoniker?, Scholastik 31 (1956) 384—403. Die ältere Literatur über Dionysius bei Otto Bardenhewer, Geschichte der altchristlichen Literatur, und B. Altaner, Patrologie, 21950, § 100.
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2. Notker der Deutsche
devient, l'être qui appartient aux êtres, et tout ce qui existe, et tout ce qui subsiste de quelque façon que ce soit. A vrai dire, en effet, Dieu n'est pas être selon tel ou tel mode, mais de façon absolue et indéfinissable, car il contient synthétiquement et d'avance en lui la plénitude de l'être. C'est pourquoi on l'appelle Roi des durées perpétuelles, parce que tout être existe et subsiste en lui et p a r rapport à lui. Mais lui-même ni ne fut ni ne sera ni ne devint, ni ne devient, ni ne deviendra. Disons mieux, il n'est pas être, mais il est l'Etre des êtres, et ne se limite point aux existences présentes, lesquelles procèdent elles-mêmes de l'Etre qui précède toute perpétuité. L'Etre est donc la Perpétuité des perpétuités, lui qui subsiste avant toute perpétuité53. Noch deutlicher als Augustins Theorie klingen diese Sätze an plotinisdie Gedanken an. Aus dem Sein .fließen' (procèdent) Dauer, Wesen, Ewigkeit usw. ,Celui qui est' ist das M a ß der Ewigkeiten, ohne selbst ewig zu sein. Allerdings ist es schwierig, Dionysius beim W o r t zu nehmen, einmal weil seine dialektisch-negative Theologie alle Aussagen über G o t t sofort wieder zurücknimmt, zum andern weil der Begriff des nuóv keinen eindeutigen temporalen (oder nicht temporalen) Sinn hat. U m diese terminologische Schwierigkeit, deren Dionysius sich sehr deutlich bewußt ist, kreist das scharfsinnige Kapitel 5 4 der Noms divins, das f ü r die scholastische Unterscheidung von aevum und aeternitas begrifflich grundlegend wird. Der Gedanke nimmt seinen Ausgang bei einer Bibelstelle, in der G o t t das Prädikat antiquus dierum (Dan 7, 22) beigelegt w i r d : „Dieu est célébré aussi comme Ancien des jours parce qu'il est la durée perpétuelle et le temps de toutes choses et qu'il précède en même temps et la perpétuité et le temps." Gott ist Ewigkeit und ist zugleich der Ewigkeit voraus. Dies Paradox, das auch im obigen Zitat ausgesprochen wurde, wird im folgenden erläutert. D a z u bedarf es aber zunächst einer Klärung des biblischen Sprachgebrauchs — und hier folgen die Analysen, die den Unterschied von aeternitas und aevum vorwegnehmen: il f a u t expliquer, je crois, ce que l'Ecriture entend par temps et par durée perpétuelle. C a r elle ne réserve pas toujours l'épithète de perpétuel à ce qui échappe à tout engendrement, à ce qui existe de façon vraiment éternelle, ni même aux êtres indestructibles, immortels, immuables et identiques (comme elle le fait quand elle nous dit, parmi d'autres exemples nombreux: „Ouvrez-vous, portes perpétuelles", Ps. 237, 9), mais elle use souvent de cette épithète pour caractériser ce qui est le plus proche du principe, et il lui arrive d'appliquer l'expression de durée perpétuelle à la totalité de nos temps, parce que c'est le propre de la durée perpétuelle d'être principe inaltéré et de servir d'étalon universel." Den Begriff der Zeit dagegen verwendet die Schrift f ü r alles Vergängliche, dem Wechsel Unterworfene. Wir Menschen aber, obgleich durch die Zeit begrenzt, können an der Ewigkeit teilhaben', „quand nous parviendrons à cette perpétuité qui 53 54
Les noms divins V, 4 (817 C). Les noms divins X, 2 f. (937 B — 940 A).
2.S. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie
265
exclut toute corruption et qui demeure c o n s t a m m a n t identique à soi-même". Die Schrift benützt gelegentlich auch die Ausdrücke ,perpétuité temporelle' u n d ,temps perpétuel' u n d schafft d a m i t terminologische V e r w i r r u n g . „Mais nous savons qu'il v a u t mieux réserver le terme de perpétuité à ce qui est plus proche du principe et appeler temps ce qui est soumis au devenir. N'ayons donc pas la naïveté de croire que tout ce qu'on appelle perpétuel possède la même perpétuité que Dieu qui transcende la perpétuité; mais, suivant en toute rigueur les toutes vénérables Ecritures, entendons ces adjectifs temporel et perpétuel dans le sens qu'elles leur attribuent, et considérons p a r conséquent comme intermédiaire entre l'être et le devenir t o u t ce qui participe à la fois à la p e r p é t u i t é et à la temporalité." Dieses ,Mittlere' ist das aevum der Scholastik 55 . D a m i t ist nun auch klar, in welchem Sinne von G o t t ,Ewigkeit' ausgesagt w e r d e n k a n n : „ Q u a n t à Dieu, il f a u t le célébrer t o u t ensemble comme Perpétuité et comme Temporalité, car il est la cause de t o u t temps et de toute perpétuité, mais il f a u t l'appeler aussi l'Ancien des jours, car il précède le temps et il transcende le temps et c'est lui qui p r o d u i t la diversité des saisons et des temps. Mais on doit a f f i r m e r p o u r t a n t qu'il subsiste, antérieur à t o u t e perpétuité, qu'il transcende la perpétuité et que son royaume est le r o y a u m e de toute perpétuité." Dionysius Areopagita bleibt bei aller Schärfe der Analyse immer im Bereich der p a r a d o x e n Aussagen, wie es seinem gesamten Denkstil entspricht. W e n n er die Ewigkeit der Geschöpfe v o n derjenigen Gottes scheidet, so w i r d in einem A t e m z u g das P r ä d i k a t Ewigkeit v o n G o t t ausgesagt u n d wieder negiert. D a ß G o t t auch der Ewigkeit ,im eigentlichen Sinne' (à ce qui existe de façon v r a i m e n t éternelle) transzendent ist, dies wiederum ist neuplatonisch und hebt die Ewigkeitstheorie des Dionysius von derjenigen Augustins, des Boethius u n d der Scholastik ab 58 .
2 . 5 . 2 . N o t k e r s Begrifflichkeit i m ,Psalter' u n d i m ,Boethius' W e n n w i r unsere Beobachtungen a m Psalter m i t den a m ,Boethius' gewonnenen Ergebnissen Ingeborg Schröblers vergleichen, so lassen sich die Differenzen des Sprachgebrauchs unter wenigen Gesichtspunkten z u s a m m e n stellen: 1. I m Psalter benötigt N o t k e r ( f ü r unseren Wortbereich) n u r einen geringen Bestand an Begriffen, die großenteils schon durch die lexikalische T r a d i t i o n 55 68
Vgl. die Anm. Gandillacs zu S. 163. Vgl. E. von Ivänka, Dionysius . . . , a. a. O., Einleitung 19: „So hat innerlich — wenn auch das äußere Schema beibehalten ist — der christliche Gehalt die neuplatonischen Grundmotive überwunden . . . Wozu dann aber noch die neuplatonische Einkleidung, die hellenistische Mysteriensprache? Die A n t w o r t wurde bereits im Vorhergehenden angedeutet: der Rahmen wird übernommen, um dem Grundprinzip des Neuplatonismus desto wirksamer entgegenzutreten."
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2. Notker der Deutsche
vorgeprägt sind. I m ,Boethius' sind die meisten der v e r w e n d e t e n W ö r t e r Bildungen, die ü b e r h a u p t n u r bei N o t k e r oder z u m erstenmal bei N o t k e r belegt sind 57 . D e m entspricht ein f u n d a m e n t a l e r Unterschied des U m g a n g s mit Sprache in den beiden T e x t e n : W ä h r e n d Boethius scharfe begriffliche Analysen vollzieht, die terminologisch eindeutig fixiert sind u n d die N o t k e r im Deutschen nachzuahmen versucht, zeigt der P s a l t e r k o m m e n t a r Augustins ein unmittelbar an der Alltagssprache verbleibendes u n d aus ihr heraus sich entfaltendes Philosophieren. H i e r werden nicht terminologische Differenzierungen v o r a u s g e s e t z t , sondern mit den Mitteln der vor-philosophischen Sprache erst ausgebildet. 2. I m Vorstellungs- u n d Motivkreis ,Ewigkeit' sind f ü r die beiden Texte charakteristische Unterschiede zu konstatieren, w e n n auch zunächst das Gemeinsame gegenüber der ahd. T r a d i t i o n festgehalten z u w e r d e n v e r d i e n t : In allen von der Bibelsprache her geprägten Texten des A h d . ist Ewigkeit p r i m ä r als zeitliche Unendlichkeit formuliert, wobei allerdings Ansätze zu einer ontologischen U m d e u t u n g der Ewigkeit (etwa in O t f r i d s ewinigi) nicht zu verkennen sind. Die Ableitungen von der alten W u r z e l ew- halten sich somit z u nächst in dem durch die Etymologie vorgegebenen temporalen R a h m e n (,lange, endlose D a u e r ' , ohne Oppositionsverhältnis z u Zeit). Durch die seit den A n fängen der a h d . Zeit zu beobachtende Vereinheitlichung der Terminologie im Bereich dogmatisch-katechetischer Gebrauchsliteratur w i r d aber die lexikalische T r e n n u n g der ew-Sippe von den Z e i t - W ö r t e r n zu einer scharfen Scheidung von Vorstellungsbereichen. U n d diese Entgegensetzung dringt d a n n — gestützt durch das D e n k m o d e l l der beiden Welten — in alle Bereiche der geistlichen Literatur ein, so d a ß alte Formeln einem allmählichen, an mancherlei Symptomen z u registrierenden P r o z e ß semantischer Verschiebung u n t e r w o r f e n werden. Bei N o t k e r n u n ist die lexikalische Umschichtung in wesentlichen Bereichen vollzogen. Angesichts seiner lat. Vorlagen — v o r allem des Augustinischen P s a l m e n k o m m e n t a r s u n d der Consolatio des Boethius — ist er v o r die A u f g a b e gestellt, eine zeitlose Ewigkeit zu denken u n d sprachlich zu artikulieren, eine Ewigkeit, aus der die Zeit als abgeleitetes P h ä n o m e n begriffen w e r d e n kann. In der Weise, wie der Z u g a n g zu diesem Verständnis v o n Ewigkeit gef u n d e n w i r d , unterscheiden sich n u n die beiden Notkerschen Texte wesentlich. In drei P u n k t e n lassen sich die hauptsächlichen Differenzen fassen: (a) D e r Boethius-Text begreift die Ewigkeit v o r allem als ,Leben' Gottes, somit als Fülle des Seins, als ontologischen Inbegriff des Seins. (b) I m P s a l t e r k o m m e n t a r erscheint die Ewigkeit — neben den Stellen, w o sie als Seinsprädikat Gottes u n d des jenseitigen Seins genannt ist, oder w o sie in verbbezogenen Formeln des alten Typs als zeitliche Unendlichkeit a u f tritt — in der p a r a d o x e n Formulierung ,ewiger T a g ' . " Sdiröbler, a . a . O . , 130.
2.S. Notkers Stellung in der philosophischen Tradition der Ewigkeitstheorie
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(c) N u r der Boethius-Text konstituiert eine begriffliche Unterscheidung zweier Arten v o n Ewigkeit — die eigentliche zeitlose Ewigkeit (aeternusjeumg) u n d die unendliche zeitliche D a u e r ( p e r p e t u u s j u K e n g ) . Die Consolatio bedient sich des gesamten I n v e n t a r s antiker philosophischer BegrifTlichkeit, um die philosophischen Konsequenzen christlicher D o g m a t i k mit Platonischem u n d Aristotelischem z u harmonisieren. Die christliche D o g m a tik selbst t r i t t dabei nie sichtbar hervor. O h n e direkten Bezug auf spezifisch Theologisches also philosophiert Boethius mit antik-philosophischen K a t e g o rien in einem allgemeinen R a u m des Christlichen. Sein Versuch einer Synthese der griechischen Philosophenschulen k a n n d a m i t u n m i t t e l b a r f r u c h t b a r werden f ü r die Scholastik, z u m a l im Bereich terminologischer Differenzierungen. D e m gegenüber vollzieht Augustinus die dem Christen immer neu aufgegebene Durchleuchtung des Bibelwortes auf seine spirituellen Sinnschichten hin, ohne dem heiligen T e x t ein vorgegebenes begriffliches Gerüst a u f z u p r ä g e n . Zu einem Begriff der Ewigkeit gelangt er, indem er die a n t h r o p o m o r p h e n Vorstellungsweisen der Bibelsprache in die Unbegreiflichkeit des P a r a d o x e s auflöst u n d d a m i t das D e n k e n aus dem Schematismus der alltäglichen Begrifflichkeit befreit. (Bezeichnend ist, d a ß die einschlägigen P a r t i e n der Confessiones fast wörtlich identisch sind mit gewissen A u s f ü h r u n g e n in den Enarrationes in Psalmos, d a ß Augustinus also auch a u ß e r h a l b der eigentlichen Bibelkommentierung sein D e n k e n vollständig an den Formulierungen der Bibel orientiert.) D a ß dieses Denken, das nicht analysiert u n d klassifiziert, sondern sich ruhelos ins U n e n d liche hinein bewegt, der neuplatonischen D i a l e k t i k viel n ä h e r steht als das nahezu scholastische V e r f a h r e n des Boethius, braucht k a u m gesagt z u werden. N o t k e r ist — soweit w i r dies beobachten können — eher einem rationalanalytischen D e n k e n als den K ü h n h e i t e n einer spekulativen D i a l e k t i k z u geneigt. Sein P s a l t e r k o m m e n t a r ist d a h e r in sprachlicher Hinsicht ein Mittleres zwischen dem gedanklichen H a b i t u s des ,Boethius' u n d der Augustinischen Enarrationes in Psalmos. G e n a u ein solches Stadium des Begrifflichen h a t in dieser Situation der deutschen Sprache a m ehesten die Chance, geschichtswirksam zu werden, da es das Begriffs- u n d Sprachvermögen nicht ü b e r f o r d e r t . D i e terminologische Differenzierung der beiden A r t e n v o n Ewigkeit h a t im Deutschen keine Nachfolge gefunden, wohingegen der ,Tag der E w i g k e i t ' — unter neuerlichem Einfluß neuplatonischen Gutes — als ein B r e n n p u n k t mystischen Denkens wieder erscheinen w i r d . W a s die begrifflich-abstrakte Sprachleistung N o t k e r s angeht, so bleibt sie auf große Strecken a d - h o c - P r ä g u n g , die nur unter dem Schutz des Lateinischen sinnvoll u n d erhellend sein k a n n . Diesen T a t b e s t a n d beschreibt Jürgen J a e h r l i n g in seinem luziden Resümee: „ D a ß ihm die lat. Terminologie z u r V e r f ü g u n g steht, erleichtert N o t k e r seine A u f gabe insofern, als er sich immer auf die lat. Begriffe beziehen k a n n u n d daher nicht gezwungen ist, ein rein ahd. Begriffssystem a u f z u b a u e n , das ebenso geschlossen u n d aus sich selbst verständlich ist wie das Aristotelische (Jaehrling bezieht sich auf die Übersetzung der aristotelischen ,Kategorien'; Ähnliches gilt
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2. Notker
der
Deutsche
aber auch f ü r die anderen Werke Notkers). Alle sprachlichen Mittel außer der ganz präzisen, stets gleichbleibenden Übersetzung sind im Grunde erst dadurch anwendbar geworden. Der Bezug auf die lat. Terminologie verschafft N o t k e r also einerseits den Raum, in dem er sprachschöpferisch tätig werden kann bis hin zum sprachlichen Experiment, ohne daß ihn bei jeder Abweichung von der präzisen Übersetzung der Vorwurf der Ungenauigkeit treffen kann. Die lat. Terminologie bewahrt ihn andererseits davor, eine Ubersetzung um jeden Preis zu versuchen, d. h. um den Preis einer ungenauen oder sprachlich nicht korrekten "Wiedergabe.. ," 58
59
Jaehrling, a. a. O., 140.
3. Williram von Ebersberg Die Beschäftigung mit dem deutschen Werk Willirams von Ebersberg in sprachgeschichtlicher Hinsicht wird durch zwei Tatsachen beeinträchtigt: (1) durch Willirams besonderes Verhältnis zur Muttersprache, (2) durch die unglückliche Editionslage der Paraphrase des H o h e n Liedes. Beginnen wir mit dem letzteren, dem äußerlichen G r u n d : Seit Seemüllers 1 verdienstlicher, aber durch die Beschränkung auf den deutschen Text stark verzerrter Ausgabe warten wir immer noch auf eine kritische Ausgabe des g a n z e n Werkes. Für die Beurteilung von Wortschatz und Terminologie spielt dies allerdings keine wesentliche Rolle, da man f ü r den Vergleich mit dem Lat. etwa die alte Edition in Schilters Thesaurus beiziehen kann. Gewichtiger ist die innere Anlage des Williramschen Werkes, die dem deutschen Text eine relativ bescheidene Rolle zumißt 2 , wenngleich im Prolog die lat. Versparaphrase und die deutsche Prosaparaphrase in einem Atemzug und ohne Wertung genannt sind: Itaque cantica canticorum, quae sui magnitudinem ipso nomine testantur, statui, si deus annuerit, et uersibus et teutonica planiora reddere, ut corpus in medio positum his utrimque cingatur, et ita facilius intellectui occurrat quod inuestigatur'. Der Bibeltext also steht im Zentrum der interpretierenden Bemühung, wie das selbstverständlich zu erwarten ist. Doch gilt die eigentliche Liebe Willirams der eleganten lat. Versifizierung seiner theologischen Vorlagen. Für unsere Untersuchung ist vor allem von Wichtigkeit, daß Williram die Notkersdie Übersetzungstechnik weitgehend übernimmt, zumal hinsichtlich der sog. Mischprosa. In einem Punkte aber stellt Willirams Übersetzungstechnik in den kommentierenden Teilen einen Rückschritt gegenüber N o t k e r dar: Die zentralen theologischen und philosophischen Termini, die in den Kommentar einfließen, werden durchweg nicht verdeutscht, sondern in ihrer terminologisch fixierten lat. Form belassen. N o t k e r traut selbst in diesem Bereich der deutschen Sprache mehr zu.
1
2
3
Joseph Seemüller, Willirams Deutsche Paraphrase des Hohen Liedes, mit Einleitung u. Glossar hrg. von J. S. ( = Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 28), Straßburg 1878. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Für das Verhältnis von lat. Hexametern und deutscher Paraphrase vgl. MarieLuise Dittrich, Willirams von Ebersberg Bearbeitung der Cantica Canticorum, Z f d A 82 (1948/50), 47—64; dieselbe, Die literarische Form von Willirams Expositio in Cantica Canticorum, Z f d A 84 (1952/53) 179—197. Seemüller, a. a. O., S. 2, 24 ff.
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3. Williram von Ebersberg
D a m i t ist v o n vornherein zu e r w a r t e n , d a ß Willirams deutsche P a r a p h r a s e f ü r den W o r t b e z i r k v o n Zeit u n d Ewigkeit nicht ergiebig ist. Mathematischphilosophische Begriffe wie Einheit/Vielheit, selbst gängige theologisch bestimmte Ausdrücke wie mundus, terrenus bleiben in lat. Form, u n d so auch überwiegend die W ö r t e r saecularis, aeternus, temporalis, consummatio saeculi usw. Was f ü r unser T h e m a relevant w i r d , liegt mehr oder weniger zufällig v o r . U m so aufschlußreicher w i r d es sein, welche W ö r t e r unseres Sinnbereiches in welchen K o l l o k a t i o n e n n u n doch noch verdeutscht werden. V o n den W ö r t e r n im Zeit-Bereich ist frist nicht belegt, stunta n u r in der adverbiellen W e n d u n g uon den stunton, daz . . . — ex quo (142, 2), außerdem in der Zusammensetzung sumstunt ( b a l d - b a l d ) ; einzig uuerlt u n d zit weisen eine Reihe v o n Belegen a u f : zit ist n u r in konkretesten Z u s a m m e n h ä n g e n a n z u t r e f f e n : ,Zeit der E r n t e ' ( 3 9 , 3 ) ; N u ist ouh diu zit, d a z . . . ( 3 9 , 1 0 ) ; des ist n o h niet zith ( 1 1 0 , 4 ) ; das A d j e k t i v ziteg ist gleichfalls in seinem konkreten Sinn v e r w e n d e t (,reifes Obst' 122, 2). uuerlt ist in den meisten K o n t e x t e n weltanschaulich g e f ä r b t (nur 93, 8; 1 0 8 , 7 ; 1 1 1 , 3 u n d 1 2 2 , 9 haben ,alle Welt' = alle Menschen): ,diese Welt": 8 5 , 7 ; 1 1 8 , 1 2 ( = saeculum); 6 2 , 1 2 ; 8 3 , 3 u n d 1 0 2 , 3 . I m letzten Falle steht in dirro uuerlte in direktem Gegensatz z u ze enero uuerlte. Jene W e l t ' ist außer an dieser Stelle nicht mehr belegt. D a f ü r erscheint uuerlt einmal als O r t des Leidens (31,7), z w e i m a l in der W e n d u n g ,der Welt entschlafen' ( 3 3 , 8 u n d 134, 5) u n d einmal in der aus der lokalen S p a n n u n g H i m m e l / W e l t gesehenen Formulierung mit den er hera in uuerlt quam (94, 3). Wie w i r aus den übrigen ahd. Texten, v o r allem aus N o t k e r wissen, sind die mit uuerlt zusammengesetzten K o m p o s i t a meist noch eindeutiger in Richtung auf eine Polarisierung Diesseits/Jenseits getönt als das Simplex selbst. So auch hier: uuerltarbeit ( 5 2 , 2 3 ) ; uuerltburg ( 4 8 , 2 1 ciuitas huius m u n d i ) ; uuerltuinstre ( 4 6 , 1 2 ; 5 1 , 9 ; 5 9 , 1 6 ) ; uuerltuursto ( 6 2 , 1 3 principes saeculi), schließlich uuerltuuiso ,Philosoph' (48, 16 f.), w o m i t die antiken Philosophen angesprochen werden, die creatorem per creaturam uuoltan bekennan, u n d v o n denen das W o r t gilt: stultam fecit deus sapientiam huius mundi. D a s Adjektiv uuerlichluuerltlich ist öfters bezeugt, immer in negativ w e r t e n d e m Sinne. Die durch uuerltlich attribuierten Substantive sind: strepitus ( 3 3 , 1 0 ; 3 4 , 3 ; 5 5 , 8 ; 134, 8); richdüom (55, 21; 145, 8); r ü o m (103, 25); uinstre (46, 7 m i t dem z u sätzlichen Demonstrativsignal disiu uuerliche uinstre); sorgon ( 8 7 , 4 curis huius saeculi). T e m p o r a l e Formeln des T y p u s in uuerlt vertreten.
uuerlte
sind ü b e r h a u p t nicht mehr
tag greift nirgends in den Bereich der Unendlichkeitsaussagen ein. D r e i m a l ist es im Gegensatz zu N a c h t , in der P o l a r i t ä t Licht/Dunkel vertreten (59, 3
3. Williram von Ebersberg unze der tag unze der tag üblich einen 53, 4 in demo
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üf ge, unte der nahtscato hina uuiche; ähnlich 59, 1; auch 4 6 , 2 cume unte die nahtscata hine uuichen). D a n e b e n meint tag wie bestimmten, durch A t t r i b u t näher charakterisierten Z e i t p u n k t : tage siner f r e u u e (ähnlich 5 3 , 1 7 ) .
V o n den W ö r t e r n , die den Sinnbereich ,unendliche D a u e r ' b z w . ,Ewigkeit' betreffen, sind n u r eweg u n d iemer belegt. Die Sippen u m emazzig und simblum fehlen ganz, ie u n d iemer begegnen n u r in durchaus normal-sprachlichen Z u s a m m e n h ä n g e n (z. B. 20, 3 ih bin imo iemer desde holder, u n d 20, 5 uuil ih iemer gehukkan der sinero michelen g n ä d o n ) . V o n einer Präzisierung des genauen temporalen Sinnes der Adverbien, wie sie aus N o t k e r s Psalter geläufig ist, k a n n keine R e d e sein. euua ist n u r in der Bedeutung ,Gesetz', (Altes/Neues) ,Testament' vertreten (7, 5; 65, 5). euueg schließlich begegnet in den stehenden W e n d u n g e n , die durch eine p o p u l ä r e D o g m a t i k v o r g e p r ä g t sind: ,ewiges Leben' ( 5 2 , 1 1 ; 5 5 , 1 7 ) , ,ewiger Tod* ( 5 3 , 1 9 ) ; .ewiger L o h n ' ( 1 1 3 , 1 0 ; 1 4 5 , 9 ) ; ,ewiges E r b e ' ( 1 0 3 , 1 6 ) ; ,ewiger Reichtum' (140, 5). In zwei Fällen sind im K o n t e x t Oppositionen gegeben, die deutlich zeigen, d a ß der temporale Sinn v o n euueg nicht zentral intendiert sein k a n n : zu 113, 10: externam remunerationem (die Opposition ist also halb lateinisch, halb deutsch realisiert!) u n d zu 1 4 0 , 5 : irdisken guotes. F ü r den doch recht umfangreichen T e x t der P a r a p h r a s e des H o h e n Liedes ist dies ein d ü r f t i g e r lexikalischer Bestand. N a t ü r l i c h darf nicht übersehen w e r den, d a ß Willirams übersetzerische Leistung v o r allem in der stilistisch a d ä q u a t e n Wiedergabe des poetisch getönten Bibeltextes zu suchen ist: die durchaus sensuell gefärbte Sprache des Hohenliedes kreist um ganz andere Wortbereiche als die uns Betreffenden. D e r K o m m e n t a r aber bewegt sich in viel stärker dogmatisch u n d theologisch gebundener Richtung als e t w a die glühende Sprache des späteren St. T r u d p e r t e r Hohenliedes. Die Vorherrschaft der lat. Begriffssprache w i r d bei Williram der A u s p r ä g u n g deutscher abstrakter Wortbereiche z u m Verhängnis. A m R a n d e sei noch auf eine Erscheinung verwiesen, die Willirams V e r h ä l t nis z u r deutschen Sprache in helles Licht stellt: Mehrfach bedient sich Williram im gleichen Kommentarpassus deutsch formulierter Vergleiche u n d Bilder, aber lat. Begriffe u n d Termini z u r D e u t u n g desselben Sachverhaltes; besonders augenfällig im Vers 66 (6 ff.): also der w a b o suebet in demo uuahse, also ist uerholan diu spiritualis intelligentia in historica n a r r a t i o n e . . . U n t e r dero selbon d o c t o r u m zungon ist honig u n t e miloh, u u a n t e sie die perfectos instruunt mit spiritualis sensus dulcedine, unte abo die infirmos auditores n u t r i u n t mit dero miliche historialis uerbi. usw.
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3. Williram von Ebersberg
Die Ebene des Litteralsinnes bleibt in deutscher Formulierung, w ä h r e n d der Sprung auf die Ebene des spirituellen Sinnes zugleich einen S p r u n g in die lat. Terminologie darstellt. Williram n u t z t somit das Angebot der beiden Sprachen f ü r eine sprachliche A b h e b u n g der Sinnschichten des biblischen Textes — ein z w a r nicht konsequent durchgehaltenes, so doch auf weite Strecken angestrebtes V e r f a h r e n , das einer inneren Logik nicht entbehrt u n d dem streng hierarchischekklesiastischen D e n k e n des Ebersberger Abtes w o h l angemessen ist.
4. Geistliche Texte der frühmhd. Zeit Die Literatur der f r ü h m h d . Zeit ist immer noch in vielem unbegangenes Feld, wenngleich die letzten Jahre eine Reihe von fruchtbaren zusammenschauenden Untersuchungen und Einzelstudien erbracht haben 1 . In lexikologischer Hinsicht ist diese Zeit so gut wie unerschlossen. Wir haben durch unsere Betrachtung der ahd. Denkmäler die Basis gewonnen, von der aus sich die weitere Entwicklung als gerichteter Prozeß verstehen läßt. Wenn bis vor kurzem die religiösen Texte der Epoche noch verstreut und schwer erreichbar in monographischen Editionen vorlagen, so ist nun mit der Edition F. Maurers 2 eine Textgrundlage geschaffen, die breit und ausgedehnt genug ist, um einer lexikalischen Untersuchung als Beobachtungscorpus zu dienen. Wir sind uns bewußt, daß von nun an unsere Ergebnisse nur noch fragmentarischen Charakter haben und genau f ü r dasjenige Corpus gelten, an dem sie erarbeitet sind. Immerhin werden sich Tendenzen aufweisen lassen, die auch bei erweitertem stofflichen H o r i z o n t Gültigkeit behalten dürften. Mit den f r ü h m h d . Denkmälern treten wir in literarische Bereiche ein, die sich in einem Punkte grundsätzlich vom Großteil der ahd. Texte unterscheiden: Es sind nicht mehr Übersetzungstexte, die bis ins Detail vom Lat. vorgeprägt sein können, sondern überwiegend freie deutschsprachige Dichtungen, die hinsichtlich ihrer Motivik und Gedankenführung allerdings total in die lat. christliche Tradition eingebettet sind. U n d was schon bei O t f r i d sich als prägend auch f ü r den Wortschatz erwies, das ist nun wieder als form- und strukturgebende Komponente zu beachten: Vers und Reim. In die Problematik der einzelnen Stücke einzudringen, kann selbstverständlich nicht Aufgabe einer großräumigen Wortschatzuntersuchung sein. 1
2
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H e i n z R u p p , Deutsche religiöse Dichtungen des 11. u n d 12. J a h r h u n d e r t s . U n t e r suchungen u n d Interpretationen, Freiburg i. Br. 1958; H u g o K u h n , F r ü h m h d . Literatur, in R L I, 2 1958, 494—507; ders., Gestalten u. Lebenskräfte der f r ü h m h d . Dichtung. Ezzos Lied, Genesis, Annolied, Memento mori, DVjs. 27 (1953) 1—30 (jetzt in: H . K u h n , Dichtung und Welt im Mittelalter, 1959, 112—132); Rudolf Schützeichel, Das Alemannische Memento Mori. Das Gedicht und der geistighistorische H i n t e r g r u n d , Tübingen 1962; weitere Literatur bei Cornelis Soeteman, Deutsche geistliche Dichtung des 11. u n d 12. Jahrhunderts, Sammlung Metzler, Stuttgart 1963. Die religiösen Dichtungen des 11. u n d 12. J a h r h u n d e r t s . Nach ihren Formen besprochen u n d herausgegeben von Friedrich Maurer, 2 Bde., Tübingen 1964/65 (zitiert als M I / I I , wobei die Verszahlen — w e n n irgend möglich — nach der laufenden Verszählung angegeben sind). Burger, Zeit
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4. Geistliche
Texte der jrühmhd.
Zeit
Schon gar werden wir uns hüten, den fragwürdigen Begriff der ,cluniazensischen' Literatur ins Spiel zu bringen 3 . Soweit möglich, soll die stilistischgattungsbedingte Eigenheit der verschiedenen Texte berücksichtigt werden, wobei die sprachlichen Befunde selbst den Leitfaden abgeben. Zweck und Gattung der Denkmäler lassen vermuten, daß abstrakt-theologische Gedankengänge nur selten in den Blick geraten. Die Relevanz der Texte f ü r unsere Fragestellung liegt aber gerade in dem Faktum, daß bestimmte Vorstellungsformen, die wir bisher schon sporadisch analysieren konnten, nun endgültig in den sprachlichen Ausdrücken fixiert sind. D a ß die Entgegensetzung von Diesseits und Jenseits hier nicht schroffer, nicht krasser formuliert ist als vorher schon bei O t f r i d und später in der reichen Predigtliteratur, daß auch die scheinbar .asketischsten' Motive ihre Vorbilder in der theologischen Tradition haben, daß schließlich auch die extremste ,Weltverneinung' durch den Schematismus der literarischen Gattung bedingt sein kann, hat die Forschung nachdrücklich genug herausgestellt 4 . Nicht zu leugnen aber ist die Tatsache, daß die sprachlichen Strukturen, die wir als ,Signal-Feld' betitelt haben, nun nicht mehr durch die sprachliche Leistung E i n z e l n e r geschaffen werden müssen, daß sie vielmehr in den allgemeinen sprachlichen Habitus der Zeit eingegangen zu sein scheinen. Die Entgegensetzung der beiden Welten, mit all den möglichen Varianten, ist geradezu zu einem trivialen Vorstellungsmodell geworden, das in irgendeiner Form alle Texte der Zeit durchzieht. In der Sprachgeschichte aber ist das Triviale gerade dasjenige, was durch die Kontinuität seines Erscheinens geschichtlich wirksam und formbildend wird. Nicht — oder selten — sind es überragende Leistungen Einzelner, die den Gang der Sprachgeschichte bestimmen. Gerade das in solchen Zusammenhängen oft zitierte Beispiel Luthers beweist diese Tatsache: Luther hat die nhd. Sprache nicht ,geschaffen', sondern lange vorbereiteten Tendenzen durch die Gewalt seiner Persönlichkeit und die immense Wirkung der Bibelübersetzung Durchschlagskraft und endgültige Richtung gegeben 5 . U n d so wird auch N o t k e r — ohne daß wir dies unmittelbar nachweisen könnten — vorab in den Bereichen seines sprachlichen Schaffens geschichtswirksam geworden sein, wo er nicht g e g e n die Sprache seiner Zeit, sondern m i t ihr schreibt. Vollständigkeit der Belege innerhalb des Corpus ist f ü r die wichtigsten Themenkreise angestrebt, im übrigen aber muß das Verfahren exemplarisch bleiben. In den Hss. unvollständig oder verderbt überlieferte Stellen bleiben unberücksichtigt, da Konjekturen oder Interpolationen f ü r semantische Probleme 3
4 5
Zur Problematik des Begriffs: Werner Schröder, Der Geist von Cluny und die Anfänge des frühmhd. Schrifttums, PBB 72 (1950) 321—386; ders., Mönchische Reformbewegungen und frühmhd. Literaturgeschichte, in: Wissenschaftliche Zs. der M.-Luther-Univ. Halle—Wittenberg 4 (1954/55) 237—248; vgl. auch die Forschungsübersicht von Soeteman, a. a. O., 1 ff. (13 ff. Literatur zum Problem Cluny). Vgl. etwa Rupp, a. a. O., 19 ff. Vgl. Besch, a. a. O.
4.1. Die
275
Zeit-Wörter
wertlos sind. Wiederum sollen die einzelnen Wörter zunächst monographisch dargestellt werden. Im Bereich der Zeit-Wörter präzisiert sich das Bild, das bei N o t k e r wegen zu geringer Belegdichte in manchen Bezirken nicht endgültig auswertbar w a r : Die Fixierung der drei Termini frist, stunta, wila in Richtung des heutigen Sinnes ist bereits weitgehend vollzogen. Bei stunta und wila ist darüberhinaus eine zweite Tendenz zu beobachten: Große Beleggruppen f ü r beide Wörter gehören in den Rahmen formelhafter Adverbialausdrücke, in denen das substantivische Lexem semantisch nur schwer greifbar ist. Doch zeigen sich gerade hier Differenzen zwischen den Wörtern, die einen bemerkenswerten Wandel gegenüber dem ahd. Zustand anzeigen. Vor allem f ü r die ,temporale Deixis' lassen sich zukunftsträchtige Verschiebungen aufweisen.
4.1. D i e
Zeit-Wörter
4.1.1. frist Mit unbestimmtem Artikel meint frist ,eine gewisse Zeitlang', wie aus der Parallelität mit dem Adverb undirstunden hervorgeht: Physiologus (M I 191, 347): undirstunden ist ez der er (,der Er'), da nach diu si (,die Sie') ein da von ez unreine ist. Durch Attribute kann die Geltungsdauer von frist eingegrenzt werden: Auslegung des Vaterunsers (M I 333, 20):
vrist,
ze disses libes friste joch zer ewigen geniste H i e r ist zugleich ein indirekter Gegensatz zu ewig gegeben, aber mit einer jener typischen syntaktisch-stilistischen Verschiebungen, die charakteristisch sind f ü r dieses Oppositionen-Feld: Der direkte Gegensatz zu frist ist genist, womit frist aus einer scheinbar abstrakten Entgegensetzung zu ewig wieder in den Gedankenkreis konkreter Glaubensinhalte einbezogen wird, frist ist also hier die Zeitspanne, die dem Menschen zum Leben gegeben ist. Eine präzise Angabe über die Länge der frist Leben Jesu (M II 427, 749): da was der heilige Criste
findet
sich in Frau Ava,
rehte zweir tage friste.
Ähnlich Strophe 160 (M II 465, 1734): in der friste (nämlich: von zwei Tagen) do zestorte er die helleveste Im folgenden Vers ist der Gebrauch des Wortes durch den Kontext vollständig determiniert und genau umschreibbar: Jüng. Judith (M II 244, 936): 18»
276
4. Geistliche Texte der jrühmhd. Zeit
inner der vrist (Reimwort zu: n i s t ) . . . , swenne vervar daz benante zit daz benante zit grenzt die Dauer der frist ein, und durch das Verbum vervar (,verstreicht') wird der Blick auf das Ende der frist gelenkt. Eine vergleichbare kontextuelle Determination zeigen die folgenden beiden Beispiele: Hist. Judith (M I 405, 136 und 138): nu giwin uns eini vrist... ir giwinnit uns eini vrist,
so lanc so undir drin tagin ist.
Armer H a r t m a n n (M II 602, 1829): . . . nu gib mir armen di frist, daz ich leben muze, biz . . . frist ist etwas, das man geben, verleihen, erreichen kann, ein Quantum Zeit, das verstreicht, abläuft auf ein genau bestimmtes Ende hin. Hier geraten wir in den Raum jener typischen Kollokationen mit Verben wie ,geben' usw., die den Gebrauch des Wortes in älterer Zeit auszeichneten. Der Sinn der Ausdrücke ist nun aber genau und eng auf Temporales ausgerichtet, während in den älteren Texten die Bedeutung .Gelegenheit', ,Aufschub' usw. immer mitschwangen. Symptomatisch für diese Verschiebung ist der Artikelgebrauch: die alten Formeln waren artikellos, während jetzt bestimmter wie unbestimmter Artikel das Substantiv determinieren können. In fast allen Belegen steht frist als Reimwort: seine Verwendung ist semantisch sehr genau begrenzt; die Verbreitung ist sehr gering: Aus all dem läßt sich schließen, daß das Wort in eine spezielle Zone des Zeit-Bereiches abgedrängt ist und an manchen Stellen sich vor allem als Reimwort anbietet. E i n Merkmal des Gebrauchs aber hält sich durch von den Anfängen der Überlieferung bis in unsere Texte: die Einschränkung auf den Singular, die die stark quantitative Ausrichtung des Wortes spiegelt.
4.1.2. wile Wie stunde ist auch wile in seiner Haupt-Beleggruppe in adverbial erstarrte Ausdrücke abgedrängt. Doch geht hier die Isolierung vom substantivischen Lexem bedeutend weiter als bei stunde: wilent und wilen in der Bedeutung ,einst', des öfteren auch alternativ verwendet als ,bald — bald', sind reine Adverbien geworden, und die wile ist bereits fortgeschritten auf dem Wege zur Konjunktion. Als ein Beispiel, das die letztere Formel im Zwischenstadium zwischen substantivischer Verwendung und erstarrter Konjunktion zeigt, wäre Jüng. Judith (M II 259, 1818) aufzuführen: in aller der wile unde diu vrouwe was enlibe . . . ö f t e r s belegt ist under wilen, großenteils in rein adverbieller Bedeutung ,bisweilen'. Doch ist die Fügung in ihren syntaktischen Elementen noch klar durchschaubar, da sie in Variation zu under stunden (das sonst nicht adverbial erstarrt zu sein scheint) auftreten kann:
4.1. Die
Zeit-Wörter
277
thaz man under stunden ther kinde brot gaeve then hunden . . . doch wurthen under wilen then weifen thie brosmen van them disce zehelfen. (Mfr. Reimbibel, M I 125, 356/360) In freier substantivischer Verwendung kommt wile hauptsächlich als Bezeichnung von Z e i t d a u e r vor: Mit unbestimmtem Artikel, ohne weitere Präzisierung, meint es ,eine gewisse Zeitlang' — entsprediend dem bereits aus dem Ahd. bekannten Wortgebrauch: ruowe noch eine wila (Idsteiner Sprüche, M I 93, 132) Die ,kleine Weile' des Bibeltextes wird auf diese Weise wiedergegeben: iz ist ein wile daz ir mich s e h e t . . . darnach nesehet ir min nieht (Frau Ava, Leben Jesu, M II 449, 1294) Ähnlich mit Präposition: dar nach pi einer wile (Frau Ava, Leben Jesu, M II 405, 152) Wie frist und stunde ist wile quantifizierbar durch Adjektive: in luzzelir wile (Armer Hartmann, M II 579, 394) groze lange wile (ebda 595, 1392) eine luzel wile (Frau Ava, Leben Jesu, M II 451, 1390) An zwei Stellen irn Memento mori ist die churze wile polemisch profiliert auf die irdische Lebenszeit des Menschen: ir minnont tisa brodemi unde wanint iemer hie sin. si nedunchet iu nie so minnesam, eina churza wila sund ir si han. (M I 254, 6) tu muozist uns gebin ten sin tie churzun wila, so wir hie sin. (M I 259,149) Die Kollokationen mit tisa brodemi und hie weisen den Ausdruck in die Polarität des ,Signal-Feldes' und verleihen ihm einen deutlich provokativen Akzent. In negativen Formulierungen mit dem Pronomen nehein begegnet parallel mit niemer:
wile
(Die Sonne läuft in ihrem Zirkel und ruht) niemer neheine wile (Armer Hartmann, M II 579, 386) ähnlich: (die Engel) negeswigent ouch dines lobes neheine wile (Himmelreich, M I 387, 228) N u r einmal steht wile im Sinne der chronometrischen ,Stunde': des tages an der triten wile (Frau Ava, Leben Jesu, M i l 481, 2145) An wenigen Stellen ist vielleicht die Bedeutung ,Augenblick, Moment' anzusetzen: er zevert in ainer wile also chleine so daz glas (Himml. Jerusalem, M II 146, 185) die sich nieht versehent wan zir libe, die gediemuotes du in einer wile (Jüng. Judith, M II 240, 739)
278
4. Geistliche
Texte
der frühmhd.
Zeit
(Gott heiligt Brot und Wein) in der selben wile ,im gleichen Augenblick' (Armer Hartmann, M II 588, 965) Wie frist ist auch wile aus dem Bereich der temporalen Deixis völlig ausgeschieden.
4.1.3. stunde Auch f ü r dieses Wort zeichnet sich eine Einengung des Gebrauchs auf bestimmte semantische und grammatisch-syntaktische Typen ab. Aus der ahd. Zeit übernommen und lebenskräftig bewahrt ist die chronometrische Bedeutung entsprechend dem heutigen Sinn des Wortes; so etwa Frau Ava, Leben Jesu (M II 455, 1484): diu dritte stunde (in der vorhergehenden Strophe blieb lat. hora unübersetzt). Weitere Beispiele erübrigen sich. Sein eigentliches Feld aber hat stunde im Bereich adverbialer Ausdrücke. Diese reichen von erstarrten Wendungen des Typs zestunt mit den Erweiterungen sa zestunt, nu zestunde usw. bis zu freieren Wendungen, die eine feste Funktion im epischen Bericht haben. Als e i n Beispiel f ü r viele mag eine Stelle aus Frau Ava, Johannes (M II 389, 188) stehen: Do daz chint wart besniten, alse iz was do bi den siten, an den selben stunden sin zunge wart enbunden. Man könnte den Typus des epischen Berichts, an den solche Wendungen gebunden sind, so paraphrasieren: „Als das und das geschehen war, da — im gleichen Augenblick, oder: eben zu diesem Zeitpunkt — ereignete sich.. Solche Ausdrücke mit stunde können von bloßer epischer Anknüpfung bis zum genauen Sinn ,in eben dieser Stunde, zu genau diesem Zeitpunkt' reichen. Eine genauere Untersuchung all dieser Wendungen wäre Aufgabe einer Stilistik der epischen Fügung in unseren Texten. Ich zähle hier nur die verschiedenen Möglichkeiten der Formulierung auf: an der stunt, an der stunde, an den stunden, an disen stunden, in der selben stunde (stunt), an den selben stunden. Besonders die beiden letzten Ausdrücke sind äußerst beliebt, wohl weil sie eine ganze Kurzzeile füllen und sich offenbar sehr gut für die Reimstellung eignen. Der Unterschied von Singular und Plural hat in diesen Fällen keinerlei semantische Relevanz, er ist offensichtlich einzig bedingt durch die passendere Reimlautung. Man vgl. die folgenden Beispiele: an den selben stunden heten si mich vunden (Deutung der Meßgebräuche, M II 299,138) also si ir die botescaft tete kunt, an der selben stunt frou(te) sich daz kindelin (Joh. Baptista, M II 335, 52) Ad oculos demonstriert ist diese Verteilung in Frau Ava, Leben Jesu 143 f. (M II 457, 1540 u. 1552): er sprach an der stunde, daz er neheine sache an im funde An den stunden ruofen si begunden.
...
4.1. Die
Zeit-Wörter
279
Mit allen diesen Fällen befinden w i r uns im Bereich der t e m p o r a l e n D e i x i s. D i e vielleicht auffälligste Verschiebung der Zeit-Terminologie gegenüber dem Sprachgebrauch der ahd. Zeit ist d a r i n zu erblicken, d a ß n u n m e h r stunde das K e r n - W o r t der temporalen Deixis geworden ist. N e b e n stunde begegnet n u r noch zit ausgiebiger, wenngleich nicht so häufig, in dieser F u n k t i o n , w ä h r e n d wile u n d frist ü b e r h a u p t nicht mehr in deiktischem Gebrauch belegt sind. Die Gleichberechtigung v o n Singular- u n d P l u r a l f o r m e n des Wortes stellt gleichfalls eine N e u e r u n g gegenüber der a h d . V e r w e n d u n g dar. Es ist zu vermuten, d a ß der freiere Numerusgebrauch sich aus der Nachbarschaft z u parellelen W e n d u n g e n mit zit erklärt, das ja seit alters in beiden N u m e r i a u f t r a t . Als q u a n t i f i z i e r b a r e r Zeit-Terminus k o m m t stunde noch in einigen Belegen vor, wobei w i e d e r u m die N u m e r i semantisch äquivalent zu sein scheinen: eine unlange stunde ( M f r . Reimbibel, M I 103, 39) in curtin stundin (Anno, M I I 39, 744) in luzilin den stundin (Scoph v o n dem Lone, M I I 277, 56) Die q u a n t i t a t i v e n D e t e r m i n a n t e n sind dabei weniger präzise, scharf als in vergleichbaren Ausdrücken mit frist.
weniger
In K o l l o k a t i o n mit maneg oder al erscheint stunde in adverbialen Ausdrücken, die vage summierend eine längere Z e i t d a u e r b z w . I t e r a t i o n eines Vorgangs a n d e u t e n ; die Bedeutungen schwanken zwischen ,jemals' und ,immer' bzw. ,immer w i e d e r ' : zallen stunden (M II 301, 164); ze allen den stunden (M I 425, 85); alle stunde (II 341, 238; I I 493, 22) usw. manege stunden (M I I 513, 367) usw. Diese globalen A d v e r b i a l g r u p p e n erscheinen — wie in ahd. Zeit — nur im Plural. I m Sinnbereich ,gewertete Zeit' ist mir das W o r t nirgends begegnet. Eine letzte Weise des Gebrauchs v o n stunde, die in unseren Texten anzutreffen ist, sind Ausdrücke, in denen die ,letzte Stunde', die Todesstunde des Menschen gemeint ist. H i e r h a t stunde jene N ä h e z u r individuellen Zeiterfahrung, die in den ahd. Texten zu beobachten w a r : unze an sine jungeste stunde ( D e u t u n g der Meßgebräuche M I I 295, 44) in ir jungisten stunden (Armer H a r t m a n n , M I I 614, 2563) in siner lezzisten stunden (Armer H a r t m a n n , M I I 626, 3691) 6 Schließlich findet sich im Alem. M e m e n t o M o r i das alte K o m p o s i t u m stuntwila in der Bedeutung ,Augenblick, kürzeste Zeitspanne': ter m a n einer stuntwilo (I 255, 46) 6
zergat, also skiero so diu b r a w a zesamine geslat.
Hier ist bereits das jüngere Wort für ,letzte' an die Stelle des ahd. und frühmhd. herrschenden j u n g i s t o getreten.
4. Geistliche Texte der friihmhd. Zeit
280
Der Nebensatz ist eine der typischen Formulierungen zur genauen Umschreibung der kürzesten denkbaren Zeitspanne. Ganz ähnlich heißt es vom plötzlichen Hereinbrechen des Jüngsten Tages: so chumt der jungiste tach also sciere so ein braslach (Frau Ava, Jüngstes Gericht, II 505,162 f.) 7
4.1.4. zit Was bei Notker und schon in den älteren ahd. Texten zu beobachten war, prägt sich auch hier aus: die große Spannweite der Verwendungsmöglichkeiten von zit. Zwar kann man nicht sagen, das Bedeutungsspektrum von zit habe sich auf Kosten der übrigen Zeit-Wörter noch verbreitert. Einige Sinnzonen, die in älteren Denkmälern belegt waren, sind in unseren Texten — vielleicht aus Zufall — nicht zu beobachten (z. B. Teile des Bereiches der ,gewerteten Zeit'). Doch ist zit nunmehr das einzige Wort, das mit den verschiedensten Determinanten und Kollokationen vorkommen kann, während frist, stunde, wile auf ganz bestimmte Sonderbahnen abgelenkt sind. Die Zeit des lexikalischen Experiments' ist definitiv vorbei, wir befinden uns etwa auf einer mittleren Etappe zwischen der ahd. und der nhd. Wortschatzstruktur. Für den Gegensatz Zeit/Ewigkeit ist entscheidend, daß außer zit kein anderes Wort mehr in unmittelbaren Gegensatz zu Ewigkeitstermini und Ewigkeitsvorstellungen treten kann. Wenn über Zeit schlechthin etwas ausgesagt werden soll, besteht keine terminologische Alternative mehr. Für die zahlreichen konkreten Verwendungsweisen des Wortes sei jeweils nur das semantische Stichwort mit einem Beispiel angegeben: — ,Epoche',,Zeitabschnitt', auf die Frage ,wann?' (in dieser Zone wechselt ziti mit giziti): determiniert durch Adjektiv: bi alten ziten (II 189, 157) determiniert durch Namen: In des Augusti ziten (II 31, 520) determiniert durch Pronomen: an unsen geziden (I 153, 522) — ,Zeitpunkt', in temporaler Deixis: D o in den ziten (Frau Ava, M II 395, 368; nur dieser Text weist reichere Belege f ü r zit in temporal-deiktischer Funktion auf) — quantifizierte Zeit: manegiu zit (M I 254, 8; Gegensatz im vorangehenden Vers: eine churza wila) — Ausdrücke zur Bezeichnung von Kontinuität, Iteration und Intensität: zu allen ziden (M I 79, 10) 7
Z u m genauen Sinn des b r a s 1 a c vgl. Schützeichel, Das Alemannische Memento
Mori, a. a. O., 50 f.
4.1. Die
Zeit-Wörter
281
— ,rechte Zeit*: in Ausdrücken wie iz ist noch nit zit (I 93, 131) in der adverbiell erstarrten V e r b i n d u n g en zit (enzit) — individualisierte Zeit: So sin zit chumit, daz . . . (M I 197, 422) D i r e k t e Abgrenzungen gegen die übrigen Z e i t - W ö r t e r liefert gelegentlich der K o n t e x t : So spricht der A r m e H a r t m a n n von den Weisen, die die Zeitrechnung schufen: disputantes opinantes a n n o r u m tempora, dierum m o m e n t a , di zit u n d e di stunden begunden si alliz chunden. (M II 579, 378) Wenngleich die lateinischen mit den deutschen Ausdrücken nicht unmittelbar zu identifizieren sind, so ist doch anzunehmen, d a ß di zit die größeren, di stunden die kleineren Zeiteinheiten meint. U n d da w i r aus anderen Belegen wissen, d a ß stunde üblicherweise f ü r lat. hora v e r w e n d e t w i r d , scheint sogar eine genaue Übersetzung v o n dierum momenta — Stunden vorzuliegen, di zit w ä r e n d a n n etwa die Jahreszeiten. Weniger eine Abgrenzung, als eine Überschneidung d ü r f t e n die folgenden Stellen aufweisen: swer so winchet dem plinden, der verliuset sine stunde. behuotet iuch (in) disen churzen ziten, ir muget lihte ze lange biten. (Wahrheit, M I 430, 74) Wie zit k a n n auch stunde — wenngleich nur noch in diesem einen Beleg — individualisiert werden. I n unserer Stelle sind die kurzen zite eben die stunde, die m a n verlieren k a n n . Noch klarer ist die Uberschneidung mit stunde in F r a u A v a , Leben Jesu (M I I 455, 1494 u. 1503): Swaz von dem ersten zide v o n e m a n n e ode v o n wibe guoter liute vure gie . . . swaz so ie sunden von den ersten stunden v o n iemen was getan . . . Bezeichnend ist, d a ß gerade zit u n d stunde sich im Gebrauch überschneiden. Wie auch aus den sonstigen Belegen f ü r beide W ö r t e r hervorgeht, sind sie im Bereich der vier Termini noch am ehesten benachbart. D e r Numerusgebrauch des Wortes h a t sich gegenüber der älteren Sprache k a u m verschoben. I m m e r noch sind Singular u n d P l u r a l mehr oder weniger willkürlich austauschbar. N u r in gewissen Bedeutungszonen zeigen sich Tendenzen z u r Festlegung auf e i n e n N u m e r u s : so sind die Belege f ü r ,rechte Zeit' durchweg singularisch, die Belege f ü r ,Epoche, Zeitabschnitt' auf die Frage , w a n n ? ' durchweg pluralisch f o r m u l i e r t (beim T y p u s ,in alten Zeiten', der vage auf vergangene Zeit zurückdeutet, bevorzugt auch die n h d . Sprache noch den Plural). Insgesamt aber bleibt ein hohes M a ß an Flexibilität im N u m e r u s gebrauch, w o m i t sich das W o r t wiederum trefflich f ü r die Reimposition eignet.
282
4. Geistliche
Texte der frühmhd.
Zeit
Über die konkreten Verwendungsweisen hinaus erscheint zit im Rahmen allgemeinerer Gedankengänge über das Wesen der Zeit bzw. das Verhältnis Gottes zur Zeit: Der Arme Hartmann sagt von Christus, in freier Obersetzung des vorangestellten Credotextes: der nach gotis eren von deme vater ist geborn, zo eineme lieben sune ime irkorn vor anegenge e allen ziten (ante omnia saecula, M II 576, 196) Dies ist eine präzise temporale Aussage über die Vor- und Unzeitlichkeit der Trinität. Das Ezzolied formuliert den gleichen Sachverhalt in Anlehnung an die berühmte Bezeichnung Gottes in Daniel 7 (Verse 9 , 1 3 , 2 2 ) und unter Abhebung von der irdischen Lebenszeit Christi: Antiquus dierum, der wuohs unter den jaren; der ie ane zit was, unter tagen gemert er sin gewahst. (M I 292, 196) Das Außer-der-Zeit-sein steht hier dem ,mit-den-Tagen-und-Jahren-wachsen' gegenüber. (Die Formel antiquus dierum ist im christlichen Neuplatonismus eine der sakralen Bezeichnungen für Gott (vgl. o. S. 264). Man gewinnt bei der Lektüre solcher hervorragender Denkmäler der Zeit den Eindruck, daß derartige Formulierungen, die von höchster spekulativer Valenz sind, dem Dichter zwanglos einfließen, daß sie also in einem hohen Maße bereits vorgeprägt und ständig verfügbar sind. Dafür ist einmal die Tradition der liturgisch-katechetischen Gebraudistexte (Credo, Beichtformular etc.) verantwortlich, zum anderen das Ringen um Bibelübersetzung und Bibelkommentar seit ahd. Zeit. Was zu Beginn der ahd. Ubersetzungsliteratur der deutschen Sprache noch unendliche Schwierigkeiten bereitete, liegt nun als Allgemeingut auch einer durchschnittlichen Höhenlage der Theologie vor. Da Gott außerhalb der Zeit ist, die Zeit überhaupt erst geschaffen hat, steht es in seiner Macht, den Geschöpfen ein bestimmtes Maß dieser Zeit zuzuteilen, sie zu kürzen oder zu verlängern. So heißt es im .Himmlischen Jerusalem': du daz zit, als(o) du wil, churzes unde lenges. du hast in gebruche dinere gwaltigen hente allere dinge anegenge jouch den ente. (M I 373, 20 ff.) Aber Gott selber hat weder Anfang noch Ende: selb(e) nehast du anegenge noch verwesenten ente (ebda 375, 22)
4.2. Ü b e r s i c h t ü b e r d e n G e b r a u c h d e r Zeit-Substantive
vier
Da die Verteilung der Wörter sich gegenüber der ahd. Zeit bedeutend vereinfacht hat, kann eine Zusammenfassung sich auf wenige Punkte konzentrie-
4.2. Übersicht über den Gebrauch der vier
Zeit-Substantive
283
ren. W i r wollen die vier W ö r t e r hinsichtlich ihrer syntaktischen V e r w e n d b a r keit, des Numerusgebrauches u n d der semantischen Distribution vergleichen: 1. Syntaktische V e r w e n d b a r k e i t : (1)
Subjekt
• [+] •
frist wile stunde zit
Objekt
Adverb
+
+ +
+
[+]
+
+
+
D a s Bild h a t sich gegenüber dem A h d . nicht wesentlich v e r ä n d e r t (Abweichungen v o n den ahd. Verhältnissen sind durch Schraffierung ausgezeichnet). Die schon im A h d . eingeschränkte syntaktische Freiheit der drei W ö r t e r frist, wila, stunta ist n u n noch weiter reduziert. W ä h r e n d in den a h d . Texten wila u n d stunta, selten auch frist in Subjektposition v o r k a m e n , ist n u n n u r noch wila — u n d auch dieses n u r selten — neben zit in dieser F u n k t i o n vertreten. zit dagegen hält sich durch die J a h r h u n d e r t e in voller syntaktischer Freizügigkeit. 2. Numerusgebrauch: (2) Singular
Plural
frist
+
wile
+
•
stunde zit
+
•
+
+ +
H i e r f ä l l t v o r allem in die Augen, d a ß die Beschränkungen, die in ahd. Zeit f ü r stunta galten, n u n aufgehoben sind. Andererseits scheint wila nur noch singularisch v e r w e n d b a r zu sein. Der a r b i t r ä r e Numerusgebrauch bei stunta ist w o h l auf Beeinflussung durch die parallelen Verhältnisse im Gebrauch von zit z u r ü c k z u f ü h r e n , da die beiden W ö r t e r sich gerade in dem Bereich überschneiden, der seit alters die freieste V e r w e n d u n g der N u m e r i a u f w e i s t : in der temporalen Deixis. Die pluralischen Belege von wila in ahd. Zeit begegneten im Bereich der temporalen Deixis — einer Verwendungszone, aus der das W o r t in f r ü h m h d . Zeit bereits ausgeschieden ist. Somit e r k l ä r t sich die Einschränkung aus den semantischen Verschiebungen.
284
4. Geistliche Texte der jrähmhd. Zeit 3. Die Bedeutungszonen:
+
zit
+
+
+
4-
Zeit überhaupt
4-
gewertete Zeit
4-
individualisierte Zeit
+
rechte Zeit
4-
alle Zeit
quantifizierte Zeit
stunde
[+]
+ +
wile
hora
+
frist
unbest. Dauer
,Frist'
Epoche, Frage ,wann?'
temporale Deixis
(3)
44-
4-
4-
Diese Skizze läßt Verschiebungen in mehrfacher Hinsicht erkennen: Zunächst ist eine extreme semantische Einengung der beiden Wörter frist und wila z u bemerken. Die breite Streuung der zz'i-Belege braucht kaum mehr hervorgehoben zu werden. D a die Zone ,gewertete Zeit' durch kein Wort belegt ist, darf man ex negativo keine Schlüsse ziehen. Hier mag Zufall der Uberlieferung gewaltet haben. Von bedeutendem Aufschlußwert scheint mir aber die T a t sache zu sein, d a ß in der temporalen Deixis, sofern sie als episches Mittel dient, nur noch die beiden Wörter stunde und zit, letzteres gar in geringerem Maße, vertreten sind. Daraus geht hervor: wile und frist sind in ihren semantischen Bedingungen so weit verschoben, d a ß sie nicht mehr in die temporale Deixis einzutreten vermögen. Dies entspricht weitgehend schon den nhd. Verhältnissen: Frist und Weile sind heute zu stark an die Sinnbereiche Zeitquantum und Zeitdauer gebunden, als d a ß sie noch in deiktischer Funktion (unter punktuellem Aspekt) zu erscheinen vermöchten. O b diese Entwicklung sich im M h d . erst andeutet oder aber schon völlig durchgeführt ist, müßte anhand eines größeren Belegmaterials aus dem epischen Gattungsbereich (höf. Roman) genauer untersucht werden. Die Tendenz jedenfalls ist schon in den f r ü h m h d . Texten zu fassen.
4.3. D e r Z w i s c h e n b e r e i c h 4.3.1. werlt Das Wort ist, mit geringen Ausnahmen, nunmehr aus dem Bereich temporaler Termini ausgeschieden. Dem scheinen eine Reihe von Stellen zu widersprechen, in denen werlt den speziellen Sinn von ,Weltalter' haben könnte: D u o die vinf Werlte gevuoren alle z u o der helle unte der sehsten ein vil michel teil, duo irscein uns allen daz heil. (Ezzolied, M I 290, 146)
4.3. Der Zwischenbereich
285
so v u o r t er zir hellin die vunf werlt alle, u n z e got gesante sinin sun . . . (Annolied, M I I 1 1 , 6 5 ) Die h e i m w a r t e n liute, die da w a r t o t e n der brüte, die bezeichent die f ü n f werlt alle, die da w a r e n in der helle. (Hochzeit, M II 213, 808) w a n diu magit ungeborne tet vil manic werlde verlorne, daz daz w i d e r t a n w u r t e mit der magitlichen geburte. (Frau A v a , Leben Jesu, M I I 399, 13) A n allen diesen Stellen ist der ursprünglich mit den Weltaltern verbundene temporale Sinn bereits zurückgedrängt zugunsten der in den Weltaltern mitgedachten Menschengruppen. Besonders deutlich ist diese Substitution angezeigt durch die q u a n t i t a t i v e Bestimmung ein vil micbel teil im ersten Beispiel, die sich nur auf die Menschen des jeweiligen Weltalters beziehen k a n n , u n d im dritten Fall durch die typologische Zeichenbeziehung zu den heimwarten liuten bei der Hochzeit. D a r ü b e r h i n a u s ist es selbstverständlich, d a ß nicht die ,Epochen', sondern die Generationen v o n Menschen in die H ö l l e f a h r e n . Eine Formel alten Stils liegt v o r in A r m e r H a r t m a n n 201 (M I I 628, 3789), hier aber bezeichnenderweise in der liturgisch a n m u t e n d e n Schlußformel, die traditionellem, sonst nicht mehr lebendigem W o r t - u n d Formelgut mit der P a t i n a des Altertümlichen ein R e f u g i u m bietet: nu rihtistu iemer mere, w a r e got herre, mit deme v a t e r u n d e mit deme heiligen geiste, herren allirbeste, von werlde zo werelde iemer me ze lebene. Charakteristisch ist die H ä u f u n g von Temporalausdrücken, A d v e r b g r u p p e iemer mere p r i m ä r emphatische F u n k t i o n z u k o m m t .
wobei
der
Die große Menge der Belege f ü r uuerlt aber h a t keinerlei direkten Z u s a m m e n h a n g mehr mit dem Bereich der Zeit-Termini, sondern bildet jeweils einen der Pole des,Signal-Feldes' (,diese/jene W e l t ' ) : (die Menschen w u r d e n verstoßen aus dem Paradies) in dise werlt... dise gagewurtige werlt (Physiologus, M I 199, 456 u. 459) duo irscinen an dirre Werlte di Sternen bire ziten (Ezzolied, M I 288, 112) an demo sechstin dagi w o r h t er in (den Menschen), disu werilt al i r w a r t durch in (Summa Theologiae, M I 310, 79) an den buochen d a z gescriben stat, wie disiu werlt zergat. die heimuote die (wi)r hie han, die muozzen wir Verlan. (Hochzeit, M II 185, 67) di wile wir an dirre werlde hie sulen wesen . . . (Armer H a r t m a n n , M I I 587, 926) Et v i t a m v e n t u r i s e c u l i . . . ich geloube den ewigen lip
286
4. Geistliche
Texte der frühmhd.
Zeit
der chunftigen werelde di da iemer ist werende. (Armer Hartmann, M II 626, 3698) In diesen wenigen Beispielen zeigen sich die mannigfachen Aspekte, unter denen ,Welt' gesehen werden kann: Welt als Schöpfung, als Ort, an dem die Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies ausharren müssen, als Gegensatz zum ewigen Leben bzw. in der Wendung ,künftige Welt' als Synonym zum ewigen Leben usw. usw. (Weitere Belege für ,diese Welt* in verschiedenen Lautformen: M I 325, 211; 1451,299; 11211,741; 11295,49; II 341, 265; 11620,2886; II 505, 157 usw.) Zur Lautform des Wortes ist anzumerken, daß in unseren Texten die Form werlt noch weitaus überwiegt. Mit dem späteren 12. Jahrhundert aber werden immer häufiger r-lose Formen auftreten, im 13. Jahrhundert dann auch in Reimstellung 8 .
4.3.2. tag tag erscheint in den Gedichten des 11./12. Jahrhunderts hauptsächlich in bestimmte Redewendungen eingebettet. Diese gehen nicht über das hinaus, was wir bei Notker bereits vorfanden. Ich nenne nur die Typen der Verwendung: — summative Paarformeln, die die Kontinuität und ununterbrochene Dauer, oft auch die Intensität einer Handlung anzeigen: dagis unti nahtis (M II 21, 268); tages unde nahtes (M II 89, 595; 11305,280); dicke tag ¡oh naht (M II 79, 358); tages oder nahtes (M II 87, 557); beide tach unde naht (M II 618, 2790; ähnlich 11622,3023 u. 624,3141). In umgekehrter Reihenfolge: naht und tac (M II 319, 63); weder naht noch tac (M II 623, 3101). Die Stellen 11 622,3023 und 623,3101 legen die Vermutung nahe, daß die Reihenfolge sich aus der bequemeren Reimlautung ergibt. Doch in II 624, 3141 reimt naht merkwürdigerweise auf ungemach (während in 623 das gleiche Reimwort vernünftigerweise mit tach korrespondiert). Da alle drei Beispiele dem gleichen Text (Armer Hartmann) entstammen, liegt offenbar völlige Willkür der Reihenfolge 8
V g l . Besch, a. a. O., 1 2 2 (mit K a r t e 25) f ü r die v o n ihm untersuchten Hss. des 15. J a h r h u n d e r t s : „Das O b d . mit Ausnahme des Ostfränkisdien und zweier bairischer Hss. hat r ausgestoßen, die nördlicheren Landschaften bewahren es ohne Schwanken." Bereits die N o t k e r - H s . D hat einen Beleg f ü r u u e l t e (Besch 1 2 2 , vgl. Sehrt/Starck, Notker-Wortschatz, 195, 586. Nach K . Weinhold, Mhd. Gramm., § 2 1 3 und F . W i l h e l m , Denkmäler deutscher Prosa des 1 1 . und 12. Jahrhunderts, 1 9 1 6 , K o m m e n t a r b a n d , 1 6 2 f. (referiert bei Besch 1 2 2 ) d ü r f t e die Form w e 1 1 ( e ) v o m A l e m . ausgegangen und dann nach Bayern eingedrungen sein (Besch 1 2 3 „ W a n n , k a n n ich nicht feststellen, vielleicht deuten die Misdihandschriften N r . 54 und 69 a an, daß es erst spät geschehen ist"). Das Md. (thüringisch-sächsische K a n z l e i v o r allem) bis hin zu Luther b e w a h r t w e r l t (Besch 123).
4.3. Der Zwischenbereich
287
vor. Die H a u p t g r u p p e der Belege aber zeigt die uns heute geläufige Abfolge. — alle T a g e : Diese W e n d u n g meint das I m m e r - w i e d e r k e h r e n (,Tag f ü r Tag'), die Iteration einer H a n d l u n g . Besonders bemerkenswert sind die Fälle, da alle tage im Vorstellungskreis der B R O T B I T T E DES V A T E R U N S E R S verw e n d e t w i r d , z. B. A r m e r H a r t m a n n (M I I 588, 930): Crist n e h a t unsir nit vergezzen, er herre, er git uns ezzen, alle tage trinken, d a z reine gescinke, sin selbis fleisc u n d e blut. Auf das M e ß o p f e r u n d Jesu W u n d e n , die die Sünden der Welt alle tage neu abwaschen, ist die Formel im folgenden Vers bezogen (Armer H a r t m a n n , M I I 589,1042): Also bringit m a n gote nach Cristes geböte in der cristenheit allertagelich daz offir alsamelich . . . do iz begunde giezen, die siten nider fliezen blut unde w a z z e r , daz wosc der w e r i l d e laster, sam iz noch alle tage tut. Das z e n t r a l e W o r t dieses Vorstellungskreises, u m das sich allertagelich alle tage anlagern, ist der Terminus der Brotbitte:
und
( G o t t dient uns) alle tage (mit W i n d u n d W e t t e r u n d gibt uns) daz tegeliche b r o t (Wahrheit, M I 432, 159 u. 164) Noch enger a n die Vaterunser-Bitte angelehnt ist natürlich die betreffende Stelle in der .Auslegung des Vaterunsers': herre, gib uns unser p r o t , daz tagiliche gib uns hiute (M I 3 3 9 , 1 3 8 ) Auch das Ezzolied ( M 1 2 9 8 , 356) nennt daz tageliche himelprot. In all den Texten, die um die Brotbitte des Vaterunsers b z w . die B r o t v e r w a n d l u n g in der H l . Messe kreisen, h a t sich die W o r t s i p p e um tag definitiv durchgesetzt. Das w i r d aus der spätestens seit N o t k e r vollzogenen Festlegung der Brotbitte auf den Terminus tagelich z u erklären sein, alle tage, tagelich, allertegelich begegnen noch in einer Reihe v o n v e r w a n d t e n K o n t e x t e n , v o n denen herauszuheben ist die Stelle aus der Millstätter Sündenklage: (der T o d ) der n a h e t aller (M I I 79, 344)
tegelick,
von
(diu
dinge ich an)
dich.
N e b e n den b e k a n n t e n festen W e n d u n g e n ze sinen tagen k o m m e n (Tobias, M II 529, 156), eines tages (öfter) liest m a n in then unmanigen dagen ( M f r . Reimbibel, M I 147,410) z u r Bezeichnung der k u r z e n Zeit dieses Lebens (Gegensatz: t h a t se nu t h e ewigen godes genathen haven). Keine theologische Relevanz h a t der gleichfalls q u a n t i t a t i v e Ausdruck in Tobias (II 531, 170): d a r n a over unmanigen tach eines kindes si gelach. Bis hierher sahen wir, d a ß die G r u p p e u m tag an ganz bestimmte Kollokationen, z. T. ganz bestimmte K o n t e x t e gebunden ist. I m m e r wieder w i r d
288
4. Geistliche Texte der frühmhd. 2.eit
durchaus konkret über Intensität, Dauer, Wiederholung von Handlungen gesprochen, wobei keinerlei Begrenzung des zeitlichen Verlaufs in den Blick rückt. Wie auch die Parallelität mit allertegelich zeigt, sind die mit tag gebildeten Formeln zu festen adverbialen Ausdrücken geworden. N u r in den beiden letzten, durch ein quantifizierendes Adjektiv determinierten Ausdrücken erscheint tag als selbständiges temporales Substantiv im Sinnbereich ,Zeitdauer'. N u n sind noch solche Stellen zu erwarten, die tag in den bei N o t k e r so häufigen spekulativen Zusammenhängen zeigen. Ein bestimmter, theologisch besonders ausgezeichneter Tag ist gemeint in der M f r . Reimbibel (M I 139, 268), wo ther maere dag den Zeitpunkt der A u f n a h m e Mariens in den Himmel bezeichnet. Ein weiterer heilsgeschichtlicher Zeitpunkt ist ,der jüngste Tag' (oft belegt). Der ,ewige Tag' aber, jener Kernbegriff des Psalterkommentars, tritt nur an wenigen Stellen hervor. D a es in den meisten unserer Texte nicht um abstrakte Theologie, sondern um dichterische Gestaltung theologischer Vorstellungen geht, wird man von vornherein keine theologisch-philosophische H e r leitung des Begriffes erwarten, tag wird auch in Zusammenhängen, die von der Ewigkeit sprechen, seiner konkret-alltäglichen Bedeutung nicht entkleidet. Die Formeln halten sich ganz im Rahmen des biblischen, vorab alttestamentlichen Sprachgebrauchs mit seiner anthropomorphen Redeweise: Im Physiologus ist der liebte tag nicht die Ewigkeit als Dimension Gottes, sondern Christus selbst, auf den die hellen Augen der Caprea typologisch hindeuten: daz si die jegir verre sehen mach, daz bezeichent unsiren herren den liebten tach (M I 213, 729) Die zweite der Komponenten des ewigen Tages, die Lichthaftigkeit, erscheint hier personifiziert in Christus. Frau Ava (Leben Jesu) setzt dann geradezu synonym f ü r Christus den Ausdruck ,das ewige Licht': du sprach das ewige lieht (M II 445, 1226). In ,Vom Himmelreich', das sich durch eine reiche Synonymik f ü r den Ewigkeitsbereich auszeichnet, begegnet eine offene Anspielung auf den Psalter (Ps. 22, 6 ; P s . 90,16): daz (firmamentum) hat din wistuom so gvestenet von deme anegenge, deiz staete hat dere ewicbeite in dere tage lenge. (M I 375, 50) U n k l a r ist mir der genaue Sinn einer Stelle in der ,Babyl. Gefangenschaft': daz was ein michel urteile daz si diu sibinzic jar muosen weinen vil manigen ewiclichen tack, daz in nie gnade giscach (M I 423, 60) Die babylonische Gefangenschaft ist typologische Vorausdeutung auf den chunjtigen tot (V. 13), den diejenigen erleiden, die ohne Buße sterben. Gleichzeitig aber ist sie moraliter eine Warnung an alle Menschen, beizeiten Buße zu tun. U n d statt der siebzig Jahre hat Gott uns die Möglichkeit gegeben, in nur
4.4. Die
Ewigkeitstermini
289
70 Tagen (Fastenzeit) unsere Sünden abzubüßen 9 . Der Ausdruck vil manigen ewiclichen tach könnte nun entweder eine hyperbolische Formulierung für die Länge der Bußzeit der Juden gegenüber der Kürze unserer Bußzeit sein, oder aber eine aus dem unmittelbaren Kontext herausspringende Vordeutung auf die ,ewige Strafe'. Im letzteren Falle stünde der Ausdruck zwischen alltäglicher Redeweise (vil manigen tach) und theologischer Begrifflichkeit (ewiger tach). Das Memento mori schließlich zitiert wörtlich den Psalm 83,11, im Anschluß an eine Kette von Gegenüberstellungen, die sämtlich den Gegensatz von .dieser' und Jener Welt' artikulieren: in dunchit da bezzir ein tac, tenne hier tusinc, teist war. (M I 257,106 f.) tag ist somit ganz in den Raum bildhaft-anschaulicher Vorstellungen und in die normal-sprachliche Verwendung zurückgenommen, auch wo von Gott und der Ewigkeit die Rede ist. Die biblischen Formeln sind zu frei verfügbaren Kennmarken und poetischen Versatzstücken geworden, ohne daß die Tradition spekulativ-theologischer Bibelinterpretation jeweils aktualisiert würde.
4.4. D i e E w i g k e i t s t e r m i n i 4.4.1. ewic Von den alten Bildungen im Bereich der Ewigkeitsadjektive hat ewic allein das Feld behauptet, simblig ist schon in den späteren ahd. Texten nicht mehr belegt, und emazzig wird nur noch im Sinnbereich ,Intensität' verwendet. In den frühmhd. Texten ist das Wort emzic ( < emazzig) spärlich vertreten, und zwar — soweit ich sehe — ausschließlich in der Jüngeren Judith: (das Gebet) daz er emzichlichen tete (M II 236, 505) iwer gebete si emzechlich (M II 246, 1110) Diese zwei Stellen spiegeln die gleiche Einschränkung des Wortes, die schon bei Notker zu beobachten war. Aus dem engeren temporalen Bereich scheidet emzic damit aus. Neben ewic kennen unsere Texte die weiteren Ableitungen ewiclich (Adj.) und ewiclichen (Adv.). Hier stellt sich sofort die Frage, ob wir eine ähnliche rhythmisch bedingte Verteilung der Formen feststellen können, wie sie etwa bei Otfrid für andere Doppelbildungen zu beobachten war. Wir wollen die Stellen wiederum — wie bei Notker — nach den Bereichen gliedern, die durch ewic¡ewiclich charakterisiert werden: 8
19
Vgl. Maurer, I 419: „Man könnte in diesen drei Strophen beinahe die dreifache Form der Sdiriftauslegung sehen: das Faktische (literaliter); die Allegorese; die Anwendung (moralitcr)." Burger, Zeit
290
4. Geistliche Texte der frühmhd. Zeit (1) Gott und das Himmelreich:
In einer Kette von Paradoxien spricht die Millstätter Sündenklage über Gott: du bist mennisc . . . und bist doch der ewige got (M II 65, 33) oder: du bist junch, d(u bi)st alt (ebda 67, 49) — hier wird das Über-der-ZeitSein Gottes im Paradox angedeutet. Des öfteren wird Gott Vater angeredet als vater ewic (Summa Theologiae, M 1 3 0 9 , 1 ; Joh. Baptista, M II 339, 180; Armer Hartmann, M II 573, 36), ebenso wie die goteheit durch ewic attribuiert wird (Armer Hartmann, M II 595,1441 und 597,1537); die häufigste Formel aber ist ewiger got (1147, 411; 1165,33; 11 580,464 u. 479; 11 583,631; 11590,1092; 11606,2065; II 625, 3638). An allen Stellen wird die Bildung ewic verwendet. Vom innertrinitarischen Leben sagt der Arme H a r t m a n n : dar sizzet er ebene imer ze lebene zo des vater zesewen in dem ewigen wesene (M II 596, 1455) Das ewige Sein ist hier in einer H ä u f u n g von temporalen (imer, ewic) und ontologischen Begriffen (leben, wesen) umschrieben. Das Klagenfurter Gebet nennt Gott ewigiu tugent (M II 327, Str. 1). An die Aussagen über Gott und die Trinität schließen sich die Texte an, in denen ewic als Epitheton der Gottesmutter erscheint — in der Tradition der Credoformeln. So heißt es jetzt im Arnsteiner Marienieich: du eweliche frowede ( M 1 4 4 7 , 1 9 4 ) . Und vom lof Marias, dem immerwährenden Lobgesang auf Maria, wird am Ende des Leichs im Tone der Litanei gesagt: he getröstet mich, he gesterket mich, din lof der is eweclich, gelich dem brunnen der iemer fluzet, gelich deme krude daz iemer gruonet ( M I 451, 323). Der Marienpreis erhält das dogmatische Prädikat eweclich (Kopula 4eweclich), während der Vergleich verbal und mit dem alltagssprachlichen iemer formuliert ist. Die .Hochzeit' schließlich, die in Anknüpfung an die Hoheliedexegese die Braut zunächst auf die Seele, später auf Maria hin deutet, sagt von der Braut (an dieser Stelle noch auf die Seele bezogen): diu gotes gemahelin iemmir ewich scule sin (M II 195, 359), und abschließend heißt es von der Hochzeit selbst: wan disiu niemmir (mere zergat) unde iemmir ewich stat. (II 223, 1065) Das Prädikat ewic, das im Glaubensbekenntnis der virgo Maria galt, ist nun zum hymnisch-preisenden Epitheton der Gottesmutter geworden. Ambivalent sind die Ausdrücke ,ewiges Leben' und ¡ewiges Licht': Beide können sowohl als Namen Gottes auftreten als auch im üblicheren Sinne als Titel für das Leben bzw. die Seinsweise des Menschen nach dem Tode. Hier sei zunächst die erste Gruppe vorgeführt:
4.4. Die
Ewigkeitstermini
291
Besondere Vorliebe f ü r diese Bezeichnung der Gottheit, besonders Christi, zeigt Frau Ava. D o r t liest man etwa: ich toufe in deme wazzer, . . . ich vergibe niht di sunde. der di mag vergeben, der ist gehaizzen daz ewig leben. (Johannes, M II 391, 273) Nach dieser sozusagen terminologischen' Einführung kann es dann später heißen: do sprach der ewige lip (Leben Jesu, M II 433, 917) du sprach daz ewige lieht (ebda 445, 1226; nachdem es im vorangehenden Vers gelautet hatte: do sprach daz suntige wip) Wenngleich solche Identifizierung der beiden Ausdrücke mit der Gottheit theologisch einwandfrei ist, so scheint es sich doch in diesem Text um ein spezifisches Stilistikum zu handeln, da Vergleichbares in den anderen untersuchten Texten nicht vorkommt. Sonst steht das ,ewige Licht' meist synonym mit ,Himmel' oder ist Prädikat des Himmels. Vom Himmelreich wird gesagt: da ist inni daz ewigi liht, des niwirt hini vurdir ziganc niht (Lob Salomons, M I 325, 218) Gleichfalls vom ewigen Licht spricht mehrfach die Dichtung über das Himmelreich: unze uns ze jung(i)ste erscinet daz ewige lieht daz den scate verwisit ( M I 385, 194) da ewicliche scinit daz unzegancliche lieht (M I 375, 64); ferner da vindent si ewechlich lieht, da newirret in nieht (Vom Rechte, M II 177, 544) dar umbe muozen si Verliesen daz ewichliche lieht (Jüng. Judith, M II 228,17) di necoment in daz vinsternisse niht, si hant daz ewige liht; (Armer H a r t m a n n , M II 616, 2683) do habe wir daz ewige lieht, neheines siechtuomes nieht (Frau Ava, Jüngstes Gericht, M II 511, 348) Das Paradies selbst wird einmal als ewic bezeichnet: von disimo siechin libi in daz ewigi paradysi (Annolied, M II 41, 769; in charakteristischer Entgegensetzung zu .diesem Leben') Bei den Belegen um ¡ewiges Licht' ergibt sich ein ganzer Komplex zusammengehöriger Wörter, die in verschiedenen syntaktischen Kategorien auftreten können: ziganc]unzegancliche; ewic ¡ewicliche; liht/scinen (erscinen) mit entsprechenden Gegensätzen. Vor allem I 325 und I 375 zeigen dies Ineinander der Ausdrücke und Motive besonders augenfällig: dort das ,ewige Licht, das unvergänglich ist', hier ,das unvergängliche Licht, das ewig scheint'. In den 19*
292
4. Geistliche
Texte
der jrühmhd.
Zeit
meisten dieser Beispiele ist bereits die Beziehung des Menschen auf das ,ewige Licht' mitgedacht, wie ja überhaupt — abgesehen von rein dogmatischen Aussagen über die Trinität — immer das Verhältnis Gott—Mensch in seinen vielfachen Relationen im Vordergrund steht. Als nächste Gruppe von Belegen seien die Stellen aufgeführt, die von der Hinwendung Gottes zum Menschen sprechen: (2) Hinwendung Gottes zum Menschen: Häufig wird die Gnade Gottes als ewic bezeichnet: zin ewigin ginadin (Annolied, M II 41, 775) (bi den ew)igen genaden (Millst. Sündenklage, M II 71, 175, verderbt) di mit ir tode di ewigen genade habent erworven (Himml. Jerusalem, M II 148, 284) N u mac der man als gerne eine zeware varen zuo den ewigen genaden (Meßgebräuche, M II 295, 2) er hiez si varn zuo den ewigen genaden (ebda 307, 336) daz si hine quamen zo den ewigen gnaden (Armer Hartmann, M II 622, 3057) In allen diesen Fällen steht genade im Plural, mehrfach als Richtungsausdruck (bei Verben wie fahren, kommen). Die ewigen Gnaden kann man ,erwerben', man kann zu ihnen gelangen usw., d . h . : der Ausdruck steht synonym f ü r das ewige Leben. Eigentlich ist gar nicht im genauen Sinne von der Gnade Gottes die Rede, sondern eher vom ,Ergebnis' des göttlichen Gnadenaktes. Der Terminus Gnade verliert dadurch, daß er das Vorzeichen ewic erhält, seinen üblichen Sinn und wird in das ,Signal-Feld' einbezogen. Die durchgehend pluralische Verwendung des Wortes in diesen Formeln ist ein deutliches Zeichen für die Umlagerung des Gebrauchs. (3) ewiges Leben / ewiger Tod: Erwartungsgemäß weist diese Gruppe die weitaus größte Belegdichte auf. An den Belegen f ü r ,ewiges Leben' läßt sich eine interessante Unsicherheit und allmähliche Umschichtung ablesen, sofern das alte Wort lib durch den jüngeren substantivierten Infinitiv leben verdrängt wird. Manche Texte zeigen noch einheitlich den traditionellen Gebrauch, in anderen aber mischt sich Altes mit Neuem. Unproblematisch sind die Texte, die nur den Typus ewiger lib kennen (Mfr. Reimbibel, M I 127, 509; Physiologus, M I 207, 603; Summa Theologiae, M I 315, 279; Wahrheit, M I 431, 123 u. 124; Vom Rechte, M II 161, 58). N u r leben hat Himml. Jerusalem 22 (M II 150, 381): swer dize ellente leben umbe daz ewige hat gegeben. Gemischt aber sind die folgenden Texte: ARNSTEINER MARIENLEICH:
daz is der ewige l i f , daz is daz ich armez wif
4.4, Die
Ewigkeitstermini
293
bit diner helfen suochen (M I 447, 218) aber: unde ze lezzes uns gesamene in deme ewigeme levene ( M I 451, 291) FRAU A V A :
der di mag vergeben, der ist gehaizzen daz ewig leben (Johannes, M II 391, 273) Do bliht er uf an daz wip, do sprach der ewige lip (Leben Jesu, M II 433,917) des ewigen lebennes, vil hungerich werden wir des (ebda 487, 2336) daz wir in dem wige niht verlazen an dem ewigen libe (Antichrist, M II 493, 33) Da ist daz ewige leben, daz ist uns alzoges gegeben (Jüngstes Gericht, M II 513, 368) ARMER HARTMANN:
daz si die beginnen minnen, den ewigen lib gewinnen (M II 574, 55) in deme ewigen libe, da si iemer sulen beliben (576, 178) den hat er gegeben sinen segen dar mite den ewigen leben (585, 785) Also hat uns Crist gegeben da mite den ewigen leben (591, 1187) daz nieman nesol zwivelen an dem ewigen libe (594, 1347) wir suln in vergeben durh den ewigen leben (600, 1729) dem werdent sine sunde vergeben unde gewinnet den ewigen leben (601, 1745) in dem ewigen libe dar man imer sol beliben (603, 1906) mit samit dir belibe(n) in deme ewigen libe (605, 2018) du woldist uf irstige(n) zo dem ewigen libe (609, 2227) des enzemet niwit geben durh daz ewige leben (612, 2381) du bist dem menscen freislich unde nimes ime den ewigen Up (614, 2571) den nelaz in got wider wegen in das ewige leben (615, 2615) wände si mit ime wolden bliben in dem ewigen libe (622, 3049) den allirbezisten lit, daz ist der ewige lip (623, 3105) dar umbe wart in gegeben der ewige leben (625, 3213) di rede alsus quit: ich geloube den ewigen lip (626, 3697) den ir sunde wart vergeben, di den ewigen leben ... (627, 3729) Es war nicht zu vermeiden, die ganze Fülle der Belege zu präsentieren, da die besondere stilistische Situation der Texte hervortreten sollte: Hier liegt eine typische Übergangssituation lexikalischer Elemente vor, eine Phase der ,fluctuation' 10 . In einem Fall (Frau Ava, M I I 487, 2336) ist die Herkunft des neuen Substantivs aus dem verbalen Gerundium noch sichtbar (lebennes als korrekter 10
Vgl. Bloomfield, Language, a. a. O., Chapter 22 ,Fluctuation in the frequency of form', 392 ff.
4. Geistliche Texte der frühmhd.
294
Zeit
Genitiv des Gerundiums) 1 1 , in den anderen Beispielen bieten die belegten Kasus keine Möglichkeit der Differenzierung von Gerundium und (starkem) Substantiv. Viel aufschlußreicher aber ist der Wechsel des Genus im Armen H a r t m a n n . Für einen substantivierten Infinitiv ist die mehrfach bezeugte maskuline Form durchaus unüblich. Zur Erklärung lassen sich zwei Motive heranziehen: Einmal wird das ewige Leben als Synonym f ü r Christus verwendet (allerdings bietet der Arme H a r t m a n n gerade keinen Beleg dafür, wohl aber Frau Ava); zum anderen — und das ist wahrscheinlicher — kann das Geschlecht von lib auf das neue Wort übergegriffen haben. Gerade dieses Ineinandergreifen der grammatischen Merkmale des alten und neuen Wortes sind unverkennbare Symptome der ,fluctuation'. N u n bleibt noch die Frage nach der Verteilung der beiden (bzw. drei) angebotenen Möglichkeiten: Mit einer Ausnahme stehen alle Belegwörter in Reimposition. Z w a r legt der Arme H a r t m a n n keinerlei Wert auf ,reinen' Reim, doch ist die Silben- und Lautstruktur der beiden Wörter so klar voneinander geschieden, d a ß jeweils nur eines f ü r den Reim in Frage kommt. U n d gerade in Texten, die noch so mühsam um die Findung des passenden Reimwortes ringen, liegt eine Begründung der lexikalischen Distribution durch die verstechnische Situation nahe. Aus dem chronologischen Vergleich der Texte läßt sich z w a r nicht viel gewinnen; doch ist immerhin festzustellen, daß das Credo des Armen H a r t m a n n (ca. 1150/60) in das Ende unserer Epoche gehört, während die Gedichte der Frau Ava ca. 30 Jahre früher entstanden sein dürften 1 2 . Beides also relativ späte Texte im Rahmen des untersuchten Corpus. Die zeitliche Differenz von Frau A v a und Armen H a r t m a n n spiegelt sich in den grammatischen Verhältnissen: bei Frau Ava noch eine stärkere Bindung an die verbale H e r k u n f t von leben, beim Armen H a r t m a n n bereits deutliche Auflösung der älteren grammatischen Bestände. Durchaus nicht ungewöhnlich f ü r sprachgeschichtliche Vorgänge ist es, daß nach einer Periode der ,fluctuation' wieder klare Verhältnisse entstehen, die dem Ausgangspunkt der Veränderung näher kommen als der Phase des Übergangs (nhd. das Leben, Frau Ava daz leben, aber Arm. H a r t m a n n der ¡daz leben). Aus dem Synonymenbereich von ,ewiges Leben' sind eine Reihe von Ausdrücken anzuführen: ze der ewigen genze (1209,641) ,Vollkommenheit'; mit der gotes lere und mit ewigir fuore (ebda 235, 1067); ewige vroude funden si da bereit (ebda 237, 1101). Die Identifikation der Synonyma wird expressis verbis ausgesprochen in Esau und Jakob 28 (M I I 363 Str. 28): da si iemmer wernde vreude haben, daz ist daz ewige
leben.
Im Memento Mori wird die ,ewige Freude' in das Beziehungsnetz des ,SignalFeldes' einbezogen: 11
12
Vgl. auch D W 7, 409, w o als ältester Beleg f ü r substantivisches Gebet (35, 73) angegeben w i r d . Nach de Boor, I 287 (Zeittafel).
leben
Otlohs
4.4. Die
Ewigkeitstermini
295
Si hugeton hie ze lebinne, sie gedahton hin ze varne ze der ewigin mendi, da sie iemer solton sin (M I 254, 20) Bezeichnend f ü r das Wirken des ,Signal-Feldes' ist wiederum das Ineinander räumlicher und zeitlicher Ausdrücke und Kategorien. Audi die Summa Theologiae spricht von zeichin der ewigin mendin (M I 316, 311). Weitere Synonyma des Sinnbereiches: er rihtet ouh Davides stuol, des hat er eweclichen ruom (Vorauer Marienlob, M I 355, Str. 4, 8) si behuotent ir chiuske unde ir magetuom, des habent si ewichlichen ruom (Frau Ava, Antichrist, M II 493, 41) Der Arme Heinrich liebt das Bild der ,ewigen Krone' (M II 622, 3009; 624, 3185); desgleichen Frau Ava (Jüngst. Gericht M II 499, 5). ze disses libes friste joch zer ewigen geniste (Vaterunser, M I 333, 21) unser ewigiz heil (Himmelreich, M I 395, 347) Hier ist auch die adverbielle Form von ewichlich aufzuführen: so werdest du gesegenet ewichlichen, daz dir diu gotes zeswe niemer geswiche (Jüng. Judith, M II 258, 1750) Gegensatz zu ,ewiges Leben' ist wiederum ,ewiger Tod' mit einer Reihe von Synonymen: ewich dot (M I 85, Str. 46); der ewige tot (M I 428, 15) mit der aufschlußreichen Definition (D)az himelricb ist unser heimot, diu helle ist der ewige tot; van deme ewigeme dode ( M I 447, 205); iemmir durch not huwen den ewigen tot (M II 211, 763) — die Kollokation mit buwen macht den ewigen Tod zu etwas durchaus Konkretem, gegenständlich Vorgestelltem. In Frau Ava, Leben Jesu (II 463, 1671) ist — analog der personifizierenden Verwendung von ,ewiges Leben' und ,ewiges Licht' — der Satan selbst als .ewiger Tod' benannt: ime wart da gare gelonot, dar wurgete der ewige tot. (M II 463,1671) Daneben heißt es im gleichen Text aber, daß der Teufel die Sünder in den ewigen tot führt (M II 509, 264). Synonyme zum ,ewigen Tod': der ewigen note (M I 363, 53); daz ewige für (M I 415, Str. 6; II 581, 491); daz ich iht verdiene die vinstern naht unde den ewigen val (M II 327, 71); diu ewigen wize (M II 509, 255). Vielsagend ist der Ausdruck ,ewiger Fall', da ewic im streng temporalen Sinn nicht sinnvoll von ,Fall' auszusagen wäre: ein Beweis f ü r das Wirken des ,Signal-Feldes', das die ursprünglichen semantischen Bedingungen eines Wortes zu überspringen vermag. Damit hätten wir den weiten Kreis der Belege f ü r ewic/ewiclich abgeschritten, und es bleibt nun noch die Frage nach den etwaigen Motiven für die Verteilung von ewic und ewiclich: Die große Menge der Belege entfällt auf ewic, so daß nur an wenigen Stellen die Frage überhaupt relevant wird. Offenbar
296
4. Geistliche Texte der frühmhd.
Zeit
bleibt die jüngere F o r m vorerst auf wenige Ausdrücke beschränkt, w ä h r e n d die H a u p t - B e l e g g r u p p e f ü r .ewiges Leben', ,ewiger T o d ' usw. in älterer Form erhalten bleibt, ewiclich w i r d ausgesagt v o n der Gottesmutter, von , R u h m ' , ,Licht' (zweimal), z w e i m a l k o m m t das A d v e r b ewiclichen vor m i t den verbalen Kollokationen ,scheinen' u n d ,segnen'. Es sind n u r 6 Texte, in denen ewiclich ü b e r h a u p t belegt ist: V o r a u e r Marienlob, Himmelreich, Arnsteiner Marienieich, V o m Rechte, Jüngere J u d i t h , Frau A v a . I m V o r a u e r Marienlob u n d in der Jüng. J u d i t h fehlen Belege f ü r ewic, so d a ß keine A l t e r n a t i v e entsteht. In Reimstellung begegnet ewiclich nur z w e i m a l ( 1 4 5 1 , 1 1 2 5 8 , 1 7 5 0 ) . Dagegen scheinen rhythmische M o t i v e der Distribution nicht ausgeschlossen, die sich als T e n d e n z z u alternierendem Versgefälle ausprägen: ewelicbe fröwede (I 447, 194); ewicüche scinlt (1 3 7 5 , 6 4 ) ; daz ewichliche lieht ( 1 1 2 2 8 , 1 7 ) ; eweclichen rüom (1 355 u. I I 493); gesegent ewichltchen ( 1 2 5 8 , 1 7 5 0 ) . Gewichtiger aber d ü r f t e ein Bedürfnis nach stärkerer Emphase, größerer Affekthaltigkeit in diesem Wortbereich sich auswirken, das später — v o r allem in Predigten — zu einem Überwiegen der längeren Bildungen f ü h r e n w i r d .
4.4.2.
ewe
Die T r e n n u n g v o n ewa ,Gesetz' u n d ewa ,Ewigkeit*, die bei N o t k e r bereits vollzogen w a r , ist auch in unseren Texten durchgeführt, doch auf etwas andere Weise als dort. N o t k e r h a t f ü r die Bedeutung ,Gesetz' ausschließlich die K u r z f o r m e, ea, w ä h r e n d die traditionellen - ^ - L a u t u n g e n f ü r die Formeln des Ewigkeitsbereiches reserviert sind. Die Texte des 11./12. J a h r h u n d e r t s nun zeigen, d a ß diese lexikalische Differenzierung mit N o t k e r keineswegs definitiv durchgeführt ist. Vielmehr treffen w i r in dieser Zeit noch die ältere L a u t u n g ewe (neben den jüngeren K u r z f o r m e n ) f ü r ,(Altes/Neues) T e s t a m e n t ' u n d ,Gesetz'. Einige Beispiele: V o n altin crom ist daz kunt, w i sich wilin uf tedde der merigrunt (Annolied, M II 45, 854); daneben im gleichen T e x t : v o n disime ellendin libe hin zin ewin, da w i r imer sulin sin. (II 9 , 1 8 ) I m gleichen T e x t also steht die F o r m ewin
f ü r ,Testament' u n d ,Ewig-
keit'. Eine landschaftliche Staffelung des Wandlungsprozesses v o n ewa z u e scheint nicht vorzuliegen, da auch der Rheinauer Paulus die - w - L a u t u n g a u f weist (und dies im Nom.sg.!): als ie diu alte ewe gebot (M II 55, 88) D e r A r m e H a r t m a n n differenziert nach Kasus: K u r z f o r m f ü r Nom.Akk.sg., - w - F o r m f ü r die flektierten, obliquen Kasus: er h a t in gegeben sine e, di netar iz niwit ubir ge(n), iz nemuze also getaner ewen plegen, als er herre w o l d e geben. (M I I 5 8 0 , 4 6 6 u. 468)
4.4. Die
Ewigkeitstermini
297
Gleichwohl ist die Gefahr der Homonymie für ,Gesetz' und ,Ewigkeit' nicht mehr gegeben, da der Kontext jeweils eindeutig über die gemeinte Bedeutung entscheidet, ewe ,Ewigkeit' kommt zudem nur noch in den erstarrten Wendungen im Dat.pl., ohne weitere Determinanten, vor, während ewe ,Gesetz' als freies substantivisches Lexem mit den verschiedensten Determinanten auftritt. Weitere Belege f ü r die temporale Formel: (Gott liebt den Menschen, den er) zen ewen (ins Himmelreich bringt) (Himmelreich, M I 377, 85) alle die mit dir zen ewen staeticliche suln sin (ebda M I 391, 303) In der oben genannten Stelle des Anno-Liedes ist der Feld-Gegensatz ,dieses Leben' / hin zin ewin, da... imer angesprochen, wobei der lokale Relativanschluß da auffällt. Hier ist zin ewin offenbar nicht mehr rein temporale Formel, sondern wie der kontextuelle Gegensatz Signal f ü r das Jenseits. Die längere Formel von ewen zen ewen (u. ä.) ist — wie schon bei Notker zu beobachten war — synonym mit der kürzeren Formel verwendet: von ewen zuo den ewen / got gnade ir aller sele (Ezzolied, M I 284, 12) Vom himmlischen Jerusalem wird ausgesagt: diu von ewen unte zewen niemer scol zergen (Himml. Jerusalem, M II 146,171) Das Verbum ,vergehen' mit dem futurischen Hilfsverb läßt strenggenommen nur den Blick auf die zukünftige Dauer des Himml. Jerusalem frei, während die vergangene Dauer außer Betracht bleibt. In beiden Stellen also ist die längere Formel keineswegs umfassender (alle denkbare Zeit umgreifend) als die kürzere, sondern ebenso unpräzise und global verwendet. Das läßt darauf schließen, daß der emphatische Gebrauch den im genauen Sinn temporalen verdrängt hat. Beide Male macht die Formel einen ganzen Kurzvers aus und liefert jeweils das Reimwort. Auch im Vorauer Marienlob liegt eine Stelle vor, deren Kontextbedingungen eine temporale Bestimmung der künftigen Dauer erwarten lassen: (David) deme got des geswuor, daz berihtet wurde der sin stuol mit michelen eren von ewen unze ewen. (M I 354, Str. 2, 9) Da aber Christus aus der .Wurzel Jesse' hervorgeht und David typologisch auf den Gottessohn vorausdeutet, bezieht sich die Ewigkeitsformel letztlich auf das Sein Gottes. Das Gleiche gilt f ü r das Klagenfurter Gebet I (M I I 325, 3): (des) scolt du, miheliscer voget, iemmer mer sin gelobet von ewen ze ewen Im Rahmen einer dogmatisch-theologischen Aussage findet sich die Formel im Benediktbeurer Gebet, das mit seiner H ä u f u n g von Abstraktbildungen an scholastische und mystische Ubersetzungsprosa gemahnt. Hier steht die längere Formel sinnvoll und präzise als verbale Ergänzung einer Aussage über die Ewigkeit und Einheit der Trinität:
298
4. Geistliche Texte der frühmhd. Zeit
der innechlichen ewechait unde einer waren gotehait in des hailigen gaistes ainunge ze rehter ebenhellunge mit dir ist ein nomen von ewen zewen. A M E N . (M II 321, 95) Alle genannten Belege erwecken den Eindruck, daß die längere Formel der kürzeren nur die größere Emphase voraushat, daß aber eine Bedeutungsdifferenzierung kaum vorliegt. Nachdem ewa in den Bereich des Formelhaften eingetreten ist, w i r d d i e W a h l d e r j e w e i l i g e n V a r i a n t e zur S a c h e d e r S t i l i s t i k . Auch im letzten Beispiel, das als einziges in einen spekulativen Gedankengang eingebettet ist, ist wohl eher die stilistische Valenz der altertümelnden Wendung von Belang als ihr genauer semantischer Wert. Mit der Formel nämlich schließt das Gebet. In einer Hinsicht hat sich der Gebrauch der Formeln um ewe gegenüber der älteren Zeit in typischer Weise verschoben. Diese Verschiebung kann aber erst hinreichend erhellt werden im Vergleich mit dem Adverb iemer (unten S. 299 ff.).
4.4.3. ewicheit N u r wenige Texte unseres Corpus verwenden das Substantiv ewicheit. Wichtiger f ü r die Stillage dieser Dichtungen sind Adjektiv und adverbielle Formeln des Ewigkeitsbereiches. Der reine Abstraktbegriff wird nur selten benötigt, da es weniger um begriffliche Erfassung dogmatisch-theologischer Sachverhalte geht als um das predigthafte Insinuieren der zentralen Heilsereignisse und der grundlegenden Entgegensetzungen im ,Signal-Feld'. Einzig das ,Himmelreich' verwendet den Begriff zweimal, hier aber eingebettet in eine reiche Synonymik: (Gottes wistuom = Sapientia:) deiz staete hat dere ewicheite in dere tage lenge (M I 375, 50) da (im Himmelreich) die vernozzenen suln in dere ewicheite widerwohsen. (M I 387, 235) Im ersten Fall ist das eigentlich zeitliche Moment durch die alttestamentlidie Wendung in dere tage lenge ausgedrückt, während ewicheit fast wie ein Name (nomen proprium) verwendet ist. Auch das zweite Beispiel zeigt keinen temporalen Gebrauch des Wortes, ewicheit ist vielmehr der Bereich, der Seinsraum, in dem die Seligen leben, sich aufhalten. Einen philosophisch strengen Ewigkeitsbegriff weist der gesamte Text nicht auf, dafür aber eine große Zahl temporaler Ausdrücke, die die endlose Dauer des Himmelreiches preisen: Die Engel jubeln ane unterlaz (377, 76), sie singen Gottes Lob ze allen stunden (387,229). Das unzegancliche lieht scheint ewicliche (375, 64). Die Stadt Jerusalem wird tagelich(e)s gezimberet (377,77). Die Seligen sind dort zen ewen (377, 85), sie sind dort mit Gott zen ewen staeticliche (391, 303).
4.5.
iemer
299
Dazu noch die Reihe gängiger Ausdrücke, in denen ewic (s. d.) als Attribut erscheint. In allen diesen Formulierungen liegt der Akzent auf der Intensität und Unaufhörlichkeit des Lebens im Jenseits, wobei dieses Leben als eine unendliche Steigerung aller positiven Möglichkeiten menschlichen Daseins beschrieben ist. Die Ewigkeit ist also ein L e b e n s r a u m , durchaus anthropomorph vorgestellt — wenngleich ins Unermeßliche überhöht. Unterscheidungen von ,Arten' der Ewigkeit, wie sie in der Schultheologie geläufig sind, bleiben hier völlig irrelevant. Die Geschöpfe, die ins Himmelreich gelangen, leben dort mit Gott in ein und derselben Ewigkeit. Einer ganz anderen Stufe der Begrifflichkeit gehört die Stelle aus dem an, die bereits unter ewe (o. S. 2 9 7 f.) besprochen wurde (M II 321, 90): Hier geht es von Anfang an um dogmatische Verhalte, die in einer Fülle von Abstraktbildungen formuliert sind: BENEDIKTBEURER GEBET
gotheit (319, 4), vaterheit (319, 7), sunhait (319, 8), gothait (319, 12), mennischait (319,13), gothait (319,14), mennischait (319,18), gothait (319,19), chunnescaft (319, 34), gescaft (319, 35), salicheit (321, 74), innercheit (321, 75), ewechait (321, 90), gotehait (321, 91), ainunge (321, 92), ebenhellunge (321, 93). Der trinitarische Terminus ewicheit steht hier in einem Kontext, der wohl die geheimnisvolle Einigung des Menschen mit Gott in der ,Wandlung' umschreiben soll.
4.5. i e m e r Bei weitem häufiger als zen ewen, ewiclichen und andere adverbielle Wendungen ist das Adverb iemer in den Texten der Epoche vertreten, meist in einem Sinn, den wir mit ,für immer' umschreiben würden. Doch ist die Komposition kaum mehr in ihren Bestandteilen bewußt, wie die vielen verdeutlichenden Zusätze (vor allem iemer mere, s. u.) beweisen. Der Wortgebrauch des Memento Mori ist typisch für all diese Texte: Oft findet sich iemer in Sätzen, die den temporalen Gehalt eines vorangehenden Ausdrucks entfalten oder sonst eine Erläuterung enthalten: z. B.
ze der ewigin 1 (ähnlich 256, 79) (hella) da muoz (er)
mendi, da sie iemer solton sin (M I 254, 21) , I I I 1 iemer inne wesen (256, 72)
Ferner erscheint iemer in selbständigen Ausdrücken, die (oft mit weiteren temporalen Zusätzen) über das ewige Leben (oder den ewigen Tod) aussagen: So vert er hina dur not, so ist er iemer furder tot. (256, 71) habit er iet hina gegebin, tes muoz er iemer furdir lebin (258, 111) fro so muozint ir wesin iemer .. . (259, 152) Die häufigen Kollokationen von iemer mit Verben wie ,sollen', ,müssen' weisen auf eine genaue, unwiderrufliche Gerichtetheit des durch die Heilsge-
300
4. Geistliche Texte der friihmhd.
Zeit
schichte gelenkten menschlichen Seins, vor allem auf die Endgültigkeit des Seins nach dem Tode, auf das definitive Urteil über Heil oder Unheil. Da die Zusammensetzung ie-mer bereits verblaßt zu sein scheint, bedarf es meist eines neuen, zusätzlichen Richtungssignals (das in den obigen Beispielen als furdei in Erscheinung trat): er muose daz eilende buwen iemer mere\ florn hat er die sele (Joh. Baptista, M II 339,170) ähnlich weiter unten: daz (eilende) buwent si iemer mere Si hant qual und sere ze libe joch ze sele / daz habent si iemer mere (339, 208 u. 211) negativ gewendet: (Geist und Leib werden eins di nemac lieb noch leide noch neheinerslahte wizze di nesterbent niemer mere
in eneme libei) niemer mer gesceide(n) niemer mer ze slizen. (Armer Hartmann, M II 594, 1373 ff.)
Wenn in diesen Beispielen der verblaßte zweite Bestandteil von iemer neu aufgenommen wird, so ist in den folgenden Wendungen die temporale Endlosigkeit noch hervorgehoben: after tode gab er uns den lip . . . himelriche iemer an ente (Ezzolied, M I 296, 285) (die Verdammten sind in der Hölle) beidiu naht unde tach... an ente (Wahrheit, M I 429, 26)
iemmer
(Die beiden temporalen Ausdrücke stehen in Variation, d. h. sie bezeichnen zwei Aspekte des gleichen Seins: der erste die Kontinuität, der zweite die Endlosigkeit.) dem negewirret niemer mer weder hunger noch ser . . . des beginnet er sich mende(n) immer an ende. (Armer Hartmann, M II 587, 908 u. 911) (Hier liegt wohl bereits jene typisch epische Verwendung von .beginnen' vor, wie wir sie aus dem Nibelungenlied kennen.) Der adverbiale Temporalausdruck bezieht sich selbstverständlich nicht auf das grammatische Hauptverb .beginnen', sondern auf den semantisch zentralen Infinitiv s. tuenden. da muzen si inne quelen unde brinnen imer ane ende (Armer Hartmann, M II 598, 1606), wenig später das ,himmlische' Gegenstück: den git er sin riche den engelen geliche imer ane ende, des beginnent si sich menden. (598, 1620) {beginnen ist wie in 587, 911 verwendet.)
4.5. iemer
301
Durch Summierung (Repetierung) der Zeitadverbien k ö n n e n K o n t i n u i t ä t u n d Endlosigkeit in einem angedeutet w e r d e n : there genathe w i r geren,
the iemer ande iemer gewaren.
( M f r . Reimbibel, M I 133,111) Ein Vergleich mit den W ö r t e r n des Ewigkeitsbereiches v o n der Sippe ewzeigt eine bestimmte A u f f ä c h e r u n g der V e r w e n d u n g : D a s Verhältnis z u
zen
ewen m a g eine Stelle aus dem Annolied e r l ä u t e r n : w a n t e w i r noch sulin v a r i n v o n disime ellendin übe hin zin ewin, da w i r imer sulin sin. (M I I 9, 18) W ä h r e n d zin ewin die Richtung des ,Gehens', der Bewegung angibt, stellt imer den temporalen C h a r a k t e r des ,Seins' heraus. iemer steht fast ausschließlich in K o l l o k a t i o n mit Verben wie wesen, sin, leben, buwen, die das bleibende Sein im jenseitigen Leben bezeichnen (wobei das U n w i d e r r u f l i c h e dieses Seins meist durch Zusätze verdeutlicht ist), zin ewin dagegen h a t weitgehend seinen ursprünglichen t e m p o r a l e n C h a r a k t e r eingeb ü ß t u n d ist z u m Richtungssignal innerhalb des Feld-Bereiches diese/jene Welt geworden. D e r Mensch k a n n zin ewin varin: das heißt nicht ,bis in alle E w i g keit' (was sinnlos wäre), sondern ,in die Ewigkeit', in den Bereich der Ewigkeit, ins Jenseits. D a m i t ist auch der letzte der alten Adverbialausdrücke temporaler Unendlichkeit aus dem Zeit-Bereich ausgeschieden u n d in die P o l a r i t ä t des ,Signal-Feldes' hineingezogen w o r d e n . (Wie andere Texte zeigen, bleibt d a neben noch die temporale V e r w e n d u n g möglich, w e n n auch eher in der längeren Formulierung von ewen zen ewen.) Charakteristisch f ü r diese allmähliche U m d e u t u n g der Formel ist der Artikelgebrauch: W ä h r e n d in ahd. Zeit sämtliche Formeln dieses T y p s artikellos v e r w e n d e t w u r d e n , dringt n u n gelegentlich der bestimmte Artikel ein u n d verleiht der W e n d u n g eine neue, a m SignalFeld orientierte Bestimmtheit u n d Präzision. D a m i t e r k l ä r t sich auch die starke Stellung des A d v e r b s iemer (mit Zusätzen) im Bereich der Ewigkeitsaussagen: Was f r ü h e r durch die Formeln des Typs in euua geleistet w u r d e , m u ß n u n durch das A d v e r b übernommen w e r d e n , nämlich: die eigentlich temporale Determination. W e n n das Verhältnis v o n zen ewen u n d iemer n u r in Spuren direkt f a ß b a r wird, ist die transformationeile Beziehung zwischen iemer u n d ewic, die w i r bereits bei N o t k e r beobachten konnten, nun sehr deutlich ausgeprägt. M a n v e r gleiche die Beispiele aus dem M e m e n t o Mori (254 u. 256), w o die ewigiu mendi durch einen N e b e n s a t z erläutert w i r d , in dem das V e r b u m dem Substantiv (mendi) u n d das A d v e r b (iomer) dem A d j e k t i v (ewic) des H a u p t s a t z e s entspricht. G e r a d e z u einen Musterfall derartiger Relationen bietet der A r m e Hartmann: d a r sizzet er ebene imer ze lebene z o des v a t e r zesewen in dem ewigen wesene (M I I 596, 1452 ff.)
4. Geistliche Texte der frühmhd.
302
Zeit
H i e r w ä r e n folgende T r a n s f o r m a t i o n e n möglich (wobei leben
u n d Viesen
sich — wie vergleichbare Stellen zeigen — bequem austauschen ließen): imer ze leben(e) —» ewig(es) leben (lib) ewiges wesen
imer ze wesen(e)
Ähnliche Beispiele w ä r e n : an deme ewigen übe, da w i r iemer sulen beliben (ebda 589, 1064 f.) in dem ewigen libe, d a r m a n imer sol beliben (ebda 6 0 3 , 1 9 0 6 ) die muozin iemmir durch n o t buwen den ewigen tot (Hochzeit, M I I 2 1 1 , 7 6 2 f.) den ewigen lip, / der da niemmir zergat u n d e iemmir ewich stat (Vom Rechte, M II 159, 31 ff.) (Dies ist einer der seltenen Fälle, w o iemmir u n d ewich in gleicher syntaktischer F u n k t i o n asyndetisch aneinandergereiht sind, wie ja auch niemmir zergat u n d iemmir stat das Gleiche aussagen —einmal negativ, einmal positiv gewendet.) D e r ganze Satz ist nichts anderes als eine hymnische H ä u f u n g v o n Ausdrücken der Unendlichkeit u n d Beständigkeit des ewigen Lebens. Die gleiche Reihung begegnet noch zweimal in der .Hochzeit', w o von der ,Braut' Gottes bzw. der göttlichen Hochzeit die Rede ist: diu gotes gemahelin iemmir ewich scule sin (M II 195, 359) disiu (brutlouft) niemmir (mere zergat) u n d e iemmir ewich stat (223, 1064 f.) Somit zeigt sich, d a ß iemer auf weite Strecken die F u n k t i o n temporaler Explikation der eigentlichen' Ewigkeitstermini ü b e r n i m m t (wenn es nicht in emphatischen Zusammenhängen mit Ewigkeitsausdrücken kombiniert w i r d z u r Intensivierung des Effektes). Diese gesteigerte Bedeutsamkeit des bloßen oder verstärkten A d v e r b s e r k l ä r t sich aus Verschiebungen im Bereich der Ewigkeitstermini selbst: die alten Formeln t e m p o r a l e r Unendlichkeit w e r d e n mehr u n d mehr aus dem Zeit-Bereich abgedrängt, u n d die lebendigen Ewigkeitswörter (vor allem ewic) geraten in hohem M a ß e in den Sog des,Signal-Feldes'.
5. Die beiden Aeonen Tisiu werlt ist also getan, swer zuo ir beginnet van, si machot iz imo alse wunderliep, von ir chomen nemag er niet. so begriffet er ro gnuoge, er habeti ir gerno mere. taz tuot er unz an sin ende so nehabit er hie noh tenne. Die letzte Zeile dieser Strophe aus dem Alemannischen Memento Mori ( M I 255, 40) übersetzt R. Schützeichel so 1 : „Das tut er bis an sein Ende, so hat er h i e r nichts und d o r t nichts." Den Gegensatz hie/tenne gibt er also mit hier/dort wieder, aufgrund der Annahme, daß es sich bei dem mhd. Wortpaar um einen „schiefen Gegensatz" handelt 2 . Da sich Vergleichbares aber auch in anderen Texten findet3, glaubt Schützeichel, den überlieferten Text beibehalten zu dürfen. Wir gehen noch weiter und behaupten, daß die Opposition hie/tenne keineswegs eine ,schiefe Metapher' darstellt, sondern eine der typischen Ausprägungen jenes Gegensatz-Feldes, das wir provisorisch als ,Signal-Feld' charakterisiert haben. Den Bedingungen dieses ,Signal-Feldes' soll nun — am Ende unseres Ganges durch die ahd. und frühmhd. geistlichen Texte — nachgegangen werden. Ihren Ursprung haben die fraglichen Wortgruppierungen in der biblischen Lehre von den zwei Aeonen, „die seit dem 1. vorchristlichen J a h r h u n d e r t von der jüdischen A p o k a l y p t i k ausgebildet u n d auch den Rabbinen geläufig w u r d e . Insofern nach D n 7 die einander folgenden Weltreiche jahwefeindlicher A r t sind und dem sie ablösenden Gottesreich gegenübergestellt werden, ist im G r u n d e sdion in dieser klassisdien Apokalypse (vgl. auch D n 2) der Schritt zur scharf dualistischen Unterscheidung von nur zwei verschiedenen Aeonen vollzogen, nämlich ,dieses Aeons' und ,des kommenden Aeons'. Diese beiden Aeonen gelten inhaltlich als stärkstens qualifiziert, u n d z w a r — unter dem wenigstens verstärkenden Einfluß des iranischen Dualismus — in gegensätzlichem Sinne. ,Dieser Aeon' ist ein Aeon der Ungerechtigkeit u n d Sünden, Drangsale u n d Vergänglichkeit. Als die Zeit der gegenwärtigen Welt steht er letztlich unter dem Einfluß Satans. Demgegenüber ist der ,kommende Aeon' ganz u n d gar Gottes, ist wesentlich gut, potenziertes Leben und Glück, wobei schwer zu entscheiden ist, inwieweit einzelne Schriften diesen kommenden Aeon sogar im H i m m e l (statt auf der erneuerten Erde) etablieren. Als letztlich von G o t t 1
1 3
Rudolf Schützeichel, D a s Alemannische Memento Mori. Das Gedicht und der geistig-historische H i n t e r g r u n d . Tübringen 1962, 129. A. a. O., 47. Schützeichel, a . a . O . , 47, verweist auf das St. T r u d p e r t e r H o h e Lied: so wahset der wücher der minne. der gronet iemmir hie unde har nach; ferner auf N o t k e r s Psalter: U n d e in sinero fiendo gewalt negebe er in hier noch in euuon (40, 3).
304
5. Die beiden
Aeonen
selbst heraufgeführte neue Zeit und Welt ist dieser kommende Aeon notwendig das absolute Eschaton. Sehr ausgeprägt ist die Gegenüberstellung der beiden Aeonen in der Qumran-Gemeinde." 4 V o m theologischen G e h a l t des N e u e n Testamentes her gesehen, spielt diese Zweiteilung f ü r die Botschaft Jesu keine z e n t r a l e Rolle m e h r : „Es ist sogar fraglich, ob diese von ihm selbst je gebraucht wurde. Trotzdem sprechen einige synoptische Jesusworte mit Recht von ,diesem Aeon' (Mt 12, 32; Lk 16,8; 20,34) und von ,jenem Aeon' (Lk 20,35), vom ,kommenden Aeon* (Mk 10,30 = Lk 18,30) oder vom zukünftigen Aeon' (Mt 12,32). Denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes setzt die Unterscheidung zweier wesensverschiedener Aeonen eindeutig voraus. Indem Jesus das ,Eingehen in das Himmel- oder Gottesreich' (,Eingehen in das Leben") usw. verheißt, mußten seine Hörer beim ,Himmelreich' = ,Gottesreidi' an ,den kommenden Aeon', an die noch zukünftige vollendete Welt Gottes denken. Trotzdem hat Jesus gewiß mit gutem Grunde den Abstraktbegriff ,Königtum Gottes' zum Inbegriff der Verkündigung und Verwirklichung des endzeitlichen Heils gemacht. Dadurch betonte er nicht nur, daß die kommende Welt ganz und gar durch Gottes Willen und Tat herbeigeführt wird, sondern auch, daß der Endzustand ,primär nicht auf eine rein äußere Umgestaltung des Weltlaufs abzielt', sondern auf die uneingeschränkte Durchsetzung der Herrschaftsrechte Gottes gegenüber der Macht des Bösen (F. Schierse). Vor allem ermöglichte der Zentralbegriff der Gottesherrschaft die von Jesus gebrauchte Modifikation, ja Sprengung des Zwei-Aeonen-Schemas. Während für die zeitgenössische Erwartung der kommende Aeon, die endzeitliche Gottesherrschaft, entweder noch reine Zukunft ist oder aber schlechthin gekommen, gegenwärtig ist, erhebt Jesus der Sache nach den unerhörten Anspruch, daß der kommende Aeon durch ihn bereits in diesen Aeon hereinreicht, weil in seiner Person und in seinem als Einheit verstandenen Reden und Handeln der Wille Gottes als endgültiges Gnadenangebot und als endgültige Forderung erfahrbar geworden ist, die endzeitliche Gottesherrschaft damit angebrochen ist." 5 V o n eminenter geschichtlicher T r a g w e i t e aber ist die B e w e r t u n g , die .dieser Aeon' bei Paulus u n d Johannes e r f ä h r t . H i e r w i r d ,dieser Aeon' z u m unmittelbaren Gegensatz Gottes. „Bezeichnenderweise fehlt der entsprechende Gegenbegriff ,jener Aeon' u. ä. bei Paulus völlig. N u r im Epheserbrief w i r d der z u k ü n f t i g e A e o n ' e r w ä h n t (1, 21; 2, 7) 6 ." D e r eigentliche Gegenbegriff z u d i e sem Aeon' ist somit G o t t selbst, „seine Gerechtigkeit, die Herrschaft Christi, das P n e u m a oder die eschatologischen H e i l s g ü t e r 7 E n t s p r e c h e n d w i r d ,dieser A e o n ' in der urkirchlichen V e r k ü n d i g u n g „als eine dämonische, die unerlöste u n d ungläubige Welt beherrschende, der Vernichtung geweihte Macht verstanden, die den Menschen m i t sich in den U n t e r g a n g reißen will 8 ." Diese beängstigende Vorstellung w i r d v o r allem in der J o h a n n e s - A p o k a l y p s e thematisch. Für unsere T h e m a t i k v o n besonderem Interesse ist n u n der durchaus ,unlogische' Sprachgebrauch bereits des N e u e n Testamentes. ,Diesem' Aeon m u ß 4
5 6 7 8
Anton Vögtle, Aeon, in: Sacramentum Mundi, Theolog. Lexikon für die Praxis, Bd. I, Freiburg, Basel, Wien 1967, 205—209, hier 207. Vögtle, a. a. O., 207 f. Franz Josef Schierse, Aeon, Aeonenlehre, Lexikon für Theologie und Kirche I, 682. Schierse, a. a. O., 682. Vögtle, a. a. O., 208.
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Aeonen
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nicht ,jener' Ä o n entsprechen, f ü r ,dieser' k a n n auch ,jetziger' eintreten (in den Pastoralbriefen: 1 Tim 6, 17; 2 Tim 4, 10; Tit 2, 12). Als direkter Gegensatz w e r d e n auch sprachlich völlig heterogene Begriffe v e r w e n d e t . Frei austauschbar mit ,dieser A e o n ' sind auch die Ausdrücke .diese Welt' (x6a|xog, bei Johannes), ,die jetzige Zeit' (xaipog) 9 . Folgenreich ist schließlich das Hinüberspielen des Aeonenbegriffes ins Räumliche: „Die räumliche Bedeutung von Aeon = Welt ist mit der zeitlichen unlösbar verknüpft. Sie tritt jedoch dort in den Vordergrund, w o zwischen zwei Schöpfungen (vgl. Esr 7, 50: ,Der Höchste hat nicht einen Aeon geschaffen, sondern zwei.'), einer irdisch-sichtbaren und einer himmlisch-unsichtbaren, unterschieden wird. Der mit dem Himmel identische neue Aeon gilt dann als schon vorhanden. Die Gerechten werden in der Endzeit die Welt sehen, die ihnen jetzt unsichtbar ist . . . Innerhalb des Neuen Testamentes findet sich das räumliche Verständnis von Aeon besonders im Hebr. Gott hat durch den Sohn, den Erben des Alls, die ,Aeonen' geschaffen ( 1 , 2 ; vgl. 11,3) . . . Die Gläubigen verkosten jetzt schon die K r ä f t e dieser (für sie) noch zukünftigen Welt. Ebenso räumlich wie zeitlich wird man ferner die Aussagen über das Ende des Aeons verstehen müssen (Mt 1 3 , 3 9 , 4 9 ; 2 4 , 3 ; 2 8 , 2 0 ; 1 Kor 10, 11; H e b r 9, 26) . . , " 1 0
Der inkohärente Sprachgebrauch des N e u e n Testamentes in diesem Bereich w i r d n u n beispielgebend f ü r die christliche lat. L i t e r a t u r u n d ebenso auch f ü r die deutschsprachigen Texte des Mittelalters. W e n n die deutschen Quellen z u nächst ihr genaues Richtmaß a m lat. Vorbild nehmen, so bildet sich bereits in ahd. Zeit, besonders reich aber seit N o t k e r , ein Feld von Gegensätzen aus, das den sprachlichen Ausdruck eines populär-theologischen Vorstellungsschemas darstellt. Was im N e u e n Testament theologisch eigentlich ü b e r w u n d e n bzw. durch umfassendere Ideen überhöht wäre, bleibt f ü r das durchschnittliche Bewußtsein aktuell u n d w i r d im hohen u n d späten Mittelalter immer mächtiger: das zu einem universalen Dualismus ausgeweitete D e n k m o d e l l der beiden Aeonen. D a m i t sei keineswegs behauptet, die christliche Theologie des Mittelalters sei in das Stadium dualistischer „ I r r l e h r e n " zurückgefallen. Was uns hier angeht, sind vielmehr vordergründige sprachliche Strukturen, die f ü r den A k t theologischer Begriffsbildung nicht mehr sein können als unreflektierte Vorgegebenheiten (die dann präzisiert oder gar abgebaut werden müssen). Z u d e m handelt es sich hier nicht um einen metaphysischen Dualismus, wie er aus den alten orientalischen Religionen ins f r ü h e Christentum einzudringen suchte, sondern einen Dualismus ,ethischer' Prägung 1 1 . ,Diese' Welt ist nicht ein gleichwertiger u n d gleich gewichtiger O p p o n e n t Gottes, sondern der v o n dämonischen Mächten durchwaltete Lebensraum, in dem der Mensch sich zu bewähren h a t f ü r J e n e Welt', das ,ewige Leben'. D e r Dualismus der beiden Welten ist somit nichts anderes als die existentielle Spannung, in die der Mensch nach dem Sündenfall hineingestellt ist. W e n n irgendwo in unserem sprachlichen U n t e r suchungsbereich, so stoßen wir hier auf ,vorherrschende Sinnrichtungen', die 8 10 11
20
Vögtle, a. a. O., 208. Schierse, a. a. O., 682. Vgl. Rupp, a. a. O., 20. Burger, Zeit
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5, Die beiden Aeonen
über die sprachliche Leistung einzelner Meister des Übersetzens u n d der Dichtung hinaus P r ä g e k r a f t f ü r den allgemeinen Sprachgebrauch besitzen. Wiederum ist zu bemerken, d a ß gerade die einfachsten, vielleicht trivialen D e n k m u s t e r am ehesten die C h a n c e haben, generell sprachbildend z u wirken. Jost Triers Kategorien f ü r die W e r t u n g sprachgeschichtlicher Vorgänge (s. o. S. 11) müssen also selbst in den Bereichen, w o Sprache u n d D e n k e n noch den deutlichsten K o n n e x aufweisen, zu einer verzerrten Vorstellung v o n sprachgeschichtlicher ,Relevanz' f ü h r e n . I m Verlaufe unserer Untersuchung bot sich immer wieder A n l a ß , auf die Wirksamkeit des ,Signal-Feldes' hinzuweisen. J e t z t soll im Z u s a m m e n h a n g dargestellt werden, wie die deutsche Sprache sich die Möglichkeiten dieses Feldes allmählich erobert, bis sie auch unabhängig von lat. Vorlagen darüber z u verfügen u n d die Dichte u n d Weite des Feldes noch zu steigern vermag. I m Deutschen kristallisiert sich die Feldopposition v o r allem u m das Lexem werlt, dessen eigene semantische Entwicklung die Ausbildung des Feldes spiegelt. Es sei gestattet, behelfsmäßig den Terminus ,Signal-Feld' ohne weitere Zusätze zu verwenden, da dieses Feld das f ü r unseren Sinnbezirk zentrale sprachliche S t r u k t u r m u s t e r darstellt. (Das Determinans ,Signal-' liegt deshalb nahe, weil die Gegensätze des Feldes nicht durchgehend lexikalisiert sind, sondern durch eine Fülle sprachlicher Signale angezeigt werden können.) Den A n f a n g der Entwicklung fassen wir mit jener auffälligen Tatian-Stelle, w o der im Lat. durch eine p r o n o m i n a l e Opposition angezeigten Differenzierung der Feldglieder im Deutschen offensichtlich kein verfügbares P e n d a n t entspricht: Filii huius s a e c u l i . . . illi autem qui digni h a b e b u n t u r saeculo illo — thiu kind therro u u e r o l t i . . . therro uuerolti 127, 3 (vgl. o. S. 104) D e m Übersetzer scheint kein Äquivalent f ü r die lat. Unterscheidung zweier Arten von D e m o n s t r a t i v a geläufig zu sein, ebensowenig aber der S y n o n y m e n bereich der Feldglieder. Schon J a h r z e h n t e vorher aber gibt es einen deutschen Schriftsteller, der sich souverän das Angebot der lat. Feldtermini angeeignet h a t : der Verfasser der Monseer Fragmente. Ich erinnere an die Stelle M t 12, 32 (62.8): neque in hoc saeculo neque in futuro — noh hear in uueralti noh in euuin (s. o. 101). H i e r ist die lat. Opposition nicht mechanisch, sondern mit erstaunlicher Freiheit repräsentiert. Das heißt f ü r die Genese des Signalfeldes im Deutschen: Von A n f a n g der Überlieferung an liegen die sprachlichen Möglichkeiten mit dem lat. Vorbild bereit, doch ist die T r a n s p o n i e r u n g auf die deutsche Sprache noch keineswegs usuell u n d dem allgemein-sprachlichen Bewußtsein gegenwärtig. Das A u f f i n d e n geeigneter Äquivalente bleibt in dieser Frühzeit des deutschen Schrifttums L e i s t u n g Einzelner. Im weiteren interessieren vor allem die Fälle, w o das Deutsche v o m lat. Vorbild abweicht oder w o deutsche Texte unabhängig v o n lat. Vorlagen sich der Feldgegensätze bedienen.
5. Die beiden Aeonen
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Die C r e d o - u n d Beichtformulare sprechen häufig v o n ,dieser Welt', ohne d a ß der Gegensatz jeweils ausgesprochen wäre. U b e r h a u p t scheint der Ausdruck ,diese Welt' das Z e n t r u m zu bilden, u m das sich die S y n o n y m a anlagern — dies entspricht ja auch dem neutestamentlichen Sprachgebrauch. A n den Ausdruck mit D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n schließen sich die lokal-demonstrativen W e n d u n gen an, wie hiar in uuerolti (Musp. 30), hien werke (Benediktbeurer Glaube, 53, 7), daneben auch hier in erde (Bamberger Glaube, 38, 3, ähnlich Wess. Glaube, 3 8 , 4 ; O t f r i d I V 7, 37; V 12, 73; II 21, 31 f. u. öfter), hiar in libe ( O t f r i d 1 1 1 1 , 1 3 ; 1 1 1 1 9 , 3 7 ; allaz iuer lib hiar I V 7, 83; I V 3 1 , 1 6 u. öfter), hiar untar woroltmanno ( O t f r i d I I I 18, 56). V o n Christus w i r d immer wieder gesagt, d a ß er hera in worolt quam ( O t f r i d 1 1 1 1 3 , 4 ; ähnlich 1 3 , 3 . 4 3 ; 4 , 6 1 ; 13, 5; I I I 21, 28.29; 22, 55; 24, 36, 90.96; 26, 32; I V 19, 50 u. öfter). Von solchen (längeren) G r u p p e n aus w i r d es verständlich, d a ß auch bloßes hiar den gleichen Dienst der Feld-Signalisierung leistet, z . B . : thie hiar thia sunta riezent ( O t f r i d V 2 3 , 8). ö f t e r s t r i t t z u r Fixierung des temporalen M o mentes noch das A d v e r b nu h i n z u : theih thir hiar nu ziaro in mina z u n g u n thiono ( O t f r i d 1 2 , 4 1 ) o d e r : joh thulten hiar nu noti bittero ziti ( O t f r i d I 18, 20 f.). Alleinstehendes nu aber ist mir in den älteren Texten in gleicher F u n k t i o n nie begegnet. Wie es scheint, h a t das A d v e r b der räumlichen Deixis stärkere signalisierende K r a f t im Signal-Feld als das zeitliche A d v e r b nu. H i e r liegt ein bezeichnender sprachgeschichtlicher Ü b e r g a n g vor, den — wie ich vermute, ohne es breiter belegen z u k ö n n e n — auch das theologische Latein vollzogen h a t : Die ursprünglich vorwiegend temporale Vorstellung der beiden Äonen, die allerdings von A n f a n g an schon die Ü b e r t r a g u n g aufs Räumliche erlaubte, verlagert sich immer stärker in den räumlichen Vorstellungsbereich. D a m i t ist eine handgreifliche Konkretisierung der Gegensätze verbunden, die n u n als ,Welten' mit spezifischen Q u a l i t ä t e n (und Q u a n t i t ä t e n ) verstanden werden. Es w a r zu beobachten, wie das deutsche W o r t weralt — r a d i k a l e r als das lat. saeculum — sich z u m K e n n w o r t dieser restlosen A u f t e i l u n g des Seienden entwickelt u n d seinen alten temporalen Sinn n u r noch in Reliktgruppen beibehält. Schließlich — und das ist die bedeutsamste Konsequenz — zieht die Konkretisierung der Äon-Vorstellung auch eine ,Detemporalisierung' der Ewigkeitsausdrücke nach sich. D a ß m a n zen ewen varen k a n n , ist eine extreme sprachliche Möglichkeit, die n u n gegeben ist. Eine andere Folge ist die P r ä d i z i e r u n g aller Bereiche des jenseitigen Seins durch Ewigkeitstermini, so daß ein Ausdruck wie ,ewiger Fall' s y n o n y m v e r w e n d e t w e r d e n k a n n mit ,ewiger T o d ' , ,Hölle' usw. M a n k ö n n t e diese Umschichtung als vierstufige Entwicklung skizzieren (wobei im Auge z u behalten ist, d a ß es sich nicht um eine Entwicklung im strengen Sinne, sondern um eine A r t Einübung auf bereits angebotene D e n k - u n d Sprachschemata handelt): I. Zu A n f a n g der a h d . Zeit, vor Einsetzen der Uberlieferung u n d reliktweise noch in schriftlicher Zeit, eine Reihe von W ö r t e r n f ü r ,Zeit' in 20»
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verschiedenen Aspekten, d a r u n t e r weralt als ,Menschenalter', ,Epoche' u n d vielleicht ewin f ü r ,lange, unabsehbare D a u e r ' , ferner einige (hier nicht diskutierte) räumliche W ö r t e r wie erda, stat usw. I I . Bereits mit den ersten christlichen Texten, also seit Beginn der Ü b e r lieferung, eine scharfe Polarisierung der Zeitvorstellungen im Sinne der biblischen Aeonen. F ü r den zweiten Aeon bildet sich eine eigene Terminologie heraus: ewa, ewida, später ewigheit. I I I . weralt mit seinen verschiedenen determinierenden Signalen w i r d z u m K e n n w o r t der Aeonenvorstellung, unter gleichzeitiger Verräumlichung u n d Konkretisierung der Vorstellung v o n den beiden ,Welten'. IV. Einbeziehung auch der Ewigkeitstermini in die W e l t e n - P o l a r i t ä t , d a m i t okkasionelle Verräumlichung auch dieser W ö r t e r . F ü r alle Einzelstufen lassen sich w o h l Parallelen in lat. Texten nachweisen, doch ist die beschriebene Abfolge in der inneren V e r z a h n u n g der Teilvorgänge eine innere Entwicklung des deutschen Wortschatzes. Es w ä r e ein aufschlußreiches Experiment, die Welt- u n d Ewigkeitsterminologie des griech., lat. (eventuell got.) u n d a h d . N e u e n Testamentes (letzteres etwa in der Fassung der Tatian-Obersetzung) zu vergleichen. Es w ü r d e sich eine engere S t r u k t u r v e r wandtschaft zwischen dem griech. u n d got. Wortschatz einerseits, dem lat. u n d a h d . Wortschatz andererseits nachweisen lassen. L a t . - a h d . zeichnen sich gegenüber der biblischen Originalsprache (und der got. Übersetzung) durch eine Scheidung der Welt- u n d Ewigkeitstermini aus, w o m i t besonders f ü r das Deutsche der A n s a t z p u n k t z u einem genuinen Welt-Begriff gegeben ist. D i e Wortschatzverschiebung v o m Griech. z u m Lat. u n d zu den älteren Stufen des Deutschen mag die folgende Skizze veranschaulichen:
Welt
Ewigkeit
griech.
altbv
lat. ahd. mhd.
saeculum werlt werlt
|
aeternitas ewa, ewida ewigheit
ewicheit
U m die Entwicklung sichtbar zu machen, h a b e n w i r als Titel f ü r die semantischen Bereiche die n h d . Begriffe ,Welt' u n d .Ewigkeit' v e r w e n d e t . I m Griech. w e r d e n beide Bereiche durch den gleichen Terminus gedeckt (d. h. sie sind entweder begrifflich ungeschieden oder w e r d e n durch den K o n t e x t in speziellen Richtungen determiniert). D a s lat. saeculum e r f a ß t noch einen weiten Ausschnitt aus dem S p e k t r u m von aituv, doch ist bereits als ausschließlich temporale Z o n e der Bereich v o n aeternitas ausgegliedert. I m A h d . dringen die Ewig-
5. Die beiden Aeonen
309
keitstermini noch weiter in den R a u m von aicbv ein, bis schließlich im M h d . großenteils die n h d . Verteilung erreicht ist, die den aitbv-Bereich in zwei gleichwertige Zonen aufspaltet. Kehren wir zurück zu den Belegen f ü r die beiden Äonen — jetzt d ü r f e n w i r sagen: f ü r die beiden Welten, die w i r in räumlicher Terminologie als ,Diesseits' u n d J e n s e i t s ' z u bezeichnen gewohnt sind. Bisher lernten w i r die T y p e n mit der S t r u k t u r (1) D e m o n s t r a t i v p r o n o m e n + Lexem, (2) deiktisches A d v e r b + Lexem, (3) alleinstehendes deiktisches A d v e r b u n d (4) A d v e r b k o m b i n a t i o n kennen. Meist aber begegnen diese Signale nicht einzeln, sondern z u s a m m e n mit einer entsprechenden Opposition. Wie bereits der biblische Sprachgebrauch zeigte, tritt nur selten die ,logisch' z u e r w a r t e n d e O p p o s i t i o n auf. R e g e l m ä ß i g ' in diesem Sinne w ä r e n die folgenden Beispiele mit Gegensätzen des T y p u s (3): W i o w u n n o s a m o guati joh m i n n a so gimuati thar u n t a r then ist iamer bi t h a z hiar thültent t h a z ser; Wie thar thio f r ü m a niezent thie hiar thia sünta riezent. ( O t f r i d V 23, 5 ff.) thie hiar t h a z irwellent t h a z si thara wollent ( O V 23, 32) uns ist l£id hiar m ä n a g a z — thorot ni sorgen wir bi t h a z ( O V 23, 83 f.) (Alle diese Beispiele entstammen dem O t f r i d - K a p i t e l , in dem schon der Titel die Gegenüberstellung von regnum caeleste und regnum terrenum ankündigt.) Viel ö f t e r aber als solche regelmäßigen Entgegensetzungen sind ,unlogische' Oppositionen, in denen die verschiedensten K o m b i n a t i o n e n a u f t r e t e n können, v o n denen hier nur einige a u f g e f ü h r t seien: — A d v e r b + A d v e r b // Demonstr. P r o n . + subst. Lexem: daz hich mittemo lichamen, sose hich nü hier seinen, in enro uuerelde erstanden sol. (St. Galler Glaube, 54, 20) — D e m o n s t r . P r o n . + Subst. // A d j e k t i v (Ewigkeitsterminus) + Subst.: ze disern übe u n d e ze deme ewigen libe (Benediktbeurer Beichte I I I 60, 94 f.) — A d v e r b + Subst. // Subst.: So was so thu es bizeines, in erdu hiar gimeines, so wesez äl in himile ... ( O t f r i d I I I 12, 43 f.) Der interessanteste T y p u s aber u m f a ß t die Fälle, da lokale u n d temporale Bestimmungen einander unmittelbar entgegengesetzt erscheinen — u n d damit w ä r e n w i r bei dem scheinbar ,schiefen Gegensatz' des M e m e n t o Mori angelangt; aus den vielen Beispielen — unter denen die von Schützeichel a u f g e f ü h r t e n nur einen Bruchteil ausmachen — seien n u r wenige ausgewählt: U n d e sit uuir hie f u r h t o n ze einere uuile d a z zekentlicho fiur, u u a n d a n e f u r h t e n uuir ouh danne daz ewige fuir (Predigtslg. A, 30, 3, 5 ff.) Bei O t f r i d erscheinen lokales u n d temporales A d v e r b geradezu als Variation:
5. Die beiden
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s a r t h u sis, d r u h t i n , thare, j o h thdnne
Aeonen
gihugi m i n ouch
ouh thu githenkes
hiare,
t h e s t h i n e s a r m e n s c a l k e s ! ( I V 3 1 , 2 1 f.) 1 2
D i e s e s P e n d e l n z w i s c h e n r ä u m l i c h e n u n d z e i t l i c h e n K a t e g o r i e n e r k l ä r t sich n u n leicht a u s d e r u m g r e i f e n d e n V o r s t e l l u n g d e r b e i d e n W e l t e n . D i a c h r o n i s c h gesehen, z e i g t sich ein U b e r g a n g v o m z e i t l i c h e n Ä o n e n - B e g r i f f z u m e h r r ä u m lichen V o r s t e l l u n g e n ; s y n c h r o n i s c h — a u s d e m B e w u ß t s e i n des a h d . S p r e c h e r s / Schreibers —
wäre
, D i e s e ' W e l t ist
das Verständnis
da,
der beiden Welten
so z u
formulieren:
unmittelbar vor Augen, lokal und temporal
präsent,
, j e n e ' W e l t a b e r ist — w e n n g l e i c h u n s i c h t b a r v o r h a n d e n — so d o c h d e m M e n schen n o c h n i c h t e r r e i c h b a r , r ä u m l i c h u n d z e i t l i c h n o c h e n t f e r n t . D i e s e U n t e r s c h e i d u n g ist f u n d a m e n t a l u n d e i n z i g e n t s c h e i d e n d , w ä h r e n d R a u m u n d Z e i t zu sekundären
Kategorien herabsinken,
deren sprachliche A u s p r ä g u n g e n
ge-
l e g e n t l i c h s y n o n y m v e r w e n d b a r sind 1 3 . A u c h d e r s o n s t so a u f G e n a u i g k e i t des Ü b e r s e t z e n s u n d K l a r h e i t d e r F o r m u l i e r u n g b e d a c h t e N o t k e r v e r m e i d e t solchen ,Synkretismus*
der Kategorien
k e i n e s w e g s . E i n i g e Beispiele v o n
Gegensatz-
p a a r e n ( o h n e B e i z i e h u n g des K o n t e x t e s ) m ö g e n dies b e l e g e n ( a l l e S t e l l e n a u s dem Psalter): 12
13
Vergleichbar auch der folgende Passus, in dem sich das zweite Oppositionsglied allerdings nicht direkt auf den anderen Ä o n bezieht, sondern auf den Termin des Jüngsten Gerichtes: O f f a n d u a t er thare t h a z wir nu helen hiare; ist iz ubil o d o w a r : u n f o r h o l a n ist iz thar. . . . al ougit es sih thanne. I 15, 41 f./ 50 D a ß R a u m - u n d Zeitbegriffe in der Sprache aufs engste v e r k n ü p f t sind, w e n n sie nicht überhaupt als identisch erscheinen, ist eine altbekannte Feststellung der Sprachwissenschaft. Vgl. schon Karl Brugmann, Die D e m o n s t r a t i v p r o n o m i n a der idg. Sprachen (Abh. der Sachs. Ges. der Wiss., Philol.-histor. Kl. X X I I ) , Leipzig 1904; auch Kronasser, a . a . O . , 158 ff. Der Ausgangspunkt liegt dabei grundsätzlich bei der Kategorie des Räumlichen. Übertragungen sind stets nur in der Richtung räumlich —> zeitlich zu beobachten. Dies ist offenbar darin begründet, d a ß der ,äußere' Sinn das räumlich Gegebene unmittelbar w a h r n i m m t , w ä h r e n d der ,innere' Sinn erst durch Vermittlung räumlicher Perzeption b e w u ß t wird. Zu diesem elementaren philosophisch-psychologischen Problemkreis wäre — nach K a n t s K r i t i k der reinen Vernunft — vor allem auf die Arbeiten der phänomenologischen Schule und auf Heideggers , K a n t und das Problem der Metaphysik', F r a n k f u r t 2 1951, zu verweisen. Allerdings ist davor zu warnen, aus sprachlichen B e f u n d e n etwa auf ein Fehlen temporalen Bewußtseins schließen zu wollen. Es k a n n sich immer nur um ein Überwiegen des einen oder anderen Aspektes handeln, nie aber um die totale D o m i n a n z des einen über den anderen. Einen vorzüglichen Überblick nicht nur über die philosophischen Implikationen der R a u m - Z e i t - E r f a h r u n g , sondern auch über die Genese sprachlicher G r u n d b e s t ä n d e aus der primitiven R a u m e r f a h r u n g (Pronomina, Artikel, überhaupt die Prinzipien der sprachlichen Deixis) bietet Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, Die Sprache, D a r m s t a d t 1964 (Nachdruck der 2. Aufl.), 149 ff. Eine reiche, wenngleich gänzlich systemlose Materialsammlung ( f ü r die Wiedergabe zeitlicher Vorstellungen durch R a u m - W ö r t e r ) aus der deutschen Schriftsprache, der Umgangssprache und den M u n d a r t e n mit gelegentlichen älteren Belegen legt
5. Die beiden Aeonen
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hier — hara-näh uitam ^ternam (Vorlage Cassiodor: hic — in futuro) 4,6 hier (ist Zeit der Mühsal) / hina-fure (ist Zeit der Tröstung) 36, 34 hier — in futuro 38, 6 u. 43, 18 hier noh in euuon 39, 3 hier . . . in convalle lacrimarum / nah disemo libe 137, 7 hier unde in euuon . . . hier / euuigo 144, 2 hier / in euua Cant. Deut. 22 (S. 1094) (Vorlage: de temporali poena ad aeternam) Dieser ,Synkretismus' ist bei N o t k e r gelegentlich, doch überwiegend n i c h t aus der Vorlage zu erklären. Neben diesen kategoriellen Vermischungen weist Notkers Psalter eine Fülle von Entgegensetzungen auf, die in anderer Weise .logisch' nicht korrekt sind, z.B. in enero uuerlte / hier 11, 2 hier / in enero uuerlte 127, 2 in dero anderun uuerlte / hier in uuerlte 32, 19 hier in uuerlte / in enero uuerlte 5 1 , 8 hier / hina in anderro uuerlte 61, 7 in dirro uuerltsconi / in enero uuerlte 144, 12 hier / in anderro uuerlte 146, 3 usw. Keiner Diskussion bedürfen die zu erwartenden ,regulären' Oppositionen hier/dar (55, 13; 67, 35; 72, 20; 75, 6 u. öfter), auch hierjdoret (84, 9) und die Doppelopposition danne darlnn hier (30, 21). Viel seltener ist auch bei N o t k e r der rein temporale Gegensatz nüldanne (55, 4 zweimal und 77, 2). In den geistlichen Denkmälern der f r ü m h d . Zeit wird das Signal-Feld der beiden Welten strukturbildend f ü r ganze epische Partien. Musterfall d a f ü r ist das alem. Memento Mori. In zahlreichen Wendungen mit dem Pronomen der unmittelbaren Deixis wird hier auf die Hinfälligkeit des irdischen Daseins hingezeigt (tisa brodemi Str. 1, disen lip Str. 1, tisiu werlt Str. 5, in dirro werke Str. 14), die ihr Maß findet an der ewigen Freude (der ewigin mendi Str. 3, der ewigun mendin Str. 11). Meist aber genügt der einfache adverbielle Gegensatz hie/da, hie/dort, hie/hin (ze varne u. ä.), hiejta hina. U n d diese ganze Karl Müller, R a u m u n d Zeit in der Sprache, Wiss. Beihefte zur Zeitschrift des deutschen Sprachvereins 50 (1938) 69—112, vor. Zu den volkssprachlichen Ausdrücken f ü r Zeit vgl. besonders Richard Glasser, I F 57 (1940) 178—192. D e n A u f b a u des menschlichen Lebens-Raumes beschreiben die folgenden Arbeiten: O t t o Friedrich Bollnow, Mensch und R a u m , Stuttgart 1963; Graf K. von Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten R a u m . N e u e Psychologische Studien, 6. Bd., München 1932; H . Lassen, Beiträge zu einer Phänomenologie u n d Psychologie der Anschauung, W ü r z b u r g 1939. Eine k n a p p e Ubersicht über die philosophischen Fragestellungen u m R a u m u n d Zeit gibt Wilhelm Weischedel, Das Denken zwischen R a u m und Zeit, Universitätstage 1960, Berlin 1960, 5—15.
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5. Die beiden Aeonen
Oppositionsreihe w i r d überlagert oder auch präzisiert durch die vielen temporalen Aussagen, in denen beschwörend das Vergängliche gegen den H i n t e r grund des Unvergänglichen gehalten w i r d , hier sind w i r n u r eina churza wila (Str. 1; auch Str. 19 tie churzun wila, so wir hie sin), , d o r t ' sind w i r iemer oder iemer für der (Str. 3, 11, 19; auf die H ö l l e bezogen: 10) usw. J e schärfer der K o n t r a s t der beiden Welten erlebt w i r d , um so krasser d r ä n g t die temporale A n t i t h e t i k in den V o r d e r g r u n d , die mit der Ausbildung des (un-zeitlichen) Welt-Begriffes verdeckt zu werden d r o h t . O b w i r es aber mit solch großartigen u n d pointierten Dichtwerken zu tun haben wie mit dem M e m e n t o Mori, dem Annolied oder Ezzos Cantilena, oder mit vergleichsweise harmloseren Texten wie den biblischen Gedichten; ob es sich u m Bußpredigten oder religiös-liturgische ,Preisgedichte' handelt, überall w i r d in dieser Zeit eine sprachliche Erscheinung f a ß b a r : Gängigstes Signal f ü r ,diesen Ä o n ' ist nun das bloße lokale A d v e r b der unmittelbaren Deixis: hie(r). D a m i t ist ein rudimentäres Signal der alltäglichen Sprechsituation total u n d bruchlos zu weltanschaulicher Relevanz erhoben w o r d e n . D e r doppelschichtige Gebrauch der trivialsten aller möglichen sprachlichen Trivialitäten w i r d somit z u m S y m p t o m der Geisteslage eines Zeitalters: Wie die alltägliche K o m m u n i k a t i o n sich mit den einfachsten Signalen wie ,hier', ,dort', J e t z t ' , , d a n n ' zu orientieren vermag, so ist das geistig-ethische Dasein u n d Leben immer schon in das S p a n nungsfeld von Diesseits u n d Jenseits einbezogen. O h n e die zahllosen Fälle a u f z u z ä h l e n , in denen alleinstehendes hie die volle Signalqualität besitzt, sei nur noch eine Reihe verschiedener W e n d u n g e n (in willkürlicher Reihenfolge, gegebenenfalls mit der entsprechenden Opposition) aus den f r ü h m h d . Texten zusammengestellt, die hie in der F u n k t i o n eines weltanschaulichen ,Vorzeichens' darbieten: hir an ther erthen (M I 137, 423) thesen lip hir / t h a r (I 149, 543) hie in erde joch in himele (M I 296, 24) hi nidini / uffi demo himili bzw. voni himili (I 402, 1; 407, 12) hie ze disem lebine / ze jener w e r k e (M I 425, 6) hie in erden (M I 441, 21; II 589, 63) hinidine / in himile (II 41, 45) hie nidere / da ze himile (II 56, 5) hi in ertriche (II 121, 25) hie an der erden (II 131, 7) hie enerde (II 235, 20) hie nidene (II 237, 26; I I 577, 30; I I 513, 382) hie uffe der erden (II 365, 30) hie nidene, dort u n d e hie (II 582, 38) an dirre werlde hie (II 587, 56) hie nider an der erden (II 594, 80) hie nidene / da in himele (II 597, 89)
Die beiden Aeonen
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Die räumliche Vorstellung w i r d des öfteren v e r s t ä r k t durch das A d v e r b nidene, durch das der Gegensatz oben/unten evoziert w i r d . Selbst als Glosse ist ein Ausdruck mit dem Signal ,hier' überliefert, der im Lemma keine genaue Entsprechung h a t : sub sole — hier in veralti (I 545, 7 ff., zu Eccles. 1, 10) N a c h d e m w i r versucht haben, das ,Signal-Feld' auf seine biblischen u n d geistesgeschichtlichen H i n t e r g r ü n d e z u r ü c k z u f ü h r e n , darf nun noch das zentrale Ergebnis des philosophischen Exkurses (o. S. 252 ff.) beigezogen w e r d e n : Die platonisierende christliche Theologie entwickelt einen Begriff der Ewigkeit, der ontologisch gegen den Begriff der Zeit abgehoben ist: Ewigkeit ist nicht eine ins Unendliche weitergedachte Zeit, sondern ein S e i n ganz anderer Q u a l i t ä t als das zeitliche Sein. Ewigkeit ist ein Sein ü b e r der Zeit oder j e n s e i t s der Zeit. Dieses Sein ist gegenüber dem endlichen, beschränkten Sein der Zeitlichkeit die Fülle des Lebens, das vollkommene Leben Gottes. D a m i t ist biblisches Zeit-Denken umgedeutet in ein ontologisches Schema, das sich in seiner Zweiteilung deckt mit dem Modell der beiden Äonen. Philosophische Theorie der Ewigkeit u n d theologische W e r t u n g der beiden Welten überlagern sich zu e i n e m Vorstellungsschema, das in seiner Wirksamkeit bis in religiöse Gebrauchstexte, bis in höchste u n d schlichteste Dichtung hineinreicht 1 4 . Es mag p a r a d o x erscheinen, d a ß gerade die letztmögliche Transzendierung aller Begrenztheit, aller Endlichkeit, d a ß die Spekulation über einen absolut un-zeitlichen Ewigkeitsbegriff die H a n d h a b e bieten soll f ü r eine Vergegenständlichung, Konkretisierung gerade dieses unvorstellbaren Seins. Was aber von der tiefsinnigsten Metaphysik eingeht in das allgemeinere Bewußtsein, das sind bestenfalls Schemata, Modelle des Denkens, die Eigenleben u n d Geschichtsmächtigkeit gewinnen.
14
Das D W 3, 1205 ,Ewigkeit', gibt unter der Bedeutungsgruppe ,Ewigkeit des Raums' ein Zitat aus Weckherlin: nein, sehr gering ist die Anzahl, darunter ich verhof zu bleiben, die einen naraen in den sal der ewigkeit reht könden schreiben. Unsere Überlegungen haben gezeigt, daß eine solche Wendung nicht die ,Ewigkeit des Raums', sondern — wenn man will — den ,Raum der Ewigkeit' meint, den Seinsraum der Ewigkeit, oder: ontologisch verstandene Ewigkeit. Ähnlich zu verstehen wäre eine Stelle wie die folgende aus Rilkes Stundenbuch (R. M. Rilke, Ausgew. Werke, Insel 1950, I, S. 74: D u bist die Zukunft, großes Morgenrot über den Ebenen der Ewigkeit. D u bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit, der Tau, die Morgenmette und die Maid . . .
6. Ausblick Unser Gang durch ahd. und f r ü h m h d . Literatur hat Tendenzen der lexikalischen Entwicklung erkennen lassen; Tendenzen, die teils innersprachlich begründet, teils erst aus dem geistesgeschichtlichen H o r i z o n t heraus zu verstehen sind. Im Bereich der Zeit- wie der Ewigkeitsterminologie grenzen sich die Anwendungsspektren der einzelnen Wörter immer deutlicher gegeneinander ab: Einzelnes wird auf nur noch konkreten Gebrauch festgelegt, anderes erobert sich einen sicheren Platz im Raum abstrakter Verwendung. zit auf der einen Seite ist das einzige Wort, das nicht an bestimmte kontextuelle (meist verbale) Situationen gebunden wird, und ewig bzw. ewigheit entwickeln sich zu d e n Wörtern, die in begriffliche Formulierungen von Ewigkeitsvorstellungen eingehen können (wobei ewigheit vorerst noch spärlich belegt ist). Wir sahen, wie durch die Anverwandlung platonischen Gedankengutes erst ein eigentlicher ontologischer Gegensatz von Zeit und Ewigkeit konstituiert wird, der sich im Wortschatz und in Wortschatzstrukturen niederschlägt. D a ß der Gegensatz aber nur ganz selten in seinem vollen metaphysischen Gehalt realisiert ist, war ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen. ,Begrifflich-abstraktes' Verständnis eines Terminus ist jeweils nur in dem Maße vorhanden, wie es der Kontext und letztlich die literarische Gattung erfordern. ,Zeit' und ,Ewigkeit' sind nunmehr als begriffliches Angebot verfügbar, aber keineswegs schon in jene feste Kollokation gebunden, die unser heutiges Assoziationsfeld charakterisiert und die darum als Titel der vorliegenden Arbeit gewählt wurde. Diese Bindung ist Folge der ungeheuren Mächtigkeit mystischer Sprache und Sprachbildung, Folge einer Geistesbewegung, die ,abstrakten' Termini wie nie zuvor und nie mehr in späterer Zeit zu normalsprachlicher Geltung verhalf. Bevor wir aber diese geschichtliche Linie weiter verfolgen, sei ein Blick geworfen auf eine Literaturgattung, die der Sprache der Mystik die Wege bereitete und die eine wahre Fundgrube volkssprachlicher Terminologie und Stilistik darstellt: die mhd. Predigt. Als gewaltigster Vertreter der Gattung tritt uns B E R T H O L D V O N R E G E N S entgegen, der alle anderen Prediger an Kraft der Sprache und lebendiger Drastik des moralischen Appells weit in den Schatten stellt. Ohne auf die sprachlichen Besonderheiten seines Werkes in Abgrenzung gegen anderes Predigtgut hier eingehen zu können, seien doch einige Charakteristika seines BURG
6.
315
Ausblick
W o r t g e b r a u c h s i m Bereich v o n Z e i t u n d E w i g k e i t h e r a u s g e h o b e n ,
die unser
bisheriges B i l d e r g ä n z e n k ö n n e n 1 . In a f i e k t i s c h - p o l e m i s c h e r W e i s e m a c h t sich B e r t h o l d die sprachlichen M ö g lichkeiten des , S i g n a l - F e l d e s ' n u t z b a r , in einer solchen F ü l l e der
Varianten,
d a ß es m ü ß i g w ä r e , Beispiele a u f z u z ä h l e n . N u r a u f j e n e besonders plastische E n t g e g e n s e t z u n g sei verwiesen, die B e r t h o l d in seiner moralistischen Beschreibung von . O b e r l a n d ' und , N i d e r l a n d ' präsentiert (I 2 5 0 Von wile
den Z e i t - W ö r t e r n
erstaunlich
häufig
sind jrist
Verwendung
u n d stunde findet.
Diese
ff.).
kaum
vertreten,
bevorzugte
während
Stellung
des
W o r t e s e r k l ä r t sich, w e n n w i r den G e b r a u c h des z e n t r a l e n T e r m i n u s zit
be-
trachten : F ü r B e r t h o l d ist zit nicht m e h r nur der I n b e g r i f f des E n d l i c h e n ,
Begrenzten,
V e r f l i e ß e n d e n gegenüber der , F e s t i g k e i t ' der E w i g k e i t , sondern ein Geschenk, das G o t t dem Menschen z u r rechten B e n u t z u n g a u s g e h ä n d i g t h a t ; nicht leere D a u e r , s o n d e r n p r i m ä r e t w a s z u V e r w e n d e n d e s , e t w a s , das , a n g e l e g t ' w e r d e n k a n n u n d das sich v e r z i n s t w i e G e l d , s o m i t e t w a s durch u n d durch Q u a l i t a t i v e s : „ P f i , g i n g e r , wie legest du dine zit a n ! W i e w i r d e s t du sten an der r e i t u n g e ! w i e g a r d i r verschaffen ist v o r allen den sünden die diu w e r l t ie g e w a n o d e r iemer g e w i n n e t ! W a n din zit get dir n i h t alleine u n n ü t z e l i c h e n hin, sie get dir halt unnützelichen
unde schentlichen u n d e süntlichen hin. A l l e die
sünden l ä n t got eteliche zit
geruowen
wan
du u n d e d i n zit-, w a n
anderen diu
get
a l l e r tegelichen hin m i t sünden äne u n d e r l ä z . U n d e d a v o n sprichet g o t selber, — du w u o c h e r e r unde f ü r k ö u f e r u n d e s a t z u n g e r u n d e dingesgeber i n z j ä r , w a n du got sin zit v e r k o u f e s t . . . " ( I 2 0 ) . O d e r die V o r s t e l l u n g des , Z e h n t e n ' w i r d a u f die Z e i t a n g e w a n d t : „ U n d e w i r m ü e z e n ouch h a l t die selben zit v e r z e h e n d e n , die uns got ze leben git. D i e heiligen v i e r z i c t a g e v o r o s t e r n , die w i r d a v a s t e n , m i t den v e r z e h e n den w i r die zit,
die w i r d a l e b e n . A l s e liep h a t der a l m e h t i g e got die
zit"
( I 2 1 ) . Schließlich versteigt sich B e r t h o l d z u d e m rhetorischen P a r a d o x , die Z e i t a u f E r d e n sei in gewisser W e i s e besser als die Z e i t i m H i m m e l : „ W a n n e diu zit ü f ertriche ze leben a n e i n e m teil ist b e z z e r d a n n e ze himelriche, so ist d a z himelriche eines dinges b e z z e r d a n n e diu lobeliche zit...
D i e heiligen h a b e n t
ez d a r an w a e g e r , d a z sie Sicherheit h a b e n t , d a z sie d a z himelriche n i h t Verliesen . . . S o h a b e n t ez die g u o t e n l i u t e ü f ertriche d a r a n w a e g e r , d a z sie die zit ze leben h a b e n t , d a m i t e sie ir l a n c l e b e n m ü g e n g e m e r e n : ze ie der w i l e
1
Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer. Mit einem Vorwort von Kurt Ruh ( = Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), Bd. I, Berlin 1965 (Nachdruck der Ausgabe 1862); Bd. I I (mit Einleitungen und Anmerkungen von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl. Mit einer Bibliographie und einem überlieferungsgeschichtlichen Beitrag von Kurt Ruh) Berlin 1965 (Nachdruck der Ausgabe 1880).
6. Ausblick
316
unde ze ieglicher stunde so mac der guote mensche sìnen lón gemèren der äne sünde lebet." (I 22) In vielen seiner Predigten insistiert Berthold auf dem Gedanken, daß die Zeit in gottgefälliger
Weise
angelegt
werden
müsse.
Ihm,
der mit
allen
rhetorischen Mitteln, mit gewalttätiger Derbheit das Leben des Menschen auf Erden
in die rechten Bahnen lenken will, liegt — im R a h m e n seiner Predigt
— die Z e i t
mehr am Herzen als die Ewigkeit, die nur als Frucht, als Lohn
oder Strafe des zeitlichen Lebens in den Blick tritt. V o n hier aus wird der häufige Gebrauch von wile
einsichtig: Wenn der quantitative
Gesichtspunkt
der Zeit, das Begrenzte, Eingeschränkte herausgestellt werden soll, bietet sich wile
als Terminus an. Man könnte sagen: wile
antwortete zit,
ist die dem Menschen über-
sofern sie kurz ist und in jedem Augenblick zu Ende gehen
kann: „Ob dir . . . got der buoze gestate unde dir die wile (1 5 5 6 )
oder
„Wie Igetarst
du
den
tac
immer
geleben
gan ze leben . . daz
dü
ein